Skip to main content

Full text of "Bibliothek der gesammten medicinischen Wissenschaften für praktische Aerzte und Specialärzte"

See other formats


COLUMBIA  LIBRARIES  OFFSITE 

HEALTH  SCIENCES  STANDARD 


S£^ 


T%,^%  '  (^^J^^Al^Sr  ^^TU?^-^:^  ■  ^  ^ 


^y-^ 


COLLEGE  OF 

PHYSICL\NS  AND  SURGEONS 

LIBRARY 


-r^v^. 


^_:^ 


jr€T^t^^ 


2^^_^ 


m:c- 


'  -^v->^ 


Digitized  by  the  Internet  Archive 

in  2010  with  funding  from 

Open  Knowledge  Commons 


http://www.archive.org/details/bibliothekderges01dras 


BIBLIOTHEK 


DER  GESAMMTEN 


MEDICINISCHEN  WISSENSCHAETES 

PRAKTISCHE  AERZTE  UND  SPECIALAERZTE. 


HERAUSGEGEBEN 

VON 

HOFRATH  PROF.  DR.  A.  DRÄSCHE  IN  WIEN 

ulsttee  mitwirkung  der  herren 

Prof.  Arkold,  Prof.  Babes,  Dr.  "W.  Balser,  Doc.  Baumert,  Doc.  Beckh,  Prof.  Bergmeister, 
DoG.  Berkheimer,  0.  A.  Dr.  Biedert,  Prof.  Birnbacher,  weil.  Prof.  Birnbaum,  Dr.  J.  Boas, 
Prof.  Böke,  Ass.  Brandl,  Prof.  Brandt,  Prof.  G.  Braun,  Doc.  E.  v.  Braun,  Redact.  A. 
Brestowski,  Dr.  J.  H.  Brik,  Dog.  Brunner,  Prof.  v.  Bughka,  Prof.  Bürkner,  Ass.  Buzzi, 
Prof.  Chiari,  Ass.  Chwostek,  Prof.  Claus,  Dog.  R.  Cohn,  Prof.  Czermak,  Prof.  Dittrich, 
Prof.  Döderlein,  Doc.  Dreser,  Doc.  Droysen,  Dog.  Dührssen,  0.  A.  Dr.  Eichhoff,  Prim. 
Elischer,  Prof.  Emmert,  Prof.  Englisch,  Prof.  Escherich,  Dog.  Finger,  Prof.  Foltanek, 
Prof.  von  Fodor,  Dr.  E.  Freund,  Prim.  v.  Frisch,  0.  St.  A.  Frölich,  Prof.  Frommel^ 
Prof.  G.  Gärtner,  Dog.  Gärtner,  Dog.  Geigel,  Prof.  Geppert,  Prof.  G.  Goldschmiedt,  Doc. 
Gottlieb,  Dr.  Graefe,  Prof.  Hamjl^rsten,  Prof.  Harnack,  Doc.  Heinz,  Doc.  Herzfeld,  Dog. 
Hess,  Dr.  Higier,  Doc.  Hilbert,  Prof.  Hochenegg,  Prof.  K.  B.  Hofm-Ann,  Prof.  Hofmokl, 
Doc.  V.  Hüttenbrenner,  Prim.  Jadassohn,  Doc.  Jaquet,  Prof.  Jendrassik,  Dr.  Jessner, 
Doc.  Irsai,  Doc.  Kaufmann,  Prof.  Kien,  Doc.  Klein,  Prof.  Klug,  0.  A.  König,  Prof. 
KoHLscHÜTTER,  Doc.  Kopp,  Prof.  Kossel,  Dog.  Koväcs,  Prof.  Kratter,  Prof.  F.  Kraus, 
Dr.  A.  Krücke,  Prof.  Kuhn,  Dr.  Ed.  Kurz,  Ass.  Kwisda,  Prof.  E.  Lang,  Dog.  Lassar- 
CoHN,  Prof.  Lesshaft,  Prof.  Liebermann,  Dog.  v.  Limbeck,  Prof.  Litten,  Ass.  Loos,  Dr. 
Mandl,  Prof.  Messerer,  Doc.  R.  Meyer,  Dr.  ÄIintz,  Prof.  Mosso,  Dog.  0.  Naibiann, 
Prof.  Neumakn,  Prim.  Neugebauer,  Prim.  Neusser,  Prof.  Nevinny-  Prof.  Ob.alinski,  Dr. 
Freiherr  v.  Oefele,  Ass.  Ortner,  Prim.  Doc.  Pal,  Dr.  C.  Pariser,  Doc.  Pawinski,  Prof. 
Penzoldt,  Prof.  Piskagek,  Doc.  J.  Pohl,  Prof.  Pott,  0.  A.  Dr.  Prior,  Dr.  Redlich,  Dr. 
C.  Reuter,  Doc.  Riffel,  Dr.  Ritsert,  Prof.  Röhmann,  Doc.  Rosin,  Dr.  Schäffer-Stugkert, 
Prof.  Schauta,  Prof.  Schimper,  Prof.  Schnabel,  Dr.  Schubert,  Doc.  Schustler,  Prof. 
Schweninger,  Dog.  Seydel,  Dr.  P.  Siedler,  Dr.  Silex,  Prof.  Singer,  Ass.  v.  Sobierakski, 
Doc,  Sommer,  Dr.  Sperling,  Prof.  Steikbrügge,  Prof.  S.  Stern,  Dog.  R.  Stern,  Prof.  S. 
Stricker,  Prof.  Tappeiner,  weil.  Prof.  Uffelmann,  Doc.  v.  Vajda,  Prof.  H.  Yierordt, 
Prof.  v.  Wagner,  Dr.  W.alser,  Dr.  Jul.  Weiss,  Dr.  R.  Wighmann,  Prof.  Wiesner,  Doc. 
WiLL.  Winkler,  Dog.  Wolters,  Prof.   Zander,   Prosector  Zemann,    Dr.  Th.  Joh.  Zerner, 

Prof.  Zuntz. 

REDIGIRT  VON 

DR.  JUL.  WEISS  üx\D  A.  BRESTOWSKI. 


KARL  PROCHASKA 

WIEN  K.  UND  K.  HOF-  &  VERLAGSBUCHHANDLUNG         LEIPZIG 

I.  KUMPFGA8SE  7.  TESCHEN  IN  SCHLESIEN.  königssteasse  9ii. 

1894. 


INTERNE  MEDICIN 


UND 


KINDEBKEANKHEITEN 


MIT  BEITRÄGEN  YON : 


Prof.  Dr.  Babes,  Bukarest.  —  Dr.  W.  Balser,  Köppelsdorf  i.  Th.  —  Sanit.- 
Rath  Dr.  Ph.  Biedert,  Hagenau  i.  E.  —  Dr.  J.  Boas,  Berlin.  —  Dr.  J.  H, 
Brick,  Wien.  —  Ass.  Dr.  F.  Buzzi,  Berlin.  —  Ass.  Dr.  F.  Chwostek,  Wien. 

—  HoFR.  C.  Claus,  Wien.  —  Prof.  Dr.  Paul  Dittrich,  Prag.  —  Hofr,  Prof.  Dr. 
A.  Dräsche,  Wien.  —  Prof.  Dr.  Escherich,  Graz.  —  Prim.  Dr.  v.  Frisch,  Wien. 

—  Prof.  Dr.  Gärtner,  Wien.  —  Doc.  Dr.  Rich.  Geigel,  Würzburg.  —  Prim. 
Dr.  Higier,  Warschau.  —  Doc.  Dr.  Hilbert,  Königsberg.  —  Doc.  Dr.  v.  Hütten- 
brenner, Wien.  —  Prof.  Dr.  E.  Jbndrassik,  Budapest.  —  Dr.  S.  Jessner,  Königs- 
berg. —  Prof.  Kirn,  Freiburg  i.  Br.  —  Prim.  Doc  Dr.  Koväcs,  Wien.  —  Prof. 
Dr.  f.  Kraus,  Wien.  —  Prof.  Dr.  Lesshaft,  St.  Petersburg.  —  Prim.  Doc. 
Dr.  V.  Limbeck,  Wien.  —  Prof.  Dr.  Litten,  Berlin.  —  Ass.  Dr.  Loos,  Graz.  — 
Dr.  S.  Mintz,  Warschau.  —  Doc.  Dr.  Naumann,  Leipzig.  —  Prof.  Dr.  Neusser, 
Wien.  —  Ass.  Dr.  Norb.  Ortner,  Wien.  —  Prim.  Doc.  Pal,  Wien.  —  Dr. 
C.  Pariser,  Berlin.  —  Prim.  Dr.  Pawinski,  Warschau.  —  Prof.  Dr.  Pen- 
zoLDT,  Erlangen.  —  0.  A.  Dr.  Prior,  Köln.  —  Dr.  E.  Redlich,  Wien.  —  Dr. 
C.  Reuter,  Ems.  —  Doc.  Dr.  Rosin,  Berlin.  —  Prof.  Dr.  Schweninger,  Ber- 
lin. —  Prof.  Dr.  Singer,  Prag.  —  Doc.  Dr.  R.  Sommer,  Würzburg.  —  Dr. 
A.  Sperling,  Berlin.  —  Prof.  Steinbrüggb,  Giessen.  —  Prof.  Dr.  S. 
Stern,  Wien.  —  Doc.  Dr.  R.  Stern,   Breslau.  —  Prof.  Dr.  S.  Stricker,  Wien. 

—  Prof.  Dr.  H.  Vierordt,  Tübingen.  —  Prof.  Dr.  v.  Wagner,  Wien.  — 
Ass.  Dr.  Jul.  Weiss,  Wien.  —  Dr.  R.  Wichmann,  Braunschweig.  —  Prosect. 

Dr.  Zemann.  —  Dr.  Th.  Joh.  Zerner,  Wien.  —  Prof.  Dr.  Zuntz,  Berlin. 

L  BAND. 

MIT  4  TAFELN  UND  92  FIGUREN  L\I  TEXT. 


KARL  PROCHASKA 

WIEN  K.  UND  K.  HOF-  &  VERLAGSBUCHHANDLUNG  LEIPZIG 

L  KUMP.C.ASSE  7.  TESCHEN  IN  SCHLESIEN.  kökxgsstbassb  9  ii. 

1894. 


U-l 


K.  und  k.  HofbuchcLrackerei  Karl  Prochaska  in  Teschen. 


EINLEITUNG. 


Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkranklieiten. 


Die  ärztliche  Gesellschaft  hat  sich  innerhalb  der  letzten  Jahrzehnte 
in  gewisse  Kasten  gegliedert,  mit  einem  modernen  Ausdrucke  nennt  man 
dies:  das  Specialist enth  um.  Die  Ursachen,  welche  zur  Arbeitstheilung 
geführt  haben,  liegen  nicht  nur  in  dem  quantitativen  Anwachsen 
des  Materials,  sondern  auch  in  den  speci eilen  Forderungen,  welche 
die  einzelnen  Disciplinen  der  Medicin  von  ihren  Vertretern  verlangen.  Im 
Gefolge  der  Entwicklung  der  mcdicinischen  Wissenschaften  haben  sich  Be- 
ziehungen ausgebildet  zwischen  dem  Arbeitsgebiete  der  Specialfächer  einer- 
seits und  den  intellectuellen  Fähigkeiten,  den  manuellen  (künstlerischen) 
Fertigkeiten,  ja  sogar  den  Charatereigenthümlichkeiten  ihrer  Vertreter  ander- 
seits. Die  Chirurgie  stellt  beispielsweise  entschieden,  soweit  sie  als  Special- 
disciplin  betrieben  wird,  ganz  andere  Forderungen  an  ihre  Jünger  als  die 
innere  Medicin.  JeneAffinität,  welche  zwischen  dem  einzelnen  Specialzweige  und 
den  hiezu  erforderlichen  Fähigkeiten  und  Eigenschaften  besteht,  bedingt  in 
der  That  auch  in  vielen  Fällen,  dass  sich  der  eine  dieser,  der  andere  jener 
Specialdisciplin  widmet. 

Doch  diese  Wahlverwandtschaft  zwischen  dem  Gegenstande  und  der 
Person  ist  nicht  etwas  Künstliches,  sie  entspricht  vielmehr  einem  allgemein 
giltigen  Naturgesetze.  Welche  Rolle  die  Affinität  der  Stoffe  in  der  all- 
gemeinen Pathologie,  Histologie,  Chemie  und  Pharmakodynamik  zu  spielen 
berufen  ist,  und  inwiefern  die  elective  Wirkung  bestimmter  chemischer 
Verbindungen  auf  einzelne  Organe  den  Zielen  und  Zwecken  unserer 
modernen  Therapie  entspricht  —  wird  Herr  Professor  Stricker  in  den 
nachfolgenden  Zeilen  des  Näheren  erläutern. 

Doch  sicherlich  ist  die  Berufswahl  nicht  immer  Folge  einer  Election. 
Die  Entscheidung  für  ein  bestimmtes  Specialfach  lässt  sich  nicht  in  allen 
P'ällen  auf  jenen  räthselhaften  Zusammenhäng  zwischen  den  Eigenschaften 
der  Person  und  den  Forderungen  des  Gegenstandes  zurückführen,  häufig 
sind  es  vielmehr  die  sogenannten  äusseren  Verhältnisse,  welche  diesbezüglich 
bestimmend  einwirken.  So  kann  eine  mächtige  Zeit-  und  Streitfrage  eine 
ganze  Pteihe  von  Mitgliedern  eines  Berufes  einer  bestimmten  Thätigkeit 
zuführen.  Auf  diese  Art  ist  beispielsweise,  um  einen  zutreffenden  Ausdruck 
zu  wählen,  die  Zunft  der  Bacteriologen  entstanden.  Auf  jenen  Wissensge- 
bieten, wo  sich  begünstigt  durch  die  Forschungen  eines  auserwählten  Genius, 
eine  lebhafte  wissenschaftliche  Bewegung  concentrirt  hat,  da  strömen  die 
Jünger  hin,  um  dort  ihr  Arbeitsfeld  und  ihren  Lebensberuf  zu  finden.  UM 
^stimulus,  ibi  affluxus.  Auch  hier  besteht  ein  Analogen  im  Leben  des 
Organismus,  wie  sich  aus  den  nachfolgenden  Ausführungen  Stricker's 
unzweifelhaft  ergeben  wird. 


EINLEITUNG. 


Election  und  specifische  Heilwirkung. 

Die  Yorstellimg.  dass  gewisse  Arzneikörper,  wenn  sie  dem 
mensclilichen  Organismus  einverleibt  werden,  zu  einzelnen  Organen  besondere 
Beziehungen  eingehen,  wurzelt  in  dem  filauben  des  Volkes.  So  ist  die  ein- 
gebürgerte ^leinung  zu  verstehen,  dass  die  einzelnen  Krankheiten  durch 
gewisse  Kräuter  geheilt  werden.  Thatsächlich  hat  der  medifinische  Chemiker 
in  moderner  Zeit  aus  so  manchem  Kraut  der  Volksmedicin  specifisch  wirk- 
same Verbindungen  gewinnen  können.  So  erscheint  es  weiter  verständlich, 
dass  auch  die  geläuterten  Anschauungen  der  Aerzte  im  Einvernehmen  mit 
der  Vorstellung  von  der  Localisation  der  Krankheiten  innig  mit  der  Annahme 
zusammenhängen,  dass  l)  e  s  t  i  m  m  t  e  Arzneikörper  auf  b  e  s  t  i  m  m  t  e  Organe 
specifisch  wirken.  Man  erfuhr,  dass  die  DiyiMis  in  gewissen  Dosen 
nur  in  der  Wirksamkeit  auf  das  Herz  sich  geltend  macht,  das  Pilocarpin 
die  S  chweissdrüseu  specifisch  beeintiusst.  die  Bromsalze  die  Hirn- 
i'indenth  ätigkeit  herabstimmen.  Cofe'in  und  Theolromin  das  Nierengebiet 
zum  Angriffspunkt  specifischer  Wirkung  zu  wählen  pflegen. 

Aehnliche  Ideen  wurden  durch  die  physiologischen  und  chemischen 
Untersuchungen  über  die  Leistungen  der  Drüsen  gefördert.  Die  eine 
Drüse  sondert  Harn  mit  seinen  besonderen  Bestandtheilen  ab,  die  andere 
secernirt  Speichel,  eine  dritte  endlich  fördert  ]\Iilch  zu  Tage,  während  sie 
doch  alle  ihre  Säfte  aus  dem  Blute  beziehen.  Zur  Deutung  dieser  That- 
sachen  müssen  wir  den  verschiedenen  Drüsen  gleichsam  electiv.e  Eigen- 
schaften zuschreiben,  so  dass  die  eine  vermöge  ihrer  vitalen  Function 
entweder  direct  Harnstoff  dem  Blute  entzieht  oder  aus  Bestandtheilen  des 
Blutes  abspaltet,  während  die  andere  aus  dem  Blute  in  dieser  oder  jener 
"Weise  die  Bestandtheile  der  Milch  gewinnt. 

Etwas  greifbarer  ist  die  Anschauung  der  specifischen  Beziehungen 
zwischen  Bestandtheilen  des  Organismus  einerseits  und  den  zugeführten 
chemischen  Verbindungen  anderseits  durch  die  modernen  Forschungen  der 
Mikroskopie  geworden.  Hierher  gehört  die  Erfahrung,  dass  selbst  die 
abgestorbenen  Gewebe  den  Farbstoffen  gegenüber  eine  elective  Wirkung 
erkennen  lassen.  Die  älteste  einschlägige  Thatsache  Ijetrirtt  die  von  Gerlach 
eingeführte  C  armint  in  c  tion  der  Gewebe.  Denn  bekanntlich  sind  es 
nur  gewisse  Bestandtheile  der  Gewebe,  die  das  Carmin  aufnehmen,  so 
namentlich  die  Kerne  und  die  Achseucylinder  der  markhaltigen  Fasern. 
Ehrliches  Arl)eiten  insbesondere  erweiterten  unsere  Kenntnisse  von 
den  electiven  AVirkuiigen  in_ bedeutendem  Masse,  da  er  fand,  dass  die  Zellen 
des  Blutes  dch  gegen  verschiedene  Farbstoffe  verschieden  verhalten  (Oxvphile 
und  basophile  Granulationen  in  den  Zellleibern).  Freilich  ändern  sich  die 
Affinitäten  der  Gewebe  zu  den  Farbstoffen  je  nach  der  Zeit  und  der  Art 
des  AbSterbens,  und  so  erklären  sich  die  variablen  Tinctionseffecte  nach 
der  V  e  r  s  c  h  i  e  d  e  n  e  n  Art  der  vorhergegangenen  Conser\ärung  und  Härtung. 

Aehnliche  Erkenntnisse,  aber  doch  einschneidender  für  die  medici- 
nische  Praxis  sind  durch  das  nähere  Studium  der  Arzneikörper  und 
insbesondere  durch  die  experimentelle  Untersuchung  am  Thierleibe  gefördert 
worden.  Eines  der  merkwürdigsten  Beispiele  gibt  uns  das  Atropin.  Von 
dem  Effecte  des  Atropins  auf  die  Iris,  wie  er  in  der  o  cu listischen 
Praxis    bekannt    geworden  ist.    wollen  wir  hier  nicht  sprechen,    zumal  es 


EINLEITUNG.  5 

sich  dabei,  solange  keine  allgemein -toxischen  Folgen  zu  erkennen  sind, 
scheinbar  nur  um  die  locale  Wirkung  einer  localen  Application  handelt. 
Anders  liegt  die  Sache  bei  der  Wirkung  des  Atropins  auf  die  Hemmungs- 
nerven des  Herzens  und  einzelne  D  r  ü  s  e  n  n  e  r  v  e  n,  denn  hier  handelt 
es  sich  um  ausgesprochen  eclectische  Wirkungen.  Bei  der  p]intragung  mini- 
maler Dosen  in  den  Kreislauf  werden  aus  den  functionell  so  verschiedenen 
Fasern  des  zehnten  Nervenpaares  gerade  nur  die  Hemmungsnerven  des 
Herzens  gehähmt,  ebenso  wie  aus  den  beiden  functionell  so  verschiedenen 
Faserarten,  die  in  dem  einen  Nervenästchen  zur  Submaxillaris  ziehen,, 
nur  die  s  e  c  r  e  1 0  r  i  s  c  h  e  n  Nerven  ausgeschaltet  werden. 

Die  specifischen  Wirkungen  der  Gifte,  welche  die  Pharmakodynamik 
bis  jetzt  aufgedeckt  hat,  lassen  sich  durchwegs  hierher  beziehen.  —  Be- 
gnügen wir  uns  mit  dem  auf  diesem  Gebiete  eminentesten  Beispiele,  dem 
Afro'pin.  Hingegen  s'^'heint  es  uns  von  grossem  Interesse  zu  sein,  noch  eines 
experimentellen  Unt  rsuchungsergebnisses  Erwähnung  zu  thiin,  welches  auf 
die  eclec  tischen  Eigenschaften  der  Ner  ve  n  sul»  stanz  ein  be- 
sonderes Licht  wirft.  Ehelich  hat  nämlich  gefunden,  dass  man  nach  Ein- 
spritzung von  Methylenblau  in  den  Kreislauf  des  lebenden  Frosches 
einzelne  Nervenstämmchen  gefärbt  findet.  Wenn  man  in  einer  ge- 
wissen Phase  der  Injection  ein  Stückchen  Gewebe  aus  der  Zunge  aus- 
schneidet, sind  die  Nervenstämmchen  blau  gefärbt,  während  das  übrige  Ge- 
webe wie  etwa  die  Papille,  in  welche  der  Nervenast  hineinführt,  ungefärbt 
geblieben  ist.  Hier  ist  also  die  elective  Wirkung  auch  mikroskopisch  sichtbar 
geworden. 

Von  all'  den  hier  geschilderten  W^irkungen  müssen  wir  aber  jene  Er- 
scheinungen trennen,  welche  wir  an  einzelnen  Geweben  zur  Beobachtung 
bekommen,  nachdem  suspendirte,  fein  v  e  r  t h  e  i  1 1  e,  aber  unlösljare  K  ö  r  p  e  r 
in  den  Kreislauf  eingebracht  wurden.  Denn  auch  solche  fein  vertheilte 
Körnchen  von  Carmin,  Anilinblau,  Zinnober  gelangen  häufig  nur  in  einzelne 
Gewebe.  Bei  diesen  Versuchsergebnissen  handelt  es  sich  jedoch  nicht  um 
die  elective  Wirkung  jener  (Jrgane,  in  welchen  die  Körnchen  angetroffen 
wurden,  sondern  um  eine  durchaus  verständliche  mechanische  Wirkung.  Ubi 
Stimulus,  ibi  affluxus :  Dort,  wo  die  Gewebe  gereizt  werden,  tritt  auch  ein 
reichlicher  Exsudationstrom  aus  der  Kreislaufbahn  in  die  Gewebe  ein,  und 
dieser  Strom  reisst  auch  die  suspendirten  Theilchen  mit,  gleich  wie  der 
angeschwollene  Giessbach  grössere  Steine  forttreibt  und  sie  dann  an  ent- 
fernteren Stellen  des  Flussbettes  wieder  fallen  lässt.  Die  Steine,  die  das 
Flussbett  verengen,  nachdem  die  Hochfluth  vorüber  ist,  sind  eben  nur  ein 
Zeichen  der  früher  stattgehabten  Strömung,  aber  sie  deuten  nicht  auf  eine 
verwandtschaftliche  Beziehung  zwischen  dem  abgelagerten  ^laterial  und  dem 
Flussbett  hin. 

Den  Typus  für  die  electiven  Wirkungen,  von  denen  hier  die  Rede 
war,  geben  uns  die  chemischen  Beziehungen  der  Körper,  die  soge- 
nannten Affinitäten.  So  werden  wir  auch  zu  der  Annahme  geleitet,  dass  die 
chemische  Zusammensetzung  einzelner  Gewebe  und  der  in  ihnen  enthaltenen 
Flüssigkeiten  die  Ursache  abgebe,  dass  aus  den  durchströmenden  Säften 
eben  nur  einzelne  chemische  Bestandtheile  gebunden  werden  und  haften 
bleiben.  Doch  aber  müssen  mit  Rücksicht  auf  die  eclectischen  Functionen 
erkrankter  Organe  neben  den  chemischen  Affinitäten  auch  noch  mecha- 
nische Ursachen  in  Betracht  kommen.  Denn  wenn  diese  Auswahl  von 
Stoffen  ein  Organ  betrifft,  welches  sich  im  Zustande  entzündlicher  Hyper- 
ämie befindet,  so  wird  eben  ein  Plus  von  Säften  aus  dem  Blute  in  die  Ge- 
webe getragen  und  dem  Plus  an  chemischen  Affinitäten  auf  mechanischem 
Wege  Nahrung  zugeführt. 


Q  EINLEITUNG. 

Mit  diesen  ErörteruDgen  ist  für  uns  ein  Yerständniss  der  thatsäclilich 
beobachteten  Wirkung  des  TuhercuUns  an  den  von  Lupus  afficirten  Haut- 
stellen angebahnt.  Eine  solche  elective  Wirkung  ist  für  das  Kocn'sche  Mittel 
von  verschiedenen  Seiten  her  behauptet  worden,  doch  legen  es  die  bei  der 
Eeaction  auftretenden  exsudativen  Erscheinungen  nahe  zu  vermuthen,  dass 
auch  eine  verstärkte  Strömung  aus  den  Kreislaufbahnen  in  das  hyperämische 
Gewebe  stattgefunden  hat.  In  dieser  Art  wird  uns  auch  die  in  jüngster 
Zeit  von  Hebka  behauptete  Wirkung  des  Thiosinamins  auf  Narbengewebe 
verständlich.    Die  Acten  hierüber  sind  freilich  noch  nicht  geschlossen. 

Aehnliche  Betrachtungen  sind  zulässig  über  die  specifische  und  in  ge- 
wissen Formen  sicherlich  auch  elective  Wirkungen  der  Infections- 
träger  und  dann  noch  jener  Stoffe,  die  in  der  Form  von  Impfung  oder 
in  neuester  Zeit  bei  der  Blutserumtherapie  (Tizzoni,  BEHRiNa)  in  der 
Form  von  Injectionen  einverleibt  werden. 

Das  Bestreben  aber,  Körper,  respective  chemische  Verbindungen 
kennen  zu  lernen,  welche  zu  gewissen  Krankheitsherden  besondere 
Beziehungen  besitzen,  um  dadurch  Heilung  oder  Immunisirung  zu  er- 
zielen —  das  ist  das  Ideal  und  die  Zukunft  der  Therapie.         Stricker. 


Abdominal -Typhus.  Nach  den  bakteriologischen  Forschungen  gilt 
eine  bestimmte  Bacillen-Art  als  der  specifische  Krankheitserreger  des 
Abdominal-Typhus.  Eberth  (1880)  war  der  Erste,  welcher  den  Typhiis- 
Bacillus  in  den  Organen  von  Typhus-Leichen  nachwies.  Gaffky  bestätigte 
diesen  Befund,  daher  auch  der  von  diesen  beiden  Forschern  beschriebene 
Mikroorganismus  als  der  Eberth- Gqfki/' sehe  Bacilkis  bezeichnet  wird.  Koch 
trat  für  die  Specifität  desselben  ein  und  erklärte  den  von  Klebs  in  den 
Darmgeschwüren  vorgefundenen  fadenförmigen  Bacillus  als  bedeutungslos. 
Der  EBEETH-GAPFKY'sche  Typhus-Bacillus  stellt  kurze,  plumpe,  an  den  Enden 
abgerundete  Stäbchen  dar,  die  zuweilen  2 — 3  sporenähnliche  Körperchen 
enthalten,  welche  einzeln  oder  in  einer  Kette  ganz  charakteristisch  anein- 
ander gegliedert  sind.  Als  wesentliche  Eigenschaften  des  Typhus-Bacillus 
werden  folgende  bezeichnet: 

1.  Eine  geringe  Affinität  zu  den  Anilinfarben,  nicht  färbbar  durch 
Gram. 

2.  Bei  Bruttemperatur  lässt  sich  dieser  Bacillus  auf  den  gewöhnlichen 
Nährböden  leicht  zählen. 

3.  Die  Nährgelatine  wird  durch  den  Typhus-Bacillus  ni  cht  verflüssigt. 

4.  Charakteristisch  ist  dasWachsthum  auf  Kartoffeln.  Schon  nach  24 
Stunden  ist  die  ganze  Kartoffeloberfläche  mit  einer  dünnen,  mikroskopisch 
kaum  sichtbaren,  resistenten  Haut  überzogen,  die  sich  bei  mikroskopischer 
Untersuchung  als  ein  Complex  dieser  Bacillenform  erweist.  Die  Kartoffel- 
cultur  ist  für  die  Differential-Diagnose  zwischen  Typhus-Bacillen  und  ähn- 
lichen Bacillen  wichtig  und  unerlässlich. 

5.  Auf  Thiere  Typhus  zu  übertragen,  ist  in  unzweifelhafter  Weise  bisher 
nicht  gelungen.  (A.  Fraenkel  -  Baumgarten.)  Hiemit  fehlt  also  eines  der 
bedeutungsvollsten  Argumente  für  die  sichere  Specifität  des  Eberth-Gaffky- 
schen  Bacillus. 

Ohne  in  eine  weitläufige  Erörterung  bezüglich  der  eben  beschriebenen 
Typhus-Bacillen  als  Krankheitserreger  einzugehen,  kann  der  Abdominal- 
Typhus  vom  klinischen  Standpunkte  als  eine  endemisch  auftretende 
Infectionskrankheit  betrachtet  werden,  deren  Ansteckungsstoff  meist 
in  den  Dejectionen  dergleicher  Kranken  vorhanden  erscheint.  Unzweifel- 
haft ist  die  Thatsache  erwiesen,  dass  die  Entleerungen  der  Kranken  und 
Alles,  was  mit  denselben  verunreinigt  ist,  wie  besonders  Bett-  und  Leib- 
wäsche, die  Infection  vermitteln  und  die  Krankheit  verl)reiten  können. 
Auch  nur  in  diesem  Sinne  kann  von  einer  Ansteckungsfälligkeit  —  von 
einer  Contagiosität  des  Abdominal-Typhus  gesprochen  werden. 

Was  die  entfernteren  Lifectionswege  betrifft,  so  spielt  das  Trink- 
wasser unzweifelhaft  eine  wichtige  Rolle.  Die  Verbreitung  des  Typhus 
durch  dasselbe  ist  ebenso  durch  traditionelle  Erfahrungen  und  iudirecte 
Beweise,  als  durch  wissenschaftlich  festgestellte  Thatsachen  erwiesen,  wird 
übrigens  auch  von  der  ül)erwiegenden  Mehrzahl  der  Aerzte  anerkannt.  Lisofern 
die  Typhus-Entleerungen  den  Infectionsstoff  enthalten  und  dieselben  am  häufig- 


8  ABDOMINALTYPHUS. 

steil  und  leichtesten  ins  Wasser  gelangen,  so  kann  dieses  am  ehesten  und 
meisten  die  Ansteckung  vermitteln.  Die  während  des  letzten  Decenniums 
vorgekommenen  Typhusepidemien  in  Hamburg,  Zürich,  Wiesbaden,  Buda- 
pest und  anderen  Orten  liefern  eclatante  Beispiele  hiefür.  Die  Infection 
durch  das  Trinkwasser,  wie  durch  das  Wasser  überhaupt,  kann  beim  Typhus 
aber  auch  clirect  mittels  Nahrungsmitteln,  namentlich  durch  Milch  erfolgen. 
Haet  wies  auf  dem  internationalen  medicinischen  Congresse  in  London 
(1881)  nach,  dass  damals  in  England  bereits  über  50  Typhus-Epidemien 
mit  3500  Erkrankungen  durch  den  Genuss  von  Milch  in  Folge  der  Ver- 
dünnung derselben  oder  durch  Beinigen  der  Milchgefässe  mit  inficirtem 
AVasser  stattgefunden  hatten.  Auch  aus  Deutschland  (Cöln,  Lindenthal  [1883]) 
und  von  Wien  (1880)  liegen  gleiche  Beobachtungen  vor.  Noch  augenschein- 
licher aber  wird  der  Einfluss  des  Trinkwassers  auf  die  Typhus-Verbreitung, 
wenn  dessen  Frequenz  an  ein  und  demselben  Orte  zu  verschiedenen  Zeiten 
bei  Versorgung  mit  s  c  h  1  e  c  h  te  ni  und  gute  m  Trinkwasser  verglichen 
wird.  So  fiel  in  Neapel  seit  der  Einführung  des  vorzüglichen  Serino-Trink- 
wassers  innerhalb  5  Jahren  (1885  —  1890)  der  Autheil  der  Typhus-Sterbe- 
fälle an  der  Gesammtmortalität  von  3*01  auf  0-69  Procent. 

Am  schlagendsten  ist  in  dieser  Beziehung  wohl  das  Verhalten  des  Typhus 
in  Wien  seit  der  Einführung  des  so  unvergleichlich  guten  Hochqiiellenwassers. 
Es  zeigte  sich,  dass  mit  dem  Zunehmen  der  Einleitung  der  Hochquelle  in  die 
Häuser  der  Typhus  in  denselben  im  gleichen  Verhältnisse  abnahm,  als  er 
in  den  Häusern  ohne  Hochquelle  stetig  blieb.  Wenn  überhaupt  noch  ein 
Zweifel  in  dieser  Richtung  erhoben  werden  kann,  so  muss  derselbe  durch 
die  Erfahrungen  der  späteren  Wiener  Wassercalamitäten  schwinden.  Als 
1877  wegen  Mangel  an  Hochquellenwasser  zeitweilig  in  mehreren  Bezirken 
Donaiiwasser  eingeleitet  wurde,  entwickelte  sich  eine  Typhus-Epidemie, 
welche  fast  ausschliesslich  auf  die  Häuser  mit  Donauwasser  beschränkt 
war.  So  erkrankten  damals  von  1000  Bewohnern  in  den  Bezirken  mit  Hoch- 
quelle 3-8  und  in  jenen  mit  Donauwasser  21-5.  Während  die  durch  Hoch- 
quelle  versorgten  Häuser  nur  mit  2'7  Procent  an  der  Typhus-Epidemie 
participirten,  so  betrug  das  percentuale  Verhältnis  der  Häuser  mit  Donau- 
wasser an  Typhus-Erkrankungen  24-2  Procent.  Dergleichen  Beispiele,  wo 
in  einer  Grossstadt,  wie  in  Wien,  durch  Einführung  guten  Trinkwassers 
die  Typhus-Frequenz  auf  ein  Minimum  herabsinkt  und  die  Krankheit  dann 
wieder  bei  zeitweiligem  Genüsse  schlechteren  Trinkwassers  zur  Epidemie 
anwachst,  stehen  wohl  einzig  da.  Der  Volksglaube,  dass  der  Typhus 
getrunken  werde  —  hat  somit  seine  gute  Begründung.  Jedoch  lässt  sich 
der  Einfluss  einer  gewissen  Beschaffenheit  des  Bodens  auf  das  örtliche 
Verhalten  des  Typhus  nicht  verkennen.  So  hat  v.  Pettenkofer  den  Zu- 
sammenhang zwischen  den  Schwankungen  des  Grundwassers  und  der  Fre- 
ciuenz  der  Typhus-Erkrankungen  für  München  in  seiner  gewohnten,  klaren 
und  bündigen  Weise  trefflich  veranschaulicht.  Nach  demselben  ist  ein  tiefer 
Grundwasserstand  der  Entwicklung  und  Verbreitung  dieser  Krankheit  sehr 
förderlich. 

Die  anatomischen  V  er  an  de  rungen  an  der  Typhusleiche  be- 
schränken sich  hauptsächlich  auf  den  untersten  Theil  des  Dünndarmes  und  auf 
dessen  drüsige  Gebilde,  bestehen  in  einer  Schwellung,  markigen  Infiltration  und 
necrötisirenden  Zerfall  der  PEYER'schen  Plaques  und  solitären  Follikeln. 
Dieser  Befund  gilt  als  ganz  charakteristisch  für  den  Typhusprocess  und  ent- 
sprechen demselben  auch  gewisse  Perioden  im  Verlaufe  des  klinischen 
Krankheitsbildes.  In  der  ersten  Krankheitswoche  dürfte  wohl  mehr  eine 
Anschwellung,  als  Infiltration,  namentlich  der  PEYEii'schen  Plaques  statt- 
finden, während  sich  an  denselben  in  der  zweiten  oder  Anfangs  der  dritten 


ABDOMTNALTYPHUS.  9 

Woche   iiecrotisclie  Schorfe    und   nach  Abstossuiig    (lersel])eii   UU'erationen 

—  die  Typlmsgeschwüre  bilden.  Erreicht  die  Krankheit  schon  in  der  dritten 
Woche  iiir  Ende,  so  liegt  die  Vermuthung  nahe,  dass  die  markige  Infiltration 
direct  zur  Resorption  gekommen  ist.  Die  Vernarbung  der  Geschwüre  er- 
folgt meist  mit  Ablauf  der  dritten  oder  in  der  vierten  Woche.  Dieselben 
heilen  ohne  Stenosirung  des  Darmes,  haben  aber  die  Neigung  zur  Perforation. 
Dieselben  Vorgänge  finden  auch  in  mehr  weniger  zahlreichen  solitären 
Follikeln  statt  und  erstrecken  sich  selbst  auf  den  Dickdarm.  Die  übrige 
Darmschleimhaut  befindet  sich  mehr  in  einem  catarrhalischen  oder  selbst 
entzündlichen  Zustande.  Gleichzeitig  ergänzen  den  necroskopischen  Befund 
Schwellung  der  Mesenterialdrüsen  und  der  Milz.  Häufig  finden  sich  in  den 
Lungen:  ausgebreitete  Bronchitis,  lobuläre  catarrhalische  oder  selbst  lobäre 
croupöse  Pneumonie  und  im  Kehlkopfe  Catarrh,  oberflächliche  oder  selbst 
tiefgehende  PTlcerationen  der  Schleimxhaut.  Körnige  oder  wachsartige  Muskeh 
degeneration  (Zenker)  erfolgt  meist  auch  bei  längerem  Typhusverlaufe.. 
Nach  den  Arbeiten  von  E.  Fraenkel  und  Simonds  ist  es  sehr  wahrsclieinlich, 
dass  an  der  Entstehung  der  meisten  Complicationen  der  Krankheit  nicht 
die  Typhusbacillen,  sondern  die  pyogenen  Coccen  ursächlichen  Antheil 
haben. 

Sehr  selten  tritt  der  Typhus  gleicli  in  der  Gesammtheit  seiner  Er- 
scheinungen auf,  es  gehen  demselben  vielmelir  leichtere  oder  schwerere 
Störungen  des  Allgemeinbefindens  voraus  und  bilden  gleichsam 
den  Uebergang  zur  eigentlichen  Krankheit.  So  klagen  die  Kranken  meist 
zuerst  blos  über  ein  ganz  unbestimmtes  Unwohlsein  oder  Unbehagen,  zeit- 
weiliges Frösteln  oder  Hitzegefühl,  Appetitlosigkeit,  gesteigerten  Durst, 
etwas  Durchfall  oder  ^Verstopfung,  Mattigkeit,  Abgeschlagenheit,  Schwere  in 
den  Gliedern,  unruhigen  oder  mangelnden  Schlaf,  Kopf-  und  Halsschmerzen 

—  kurz  über  Zufälle,  die  bei  den  verschiedensten  fieberhaften  Krankheiten 
auftreten  können.  Nasenblutungen  kommen  auch  häufig  in  der  prodromalen 
Periode  der  Krankheit  vor.  Ausgesprochene  Schüttelfröste  gehören  schon 
mehr  zu  den  sicheren  Vorboten  und  können  als  Beginn  des  wirklichen 
Typhus    betrachtet   werden. 

Das  Kraukheitsbild  des  Typhus  besteht  kurz  gefasst  in  der  Gegenwart 
von  Fieber  mit  besonderem  Verhalten  der  Temperatur,  in  Schwellung  der 
Milz,  Auftreibung  des  Unterleibes,  Darmaffection,  diffuser  Bronchitis,  Er- 
griifensein  des  Nervensystems  und  in  einem  mehr  minder  häufig  auftretenden 
roseolaartigen  Exanthem.  Lassen  sich  diese  Erscheinungen  auf  keine  andere 
Weise,  durch  keine  andere  Krankheit  erklären,  so  ist  damit  die  Diagnose 
auf  Typhus,  wenn  auch  oft  nur  mit  grösster  Wahrscheinlichkeit,  begründet. 
So  leicht  manchmal  sofort  auf  den  ersten  Blick  die  Krankheit  erkannt 
werden  kann,  so  bleibt  dieselbe  doch  nicht  selten  bei  aller  Erfahrung  und 
Beobachtung  höchst  fraglich. 

Symptome.  Unter  allen  Erscheinungen  des  Typhus  ist  das  Fieber, 
namentlich  das  Verhalten  der  Körpertemperatur  am  wichtigsten  und  be- 
deutungsvollsten. Nur  regelmässig  angestellte  Messungen  dieser  können  einen 
geAvissen  sicheren  Massstab  für  die  Beurtheilung  der  Schwere  der  Krankheit 
haben.  Ohne  dieselben  ist  eine  eigentliche  Orientirung  beim  Typhus  über- 
haupt nicht  möglich.  Wiewohl  die  Temperaturmessungen  im  Piectum  am 
verlässlichsten  sind,  so  genügt  doch  für  den  wahren  Zweck  die  Vornahme 
derselben  in  der  Achselhöhle,  und  zwar  3-  4mal  des  Tages.  Eine  ganz 
besondere  Eigenthümlichkeit  l)ietet  beim  Typhus  der  Gang  der  Temperatur 
zu  den  verschiedenen  Tageszeiten.  Während  in  den  Morgenstunden  ein 
Nachlass  —  eine  Piemission  der  Temperatur  erfolgt,  so  findet  wieder  gegen 
den  Abend   zu    eine  Steigerung  —  eine  Exacerbation  statt.    Abweichungen 


10  ABDOMINALTYPHUS. 

hievon  sind  au  und  für  sich  schon  uiissliehe  Zeichen.  Die  gewöhnlichen 
Morgen-  nnd  Abendtemperatureu  sind  nach  dem  verschiedenen  Zeitveriaiife 
des  Typhus  auch  sehr  verschieden  und  bewegen  sich  meist  um  39 — 40"  C. 
und  um  mehr  weniger  darüber.  Temperaturen  von  41 — 42«  kommen  sehr 
selten  vor  und  bekunden  immer  eine  äusserst  schwere,  wenn  auch  nicht 
stets  lethale  Krankheit.  Plötzliches  Fallen  oder  Steigen  der  Temperatur 
ohne  arzneiliche  Einwirkung  haben  entweder  den  Collapscharakter,  wie 
bei  Darmblutungen,  Perforation  oder  zeigen  den  Hinzutritt  von  meist 
entzündlichen  Complicationen ,  wie  Pneumonie,  Parotitis,  Phlebitis,  an. 
Wenn  zu  keiner  Tageszeit  die  Temperatur  sich  über  38"  erhebt  und 
derartig  anhält,  so  spricht  dies  für  die  günstige  Wendung  der  Krankheit 
umsomehr.  wenn  auch  das  ganze  Befinden  des  Kranken  hiemit  über- 
einstimmt. 

Wenn  auch  die  erhöhte  Pulsfrequenz  beim  Typhus  zum  Theile  von 
der  gesteigerten  Körperwärme  abhängt,  so  steht  dieselbe  doch  nicht  immer 
in  einem  geraden  Verhältnisse  zu  dieser.  Aber  immerhin  werden  hohe 
Temperaturgrade  von  einer  entsprechenden  Pulsbeschleunigung  liegleitet. 
Meist  schwankt  die  Zahl  der  Pulsschläge  in  der  Minute  zwischen  96 — 120. 
aber  auch  darüber,  140 — 160,  was  aber  sehr  ungünstig  ist.  Dabei  erscheint 
derselbe  meist  doppelschlägig.  Diese  Dicrotie  ist  für  den  Typhus  durchaus 
nicht  charakteristisch,  da  sie  auch  bei  anderen  fieberhaften  Krankheiten 
mit  Nachlassen  der  Arterienspannung  beobachtet  wird.  Unregelmässigkeiten 
im  Pulse  sind  seltener  und  da  meist  Zeichen  von  Structurveränderungen 
der  Muskulatur  des  Herzens.  Systolische  Blasegeräusche  in  demselben 
finden  sich  fast  coustant.  während  gespaltene  Töne  nur  manchmal  gehört 
werden.  Mit  dem  Fieber  geht  gleichzeitig  eine  Steigerung  des  Durstes  ein- 
her, die  Schleimhäute  des  ]\Iundes.  Halses  und  Piachens  trocknen  ein  und  es 
entstehen  Crusten  auf  denselben  aus  capillaren  Blutungen,  in  Folge  deren 
sich  bei  der  Eintrocknung  des  Blutes  ein  fuliginöser  Belag  auf  den  Lippen, 
an  den  Zähnen  und  auf  der  ganz  trockenen  Zunge  bildet.  Die  Esslust  liegt 
ganz  darnieder.  Trockenheit  im  Munde  und  klebriger  pappiger  Geschmack 
werden  von  den  Kranken  sehr  unangenehm  empfunden.  Uebligkeiten. 
Brechreiz  oder  Erbrechen  sind  seltener,  letzeres  eher  im  Beginne  als  im 
späteren  Verlaufe  der  Krankheit.  Dagegen  gehört  der  .  Singultus  einer 
späteren  Zeit  des  Typhus  an. 

Die  Anschwellung  der  Milz  gehört  beim  Abdominaltyphus  zu 
den  regelmässigsteu  Erscheinungen.  Dieselbe  erfolgt  augenscheinlich  schon 
sehr  frühe  und  lässt  sich  dann  später  meist  sehr  deutlich  unter  den  Rippen- 
bogen tasten.  Die  Kranken  klagen  auch  öfters  über  recht  empfiuclliche 
Schmerzhaftigkeit  in  der  Milzgegend.  Die  Ab  seh  wellung  der  Milz  findet 
gleichzeitig  mit  dem  allgemeinen  Nachlasse  der  Krankheit  statt.  Wiederholt 
ist  es  gelungen,  in  der  aus  der  Milz  während  des  Lebens  entnommenen 
Substanz  Typhusbacillen  nachzuweisen. 

Von  Seite  des  Unterleibes  kommt  es  zuweilen  gleich  im  Beginne 
der  Krankheit  zu  einer  Schmerzhaftigkeit  in  der  Coecalgegend,  namentlich 
bei  Druck  daselbst.  Gleichzeitig  ^^Ird  hiebei  oft  ein  eigenthümliches  Geräusch 
(Ileocoecal-Gurren)  vernommen.  Klagen  über  Leibschmerzen  sind  selten, 
stellen  sich  solche  aber  ein,  so  halten  sie  meist  während  des  ganzen 
Krankheits  verlauf  es  an.  Sehr  häufig  wird  beim  Typhus  eine  Auftreibung 
des  Unterleibes  —  Meteorismus  —  in  verschiedenen  Graden  beobachtet,  die- 
selbe ist  aber  keineswegs  eine  constante  Erscheinung.  Starker  Meteorismus, 
namentlich  mit  Aufwärtsdrängung  des  Zwerchfelles,  ist,  ganz  abgesehen  von 
peritonaealen  Atfectionen.  gar  bedenklicher  Vorbedeutung. 

Wenn    auch    der   Durchfall   im  Allgemeinen   als   ein   dem   Typhus 


ABDOMINALTYPHÜS.  1 1 

mehr  eijienthümliches  Symptom  gilt,  so  fehlt  er  doch  zuweilen,  oder  ist 
selbst  träger  Stuhl,  sogar  Yerhaltuiig  desselben  zugegen.  Meist  schon  in  den 
ersten  Erkrankungstagen  tritt  ein  paar  Mal  Diarrhoe  ein.  dieselbe  nimmt 
spcäter  an  Häufigkeit  zu,  erfolgt  10^ — ISmal  und  auch  mehr  täglich,  selbst 
auch  unwillkürlich.  Das  Aussehen  der  frischen  Stühle  ist  gewöhnlich  charak- 
teristisch, von  gelber  Farbe  —  erbsenpureeartig.  Beim  Stehen  schichten 
sich  dieselben  in  einen  olleren,  trüben,  mehr  flüssigen  nnd  in  einen  unteren, 
eine  krümliche  Masse  darstellenden  Theil.  Mitunter  lassen  sich  in  derselben 
auf  dem  Culturwege  Typhusbacillen  auffinden.  So  lange  der  Durchfall  von 
solcher  Beschaffenheit  ist,  kommt  es  mehr  nur  auf  dessen  Menge  und 
Häufigkeit  an,  erscheint  derselbe  aber  blutig  gefärbt,  so  ist  die  Krankheit 
in  eine  neue  schwere  Phase  getreten.  Die  mit  dem  Stuhle  entleerten  Blut- 
mengen sind  manchmal  ganz  massenhaft,  selbst  über  einen  Liter  betragend. 
Dergleichen  Blutungen  kommen  nur  durch  Arrosion  der  Gefässe  in  den 
Darmgeschwüren  nach  Abstossung  der  Schorfe  zu  Stande.  Die  dieselben 
begleitenden  Zufälle  sind  meist  äusserst  bedenklich,  wie  Collaps.  bedeutender 
Temperatursturz,  Herzschwäche,  Pulslosigkeit.  Ohnmacht  —  kurz,  wie  hoch- 
gradige Auaemie.  Indess  erholen  sich  die  Kranken  manchmal  nach,  selbst 
sehr  profuser  Darmhaemorrhagie  in  ganz  erstaunlicher  Weise.  Bei  von 
mir  hydriatisch  behandelten  246  Typhusfällen  kamen  Umal 
(4-4%)  Darmblutungen  vor.  und  zwar  7mal  mit  Genesung  und  4mal  mit 
tödtlichem  Ausgange.  Weit  gefährlicher  als  die  Darmblutungen  sind  hin- 
gegen die  Darmperforationen  in  Folge  Durchbruches  typhöser  Geschwüre 
in  die  Bauchhöhle.  Selten  tritt  unmittelbar  nach  derselben  der  Tod  ein, 
sondern  findet  meist  erst  nach  eitriger  oder  jauchiger  Peritonitis  statt.  Die 
Perforationen  sind  immer  von  plötzlich  auftretenden,  äusserst  heftigen  Unter- 
leibsschmerzen, starkem  Meteorismus  mit  Singultus,  Uebligkeiten,  Erbrechen 
begleitet.  Der  klinische  Nachweis  der  eingetretenen  Perforation  durch  Ver- 
schwinden der  Leberdämpfung  ist  bei  Vorlagerung  stark  aufgetriebener 
Gedärme  nicht  gar  so  leicht  und  sicher.  Meist  erfolgt  der  Durchbruch 
typhöser  Geschwüre  erst  im  späteren  Krankheitsverlaufe  und  auch  manchmal 
zu  einer  Zeit,  wo  sich  der  Typhus  zum  Besseren  gewendet  zu  haben  scheint 
und  selbst  der  Arzt  in  bester  Hoffnung  ist.  Bei  den  oben  angeführten 
246  Typhusfällen  ereignete  sich  die  Perforation  2mal  und  zwar  Imal  am 
19.  und  das  andere  Mal  am  28.  Krankheitstage. 

Lungen-Aff ectionen  gehören  zu  den  frühesten  und  häufigsten 
Zufällen  des  Typhus.  Sie  stehen  entweder  in  directer  Beziehung  zur  typhösen 
Infection.  können  aber  auch  durch  Asi)iration  von  Entzüudungserregern  aus 
der  Mund-  und  Rachenhöhle  oder  durch  verminderten  Gefässtonus  und  der 
beständigen  passiven  Piückenlage  der  Kranken  veranlasst  werden.  Schon 
mit  dem  Eintritte  des  Fiebers  bestehen  oft  die  auscultatorischen  Erschei- 
nungen einer  über  die  feinsten  Luftwege  sich  erstreckenden  catarrhalischen 
Entzündung  deren  Schleimhaut  (Bronchitis),  als  da  sind:  Zischen.  Pfeifen, 
abgeschwächtes,  rauhes,  verschärftes  Athmungsgeräusch,  meist  ohne  oder 
mit  nur  spärlichem  Ptasseln.  Die  Kranken  haben  gleichzeitig  etwas  trockenen 
Husten.  Beklemmung.  Brustschmerzen  und  selbst  auch  einen  leicht  cyano- 
tischen  Anflug  des  Gesichtes.  Später  kommt  es  dann  zu  herdweisem  Auf- 
treten von  klein-  oder  grossblasigen  Passelgeräuschen  mit  mir  wenig  Sputum. 
Eine  derartige  Bronchitis  begleitet  oft  den  ganzen  Krankheitsverlauf  des 
Typhus  und  kann  selbst  durch  üebergreifen  auf  vorher  verschont  geblie- 
l)ene  Lungenpartien  ein  neuerliches  Ansteigen  der  bereits  herabgegangenen 
Temperatur  bewirken.  In  Folge  der  durch  Schwellung  der  Schleimhaut  statt- 
findenden Verstopfung  der  kleinsten  Bronchien,  wie  der  mangelnden  Expek- 
toration bei  durch  Störungen  im  Xervensvsteme  benommenen  Kranken  kommt 


12  ABDOMIXALTYPHUS. 

es  dann  zu  lobulären  Pneumonien,  namentlich  in  den  abschüssigsten  Theilen  der 
Lunge,  und  bei  Vordringen  derselben  an  die  Peripherie  zu  Pleuritis.  Ausser 
den  sogenannten  hypostatischen  und  x\spirations-Pneumonien 
wird  beim  Typhus  auch  nicht  selten  die  echte  lobäre  croupöse  Pneu- 
monie, und  zwar  selbst  in  so  frühen  Stadien  der  Krankheit  beobachtet, 
dass  dieselbe  auch  als  unmittelbare  Wirkung  des  typhösen  Giftes  betrachtet 
werden  kann.  Unter  den  246  angeführten  Typhusfällen  befanden  sich  19 
Kranke  (7-7  Procent i  mit  hinzugetretener  Pneumonie.  Hievou  starben  10 
und  genasen  9.  Einfache  catarrhalische  Schwellung  der  laryuge  aleu  Schleim- 
haut mit  Heiserkeit  kommt  beim  Typhus  ebenfalls  öfters  vor  und  kann  zu 
oberflächlicher  Geschwürsbildung  an  den  Stimmbändern  und  hinteren  Larynx- 
wand  führen.  Tiefer  gehende  Processe  im  Kehlkopfe  sind  allerdings  seltener, 
aber  umso  gefährlicher,  da  hiebei  rasch  eintretendes  Glottisoedem  Er- 
stickungsgefahr im  Gefolge  haben  kann.  Auch  im  Pia  eben  finden  sich 
beim  Typhus  zuweilen  catarrhalische  und  diphtheritische  Affectionen  (An- 
gina). Nach  Höpfxee's  Statistik  von  2000  Typhusfällen  kam  Diphtherie 
des  Kehlkopfes  in  5  Proc..  des  Pharynx  in  0"5  Proc.  und  Glottisoedem  in 
1  Proc.  vor. 

Sehr  mannigfaltig  und  vorwaltend  sind  beim  Typhus  die  Störungen 
im  Nervensysteme.  Hierauf  mag  sich  wohl  die  früher  gebräuchliche 
Benennung  der  Krankheit  als  Nervenfieber  beziehen.  Schon  in  den  ersten 
Tagen  der  typhösen  Erkrankung  klagen  die  Patienten  über  Kopfschmerzen, 
namentlich  in  der  Stirn-  und  Schläfegegend,  grosse  Mattigkeit  und  Abge- 
schlagenheit der  Glieder,  unruhigen  Schlaf,  zeigen  eine  verdriessliche 
Stimmung  und  Unlust  zu  ihrer  gewohnten  Beschäftigung.  Hiemit  stellt  sich 
auch  meist  eine  mehr  minder  hochgradige  Schwerhörigkeit  ein.  Die  Kopf- 
schmerzen lassen  indes  sehr  bald  nach  oder  verschwinden  selbst  gänzlich. 
Hingegen  tritt  eine  gewisse  Benommenheit  ein.  die  Ivrankeu  liegen  apathisch 
dahin,  aufgefordert  zeigen  sie  wohl  die  Zunge,  vergessen  sie  aber  zurück- 
zuziehen, antworten  auf  gestellte  Fragen  langsam,  einsilbig,  verkehrt  oder 
widersprechend.  In  schweren  Fällen  steigert  sich  dieser  Zustand,  es  treten 
Sopor  und  tiefes  Coma  ein.  Anderseits  kann  es  zu  psychischen  Erregungs- 
zuständen, namentlich  zu  Delirien,  besonders  in  der  Xacht.  kommen.  Die 
Kranken  lärmen  und  schreien  (furibunde  Delirien),  werden  von  den  ver- 
schiedensten Hallucinationen  gepeinigt,  können  nur  mit  grosser  Gewalt  im 
Bette  zurückgehalten  werden.  Bisweilen  liegen  aber  die  soporösen  Kranken 
leise  vor  sich  murmelnd  dahin  (musitirende  Delirien).  Mit  diesen  tief  grei- 
fenden Veränderungen  des  Bewusstseins  verbinden  sich  auch  motorische 
Störungen,  namentlich  an  den  Extremitäten-Muskeln,  wie  Fleckenleseu. 
Sehnenzupfen  (Sabsaltux  tendinum).  Die  Sehnenreflexe  und  die  mechanische 
Erregbarkeit  der  Muskeln  sind  stark  erhöht.  Bei  sich  einstellendem  Coma 
findet  dann  das  Gegentheil  statt,  die  Muskeln  werden  schlafl:'.  die  Reflex- 
Erregbarkeit  nimmt  ab  oder  erlischt.  Eigentliche  Geistesstörungen  —  Psy- 
chosen kommen  im  Verkufe  oder  in  der  Pvoconvalescenz  des  Typhus  selten 
vor  und  bestehen  entweder  in  einer  melancholischen  Depression  oder  in 
mit  Hallucinationen  verbundenen  Erregungszuständen.  Dagegen  sind  Xerven- 
aflectionen.  besonders  der  Extremitäten,  neuritischen  Ursprunges  nicht  so 
selten.  P)ie  Anschauung,  dass  die  .nervösen  Ph'scheinungen  l)eim  Typhus 
hauptsächlich  die  unraittell)are  Folge  der  Temperatursteigeruug  seien, 
stimmt  insoferne  nicht  mit  den  klinischen  Beobachtungen,  als  nicht  immer 
eine  Uebereinstimmung  der  Höhe  des  Fiebers  mit  der  Schwere  der  nervösen 
Störuiigen  besteht,  und  dass  bei  niedriger  Temperatur  auch  sehr  schwere 
nervöse  Erscheinungen  vorkommen  können.  Indes  zeigen  die  Erfahrungen  l)ei 
der  hydriatischen  Behandlung  des  Typhus,   dass  mit  der  Heral)S("tzung  der 


ABDOMINALTYPHUS.  13 

Temperatur  durch  dieselbe  auch  die  nervösen  Zustände  sich  entschieden 
bessern,  aber  wiederkehren,  sobald  ein  Ansteigen  der  Temperatur  stattfindet. 
So  spärlich  und  unscheinl)ar  auch  meist  das  Exanthem,  die  blassrothen 
Knötchen  und  Flecken  (Roseola)  beim  Typhus  sind,  so  können  sie  dodi 
einen  gewissen  diagnostischen  Werth  haben.  Dieselben  zeigen  sich  meist 
schon  sehr  frühe  im  Krankheitsverlaufe,  namentlich  am  Stamme :  auf  Brust 
und  Rücken,  belästigen  übrigens  nicht  im  Mindesten  die  Kranken.  Nach 
profusen  Schweissen  kommt  es  oft  auch  zur  Entwicklung  der  verschiedenen 
Formen  der  Miliaria.  Haemorrhagien  in  die  Haut  (Ecchymosen)  sind  selten 
und  bedeuten  immer  einen  sehr  bösartigen  Charakter  der  Krankheit 
(Petechialtyphus). 

Verhaltung  oder  unwillkürlicher  Abgang  des  Harnes  treten  nur  bei 
tiefem  Ergriffensein  des  Sensoriaras  ein.  Der  Harn  selbst  ist  dunkelroth. 
hoch  im  specifischen  Gewichte  bei  vermehrtem  Harnstoffgehalte.  Die  Menge 
desselben  ist  auffallig  vermindert.  Meist  besteht  gleichzeitig  geringe  Albu- 
minurie (febrile  Albuminurie). 

Bei  der  Mannigfaltigkeit  der  Krankheitserscheinungen  und  dem  nicht  sel- 
tenen Eintritte  ganz  unvorhergesehener  Ereignisse  im  Typhus -Verlaufe  lassen 
sich  für  den  Gang  der  Krankheit  nur  im  Allgemeinen  gewisse  Perioden 
oder  Zeitabschnitte  unterscheiden.  Dieselben  entsprechen  der  Ent- 
wicklung, der  Höhe  und  dem  Rückschreiten  oder  Abheilen  der  Krankheit 
und  werden  gewöhnlich  auf  Wochen  berechnet.  Insofern  das  Fieber  ein 
stetiges  und  wesentliches  Symptom  des  Typhus  ist  und  aus  diesem  Com- 
plexe  die  Temperatur  sich  am  wichtigsten  und  massgebendsten  erweist  und 
gleichzeitig  am  sichersten  und  genauesten  am  Thermometer  bemessen  lässt. 
so  ergibt  dieselbe  hiefür  auch  die  verlässlichsten  Anhaltspunkte.  Selbst- 
verständlich sind  gleichzeitig  die  übrigen  Begleiterscheinungen  der  Krank- 
heit mit  in  Anschlag  zu  bringen.  Mit  dem  allerersten  Auftreten  des 
Fiebers,  wenn  es  besonders  unter  Kältegefühl  oder  Schüttelfrost  erfolgt, 
kann  der  Beginn  der  Krankheit  angenommen  werden,  die  übrigen 
krankhaften  Erscheinungen  können  hiebei  auch  ganz  allgemein  und  nicht 
sicher  zu  deuten  sein.  Mit  dem  Anschwellen  der  Milz,  Eintritte  von  flüs- 
sigen Stuhlentleerungen,  Abgeschlagenheit  und  Hinfälligkeit  unter  auffallen- 
dem Fieber  ist  das  Typhusbild  s  c  h  o  n  m  e  h  r  ausgeprägt.  Die  Temperatur 
steigt  gleichzeitig  nur  allmälig  an,  wird  mit  jedem  weiteren  Tage  etwas 
höher  und  zeigt  schon  Unterschiede  Morgens  und  Abends.  Dieselbe  schwankt 
anfangs  meist  zwischen  38  und  39  o  C.  Ein  plötzliches,  unniässig  hohes 
Ansteigen  der  Temperatur  kommt  in  der  Entwicklung  des  Typhus  eigent- 
lich nicht  vor.  Die  Kranken  haben  nun  eine  trockene  heisse  Haut, 
liegen  apathisch  oder  schläfrig  dahin  und  zeigen  auf  der  Brust  und  am 
Unterleibe  einzelne  Roseola  -  Knötchen.  Diese  Initial  -  Symptome  halten 
gewöhnlich  mehrere  Tage  an  und  können  als  der  ersten  Krankheitswoche 
entsprechend  betrachtet  w^erden.  Mit  dem  weiteren  Vor  sc  breiten 
der  Krankheit  erscheinen  die  schweren  Allgemeinsyniptome:  Die 
Schwäche,  Hinfälligkeit  und  Benommenheit  nimmt  zu.  Die  Kranlcen  liegen 
meist  somnolent  oder  selbst  soporös  dahin  oder  sind  selir  unruhig  und  de- 
liriren.  Die  Begleiterscheinungen  von  Seite  der  Bauchorgane  sind  häu- 
figer Durchfall,  starker  Meteorismus  und  zunehmende  Milzschwellung. 

Nun  erscheinen  auch  die  Zeichen  der  Lungenaf  f  e  ction,  trockener 
Husten  als  Symptom  der  beginnenden  Bronchitis.  Je  nach  der  Intensität 
der  letzteren  Märd  das  Athmen  mehr  oder  minder  hocligradig  zur  Dyspnoe 
und  vergesellschaftet  sich  zuweilen  mit  Cyanose.  Der  Puls  hat  meist  100 
bis  200  Schläge  in  der  Minute  und  darüber,  ist  exquisit  dicrot  oder  auch 
klein  und  schwach.    Die  Temperatur  steigt  hoch  an.   ist  morgens  etwas 


14  ABDOMINALTYPHUS. 

imter  oder  wenig  über  39°  C  und  abends  meist  über  40  o.  Ein  Abweichen 
von  diesem  A^rhalten  der  Remission  imd  Exacerbation  ist  immer  ein  be- 
deutsames Zeichen.  Dieses  Höhen-Stadium  des  Typlius  zeigt  die  grösste 
Verschiedenheit  in  seiner  Dauer,  kann  sich  blos  auf  ein  paar  Tage,  aber 
auch  auf  1  bis  2  oder  selbst  mehrere  Wochen  erstrecken. 

Im  Durchschnitte  erreicht  der  Typhus  wohl  gewölilich  in  oder  wenig 
über  3  Wochen  seinen  Höhepunkt.  Sobald  beim  Typhus  einmal  das 
Fieber  nachlässt,  tritt  auch  meist  eine  ganz  entschieden  günstige  Wendung 
im  Befinden  des  Krauken  ein.  Das  Sensorium  wird  freier,  der  Durchfall 
hört  auf  oder  lässt  nach,  die  ganz  trockene  Zunge  wird  klebrigfeucht,  der 
Puls  weniger  frequent  und  auch  die  Lungenerscheinungen  bessern  sich. 
Die  Esslust  steigert  sich  bis  zum  wahren  Heisshunger.  Die  Entfieberung 
tritt  nicht  rasch,  plötzlich,  sondern  allmälig  ein,  indem  die  Temperatur 
mit  jedem  folgenden  Tage,  sowohl  des  Morgens  als  des  Abends,  immer 
mehr  herabgeht.  Mitunter  ist  dieselbe  am  Morgen  schon  normal,  aber  abends 
noch  erheblich  gesteigert.  Wie  einmal  die  Temperatur  zu  keiner  Tages- 
zeit sich  mehr  über  das  Normale  erhebt  und  derartig  1  bis  2  Tage  anhält, 
ist  aus  grösster  Wahrscheinlichkeit  der  Uebergang  der  Krankheit  in  die 
Eeconvalescenz  anzunehmen.  Diese  ist  durch  kein  einziges  Anzeichen  auch 
nur  annähernd  so  sicher  zu  bestimmen,  als  durch  das  Ausbleiben  der 
Temperatur-Steigerung. 

Es  gibt  so  zahlreiche  Formen  und  Abweichungen  von  dem  ge- 
wöhnlichen Bilde  des  Abdominal-Typhus.  dass  es  unmöglich  ist,  alle  Vorkomm- 
nisse bei  demselben  aufzuzählen.  Mitunter  setzt  die  Krankheit  mit  mehr 
weniger  Fieber  ein,  ohne  dass  es  ausser  der  Milzschwellung  und  Diarrhöe 
zu  irgendwelchen  anderen  Symptomen  kommt.  Nach  einigen  Tagen  fühlen 
sich  die  Kranken  T\'ieder  wohler  und  gehen  ihrer  gewohnten  Beschäftigung 
nach.  Hiebei  mag  das  Krankheitsziel  wohl  blos  eine  catarrhalische  Aftection  der 
Darmschleimhaut  oder  eine  markige,  sehr  bald  zur  Eesorption  gelangende 
Infiltration  derselben  veranlasst  haben.  Dergleichen  Krankheitsfälle  (Tijphus 
ahortivus)  sind  aber  sehr  insiduös,  da  sich  denselben  öfters  ein  schwerer 
Typhus -Verlauf  anschliesst.  Auch  kann  sich  nach  bereits  abgelaufener 
Krankheit  der  Process  wiederholen  und  als  Piecidive  auftreten.  Solche 
Fälle  beruhen  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  nicht  auf  einer  neuen,  von 
aussen  stammenden  Infection  des  Körpers,  sondern  sind  durch  innere  Vor- 
gänge, wie  durch  eine  nocheinmalige  Entwicklung  des  Krankheitsgiftes 
durch  einen  Nachschub  desselben  —  durch  Autoinf ection  —  bedungen. 
Das  klinische  Bild  stimmt  hiebei  in  allen  Einzelnheiten  mit  der  ursprüng- 
lichen typhösen  Erkrankung  tiberein.  nur  ist  der  Verlauf  ein  weit  kürzerer. 

Beim  Abdominal-Typhus  spielen  namentlich  bezüglich  der  Dauer  und 
des  Verlaufes  der  Krankheit  die  zahlreichen  Complicationen  eine 
Hauptrolle.  Alle  Organe  können  eine  Localisations-Stätte  derselben  sein. 
Der  wichtigsten  Complicationen  wurde  bereits  bei  Beschreibung  des 
Symptomenbildes  Erwähnung  gethau  und  es  mögen  deshalb  hier  nur  jene 
den  Typhusverlauf  complicirenden  Processe  genannt  werden,  welche  im 
Ablauf  der  Krankheit  und  im  Re  c  on  valesc  enz-Stadium  aufzu- 
treten pflegen,  als  da  sind:  lobäre  Pneumonie,  Parotitis.  Phlebitis,  Venen- 
thrombosen und  Decubitus.  Der  Letztere  kam  in  den  von  mir  hy- 
driatisch  behandelten  246  Typhus- Fäl  1  en  nur  11  mal  (4-4%) 
vor,  trotzdem  die  Krankheitsdauer  in  zahlreichen  Fällen  die  Norm  von 
drei  bis  vier  Wochen  bedeutend  überschritten  hatte.  Fast  allen  angeführten 
Zuständen  gehen  Schüttelfröste  voran,  welchen  dann  neuerliches  Fieber 
folgt.  Hiedurch  wird  die  Reconvalescenz  sehr  in  die  Länge  gezogen,  und  gar 
oft  auch  das  tödtliche  Ende  veranlasst.     Nicht  minder  bedeutungsvoll  sind 


ABDOMINALTYPHUS.  15 

auch  die  im  späteren  Verlaufe  des  Typhus  eintretenden  Blutverän- 
derungen,  wie  sie  sich  symptomatisch  als  Haemorrhagien  in  der  Haut 
und  in  den  Schleimhäuten  darbieten.  Die  Anaemie  kann  in  solchen  Fällen  so  hoch- 
gradig werden,  dass  bei  gleichzeitig  vorhandener  Herzschwäche  das  blosse 
Aufrichten  im  Bette  genügt,  um  durch  die  momentane  Blutleere  des  Ge- 
hirns den  jähen  Tod  herbeizuführen. 

Das  Symptomeii-Bild  des  Typhus  ist  ein  so  vieldeutiges,  dass  die 
Diagnose  desselben  besonders  im  Beginne  der  Krankheit  erst  nach  sorg- 
fältiger Beobachtung  gestellt  werden  kann.  Bei  der  Diagnosenstellung  muss 
zunächst  auf  das  Vorhandensein  der  sogenannten  Cardinalsymptome  des 
Typhus  geachtet  werden.  Diese  sind:  Die  eigenthümliche  Fiebercurve. 
die  Darm-Aft'ection,  der  Meteorismus  und  die  Milzschwellung.  Aber  die 
angeführten  Symptome  sind  beim  Typhus  nicht  immer  so  deutlieh  ausge- 
prägt, können  bei  anderen  Krankheiten  gerade  so  auch  vorkommen  — 
mithin  die  Unterscheidung   sehr  schwierig,    wenn  nicht  unmöglich   machen. 

In  differentialdiagnostischer  Hinsicht  kommen  wesentlich  in  Betracht : 
Typhus  exanthematicus,  Trichiniasis,  Pyaemie,  Menijigitis, 
Endocarditis  bacterica,  Influenza  und  acute  Mi  Hart  übe  r- 
culose.  Sorgfältige  Untersuchung  und  genaue  Beobachtung  des  Verlaufes 
werden  in  den  meisten  Phallen  dem  Arzte  die  diagnostische  Entscheidung 
bringen.  Schwierig  ist  dieselbe  nur,  wie  von  allen  Klinikern  übereinstimmend 
angegeben  wird,  zAvischen  Miliartub  er  culo  se  und  Typhus.  Senator 
hat  erst  kürzlich  mit  der  Veröffentlichung  eines  diesbezüglichen  Falles  die 
Schwierigkeiten  der  Differentaldiagnose  zwischen  beiden  Krankheiten  aus- 
führlich dargelegt.    (Charite-Annalen  1892.) 

Der  Typhus  ist  vorzugsweise  eine  Krankheit  des  j  u  g  e  n  d  1  i  c  h  e  n, 
kräftigen  Alters.  Das  einmalige  Ueberstehen  der  Krankheit  gewährt 
einen  gewissen  Schutz  gegen  eine  zweite  Infection  mit  dem  Typhusgifte. 
Der  Typhus  kann  jahraus  jahrein  vereinzelt  oder  epidemisch  vorkommen. 
Indes  fallen  die  meisten  Typlmsepidemien  in  den  Spätsommer  oder  Herbst. 
Der  Einfluss  des  Trinkwassers  und  der  Bodenbeschaffenheit  auf  die  Ent- 
stehung und  Verbreitung  der  Krankheit  steht  ausser  allen  Zweifel.  Es  können 
aber  auch  andere  äussere  Schädlichkeiten,  wie  eine  unregelmässige  Lebens- 
weise, Excesse  im  Essen  und  Trinken,  übermässige  körperliche  Anstren- 
gungen, Noth  und  Elend  und  selbst  psychische  Einwirkungen  die  Entwicklung 
der  Krankheit  fördern. 

Wiewohl  der  Typhus  nicht  zu  den  absolut  gefährlichen  Krankheiten 
gehört  und  bei  demselben  eine  Genesung  auch  in  den  allerschwersten 
Fällen  noch  zu  erhoffen  ist,  kann  doch  die  Prognose  niemals  im  Vor- 
hinein als  günstig  hingestellt  werden.  Selbst  bei  den  oft  scheinbar  leich- 
testen Erkrankungsfällen  können  sich  tödtliche  Zustände  ganz  unvorherge- 
sehen ereignen.  Die  Voraussage  bezüglich  des  Ausganges  der  Krankheit 
kcänn  daher  immer  nur  eine  dem  jeweiligen  Stande  derselben  entsprechende 
und  wohlweislich  nur  mehr  zurückhaltende  sein.  Vorerst  kommt  hiebei  die 
Schwere  des  Typhus  an  und  für  sich,  namentlich  die  Höhe  des  Fiebers, 
wie  die  Heftigkeit  der  Allgemeinerscheinungen  in  Anbetracht.  Dann  sind 
es  auch  die  verschiedenen  Complicationen,  die  einen  mehr  minder  gelähr- 
lichen  Charakter  haben  können.  Ebenso  dürfen  nicht  die  Constitution  und 
Individualität  der  Kranken  ausser  Acht  gelassen  werden.  Erst  nach  einer 
sorgfältigen  Erwägung  aller  dieser  Verhältnisse  ist  ein  Urtheil  über  den 
voraussichtlichen  Verlauf  der  Krankheit  möglich. 

Die  Mortalität  des  Typhus  verhält  sich  namentlich  in  der  Epi- 
demie ebenso  verschieden  als  wechselnd,  da  schwere  Fälle  zu  manchen 
Zeiten  viel  häufiger  vorkommen,    als  zu  anderen.     Allgemein   giltige   stati- 


16  ABDOMINALTITHUS. 

stische  Allgaben  lassen  sich  daher  in  dieser  Beziehung  nur  schwer  machen. 
NachJACCOüD  starben  von  80.149  während  eines  vierzigjähriDen  Zeitraumes 
gesammelten  Tvphus-Fällen  19-23%  und  nach  Hutchison  von  27.051 
Typhuserkrankungen  1 7-4.5  o/q.  Eine  übersichtliche  Schätzung  der  statistischen 
Vorlagen  bezüglich  der  Tj-phus-Mortalität  aus  Kliniken  und  Krankenhäusern 
in  der  »Neuzeit  ergibt  im  Durchschnitte  eine  Sterblichkeit  dieser  Krank- 
heit von  10 — löo/o- 

Die  Tlierapie  des  Typhus  hat  von  den  Ergebnissen  der  bacteriolo- 
gischen  Forschungen  bis  jetzt  nicht  den  mindesten  Nutzen  gehabt.  Alle 
Versuche,  dem  supponirten  Infections-Träger  —  den  Typhus-Bacillen 
mittel-  oder  unmittelbar  beizukomnien,  sind  ganz  vergeblich  geblieben.  Weder 
die  so  klangvolle  Enteroklyse^  noch  "die  vei-schiedenen  antibacte- 
ri eilen  Mittel:  Calomel  (Sublimati  Naphtalin,  Borsäure,  Jodpräparate  (Jod- 
kali, Jodoform)  zur  Abtödtung  der  in  den  Darm  eingedrungenen  Microben, 
wie  zur  Unschädlichmachung  ihrer  toxischen  Producte  haben  sich  irgend- 
wie beAvährt.  Von  einer  sogenannten  antiseptischen  Therapie  bei  Tvphus 
ist  somit  vor  der  Hand  ganz  abzusehen. 

R.  Steex  theilte  jüngst  eine  Reihe  exi^erimentell-bacteriologischer  Untersuchungen 
mit,  von  denen  sich  möglicherweise  in  Zukunft  ein  praktischer  Nutzen  für  die 
Typhustherapie  ergeben  dürfte.  Sterk  fand,  dass  das  Blut  von  Typhusreconvales- 
cinten  die  Eigenschaft  habe,  Mäuse  vor  der  Wirkung  der  Tvphusculturen  zu  schützen. 
Diese  experimentell  festgestellte  Thatsache  kann  jedoch  niclit  auf  eine  Abtödtung  der 
Bacillen  bezogen  werden,  man  vermag  sie  nur  derart  zu  erklären,  dass  das  Serum  die  Gift- 
^\lrkung  der  Typhusbacillen  aufhebt  resp.  abschwächt.  Die  Art,  in  der  dieser  Vorgang 
stattfindet,  lässt  Steex  derzeit  noch  unentschieden.  Jedenfalls  wäre  jedoch  zu  versuchen, 
mwieferne  beim  Typhus  die  Transfusion  des  Blutes  von  Menschen,  welche  die 
Krankheit  überstanden  haben,  von  therapeutischem  Nutzen  sein  könnte. 

_  Die  antipyretische  Behandlung  des  Typhus  ist  nur  auf  ein 
einziges  Symptom  der  Krankheit  gerichtet,  mithin  eine  sehr  einseitige.  Die 
Temparatursteigerung  ist  an  und  für  sich  keine  imminente  Gefahr,  ist  auch 
nur  eine  Theilerscheinung  einer  Symptomen-Gruppe,  welche  ihren  letzten 
Grand  in  der  stattgefundenen  Infectioii  hat.  Uebrigens  nehmen  nicht  alle 
Fieber  in  gleichem  Grade  das  Brennmaterial  des  Organismus  in  Anspruch. 

Bis  zur  Entdeckung  der  neueren  antipyretischen  Mittel  nahm  das 
Chinin  in  der  Behandlung  der  typhösen  Fieber  den  ersten  Platz  ein. 
Gegenwärtig  ist  dasselbe  wegen  seiner  unangenehmen  subjectiven.  ja  sogar 
toxischen  Wirkungen  für  die  Typhusbehandhmg  aufgegeben.  Mit  dem  glück- 
lichen Wurfe  der  geschäftigen  chemischen  Industrie"  durch  das  Antipyriu 
wurde  rasch  nacheinander  eine  Pieihe  derartiger  Mittel  dargestellt,  von 
welchen  das  eine  Eine  an  Sicherheit  und  Unschädlichkeit  der  Wirkung  das 
Andere  übertreffen  „sollte".  Aber  bald  zeigte  sich,  wie  schädlich  dieselben 
zu  sein  vermögen. 

Bei  der  grossen  Zahl  der  von  mir  und  meinen  Assistenz-Aerzten 
namentlich  beim  Typhus  angestellten  und  diesbezüglich  publicirten  Unter- 
suchungen bedarf  es  zur  Beurtheilung  des  Werthes  der  medicamen- 
tösen  Antipyrese  keiner  Berufung  auf  anderweitige  Beob- 
achtungen. Eine  so  enthusiastische  Aufnahme  das  Antipvrin  bei  der 
Behandlung  des  Typhus  wegen  seiner  prompten  Wirkung  auf  den  Abfall 
der  Temperatur  auch  fand,  regten  sich  doch  bald  gewisse" Bedenken  gegen 
die  Anwendung  dieses  Mittels.  Schon  die  Wahrnehmung,  dass  die  Kranken 
mitunter  auf  selbst  kleine  Gaben  schwere  toxische  Zufälle  haben  können, 
erheischt  die  grösste  Vorsicht  beim  Gebrauche  dieses  gar  nicht  harmlosen 
Mittels.  Wirkliche  Intoxications-Erscheinungen.  wie  Schüttelfröste,  profuse 
Schweisse,  Cyanose,  Herzschwäche  bis  zur  Pulslosigkeit,  Sinken  des  Blut- 
druckes, Dyspnoe,  Gedeme,  selbst  ein  höheres  Ansteigen  der  Temperatur, 
als  vor  dessen  Darreichung  können  die  Kranken  in  eine  momentane  Lebens- 


ABDOMINALTYPHUS.  17 

aie  Anwendung  dieses  Mittels.  Schon  die  Wahrnehmung,  dass  die  Kranken 
mitunter  auf  selbst  kleine  Gaben  schwere  toxische  Zufälle  haben  können, 
erheischt  die  grösste  Vorsicht  beim  Gebrauche  dieses  gar  nicht  harmlosen 
Mittels.  Wirkliche  Intoxications-Erscheinungen,  wie  Schüttelfröste,  profuse 
Schweisse,  Cyanose,  Herzschwäche  bis  zur  Pulslosigkeit,  Sinken  des  Blut- 
druckes, Dyspnoe,  Oedeme,  selbst  ein  höheres  Ansteigen  der  Temperatur, 
als  vor  dessen  Darreichung  können  die  Kranken  in  eine  momentane  Lebens- 
gefahr bringen.  So  viel  Wesens  auch  seinerzeit  vom  T  hall  in  beim  Typhus 
gemacht  wurde,  hat  sich  dasselbe  bei  dessen  Behandlung  doch  nicht  er- 
halten. Weinstein  schildert  nach  den  auf  meiner  Abtheilung  gemachten 
Erfahrungen  die  auf  Verabreichung  dieses  Mittels  öfters  eintretenden  Schüttel- 
fröste mit  hochgradigem  Collapsus  und  Herzschwäche  in  einer  Weise,  welche 
keineswegs  zur  weiteren  Anwendung  dieses  Herzgiftes  beim  Typhus  auf- 
muntern können.  Dem  gegenwärtig  noch  am  meisten  angewandten  Anti- 
febrin  wird  nachgerühmt:  eine  sichere  Einwirkung  auf  die  Temperatur 
mit  einer  darauf  folgenden  gewissen  Euphorie.  Indess  sind  die  auch  nach 
kleinen  Gaben  eintretenden  Nebenwirkungen  gerade  manchmal  äusserst 
schwer  toxische.  Selbst  auf  minimale  Dosen  wird  meist  schon  eine  cyano- 
tische  Entfärbung  der  Fingernägel  beobachtet.  Höhere  Grade  der  Intoxi- 
cation  bestehen  in  Herzschwäche,  fadenförmigem  Pulse,  starkem  Schüttel- 
frost, profusen  Schweissen  und  raschem  Verfalle.  Das  Antifebrin  kann  somit 
auf  Blut  und  Herz  gleich  toxisch  wirken,  daher  nicht  genug  Vorsicht  bei 
dieser  Anwendung  zu  empfehlen  ist.  Die  allerschwersten  und  geradezu  furcht- 
barsten Zufälle :  hochgradige  Schwäche  und  Arythmie  des  Herzens,  Icterus, 
bleigraue  Verfärbung  der  Haut,  Eiweiss,  Cylinder  und  Blut  im  Harne  stellen 
sich  beim  Gebrauche  des  ebenfalls  zur  Typhusbehandlung  versuchten  Py ro- 
dln s  ein  (Th.  J.  Zerner).  Andere  Antipyretica,  wie  Phenacetin,  Pheno- 
coll,  Salipyrin,  Salophen  bewähren  sich  nach  unseren  eigenen  dies- 
bezüglichen Versuchen  beim  Typhus  gar  nicht  (Pt.  Hitschmann,  Bum). 

Treten  bei  Anwendung  der  genannten  Antipyretika  auch  nicht  allemal 
deren  toxische  Wirkungen  hervor,  so  bestehen  dieselben,  wenn  auch  im 
geringeren  Grade,  doch  fast  immer.  Die  durch  dergleichen  Mittel 
stattfindende  zeitweilige  Herabsetzung  der  Temperatur  auf  ein  paar 
Stunden  ist  für  den  Typhusverlauf  keineswegs  hoch  anzuschlagen,  da  die 
Kranken  hiebei  weder  objectiv  noch  subjectiv  irgend  eine  Besserung  ihres 
Zustand  es  oder  Befindens  erfahren.  Im  Gegentheile  kommt  es  öfters  vor, 
dass  dieselben  durch  den  so  häufigen  Wechsel  des  Abfallens  und  Ansteigens 
der  Temperatur,  wie  durch  die  damit  verbundenen  Schüttelfröste  und 
Schweisse  sehr  beunruhigt  werden  und  dann  selbst  das  Fieber  der  anti- 
pyretischen Behandlung  vorziehen.  Findet  bei  Anwendung  solcher  Mittel 
zudem  ein  weit  höheres  Ansteigen  der  Temperatur  nach  als'Vor  derselben 
statt,  so  kann  ein  solches  Verfahren  wohl  als  eine  schwere  Verirrung  der 
modernen  Therapie  angesehen  werden. 

Die  hydria tische  Behandlung  des  Typhus  ist  schon  seit  Langem 
von  Aerzten  und  Laien  geübt,  aber  erst  in  der  Neuzeit  wissenschaftlich 
begründet  worden.  Es  ist  recht  bedauerlich,  dass  dieselbe  so  wenig 
schulmässig  gelehrt  und  gepflogen  wird.  Die  meisten  Kliniker 
haben  von  deren  Wirksamkeit  eine  viel  zu  geringfügige  Meinung  und  diese 
Gleichgiltigkeit  überträgt  sich  natürlich  auch  auf  ihre  Schüler.  Die  hydria- 
tische  Behandlung  des  Typhus  liefert  die  unvergleichlich  besten 
Heil  ergeh  ni  SS  e.  Der  ganze  Verlauf  und  sämmiliche  Erscheinungen 
der  Krankheit  sind  bei  diesem  Verfahren  von  dem  gewöhnlichen  klinischen 
Bilde  derselben   in   mannigfacher  [Beziehung    verschieden,    und    dies  zwar 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  1.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  -> 


18  ABDOMINALTYPHUS. 

immer  zum  Vortheile  der  Kranken.  Würde  es  sich  hierbei  wirklich  nur  um 
eine  thermische  Wirkung  handeln,  so  läge  wohl  vom  physiologischen  Stand- 
punkte allein  schon  das  Hautorgan,  welches  doch  mit  mehr  als  88Vo  an  der 
ganzen  Wärmeabgabe  des  Körpers  sowohl  durch  Strahlung,  als  Leitung  und 
Verdunstung  betheiligt  ist,  für  antipyretische  Eingriife  am  nächsten.  In  der 
That  auch  erweist  sich  die  Bäderbehandlung  beim  Typhus  auf  die  Fieber- 
hitze am  wohlthuendsten  und  wirksamsten.  Durch  die  directe  Wärmeent- 
ziehung wird  dieselbe  herabgesetzt  und  allen  schädlichen  Folgen,  welche 
etwa  von  der  Steigerung  der  Eigenwärme  abhängig  sein  können,  nach  Mög- 
lichkeit vorgebeugt.  Hiemit  ist  aber  keineswegs  gesagt,  dass  die 
auf  Herabsetzung  der  Temperatur  hinzielende  Wirkung  beim  Typhus  die 
Hauptsache  und  das  Thermometer  der  alleinige  Wegweiser  sei. 

Durch  die  Bäderb  ehandlung  wird  das  Krankheitsbild  des  Typhus 
wesentlich  beeinflusst,  indem  die  Functionirung  der  drei  bedeutendsten 
Systeme,  der  Athmung,  der  Circuiation  und  der  Nerven,  in  exci- 
tirender  Weise  regulirt  werden.  Durch  die  Auslösung  tiefer  Inspirationen 
und  durch  kräftigeres  Husten  wird  der  Stockung  des  Auswurfes  und  der 
entzündlichen  Affectionen  in  den  Lungen  vorgebeugt.  Die  Herzaction  wird 
energischer,  die  erschlafften  Gefässwände  erlangen  einen  erhöhten  Tonus, 
die  Pulsfrequenz  wird  innerhalb  gewisser  Grenzen  gehalten  und  die  Dicrotie 
nach  der  Gestaltsveränderung  der  Sphygmogramme,  wenn  nicht  dauernd, 
so  doch  vorübergehend  zum  Verschwinden  gebracht.  Besonders  aber  treten 
bei  der  Bäderbehandlung  des  Typhus  der  wohlthätige  Einfluss,  sowohl  die 
erregende  als  beruhigende  Wirkung,  auf  das  Nervensystem  hervor.  Das 
Sensorium  wird  freier  und  die  Benommenheit  nimmt  ab,  das  Aussehen  der 
Kranken  erscheint  frischer,  kurz  das  ganze  Bild  schwerer  Nervenzufälle 
wird  ein  anderes.  Hiemit  ist  auch  eine  wesentliche  Besserung  im  sub- 
jectiven  Befinden  der  Kranken  verbunden.  Dieselben  fühlen  sich  nach 
den  Bädern  erquickter  und  kräftiger,  schlafen  stundenlang  ruhig  und  neh- 
men auch  besser  Nahrung  zu  sich.  Diese  Euphorie  allein  schon  kann  für 
die  hydropathische  Behandlung  des  Typhus  begeistern.  Der  beste  Beweis 
für  die  so  günstige  Einwirkung  einer  solchen  Behandlung  des  Typhus  ist 
wohl  auch  das  seltenere  Auftreten  der  bei  dieser  Krankheit  so  sehr 
gefürchteten  Complicationen,  wie  besonders  des  Decubitus. 

Von  den  verschiedenen  hydriatischen  Verfahren  beim  Typhus  sind  un- 
streitig die  Bäder  am  wirksamsten  und  bequemsten.  Es  ist 
rathsam,  die  ersten  Bäder  nicht  zu  kalt  zu  geben,  sondern  mehr  durch 
Zugiessen  kälteren  Wassers  allmälig  abzukühlen,  da  sonst  die  Kranken  leicht 
frösteln  und  sich  dann  sogar  gegen  die  Fortsetzung  dieser  Behandlung 
wehren.  Bei  sehr  empfindlichen,  schwächlichen  Individuen  werden  nach 
zu  kalten  Bädern  bisweilen  Ohnmacht  und  hochgradige  Schwäche  gesehen, 
was  dann  sogar  den  Arzt  vor  dem  weiteren  Gebrauche  der  Bäder  ab- 
schrecken kann.  Die  Kranken  müssen  sich  während  des  Badens  gehörig 
frottiren  und,  falls  sie  hiezu  zu  schwach  sind,  energisch  abreiben  lassen. 
Das  Badwasser  soll  auch  beständig  in  Bewegung  gehalten  werden,  um  die 
Haut  fortwährend  mit  wechselnden  Wellen  zu  bespülen.  Die  Verabreichung 
von  Wasser,  Wein  im  Bade  erfrischt  die  Kranken  sichtlich.  Nach  dem- 
selben müssen  sie  gut  abgetrocknet  und  in  erwärmtes  Bettzeug  gelegt  werden. 
Kalte  Einwicklungen  oder  Einpackungen  als  Ersatz  für  die  Bäder 
haben  keine  so  erhebliche  und  nachhaltige  Wirkung.  In  den  Spitälern  sind 
dieselben  wegen  der  Umständlichkeit  und  der  zu  aufreibenden  Anstrengung 
des  Wartepersonals  bei  einer  grösseren  Anzahl  derartiger  Kranken  weniger 
geeignet.     Dieselben  sträuben  sich  auch  weit  eher  gegen  diese   ihre  Ruhe 


ABDOMINALTYPIIUS.  19 

anhaltend  störenden  Proceduren,  als  gegen  die  Bäder.  Kalte  Abreibungen 
sind  nur  ein  Surrogat  der  hydriatischen  Behandlung  beim  Typhus,  haben 
auch  nur  wenig  Erfolg. 

Wenn  auch  die  thermische  Wirkung  bei  der  Bäderbehandlung  des 
Typhus  nicht  allein  massgebend  ist,  so  kann  doch  die  Fieberhöhe  eine 
gewisse  Richtschnur  für  dieselbe  geben,  indem  deren  Verhalten  meist 
auch  mit  den  übrigen  Krankheitserscheinungen  im  Einklänge  steht  und  auch 
am  Thermometer  sicherer  beurtheilt  werden  kann. 

Besondere  Angaben,  wann  und  wie  die  Bäder  in  Anwendung 
zu  bringen  sind,  können  leicht  zu  einem  schablonenartigen  Vorgehen 
führen.  Die  Gesammtheit  der  Symptome  und  das  ganze  Krankheits- 
bild sind  für  die  Indicationsstellung  der  einzelnen  Bäder  massgebend.  Auch 
die  Dauer  der  Bäder  ist  mehr  nach  den  Bedürfnissen  des  Einzelfalles 
zu  bemessen.  Je  einfacher  das  Verfahren,  desto  eher  und  leicher  kann 
dasselbe  in  und  ausserhalb  der  Spitäler  durchgeführt  werden.  Die  viel  zu 
geschäftigen,  meist  überflüssigen  complicirten  Proceduren  mancher  Hydro- 
pathen bei  der  Bäderbehandlung  des  Typhus  haben  deren  Verbreitung 
und  Anwendung  besonders  unter  den  Aerzten  keinen  Vorschub  geleistet. 
Seit  dem  erneuerten  Aufschwünge  derselben  durch  Brand  hat  sich  eigent- 
lich eine  vollständige  Wandlung  der  Grundsätze  vollzogen.  Das  starre 
Festhalten  an  einem  gewissen  Temperaturgrade  als  Indi- 
cation  zum  hydriatischen  Einschreiten  ist  aufgegeben  und 
dafür  ein  streng  individualisiren  des  Verfahren  zur  Geltung  ge- 
kommen. 

Im  Allgemeinen  ergibt  sich  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  bei  einer  Tem- 
peratur von  nicht  über  39'00  C.  keineswegs  die  Nothwendigkeit  zu  den 
Bädern.  Es  genügen  da  kalte  Ueberschläge  auf  den  Kopf  und  bei  Diarrhöe 
auch  auf  den  Unterleib.  Wie  aber  bei  dem  angeführten  Wärmegrade  starke 
bronchitische  Affection,  Unbesinnlichkeit,  Unruhe,  Delirien  das  Krankheitsbild 
beherrschen,  ist  hiemit  auch  die  Anzeige  zu  den  Bädern,  und  zwar  zu  Voll- 
bädern von  26— 25"  C.  mit  allmähliger  Abkühlung  auf  20 — 1 8"  in  der  Dauer 
von  5 — 10  Minuten  gegeben.  Findet  ein  Ansteigen  der  Temperatur  auf 
oder  über  BO-ö"  statt,  so  sind  dergleichen  Bäder  zu  wiederholen.  Bei  schwäch- 
lichen, empfindlichen,  leicht  fröstelnden  Kranken  können  auch  minder  kalte, 
sogar  laue  Bäder,  allerdings  dann  in  häufigerer  Anwendung,  gebraucht 
werden.  Bei  Herzschwäche,  schweren  cerebralen  Zufällen  sind  hiemit  kalte 
Ueb  ergie  ssungen  mit  Wasser  von  15 — lO'^  zu  verbinden.  Der  Effect 
dieser  ist  meist  ein  ganz  überraschender:  Unbesinnliche  Kranke,  welche  ins 
Bad  getragen  werden  müssen,  werden  meist  so  gekräftigt,  dass  sie  sich 
selbst  ins  Bett  zurückbegeben  können.  Das  Aussehen,  die  Beweglichkeit, 
kurz  das  ganze  Wesen  derselben  wird  ein  Anderes.  Eine  so  erfreuliche, 
wenn  auch  noch  so  vorübergehende  Euphorie  ist  bei  Typhuskranken  auf  gar 
keine  andere  Art  und  Weise  zu  erreichen.  So  lange  die  Krankheit  noch 
im  Vorschreiten  begriffen  ist,  sind  auch  die  Bäder  nach  dem  Stande  der 
Temperatur  und  übrigen  Erscheinungen  fortzusetzen.  Nur  in  Fällen  mit 
dauernd  hohen  Temperaturen  (über  40"  C.)  hat  dies  auch  während  der  ganzen 
Nachtzeit  zu  geschehen. 

Gewisse  Bedenken,  weniger  Contra-Indicationen,  betreffs  der 
Bäderbehandlung  des  Typhus  können  sich  nur  auf  schwächliche,  herab- 
gekommene Individuen,  auf  Herz-  und  Lungenkranke  und  auf  die 
Gravidität  beziehen.  Bei  sorgfältiger  Erwägung  aller  Umstände  und  bei 
grösster  Vorsicht  kann  auch  in  solchen  Fällen  ein  entsprechender  Gebrauch 
von  den  Bädern  gemacht  werden.  Dagegen  ist  beim  Vorkommen  von  Darm- 


20  ABDOMINALTYPHUS  IM  KINDESALTER. 

blutungen  von  den  Bädern  gleich  abzusehen,  da  dann  allein  schon  ab- 
solute Ruhe  unerlässlich  ist. 

AYeim  die  Erfolge  bei  den  hydriatisch  behandelten  Typhus-Fällen  nach 
den  geflügelten  Worten :  „Zahlen  beweisen",  angegeben  werden,  so  ist  dies 
doch  nur  unter  gewissen  Umständen  zutreffend.  Von  246  Spitals- 
kranken, über  deren  Krankheitsverlauf  ich  nach  jeder  Hinsicht  genaue  Daten 
aufbewahrt  habe,  starben  bei  Anwendung  von  Bädern  23,  mithin  9-37n-  In 
den  vorangegangenen  Jahren  hatte  ich  gleichfalls  bei  Spitalskranken  unter 
der  sogenannten  expectativen  und  antipyretischen  Behandlung  eine  Mortalität 
von  lö-57o-  Bass  besonders  bei  der  hydriatischen  Therapie  des  Typhus 
sehr  viel  darauf  ankommt,  wie  bald  im  Krankheitsverlaufe  die  Kur  begonnen 
wird,  zeigen  die  folgenden  Angaben.  Bei  Einleitung  des  hydriatischen  Ver- 
fahrens in  der  ersten  Krankheitswohe  betrug  die  Mortalität  4-6"/o,  geschah 
dies  erst  in  der  zweiten  Krankheitswoche,  11  "6%.  Bei  72-77o  hielt  die 
Fieberperiode  nicht  über  28  Tage  an.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass 
bei  der  Bäderbehandlung  des  Typhus  der  Verlauf  der  Krankheit  viel  kürzer 
und  die  Pteconvalescenz  auch  rascher  und  ungestörter  als  bei  jedem  anderen 
Heilverfahren  sind.  Bei  Spitalskranken,  wo  die  Arbeitsfähigkeit  mehr  als 
die  wirkliche  Genesung  für  deren  Entlassung  entscheidend  ist,  sind  statistische 
Angaben  in  dieser  Richtung  weniger  massgebend. 

Das  allgemein  diätetische  Verfahren  beschränkt  sich  beim 
Typhus  hauptsächlich:  auf  fleissige  Lüftung  der  Krankeuräume,  grösst- 
möglichste  Reinhaltung  der  Kranken,  auf  flüssige  Nahrung  (Milch,  Thee, 
Bouillon),  auf  frisches  Wasser  zum  Getränke  mit  oder  ohne  verschiedenen 
Fruchtsäften,  aber  besonders  mit  leichten  Weinsorten.  Oeftere  Lagever- 
änderung der  Kranken  im  Bette,  sowie  sorgfältiges  Pteinigen  des  Mundes 
und  der  Zunge  dürfte  nicht  übersehen  werden.  Intercurrirende 
Krankheitszufälle  sind  symptomatisch  zu  behandeln.  Bei  an- 
haltender Schlaflosigkeit  wirken  kleine  Gaben  von  Morphin  manchmal 
recht  wohlthätig,  wie  auch  bei  starkem  trockenen  Husten  (Ipecacuanha) 
in  entsprechender  Dosis.  Gegen  profuse  Diarrhoe  erweisen  sich  kalte 
Ueberschläge  auf  den  Unterleib,  Alaun,  Tannin.  Bismuthiim  subnitriciim, 
sehr  wirksam.  Bei  Darmblutungen  sind  Eis  innerlich  und  äusserlich,  Ergotln, 
Ferrum  sesqitichlorafuni,  Opium,  angezeigt.  C o  1 1  a p s  und  Herzschwäche 
werden  am  besten  durch  stärkere  Weine  bekämpft.  In  der  Reconvalescenz 
ist  besonders  die  grösste  Vorsicht  den  nach  Essen  drängenden  Kranken 
gegenüber  geboten.  Bei  nur  wenigen  Krankheiten  überzeugt  ein  umsich- 
tiges, un  ermüdetes  und  entsprechendes  Vor  gehen  die  Kranken 
so  von  der  ärztlichen  Wirksamkeit  auf  ihre  Gesundung,  wie  auch  den  Arzt 
von  seinem  erspriesslichen  EingTeifen  in  den  Verlauf  der  Krankheit  —  von 
der  Rettung  des  Lebens  seiner  Kranken,  als  dies  beim  Typhus  in  der  That 
der  Fall  ist.  deasche. 

AbdominaltyphllS  im  Kindesalter.  Der  Ileotyplms  ist  eine  auch 
im  kindlichen  Alter  ziemlich  häufig  vorkommende  Infectionskrankheit. 

Der  Typhus  im  Kindesalter  unterscheidet  sich  in  mancher  Beziehung 
von  dem  Verlaufe,  wie  wir  ihn  beim  Erwachsenen  beobachten.  Zunächst 
muss  der  geringfügige  anatomische  Befund  im  Darmcanale  selbst  bei  ausge- 
bildeten klinischen  Symptomen  erwähnt  werden,  so  dass  man  geradezu  von 
einem  abortiven  Charakter  des  typhösen  Processes  sprechen  kann.  Aus 
diesem  Grunde  kommen  im  Kindesalter  Darmblutungen  und  Darmdurch- 
brüche in  Folge  tiefergehender  Ukerationen  höchst  vereinzelt  zur  Beobachtung. 
Da   sehr   selten  zahlreiche  Follikeln   durch   den   geschwürigen  Process   zu 


ABDOMINALTYPHUS  IM  KINDESALTER.  21 

Grunde  gehen,  so  beobachtet  man  auch  jenen  Zustand  nicht,  bei  welchem 
nach  Ablauf  des  acuten  Stadiums  die  Kranken  wegen  der  erschwerten  nud 
behinderten  Resorption  an  allgemeiner  Schwäche  (Typhusmarasmus)  uz 
Grunde  gehen. 

Der  typhöse  Process  ist  zumeist  im  Ileum,  hingegen  seltener  im 
Jejunum  oder  dem  oberen  Theile  des  Dickdarmes  in  allen  Graden  von 
der  fast  unmerklichen  Schwellung  bis  zu  den  ausgebreiteten  Ulcerationen 
an  demselben  Individuum  anzutreffen.  Die  Lymphfollikel  der  Darmschleimhaut 
sind  entweder  fast  gar  nicht  angeschwellt  und  nur  massig  injicirt,  wobei 
die  umgebende  Schleimhaut  mit  einem  klaren,  glasigen  Schleime  bedeckt 
ist,  oder  aber  man  findet  einzelne  Follikel  und  PETER'sche  Plaques  ganz  aus- 
gefallen, wodurch  ein  rundlicher  gestrickter  Substanzverlust  mit  gezackten 
Flandern  entsteht.  Weiters  kommt  es  zu  typhösen  Geschwüren,  die  sich  von 
denen  der  Erwachsenen  nicht  unterscheiden.  Entgegen  dem  Befunde  bei 
älteren  Individuen  findet  man  eine  gewisse  Trockenheit  des  Darminhaltes, 
wodurch  sich  die  Coprostase  während  des  Lebens  in  manchen  Fällen  leicht 
erklären  lässt. 

Bei  Säuglingen  sind  Geschwüre  gewiss  eine  Rarität.  Die 
Geschwiire  heilen  in  der  bekannten  Weise  vom  Grunde  und  den  Rändern, 
und  es  zeigt  die  Narbe  keine  Tendenz  zur  Schrumpfung,  daher  Narben- 
stenosen typhösen  Ursprungs  im  Kindesalter  nicht  vorkommen 

Entsprechend  dem  Befunde  der  Follikeln  im  Darme,  sind  auch  die 
Mesenterialdrüsen  afficirt  und  im  Zustande  markiger  Schwellung.  Da  aber 
diese  Drüsen  bei  Scrophulose  und  Rhachitis  bereits  vorher  intumescirt  sein 
können,  so  ist  dieser  Befund  oft  schwierig  zu  deuten.  Das  Peritonaeum  ist 
nur,  wenn  die  Geschwüre  tiefer  gehen  und  der  Durchbruch  droht,  entsprechend 
injicirt  und  getrübt. 

In  Bezug  auf  praedhjwnirende  Ursachen  sei  erwähnt,  dass  es  in  manchen 
Epidemien  scheint,  als  würden  Kinder  zahlreicher  befallen  als  Erwachsene. 
Ob  Ileotyphus  im  Kindesalter  häufiger  in  jenen  Herbsten  auftritt,  die  auf 
einen  heisseu  Sommer  folgen,  darüber  liegen  keine  ausführlichen  statistischen 
Angaben  vor,  doch  ist  es  wahrscheinlich,  dass  auch  das  Gegentheil  statt- 
findet. Gedrängtes  Zusammenwohnen  und  mangelhafte  Ventilation  können  als 
alleinige  praedisponirende  Momente  für  das  Auftreten  von  Ileotyphus  nicht 
herangezogen  werden,  da  man  sowohl  in  dicht,  als  in  spärlich  bevölkerten 
Gegenden,  sowie  in  gut  und  schlecht  gelüfteten  Localitäten  den  Ileotyphus 
in  gleicher  Weise  beobachtet,  sowie  es,  was  die  Lebensstellung  betrifft,  fast 
scheint,  als  käme  der  Ileotyphus  bei  besser  und  üppiger  genährten  Kindern 
häufiger  vor  als  bei  herabgekommenen  Individuen.  (Andkal,  Louis.)  Ob  alle 
typhösen  oder  typhoiden  Zustände  im  Kindesalter  auf  den  von  Eberth 
entdeckten  Typhusbacillus  zurückzuführen  sind,  ist  für  das  Kindesalter 
nicht  mit  Sicherheit  nachgewiesen,  obwohl  die  pathogene  Bedeutung  des 
genannten  Bacillus  für  den  Typhus  der  Erwachsenen  ausser  allen  Zweifel 
zu  sein  scheint. 

Die  Frage,  ob  der  Ileotyphus  contagiös  sei,  ist  vielfach  discutirt 
worden,  doch  sprechen  alle  Thatsachen  dafür,  dass  die  Contagiosität  nur 
sehr  beschränkt  sei.  Fast  nie  erkranken  Kinder,  die  neben  Typhösen  liegen, 
an  Typhus,  während  dies  z.  B.  beim  Scharlach  und  Diphtherie  stets  der 
Fall  ist.  Wenn  mehrere  Kinder  in  einer  Familie  an  Typhus  erkranken, 
so  kann  man  die  Sache  doch  ungezwungener  dadurch  erklären,  wenn  man 
annimmt,  dass  alle  Individuen  derselben  Schädlichkeit  ausgesetzt  waren  und 
nur  je  nach  ihrer  Disposition  mehr  oder  minder  erkrankten.  Nur  die  leicht 
zersetzbaren  Typhus-Dejecte  spielen  bei  der  Uebertragung  eine  gewisse 
Rolle,  daher  man  deren  sofortige  Desinficirung  niemals  unterlassen  soll. 


22  ABDOMINALTYPHUS  IM  KINDESALTER. 

Wenn  in  einer  Familie  ein  Kind  an  Typhus  eArankt,  ist  eine  voll- 
ständige Separation,  z.  B.  wie  bei  Scharlach,  nicht  nothwendig,  auch  können 
die  Geschwister  ohne  Gefahr  für  Andere  die  Schule  besuchen,  da  eine 
Uebertragung  durch  dritte  Personen  nicht  stattfindet. 

Entwicklung  undVerlauf  des  Krankheitsprocesses.  Der 
Ileotyphus  beginnt  in  der  Regel  allmälig,  selten  setzt  die  Krankheit  in 
acuter  Weise  ein,  und  es  gehen  dem  eigentlichen  Ausbruche  der  Erkran- 
kung eine  Reihe  unbestimmter  oder  richtiger  gesagt  unbestimmbarer 
Symptome  voraus.  Erst  die  Gruppirung  derselben,  der  Hinzutritt  neuer, 
sowie  die  Steigerung  von  schon  vorhandenen  Symptomen  ermöglicht  die 
Diagnose    „Ileotyphus". 

Bei  kleineren  Kindern  sind  die  sogenannten  nervösen  Symptome,  wie 
Eingenommensein  des  Kopfes,  Ohrensausen.  Schwindel,  Betcäubung  und  die 
Delirien,  da  sich  die  Kinder  nicht  äussern  können,  blos  durch  Dahinliegen 
und  eventuell  allgemeine  Convulsionen  ersetzt.  Hiebei  sei  auf  jene  Com- 
plication  von  Meningitis  purulenta  mit  Ileotyphus  aufmerksam  gemacht, 
die  von  Löschner  beschrieben  wurde. 

Die  Kinder  leiden  an  vorübergehenden  Fieberbewegungen,  Appetit- 
losigkeit, klagen  über  heftige  Gliederschmerzen  (ohne  Schwellung  der 
Gelenke).  S  elt  en  tritt  im  Beginne  im  Gegensatze  zu  den  acuten  Exanthemen 
—  Erbrechen  von  gallig  gefärbtem,  wässerigem  Mageninhalt  auf.  Der  Puls  ist 
beschleunigt,  die  Haut  heiss  und  trocken,  die  Zunge  in  der  Mitte  dicht  belegt, 
wobei  die  Ränder  dunkelroth  bleiben ;  manchmal  tritt  ziemlich  starkes  Nasen- 
bluten auf.  Der  Schlaf  ist  unruhig,  und  sind  die  Kinder  hinfällig,  schwach 
und  bleiben  gerne  zu  Bette.  Allmälig  gesellt  sich  bei  immer  deutlicher 
werdender  abendlicher  Exacerbation  des  Fiebers  ein  trockener  Husten 
mit  etwas  beschleunigter,  nicht  schmerzhafter  Respiration  hinzu.  Die 
Rachenorgane  sind  blass  und  die  physikalische  Untersuchung  ergibt  keine 
nachweisbare  Veränderung  in  Lunge,  Herz  etc.  Bei  Fortbestand  der 
erwähnten  Symptome  steigert  sich  das  Fieber  zu  einem  continuirlichen, 
mit  deutlicher  abendlicher  Steigerung,  und  es  kann  die  Zunahme  der 
Milz  durch  Percussion  und  Palpation  nachgewiesen  werden. 

Der  Puls  schwankt  zwischen  90—130,  ist  regelmässig  weich  und 
voll  und  kann  leicht  von  dem  verlangsamten  und  intermittirenden  Pulse, 
den  man  im  Beginne  einer  Basilarmeningitis  beobachtet,  unterschieden 
werden.  Gegen  Abend  ist  der  Puls  etwas  beschleunigter,  während  er  des 
Morgens  oft  klein,  schwach  und  aussetzend  wird.  Die  Haut  ist  trocken, 
heiss  und  des  Morgens  mit  klebrigem  Schweisse  bedeckt.  Die  Temperatur 
ist  continuirlich  erhöht,  erreicht  des  Morgens  in  mittleren  Fällen  38- 5^  bis 
^9-5^,  beginnt  vom  Nachmittag  an  allmälig  auf  40 — 40-5°  zu  steigen  und  bleibt 
etwa  bis  nach  Mitternacht  auf  dieser  Höhe,  um  dann  allmälig  wieder  abzufallen. 
Je  deutlicher  und  stärker  die  Exacerbation  ist,  d.  h.  je  grösser  die  Differenz 
zwischen  Morgen  und  Abend  ist,  desto  intensiver  verläuft  der  Typhusprocess. 

Die  Lippen  sind  aufgesprungen,  trocken,  die  Zunge  bedeckt  sich  immer 
dichter  mit  einem  weisslich-bräunlichen,  leicht  vertrocknenden  Belege  bei 
einem  süsslich  faden  Gerüche  aus  dem  Munde.  Die  Kinder  verweigern  jede 
Nahrung,  haben  aber  viel  Durst,  erbrechen  jedoch  manchmal  das  gierig 
getrunkene  Wasser. 

Eine  Eigenthümlichkeit  des  Kindertyphus  ist  das  Fehlen  der 
Diarrhoe  und  das  Fortbestehen  einer  hartnäckigen  Obstipation;  manch- 
mal jedoch  wechselt  die  Obstipation  mit  Diarrhoe  ab,  wobei  die  Kinder 
innerhalb  24  Stunden  2 — 6  flüssige,  stark  gallig  gefärbte  Stühle  absetzen. 
Sie  gleichen  am  meisten  jenen  Stühlen,  die  man  bei  gewissen  chronisch  ver- 
laufenden Dünndarmcatarrhen  beobachtet. 


ABDOMINALTYPHÜS  IM  KINDESALTER.  23 

Der  Bauch  ist  gespannt  und  tympanitisch  aufgetrieben,  am  meisten 
in  der  Ileocoecalgegend,  und  beim  Drucke  vernimmt  man  bei  geringer 
Schmerzhaftigkeit  ein  eigenthümlicbes  Gurren  (Ileocoecalgeräusch),  das 
wohl  auch  rechts  vorkommt.  Die  Milz  nimmt  an  Umfang  zu,  erreicht 
jedoch  nie  die  Grösse  wie  bei  Erwachsenen.  Der  Urin  wird  spärlich  und 
dunkel  gefärbt. 

Die  Benommenheit  des  Kopfes  nimmt  zu,  und  in  der  Nacht 
stellen  sich  mehr  oder  minder  heftige  Delirien  ein,  während  der  Remission 
kann  das  Bewusstsein  wieder  kommen,  dabei  zeigt  der  Gesichtsaiisdruck  Er- 
mattung, Hinfälligkeit  und  Gleichgiltigkeit.  Die  Conjunctiva  wird  trocken, 
injicirt  und  mit  zähem  Secrete  bedeckt,  das  Gesicht  ist  geröthet  oder 
etwas  cyanotisch. 

Gegen  Ende  der  ersten  und  im  Beginne  der  zweiten  Woche 
treten  die  Erscheinungen  der  acuten  Bronchitis  in  den  Vordergrund. 
Das  Athmen  ist  in  Folge  der  ausgebreiteten  Schwellung  der  Bronchial - 
Schleimhaut  erschwert,  rauh,  scharf  und  man  hört  gross-  und  kleinblasige 
Rasselgeräusche.  Je  stärker  die  Bronchitis  ist,  besonders  bei  reichlichem 
Secrete,  desto  mehr  steigert  sich  die  Cyanose,  nicht  nur  im  Gesichte, 
sondern  auch  an  den  Extremitäten;  bei  Herzschwäche  tritt  die  Cyanose 
noch  deutlicher  zu  Tage. 

Die  Milz  ist  im  Zustande  acuter  Schwellung  und  als  weicher  Milztumor 
unter  dem  Rippenbogen  leicht  zu  fühlen. 

Gegen  den  10. — 12.  Tag  der  Erkrankung  tritt  das  sogenannte  Typhus- 
exanthem  auf.  Es  besteht  in  einer  Eruption  von  kleinen,  runden,  scharf 
begrenzten  röthlichen  Flecken,  die  auf  Brust,  Bauch  und  Rücken,  selten  au 
den  Extremitäten  zu  erkennen  sind.  Die  Flecke  sind  selten  bis  linsengross, 
leicht  über  der  Haut  erhaben  und  verschwinden  auf  Fingerdruck,  um  als- 
bald wieder  zu  erscheinen.  Die  Eruption  ist  meist  ziemlich  spärlich,  doch 
können  die  Flecke  zuweilen  so  zahlreich  sein,  dass  eine  Verwechslung  mit 
Morbillen  oder  Variola  haemorrhagica  wohl  möglich  wäre.  Namentlich  von 
letzterer  Erkrankung,  wenn  ausserdem  Nasenbluten,  hohes  Fieber  und  starke 
Prostration  vorhanden  ist,  ist  die  Unterscheidung  nur  durch  den  weiteren 
Verlauf  möglich. 

In  der  dritten  Woche  steigern  sich  bei  Fortbestand  aller  anderen 
Symptome  die  nervösen  und  bronchitischen  Erscheinungen.  Die  Somnolenz 
nimmt  zu,  ist  besonders  des  Nachts  von  furibunden  Delirien  unterbrochen, 
oder  die  Kinder  liegen  ganz  regungslos  mit  geschlossenen  Augen  in  der 
Rückenlage  im  Bette,  scheinen  wohl  Fragen  zu  verstehen,  geben  aber 
hastig  nur  verworrene,  unarticulirte  und  unverständliche  Antworten.  In  den 
Bronchien  sammelt  sich  immer  mehr  Secret  an,  und  je  mehr  die  feineren 
Bronchien  betheiligt  sind,  desto  stärker  wird  die  Cyanose  und  desto  b  e- 
schleunigter  wird  die  insufficiente  Respiration. 

Der  Puls  steigt  auf  120 — 140,  wird  schwach,  klein  und  unfühlbar 
(Herzschwäche).  Die  Lippen  sind  trocken  und  aufgesprungen,  an  den  Zähnen 
legen  sich  bräunliche  trockene  Schleimmassen  an,  die  Zunge  ist  trocken, 
eingerissen  und  blutend. 

Unter  musitirenden  Delirien,  Stupor,  Tremor  und  Singultus  tritt  der 
Tod  mit  den  Erscheinungen  von  Herzlähmung  und  Ansammlung  von  reich- 
lichem flüssigen  Secret  in  den  Bronchien  (Oedema  pulmonum)  ein,  oder  aber  es 
kommt  in  der  dritten  oder  vierten  Woche  zu  einem  allmäligen  Nachlass, 
zunächst  des  Fiebers,  und  die  einzelnen  Symptome  verlieren  sich  nach  und  nach. 
Die  Reconvalescenz  kann  durch  Complicationen  so  verzögert  werden,  dass 
oft  3 — 4  Monate  vergehen,  ehe  sich  ein  Kind  von  der  Erkrankung  und 
ihren  Folgen  erholt. 


24  ABDOMINALTYPHUS  IM  KINDESALTER, 

Von  den  Complicationen  sind  besonders  die  entzündlichen 
Processe  in  der  Lunge  von  Wichtigkeit. 

Die  Bronchitis  steigert  sich  zur  Capillärbronchitis  mit  nach- 
folgenden lobulären  Infiltraten  und  Atelectasen,  oder  aber  es  kommt  zu 
croupöser  Pleuro-Pneumonie.  Diese,  sowie  die  catarrhalischen  Infiltrate 
können  gangränesciren  und  es  entsteht  auf  diesem  Wege  eine  Pneumo- 
pyothorax. 

Ery  sip  elatöse  Hauterkrankungen  sowie  eigentliche  Derma- 
titiden  mit  ausgebreiteten  Zellgewebsvereiterungen  sind  ziemlich  selten, 
werden  jedoch  auch  bei  Säuglingen  beobachtet. 

Die  Prognose  ist  eine  ziemlich  günstige,  da  sich  der  Typhus 
im  Kindesalter  durch  seinen  abortiven  Charakter  auszeichnet  Sie  hängt 
hauptsächlich  vom  Fieber  und  der  begleitenden  Bronchialaffection  ab.  Je 
liöher  das  Fieber  und  namentlich  je  grösser  die  Diff'erenz  zwischen  der 
Morgen-  und  Abendtemperatur  ist,  desto  ungünstiger  ist  der  Verlauf,  da 
gewöhnlich  Complicationen  von  Seite  der  Lunge,  Pleura,  Endocardium  etc. 
beobachtet  werden. 

Die  Differentialdiagnose  von  anderen  Erkrankungen,  besonders 
von  den  acuten  Exanthemen,  bietet  keine  grossen  Schwierigkeiten,  hingegen 
sind  manche  fieberhafte  gastrische  Zustände  mitunter  im  Beginne  schwer 
zu  trennen. 

Den  Typhus  im  Kindesalter  von  einer  acuten  Miliartuherculose  zu 
unterscheiden,  ist  wie  bei  Erwachsenen  mit  gleichen  Schwierigkeiten  ver- 
bunden, ja,  wird  dort  oft  unmöglich.  Hingegen  ist  er  selbst  im  Beginne 
von  einer  beginnenden  Basilarmeningitis,  Spitzenpneumonie,  Rachendiphtherie 
und  den  acuten  Exanthemen  leicht  zu  differenziren.  Nur  bei  Variola  vera, 
besonders  bei  nicht  geimpften  Säuglingen  ist  im  Beginne  des  Fiebers  bei 
hoher  Prostration  die  Unterscheidung  oft  schwierig,  daher  eine  genaue  In- 
spicirung  der  allgemeinen  Decke  sehr  zu  empfehlen  ist. 

Die  Therapie  unterscheidet  sich  nicht  wesentlich  von  der,  wie  wir 
sie  bei  Erwachsenen  in  Anwendung  bringen,  und  besteht 

1.  in  Mässigung  und  Herabsetzung  des  Fiebers, 

2.  Erhaltung  der  vorhandenen  Kräfte, 

3.  Ankämpfung  und  Erleichterung  quälender  und  gefähr- 
licher Symptome,  insbesondere  der  Diarrhoe  und  der  bronchitischen  Er- 
scheinungen, 

4.  in  Behandlung  der  Complicationen  und  Nachkrankheiten. 
Die  Mässigung  des  Fiebers  erreicht  man  durch  Darreichung  mittlerer 

Gaben  von  Chin.  sulf.  (0*50 — 1-00  pro  die)  in  Pulverform  oder  Lösung 
vor  dem  Eintritte  der  Temperaturssteigerung,  also  in  den  Nachmittags- 
stunden. 

Wird  das  Chinin  nicht  vertragen,  so  ersetze  man  es  durch  Natron- 
salycilicum  2-00,  3*00  ad  120'00  pro  die.  Antipijrin,  Antifehrin,  Thaliin  etc. 
sind  zu  vermeiden;  da  sie  auf  den  Verlauf  der  Krankheit  keinen  Einfluss 
haben  und  direct  herzschwächend  wirken,  obwohl  die  antipyretische  Wirkung 
ohne  allen  Zweifel   ist. 

Die  Kälte  kommt  in  dreierlei  Formen  in  Anwendung:  kalte  Um- 
schläge (8 — 10")  auf  den  Kopf  und  Waschungen  des  ganzen  Körpers 
(15 — 18°J  —  in  leichteren  Fällen  vollständig  ausreichend,  —  Ein  Wicklungen 
in  nasse  Leintücher  (22— 24°)  mit  Eiskappe  auf  den  Kopf,  allmälig  ab- 
gekühlte Bäder  bei  älteren  lündern. 

Kalte  Bäder  werden  von  Kindern  im  Allgemeinen  schlecht  vertragen, 
da  bedenkliche  Collapserscheinungen  und  lange  andauerndes  Frösteln  be- 
obachtet werden.   Nur  in  schweren  Fällen  entschliesse  man  sich  hiezu,   es 


ACCESSORIUSLÄHMUNG.  25 

bleibt  aber,  wie  Henoch  bemerkt,  das  erste  Bad  immer  ein  Experiment, 
von  dessen  Erfolg  es  abhängt,  ob  man  es  fortsetzen  soll  oder  nicht. 

Wenn  die  Typhusdiarrhoe  nicht  sehr  heftig  ist  (3 — 5  Stühle),  so  er- 
fordert sie  keine  specielle  Behandlung,  nimmt  aber  bei  Collapserscheinungen 
die  Stuhlanzahl  zu,  so  gebe  man  grössere  Dosen  Chin.  tann.  (1-50 — 2*00 
pro  die)  oder  Alumen.  cruduni  0-05  mit  Pulv.  Doveri  (0*03 — 0'06  pro  dosi) 
mehrere  Mal  im  Tage,  bei  Blutungen  Liqu.  ferri  sesquiclilorati  gtt.  10 — 15  ad 
100*00  kinderlöffelweise  mehrmals  des  Tages. 

Die  Bronchitis  erfordert  eine  expectorirende  und  roborirende  Medi- 
cation.  Bei  reichlichem  Secrete  in  den  Bronchien  ist  die  Ipecacuanha 
zu  vermeiden,  hingegen  sind  stärkere  Infusa  oder  Decocte  von  der  Polygala 
Senega  (4*00 — 8-00  ad  100-00)  mit  Liqu.  ammon.  anisat.  gtt.  20  zweistündig 
ein  Kinderlöffel)  am  Platze.  Roborirende  Mittel  sind  die  Aetherarten: 
10  Tropfen  auf  100  g  Colatur,  Wein,  schwarzer  Kaffee,  Cognac  in  der 
Spitalspraxis,  nur  schwere  Weine,  und  zwar  Malaga,  Tokayer,  Bor- 
deaux, Champagner  und  Sherry  bei  grösseren  Kindern  in  der  Praxis 
privata. 

Während  des  Fiebers  verweigern  die  Kinder  meist  jede  Nahrung 
und  es  genügt,  wenn  man  ihnen  etwas  gut  gesalzene  Bouillon  und  ver- 
dünnte Milch  mit  oder  ohne  Cognac  beibringt.  Es  ist  sehr  anzurathen, 
öfters  des  Tages  den  Mund  mit  frischem  Wasser,  dem  etwas  Franzbrannt- 
wein zugesetzt  ist,  zu  reinigen. 

In  der  Reconvalescenz  gebe  man  längere  Zeitnur  flüssige 
Nahrung,  bei  etwas  reizbarem  Darme  die  Liebig'sche  Suppe;  erst 
wenn  die  Kräfte  zunehmen  und  kein  Rückfall  mehr  zu  befürchten  ist, 
kann  man  allmälig  passirtes  Hühnerfleisch,  halbgebratenes  Rindfleisch  und 
Kalbfleisch  nebst  Milch,  weichen  Eiern  und  massigen  Dosen  Rothwein  geben. 

Wenn  auch  in  der  Regel  4 — 5  Wochen  zum  Ablauf  des  typhösen 
Processes  genügen,  so  lasse  man  grössere  Kinder  doch  nicht  vor  der  achten 
Woche  die  Schule  wieder  besuchen.  v.  hüttenbrenner. 

ÄCCeSSOriuslähmung.  li^T  N.  accessorius  WilUsU  entspringt  aus  den 
obersten  Segmenten  des  Rückenmarks  und  aus  dem  verlängerten  Marke. 
Die  aus  dem  Rückenmarke  hervorgehenden  Bündel  verlassen  die  graue 
Substanz  auf  dem  Wege  des  Seitenstranges.  Sie  treten  auf  der  Seitenfläche 
des  Rückenmarkes  aus,  ziehen  nach  aufwärts  und  vereinigen  sich  mit  den 
Wurzelfäden  aus  der  Medulla  oblongata  zum  Accessoriusstamme,  der  durch 
das  Foramen  jugulare  die  Schädelhöhle  verlässt.  Bald  nach  seinem  Aus- 
tritte theilt  sich  dieser  in  einen  äusseren  und  einen  inneren  Ast. 

Nach  der  herrschenden  Anschauung  verlassen  im  inneren  Aste  die 
Medullafasern  wieder  den  Stamm,  während  im  äusseren  Aste  die  spinalen 
Antheile  vereinigt  sind,  welche  die  Innervation  des  M.  sternocleidomastoldeus 
und  Cucullaris  besorgen.  Zur  Innervation  dieser  Muskel  tragen  jedoch  auch 
die  Cervicalnerven  bei.  So  innervirt  in  der  Regel  der  Accessorius  nur  die 
obere  Portion  des  Cucullaris. 

Die  Erkrankungen  im  Gebiete  des  Accessorius  sind  entweder  Theil- 
erscheinung  einer  Allgemeinerkrankung  im  besonderen  des  Nervensystems 
(z.  B.  multiple  Neuritis),  oder  eines  ausgedehnten  Degenerationsprocesses  im 
Centralorgan  (z.  B.  spinale  Atrophie,  Bulbärparalyse,  Syringomyelie  [Schmidt] 
u.  s.  w.),  oder  endlich  die  Erkrankung  ist  eine  gesonderte  des  Nerven,  ver- 
anlasst durch  Trauma,    Compression   oder   unbekannter  Ursache  (spontan). 

Die  Krankheitserscheinungen  werden  je  nach  dem  Sitz  des 
Herdes  verschieden  sein.  So  wird  eine  Erkrankung  des  äusseren  Astes  nur 
Erscheinungen    im   Bereiche    der    genannten    beiden   Muskel    hervorrufen, 


26  ACCESSORIUSLAHMÜXG. 

während  die  Laesion  des  Stammes  mit  Symptomen  von  Seite  des  KeM- 
kopfes,  Gaumensegels,  eventuell  auch  des  Herzens  einhergehen  kann,  zu- 
mal der  innere  Ast  Fasern  für  den  N .  recurrens,  pharyngeus  und  die  IST.  cardiaci 
führt.  Hingegen  kann  ein  centraler  Herd  nur  insoweit  Functionsstörungen 
herbeiführen,  als  Ganglienzellen  und  Nervenfasern  in  ihren  Leistungen  be- 
einträchtigt werden. 

Es  werden  beobachtet  Lähmungen  und  Krampfzustände. 

Die  Lähmung  kann  verursacht  werden  durch  einen  centralen  Herd 
oder  durch  eine  Leitungsunterbrechung  im  Verlaufe  des  Nerven,  so  zum 
Beispiel  durch  Verletzung,  durch  Druck  von  Geschwülsten,  Knochenab- 
scessen  etc.  oder  aber  durch  eine  Entzündung  des  Nerven,  von  welcher  dieser 
Nerv  secundär  (z.  B.  nach  Meningitis  basilaris),  aber  auch  selbständig  be- 
fallen werden  kann,  nach  lufectionskrankheiten  (Typhus,  Diphtherie),  bei 
Tabes,  rheumatischer  Ursache. 

Die  Lähmung  kann  eine  einseitige  oder  eine  beiderseitige 
sein   und    den  Sternocleidomastoideus   allein   oder   auch  Cucullaris  betreffen. 

Besteht  eine  einseitige  Lähmung  des  M.  sternocleidomastoideus, 
so  zeigt  der  Kopf  meist  eine  etwas  schiefe  Haltung,  indem  der  Kranke 
mit  leicht  erhobenem  Kinn  nach  der  kranken  Seite  sieht.  Diese  Stellung 
tritt  besonders  hervor,  wenn  sich  Contractur  im  gesunden  gleichnamigen 
Muskel  einstellt.  Die  active  Beweglichkeit  des  Kopfes  nach  hinten  und  nach 
vorne  ist  erschwert  und  tritt  bei  der  Bewegung  in  der  letztgenannten 
Kichtung  besonders,  wenn  diese  Bewegung  durch  Stützung  des  Kinns 
gehemmt  wird,  der  gesunde  Muskel  am  Hals  deutlich  hervor.  Die  passive 
Beweglichkeit  von  vorne  nach  rückwärts  ist  nicht  gestört.  {Caput  ohstipum 
imrah/ticum.)  Im  weiteren  Verlaufe  entwickelt  sich  Atrophie  des  erkrankten 
neben  der  schon  erwähnten  Contractur  des  gesunden  Muskels.  (Caput  ohsti- 
pum spasticum.) 

Eine  doppelseitige  Lähmung  des  Sternocleidomastoideus  findet  sich 
weit  seltener.  Der  Kopf  ist  in  diesen  Fällen  in  der  Medianstellung  etwas 
nach  hinten  gesunken.  Kommt  es  zur  Atrophie,  so  erscheint  der  Hals  durch 
das  Fehlen  der  beiden  Muskelbäuche  stark  abgemagert. 

Ist  nur  der  Cuciülarisziceicj  u.  zw.  einerseits  betroffen,  so  erscheint 
gewöhnlich  die  obere  Portion  des  Muskels  gelähmt  und  zeigt  einen  con- 
caven  Piand.  Der  Kopf  wird  nach  der  gesunden  Seite  geneigt  gehalten,  das 
Schulterblatt  der  gelähmten  Seite  steht  etwas  tiefer  und  ist  mit  seiner 
oberen  Hälfte  nach  aussen  gesunken,  während  der  Schulterblattwinkel  an  die 
Wirbelsäule  herangezogen  wird.  Die  Hebung  des  Schulterblattes,  sowie  des 
Armes  über  die  Schulterhöhe,  ebenso  die  Adduction  des  Schulterblattes 
ist  beeinträchtigt.  Piücksichtlich  der  Hebung  der  Scapula  tritt  der  Levator 
scapulae  vicariirend  in  Action.  Die  Fossa  supraclavicularis  erscheint  vertieft. 

Bei  beiderseitiger  Cucullarislähmung  sinkt  der  Kopf  nach  vorne  und 
die  Schultern  erscheinen  in  Folge  der  Stellung  der  Schulterblätter  stärker 
gewölbt. 

Diese  symmetrischen  Lähmungen  sind  bisher  fast  nur  bei  basaler  Menin- 
gitis und  nach  spinaler  Muskelatrophie  beobachtet  worden. 

Sind  Sternocleidomastoideus  und  Cucullaris  gleichzeitig  gelähmt,  so  er- 
geben sich  je  nach  der  Betheiligung  der  einzelnen  Muskeln  Mittelstellungen, 
In  solchen  Fällen  sind  gewöhnlich  Vaguserscheinungen  zu  beobachten 
(Heiserkeit,  näselnde  Sprache,  Schlingstörung),  da  es  sich  meist  um 
Laesionen  des  Stammes  handelt.  Pulsbeschleunigung  als  Zeichen  der 
Affection  der  N.  cardiaci  wurde  bei  doppelseitiger  Lähmung  gefunden. 
(Seeligimüller.) 

Die   übrigen  Symptome   sind   im   wesentlichen   abhängig    von  der  Art 


ADDISON'SCHE  KRANKHEIT.  27 

und  der  Dauer  der  Erkrankung.  So  wird  man  bei  einer  frischen  Neuritis 
oft  Druckempfindlichkeit  des  Nerven  finden.  In  frischen  Fällen  Entartungs- 
reaction  oder  anderweitige  qualitative  und  quantitative  Veränderungen  der 
Erregbarkeit,  bei  Atrophie  aufgehobene  elektrische  Reaction. 

Die  Prognose  hängt  vom  Grundleiden  ab.  Eine  spontane  Neuritis 
oder  Lähmungen  nach  Trauma  geben  erfahrungsgemäss  günstigere  Prognose. 
Bei  centraler  Erkrankung  ist  dieselbe  quoad  restitutionem  fast  immer  ungünstig. 

Die  Therapie  hat  sich  gleichfalls  an  das  Grundleiden  zu  halten. 
Obenan  wäre  zu  stellen:  Gymnastik  und  dann  elektrische  spec,  faradische 
Behandlung. 

In  chronischen  Fällen  tritt,  wenn  Gymnastik  erfolglos  geblieben,  die 
chirurgische  Behandlung  in  ihre  Ptechte  {Tenotoynie,  Myotomie,  Stütz- 
apparat etc.). 

Die  Besprechung  der  Krampf  zustände  im  Innervationsgebiet  des 
jV.  accessorius  erfolgt  unter  „Halsmuskelkrampf".  pal. 

AddiSOn'SChe  Krankheit  (Bronze -Krankheit,  Melasma  suprarenale, 
hronzed-sJcin,  peau  hronce),  ein  chronisch  verlaufender  Krankheitsprocess, 
welcher  klinisch  durch  bestimmte  Symptome  von  Seite  der  Haut,  des 
Nervensystems  und  des  Digestionsapparates  charakterisirt  ist.  So  weit 
bekannt,  endet  derselbe  immer  tödtlich  und  lässt,  wenn  er  mit  keiner 
anderen  Organerkrankung  complicirt  ist,  nach  der  Mehrzahl  der  in 
der  Literatur  mitgetheilten  Obductions-Befunde  als  anatomisches  Substrat 
eine  Erkrankung  einer  oder  beider  Nebennieren  erkennen. 

Die  Aetiologie  dieser  Erkrankung  ist  umso  dunkler,  als  man  über 
das  Wesen  derselben  bis  heute  noch  völlig  im  Unklaren  ist.  Anamnestisch 
findet  sich  meist  ausser  ziemlich  vagen  Angaben,  wie  vorausgegangenem 
Kummer,  starken  körperlichen  Anstrengungen  oder  Erkältungen,  auch 
Störungen  von  Seite  des  Digestionsapparates,  Diätfehler  als  Ursache  des 
bestehenden  Leidens  angegeben.  Häufig  vermögen  die  Patienten  jedoch 
nicht  eine  bestimmte  Schädlichkeit  als  Ursache  des  vorhandenen  Unwohl- 
seins zu  nennen,  wie  sie  auch  oft  nicht  in  der  Lage  sind,  ein  bestimmtes 
Datum  als  den  Beginn  ihrer  Erkrankung  zu  bezeichnen.  Der  Arzt  bekommt 
den  Patienten  gewöhnlich  erst  zu  einer  Zeit  zu  Gesichte,  wo  die  Sym- 
ptome des  Leidens  schon  längere  Zeit  (Wochen)  bestanden  haben.  Es  ergibt 
sich  daraus,  dass  auch  unsere  Kenntnisse  über  die  Symptomatologie 
der  Frühperiode  dieser  Krankheit  sehr  mangelhaft  sind.  Störungen  von 
Seite  des  Magen-Darmcanals  scheinen  jedoch  um  diese  Zeit  das  klinische 
Bild  zu  beherrschen.  Dieselben  treten  unter  den  Erscheinungen  einer  chroni- 
schen Dyspepsie,  seltener  unter  den  einer  acuten  infectiösen  Darmer- 
krankung auf. 

Die  subjectiven  Beschwerden,  welche  dem  Arzte  vorge- 
tragen werden,  beziehen  sich  vor  Allem  auf  das  schon  seit  Wochen  be- 
stehende Unterleibsleiden.  Es  wird  ein  Gefühl  von  Druck  oder  Schmerz 
im  Epigastrium,  Appetitmangel,  zeitweises  Erbrechen  bei  nüchternem 
Magen  oder  kurz  nach  der  Mahlzeit,  sowie  Unregelmässigkeiten  des 
Stuhlganges  oder  Diarrhoen  angegeben.  Hiezu  gesellen  sich  noch  häufig 
rheumatoide  Schmerzen  in  verschiedenen  Körpertheilen,  welche  ihren  Sitz 
oft  wechseln.  Eine  der  wichtigsten  Erscheinungen,  die  in  diesem  Stadium 
dem  Arzte  begegnen  kann,  ist  eine  grosse  Schwäche  und  Müdigkeit,  über 
welche  die  Patienten  klagen  und  die  mit  dem  noch  scheinbar  guten  Er- 
nährungszustand derselben  nicht  im  Einklänge  steht.  Diese  Adynamie  hat 
sich  nach  Angabe  der  Kranken  ziemlich  gleichzeitig  mit  der  Magen-Darm- 
affection    entwickelt    und    wird  von  ihnen  als  Etfect   derselben  bezeichnet. 


28  ADDISON'SCHE  KRANKHEIT. 

Sie  kann  jedoch  auch  schon  einige  Zeit  vorher  bestanden  haben  und  mit 
der  Zeit  derartige  Grade  erreichen,  dass  sie  den  Patienten,  sofern  er 
der  arbeitenden  Classe  angehört,  zum  Broderwerbe  völlig  untauglich  macht. 
Auch  die  geistige  Arbeitsfcähigkeit  leidet  meist  schon  in  diesem  Stadium. 
Es  stellt  sich  Gedächtnissschwäche,  Energielosigkeit  und  Mangel  an  Inter- 
esse an  sonst  gewohnten  Arbeiten  ein. 

Die  objective  Untersuchung  ergibt  in  dieser  Periode,  sofern 
ein  reiner  nicht  mit  anderweitiger  Organerkrankung  complicirter  Fall  vor- 
liegt, so  gut  wie  keine  Anhaltspunkte  für  das  bestehende  Leiden.  Lungen- 
und  Herzbefund,  die  Harnuntersuchung  sowie  auch  die  objective  Unter- 
suchung des  Magen  -  Darmcanals,  soweit  dieselbe  möglich  ist,  erweist 
scheinbar  normale  Verhältnisse  und  nur  etwa  die  Kleinheit  und  Schwäche 
des  Pulses  verbunden  mit  der  Schwäche  der  Herztöne  kann  als  einziges 
objectives  Symptom  der  vom  Patienten  angegebenen  Aclynamie  gelten.  Der 
relativ  gut  erhaltene  Paniculus  und  die  hiezu  contrastirende  Schwäche 
kann  vielleicht  den  Verdacht  auf  das  Bestehen  einer  Blutanomalie,  als 
Leukaemie,  perniciöse  Anaemie  u.  a.  erwecken,  doch  erweist  eine  Unter- 
suchung des  Blutes  auf  Zahl  und  Färbekraft  seiner  zelligen  Elemente 
meist  normale  oder  annähernd  normale  Verhältnisse.  Diese  Untersuchungs- 
resultate werden  auch  in  der  Hand  eines  erfahrenen  Arztes  nicht  zur  Er- 
kenntniss  der  vorliegenden  Krankheit  führen  können,  sofern  es  ihm  nicht 
gelingt,  den  Beginn  einer  pathologischen  Pigmentirung  am 
Patienten  nachzuweisen.  Dieselbe  beginnt  entweder  fieckenweise  über  den 
ganzen  Körper  verstreut,  was  der  seltenere  Fall  ist,  oder  diffus  auf  ver- 
schiedene Körperstellen  beschränkt.  Meist  sind  es  die  dem  Tageslicht 
ausgesetzten  Körperpartien,  welche  sich  zuerst  zu  bräunen  beginnen  oder 
diejenigen  Hautstellen,  welche  entweder  schon  physiologisch  ein  Plus  an 
Pigment  aufweisen,  wie  das  Scrotum  und  Perineum,  oder  solche,  die  zwar 
von  Kleidungsstücken  bedeckt  sind,  welchen  diese  jedoch  besonders  innig 
anliegen.  Bei  Frauen  ist  dies  besonders  die  Taille,  bei  Männern  u,  A.  die 
Schultern.  Nicht  nur,  dass  diese  Körperstellen  dunkler  als  normal  er- 
scheinen, so  gewinnen  sie  noch  mitunter  recht  zeitlich  ein  eigenthümliches 
stahl-  oder  rauchgraues  Aussehen.  Seltener  ist  eine  gelbliche  Nuance  des 
pathologischen  Pigmentes,  was  unter  Umständen  besonders  zu  Beginn  der 
Krankheit  zu  Verwechslungen  mit  cholaemischen  oder  Urobilin-Icterus 
führen  kann.  Das  Freibleiben  der  Sclerae,  sowie  der  Umstand,  dass  die 
abnorme  Pigmentirung  nicht  am  ganzen  Körper  nachweisbar  ist,  wird  neben 
der  Harnuntersuchung  für  die  Differentialdiagnose  massgebend  sein.  Ueber- 
haupt  pflegt  der  Harn  solcher  Patienten,  sofern  es  sich  nicht  um  Compli- 
cationen  handelt,  keinerlei  pathologischen  Befund  zu  ergeben.  Die  Bräunung 
der  Haut  geht  örtlich  meist  allmählich  in  die  normalen  Verhältnisse  der 
Pigmentirung  über  und  weicht  dem  Fingerdrucke  nicht.  In  seltenen  Fällen 
besteht  neben  ihr  an  anderen  Körperstellen  Pigmentschwund  (Vitiligo). 
Sonst  hat  die  Haut  häufig  eine  spröde  rauhe  Beschaffenheit,  lässt  sich 
gut  in  Falten  aufheben,  ist  schlecht  geölt,  wie  man  dies  auch  bei  sonst 
cachektischen  Individuen  mitunter  findet.  Mit  der  weiteren  Entwicklung 
des  Processes  nimmt  die  Adynamie  und  die  pathologische  Pigmentirung 
an  Ausbreitung  und  Intensität  zu.  Die  Haut  des  Patienten  gewinnt 
mit  der  Zeit  das  Aussehen  der  eines  Negers  und  besonders  sind  es  gewisse 
Hautpartien,  wie  der  Nacken,  Hals  und  Parotidenregion,  welche  einen 
völlig  blau- schwarzen  Farbenton  anzunehmen  pflegen.  Einzelne  Körper- 
stellen, wie  die  Handteller,  Fingernägel,  die  Fusssohlen  sowie  die  Con- 
junctivae und  Sclerae  bleiben  erfahrungsgemäss  von  der  Pigmentirung  ver- 
schont, wie  sie  auch  bei  den  gefärbten  Menschenrassen  ungefärbt  gefunden 


ADDISON'SCHE  KRANKHEIT.  29 

werden.  Bei  schon  stark  entwickelter  Pigmentablageriing  in  der  Haut  lässt 
sich  auch  eine  solche  an  den  Schleimhäuten  nachweisen.  Besonders  sind 
es  die  Lippen,  das  Zahnfleisch,  der  Gaumen  und  die  Wangenschleimhaut, 
an  denen-  fleckenweise  Pigment  auftritt.  Speciell  an  der  Wangenschleimhaut 
lässt  es  sich  häufig  beobachten,  dass  die  Pigmentflecke  am  freien  Rande 
besonders  schadhafter  Zähne  oder  Zahnwurzeln  gegenübergestellt  sind. 
Die  erwähnten  Beschwerden,  Appetitlosigkeit,  Diarrhoen  und  Körperschwäche 
nehmen  meist  progressiv  mit  der  Hautfärbung  zu.  Es  gesellen  sich  zu 
diesen  Erscheinungen  noch  Kopfschmerz,  Schlaflosigkeit,  Schwindelanfälle, 
Ohnmächten,  Delirien  und  comatöse  Zustände.  Ausser  diesen  Lähmungs- 
erscheinungen von  Seite  des  Centralnervensystems  können  jedoch 
auch  Reizerscheinungen  desselben  beobachtet  werden.  So  spontane 
Zuckungen  in  einzelnen  Nervengebieten  (facialis)  oder  Extremitäten,  welche 
auf  eine  Seite  beschränkt  oder  auch  auf  beiden  auftreten  können  und 
nach  In-  und  Extensität  bis  zur  Höhe  eines  scheinbar  echten  epileptischen 
Anfalls  gedeihen  können.  Immerhin  scheint  dies  jedoch  relativ  selten  vorzu- 
kommen. Auch  über  das  Auftreten  von  Sensibilitäts-Störungen  wird  be- 
richtet, doch  ist  hiezu  zu  bemerken,  dass  solche  auch  durch  die  Apathie 
der  Patienten  vorgetäuscht  werden  können.  Der  Exitus  kann,  und  dies  ist 
wohl  der  seltenere  Fall,  ohne  Hinzutritt  einer  weiteren  Complication  ein- 
fach in  Folge  der  bestehenden  hochgi-adigen  Schwäche  erfolgen.  Meistens 
jedoch  erliegen  die  Patienten  einem  an  und  für  sich  relativ  unbedeutenden 
Accidens,  wie  einer  Bronchitis  u.  ä.,  sofern  es  sich  um  uncomplicirte  reine 
Fälle  handelt.  In  der  Mehrzahl  besteht  jedoch  neben  der  AoDisoN'schen 
Krankheit  noch  eine  Organerkrankung  durch  Tuberculose  oder  maligne 
Tumoren,  welcher  Umstand  selbstredend  das  klinische  Bild  sehr  beein- 
flussen und  auch  mit  für  den  Eintritt  des  Exitus  verantwortlich  gemacht 
werden  muss. 

Der  pathologisch -anatomische  Befund  erweist,  sofern  keine 
Complicationen  durch  anderweitige  Organerkrankungen  vorliegen,  von  auf 
die  ADDisoN'sche  Krankheit  zu  beziehenden  Veränderungen  vor  Allem 
meist  eine  Nebennieren-Erkrankung.  Dieselbe  besteht  gewöhnlich  in 
Tuberculose,  seltener  in  primären  oder  secundären  Neoplasmen  dieses 
Organes.  Unter  370  Fällen  kounte  Lewin  dieses  gleichzeitige  Zusammen- 
treffen in  285  derselben  nachweisen.  In  den  anderen  85  Fällen  fehlte 
jedoch  eine  Nebennieren-Erkrankung.  Der  chronisch  entzündlich  oder  neo- 
plastische Tumor  übt  häufig  auf  die  zunächst  gelegenen  Gewebe,  speciell 
das  Ganglion  semilunare  und  den  Sympathicus  einen  Einfluss  aus.  So  lässt 
sich  häufig  eine  durch  Compression  oder  fortgeleitete  chronische  Ent- 
zündung verursachte  Degeneration  nicht  nur  der  sympathischen  Nerven- 
fasern, sondern  auch  der  Ganglien  des  Sympathicus  nachweisen.  In 
einigen  Fällen  war  dieselbe  auch  mit  einer  Degeneration  der  markhaltigen 
Fasern  des  Vagus,  sowie  auch  der  vorderen  Wurzeln  des  Rückenmarkes 
combinirt.  Dieser  Befund,  speciell  die  Veränderungen  der  Ganglien  des 
Bauchsympathicus  ist  jedoch,  abgesehen  von  jenen  Fälleu,  bei  welchen  nicht 
speciell  darauf  geachtet  wurde,  keine  constante  Erscheinung,  (v.  Kahlden.) 
Es  finden  sich  auch  Fälle  in  der  Literatur  verzeichnet,  bei  welchen  sich 
trotz  ausgesprochener  Bronce-Haut  und  trotzdem  genau  auf  diese  Ver- 
hältnisse geachtet  wurde,  der  Befund  an  den  Ganglien  doch  völlig  normal 
war.  An  den  übrigen  Organen  lässt  sich,  sofern  eben  keine  Complicationen 
vorliegen,  nichts  für  die  AoDisoN'sche  Krankheit  Charakteristisches  ent- 
decken. Magen  und  Darmcanal  zeigen  mitunter  auf  ihrer  Schleimhaut 
einige  frische  oder  ältere  Ecchymosen,  doch  zählt  auch  dieser  Befund 
nicht  zu  den  constanten. 


30  ADDISON'SCHE  KRANKHEIT. 

Die  histologischen  Veränderungen  der  Haut  verdienen  besonders  erwähnt  zu 
werden.  Sie  stellen,  soweit  bekannt,  nur  eine  rein  quantitative  Steigerung  der  schon 
unter  physiologischen  Bedingungen  an  einigen  Körporstellen  bestehenden  Pigmentab- 
lagerungen vor.  Ebenso  wie  bei  Individuen  der  weissen  Race  schon  normalerweise 
Pigmentkörnchen  im  untersten  Theile  des  Rete  Malpighi,  dem  Papillarkörper  unmittelbar 
aufsitzend,  gefunden  werden  und  diese  bei  normalen  Individuen  der  gefärbten  Racen  wie 
aach  an  gewissen  Hautpartien  der  Weissen,  wie  der  linea  alba  der  Schwängern  oder  am 
Scrotum  vermehrt  sind,  so  ergibt  auch  die  histologische  Untersuchung  einer  Bronze- 
Haut  einen  Befund,  welcher  von  dem  einer  normalen  iVegerhaut  oder  einer  pathologisch 
pigmentirten  Haut  anders  Cachektischer  (Tuberculose,  Carcinom)  durchaus  nicht  zu 
unterscheiden  ist.  (Nothnagel.)  Wenn  es  auch  durch  die  Ferrocyankalium-Salzsäure- 
Reaction  nicht  möglich  ist,  Eisen  in  diesem  Pigmente  nachzuweisen  (Peels),  se  neigt 
die  allgemeine  Anschauung  doch  jetzt  dahin,  in  diesem  Pigmente,  wie  auch  in  den 
meisten  anderen  des  meuschlichen  und  thierischen  Körpers  nicht  einen  autochton  ent- 
standenen Farbkörper,  sondern  einen  Abkömmling  des  Blutfarbstoffes  zu  sehen,  lieber 
die  Art  und  Weise  des  Zustandekommens  dieser  Pigmentablagerung  herrscht  allerdings 
noch  völlige  Dunkelheit.  Sie  auf  eine  sogenannte  specifische  Anaemie  (Ateebeck)  oder 
multiple  Haemorrhagien  (Riehl)  zurückzuführen,  wie  dies  versucht  wurde,  geht  nicht 
an,  weil  beide  meist  nicht  nachweisbar  sind.  Das  gleiche  gilt  auch  von  der  Pigmentation 
der  Schleimhäute. 

Versucht  man  es  nunmehr,  sich  auf  Grund  der  angeführten  klinischen 
und  anatomischen  Thatsachen  eine  Vorstelkmg  über  das  Wesen  der  in 
Rede  stehenden  Krankheit  zu  machen,  so  bedarf  vor  Allem  die  Frage, 
welche  Momente  die  Bezeichnung  eines  Falles  als  ÄDDisoN'sche  Krankheit 
rechtfertigen,  der  Erledigung.  Ist  es  das  geschilderte  Symptomenbild,  ins- 
besondere die  Verfärbung  der  Haut,  oder  das  Bestehen  einer  Nebennieren- 
oder Sympathicus-Erkrankung,  oder  erst  beide  zusammen,  welche  den 
Morbus  Addisoni  ausmachen?  Im  Sinne  der  alten  Auffassung  Addison's  ist 
die  Nebennieren-  (oder  Sympathicus-Affection)  die  Ursache  des  bestehenden 
Symptomen-Complexes.  Wenn  wir  jedoch  in  der  Literatur  auf  Fälle  stossen, 
welche  einerseits  Nebeimieren-Affectionen  ohne  Bronzehaut,  andererseits 
das  klinische  Bild  des  Morbus  Addisoni  gezeigt  haben  sollen,  ohne  dass 
eine  Nebennieren-  oder  Sympathicus-Affection  post  mortem  nachgewiesen 
Averden  konnte  (85  Fälle),  so  müssen  wir  die  letzteren  entweder  als 
diagnostische  Irrthümer  bezeichnen,  sofern  vdr  eben  in  der  ADDisoN'schen 
Krankheit  eine  Nebennieren-Affection  sehen,  oder  wir  müssen  zugeben, 
dass  das  in  Rede  stehende  Krankheitsbild  auch  durch  andere  noch  völlig 
unbekannte  Momente  erzeugt  werden  kann.  Auch  betreffs  der  ersteren 
(44  Fälle),  sowie  derjenigen,  bei  welchen  ein  congenitaler  Nebennieren- 
Defect  bestand,  müssen  wir  dann  annehmen,  dass  die  Zerstörung  der 
Nebennieren  für  sich  allein  nicht  genügt,  um  das  besprochene  Symptomen- 
bild zu  erzeugen,  oder  dass,  wie  ja  auch  angenommen  wurde  (Hutchinson), 
die  Patienten  früher  gestorben  sind,  ehe  die  abnorme  Pigmentirung  der 
Haut  sich  entwickeln  konnte  Neuere  experimentelle  Untersuchungen  jedoch 
scheinen  darzuthun,  dass  die  von  Addison  vermutheten  Beziehungen 
zwischen  Nebennieren-  und  Bronze-Krankheit  thatsächlich  bestehen,  und 
dass  vielleicht  die  obenerwähnten  85  Fälle  wirklich  Verwechslungen  mit 
anderen  schweren  Cachexien  darstellen,  welche  ja,  wie  erwähnt,  mitunter  aus 
ebenso  unklaren  Gründen,  zur  Pigmentablagerung  in  der  Haut  führen  können. 

TizzoNi's  Versuche,  welcher  Kaninchen  die  Nebennieren  zerquetschte  und  sie 
bis  2^/4  Jahr  lang  hierauf  noch  am  Leben  erhielt,  ergaben  in  einzelnen  Fällen  nicht 
nur  pathologische  Pigmentationen,  sondern  auch  multiple  Degenerationen  im  Rückenmark, 
wie  sie  seither  ähnlich  auch  bei  Morbus  Addisoni  beschrieben  wurden.  Jacobi  fand, 
dass  die  Nebenniere  einen  Hemmungsapparat  für  die  Darmbewegung  enthält,  und  erklärt 
so  die  profusen  Diarrhoen  bei  Ausfall  dieser  Organe.  Trotzdem  also  diese  experimentell 
gewonnenen  Thatsachen  schlagend  dafür  zu  sprechen  scheinen,  dass  die  Auffassung 
Addisok's  betreffs  des  ursächlichen  Zusammenhanges  des  nach  ihm  benannten  Sym- 
ptomen-Complexes richtig  ist,  so  entbehren  wir,  abgesehen  von  den  oben  erwähnten 
statistischen  Widersprüchen  bis  heute  völlig  des  Verständnisses,  wie  wenigstens  das 
Hauptsymptom    dieser  Affection,    die  Bronzehaut,    zu  Stande  kommt.   Das«  nervöse  Ein- 


AGRYPNIE.  31 

•flüsse  hier  im  Spiele  sind,  erscheint  wahrscheinlich.  Ein  neues  Moment,  welches  die 
theoretische  Auffassung  in  völlig  andere,  früher  schon  einmal  betretene,  dann  wieder 
verlassene  Bahnen  zu  drängen  scheint,  wurde  kürzlich  von  Tschirkoff  erbracht. 
Dieser  vermochte  bei  2  an  Morbus  Addisoni  leidenden  Individuen  im  Blute  Methämoglobin 
nachzuweisen.  Wir  werden  dadurch  an  eine  alte  längst  vergessene  Hypothese  Bko^vx- 
SEQXJAKD'S  erinnert,  welcher  den  Nebennieren  die  Function  zuschrieb,  das  im  Körper 
normalerweise  gebildete  Pigment  in  eine  farblose  Verbindung  zu  verwandeln.  Wenn  wir 
auch  heute  keinen  Grund  haben,  dieselbe  wieder  aufzunehmen,  so  sei  hier  nur  erwähnt, 
dass  Methämoglobin  in  die  Blutgefässe  eines  gesunden  Thierkörpers  gebracht,  rasch 
aus  dem  Blute  verschwindet,  so  dass,  falls  es  sich  in  den  Fällen  TscHiii.K;orF's  that- 
sächlich  um  diesen  Körper  gehandelt  hat  und  es  gestattet  ist  vom  Thiere  auf  den 
Menschen  zu  schliessen,  diese  Befunde  jedenfalls  eine  schwere  Störung  des  Stoffwechsels 
wahrscheinlich  machen.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  sich  in  weitere  theoretische  Ueber- 
legungen  über  die  eventuelle  Genese  des  Methämoglobins,  ob  hievon  abnorm  viel  gebildet 
oder  zu  wenig  zerstört  wird,  einzulassen.  Dem  Praktiker  liegen  ohnedies  derartige  Fragen 
viel  zu  ferne.  Für  ihn  wird  vorläufig  das  Festhalten  an  der  alten  Lehre  Addisox's,  dass 
das  geschilderte  Symptomenbild  mit  einem  Functionsaus  f  a  1 1  der  in  ihrer 
Bedeutuug  für  den  Stoffwechsel  bis  jetzt  grösstentheils  noch  räthselhaften  Nebennieren 
verbunden  ist,  genügen. 

Die  Therapie  dieser  Erkrankung  ist  völlig  aussichtslos.  Sie  wird  vor 
Allem tonisirend  sein  müssen,  und  rein  symptomatisch  die  bestehenden 
Beschwerden  von  Seite  des  Magen-Darmcanals,  sowie  die  rheumatischen  und 
neuralgischen  Schmerzen  zu  berücksichtigen  haben.  v.  limbeck. 

Agrypnie,  Schlaflosigkeit,  nennt  der  ärztliche  Sprachgebrauch 
alle  Störungen  jener  beim  völlig  gesunden  Menschen  unter  regulären  Ver- 
hältnissen periodisch  wiederkehrenden  und  gleichmässig  dauernden  Er- 
scheinung des  Schlafes.  Die  im  Schlafe  stattfindende  beträchtliche  Abnahme 
aller  Thätigkeiten  des  Gehirns  mit  Aufhebung  des  Bewusstseins  und  der 
willkürlichen  Muskelbewegung,  Herabsetzung  der  Herz-,  Athmungs-,  Secretions- 
Arbeit  und  des  Stoffwechsels  kann  quantitativ  und  qualitativ  verändert 
werden.  Quantitative  Störungen  äussern  sich  in  Veränderung  der  Dauer  und 
der  Tiefe  des  Schlafes  von  kurzen  Unterbrechungen  bis  zu  völligem  Mangel 
in  allen  möglichen  Uebergängen.  Qualitative  Veränderungen  des  Schlafes 
zeigen  sich  in  dem  Fortbestehen  mancher  Thätigkeiten,  während  andere 
aufgehoben  sein  können.  Diese  partielle  Schlaflosigkeit  verdient 
in  der  Praxis  besondere  Würdigung.  Es  kann  Jemand  alle  Viertelstunden 
schlagen  hören  und  doch  ruht,  abgesehen  von  den  kurzen  Unterbrechungen 
durch  Sinneseindrücke,  seine  geistige  Thätigkeit  und  seine  Muskulatur 
(Halbschlaf).  Oder  es  wälzt  sich  ein  Anderer  in  schweren  Träumen  fort- 
während auf  seinem  Lager,  ohne  dass  er  dabei  durch  äussere  Reize  leicht 
zu  erwecken  ist.  Ueberhaupt  ist  der  Begriff  der  Schlaflosigkeit,  mag  es 
sich  um  quantitative  oder  qualitative  Störungen  handeln,  selbstverständlich 
stets  ein  re  1  a  ti  V  e  r.  Ein  junger,  kräftiger  Mann,  der  gewohnt  ist,  nach  reich- 
licher Bewegung  im  Freien  acht  Stunden  traumlos  zu  schlafen,  beklagt  sich 
schwer,  wenn  er  Nachts  eine  Stunde  schlaflos  ist,  während  ein  älterer  reiz- 
barer Stubengelehrter  mit  einem  solchen  Quantum  Schlaf  immer  noch 
mehr  als  zufrieden  sein  würde.  Neigung  zu  Uebertreibungen  ist  bei  den 
Klagen  über  Agrypnie  an  der  Tagesordnung,  insbesondere  in  den  oben- 
erwähnten Fällen  von  partieller  Schlaflosigkeit.  Totale  und  absolute  Agrypnie 
von  längerer  Dauer  scheint  nur  äusserst  selten  vorzukommen.  Sie  würde 
jedenfalls  bald  das  Leben  ernstlich  gefährden.  In  leichten  wie  schweren 
Graden  ist  die  Schlaflosigkeit  ein  überaus  häufiges,  dabei  mindestens  recht 
unangenehmes,  oft  aber  geradezu  nachtheiliges  Symptom,  welches  nicht 
selten  so  in  den  Vordergrund  tritt,  dass  es  fast  den  Werth  einer  eigenen 
Krankheit  erhält.  Es  kann  fast  alle  Erkrankungen  begleiten.  Ja  selbst  solche, 
die  mit  schlafähnlichen,  betäubungsartigen  Zuständen  regelmässig  einher- 
gehen (Apoplexie,  uraemische%,  diabetisches  Coma  u.  A.),  sind  thatsächlich  ge- 


32  AGRYPNIE. 

wohnlich  mit  jener  erwähnten,  partiellen  Agrypnie  verknüpft  und  durch  die- 
selbe von  dem  natürlichen  Schlaf  unterschieden.  Trotzdem  in  der  Regel 
die  Aufliebung  des  Bewusstseins  ausgesprochen  vorhanden  ist,  zeigt  uns  in 
dem  einen  Fall  die  vorhandene  Muskelunruhe  (Jactation  etc.),  in  dem 
andern  das  Delirium,  in  dem  dritten  die  gesteigerte  Athemthätigkeit  u.  s.  f., 
dass  von  einem  wirklichen  Schlaf  keine  Rede  ist. 

Ursachen  der  Agrypnie.  Dass  der  Schlaf  sowohl  durch  äussere 
Einwirkungen  (Sinneseindrücke)  als  durch  inn  e  r  e  Ursachen  u.  zw.  psychische 
wie   körperliche,   gestört   werden   kann,  ist  bekannt.  Angestrengte  geistige 
Thätigkeit,  lebhafte  Sinneserregungen,  sei  es  in  der  Arbeit,  sei  es  im  Ge- 
nuss,  heftige  Gemüthsbewegungen  (Sorge,  Trauer,  Freude,  Furcht),  versetzen, 
zumal  kurz  vor  der  Schlafenszeit,  auch  unter  sonst  normalen  Verhältnissen 
das  Gehirn  in  eine    anhaltende  Erregung.     Fortsetzung   des   angestrengten 
Denkens,  Nachempfindung  des  Erlebten,  Nachbilder   des  Wahrgenommenen, 
unausgesetzte   Beschäftigung  mit  dem,   was   das    Gemüthsleben    aus    dem 
Gleichgewicht  gebracht  hat,  verscheuchen  den  Schlaf  auch    des  Gesunden. 
In  viel  höherem  Grade  wirken  diese  Ursachen  bei  den  neuropathisch  ver- 
anlagten Naturen  (sog.  Nervösen,  Neurasthenischen)  und    den    eigentlichen 
Nervenkranken.  In   analoger  Weise,   wenn  auch   nicht  von  aussen,  sondern 
gewissermassen  von  innen  her,    veranlasst   durch  dauernde  gewebliche  und 
functionelle  Störungen  der  Hirnrinde,  verursachen  ähnliche  Erregungen  die 
Agrypnie  bei  den  Geisteskranken  in  Form  von  Wahn- und  Zwangsvorstellungen, 
Hallucinationen  etc.   Hier  finden   wir  die  Uebergänge  von  den  psychischen 
zu  den  körperlichen  Ursachen  der  Agrypnie.  Diese  können  in  Kranheiten 
des  Gehirns   selbst  liegen  (Entzündungen,  Circulationshindernisse)    oder  in 
Veränderungen  der  Hirnernährung  (durch  allgemeine  Ernährungsstörungen, 
Herzkrankheiten    z.  B.).  Dann    haben    wir   die  Einwirkung  von  Giften  auf 
das  Cerebrum.  Hier  kommen  die  von  aussen  als  Genussmittel  eingeführten 
in   Betracht    (Thee,    Kaffee,    alkoholische   Getränke,  Nicotin),    noch  mehr 
aber  die  im  Körper  besonders  bei  fieberhaften  Krankheiten  sich  bildenden 
schädlichen  Stoffe    (theils  bekannte,  Ptomaine,  grösstentheils  hypothetische 
Stoffwechselproducte  verschiedenster  Art).  Auch  die  Entbehrung  gewohnter 
Gifte    macht    schwere   Agrypnie    (Abstinenzerscheinung    bei  Morphinisten, 
Alkoholisten   etc.).  Selbstverständlich  sind  alle  abnormen  Vorgänge  an  der 
Peripherie    des    Nervensystems    ausserordentlich    geeignet,  den  Schlaf  zu 
stören.    Dabei    können    die    sensiblen    Nerven  als    solche  an  irgend  einer 
Stelle  ihres  Verlaufs  direct  von  dem  krankmachenden  Agens  getroffen  und 
erregt    werden,   und  wir  finden  von  leichten  Paraesthesien,  wie  Kriebeln,^ 
Jucken,  Kälte  und  Hitzegefühl,  bis  zu  den  heftigsten   Schmerzen   bei  Ent- 
zündungsprocessen,   Koliken  und  Neuralgien   alle   Grade   als   Ursache  der 
Agrypnie.  Oder  es  vermitteln  die  sensiblen  Nerven  die  Empfindung  von  ab- 
normen motorischen  Vorgängen,  beispielsweise  von  Krämpfen,  Herzklopfen, 
erhöhter   Darmperistaltik.    Ferner  sind  es  reflectorische,  krampfartige  Er- 
scheinungen, vor  allem  der  Husten,  Singultus,  Waden-  u.  Blasenkrämpfe  u.  A., 
welche    den  Schlaf  beeinträchtigen.  Endlich    sind  von    grosser  Bedeutung 
die  unangenehmen,  nicht  näher  zu  definirenden  Gefühle,  wie  die  der  Athem- 
noth,  der  Angst,  des  Vollseins  im  Leib,  des  Schwitzens  u.  A. 

Behandlung  de  r  Agrypnie.  Eine  ursächliche  Behandlung  ist  in 
erster  Linie  stets  anzustreben.  Vor  dem  Schlendrian,  bei  Schlaflosigkeit  gleich 
ein  Schlafmittel  zu  verordnen,  kann  nicht  eindringlich  genug  gewarnt  werden.  Die 
ganze  causale  Therapie  der  Agrypnie  braucht  natürlich  nicht  aufgeführt  w^erden; 
einige  Beispiele  genügen.  Die  Agrypnie  in  Folge  von  Athemnoth,  Palpitationen^ 
Husten,  welche  die  He  rzmusk  elinsuff  icienz,  sei  es  aus  welcher  Ur- 
sache sie  wolle,  so  häufig  begleitet,  wird  durch  Digitalis    oft   prompt  be- 


AGRYPNIE.  33 

seitigt.  Stört  das  Fieber  in  erster  Linie  den  Schlaf,  so  schafft  ein 
protrahirtes  oder  kühles  Bad  oder  ein  Antifebrile  {Antipyrin,  AcetaniUd, 
PhenocoU)  nicht  selten  auf  einige  Stunden  die  ersehnte  Ruhe,  Sind,  wie  sehr 
häufig  der  Fall,  Verstopfung  mit  Auftreibung  und  dem  Gefühl  des  Vollseins 
und  Unruhe  im  Leib  die  Ursachen  der  Agrypnie,  so  ist  die  Beseitigung  dieser 
Störung  mit  den  verschiedenen  Mitteln  zu  versuchen,  eventuell  eine  Irrigation 
des  Darms  am  Abend  von  eclatantem  Nutzen.  Sind  heftige  Schmerzen  der 
Grund  der  Agrypnie  und  kann  man  dieselben  durch  Entfernung  ihrer  Ur- 
sache (z.  B.  durch  Chinin  bei  Malarianeuralgie en,  durch  chirurgische  Ein- 
griffe bei  Eiterungen)  absolut  nicht  beseitigen,  so  sind  das  Opium  uuil 
seine  Alkaloide,  insbesondere  Morphin,  die  einzigen  erfolgreichen  Schlaf- 
mittel, welche  man  aber  schliesslich  doch  nur  nach  vergeblichen  Versuchen 
mit  ungefährlicheren  Anaestheticis  als  ultimum  refugium  verwenden  soll. 
Dass  man  dem  überangestrengten  Gelehrten  geistige  Ruhe,  insbesondere 
Enthaltung  von  der  Arbeit  in  den  Abendstunden,  dem  Leidenschaftlichen 
ein  einförmiges  Leben,  dem  Traurigen  Zerstreuung  empfehlen  wird,  ist 
selbstverständlich.  Gründlich  helfen  bei  dieser  Agrypnie  der  „Nervösen" 
gewöhnlich  nur  gründliche  Massregeln.  Dahin  gehören  vollständige  Ent- 
fernung aus  der  gewohnten  Umgebung,  Aufenthalt  im  Freien,  das  richtige 
Mass  von  Bewegung  (da  übermässige  Körperanstrengung  oft  die  Agrypnie 
erhöht),  kräftige  Ernährung,  frühzeitiges  Abendessen,  Ordnung  der  Ver- 
dauung, zweckmässige  Hydrotherapie.  Von  besonderer  Wichtigkeit  ist  die 
Hygiene  des  Schlafzimmers :  ruhige  Lage,  Geräumigkeit,  Lüftung,  eventuell 
Offenlassen  des  Fensters,  kühle  Temperatur,  bequemes  Rosshaarbett,  leichte 
Bedeckung.  Dass  bei  vielen  Formen  der  Agrypnie,  inbesondere  bei  zahl- 
reichen, schweren  körperlichen  Erkrankungen  sowohl  als  Psychosen  die 
causale  Indication  unerfüllbar  ist,  muss  leider  zugegeben  werden.  Da  bleibt 
nur  die  sympto  matische  Therapie.  Man  versuche  erst  die  unschädlichen 
phy  sik  ali sehen  Beruhigungsmittel.  Dahin  gehören  elektrische  Pro- 
ceduren  (Anwendung  des  faradischen  Pinsels  auf  die  Haut,  Galvanisation,  am 
Kopf  u.  A.),  Senffussbäder  oder  vor  allen  Dingen  26 — 28<'  R.  warme  Voll- 
bäder am  Abend  von  langer,  bis  einstündiger  Dauer.  Bei  Anwendung  der 
hypnotischen  Arzneimittel,  welche  die  abnorme  Erregung  der 
Hirnrinde  beseitigen  sollen,  bedenke  man  auch  bei  einmaliger  Verordnung 
stets,  dass  sie  nicht  nur  die  Erregung,  sondern  in  erheblichen  Dosen  auch 
die  Erregbarkeit  des  Rindengebietes  und  eventuell  auch  diejenigen 
lebenswichtiger  Gehimtheile,  vor  allen  der  Medulla,  herabsetzen  können. 
Und  gar  bei  fortgesetztem  Gebrauch  behalte  man  stets  im  Auge,  dass  dauernde 
Schädigung  des  Gehirns  resultiren  kann,  besonders  bei  den  Mitteln,  von  denen 
die  „Gewöhnung"  des  Organismus  steigende  Dosen  verlangt.  Von  diesen  Ge- 
sichtspunkten aus  sind  die  Alkaloide,  zumal  das  Morphin  als  gefährliches 
Schlafmittel  zu  fürchten.  Da  Morphin  meist  nur  unerquicklichen  Schlaf 
macht,  dabei  aber  öfters  unangenehme  Neben-  und  Nachwirkungen  hat 
(Jucken,  Hautausschläge,  Verstopfung,  Katzenjammer),  so  beschränkt  man 
seine  (gewöhnlich  subcutane)  Anwendung  auf  sonst  nicht  zu  beseitigende,  stark 
schmerzhafte  Zustände,  sowie  auf  den  erfahrungsgemäss  erfolgreichen  Ge- 
brauch im  Alkoholdelirium.  Eventuell  kann  man  versuchen,  das  Morphin 
durch  das  weniger  schädliche,  aber  auch  weniger  wirkende  Codem  (C.  phos- 
phoricum) zu  ersetzen.  Grosse  Vorsicht  erfordert  wegen  der  sehr  verschiedeneu 
individuellen  Empfindlichkeit  das  stark  giftige  Alkaloid,  Hyoscin,  welches 
daher  nur  bei  sonst  nicht  zu  beruhigenden  Geisteskranken,  da  aber  oft  mit  sehr 
gutem  Erfolg  gegeben  werden  kann.  Von  den  einfacher  zusammengesetzten 
Arzueisubstanzen  der  fetten  Reihe  sind  viele  als  Hypnotica  empfohlen  worden. 
In  manchen  Fällen  leichter  Agrypnie  kann  man  den  gewöhnlichen  Alkohol, 

Bilil.  med.  Wissenschaften.  I.  Innere  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  -3 


34  ALBUMINURIE.  ' 

vor  Allem  in  Form  des  Bieres,  benützen,  so  z.  B.  bei  Anaemischen,  Recon- 
valescenten,  Gewohnheitsbiertrinkern.  Gewöhnlich  ist  derselbe  freilich  eher 
contraindicirt.  Der  tertiaere  Amylalkohol  dagegen,  das  Ämt/lenhydrat,  ist 
ein  bemerkenswerthes  Schlafmittel,  zu  2,  0  —  5,  0  in  der  Mehrzahl  der  Fälle, 
besonders  bei  Nervösen  und  manchen  Geisteskranken  gewöhnlich  ohne  lästige 
oder  gar  gefährliche  Nebenerscheinungen  wirksam,  doch  M^ohl  hauptsächlich 
wegen  der  durch  den  brennenden  Geschmack  erschwerten  Darreichung 
(Gelatine-Kapsel)  weniger  beliebt.  Dieselben  Gründe  widerstreben  auch  der 
allgemeinen  Anwendung  des  ParaMehyds,  welches  noch  mehr  als  das  Vorige 
eine  ziemlich  zuverlässige,  angenehme,  von  wirklichen  Nachtheilen  fast  freie 
Schlafwirkung  hervorbringt  und  ebenso  wie  jenes  bei  zweckmässiger  Darreichung 
nicht  die  Gefahren  chronischer  Intoxication  und  Gewöhnung  in  sich  birgt.  Diesen 
neueren  Mitteln  gegenüber  ist  das  Chlor alhydrat  als  bequemes,  angenehm 
und  vor  allen  Dingen  sicher  wirkendes  Hypnoticum  bereits  seit  langer  Zeit 
allgemein  eingeführt.  Bei  sehr  vorsichtiger  Anwendung  mit  Recht.  Doch 
muss  auf  die  Gefahren,  einerseits  einer  acuten  Schädigung  des  Respirations- 
und Circulationscentrums  (insbesondere  bei  Herzkranken,  Geschwächten, 
Fiebernden),  anderseits  der  chronischen  Intoxication,  sehr  eindringlich  auf- 
merksam gemacht  werden.  Fast  will  es  scheinen,  als  ob  das  dem  Chloral 
verwandte  Chloralformamid  bei  etwas  schwächerer  hypnotischer  Wirksamkeit 
(im  Verhältniss  von  etwa  3  : 4)  eine  wesentlich  geringere  Gefährlichkeit  be- 
sässe.  Doch  ist  es  immer  schwierig,  ein  Mittel,  welches  man  nur  wenige 
Jahre  kennt,  mit  einem  seit  Jahrzehnten  verwendeten  exact  zu  vergleichen. 
Denselben  Vorbehalt  muss  man  auch  bezüglich  des  Sulfonals  machen.  Doch 
kann  man  schon  jetzt  sagen,  dass  dieses  eines  der  bequemsten,  wirksamsten 
und  dabei  unschädlichsten  der  modernen  Hypnotica  ist.  Um  raschen  Eintritt 
des  Schlafes  zu  erzielen  und  zu  lange  Nachwirkung,  resp.  cumulirende  Wir- 
kung zu  verhüten,  muss  man  das  schwerlösliche  Mittel  feinst  gepulvert  mit 
viel  warmer,  womöglich  akoholischer  Flüssigkeit  nehmen  und  nicht  täglich 
fortgebrauchen  lassen.  Trional  und  Tetronal  sind  ebensogut,  ersteres  ist 
wegen  leichterer  Löslichkeit  vielleicht  sogar  besser  als  Sulfonal.  Die  Milch- 
säure, deren  Anhäufung  im  Körper  eine  hypothetische  Vorstellung  als  Ursache 
des  natürlichen  Schlafes  bezeichnete,  hat  sich  in  der  Praxis  nicht  bewährt. 
Als  entbehrlich  dürfen  vorläufig  von  den  neueren  Schlafmitteln  bezeichnet 
werden :  das  Methylal,  das  Urethan,  das  Acetophenon  oder  Hypnon,  das  Chloral- 
anüpyrm  oder  Hypnal  und  manche  andere  Verbindungen  und  Compositionen. 
Wegen  Unberechenbarkeit  der  Wirkung  als  direct  gefährlich  anzusehen  sind 
aber  die  Caw«a&?'s-Präparate.  Keine  eigentlichen  Hypnotica  sind  die  Bromsalze. 
Doch  schaffen  dieselben  günstige  Bedingungen  für  den  Eintritt  des  Schlafes. 
Diese  Bedingungen  herzustellen,  aber  wenn  möglich  durcli  Beseitigung  der 
Ursachen  oder  geeignete  physikalische,  hygienische  oder  diätetische  Mass- 
regeln, muss  überhaupt  bei  der  Behandlung  der  Agrypnie  immer  in  erster 
Linie  unser  Bestreben  sein.  Erst  nach  Erschöpfung  aller  dieser  Mittel  ist 
es,  wenn  der  Zustand  des  Kranken  es  dringend  fordert,  unter  den  bei  An- 
wendung giftiger  Stoffe  nöthigen  Cautelen  erlaubt,  mit  Hilfe  betäubender 
Medicamente  den  Schlaf  zu  erzwingen.  penzoldt. 

Albumin urie.  Unter  Albuminurie  versteht  man  das  Vorkommen 
eines  durch  Hitze  gerinnbaren  oder  durch  Neutralisirung  fällbaren  Eiweiss- 
körpers  im  Harne. 

Die  Albuminurie  ist  ein  häufig  vorkommendes  Symptom  nicht  nur  bei 
localen,  primären  Erkrankungen  des  Nierenparenchyms,  sondern  auch  bei 
zahlreichen  Allgemein erkrankungen;  zuweilen  kommt  sie  auch  bei  ganz  ge- 
sunden Individuen  vor. 


ALBUMINURIE.  35 

Das  Eiweiss  findet  sich  im  Harne  in  zwei  Formen:  als  gelöstes  und 
ungelöstes  Ei\Yeiss. 

Im  gelösten  Zustande  findet  man  im  Harne  verschiedene  Eiweiss- 
körper:  Serumalhumin,  Globulin,  Pepton,  Propepton  (Älbiimose),  Nucleo- 
albumin  und  Mucin.  Ungelöstes  Albumin  zeigt  sich  als  Fibringerinnsel 
in  makroskopisch  wahrnehmbaren  Flocken  und  in  mikroskopisch  nachweis- 
baren Harncylindern.  Diese  stellen  cylindrische  Gebilde  dar,  die  als  Ab- 
güsse von  Harnkanälchen  angesehen  werden  können.  Von  den  gelösten  Al- 
buminkörpern hat  die  grösste  Bedeutung  und  Wichtigkeit  das  Serumalhimin; 
zum  Nachweise  desselben  dienen  vorzüglich  drei  Proben. 

1.  Die  Kochprobe:  Der  filtrirte  Harn  wird  in  einer  bis  zum  Drittel 
gefüllten  Eprouvette  zum  Sieden  erhitzt;  hierauf  mrd  demselben  verdünnte 
Salpetersäure  hinzugefügt.  Entsteht  beim  Kochen  des  Harnes  ein  Nieder- 
schlag, der  nach  Säurezusatz  bleibt  oder  sich  noch  vermehrt,  dann  ist  Al- 
bumen  vorhanden. 

2.  Salpetersäureprobe:  Ein  Liqueurglas  mit  abgerundetem,  nicht 
spitz  zulaufenden  Boden  von  20  ccm  Inhalt  wird  mit  dem  zu  untersuchenden 
klaren  Harn  zur  Hälfte  gefüllt  und  mit  dem  halben  Volumen  reiner  Salpeter- 
säure unterschichtet.  An  der  Berührungsstelle  zwischen  Harn  und  Säure  tritt 
ein  schmaler  Farbstoffring  auf  und  unmittelbar  demselben  aufliegend  ein 
weisses,  nach  oben  unduntenscharf  abgegrenztes  Band  von  coagulirtem  Albumin. 

Diese  Probe  kann  auch  zu  approximativer  Schätzung  des  Eiweissge- 
haltes  im  Harne  verwerthet  werden.  Scheidet  sich  nämlich  das  Albumin  in 
der  Weise  aus,  dass  die  Albuminzone  zart  und  schwach  weisslich  gefärbt, 
beinahe  durchscheinend  und  nur  auf  einem  dunklen  Hintergrunde  als 
deutlich  abgegrenztes  Band  erkennbar  ist,  dann  ist  Eiweiss  in  geringer 
Menge  (höchstens  VioVo)  vorhanden.  Erscheint  diese  Zone  als  schneeweisses 
undurchsichtiges  Band,  welches  bei  genauerer  Betrachtung  aus  Molekülen 
in  Form  von  Körnchen  besteht,  dann  ist  i/^^/o  Albumin;  sind  grössere  Flocken 
entstanden,  V2''/o-  Rei  membranöser  Fällung  des  Eiweisses  sind  grosse 
Mengen  Albumins  vorhanden,  also  zwischen  1 — 57e. 

3.  Die  Probe  mit  Essigsäure  und  Ferrocyankalium.  Der  klare 
oder  durch  Kieseiguhr  oder  durch  Centrifugiren  geklärte  Harn  wird  mit  gleicher 
Menge  Essigsäure  gemengt  und  mit  1 — 2  Tropfen  einer  IQO/oigen  Ferro- 
cyankaliumlösung  versetzt.  Bei  Gegenwart  von  Albumin  entsteht  sofort 
eine  wolkige  Trübung,  die  sich  beim  Umschütteln  noch  vermehrt.  Immer 
ist  es  zu  empfehlen,  sich  wegen  etwaiger  Fehlerquellen  nicht  mit  einer 
einzigen  Probe  zu  begnügen;  bei  grösserem  Eiweissgehalte  soll  man  stets 
die  Kochprobe  und  die  Salpetersäureprobe  machen.  Bei  sehr  geringen 
Mengen  Albumin  ist  die  sehr  empfindliche  Ferro cyankaliumprobe  vorzuziehen. 

In  neuester  Zeit  wurde  von  Spiegler  eine  sehr  empfindliche  Probe 
angegeben,  die  die  Ferrocyankaliumprobe  bei  Weitem  übertrifft.  Der 
mit  Essigsäure  behufs  Ausfällung  des  Mucins  versetzte  Harn  wird  durch 
eine  Pipette  in  eine  mit  dem  Reagens  zur  Hälfte  gefüllte  Eprouvette  an 
der  Wand  Tropfen  für  Tropfen  ganz  langsam  zugelassen,  so  dass  beide 
Flüssigkeiten  übereinander  stehen.  Bei  Gegenwart  von  Eiweiss  bildet  sich 
an  den  Berührungsstellen  der  beiden  Schichten  sofort  ein  scharf  abge- 
grenzter Ring  von  weisser  Farbe.  Das  Reagens  hat  folgende  Zusammen- 
setzung: T»         TT   J  1  .  ,.1  r.  ^^ 

°  Rp.    Hydrarg.  Dichlor,  corros.      8'00 

Acid  tartar.  4  00 

Aq.  destill.  200-00 

Glycerin.  20.00 
D.  S.  Reagens. 

Bei  Harnen,  welche  Jod  enthalten,  ist  diese  Reaction  nicht  anwendbar. 

3* 


36  ALBUMINURIE. 

Wichtig  ist  die  Frage,  woher  das  im  Harne  vorhandene  Albumin 
stammt.  Man  hat  zu  unterscheiden  eine  tvahre,  renale^  nephrogene,  aus  der 
Mere  selbst  stammende  und  eine  falsche,  accidentelle  Albuminurie :  bei  letzterer 
wird  dem  normal  abgesonderten  Harn  auf  seinem  Wege  nach  aussen  Blut, 
Eiter,  Sperma  oder  andere  eiweisshaltige  Flüssigkeit  beigemengt.  Diese 
beiden  Formen  können  sich  in  einzelnen  Fällen  combiniren,  indem  gleich- 
zeitig Eiweiss  aus  dem  harnbereitenden  als  auch  aus  dem  harnableitenden 
Theile  des  Harnapparates  und  aus  der  Nachbarschaft  herstammt  —  gemischte 
Albuminurie. 

Die  wahre  Albuminurie  ist  an  functionelle  oder  organische  Störungen 
der  Nierenthätigkeit  gebunden.  Das  Eiweiss  bildet  einen  integrirenden 
Bestandtheil  des  Harnes,  während  es  bei  der  falschen  Albuminurie  gewisser- 
massen  eine  Verunreinigung  desselben  darstellt.  (Vogel.) 

Die  Differentialdiagnose  zwischen  wahrer  und  falscher  Al- 
buminurie besteht  in  dem  Nachweise  des  beigemengten  Blutes,  Eiters  und 
darin,  ob  Eiweiss  nur  in  einer  solchen  Menge  nachweisbar  ist,  wie  sie 
deren  Beimengung  entspricht,  also  theils  durch  die  mikroskopische  Unter- 
suchung des  Sedimentes,  theils  auf  chemischem  Wege.  Die  Differential- 
Diagnose  durch  die  Bestimmung  der  Eiweissmenge  im  nativen  Harne  und 
die  Vergleichung  mit  der  Menge  des  Eiweisses  im  filtrirten  Harne  ist 
nicht  stichhältig,  weil  jeder  blut-  oder  eiterhältige  Harn  neben  Globulin 
auch  Serumalbumin  enthält.  In  der  Regel  darf  das  Eiweiss  ausschliesslich 
auf  Beimischung  von  Eiter  etc.  bezogen  werden,  wenn  der  Eiweissgehalt 
nicht  mehr  als  Vio  des  Volums  der  Kochprobe  beträgt.  (Leube.) 

Bei  der  wahren  renalen  Albuminurie  findet  man  Exsudatcylinder  und 
anderweitige  Entzündungspro ducte,  Leukocyten,  Nierenepithelien.  Femer 
hat  man  bei  der  Sicherstellung  der  Diagnose  zu  berücksichtigen:  die 
24stündige  Menge  der  ausgeschiedenen  festen  Stoffe  imd  die  klinischen 
Symptome  von  Seiten  anderer  Organe  (Herz,  Gefässe,  Retina  u.  a.). 

Die  Anwesenheit  spärlicher  Leukocyten  in  einem  albuminhaltigen 
Harn  gestattet  nicht  den  Schluss  auf  accidentelle  Albuminurie. 

Auf  welche  Weise  entsteht  die  Albuminurie? 

Es  bestehen  drei  Theorien  über  diesen  Process,  und  zwar: 

1.  Die  physikalische  Theorie,  welche  durch  Veränderungen  in 
den  Circulationsverhältnissen  der  Niere  die  Albuminurie  erklärt  —  vasculäre 
Albuminurie. 

2.  Die  histologische  oder  biologische  Theorie.  Durch 
Veränderung  der  Nierenstructur  gelangt  das  Eiweiss  in  den  Harn  —  paren- 
chymatöse Albuminurie. 

3.  Die  ch  emi  seh  e  Theorie,  wobei  Veränderungen  der  Blutmischung 
eine  wesentliche  Rolle  spielen  —  hämatogene  Albuminurie. 

Die  physikalischen  Veränderungen  der  Circulation  in  der  Niere  beziehen 
sich  zunächst  auf  Veränderungen  des  Blutdruckes.  Früher  wurde  angenommen,  dass  bei 
hoch  gesteigertem  Blutdruck  selbst  das  grössere  Molekül  durch  die  Capillaren  hindurch- 
gehe. Diese  Ansicht  wurde  durch  RujsrEBEE&  widerlegt.  R.  fand  im  Gegensatz  zum  Vor- 
stehenden, dass  thjerische  Membranen  bei  niederem  Druck  leichter  für  Eiweiss  permeabel 
werden.  Nach  R.  tritt  Albuminurie  dann  auf,  wenn  es  zu  einem  Missverhältniss  der  Druck- 
verhältnisse innerhalb  der  Niere  kommt.  Für  die  Niere  gilt  das  Gleichgewichtsgesetz,  dass 
der  Secretionsdruck  in  der  Nierenarterie  gleich  sei  der  Summe  des  Venendruckes  und 
des  Gegendruckes  von  den  Harncanälcheu.  Der  Arteriendruck  kann  kleiner  werden  bei 
Herzfehlern,  Shock.  Der  Venendruck  kann  hoch  ansteigen  bei  Compression  der  Hohlvene 
oberhalb  der  Einmündung  der  Nierenvene,  und  schliesslich  kann  der  Gegendruckvonden 
Harne  anälchen  bei  Harnstauuug,  wie  solche  durch  Strictui'eu  hervorgerufen  werden,  in 
die  Höhe  gehen.  Die  Folge  einer  solchen  Gleichgewichtsstörung  wird  stets  das  Auftreten 
von  Albumin  im  Harne  sein.  Weitere  Versuche  haben  ergeben,  dass  weniger  der  geringe 
Druck,  als  die  Verlangsamuug  der  Blutströmuugsgeschwindigkeit  die  Ursache  des  Eiweiss- 
durchtrittes  ist.  Diese  physikalische  Theorie  hat  sehr  viel  für  sich,  indem  sie  eine  Reihe 


ALBUMINURIE.  37 

\on  Albuminurien  erklärt;  allein  das  Eiweiss  wird  nicht  wie  eine  Salzlösung  filtrirt  der 
"Vorgang  unterscheidet  sich  wesentlich  von  einem  einfachen  Filtrat  aus  dem  Blute'  Wir 
müssen  bei  der  Harnsecretion  noch  auf  die  vitale  Thätigkeit  der  Zelle  zurückkommen. 
Mit  dieser  befasst  sich  die 

2.  histologische  oder  biologische  Theorie.  Diese  schreibt  die  Albuminurie 
<ler  Zerstörung  der  die  Harncanälchen  bekleidenden  Epithelien  zu.  Von  einzelnen  Autoren 
wurde  wohl  behauptet,  dass  Eiweiss  ein  physiologisches  Transsudat,  der  Malpio-hischen 
Schlingen  sei,  welches  von  den  Epithelien  wieder  zurückresorbirt  wird.  Wird  nun  durch 
Erkrankung  des  Parenchyms  oder  durch  Veränderung  des  Epithels  das  Albumin  nicht 
resorbirt,  so  erscheint  es  im  Harne    Diese  Ansicht  wurde  von  Posnek  widerlegt. 

Eine  zweite  Ansicht  ist  die,  dass  bei  Zerstörung  des  Parenchyms  der  Harn- 
canälchen —  die  Grenzmembran  —  die  Transsudation  des  Eiweisses  ermöglicht.  Die  in- 
tacten  Epithelien  haben  die  Fähigkeit,  den  Durchtritt  des  Eiweisses  zu  verhindern.  Ver- 
änderungen derselben,  der  Verlust  des  Bürstenbesatzes  sind  hinreichend,  Albuminurie  auf- 
treten zu  lassen. 

3.  Die  chemische  Theorie  setzt  voraus,  dass  die  Eiweisskörper  des  Blutes  der- 
art chemisch  verändert  sind,  dass  dieselben  die  Eigenschaften  krystalloider  Körper  erlangt 
haben  und  so  durch  thierische  Membranen  leicht  hindurchtreten. 

Wir  finden  nach  dem  Voranstellenden  nephrogene  Albuminurie  bei 

I.  Hyperämischen  Zuständen  der  Niere,  wie  solche  nach 
l.  thermischen  oder  mechanischen  Einwirkungen  (kaltes  Bad^  Durchnässung; 
angestrengte  Muskelarbeit,  forcirter  Coitus)  beobachtet  wird.  2.  Bei  toxischen 
Einwirkungen:  a)  durch  Stoffe,  die  normaler  Weise  im  Stoffwechsel- 
haushalte gebildet  werden  und  nun  in  vermehrter  Menge  zur  Ausscheidung 
gelangen  (z.B.  Harnsäure;  Albuminurie  der  Neugeborenen);  b)  durch  solche 
Stoffe,  die  in  abnormer  Weise  im  Organismus  entstehen  {Zucker,  Toxine, 
Ptomaine) ;  c)  durch  Gifte,  die  vonaussen  in  den  Organismus  gelangen, z.B.: 
Cantliariden,  Terpentin,  Phosplwr,  Alkohol,  Blei,  und  ferner  nach  äusserhchen 
Applicationen  von  Theerpräparaten,  Petroleum,  Naphtol.  3,  Bei  febrilen 
Affectionen.  4.  Bei  vasomotorischen  Störungen,  Albuminurie:  bei 
Epilepsie,  Hirn-  und  Rückenmarksafectionen,  bei  Tetanus,  Lyssa,  Hemicranie, 
Angina  pectoris,  Morb.  Basedowi,  Magen-,  Barm-  und  Nierenkolik  etc.  5.  Bei 
S  t  a  u  u  n  g  s  h  y  p  e  r  ä  m  i  e  n  in  der  Niere  in  Folge  von  Herzinsufficienz.  {Herz- 
muskeldegeneration, Schwang  er  Schaft.  Bauchtumoren.) 

II.  Bei  H  a  r  n  s  t  a  u  u  n  g  e  n  in  Folge  von  Hindernissen  der  Harnentleerung : 
Stricturen,Prostatahypertrophien,  Paralysen  u.  Blasenmuskulaturerkrankungen ; 
ebenso  nach  rascher  Entleerung  der  stark  distendirten  Blase. 

III.  Bei  entzündlichen  und  des tru et iven  Processen. 

IV.  Bei  Neubildung  und  Degenerationen  der  Niere  und 

V.  Bei  Erkrankungen  des  Blutes  und  der  Constitution: 
Anämie,  Leukämie,  Gicht,  Icterus,  Skrophtdose,  Tubercidose,  Scorhut,  Malaria, 
Pyämie  etc.  Dazu  gehört  weiters  die  Albuminurie  nach  gewissen  acuten 
Vergiftungen.  {Kalii  chloricum,  Sidüimat,  Morcheln.) 

Jede  Eintheilung  und  so  auch  die  vorstehende,  so  wichtig  sie  auch  aus 
allgemein -didac tischen  Rücksichten  sein  mag,  trägt  gewisse 
Mängel  an  sich,  es  muss  immer  genau  erwogen  werden,  welche  Momente 
und  welcher  Mechanismus  in  jedem  spe  ci eilen  Falle  für  die  Entstehung 
der  Albuminurie  beschuldigt  werden  dürfe. 

Es  wurde  bereits  erwähnt,  dass  es  auch  eine  physiologische 
Albuminurie  gebe.  Nicht  jeder  Harn  ist  albuminhaltig,  aber  unter  gewissen 
Umständen  tritt  bei  ganz  Gesunden  vorübergehend  Albuminurie  auf.  Leube 
nimmt  zwei  Kategorien  von  Individuen  an,  bei  denen  diese  Erscheinung 
auftritt,  und  zwar  entweder  nur  nach  angestrengter  Körperarbeit  oder  auch 
ohne  eine  derartige  Veranlassung.  Leube  supponirt  eine  angeborene,  abnorme 
Beschaffenheit  der  Glomeruluswand,  eine  grössere  Porosität  der  Filtrations- 
membran und  nimmt  an,  dass  bei  der  ersten  Categorie  die  Fähigkeit  besteht, 


38  ALBUMINURIE. 

für  gewöhnlich  den  Uebertritt  des  Albumins  in  den  Harn  zu  verliir.deru. 
nur  bei  grösseren  Anforderungen  zeigt  sich  diese  Schwäche  der  Xieren. 

Die  Menge  des  im  Harn  enthaltenen  Albumins  ist  in  solchen  Fällen 
eine  minimale.  Man  findet  dieselbe  beinahe  regelmässig  bei  Neugeborenen 
(Harusäureinfarkt),  bei  Jünglingen  im  Pubertätsalter,  bei  nervösen  und  anä- 
mischen Personen. 

Eine  besondere  Beachtung  verdient  noch  eine  Art  von  Albuminurie, 
■  die  sogenannte  sympathische  Albuminurie,  wie  solche  häufig  im 
Verlaufe  von  Erkrankungen  des  Urogenital- Apparates  auftritt;  also  eine  solche, 
die  sich  nunächst  als  gemischte  Albuminurie  präsentirt.  Im  Verlaufe  einer 
einfachen  Blenorrhoe,  sobald  dieselbe  einen  höheren  Grad  erreicht  oder 
sobald  sich  dieselbe  über  den  Compressor  urethrae  in  die  hintere  Harn- 
röhre und  Blase  ausbreitet,,  findet  man  eine  renale  Albuminurie.  Diese 
Fälle  werden  auch  zumeist  falsch  gedeutet,  es  wird  hier  die  Diagnose 
Pye litis  se/ir  häufig  mit  Unrecht  gestellt.  Durch  ausgiebigen  Gebrauch  von 
Narcoticis  verschwindet  nebst  Harndrang  auch  die  Albuminurie.  Ganz  das 
Gleiche  findet  man  bei  Fremdkörpern,  Steinen  der  Blase,  die  das  Trigonum 
reizen ;  mit  der  Entfernung  der  Ursache  schwindet  auch  die  Albuminurie. 

Ultzmann  erklärte  diese  Form  der  Albuminurie  entsprechend  der 
physikalischen  Theorie  in  der  Art,  dass  durch  den  bei  diesen  Erkrankungen 
constant  vorkommenden  Tenesmus  der  Abfluss  des  Harnes  aus  den  Harn- 
leitern gehemmt  wird  und  es  durch  oben  angedeutete  Gleichgewichtsstörung 
in  der  Niere  zur  Albuminurie  kommt. 

Wir  glauben  wohl  folgende  Erwägung  zur  Erklärung  dieser  Erscheinung 
anführen  zu  sollen.  Der  ganze  Harnapparat  bildet  „ein  Ganzes".  —  Bei 
heftigerem  Ergriffensein  eines  Theiles  desselben  wird  auch  der  andere 
Theil  in  Mitleidenschaft  gezogen.  So  sehen  wir  bei  einseitigem  Ureter- 
Yerschluss  durch  Stein  eine  Anurie  auftreten.  Man  erklärt  dieselbe  durch 
den  sogenannten  reno-renalen  Pteflex  —  auf  vasomotorischem  Wege.  Ebenso 
gibt  es  einen  vesico-  und  urethrorenalen  Pteflex  und  umgekehrt.  Tuffier 
hat  mittelst  Mosso's  volometrischer  Methode  an  der  Niere  den  Einfluss  der 
Reizung  der  Urethra  und  Blase  direct  nachgewiesen.  Auf  reflectorischem 
Wege  lässt  sich  also  diese  sympathische  Albuminurie  am  leichtesten  erklären. 

Welche  Bedeutung  und  welche  Prognose  hat  die  Albuminurie?  Mit 
Ausnahme  derjenigen  Formen  der  physiologischen  Albuminurie  (zu  welcher 
Diagnose  man  erst  nach  wiederholter,  genauer  klinischer  Beobachtung  ge- 
langen kann)  muss  das  Auftreten  von  Albumen  stets  als  eine  pathologische 
Erscheinung  aufgefasst  werden,  aber  auch  die  physiologischen  Formen 
dürfen  nicht  ohne  weiters  als  Erkrankungen  der  Niere,  wohl  aber  als 
Anomalien  des  Stoffwechsels  angenommen  werden.  Eine  Nephritis  kann  man 
eben  nur  dann  diagnosticiren,  wenn  Entzündungsproducte  aus  der  Niere  im 
Sediment  nachweisbar    sind. 

Die  Bedeutung  der  Albuminurie  hängt  theils  vom  Eiweissverluste, 
theils  von  den  veranlassenden  Ursachen  ab.  .Die  Eiweissverluste  werden  in 
der  Eegel  überschätzt  —  von  Kranken  werden  durchschnittlich  2  bis  3  g 
pro  die,  selten  mehr  als  5  g  ausgeschieden  (Leube),  also  Mengen,  die 
durch  relativ  geringe  Mengen  Nahrungsmilch  leicht  ersetzt  werden 
können.  Die  Gefahr,  die  die  Albuminuriker  bedroht,  hängt  also  nicht  so 
von  den  Eiweissverlusten  als  von  der  Insufiicienz  der  Niere  ah.  —  Die 
Art,  in  der  das  Symptom  „Albuminurie"  bei  einzelnen  Krankheiten  auftritt, 
wird  bei  der  Schilderung  des  klinischen  Bildes  und  Verlaufes  dieser 
letzteren  beschrieben  werden,  ebenso  muss  bezüglich  der  Peptonurie,  Fibri- 
nurie,  Hämoglobinurie,  Nucleoalbuminurie  auf  die  betreffenden  Capitel  in 
dem  Abschnitt  „Harnanalyse"  verwiesen  werden.  j.  ii.  brik. 


aMMENWAHL.  39 

Ammenwahl.  Die  besteAmmeistdie  eigene  Mutter!  Leider 
wird  aber  oft  genug  eine  fremde,  erkaufte  Ernährerin  an  Stelle  der  Mutter 
treten  müssen.  Ist  die  Mutter  im  Wochenbett  gestorben  oder  schwer  er- 
krankt, die  Milchquelle  bald  versiegt,  das  Neugeborene  elend  und  lebens- 
schwach, dann  wird  in  den  besser  situirten  Familien  gleich  von  vornherein 
der  Vorschlag  des  Arztes,  eine  Amme  zu  nehmen,  keinen  Schwierigkeiten 
begegnen.  Meist  wird  in  solchen  Fällen  die  Möglichkeit,  durch  künst- 
liche Nahrung  die  Muttermilch  zu  ersetzen,  gar  nicht  erst  in  Er- 
wägung gezogen.  Aber  auch  späterhin  erheischt  das  Nichtgedeihen  des 
Säuglings,  die  stete  Gewichtsabnahme  desselben  in  Folge  langwieriger  Ver- 
dauungsstörungen, die  Darreichung  von  Frauenmilch  oft  dringend  genug. 
Freilich  sind  es  nur  Wenige,  welche  sich  den  Luxus  einer  Amme  zu  leisten 
im  Stande  sind,  und  diese  Wenigen  fragen  in  ihrem  Egoismus  selten  dar- 
nach, was  wird  aus  dem  Kinde  der  Amme,  was  wird  aus  solchen  Kindern, 
denen  die  Brustnahrung  aus  pecuniären  Gründen  versagt  bleiben  muss!  An 
der  Sachlage  selbst  lässt  sich  Nichts  ändern!  Ammen  werden  existiren,  so 
lange  es  wohlhabende  und  arme  Leute  gibt  und  so  lange  noch  Kinder  un- 
ehelich geboren  werden.  Die  Wahl  der  Amme  legt  dem  Arzte  eine 
schwere  Verantwortung  auf.  Um  so  schwerer,  als  meist  das  Angebot 
weit  hinter  der  Nachfrage  zurücksteht  und  erfahrungsgemäss  sehr  oft  eine 
Amme  erst  in  „letzter  Stunde"  beschafft  werden  soll. 

Völlig  ungeeignet,  Ammendienste  zu  verrichten,  sind 
solche  Personen,  welche  1.  nicht  vollkommen  gesund  sind,  2.  solche  mit 
mangelhaft  entwickelten  Milchdrüsen  oder  Brustwarzen,  endlich  3.  diejenigen. 
bei  welchen  die  vorhandene  Milch  ihrer  Qualität  und  Quantität  nach  den 
zu  stellenden  Anforderungen  nicht  genügt. 

Dass  eine  Amme  vollständig  gesund  sein  soll,  dürfte  Jedem 
als  selbstverständlich  erscheinen.  Es  handelt  sich  hier  aber  vornehmlich 
um  zwei  Krankheitszustände,  welche  bei  oberflächlicher  Untersuchung 
leicht  übersehen  werden  können,  um  Syphilis  und  um  Tuberculose! 
Für  das  der  Amme  anvertraute  Kind  würde  das  Nichterkennen  dieser 
Krankheiten  die  traurigsten  Folgen  nach  sich  ziehen.  —  Leider  stehen 
solche  Familientragödien,  wo  eine  syphilitische  Amme  den  Säugling 
und  dieser  seine  Eltern  und  Geschwister  etc.  inficirte,  durchaus  nicht  ver- 
einzelt da.  Nur  die  eingehendste  Untersuchung  der  Amme  auf  Syphilis 
wird  den  Arzt  von  dem  Vorwurf  der  groben  Fahrlässigkeit  bewahren  können. 
Diese  Untersuchung  hat  sich  auf  die  ganze  Haut,  die  sichtbaren  Schleim- 
häute und  die  der  Palpation  zugänglichen  Lymphdrüsen  zu  erstrecken. 
Einer  besonderen  sorgfältigen  Prüfung  ist  die  behaarte  Kopfhaut,  die  Mund- 
und  Rachenhöhle,  die  Umgebung  des  Anus  und  der  Genitalien  zu  unter- 
ziehen. Eine  Untersuchung  mittelst  Speculum  sollte  in  keinem  Falle  unter- 
bleiben, da  erfahrungsgemäss  syphilitische  Geschwüre  an  der  portio  vaginalis 
oft  die  einzigen  nachweisbaren  Zeichen  einer  im  Entstehen  begriffenen 
oder  noch  vorhandenen  Syphilis  sein  können.  Floride  Syphilisstadien  dürften 
kaum  in  Betracht  kommen.  Sie  liegen  klar  zu  Tage.  Meistens  handelt  es 
sich  um  latente  oder  durch  specifische  Curen  unterdrückte  Syphilis- 
formen! Es  wird  daher  jede  irgendwie  verdächtige  fleckige  Pigmentirung, 
jede  Knötchen-  und  Bläschenbildung  in  der  Haut  wohl  zu  beachten  sein ;  auch  den 
unscheinbarsten  Substanzverlusten  und  Geschwürsbildungen  auf  den  Schleim- 
häuten, den  kleinsten  Einrissen,  Schrunden  und  Excoriationen  an  den  Eingangs- 
pforten wird  man  in  solchen  Fällen  die  grösste  Wichtigkeit  beilegen  müssen. 

Weniger  Beachtung  verdienen  die  anamnestisch en  A n g a b e n  der 
Amme.  Hat  sie  Syphilis  gehabt,  so  liegt  es  natürlich  in  ihrem  Literesse, 
dies  abzuleugnen    und   zu  verheimlichen.    Gibt   sie  wiederholte  Aborte  vor 


40  AMMENWAHL. 

der  Geburt  ihres  Kindes  zu,  so  deutet  dieses  Factum  mit  ziemlicher  Sicher- 
heit auf  eine  frühere  Syphilis  hin. 

Zwar  verliert  die  Syphilis  in  gewissen  Stadien  ihre  Ansteckungsfähig- 
keit und  wohl  häufiger,  als  man  es  ahnt,  werden  früher  syphilitisch  gewesene 
Ammen  fremde  Kinder  genährt  haben,  ohne  dass  die  letzteren  an  Syphilis 
erkrankten;  trotz  alledem  wird  aber  kein  Arzt  eine  Garantie  übernehmen 
können  und  dürfen,  ob  in  diesem  oder  jenem  Falle  eine  Gefahr  für  das 
Kind  ausgeschlossen  sei  oder  nicht.  —  Jede  irgendwie  der  Syphilis 
verdächtige  Frauensperson  ist  völlig  ungeeignet,  Ammendienste,  zu 
übernehmen. 

Was  für  die  Syphilis  gilt,  gilt  auch  für  die  Tuberculose!  Auch 
hier  handelt  es  sich  nicht  um  die  offenkundig  vorliegenden  Fälle  von  Lungen- 
schwindsucht, sondern  um  solche  Formen,  die  sich  unter  dem  Bilde  einer 
allgemeinen  Anaemie  oder  Chlorose  zu  verstecken  pflegen.  Werden 
sich  auch  häufig  die  anämischen  Zustände  auf  grössere  Blutverluste  bei 
oder  nach  der  Geburt,  auf  schlechte  Nahrungs-  und  Wohnungsverhältnisse, 
mangelhafte  Pflege  u.  s.  w.  zurückführen  lassen  können,  so  bleiben  doch 
auch  diese  Fälle  immer  verdächtiger  Natur,  besonders  dann,  wenn  die 
Anamnese  ergibt,  dass  Lungenerkrankungen  in  der  Familie  vorgekommen, 
Geschwister  der  Amme  frühzeitig  an  „Hirnkrämpfen"  gestorben  sind  u.  dgi. 
Bei  geschickter  Fragestellung  wird  man  glaubwürdige  Aufklärungen  über 
eine  etwaige  Familiendisposition  zur  Tuberculose  eher  erwarten  können, 
als  die  Zugeständnisse  einer  überstandenen  Syphilis.  Diese  Mittheilungeii 
sind  aber  deshalb  nicht  zu  unterschätzen,  als  die  physikalische  Unter- 
suchung selten  bereits  positive  Resultate  ergeben  dürfte.  Dass  durch  die 
Milch  tube  reu  löser  Ammen  die  Tuberculose  auf  den  Säugling  über- 
tragen werden  kann,  steht  wohl  ebenso  sicher  fest,  wie  die  Uebertragung 
der  Tuberculose  durch  die  Milch  von  Kühen,  welche  an  Perlsucht  erkrankt 
waren.  Es  bedarf  da  ebensowenig  tuberculöser  Geschwüre  an  den  Zitzen 
der  Thiere,  als  an  den  Brustwarzen  der  Ammen.  Eine  Infection  des  Säug- 
lings vom  Darme  aus  ist  in  erster  Linie  zu  fürchten;  damit  soll  indessen 
nicht  gesagt  sein,  dass  die  Möglichkeit  einer  Inhalationstuberculose  gänzlich 
a^usgeschlossen  wäre. 

Krankheiten  oder  Krankheitsanlagen  ni  cht  infectiösen  Ursprungs  werden 
durch  die  Ammenmilch,  deren  ausreichende  Menge  und  sonstige  gute  Be- 
schaffenheit vorausgesetzt,  auf  den  Säugling  nicht  übertragen.  Beispielsweise 
entbehrt  die  Annahme,  dass  das  Kind  an  Epilepsie  erkranken  müsste,  weil 
es  von  einer  mit  Epilepsie  behafteten  Amme  genährt  wurde,  jedes  thatsäch- 
lichen  Beweises.  Nehmen  wir  Anstand,  eine  Amme  aus  einer  psychiscli 
oder  nur  nervös  belasteten  Familie  zu  empfehlen,  so  fürchten  wir  mit 
Recht  die  Unsicherheit  und  Unberechenbarkeit  solcher  Personen  in  ihrem 
Thun  und  Handeln,  die  eine  Schädigung  des  Säuglings  ja  leider  nicht  aus- 
schliesst. 

Gut  e  n  t  w  i  c  k  e  1 1  e  B  r  u  s  t  w  a  r  z  e  n  und  gut  e  n  t  av  i  c  k  e  1 1  e  M  i  1  c  h- 
drüsen  sind  die  zweite-Forderung,  welche  wir  an  eine  brauchbare  Amme 
stellen  müssen.  Es  kommt  hier  weniger  die  Schönheit  der  Form  der 
Brüste,  als  die  Zweckdienlichkeit  des  äusseren  Baues  in  Betracht.  Die 
ideale  Rundung  des  Busens,  welche  wir  au  den  antiken  Venusstatuen  be- 
wundern, dürfte  bei  der  Wahl  einer  Amme  nicht  massgebend  sein. 

Die  Brustwarze  muss  im  erectilen  Zustande  mindestens  einen 
Centimeter  über  den  Warzenhof  hervorragen.  Je  grösser  die  Brustwarze 
ist,  um  so  mehr  wird  dem  Kinde  das  Sauggeschäft  erleichtert.  Tief  ein- 
gezogene verkümmerte  Brustwarzen  deuten  auf  vorausgegangene  entzünd- 
liche Processe   in   den  Brustdrüsen  hin  (Mastitis).   Diese  pflegen  mit  theil- 


AMMENWAHL. 


41 


weisen  Verödungen  der  Milchgänge  einherzugehen.  Es  laufen  deren  etwa 
12 — 20  nach  der  Spitze  der  Brustwarze  zu  und  eröffnen  sich  mit  mehreren 
Oeffnungen,  vielfach  allerdings  2  oder  3  Milchgäuge  gemeinsam  zwischen 
den  Kunzein  der  Haut  nach  aussen.  Bei  verkümmerten  Brustwarzen  wird 
man  daher  häufig  das  Hervortreten  der  Milch  in  mehreren  Einzeltröpfchen 
bei  gelindem  Druck  auf  die  Brustdrüse  vermissen.  Schwächlichen  Kindern 
ist  es  ganz  unmöglich,  eine  tiefliegende  stark  retrahirte  Brustwarze  zu  fassen 
und  daran  zu  saugen.  Nach  einigen  vergeblichen  Versuchen  lässt  das  Kind 
unter  Schreien  die  Brust  fahren  und  verweigert  diese  schliesslich  ganz. 
Die  Brustwarzen  müssen  frei  sein  von  Einrissen,  Schrunden,  Ex- 
coriationen.  Wunde  Brustwarzen  sind  schmerzhaft  und  erschwerender 
Amme  das  Anlegen  des  Kindes.  Ausserdem  bilden  sie  die  Eingangspforte 
für  Entzündung  und  Eiter  erregende  Coccen.  Die  Gefahr  einer  phlegmonösen 
Mastitis  liegt  nahe.  Diese  selbst  würde  ein  weiteres  Fortstillen  ausschliessen. 
Auch  der  Uebertragung  von  Syphilis  wird  durch  wunde  Brustwarzen  ent- 
schieden Vorschub  geleistet,  umso  mehr,  als  syphilitische  Geschwüre  und 
Rhagaden  an  den  Brustwarzen  durchaus  keine  Seltenheit  sind.  Beim  Saugen 
entleeren  sich  ferner  aus  den  Einrissen  und  Excoriationen  (Eczem  der 
Brustwarzen!)  ausser  der  Milch  auch  Blut-  und  Eitertröpfchen.  Da 
diese  mit  in  den  Magen  des  Säuglings  gelangen,  so  pflegen  Verdauungs- 
störungen nicht  auszubleiben. 

Die  Milchdrüse  selbst  zeigt  eine  ungleiche  höckerige  Oberfläche. 
Ihre  Grösse  lässt  sich  durch  die  Palpation  wenigstens  annähernd  abschätzen. 
Die  Palpation  darf  nicht  schmerzhaft  sein ;  ebenso  wenig  dürfen  feste  binde- 
gewebige Narbenstränge  oder  abnorm  harte  Stellen  durchzufühlen  sein. 
Die  Grösse  und  Fülle  der  Brust  in  toto  ist  keineswegs  ausschlaggebend 
für  die  Grösse  und  Fülle  der  Milchdrüsen.  Eine  etwas  hängende  schlaffere 
Brust  liefert  oft  in  reichlicherer  Menge  Milch,  als  eine  solche  mit  üppiger 
Fettentwicklung  und  zu  praller  Spannung  der  Haut. 

Wurde  die  Amme  gesund  befunden,  zeigten  sich  Brustwarzen  und 
Milchdrüsen  gut  entwickelt,  so  bleibt  die  M'e n g e  und  die  Be schaff en- 
heit  der  vorhandenen  Milch  doch  schliesslich  das  Wichtigste.  Ein 
ürtheil  über  die  Menge  der  Milch  nach  einer  einmaligen  Untersuchung 
abzugeben,  ist  gewiss  nicht  leicht.  Unliebsame  Täuschungen  werden  uns 
nicht  erspart  bleiben.  Lassen  sich  nur  mühsam  noch  einige  Tropfen  Milch 
aus  den  Milchdrüsen  herauspressen,  nachdem  das  Kind  sich  satt  getrunken 
hatte,  so  ist  ein  baldiges  Versiegen  der  Milchquelle  zu  fürchten.  Spritzt 
die  Milch  hingegen  auf  Druck  noch  in  weitem  Strahle  hervor,  so  deutet 
dies  auf  ein  reichliches  Vorhandensein  von  Milch  in  der  Drüse  hin.  Nur 
ausnahmsweise  wird  der  vielbeschäftigte  Arzt  Zeit  und  Gelegenheit  finden, 
das  Kind  der  Amme  vor  und  nach  dem  Trinken  zu  wiegen,  um  exact  die 
Milchmenge  zu  bestimmen,  welche  der  Säugling  in  sich  aufgenommen  hat. 

Ueber  die  Qualität  der  Milch  verschafft  uns  das  Mikroskop 
ein  annähernd  richtiges  Urtheil.  Man  untersuche  aber  nicht  den  ersten 
aus  der  Brustwarze  herausgedrückten  Milchtropfen.  Dieser  ist  weniger 
fettreich  und  zeichnet  sich  schon  makroskopisch  durch  seine  wässerige, 
dünnflüssige  Beschaffenheit  und  seine  mehr  wässerige,  bläuliche  Färbung 
aus.  Die  später  folgenden  sind  rein  weiss  oder  bläulich  weiss.  Diese  Färbung 
wird  durch  die  Milchkügel chen  bedingt.  In  normaler  guter  Milch 
bilden  die  Milchkügelchen  die  einzigen  morphologischen  Ele- 
mente. Sie  sind  über  das  Gesichtsfeld  gleichmässig  vertheilt,  liegen  dicht 
aneinander,  aber  jedes  bleibt  für  sich  isolirt.  Ihre  Grösse  ist  annähernd 
eine  gleiche.  Ihr  Durchmesser  schwankt  nur  zwischen  2 — 7  mm.  Findet  man 
in  der  Milch  noch  Colostrumkörperchen,    ungewöhnlich  grosse  (10 — 12  mm) 


42  AMOEBENENTERITIS. 

Milclikügelchen,  oder  zahlreiche  staubförmige  Körnchen,  Pflasterzellen  oder 
gar  Leucocyten  und  rothe  Blutkörperchen,  so  nehme  man  Abstand,  die 
betreffende  Person  als  Amme  zu  empfehlen.  Die  Milch  einer  chemischen 
Analyse  zu  unterziehen,  werden  wenig  Aerzte  im  Stande  sein.  Allenfalls 
kann  die  Reaction  (alkalisch)  das  specifische  Gewicht  (im  Mittel  1030)  und 
der  Fettgehalt  (o — 4  7o)  der  Milch  mittelst  geeigneter  Eeagentien  (Lacmus- 
papier)  und  Instrumente  (Lactodensimeter  —  Conrad,  respective  Lactobutyro- 
meter  —  Marchand-Soxhlet)  bestimmt  werden. 

Von  schwerwiegender  Bedeutung  ist  auch  der  Gesundheits-  und 
Ernährungszustand  des  Ammenkindes.  Ist  das  Kind  blühend,  dick 
und  rund,  so  vergewissere  man  sich  jedoch,  dass  kein  fremder  Säugling 
untergeschoben  wurde.  Ein  schlecht  genährtes,  elendes  Kind  würde  eine 
schlechte  Empfehlung  für  die  Amme  sein. 

Sind  die  unerlässliche  n  Bedingungen,  volle  Gesundheit,  gut 
entwickelte  Milchdrüsen  und  Brustwarzen,  reichliche  und  gute  Milch  erfüllt, 
so  mag  man,  falls  mehrere  Ammen  auf  die  engere  Wahl  gekommen  sind, 
auch  seine  Anforderungen  noch  höher  stellen.  Man  wähle  keine  Amme, 
welche  jünger  als  20  oder  älter  als  30  Jahre  ist,  man  gebe  einem  Land- 
mädcheu  vor  einer  Fabrikarbeiterin  den  Vorzug,  man  lege  Werth  darauf, 
dass  die  Amme  ihr  Kind  bereits  6 — 8  Wochen  selbst  genährt  hat,  aber 
man  sei  stets  eingedenk,  dass  man  den  vorliegenden  Verhältnissen  Rechnung 
tragen   muss,   man   schaffe   sich  kein  Ideal,   was  eben  nicht  zu  finden  ist. 

Wohl  muss  es  aber  unsere  weitere  Sorge  sein,  die  Amme  auch  für 
die  kommende  Zeit  leistungsfähig  zu  erhalten.  Es  möge  hier 
daran  erinnert  werden,  dass  die  Milchmenge  häufig  geringer  wird,  wenn  die 
Amme  plötzlich  mit  ungewöhnlicher  Kost  überfüttert  wird  und  ihr 
die  n ö t h i g e  B e w e g u n g  und  Beschäftigung  fehlt.  Andererseits  sollen 
nicht  unnöthige  Forderungen  an  die  Amme  gestellt  werden.  Man  darf  nicht 
verlangen,  dass  diese  Tag  und  Nacht  dem  Kinde  zu  jeder  beliebigen  Stunde 
die  Brust  reichen  soll.  Es  ist  absolut  nöthig,  sowohl  für  die  Neuansammlung 
der  Milch  in  der  Brust,  wie  für  das  Gedeihen  des  Kindes,  dass  ein  r  e  g  e  1- 
mässiger  Turnus  beim  Anlegen  des  Kindes  eingehalten  wird.  Selbst 
ein  krankes  schwächliches  Kind  muss  an  2Y2 — 3  stündliche  Mahlzeiten  mit 
einer  6 — 8  stündigen  Pause  während  der  Nachtzeit  gewöhnt  werden.  Die 
Feststellung  der  Gewichtszunahme  des  Säuglings  durch  die  Wage  wird  am 
besten  das  volle  Genügen  der  Brustnahrung  und  die  gute  Entwicklung  des 
Kindes  controliren.  '  pott. 

AmoebenenteritiS  (Ämoehendysenterie).  Parasitische  Arno  eben 
des  Menschen  wurden  das  erste  Mal  von  Lösch  (1875)  im  Stuhle 
eines  dysenteriekranken  russischen  Bauern  gefunden  und  mit  dem  Namen 
Amoeba  coli  belegt.  Seither  ist  diese  Amoebe  als  Bewohnerin  des  mensch- 
lichen Darmes  von  zahlreichen  Autoren  in  verschiedenen  Theilen  Europas, 
Nord-  und  Südamerikas,  Nordafrikas  und  den  südlichen  Theilen  Asiens  be- 
obachtet worden.  Meist  fand  man  sie  in  den  Entleerungen  von  an  Dysen- 
terie oder  dysenterieähnlichen  Darmaffectionen  Leidenden.  Amoeben  wurden 
aber  auch  bei  einfachen  chronischen  oder  secundären  enteritischen  Processen, 
ferner  bei  Typhus,  Cholera,  Pelagra  u.  s.  w.,  ja  auch  bei  ganz  Gesunden 
im  Stuhle  angetroffen.  Ob  dabei  alle  Autoren  dasselbe  Protozoon  vor  sich 
gehabt  haben,  lässt  sich  vorderhand  weder  sicher  behaupten  noch  in 
Abrede  stellen.  Wir  kennen  vorläufig  noch  keine  Merkmale,  welche  uns 
erlauben  würden,  verschiedene  Formen  von  Amoeben,  die  im  menschlichen 
Darmkanale  vorkämen,  zu  unterscheiden.  Die  von  Verfasser  dieses  Ar- 
tikels bei  zwei  Fällen  typischer  „Ämoehendysenterie"  und  Fällen  einfacher 


AMOEBENENTERITIS.  43 

(.'hronischer  Enteritis  gesehenen  Amoeben  glichen  sich  in  jeder  Beziehung 
vollkommen.  Amoeben,  welche  der  A.  coli  zum  mindesten  sehr  ähnlich 
waren,  wurden  endlich  in  vereinzelten  Fällen  im  Vaginalsecrete  und  in  Harn- 
sedimenten gefunden. 

Die  Änioeba  coli  Lösch  stellt  ein  im  Allgemeinen  rundliches  zelliges 
Gebilde  von  im  ruhenden  Zustande  im  Mittel  20—35  mm'^)  Durchmesser 
dar,  an  welchem  man  eine  völlig  hyaline  Rinden-  und  eine  körnige  Mark- 
substanz (Ekto-  und  Endosark)  unterscheiden  kann.  Die  letztere  enthält 
den  an  der  lebenden  Amoebe  nicht  immer  deutlich  sichtbaren  runden  bläs- 
chenförmigen Kern.  Fast  immer  sieht  man  ferner  einzelne  nicht  contractile 
Vacuolen,  welche  besonders  zahlreich  in  absterbenden  Exemplaren  auftreten 
und  in  Folge  ihres  starken  Glanzes  mitunter  Fetttropfen  sehr  ähnlich  sehen. 
Ausser  diesen  dem  Amoebenkörper  eigenthümlichen  Formbestandtheilen  ent- 
hält derselbe  sehr  häufig  von  aussen  aufgenommene  Elemente,  insbesonders 
rothe  Blutkörperchen,  Leukocyten,  Bacterien.  Seltener  enthalten  die  Amoe- 
ben Blutpigment  in  Gestalt  schwarzbrauner  Schollen  oder  Stäbchen. 

Sehr  charakteristisch  ist  die  Art  der  Bewegung,  Avelche  man  an 
unseren  Protozoen  wahrnehmen  kann,  soferne  man  Präparate  aus  einem 
kurz  vorher  abgesetzten  Stuhle  untersucht.  Dieselbe  besteht  darin,  dass 
aus  dem  hyalinen  Ektosark  an  einer  oder  mehreren  Stellen  zugleich  glas- 
helle, stumpfe,  lappige  Pseudopodien  allmälig  vorgestreckt  und  wieder  ein- 
gezogen werden.  Dabei  bleibt  die  Amoebe  entweder  immer  an  derselben 
Stelle  liegen  oder  sie  führt  langsame  Ortsveränderungen  in  der  Weise  aus, 
dass  an  einer  bestimmten  Stelle  ein  Pseudopodium  immer  weiter  vorge- 
schoben wird,  in  welches  die  granulirte  Marksubstanz  allmälig  uachfliesst, 
während  an  der  entgegengesetzten  Seite  der  Körper  eingezogen  wird.  Die 
Amoeben  verlieren  diese  Eigenbewegung  sobald  der  Stuhl  mehrere  Stunden, 
insbesonders  bei  kühlerer  Temperatur  gestanden  ist,  nehmen  eine  gleich- 
massig  rundliche  Gestalt  an  und  sind  dann  nur  schwer  an  ihrem  stärkeren 
Lichtbrechungsvermögen  von  anderen  zelligen  Elementen  des  Stuhles,  ins- 
besonders gequollenen  Darmepithelien  zu  unterscheiden. 

Die  Conservirung  der  Amoeben  in  Anstrichpräparaten  gelingt  nicht  gut;  sehr 
schön  lassen  sie  sich  jedoch  in  Schnittpräparaten  von  Gewehen,  in  welche  sie  einge- 
drungen sind,  darstellen.  Als  Härtungsflüssigkeiten  dienten  uns  neben  Alkohol  am  besten 
Sublimat- Picrinsäure-  und  Picrinsäure  -  Essigsäuregemische,  zur  Färbung  Alaun-  und 
Picrocarmin.  Doch  lassen  sich  auch  andere  Fixirungsflüssigkeiten  und  Farbstoffe  mit 
Erfolg  anwenden.  An  solchen  Schnittpräparaten  tritt  insbesonders  der  Kern  der  Amoeben 
schön  hervor. 

Cultur versuche  wurden  mit  der  Amoeha  coli  schon  sehr  häufig 
angestellt.  Kartulis,  dem  solche  Versuche  geglückt  sind,  gibt  als  beste 
Nährflüssigkeit  Strohdecoct  und  Strohdecoctbouillon  an.  Dem  genannten  For- 
scher gelang  es  auch  Reinculturen  in  mehrmaligen  Umzüchtungen  zu  erhalten. 

Aus  zahlreichen  T hierversuchen,  welche  theils  mit  amoeben- 
hältigen  Faecalmassen,  theils  mit  Amoebenculturen  (Kartulis)  angestellt 
worden  sind,  geht  hervor,  dass  die  Amoeben  im  Stande  sind,  bei  gewissen 
Versuchsthieren,  besonders  Katzen,  eine  mehr  oder  weniger  intensive 
Enteritis  des  Dickdarmes  zu  erzeugen,  wenn  die  Uebertragung  direct  in  den 
Dick-  oder  Dünndarm  erfolgt  ist,  während  Infectionsversuche  per  os  bisher 
missglückt  sind.  Nach  unsern  eigenen  Erfahrungen  ist  ferner  zum  Zustande- 
kommen einer  Infection  immer  die  Uebertragung  grösserer  Mengen  von 
Amoeben  nothw^endig.  Dass  die  Amoeben  für  sich  allein  im  Darme 
schwerere  Veränderungen  (Necrose,  ulcerative  Processe)  erregen  können, 
scheint  uns  durch  das  Thierexperiment  bisher  noch  nicht  erwiesen  zu  sein. 


M  Manche  Autoren  geben  etwas  kleinere  Maasse  an. 


44  AMOEBENENTEßlTlS. 

Die  Amoeben  werden  vernmthlich  mit  sclileclitem  Trinkwasser  auf- 
genommen, passiren,  vielleicht  in  einer  Dauerform,  den  Magen  und  Dünn- 
darm ohne  Veränderungen  zu  erregen  und  siedeln  sich,  falls  sie  die  für  ihre 
Weiterentwicklung   nothwendigen  Bedingungen  antreffen,  im  Dickdarme  an. 

Das  der  Wirkung  der  Amoeha  coli  zugeschriebene  Krankheitsbild 
ist  ein  sehr  wechselndes.  Councilman  und  Lafleue  in  Boston,  welchen 
wir  eine  ausführliche  Monographie  über  die  „Amoebendysenterie"  verdanken, 
unterscheiden  acute  Fälle  von  massiger  Intensität,  schwere  mit  gangränösen 
Darmveränderungen  einhergehende  und  endlich  Fälle  mit  chronischem  Verlauf. 

Zu  Beginn  der  Erkrankung,  wir  folgen  hier  theilweise  der  Darstellung 
von  CotnsfCiLMAJSf  und  Lapleue,  besteht  manchmal  Nau s  e  a  oder  Erbr  e  che n. 
Kolikartiger  Bauchschmerz  tritt  bei  den  acuten  und  den  gangraenösen  Formen 
sowie  den  Exacerbationen  der  chronischen  auf.  Tenesmus  kommt  nur  bei  den 
schweren,  vor  Allem  den  gangränösen  vor.  Fieber  ist  nicht  häufig,  unregel- 
mässig und  meist  durch  Complicationen  bedingt.  In  allen  länger  dauernden 
Fällen  kommt  es  zur  Entkräftung  und  Anaemie.  Diarrhoische  Stühle  hildeu 
das  wichtigste  Symptom  der  Krankheit.  Bei  den  gangraenösen  Formen 
kommen  30 — 40  Stühle  des  Tages  vor,  bei  den  einfachen  acuten  4 — 10, 
Sie  sind  je  nach  Form  und  Grad  der  Erkrankung  bald,  wie  bei  der  gan- 
graenösen Form,  mehr  wässerig  und  nur  wenig  fäcal,  mit  necrotischen  Gewebs- 
fetzen  gemengt,  von  höchst  intensivem  Geruch  und  graugrünlicher  oder 
röthlichbrauner  Farbe,  bald,  besonders  bei  den  chronischen  Fällen,  mehr 
breiig  bis  geformt.  Zwichen  diesen  Formen  der  Entleerungen  gibt  es  mannig- 
fache Uebergänge.  Immer  enthalten  sie  mehr  oder  weniger  meist  blutig 
tingirten  Schleim,  welcher  den  geformten  Stühlen  als  Ueberzug  anhaftet. 
Die  Reaction  der  Stühle  ist  meist  alkalisch. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  derselben  ergibt  neben 
den  gewöhnlichen  faecalen  Formelementen  rothe  und  weisse  Blutkörperchen, 
sehr  zahlreiche  gequollene  Darmepithelzellen,  die  von  den  Amoeben  oft 
schwer  zu  unterscheiden  sind  und  Charcot'sche  Krystalle ;  bei  den  gan- 
graenösen Formen  necrotische  Gewebstrümmer  und  zahlreiche  Bacterien, 
manchmal  in  grosser  Anzahl  Cercomonaden.  Die  Amoeben  findet  man 
bei  allen  Formen  der  Krankheit,  spärlich  in  den  rein  faecalen  Antheilen 
der  Stühle,  reichlich  in  dem  beigemengten  Schleime.  Ihre  Menge  ist  sehr 
wechselnd,  zeitweilig  können  sie  ganz  fehlen.  Im  Allgemeinen  sind  sie  in 
den  alkalischen  Stühlen  reichlicher  und  von  lebhafterer  Bewegung  als  in 
jenen  von  saurer  Reaction.  Ferner  bemerkt  man  eine  gewisse  Uebereinstim- 
mung  in  der  Menge  der  im  Stuhle  vorhandenen  Amoeben  und  der  jeweiligen 
Intensität  der  übrigen  Krankheitserscheinungen,  s-owie  auch  deren  endgiltiges 
Schwinden  mit  der  Heiluug  der  Krankheit  zusammenfällt. 

Von  Complicationen  wäre  vor  Allem  der  Leberahscess  zu  nennen, 
ferner  der  Lungenahscess,  welch'  letzterer  dann  zustande  kommt,  wenn  ein 
an  der  Convexität  der  Leber  sitzender  Leberahscess  durch  das  Zwerchfell 
in  den  Unterlappen  der  rechten  Lunge  durchbricht.  Neben  den  gewöhn- 
lichen Symptomen  des  Eungenabscesses  führt  dieses  Ereigniss  zur  Expecto- 
ration  eines  eitrigen  oder  blutigeitrigen,  amoebenhältigen  Sputums. 

Der  Verlauf  der  Erkrankung  zeichnet  sich  durch  häufige  Remissionen 
und  Exacerbationen  aus.  Die  acut  beginnenden,  meist  schweren  Fälle,  haben 
eine  Dauer  von  wenigen  Wochen,  die  massig  schweren  währen  länger  und 
bilden  den  Uebergang  zu  den  chronischen,  die  viele  Monate,  ja,  wie  u.  A. 
ein  Fall  unserer  eigenen  Beobachtung  beweist,  Jahre  anhalten  können. 

Der  Ausgang  der  Erkrankung  erfolgt  entweder,  wie  insbesonders  in 
den  leichten  Fällen,  in  Genesung  oder  ist,  wie  bei  den  gangTaenösen,  ein 
rasch  tödtlicher.  Dazwischen  liegen  langwierige  Fälle,  die  unter  allmäliger 


AMOEBENENTERITIS.  45 

Besserung  der  Symptome  endlich  auch  zur  Heilung  führen  oder  durch 
Complicationen  oder  zunehmende  Entkräftigung  tödtlich  endigen. 

Die  ausgesprochene  Neigung  der  Erkrankung  zu  chronischem  Verlaufe 
wird  von  den  meisten  Autoren  hervorgehoben  u  nd  eine  chronische 
(meistulceröse)  Enteritis  desDickdarmes,  welche  sehr  wenig 
Neigungzur  Heilung  zeigt,  stellt  den  eigentlichen  Typus  der 
Krankheit  vor.  Es  wäre  deslialb  zweckmässiger  (Lutz),  von  einer 
Amoebenenteritis  als  einer  Amoebe  ndy senterie  zu  sprechen. 

Die  Ergebnisse  ausführlicher  anatomischer  und  histologischer  Unter- 
suchungen der  auf  die  Amoeba  coli  bezogene  Veränderungen  in  den  be- 
fallenen Organen  sind  in  der  oben  citirten  Abhandlung  von  Councilman  und 
Lapleur  enthalten. 

Die  anatomischen  Veränderungen  des  Darmes  sind  gewöhnlich  auf 
den  Dickdarm  beschränkt  und  bestehen  nach  Councilman  und  Lafleur  vor 
Allem  in  einer  Verdickung  der  Wand  desselben,  welche  besonders  die  Sub- 
raucosa  betrifft.  Sie  sind  des  weiteren  charakterisirt  durch  fortschreitende  In- 
filtration und  Erweichung  der  Submucosa  mit  folgender  Necrose  des 
darüberliegenden  Schleimhautgewebes. 

So  kommt  es  zu  derBildung  von  Geschwüren,  von  welchen  man  vier  Formen  unterscheiden 
kann :  erstens  solche,  welche  durch  eitrige  Infiltration,  Erweichung  und  Höhlenbildung  in 
der  Schleimhaut  charakterisirt  sind ;  zweitens  solche  mit  nur  leicht  unterminirten  Rändern,  die 
nur  einfache  Vertiefungen  in  der  verdickten  Submucosa  darstellen ;  drittens  Geschwüre 
mit  glatten  Rändern  und  glatter  Basis;  viertens  Geschwüre  mit  ausgebreiteter  Necrose  in 
der  Umgebung.  Die  histologische  Untersuchung  der  Darmschleimhaut  an  den  Stellen 
der  Geschwüre  ergibt  folgenden  Befund:  an  den  Geschwürsrändern  sind  noch  Reste  von 
Drüsenschlijuchen  vorhanden.  Hier  und  am  Geschwürsboden  wird  oft  Epithelwucherung 
mit  Neubildung  von  Drüsen  angetroffen.  Im  Inhalte  der  Geschwürshöhlen  und  in  der  Wand 
derselben,  welche  von  homogen  gewordenem,  aufgelockertem  Gewebe  gebildet  wird,  finden 
sich  Amoeben,  die  Submucosa  ist  ringsum  infiltrirt.  Ist  es  zur  Eiterung  gekommen,  so  finden 
sich  regelmässig  Bacillen  und  Micrococcen  und  die  Amoeben  werden  spärlicher.  Es  gibt 
aber  Geschwüre  ohne  Bacterien  und  ohne  Eiterung,  und  in  diesen  sind  sehr  zahlreiche 
Amoeben  vorhanden.  In  einem  Falle  durchdrangen  dieAmoeben  auch  dieMuscularis  und  wurden 
in  grosser  Menge  im  Mesocolon  gefunden.  An  Stellen,  wo  der  Process  rasch  fortschreitet, 
sind  besonders  zahlreiche  Amoeben.  Die  Follikel  sind  stets  nur  secundär  betheiligt. 

Die  Leberabscesse  sind  etAveder  einzeln  oder  zahlreich,  ihr 
Lieblingssitz  ist  der  rechte  Lappen.  Der  Inhalt  derselben  ist  in  den  kleineren 
eine  halb  transparente  Masse,  in  den  älteren  eine  graubräunliche,  mit  ne- 
crotischen  Gewebstrümmern  untermengte  Flüssigkeit,  eigentlich  eitrig  ist 
dieselbe  nach  Councilman  und  Lafleur  nie,  während  von  anderen  Autoren 
der  Inhalt  als  rahmiger  Eiter  bezeichnet  wird.  In  der  flüssigen  Masse  finden 
sich  feste,  aus  necrotischem  Bindegewebe  bestehende  Beste.  Eine  fibröse 
Wand  besitzen  nur  ältere  Abscesse,  sonst  wird  dieselbe  durch  necrotisches 
Gewebe  gebildet.  Amoeben  findet  man  besonders  reichlich  in  den  jüngeren 
Abscessen,  sowohl  im  Inhalt  als  in  der  Wand  und  dem  umgebenden  necro- 
tischen  Gewebe.  In  den  alten  Abscessen  treten  die  Amoeben  zurück  und 
hier  findet  man  vorwiegend  Bacterien.  Ausser  diesen  Abscessen  finden  sich 
in  der  Leber  Stellen  von  reiner  Necrose,  welche  frei  von  Amoeben  sind  und 
aus  welchen  dann  erst  durch  nachträgliche  Einwanderung  der  Amoeben  die 
Abscesse  hervorgehen  sollen. 

Lungen  abscesse  schliessen  sich  mitunter  an  Abscesse  der  Leber- 
kuppe an.  Die  Wand  derselben  ist  bald  glatt,  bald  zerfressen,  in  der  Um- 
gebung besteht  interstitielle  Pneumonie.  Der  Inhalt  wird  aus  körnigem 
Detritus,  rothen  Blutkörperchen  und  nur  wenig  Eiterzellen  gebildet.  Die 
Amoeben  liegen  im  Inhalt,  in  der  Wand  und  im  umgebenden  Lungengewebe. 

In  wie  weit  die  in  dem  oben  entworfeneu  Krankheitsbilde  angeführten 
Erscheinungen  und  die  geschilderten  anatomischen  Veränderungen  auf  die 
Wirkung    der  Amoeben  allein  oder  auf  combinirte  Wirkung   derselben  mit 


46  AMONIAEMIE. 

anderen  Krankheitserregern,  insbesonders  Bacterien,  zu  beziehen  sind,  kann 
derzeit  nicht  entschieden  werden.  Für  die  ganz  acut  unter  dem 
Bilde  der  epidemischen  oder  sporadischen  Dysenterie  verlaufenden  Fälle 
scheint  uns  die  Annahme  einer  Mischinfection  oder  einer  secundären  An- 
siedelung der  Amoeben  bei  einer  primären,  durch  bacterielle  Infection  her- 
vorgerufenen Dysenterie  sehr  berechtigt.  Dass  vorherbestehende,  besonders 
ulcerative  Erkrankungen  der  Dickdarmschleimhaut  den  Amoeben  einen  sehr 
günstigen  Boden  zur  Ansiedelung  abgeben  und  dass  so  aus  einer  ander- 
weitigen Darmerkrankung  sich  das  Bild  der  Amoebenenteritis  entwickeln 
kann,  muss  ohne  Weiteres  zugegeben  werden.  Die  Amoeben  können  dann, 
wie  auch  Thierversuche  lehren,  leicht  in  die  Schleimhaut  eindringen  und  einen 
etwa  vorhandenen  ulcerativen  Process  unterhalten  und  steigern.  Danach  wird 
es  auch  verständlich,  dass  man  Amoeben  auch  bei  nicht  dysenterischen 
Darmpro cessen  gefunden  hat.  Daraus,  dass  die  Symptome,  welche  von  ganz 
leichten  Erkrankungen  an  Amoebenenteritis  hervorgerufen  werden,  sehr 
gering  sein  und  leicht  übersehen  werden  können  und  dass  geringe  Mengen 
von  Amoeben  im  Darme  verweilen  können,  ohne  überhaupt  merkliche, 
krankhafte  Erscheinungen  hervorzurufen,  erklären  sich  auch  die  Angaben, 
nach  welchen  Amoeben  bei  ganz  Gesunden  angetroffen  worden  sind. 

Therapeutischen  Massnahmen  setzt  die  Amoebenenteritis,  wie 
übereinstimmend  berichtet  wird,  grossen  Widerstand  entgegen.  Neben  ander- 
weitiger symptomatischer  Behandlung  kamen  am  häufigsten  Chinin-  und  Subli- 
maürrigationen  des  Dickdarmes  zur  Verwendung  neben  innerlichem  Gebrauche 
von  Chiuin ;  wenn  secundäre  Anämie  bestand,  wohl  auch  von  Eisenpräparaten. 
Der  Erfolg  war  nur  selten  eine  radicale  Beseitigung  der  Parasiten  und 
damit  der  Krankheit,  häufiger  erzielte  man  nicht  mehr  als  vorübergehende 
Verminderung  der  Amoeben  bei  ebensolang  anhaltender  Besserung  der  Sym- 
ptome. Als  Ursache  der  geringen  Wirksamkeit,  welche  alle  bisher  unter- 
nommenen Heilversuche  trotz  der  grossen  Empfindlichkeit  der  Amoeben 
gegen  die  verwendeten  antiseptischen  Flüssigkeiten  zeigen,  wird  allgemein 
angenommen,  dass  man  wohl  im  Stande  sei,  die  im  Darmlumen  vorhandenen, 
nicht  aber  die  in  den  Geschwüren  der  Schleimhaut  sesshaften  Amoeben  zu 
tödten.  KovAcs. 

Ämoniaemie  {Uroplania,  Urodialysis).  Unter  dieser  Bezeichnung 
verstand  man  einen  Symptomencomplex,  welchen  man  sich  durch  Vergiftung 
mit  kohlensaurem  Amon  verursacht  dachte.  Auf  Basis  der  Uraemie-Theorie 
von  Feerichs  entstanden,  welcher  bekanntlich  dieses  Krankheitsbild  als 
Vergiftung  des  Organismus  mit  aus  dem  retinirten  Harnstoff  gebildeten 
Amoniumcarbonat  auffasste,  wurde  die  Ämoniaemie  im  engeren  Sinne  von 
Treitz  und  Jaksch  sen.  von  der  Uraemie  getrennt.  Die  genannten 
Autoren  stellten  sich  vor,  dass  während  bei  der  Uraemie  eine  Vergiftung 
mit  Amoniumcarbonat  durch  Umwandlung  des  Harnstoffes  im  Blute  selbst 
erfolge,  bei  der  Ämoniaemie  die  Secretion  eines  normalen  Harns  zwar  keine 
Störung  erfahre,  der  gebildete  Urin  jedoch  im  Körper  in  Folge  des  Bestehens 
einer  Cystitis  oder  aus  anderen  Gründen  zersetzt  werde.  In  Folge  dieses 
Umstandes  gelange  nun  das  aus  dem  Harnstoff  gebildete  Amoniumcarbonat 
von  den  Harnwegen  aus  zur  Resorption  und  entfalte  nun  im  Körper  seine 
toxische  Wirkung.  Vor  Allem  musste  es  auffallen,  dass,  obwohl  Uraemie  und 
Ämoniaemie  also  in  der  Vergiftung  mit  demselben  chemischen  Körper  begründet 
sein  sollten,  die  Vergiftungsbilder  beider  trotzdem  so  von  einander  abwichen. 
Von  dem  Augenblicke  an,  als  man  die  Uraemie-Theorie  von  Frerichs  fallen 
gelassen  hatte  und  einsah,  dass  weder  das  Amoniumcarbonat  die  ihm  zu- 
geschriebene hochgradige  Giftigkeit  besitzt,  noch  auch  dasselbe  im  lebenden 


ANAEMIE.  47 

Körper  in  nennenswerthen  Mengen  gebildet  wird,  war  auch  dem  mehr 
theoretisch  construirten  Begriff  der  Amoniaemie  der  Boden  entzogen  worden, 
so  dass  heute  die  Annahme  einer  Autoiutoxication  mit  li;ohlensaurem  Amon, 
sei  es  in  der  Fassung  der  Uraemie  oder  Amoniaemie,  nur  mehr  historisches 
Interesse  beanspruchen  kann. 

Eine  neue  und  dem  ursprünglichen  Begriff  der  Amoniaemie  völlig 
fremde  Deutung  hat  dieses  Wort  erfahren,  als  man  unter  dem  Eindrucke 
der  Beobachtungen  neuerer,  besonders  französischer  Autoren  (Bouchard, 
PouCHET  u.  A.),  es  versucht  hat,  eine  vermuthete  Ptomainvergiftung  mit 
demselben  zu  bezeichnen.  Nachdem  es  nachgewiesen  war,  dass  sowohl  im 
normalen,  menschlichen,  wie  thierischen  Harne,  wie  auch  dem  Kranker  Gift- 
stoffe enthalten  siud,  lag  die  Vermuthung  nahe,  dass,  auch  im  Harn,  welcher 
im  Körper  stagnirt  und  die  amoniakalische  Gährung  eingeht,  derartige  toxische 
Substanzen  gebildet  werden  und  zur  Eesorption  _  gelangen  können.  Am 
bestimmtesten  hat  v.  Jaksch  jun.  diese  Vermuthung  ausgesprochen  und 
zugleich  mitgetheilt,  dass  er  sich  von  der  Richtigkeit  derselben  überzeugt 
hat;  doch  sind  diesbezügliche  Untersuchungen  bis  jetzt  noch  nicht  zur 
Publikation  gelangt.  Nachdem  man  also  auch  für  derartige  Annahmen  bisher 
keine  objectiven  Anhaltspunkte  hat  und  sie  ausserdem  mit  der  Amoniaemie 
in  der  ursprünglichen  Fassung  nichts  zu  thun  haben,  so  kann  bis  heute 
mit  dem  Worte  Amoniaemie  keinerlei  nosologischer  Begriff  verknüpft 
werden. 

Die  Symptomatologie,  welche  Jaksch  sen.  für  die  Amoniaemie,  haupt- 
sächlich im  Gegensatze  zur  Uraemie,  entwarf,  betont  neben  einer,  in  ihrer 
Natur  wechselvollen,  primären  Erkrankung  der  Harnwege,  besonders  vier 
Symptome  als  für  Amoniaemie  charakteristisch.  Es  sind  dies  erstens  die 
amoniakalische  Gährung  des  Harnes,  zweitens  Magenbeschwerden  und  an- 
haltende Diarrhoen,  drittens  ein  Gefühl  der  Trockenheit  im  Rachen  und  viertens 
zeitweise  mit  Schüttelfrösten  einsetzende  Fieberanfälle.  Ganz  abgesehen  davon, 
dass,  wie  verständlich,  die  Beschreibung  dieser  Symptome  von  dem  genannten 
Autor  nicht  in  der  Weise  gegeben  werden  konnte,  wie  man  sie  heute  z.  B. 
zur  Charakterisirung  einer  Magendarmaffe ction  fordert,  so  wird  der  Leser 
dieser  alten  Krankengeschichten  unwillkürlich  häufig  zu  anderen  Anschauungen 
betreffs  der  Genese  der  einzelnen  erwähnten  Symptome  gedrängt,  als  sie  der 
Autor  äussert.  Insbesondere  gilt  dies  für  die  Schüttelfröste,  deren  Ursache 
wir  viel  ungezwungener  in  einer  gleichzeitig  bestehenden  infectiösen  Cystitis 
oder  Cystopyelitis  als  in  der  vermutheten  Amoniaemie  erblicken  müssen.  Ausser- 
dem ist  aber  selbstredend  das  Krankheitsbild  durch  das  Bestehen  einer 
primären  Erkrankung  der  Harnwege  derart  beherrscht  und  je  nach  der 
Qualität  desselben  im  speciellen  Falle  modificirt,  dass  sich  ein  einheitliches, 
vielleicht  für  eine  bestimmte  Art  von  Vergiftung  charakteristisches  Sym- 
ptomenbild unseren  heutigen  Anschauungen  nach  nicht  ableiten  lässt.  Wir 
haben  also  auch  in  der  Symptomatologie  der  Amoniaemie  keine  Ursache, 
diesen  der  Geschichte  der  Medicin  angehörigen  Begriff  wieder  zu  wecken. 

Die  Therapie  der  Amoniaemie  bezog  sich  selbstredend  in  erster  Linie 
auf  die  Behandlung  der  bestehenden  Grundkrankheit  der  Harnwege. 

V.  LIMBECK. 

Anaemie,  OUgocythaemie,  ist  jene  pathologische  Veränderung  des 
Blutes,  bei  welcher  dasselbe  in  der  Raumeinheit  weniger  rothe  Blut- 
körperchen und  weniger  Blutfarbstoff  enthält,  als  normal. 

I.  Allgemeiner  ThelL 

Das  Blut,  der  wichtigste  Träger  des  Stoffweclisels  des  Körpers  führt  den  Geweben 
sowohl  ihre  Nährstoffe  zu,  wie  es  auch  die  Schlacken  ihres  Stoffwechsels  entfernt.  Seine 
Farbe  schwankt  in  verschiedenen  Nuancen  zwischen  blauroth  und  gelbroth.  Dieselbe  ist 


48  ANAEMIE. 

durch  einen  eisenhaltigen  Eiweisskörper,  das  Haemoglobin,  bedingt,  welches  eine  grosse 
Affinität  zu  Sauerstoff  besitzt.  Es  kreist  im  Körper  grösstentheils  als  Oxyhaemoglobin  und  ist 
auch  im  venösen  Blute  noch  zum  Theil  als  solches  vorhanden.  In  100  ^  Blutes  beträgt 
seine  Menge  unter  normalen  Verhältnissen  etwa  li  g  (=  100  Proc  der  FLEiscHii'schen 
oder  GowER'schen  Farbenscala).  Die  Reaction  des  Blutes  ist  im  lebenden  Körper 
stets  alkalisch,  doch  kann  der  Grad  der  Alkalescenz  desselben  durch  vermehrten  Ueber- 
tritt  sauerer  Producte  des  Gewebs-Stoff Wechsels  leiden.  Seine  Dichte  schwankt  bei  ge- 
sunden Erwachsenen  zwischen  1045  und  1075,  und  ist,  abgesehen  von  verschiedenen 
physiologischen  und  pathologischen  Einflüssen  (Geschlecht,  Alter,  Flüssigkeitsaufnahme), 
in  erster  Linie  von  seinem  Haemoglobingehalte  abhängig.  Etwa  50  Gewichts-Procent  des 
Blutes  werden  durch  zellige  Bestandtheile,  die  rotheu  und  weissen  Blutkörperchen  gebildet. 
Die  andere  Hälfte  besteht  aus  zellenloser  Flüssigkeit,  welche  die  Fähigkeit  besitzt,  unter 
bestimmten  Bedingungen  ihren  Aggregatzustand  zu  verändern  (Gerinnung).  Die  rothen 
Blutkörperchen,  im  Kubikmillimeter  unverdünnten  Blutes  in  der  Durchschnittszahl  von 
5  Millionen  beim  gesunden  Manne,  von  4'5  Millionen  bei  der  gesunden  Frau  enthalten, 
sind  vermittels  des  sie  infiltrirenden  Haemogiobins  die  Träger  des  Sauerstoffes, 
dessen  der  Körper  zu  den  in  ihm  ablaufenden  Oxydationsprocessen  benöthigt.  (Bei  Neu- 
geborenen ist  die  Zahl  der  rothen  Blutkörperchen  meist  grösser  s.  u.)  Sie  stellen  unter 
normalen  Verhältnissen  kernlose,  kreisrunde  Scheibchen  von  etwa  7 — 8  mm  Durchmesser 
vor  und  zeigen  in  ihrer  Mitte  eine  deutliche  Delle.  Ihre  Structur  erscheint  ohne  weitere 
Präparation  meist  völlig  homogen.  Als  Absterbeerscheinung  derselben  iässt  sich  ein 
geldroUenartiges  Aneinanderlegen,  sowie  Umgestaltung  in  stechapfelähnliche  Gebilde  und 
.schliesslich  das  Auftreten  amoeboider  Bewegungen  deuten,  doch  sind  die  Bedingungen  für 
das  Auftreten  derartiger  Phänomene  noch  nicht  klar.  Die  weissen  Blutkörperchen  sind 
viel  labiler  als  die  rothen  und  gehen  zweifellos  bei  der  Gerinnung  zum  guten  Theile  zu 
Grund.  Ihre  Grösse  und  Structur  schwankt  innerhalb  weiter  Grenzen.  Meist  sind  sie  etwa 
doppelt  so  gross  als  die  rothen  und  zeigen  mehrere  unregelmässig  geformte  Kerne.  Doch 
sind  auch  einkernige,  kleine  und  grosse  weisse  Blutzellen  ein  normaler  Bestandtheil  des 
Blutes.  Ihre  Zahl  ist  beim  Erwachsenen  (noch  mehr  beim  Neugeborenen)  sehr  schwan- 
kend, indem  nicht  nur  pathologische,  sondern  auch  viele  physiologische  Einflüsse  (Nah- 
rungsaufnahme, Schwangerschaft)  ihre  Zahl  in  der  Raumeinheit  leicht  mehr  als  verdoppeln 
können.  Als  mittlerer  Werth  kann  8 — 9000  per  Kubikmillimeter  für  den  gesunden  Erwach- 
senen (das  Geschlecht  bringt  als  solches  keinen  Unterschied  hervor)  gelten.  Sie  scheinen 
die  wichtigsten  Träger  der  Ernährung  des  Körpers  zu  sein,  und  spielen  bei  der 
Resorption  und  Assimilation  besonders  der  Eiweisskörper  eine  grosse  Rolle.  Auch  bei 
der  Bildung  und  "Wegschaffung  der  Reste  des  Stoffwechsels  der  Gewebe  (Harnsäure), 
scheinen  sie  stark  betheiligt  zu  sein.  Bei  anaemischen  Zuständen  ist  ihre  Bedeutung  eine 
untergeordnete.  Der  dritte  Formbestandtheil  des  Blutes  sind  die  in  ihrer  Bedeutung  un- 
klaren Blutplättchen. 

Der  flüssige  Theil  des  Blutes,  das  Plasma,  besteht  aus  dem  sich  bei  der  Gerin- 
nung abscheidenden  Fibrin  und  dem  Blutserum.  Das  letztere  ist  eine  Lösung  verschie- 
dener Eiweisskörper  (Serum-albumin  und  Serum-globulin),  organischer  und  anorganischer 
Salze.  Unter  den  letzteren  spielt  das  Kochsalz  mit  seinem  annähernd  constanten  Gehalte 
von  0"5 — 0'6  Proc.  die  Hauptrolle.  Der  procentische  Gehalt  des  Blutserums  an  Ei  weiss 
schwankt  besonders  bei  Kranken  innerhalb  viel  weiterer  Grenzen  als  der  an  Salzen  und 
scheint  von  der  vorhandenen  Blutkörperchenzahl  ziemlich  unabhängig  zu  sein.  Einen  be- 
stehenden Eiweissverlust  des  Serums,  wie  es  bei  einigen  Krankheiten  die  Regel  ist  (z.  B. 
Nephritis),  bezeichnet  man  als  Hydraemie.  Das  Blutserum  ist  der  Träger  der 
meisten  in  gelöstem  Zustande  in  den  Körper  eintretenden  Nahrungsmittel.  Es  ist 
der  Vermittler  des  Stoffwechsels  der  Gewebe,  wozu  es  durch  die  innigen  Be- 
ziehungen, welche  es  zu  den  Gewebssäften  besitzt,  besonders  geeignet  wird.  Die  Anwesen- 
heit oder  der  relative  Ueberschuss  diffusionsfähiger  Substanz  im  Blute  oder  in  den 
Geweben  theilt  sich  mehr  minder  rasch  auch  dem  nicht  direct  betroffenen  Theile  mit, 
so  dass  die  physikalischen  und  chemischen  Eigenschaften  des  Serums  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  als  Ausdruck  der  gleichen  sich  in  den  Geweben  abspielenden  Processe 
angesehen  werden  können. 

Die  allgemeine  Aetiologie  der  Anaemie  wurzelt  stets  in  einem 
gesteigerten  Verbrauch  oder  einer  verminderten  Neubildung 
rother  Blutkörperchen.  Sämmtliche  der  später  anzuführenden,  klinischen 
Formen  der  Anaemie  müssen  von  einem  dieser  Gesichtspunkte  aus  ihre 
Erklärung  finden.  Ein  gesteigerter  Verbrauch  Iässt  sich  meist  leichter  nach- 
weisen als  eine  verminderte  Neubildung  dieser  Elemente,  doch  ist  zu  be- 
merken, dass  bei  Verminderung  der  oxydativen  Vorgänge  im  Körper  durch 
gesteigertes  Zugrundegehen  von  rothen  Blutkörperchen  auch  die  physiolo- 
gische Neubildung  derselben  me  aller  Gewebselemente  leiden  muss. 


ANAEMIE.  49 

;  Betreffs  der  Entstehung   der  Anaemie  ist  man  im  Allgemeinen 

darüber  einig,  dass  die  räumliche  Abwesenheit  eines  Theiles  der  im.  Gefiiss- 
rohr  befindlichen  rothen  Blutkörperchen,  wie  sich  dies  am  besten  bei  der 
traumatischen  Anaemie  nachweisen  lässt,  durch  zellenlose  Flüssigkeit  gedeckt 
wird.  Nach  einem  ausgiebigen  Aderlasse  sinkt  fürs  erste  der  Blutdruck,  um 
sich  bald,  anfangs  durch  Arbeit  der  Vasomotoren,  später  durch  Nachströmen 
von  Gewebslymphe,  welche  eine  Verdünnung  des  noch  vorhandenen  Blutes 
bewirkt,  auf  die  alte  Höhe  wieder  einzustellen.  Diese  so  nachströmende 
Flüssigkeit  scheint  zuerst  grösstentheils  anorganische  Salze,  besonders  das 
leicht  ditfusible  Kochsalz  in  Lösung  zu  enthalten,  so  dass  das  Blutserum 
kurz  (wenige  Minuten)  nach  einem  Aderlass  die  procentisch  alte  oder  so- 
gar gesteigerte  Kochsalzmenge  enthält,  sein  Eiweissgehalt  jedoch  ver- 
mindert ist.  Nach  wenigen  Tagen  ist  jedoch  der  Salz-  und  Eiweiss- 
gehalt des  Serums  wieder  der  ursprüngliche,  während  die  Zahl  der 
rothen  Blutkörperchen  noch  relativ  vermindert  ist.  Hieraus  geht  hervor, 
dass  Anaemie  und  Hydraemie  zwei  von  einander  völlig  getrennte  pathologische 
Begrife  sind.  Nicht  so  rasch  als  die  Bestandtheile  des  Serums  werden 
die  Zellen  des  Blutes  nach  einem  Blutverluste  wieder  reconstruirt.  Zwar 
erfahren  die  weissen  Blutkörperchen  stets  nach  solchen  Vorkommnissen 
eine,  manchmal  recht  bedeutende  Vermehrung  (posthaemorrhagische  Leuko- 
cytose),  doch  ist  diese  nur  von  kurzer  Dauer.  Sie  dürfte  darin  begründet 
sein,  dass  die  nachströmende  Lymphe  weisse  Blutkörperchen  aus  den 
Geweben  in  die  Blutbahn  mitreisst.  Meist  sind  bei  chronischen  Anae- 
mien,  sofern  sie  uncomplicirt  sind,  auch  diese  Zellen  im  Blute  vermindert. 
Die  rothen  Blutzellen  reconstruiren  sich  erfahrungsgemäss  je  nach  den 
obwaltenden  Ernährnngsbedingungen  mehr  weniger  rasch,  doch  hält  ihr 
Haemogiobingehalt  mit  ihrer  Zahl  nicht  gleichen  Schritt.  Es 
kann  vorkommen,  dass  die  Zahl  der  rothen  Blutkörperchen  wieder  ganz 
oder  annähernd  zur  Norm  zurückgekehrt  ist  (nach  Wochen,  Monaten)  und 
dass  der  Haemogiobingehalt  des  Blutes  noch  immer  vermindert  erscheint,  wo- 
durch der  Färbewerth  des  einzelnen  rothen  Blutkörperchens  leidet.  Die 
Berücksichtigung  dieser  physiologischen  Thatsache  lässt  eine  normale  oder 
annähernd  normale  Zahl  von  Blutkörperchen  mit  vermindertem  Haemogiobin- 
gehalt als  eine  Regenerationserscheinung  des  Blutes  deuten. 

Das  Bestehen  einer  anaemischen  Beschaffenheit  des  Blutes  übt  sowohl  auf 
das  Blut  selbst,  wie  auch  auf  den  Gesammtorganismus  eine  Rückwirkung 
aus.  Die  Dichte  des  Blutes  nimmt  meist  gleichsinnig  mit  seinem  Haemoglobin- 
gehalte  ab.  Die  Alkalescenz  desselben  leidet  auch  durch  wiederholte  Ader- 
lässe nicht,  doch  wurde  sie  bei  chronisch  anaemischen  Kranken  herabgesetzt 
gefunden,  eineErscheinumg,  die  also  nicht  in  der  Anaemie  als  solcher,  sondern 
in  anderen  Momenten  begründet  ist.  An  den  rothen  Blutkörperchen  zeigt  sich 
der  Einfluss  der  eingetretenen  Blutverdünnung,  sofern  es  sich  um  beträchtlichere 
Grade  handelt  (vielleicht  ist  daran  auch  die  darniederliegende  Neubildung 
dieser  Zellen  mit  Schuld),  durch  das  Auftreten  von  De  gen  er  ati  ons- Er- 
scheinungen an  diesen.  Sie  können  endoglobulärer  Natur  sein  oder  das 
gesammte  Blutkörperchen  betreffen.  Die  Ersteren  sind  im  frischen,  „nicht 
misshandelten"  Blute  relativ  häufig  zu  finden  und  bestehen  in  dem  Auf- 
treten vacuolenähnlicher  heller  Flecke  oder  Striche,  welche  oft  unter  dem 
Auge  des  Beobachters  ihre  Gestalt  verändern,  jedoch  keine  echten  Vacuolen 
sind  (weil  sie  sich  mit  neutralen  Anilinfarben  tingiren  lassen),  aber  immer- 
hin locale  Haemaglobindefecte  des  Körperchens  documentiren.  Die  Letzteren 
bestehen  in  Gestaltsveränderungen  des  gesammten  Blutkörperchens,  wobei 
dasselbe  Birn-,  Hammer-  oder  sonst  irgend  eine  Form  annimmt.  ]\Ian  be- 
zeichnet diese  als  Poikihcgten  oder  Sdiistocgten.  Sie  sind  im  frisch  entnom- 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Mcdicin  und  Kinderkrankheiten.  ^ 


50  AXAEMIE. 

menen  Blute  Kranker  seltener  zu  linden  und  müssen,  sofern  sie  gefunden 
werden,  als  ein  sehr  übles  Omen  gelten.  Auch  sie  sind  Degenerationsproducte 
normaler  Korperchen  und  entstehen  durch  amöboide  Bewegungen  derselben. 
Nicht  minder  wichtig  sind  die  als  Malcro-  und  Mikroci/ten  bezeichneten  Gebilde. 
Die  E  r  s  t  e  r  e  n,  abnorm  grosse  Zellen,  dürften  wegen  Mangel  der  normalen  Delle 
als  Quellungsproducte  rother  Blutkörperchen  gedeutet  werden  können.  Die 
Letzteren,  abnorm  kleine  rundliche,  normal  gefärbte  Gebilde,  welche  jedoch 
auch  meist  einer  Delle  entbehren,  scheinen  Fragmentirungsproducte  degene- 
rirter  rother  Blutkörperchen  zu  sein.  Beide  Formen  finden  sich  nur  im  schwer 
kranken  Blute  vor.  Koch  einer  letzten,  beim  Erwachsenen  abnormen  Er- 
scheinung im  histologischen  Bilde  des  auaemischen  Blutes  ist  zu  erwähnen. 
Es  sind  dies  die  kernhaltigen  Blutkörperchen.  Dieselben  finden 
sich  unter  physiologischen  Verhältnissen  im  Knochenmarke,  verlieren  jedoch 
ihren  Kern,  ehe  sie  in  die  Blutbahn  eintreten.  Bei  schwersten  Formen  von 
Bluterkrankung  finden  sie  sich,  wenn  auch  immer  selten,  auch  im  circu- 
lirenden  Blute.  Sie  unterscheiden  sich  meist  bis  auf  die  Anwesenheit 
des  Kernes  nicht  von  normalen  rothen  Blutkörperchen  (und  auch  dieser 
mrd  meist  erst  bei  der  Färbung  des  Präparates  sichtbar).  Mitunter  finden 
sich  jedoch  auch  kernhaltige  Poikilocyten,  sogenannte  PoiMohlas/eti  oder 
Makro cyten,  welche  mit  einem  Kern  ausgestattet  sind,  Megaloblasten.  Das 
Auftreten  jedes  einzelnen  der  erwähnten  Gebilde  lässt  eine  schwere  Er- 
nährungsstörung des  Blutes  im  Allgemeinen  annehmen,  ohne  für  sich  allein 
eine  specielle  Diagnose  auf  die  Natur  der  vorhandenen  Störung  zu  ge- 
statten. Der  Haemoglobingehalt  des  Blutes  ist  bei  Anaemie  meist 
gleichsinnig  mit  der  verminderten  Zahl  der  rothen  Blutkörperchen  ver- 
ringert, doch  kommen  Schwankungen  in  der  Art,  dass  ein  relatives  Plus 
oder  Minus  an  Farbstoff  besteht,  wohl  vor.  Einer  derartigen  Erscheinung 
während  der  Ptegeneration  nach  Aderlässen  wurde  bereits  Erwähnung  ge- 
than,  im  Uebrigen  verweisen  wir  auf  den  speciellen  Theil  dieses  Aufsatzes. 
Die  weissen  Blutkörperchen  zeigen  bei  Anaemie  (ausser  der  oben  er- 
wähnten posthaemorrhagischen  Leukocytose)  weder  der  Zahl  noch  ihrer 
Qualität  nach  eine  charakteristische  Veränderung.  Sie  sind  bei  uncompli- 
cirten  chronischen  Anaemien  meist  nicht  vermehrt,  eher  vermindert.  Wir 
werden  ihr  Verhalten  bei  den  verschiedenen,  besonders  den  secundäreu 
Anaemien  noch  zu  erwähnen  haben. 

Die  Blutplättchen  finden  sich,  ohne  dass  ein  weiterer  Schluss 
daraus  gestattet  wäre,  bei  chronischen  Anaemien  häufig  vermehrt. 

Der  Einfluss  einer  anaemischeu  Blutmisclmng  auf  die  Functionen 
des  Gesammt Organismus  hängt  wesentlich  von  der  Schnelligkeit  ab, 
mit  welcher  sich  die  Anaemie  ausbildet.  Es  weichen  deshalb  sowohl  die 
klinischen  Erscheinungen  wie  der  pathologisch-anatomische  Befund  der  acuten 
Anaemie  wesentlich  von  dem  der  chronischen  ab.  Auf  die  Erstere  kommen 
wir  unten  ausführlich  zu  sprechen  und  beschränken  uns  betreffs  der  Letzteren 
hier  darauf,  kurz  die  durch  dieselben  verursachten  fundionelJen  und  patho- 
logisch-rmatom' sehen  Veränderungen,  soweit  sie  den  verschiedenen  Formen 
gemeinsam  sind,  anzuführen.  Im  Allgemeinen  gilt  der  Satz,  dass  bei  Anae- 
mie überhaupt  sämmtliche  Functionen  des  Körpers  auf  ein  niederes  Niveau 
herabgedrückt  sind.  Wenn  auch  der  respiratorische  Gasaustausch  keine 
Abweichung  von  der  Norm  zeigt,  ist  doch  bei  schwer  Auaemischen,  wenn 
nicht  ein  complicirendes  Moment  hinzutritt,  der  gesammte  Stoffwechsel,  dem- 
entsprechend die  Leistungen  der  einzelnen  Organe,  vermindert. 

Charakteristisch  ist  die  die  schweren  Arten  von  Anaemie  begleitende 
Somnolenz,  Schwindel  und  Apathie,  zu  welchen  sich  bei  chronischen  Formen 
noch   Gedächtnisschwäche    hinzugesellt.    Die    allgemeine    Körperdecke    ist 


ANAEMIE.  -,1 

blass,  kühl,  die  Schleimhäute  wie  ausgewässert,  das  Lippenroth  mit  einem 
Stich  ins  bläuliche.  Die  Körpertemperatur  eher  suhnormal,  nicht  gesteigert. 
Das  Körperfett  zeigt  sich  nicht  wesentlich  vermindert. 

Einer  eingehenderen  Besprechung  bedürfen  die  abnormen  Erscheinungen 
von  Seiten  des  Circulatiousapparate  s.  Man  findet  zwar  rythmischen, 
doch  meist  sehr  frequenten  Herzschlag;  den  Spitzeustoss,  wie  den  Puls 
liatternd,  klein  und  weich.  Die  Pulscurve  meist  sehr  seicht,  mit  geringen 
Elasticitätselevationen,  die  Herzdämpfung  bei  chronischen  Anaemien  mit- 
unter etwas  nach  rechts  verbreitert,  oder  zeigt  sich  eine  leichte  Erhöhung  der- 
selben (linker  Vorhof ).  Die  Auscultation  über  dem  Herzen  ergibt  häufig  die 
Anwesenheit  von  sogenannten  anaemischen  Geräuschen.  Diese  zeichnen  sich 
aus  und  unterscheiden  sich  von  echten,  organischen  Geräuschen  des  Herzens: 
1 .  durch  ihre  Weichheit,  geringe  Lautheit  und  ihre  Kürze,  2.  dadurch,  dass 
sie  niemals  diastolisch^  stets  si/sfoliscli  sind,  3.  sind  sie  meist  am  lautesten 
an  der  Herzbasis,  schon  schwächer  an  der  Herzspitze  hörbar,  4.  combiniren 
sie  sich  häufig  mit  sogenannten  Xonnengeräuschen  au  den  grossen  Venen  des 
Halses.  Die  Art  der  Entstehung  der  anaemischen  Herzgeräusche  ist  noch 
nicht  sichergestellt.  Die  meisten  Autoren  nehmen  eine  durch  eine  einfache 
Schwäche  des  Herzmuskels  oder  eine  partielle  fettige  Degeneration  der 
Papillarmuskeln  bedingte  ungleichmässige  Spannung  der  Zipfel  der  Mitralklappe, 
also  eine  relaticelnsiifßcienz  dieser  Klappe  als  Ursache  dieser  Schallphänomene 
an.  Die  Differentialdiagnose  gegen  organische  Mitralinsufficienz  wird  einer- 
seits das  Fehlen  einer  Hypertrophie  des  linken  Ventrikels,  anderseits 
das  Fehlen  der  xlccentuation  des  2.  Pulmonaltones  berücksichtigen  müssen. 
Die  erwähnten  Xonnengeräus  ch  e  sind  meist  über  der  v.  jiigidaris  int. 
oder  dem  Bulbus  v.  juguleiris  am  lautesten  zu  hören,  wo  sie  auch  entstehen, 
und  zeichnen  sich  gegen  Arteriengeräusche  dadurch  aus,  dass  sie  während 
Sys-  und  Diastole  der  Ventrikel  zu  hören  sind  und  einen  eigenthümlichen 
summenden  Charakter  haben.  Sie  sollen  dadurch  zu  Stande  kommen,  dass 
das  Blut  aus  einem  relativ  engen  Ostium  in  den  relativ  weiten  Bulbus  der 
V.  juguhirls  stürzend  in  einen  Wirbelstrom  geräth. 

Die  Respiration  ist  häufig  beschleunigt,  flach  und  wird  wie  die 
Herzaction  durch  oft  scheinbar  unbedeutende  Muskelleistungen  des  Patienten 
wesentlich  beeinflusst.  Magen-  und  D  arm  c  a  nal  zeigen  meist  kein  charakte- 
ristisches Verhalten.  Der  Appetit  liegt  oft  schwer  darnieder,  doch  kommen 
auch  schwere  Formen  von  Anaemie  vor,  welche  betreffs  der  Esslust  sowie  der 
Säuresecretion  der  Magenschleimhaut  und  der  verdauenden  Kraft  des  Magens 
überhaupt  normale  Verhältnisse  zeigen.  Der  Stuhlgang  findet  sich  bei  chroni- 
schen Formen  reiner  uncomplicirter  Anaemie  häufig  sehr  träge,  doch  begegnet 
man  bei  acuten  traumatischen  Anaemien  (bei  Thieren)  in  ultimis  meist  einer 
gesteigerten  Darmperistaltik,  welche  zu  reichlichen  Kothentleerungen  führt. 
Die  Function  der  Nieren  pflegt  meist  durch  eine  chronische  Anaemie 
nicht  geändert  zu  werden.  Der  ausgeschiedene  Harn  ist  eher  spärlich,  von 
hoher  Concentration  und  trägt  im  Uebrigen  die  Charaktere  der  Letzteren. 
Bei  acuter  Anaemie  sistirt  die  Harnsecretion  fürs  Erste  meist  überhaupt 
ganz  oder  sie  ist  sehr  vermindert.  Ln  Verhalten  der  Sinnesorgane  bei 
schwer  Anaemischen  verursachen  die  sich  secundär  an  den  Gefässwänden 
ausbildenden  Veränderungen  häufig  Störungen.  Dieselben  documentiren  sich 
in  Form  von  mehr  weniger  grossen  Blutextravasaten,  von  welchen  bis  heute 
noch  nicht  entschieden  ist,  ob  sie  per  Rhexin  oder  Diapedesin  zu  Stande 
kommen.  Die  schwere  Erkrankung  der  Gefäss-,  speciell  der  Capillarwaudungen 
Hesse  beide  Arten  von  Blutaustritt  aus  dem  Gefässrohr  verständlich  er- 
scheinen. Es  ist  verständlich,  dass  je  nach  der  Ausdehnung  derartiger 
Blutungen  in  die  Netzhaut,  Sehstörungen  grösseren  oder  geringeren  Grades 

4* 


Ö2  ANAEMIE. 

sich  ergeben  können.  Doch  ist  das  Fehlen  subjectiver  Störungen  bei  Netz- 
hautblutungen wiederholt  bemerkt  worden.  Auch  für  den  inneren  Theil  des 
Gehörorgan  es  sind  im  Anschluss  an  schwere  Anaemie  Functionsstörungen 
bekannt,  welche  ihren  Grund  in  dem  gleichen  Moment  haben  dürften. 

Die  durch  Anaemie  verursachten  Veränderungen,  welche  sich  am 
Sectionstis  che  erheben  lassen,  sind  (reine  Fälle  vorausgesetzt)  sehr 
spärlich.  Bei  Besichtigung  sämmtlicher  Organe  fällt  vor  Allem  die  hoch- 
gradige Blässe  derselben  auf.  Ausserdem  findet  sich  besonders  in  der 
Höhle  des  rechten  Ventrikels  das  Blut  sehr  dünnflüssig,  meist  schlecht 
geronnen.  Der  Blutkuchen  selbst  hat  eine  mattrothe,  oft  bis  Hinibe ergelee- 
artige Farbe  und  auffallend  weiche  Consistenz.  Ausserdem  finden  sich  jedoch 
noch  besonders  an  den  serösen  Häuten  oft  kleine,  stecknadelkopfgrosse 
und  grössere  Haemorrhagien ,  welche  dem  Verlauf  von  Gefässen  fol- 
gend, den  Organoberflächen  mitunter  ein  eigenthümliches  gesprenkeltes 
Aussehen  verleihen  und  auf  dieselben  Momente  zurückzuführen  sind,  wie 
die  schon  intra  vitam  nachweisbaren  Xetzhauthaemorrhagien.  Am  Herzmuskel, 
sowie  den  Gefässwänden  lässt  sich  constant  jene  unter  dem  Namen  der 
fcffUien  Derjeneration  bekannte  histologische  Veränderung  nachweisen.  Man 
findet  dann  ebenso  die  Endothelzellen  der  zartesten  Gefässwände,  wie  auch 
die  Muskelschläuche  des  Herzens  erfüllt  von  einer  grossen  Zahl  kleiner, 
hellglänzender  Tröpfchen,  welche  mit  Osmiumsäure  die  für  Fett  charakte- 
ristische Beaction,  Schwarzfärbung,  annehmen.  Ob  dieser  Körper  thatsächlich 
vom  chemischen  Standpunkte  als  Fett  zu  gelten  habe,  welcher  Art  er  sei 
und  wo  die  Quelle  desselben  zu  suchen  ist,  darüber  fehlen  uns  die  Kennt- 
nisse. Gehirn,  Lungen,  Leber,  Milz  und  Nieren,  sowie  der  Magendarmcanal 
und  der  Geschlechtsapparat  bieten  meist  bis  auf  die  erwähnten,  meist  sub- 
pleuralen oder  subserösen  Haemorrhagien  und  die  hochgradige  Blässe  keine 
charakteristischen  Veränderungen  dar. 

So  complex  uns  nach  den  allgemeinen  pathologischen  imd  den  patho- 
logisch-anatomischen Anschauungen  auch  der  pathologische  Begriö"  der 
Anaemie  erscheinen  mag.  so  ist  das  Bild,  unter  w^elchem  sie  dem  Arzte  am 
Krankenbett  in  Erscheinung  tritt,  doch  ungemein  pohjniorph.  Abgesehen 
von  andersartigen  Erkrankungen  (Leukaemie,  Pseudoleul'aemie)  sind  wir  ge- 
nöthigt,  unter  den  Auaemien  vor  Allem  den  acuten  (traumatischen)  Auae- 
mien  eine  gesonderte  Besprechung  zu  widmen.  Betrefl^s  der  chronischen 
Anaemien  hat  jedoch  die  Erfahrung  gelehrt,  dass  es  auch  hier  zweckent- 
sprechend ist,  sie  in  zwei  grosse  Gruppen  zu  trennen,  die  primären 
und  secundären  Anaemien,  deren  Kriterien  allerdings  mehr  praktischen 
als  theoretischen  Gründen  Ptechnung  tragen.  Unter  primären  Anaemien 
versteht  man  meist  solche,  deren  Ursache  unbekannt  ist  und  bei  welchen 
die  Anaemien  das  hervorstechendste,  das  klinische  Bild  beherrschende 
Symptom  ist  und  sich  die  anderweitigen  Symptome  sehr  gut  aus  diesem 
einen  ableiten  lassen.  Wir  pflegen  zu  denselben  zu  rechnen:  1.  die  einfache 
primäre  Anaemie,  2.  die  progressiüe  perniciöse  Anaemie  und  3.  die  Chlorose. 
Sofern  ein  anderes,  anatomisches  Leiden  nachweisbar  vorliegt  und  dasselbe 
mit  Anaemie  complicirt  ist,  hat  tausendfältige  Erfahrung  gelehrt,  dass  ein 
Causalnexus  zwischen  diesen  beiden  Erkrankungen  sehr  häufig  besteht.  Wir 
pflegen  für  solche  Formen  von  Anaemie  die  Bezeichnung  der  secundären 
Anaemien  anzuwenden  und  vermuthen  in  ihnen  den  sich  auf  das  Blut 
äussernden  Efl"ect  der  bestehenden  Organ-  und  Allgemeinerkrankung.  Ebenso 
wie  uns  über  die  Details  der  Pathogenese  bei  den  primären  Anaemien  jeg- 
liche Kenntnisse  mangeln,  fehlen  sie  uns  auch  bei  den  meisten  secundären. 


ANAEMIE.  53 

IL  Specieller  Theil. 
Ä.  Die  primären  Anaemien. 

1.  Die  acute  Anaemie  (der  Verblutuugstod). 

Der  acuten  Anaemie  liegt  stets  ein  erheblicher,  mehr  minder  rasch 
verlaufender  Blutverlust  zu  Grunde.  Dieser  kann  ebenso  wohl  durch  Ver- 
letzung eines  grossen  Gefässes  durch  Trauma  oder  Arrosion,  wie  durch 
gleichzeitige  Eröffnung  einer  grossen  Zahl  kleiner  Gefässe  bedingt  werden. 
In  beiden  Fällen  kann  er  unmittelbar  den  Tod  herbeiführen.  Die 
Todesursache  bei  acuter  Anaemie  ist  jedoch  nicht  einheitlich.  Sie  kann, 
sofern  der  Blutverlust  äusserst  rasch  erfolgt  und  dem  Blute  nicht  Zeit 
gegönnt  ist,  sich  auf  Kosten  der  Gewebssäfte  in  seiner  Menge  zu 
reconstruiren,  eine  Folge  der  relativen  Leere  des  Gefässsystems  und  der 
consecutiven  Blutdrucksenkung  sein  (mechanischer  Verblutungstod  —  auch 
in  diesem  Falle  entleeren  sich  nur  circa  zwei  Drittel  des  in  den  Gefässen 
enthaltenen  Blutes).  Die  zweite  Möglichkeit  für  den  Eintritt  des  Todes 
kann  in  dem  durch  die  Blutung  verursachten  absoluten  Mangel  an  rothen 
Blutkörperchen  liegen,  wodurch  der  Organismus  der  Fähigkeit  beraubt  wird, 
die  ihm  nothwendige  0  Menge  in  sich  aufzunehmen  (functioneller  Ver- 
biutungstod). 

Eine  scharfe  Trennung  der  beiden  erwähnten  Todesarten  stösst  in 
praxi  jedoch  oft  auf  Schwierigkeiten,  da  sich  auch  beim  raschesten  Ver- 
bluten stets  neben  der  Blutdrucksenkung  die  Einschränkung  der  liespi- 
rationsoberfläche  in  grösserem  oder  geringerem  Grade  geltend  machen  kann. 

Nachdem,  wie  erwähnt,  die  Schnelligkeit,  mit  welcher  der  Blutverlust 
den  Körper  trifft,  für  ihn  von  grosser  Bedeutung  ist,  kann  die  Frage,  wie 
viel  Blut  ein  Individuum  im  Verhältniss  zu  seinem  Körpergewichte  ver- 
lieren oder  wie  tief  die  Zahl  der  rothen  Blutkörperchen  in  der  Raumein-, 
heit  des  Blutes  sinken  kann,  ohne  dass  der  Tod  eintritt,  nicht  ohneweiters 
bestimmt  beantwortet  werden  und  dies  umsomehr,  als  die  Compensation 
eines  eingetretenen  Blutverlustes  durch  Gewebssaft  auch  von  dem  Flüssig- 
keitsreichthum  der  Gewebe  abhängt.  Nachdem  der  letztere  wiederum  von 
der  Quellungsfähigkeit  derselben  abhängig  ist,  so  wird  in  letzter  Linie  diese 
sowie  der  Grad  der  Fähigkeit  der  Gewebe,  ihr  Wasser  an  das  Blut  abzu- 
geben, für  die  Compensation  eines  Blutverlustes  massgebend  sein  müssen. 
Diesen  complicirten  Verhältnissen  entsprechend  findet  man  in  der  Literatur 
die  widersprechendsten  Angaben  über  die  Grösse  des  Blutverlustes,  welchen 
ein  Mensch  oder  ein  Thier  noch  zu  überleben  vermochte  oder  über  die 
niedrigste  Zahl  von  rothen  Blutkörperchen,  bei  welchen  das  Leben  noch 
möglich  war.  Die  geringste  Blutkörperchenzahl,  welche  meines  Wissens  über- 
haupt beim  Menschen  beobachtet  wurde,  betraf  eine  von  Quincke  unter- 
suchte Frau,  welche  142.0UO  rothe  Blutkörperchen  pro  cubmni  aufwies.  Ob 
dieses  Individuum  jedoch  weiter  gelebt  hätte,  ist  unentschieden,  nachdem 
bei  ihr  eine  Transfusion  vorgenommen  wurde. 

Die  klinischen  Symptome  der  acuten  Anaemie  decken  sich  im 
Allgemeinen  mit  den  für  die  Anaemie  überhaupt  bereits  beschriebenen. 
Somnolenz,  Blässe,  fahle  Gesichtsfarbe,  Verfärbung  der  Sclileimhäute,  Ein- 
gesunkensein der  Augenhöhlen,  subnormale  Temperaturen,  Ausbruch  von 
Schweiss,  kleiner  flatternder  Puls,  beschleunigte  Respiration,  Anurie  und  in 
letzter  Linie  Zuckungen  in  einzelnen  Nervengebieten  (facialis)  oder  ganzen 
Extremitäten,  seltener  ausgebreitete  Krämpfe,  Dilatation  der  Pupillen  sind 
die  allerdings  besser  vom  Thier  als  vom  Menschen  bekannten  Symptome 
des  Verblutungstodes. 

Der  pathologisch  anatomische  Befund    betrifft    selbstredend 


54  ANAEMIE. 

in  erster  Linie  die  Ursache  des  eingetretenen  Blutverlustes.  Sonst  zeigt 
die  Obduction  nichts  weiter  als  die  Zeichen  hochgradigster  Blutleere  der 
Organe. 

Die  Therapie  der  acuten  Anaemie  muss,  sofern  die  Stelle  der 
Blutung  zugänglich  ist,  in  erster  Linie  chirurgischer  Natur  sein,  um  das 
oder  die  -blutenden  Gefässe,  sei  es  durch  Ligatur,  Tamponade  oder  Com- 
pression,  zu  verschliessen.  Ist  diese  Möglichkeit  ausgeschlossen  oder  nur 
auf  dem  Wege  einer  grossen  Operation  möglich  (Magenblutungen,  Lungen- 
blutungen, Blutungen  ins  Abdomen),  so  wird  die  locale  Application  von 
Kälte  in  Form  von  Eisumschlägen,  Eisbeutel  auf  die  Haut,  Eispillen,  Magen- 
ausspülungen mit  Eiswasser,  verbunden  mit  Ruhe  und  der  Darreichung 
eines  Haemostaticum  angewandt  werden  müssen.  Unter  den  zu  letzterem 
Zwecke  empfohlenen  Mitteln  sind  die  innerlich  oder  subcutan  zu  verab- 
reichenden, Gefässcontraction  erzeugenden  Präparate  von  denjenigen  zu 
trennen,  welche  bei  chirurgisch  nicht  angreifbaren  oder  parenchymatösen 
Blutungen  wegen  ihrer  Gerinnung  fördernden  Eigenschaften  applicirt  werden 
können.  Zu  den  ersteren  zählt  vor  Allem  das  Krgot'm.  Dasselbe  kann  inner- 
lich zu  0-1 — 0-6  drei-  bis  viermal  täglich  in  Pillen,  Pastillen  oder  Lösung 
oder  subcutan  zu  0-2 — 0*5 — ;-0!  pro  dosi  gegeben  werden.  Zu  den  letzteren 
gehört  das  Ferr.  sesquiclüorat.,  die  Penghnvar  Ymnhee  etc.  Die  Zahl  der  be- 
sonders zur  innerlichen  Application  empfohlenen  Präparate  ist  gross,  und 
wäre  diesbezüglich  auf  den  Artikel  „Haemostatica"  dieses  Sammelwerkes 
(Pharmacologie  und  Toxicologie)  zu  verweisen. 

Mit  der  Sistirung  der  Blutung  ist  jedoch  die  Aufgabe  des  Arztes  noch 
nicht  erschöpft.  Nunmehr  handelt  es  sich  darum,  eventuell  bestehende,  be- 
drohliche Erscheinungen  von  Seite  des  Gehirns  und  des  verlängerten  Markes 
zu  beheben  oder  zu  verhüten.  Man  greift  zu  Niedrigiagern  des  Kopfes 
und  reicht  Analepfica,  als  schwere  Weine  oder  sonstige  AlcolioUca  (auch 
als  Klysma),  Thee,  Kaffee,  Kampher,  Aether,  Einwickelungen  der  Extremi- 
täten in  heisse  Tücher  oder  Anlegungen  der  EsMAEcn'schen  Binde  für 
kurze  Zeit  an  eine  oder  beide  unteren  Extremitäten.  Erweisen  sich  alle 
die  angeführten  Massnahmen  unzureichend,  um  die  gesunkene  Herzarbeit 
wiederherzustellen,  so  bleibt  wohl  nur  noch  ein  Ausweg,  die  Lifusion  oder 
Transfusion,  um  die  dem  Kranken  verloren  gegangene  Blutmenge,  sei  es 
durch  eine  indiiferente  Salzlösung  oder  durch  Blut  wieder  zu  ersetzen. 
Die  Infusion  und  Transfusion  kann  direct  in  das  Gefässsystem  oder  sub- 
cutan gemacht  werden.  Beide  Methoden  haben  ihre  Freunde  und  Feinde, 
allgemein  ist  man  jedoch  darin  einig,  dass  speciell  für  die  Verhältnisse  der 
täglichen  Praxis,  besonders  am  Lande  die  subcutane  Infusion 
wegen  ihrer  Einfachheit  vorzuziehen  ist. 

Die  Technik  dieses  Verfahrens  ist  ungemein  einfach.  Ein  mit  einem  circa  1  his 
]  5  Meter  langen  Kautschukschlanch  armirter  Glastrichter  wird  mit  einer  Hohlnadel  am 
freien  Ende  versehen,  und  am  Schlauche  selbst  ein  Quetschhahn  angebracht  Trichter, 
Schlauch  und  Nadel  werden-mit  der  zu  infundirenden  Flüssigkeit  gefüllt,  die  Nadel  hier- 
auf an  einer  beliebigen  Stelle,  man  wählt  meist  Bauch  oder  Rücken,  unter  die  Haut  ge- 
schoben, und  die  Flüssigkeit  nunmehr  langsam  einfliessen  gelassen.  Durch  örtliche  Mas- 
sage kann  die  Resorption  der  Flüssigkeit  beschleunigt  werden.  Bei  der  directen  Infusion 
in  das  Gefässsj'stem  wird  eine  Vene  frei  präparirt,  und  eine  Glascanüle,  welche  sich  an 
Stelle  der  Hohlnadel  befindet,  in  dieselbe  eingebunden.  Es  braucht  nicht  ausdrücklich 
erwähnt  zu  werden,  dass  nicht  nur  jeder  einzelne  Theil  des  Infusionsapparates,  sondern 
auch  die  zu  infundirende  Flüssigkeit  auf  das  Peinlichste  desinficirt,  respective  sterilisirt 
sein  muss.  Was  die  Qualität  der  Infusionsflüssigkeit  anbelangt,  so  genügt  wohl  meist 
eine  06procentige  Kochsalzlösung,  welcher  man  eventuell  einige  Tropfen  einer  dünnen 
Natronlauge  oder  etwas  Rohrzucker  hinzufügen  kann.  Neuestens  wurde  zu  Infusions- 
zwecken bei  Cholera  asiatica  folgende  Formel  empfohlen:  Aqua  destillata  lüOü'O,  Natr. 
chlorat.  50,  Natri  hydrat  1"0,  Natri  sulfur.  25'0.  Die  Infusionsflüssigkeit  soll  eine  Tem- 
peratur von  37—39  Grad  Celsius  haben. 


ANAEMIE.  55 

Schwieriger  und  ungleich  gefährliclier  als  die  Infusionstherapie,  wehiie 
allerdings  auch  nur  den  räumlichen  Defect  in  der  Gefässbahn,  also  den 
mechanischen  Yerblutungstod  zu  beheben  vermag,  ist  die  directe  Trans- 
fusion von  Mensch  zu  Mensch. 

Abgesehen  davon,  dass  sich  im  Bedarfsfall  wohl  nicht  immer  ein  Blutspender 
findet,  hat  man  mit  diesem  Operationsverfahren  auch  bereits  so  häufig  traurige  Erfah- 
rungen gemacht,  indem  die  Patienten  während  oder  kurz  nach  der  Operation  zu  Grunde 
gingen,  dass  man  sie  fast  ganz  verlassen  hat.  Die  Gefahren  der  directen  Transfusion 
liegen  hauptsächlich  in  der  Gerinselbildung,  welche  hintanzuhalten  man  bisher  nicht 
immer  mit  voller  Sicherheit  in  der  Lage  war,  und  in  der  sogenannten  E'ermentintoxication, 
einem  Krankheitsbilde,  welches  mit  Schüttelfrösten,  hohem  Fieber,  Benommenheit  einher- 
geht und  schliesslich  meist  zum  Tode  führt.  Neuerlich  hat  man  versucht,  diese  Gefahren 
einerseits  durch  Zumischung  von  Blutegelextract  zum  Blute  (LandoisV  anderseits  durch 
directe  Blutaspiration  aus  der  Armvene  des  Blutspenders  mittelst  einer  mit  einer  Hohl- 
nadel armirten  Glasspritze  und  directen  üebertragung  unter  die  Haut  des  Patienten 
(v.  Ziemssek)  zu  umgehen,  doch  liegen  betreffs  dieser  Verfahren  noch  keine  genügende  Er- 
fahrungen vor,  um  sie  an  dieser  Stelle  empfehlen  zu  können.  Immer  ist  die  Bluttrans- 
fusion gegen  die  Infusion  das  umständlichere,  schwierigere  und  gefährlichere  Verfahren, 
welches  schon  deshalb  bei  der  Behandlung  der  acuten  Anaemie,  wo  meist  rasches  Handeln 
nothwendig  ist,  seltener  wird  in  Anwendung  gezogen  werden  können. 

2.  Die  chronischen  Anaemien, 

a)  Die  einfache  primäre  Anaemie. 

Der  Begriif  der  einfachen  primären  Anaemie  ist  nicht  leicht  zu  um- 
grenzen. Man  bezeichnet  mit  diesem  Worte  jene  chronich  verlaufenden 
Formen  von  Anaemie.  welche,  olme  sich  an  eine  anderweitige  nachweis- 
bare Erkrankung  anzuknüpfen,  häufig  im  Anschlüsse  an  schlechte  Lebens- 
bedingungen überhaupt  sich  entwickeln.  In  der  Aetiologie  derselben 
scheinen  schlechte  Lebensbedingungen  überhaupt,  besonders  Hunger  und 
gesteigerte  Muskelarbeit  eine  Hauptrolle  zu  spielen.  Die  Grade,  welche 
dieselbe  erreichen  kann,  sind  mitunter  derart  hoch,  dass  eben  nur  der 
Ausgang  in  Genesung  sie  von  der  progressiven,  perniciösen  Anaemie  unter- 
scheidet. 

Wenn  es  auch  bisher,  auf  experimentellem  Wege  nicht  gelungen  ist,  durch  Hunger 
weder  bei  erwachsenen  Menschen  und  Thieren,  noch  bei  jungen  Thieren  Anaemie  zu  er- 
zeugen, so  ist  für  die  menschliche  Pathologie  zu  bemerken,  dass  sociales  Elend  meist 
]iicht  mit  Hunger  allein,  sondern  häufig  mit  gesteigerter  Muskelarbeit  und  anderen 
Schädlichkeiten  verknüpft  ist.  Wenn  Hunger  auch  keinen  Mehrverbrauch  von  rothen 
Blutkörperchen  erzeugt,  so  ist  jedenfalls  ihre  Neubildung  hiebei  eingeschränkt,  und  wenn 
noch  ein  Moment  wie  z.  B.  forcirte  Muskelarbeit,  welche  ein  Plus  von  Stoffverbrauch 
voraiissetzt,  hinzukommt,  so  wäre  die  Differenz  zwischen  klinischer  Beobachtung  und 
Thierexperiment  vielleicht  erklärt. 

Die  klinische  Symptomatologie  dieser  Erkrankung  knüpft  wie 
bei  der  Mehrzahl  der  Anaemien  an  ein  ziemlich  vorgeschrittenes  Stadium 
an.  Wir  finden  meist  einen  (relativ  häufiger  männlichen)  Patienten,  welcher 
den  Arzt  wegen  zunehmender  Schwäche,  Appetitmangel,  Herzklopfen  und 
mitunter  sei  einbar  neurasthenischen  Beschwerden,  als  tiiegenden  Schmerzen, 
Schlaflosigkeit,  schneller  geistiger  Ermüdbarkeit  etc.  consultirt.  Den  Beginn 
des  Leidens  genau  anzugeben  sind  die  meisten  Kranken  nicht  in  der  Lage 
und  beziehen  ihn  häufig  auf  relativ  untergeordnete  Schädlichkeiten,  wie 
Erkältungen,  Diätfehler  etc. 

Die  objective  Untersuchung  ergibt  meist  ein  ziemlich  typisches  Bild, 
welches  sich  an  das  oben  kurz  gezeichnete,  für  alle  Formen  der  Anaemie 
giltige,  eng  anschliesst.  Ein  blasses  Individuum,  welches  in  seiner  Ernährung 
meist  ziemlich  herabgekommen  ist,  zeigt  blasse,  bläuliche  Lippen,  weisse,  wie 
ausgewässerte  Conjunctivae.  Sein  Körperbau  kann  kräftig,  auch  die  Mus- 
culatur  noch  recht  gut  entwickelt  sein,  nur  der  Fettpolster  hat  meist  erheblich 
gelitten.     Von  Seite  des  CNS.  bestehen   ausser  allgemeinen  Depressionser- 


56.  AI^AEMIE. 

scheiuuugen  gewöhnlich  keinerlei  deutliche  Störungen;  nur  neuralgische 
Schmerzen  werden  mitunter  von  den  Patienten,  meist  auf  cariöse  Zähne: 
zurückgeführt,  angegeben.  Von  Seite  der  Sinnesorgane  bestehen  selten  sub- 
jective  oder  objective  Symptome  von  grösserer  Bedeutung.  Zuweilen  wird 
über  Erscheinungen  von  schwarzen  Rädern  oder  Kugeln  oder  Flimmer- 
scotomen, sowie  über  Ohrensausen  geklagt,  doch  sind  dies  Symptome,  welche 
sich  nur  bei  schweren  Formen  dieser  Erkrankung  finden,  bei  welch'  letzteren 
übrigens  auch  die  bekannten  Haemorrhagien  auf  der  Netzhaut  beobachtet 
werden  können.  Die  Lungen  bieten  selten  etwas  Autfallendes,  verdienen 
jedoch  in  solchen  Fällen  doppelt  aufmerksame  Untersuchung,  weil  gerade 
die  ersten  Stadien  der  Luugentuberculose  häufig  das  Bild  einer  primären 
Anaemie  leichteren  Grades  vortäuschen  können.  Am  Herzen,  sowie  den 
grossen  Gefässen  des  Halses  finden  sich  je  nach  dem  Grade  der  bestehenden 
Blutveränderung  jene  bereits  erwähnten,  als  anaemische  und  Nonnengeräusche 
beschriebenen  Schallphaenomene,  wiewohl  Einige  die  Nonnengeräusche  als 
der  Chlorose  einzig  zugehöriges  ansehen.  An  den  Organen  des  Unter- 
leibes vermisst  man  meist  irgend  etwas  Pathologisches,  für  Anaemie  Charak- 
teristisches. Mitunter  wird  Druckgefühl  und  Druckempfindlichkeit  unterhalb 
des  proc.  xyphoides  angegeben  und  mit  diesem  Symptom  die  bestehenden 
Magenbeschwerden  vom  Patienten  verknüpft.  Eine  Untersuchung  der  secre- 
torischen  und  motorischen  Functionen  des  ^lagens  lehrt  jedoch  meist  keine 
Anomalie  oder,  falls  eine  solche  trotzdem  nachweisbar  ist,  bildet  sie  keinen 
integrirenden  Bestandtheil  des  Symptomeubildes  der  clironischen  primären 
Anaemie.  Im  Uebrigen  wird  auch  auf  diese  Verhältnisse  ebenso  wie  auf 
die  Untersuchung  der  Lungen  doppelt  zu  achten  sein,  da  ebensowohl  ein 
kleines  Ulcus  rotundum  oder  Carcinoma  ventriculi  den  in  Rede  stehenden 
Krankheitsprocess  vortäuschen  oder  durch  dasselbe  auch  maskirt  werden 
kann.  Die  Harnuntersuchung  ergibt  meist  keine  weiteren  Anhaltspunkte. 

Eine  Sicherstellung  der  Diagnose  wird  nur  aus  der  Blutunter- 
suchung auf  Zahl  und  Haemogiobingehalt  der  geformten  Elemente  er- 
wachsen. Man  findet  die  Blutkörperchenzahl  in  den  verschiedensten  Graden, 
meist  jedoch  innerlialb  geringer  Grenzen  unter  die  Norm  reducirt.  Der 
Haemogiobingehalt  des  einzelnen  rothen  Blutkörperchens  ist,  wie  scheint, 
normal,  da  die  Farbstotfbestimmungen  in  solchen  Fällen  meist  der  Blut- 
körperchenverminderung entsprechende  Werthe  ergeben.  Die  Dichte  des 
Blutes  ist  entsprechend  dem  Mangel  an  Haemogiobin  herabgesetzt  und  die 
Alkalescenz  desselben  meist  etwas  vermindert.  Auch  die  sogenannte  farben- 
analytische Untersuchung  des  Blutes  ergibt  keinerlei  nennenswerthe  diagno- 
stische Anhaltspunkte.  Die  vorhandenen  rothen  Blutkörperchen  zeigen  sich 
meist  normal  geformt  und  nur  in  schweren  Fällen  sind  jene  bereits  oben 
als  Degenerations-Erscheinungen  zu  deutenden  Veränderungen  an  ihrer 
Gestalt,  sowie  an  ihrem  Protoplasma  zu  erkennen.  Die  weissen  Blutkörper- 
chen zeigen  keine  bemerkenswerthe  Veränderung.  Mitunter  wird  das  relativ 
vermehrte  Auftreten  van  monouuclearen  grossen  oder  kleinen  Lymphocyten 
beschrieben.  Doch  sind  wir  heute  noch  nicht  in  der  Lage,  uns  daraus  einen 
diagnostischen  oder  pathologischen  Gesichtspunkt  abzuleiten. 

Die  Prognose  der  primären  chronischen  Anaemie  ist  meist  günstig. 
Unter  entsprechendem  Regime  bessert  sich  der  Allgemeinzustand  und 
dieser  meist  rascher  als  der  objective  Blutbefund.  Bei  Verfolgung  dieses- 
constatirt  man  auch  häufig  die  schon  oben  erwähnte  Erscheinung,  dass  die 
rothen  Blutkörperchen  sich  vermehren,  ohne  dass  fürs  Erste  eine  gleich- 
sinnige Zunahme  des  Blutfarbstoffes  nachweisbar  wäre,  so  dass  die  durch- 
schnittliche Färbekraft  des  einzelnen  Blutkörperchens  abgenommen  zu  haben 
scheint.     Der  Verlauf  dieser  Erkrankunu'.  ehe  sie  zur  völligen  Wiederher- 


ANAEMIE.  57 

Stellung  führt,  kann  in  den  verschiedenen  Fcällen  ungemein  von  einander 
abweichen.  Wochen,  Monate,  ja  Jahre  können  die  einzelnen  Fälle  in  ihrem 
Verlaufe  von  einander  trennen. 

h)  Die  progressire  perniciöse  Anaemie. 

Die  schwerste  Form  chronischer  Anaemie,  welche  stets  fortschreitend, 
meist  rasch  zum  Tode  führt,  und  welche  bei  der  Section  keinen  Anhalts- 
punkt für  ihre  Entstehung,  sondern  nur  Folgeerscheinungen  derselben  er- 
kennen lässt,  bezeichnet  man  allgemein  mit  dem  oben  angeführten  Aus- 
druck. Die  Aetiologie  dieses  Leidens  ist  völlig  dunkel  und  dementspre- 
chend sind  auch  unsere  Kenntnisse  über  das  Wesen  desselben.  Besonders 
neuerer  Zeit  hat  man  es  wiederholt  versucht,  die  progressive,  perniciöse 
Anaemie  nur  als  ein  Symptom  aufzufassen,  welchem  die  verschiedensten 
Ursachen  zu  Grunde  liegen  können.  Dies  geht  schon  aus  dem  Grunde  nicht 
an,  weil,  wenn  auch  die  Neuzeit  für  manche  bis  dahin  räthselhafte  Formen 
von  schwerer  chronischer  Anaemie  eine  Erklärung  gefunden  hat,  trotzdem 
noch  immer  eine  Zahl  von  Krankheitsfällen  vorkommt,  deren  Sections- 
resultat  betreffs  aetio  legis  eher  Momente  völlig  negativ 
ausfällt.  Für  diese  möchte  ich  die  im  Titel  gegebene  Bezeichnung  ge- 
wahrt wissen.  Herrscht  schon  hierüber  Uneinigkeit,  so  ist  dieselbe  noch 
grösser  betreffs  der  Frage,  ob  mangelhafte  Neubildung  oder  vermehrter 
Zerfall  der  rothen  Blutkörperchen  die  Ursache  dieser  Erkrankung  ist.  Für 
beide  Anschauungen  sind  stützende  Momente  beigebracht  worden,  keine 
konnte  bisher  bewiesen  werden.  Wenn  das  Auftreten  kernhaltiger  rother 
Blutkörperchen  im  circulirenden  Blute  für  eine  verminderte  Umbildung  dieser 
Elemente  des  Knochenmarkes  in  normale  rothe  Blutkörperchen  zu  sprechen 
scheint,  so  weist  unter  Anderem  z.  B.  das  Entstehen  von  Icterus,  sowie 
Urobilinurie  auf  ein  vermehrtes  Zugrundegehen  desselben  hin.  In 
gleichem  Sinne  sind  auch  die  an  den  rothen  Blutkörperchen  zu  beob- 
achtenden schweren  Degenerations-Erscheinungen  zu  verwerthen,  sowie  der 
Umstand,  dass  es  gelingt,  durch  wiederholte  Einbringung  von  Blutgiften  in 
den  Thierkörper  (Fi/rogaUoI)  das  klinische  Bild  der  progressiven  pernici- 
ösen  Anaemie  an  Thieren  zu  erzeugen.  Aus  letzterer  Beobachtung  speciell 
wollte  man  den  Schluss  ableiten,  dass  auch  bei  der  progressiven  pernici- 
ösen  Anaemie  eine  Vergiftung  mit  einem  Blutgift  unbekannter  Natur  und 
Provenienz  vorliege,  doch  ist  ein  solches  bisher  noch  nicht  nachge- 
wiesen worden.  Auch  die  Eventualität  einer  Infection  wurde  schon  mit 
gleicher  Unsicherheit  in  Frage  gezogen. 

Das  Symptomenbild  lässt  den  Kranken  meist  sofort  als  schwer 
darniederliegend  erkennen.  Eine  ausnehmende,  wachsartige  Blässe  der  Haut- 
decken und  der  Schleimhäute  wie  bei  einem  Verblutenden  mit  meist  leicht 
gelblicher  Verfärbung  der  Sclerae,  steht  in  Contrast  mit  dem  noch  gut  er- 
haltenen Paniculus.  Der  Kranke  vermag  sich  nur  unter  grosser  Mühe  bei 
beständigem  Herzklopfen  und  Athemnoth  selbstständig  auch  nur  im  Bette- 
zu  bewegen.  Seine  Haut  ist  kühl,  er  selbst  meist  apathisch  wie  in  leichter 
Narkose,  die  Körpertemperatur  eher  subnormal.  Die  objective  Untersuchung 
des  Patienten  ergibt  alle  Zeichen  schwerster  Anaemie,  ohne  eine  Ursache 
des  Leidens  erkennen  zu  lassen.  Retinalhaemorrhagien,  laute  anaemische 
Geräusche  am  Herzen  und  den  grossen  Gefässen  des  Halses  bilden  die 
Hauptmomente  des  aufzunehmenden  Status  praesens. 

Die  einzigen  für  die  Diagnose,  wenn  auch  mit  grosser  Vorsicht  zu 
verwerthenden  Anhaltspunkte  bietet  der  Blutbefund.  Das  frisch  der 
Fingerbeere  entnommene  Blut  hat  meist  mehr  das  Aussehen  eines  dünnen 
Himbeerwassers,    als   das   von  Blut.    Es   fallt   schon   beim  Bestreichen  des 


58  ANAEMIE. 

Deckgläscheus  seine  geringe  Yiscosität  auf.  Unter  das  ^Mikroskop  gebracht, 
ist  häufig  schon  ohne  weitere  Präparation  die  geringe  Zahl  der  rothen  Bkit- 
körperchen  auffallend  und  diese  selbst  zeigen  nun  meist  äussert  hochgradig 
und  ausgesprochen  die  für  diese  schwersten  Anaemien  charakteristischen 
Degenerations-Erscheinungen,  deren  bereits  oben  Erwähnung  geschehen  ist. 
Poikilocyten,  kernhaltige  rothe  Blutkörperchen.  Poikiloblasteu,  Megalo- 
blasten,  Mikrocyteu  und  endoglobuläre  Degenerationsformen  findet  man 
meist  immer  auch  in  den  sorgfältigst  bereiteten  Blutpräparaten.  Die  Zahl 
der  rothen  Blutkörperchen  im  Cubikmillimeter  kann  bis  auf  den  geringsten 
Werth  reducirt  erscheinen.  Der  von  Quincke  mit  142.000  Blutkörperchen 
beobachtete  Fall  wurde  bereits  erwähnt  (ist  jedoch  wegen  seines  günstigen 
Ausganges  als  progressive  perniciöse  Anaemie  zweifelhaft,  eher  vielleicht 
der  einfachen  primären  Anaemie  zuzuzählen) :  ich  selbst  konnte  einen  Fall 
beobachten,  welcher  am  vorletzten  Lebenstage  2Ö0.000  rothe  Blutkörper- 
ehen im  Cubikmillimeter  zeigte.  Die  weissen  Blutkörperchen  sind  in  solchen 
Fällen,  falls  nicht  etwa  eine  terminale  Complication  mit  einer  zur  Exsudat- 
bildung führenden  Infection  besteht,  nie  vermehrt,  eher  vermindert,  und 
auch  betreffs  ihrer  Chromatophilie  unverändert.  Der  Blutfarbstoff  wurde 
von  einigen  Autoren  als  relativ,  d.  h.  für  die  enorm  gesunkene  Zahl  von 
Blutkörperchen  vermehrt  angegeben,  wodurch  die  Färbekraft  des  einzelnen 
Blutkörperchens  sich  als  gesteigert  ergeben  würde,  oder  man  das  Bestehen 
von  llamiorjJohhiaemie  anzunehmen  gezwungen  wäre.  Für  beide  ^löglich- 
keiten  Hessen  sich  Anhaltspunkte  aus  dem  klinischen  Befunde  beibringen  — 
3Ie(jalohI asten,  Icteni>^  —  doch  möchte  ich  darauf  hinweisen,  dass  auch  unsere 
besten  auf  der  Klinik  zu  verblendenden  Apparate  zur  Haemoglobinbestim- 
mung  innerhalb  jener  Grenzen,  um  welche  es  sich  in  solchen  Fällen  handelt, 
zu  hohe  (bis  20  Procent)  Werthe  angeben.  So  scheint  uns  die  Vorstellung 
eines  relativen  Plus  an  Haemoglobin  im  Blute  häufig  eher  dem  Untersucher 
durch  den  mikroskopisch  erhobenen  Befund  von  Makrocyten.  Megaloblasten 
und  den  Icterus  suggerirt  zu  werden,  als  auf  sicherer  Basis  zu  beruhen. 
Die  Blutplättchen  finden  sich  meist  sehr  vermehrt. 

Aus  den  beigebrachten  Daten  ist  es  ersichtlich,  dass  die  Diagnose 
einer  progressiven,  perniciösen  Anaemie  immer  nur  eine  Wahrscheinliclikeits- 
Diagnose  sein  kann,  denn  sowohl  die  einfache  primäre  Anaemie.  wie  auch 
alle  secundäxen  Anaemien  können,  sofern  sie  diese  Intensität  erreichen, 
derart  schwere  Blutveränderungen  verursachen,  und  der  Arzt  wird  meist 
viele  der  für  die  letzten  giltigen  Ursachen  am  Krankenbette  nicht  mit 
Sicherheit  ausschliessen  können. 

Der  0  b  d u  c  t i  0  n  s  b  e  f  un  d,  welcher  erst  die  klinisch  vermuthungsweise 
gestellte  Diagnose  bestätigt,  ergibt  im  Wesentlichen  die  schon  oben  er- 
wähnten. Organveränderungen.  Einer  derselben  muss  jedoch  als  bisher  nur 
bei  den  schwersten  Formen  primärer  chronischer  Anaemie  betrottenen  noch 
besonders  Erwähnung  gethan  werden.  Es  sind  dies  die  neuerer  Zeit  be- 
schriebenen herdweisen  Blutungen  und  Degenerationsinseln  im  Paickenmarke 
und  besonders  den  Hintersträngen  desselben.  Die  klinischen  Symptome, 
welche  sich  aus  dem  Auftreten  einer  solchen  Haemorrhagie  ergeben  können, 
sind  nicht  Gegenstand  dieses  Aufsatzes.  Ihre  Pathogenese  ist  jedoch  den 
in  der  Retina  häufig  zu  beobachtenden  Blutungen  wahrscheinlich  gleichzu- 
stellen. 

Die  Prognose  dieser  Krankheit  ist,  wie  schon  der  Xame  sagt,  de- 
solat. Die  Therapie  derselben  wird  sich  weniger  an  die  allgemeine  The- 
rapie der  chronischen  Anaemien  überhaupt  anzuschliessen  haben  (s.  u.), 
sondern  ein  energisches  Vorgehen  analog  dem  bei  der  acuten  Anaemie 
erheischen  (s.  o.). 


ANAEMIE.  59 

ci  Die  Chliirose. 

Die  Chlorose  ist  eine  fast  ausschliesslich  bei  Madclieu  in  der  Puber- 
tätszeit vorkommende  allgemeine  Ernährungsstörung,  deren  bisher  be- 
kanntes Hauptsvmptom  neben  der  eigenthümlichen  oft  ins  Grünliche  spie- 
lenden Hautverfärbung  die  anaemische  Veränderung  des  Blutes  ist.  Sie 
zeichnet  sich  jedoch  sonst  auch  noch  klinisch  durch  eine  Reihe  von  Sym- 
ptomen von  anderen  Formen  der  Anaemie  aus.  Die  Aetiologie  dieser 
Erkrankung  ist  wie  die  aller  primären  Anaemien  völlig  dunkel.  Schlechte 
Existenzbedingungen  im  Allgemeinen  scheinen  mitunter,  so  bei  Fabriks- 
arbeiterinneu,  Näherinnen  etc.,  eine  aetiologische  Rolle  mitzuspielen,  doch 
ist  zu  bemerken,  dass  Chlorose  ebenso  häufig  auch  in  den  wohlhabendsten 
C'lassen  beobachtet  wird.  Ein  gewisser  Einfluss  scheint  der  Heredität  zu- 
zukommen. Die  von  Yirchow  geäusserte  Anschauung,  als  handle  es  sich  bei 
Chlorose  um  eine  Hypoplasie  des  gesammten  Gefässsystems,  kann  zweifel- 
los nur  für  einen  Theil  der  Fälle  Geltung  haben.  Auch  die  Annahme,  als 
liege  der  Chlorose  eine  Hypoplasie  des  Genitales  zu  Grunde,  kann  nicht 
aufrecht  gehalten  werden,  da  Chlorose  mit  infantilem  Uterus,  wie  auch  mit 
gut  entwickeltem  Genitale  beobachtet  wird. 

Neuerer  Zeit  hat  man  es  versucht,  die  bei  dieser  Erkrankung  regel- 
mässig bestehenden  Magenerscheinungen  in  den  Vordergrund  des  chloroti- 
schen  Krankheitsbildes  zu  drängen,  doch  muss  dieser  Versuch  als  miss- 
glückt angesehen  werden.  Abgesehen  davon,  dass  man  den  Chemismus  des 
Magens,  soweit  man  ihn  zu  untersuchen  im  Stande  ist,  mitunter  normal 
fand,  mitunter  eine  Hyper-  oder  Hypacidität  des  Magensaftes  constatiren 
konnte,  scheint  nur  ein  Moment  aus  dem  Blutbefund,  die  im  Serum  in 
normaler  Menge  vorhandene  Eiweissmenge.  gegen  diese  Theorie  zu  sprechen, 
wenn  man  bedenkt,  dass  gesteigerte  Consumption  überhaupt,  sei  es  durch 
Hunger,  chronischen  Marasmus  oder  acute  Infecuionskrankheiten,  zu  Eiweiss- 
verlusteu  des  Serums  führt.  ^Yenn  wir  deshalb  bisher  noch  keinen  Grund 
haben,  die  Chlorose  in  die  Zahl  der  secundäreu  Anaemien  einzureihen,  so 
können  wir  doch  das  Eine  mit  hoher  Wahrscheinlichkeit  als  sicher  an- 
nehmen, dass  der  Chlorose  kein  vermehrter  Zerfall,  sondern  eine  vermin- 
derte Neubildung  von  rothen  Blutkörperchen  zu  Grunde  liegt.  Diese  An- 
nahme wird  darin  begründet,  dass  im  Verlaufe  dieser  Erkrankung 
keinerlei  Zeichen  eines  Blutkörperchenzerfalles  (Icterus,  Haemoglobinurie) 
anzutreffen  sind. 

Das  klinische  Bild  der  Chlorose  weicht  in  mancher  Beziehung 
von  dem  der  übrigen  primären  Anaemien  ab.  Nicht  nur,  dass  das  meist 
noch  in  alter  Fülle  bestehende  Fettpolster  sie  von  der  einfachen,  primären 
Anaemie  unterscheidet .  so  ist  es  das  typische  Alter ,  die  auffällige, 
ins  Grünliche  spielende  Gesichtsfarbe,  sowie  die  oft  marmorweisse  Be- 
schaffenheit der  Haut,  eine  meist  mangelhafte  Entwicklung  der  Brüste 
und  Pubes,  sowie  Störungen  in  der  Menstruation,  sofern  dieselbe  bereits 
eingetreten  ist,  die  dem  ganzen  Bild  ein  charakteristisches  Gepräge  geben.. 
Eine  gesteigerte  Erregbarkeit  des  gesammten  Nervensystems,  welche  sich 
ebensowohl  durch  das  mehr  weniger  unmotivirte  Auftreten  starker  psychi- 
scher Aff'ecte.  wie  durch  fliegende  Röthe  des  Gesichtes,  sowie  durch  wech- 
selndes Hitze-  und  Kältegefühl  und  den  oft  plötzlichen  Ausbruch  von 
Schweiss  offenbart,  lässt  solche  Patienten  als  chlorotisch  sofort  vermuthen. 
Die  anamnestischen  Anhaltspunkte  sind  meist  sehr  spärlich  und  nichtssagend. 
Die  objective  Untersuchung  ergibt  ausser  den  schon  erwähnten  Symptomen 
und  ausser  dem  Blutbefund  jene  Symptomengruppe,  welche  für  Anaemie 
charakteristisch  ist,  nur  dass  besonders  die  Zeichen  von  Seite  des  Circu- 
lationsapparates   bei   Chlorose   sehr   ausgesprochen    zu    sein    pflegen. 


60  ANAEMIE. 

Die  anaemischeu  Geräusche  am  Herzen  sowie  die  Xonnengeräusche  an  den 
Venae  jiigiilares,  welche  von  einigen  Seiten  als  für  Chlorose  charakteri- 
stisch hervorgehoben  wurden,  welche  jedoch  ebenso  gut  auch  bei  anderen 
schweren  Anaemien  beobachtet  werden,  bilden  neben  dem  allgemeinen  Habitus 
das  bei  äusserer  Untersuchung  resultirende  Symptomenbild.  Magen-Darm- 
functionen  sind  meist  insoferne  gestört,  als  neben  dyspeptischeu  Beschwerden 
chronische  Stuhlträgheit  angegeben  wird.  Trotzdem  steht  die  letztere  wohl 
kaum,  wie  man  dies  vermuthet  hat,  zur  Chlorose  in  einem  genetischen  Zu- 
sammenhang. Auch  hier  wird  erst  der  Blutbefund  den  letzten  und  wich- 
tigsten diagnostischen  Anhaltspunkt  abgeben. 

Der  Blutbefund  bei  Chlorose  wurde  von  einer  grossen  Zahl  von 
Beobachtern  dahin  präcisirt,  dass  die  rothen  Blutkörperchen  zwar  oft,  doch 
nicht  immer,  in  der  Raumeinheit  vermindert  seien,  dass  dieser  Defect  jedoch 
weit  hinter  dem  an  Farbstoff  zurückstehe.  Diese  Angabe  bestätigt  sich  nach 
meinen,  so\\de  den  Erfahrungen  Anderer  durchaus  nicht  für  alle  Fälle  von 
Chlorose.  Nicht  nur.  dass  man  an  einem  entsprechend  grossen  Material 
findet,  dass  der  Blutfarbstoff  in  manchen  Fällen  vollkommen  gieichmässig 
mit  den  rothen  Blutkörperchen  in  der  Raumeinheit  abgenommen  hat,  muss 
auch  hier  hervorgehoben  werden,  dass  ein  relatives  üeberwlegen  der  Blut- 
körperchenzahl gegen  die  Menge  des  Blutfarbstoffes,  wie  oben  gezeigt 
wurde,  als  eine  Regenerationserscheinung  des  Blutes  überhaupt  bekannt  ist, 
dieser  Blutbefund  also  für  Chlorose  nichts  Charakteristisches  in  sich  bergen 
kann.  Die  weissen  Blutkörperchen  sind  bei  Chlorose  meist  weder  quantitativ 
noch  qualitativ  verändert.  Die  Alkalescenz  des  Blutes  ist  normal,  die  Dichte 
entsprechend  dem  Farbstoffmangel  herabgesetzt. 

Die  Diagnose  der  Chlorose  wird  sich  deshalb  neben  dem  Allgemein- 
befunde auf  die  Blutuntersuchung  nur  insofern  stützen  können,  als  über- 
haupt eine  anaemische  Blutveränderung  nachgewiesen  wird.  Ob  der  Blutfarb- 
stoff' gegen  die  Zahl  der  gefundenen  rothen  Blutkörperchen  relativ  vermin- 
dert ist,  wird,  sofern  überhaupt  Anaemie  besteht,  die  Diagnose  weder  stützen, 
noch  entkräften  können.  Xur  das  Eine  dürfte  aus  einem  solchen  Befunde 
sich  ergeben,  dass  die  Prognose  in  dem  speciellen  Falle,  wo  ein  relatives 
Minus  an  Farbstoff  gegen  die  vorhandene  Zahl  von  Blutkörperchen  nach- 
gewiesen wird,  wie  überhaupt  fast  immer  gut  ist,  indem  er  zeigt,  dass  das 
Blut  bereits  in  Regeneration  begriffen  ist. 

B.  Die  secundären  Anaemien. 

unter  secundären  Anaemien  verstehen  wir  jene  Zustände  von  Blut- 
körperchenverarmuug  des  Blutes,  welche  sich  an  bekannte,  mit  Hilfe  unserer 
Mittel  der  Diagnose  zugängliche  Krankheitsprocesse  anschliessen  und  er- 
fahrungsgemäss  in  diesen  begründet  sind.  Auch  hier  wird  die  Frage,  ob 
vermehrter  Zerfall  oder  verminderte  Neubildung  die  Ursache  der  beste- 
henden Anaemie  ist.  für  die  pathologische  Auffassung  von  Wichtigkeit  sein, 
eine  Frage,  welche  wir  in  der  Ueberzahl  der  Fälle  nicht  bestimmt  zu  be- 
antworten vermögen,  trotzdem  wir  vermuthen  müssen,  dass  häufig  beide 
Momente  neben  einander  wirksam  sein  dürften. 

Die  secundären  Anaemien  lassen  sich  im  Allgemeinen  von  dem  Gesichts- 
punkte, ob  ihre  Ursache  im  Körper  selbst  gelegen  oder  entstanden  ist, 
oder  ob  dieselbe  von  aussen  hinzugekommen  ist,  in  zwei  grosse  Gruppen, 
die  der  endogenen  und  exogenen  trennen,  wobei  wir  zu  den  ersteren  alle 
jene  Formen  von  Anaemie  hinzuzählen,  welche  sich  in  einem  schon  patho- 
logisch veränderten  Körper  in  Folge  der  bestehenden  Erkrankung  ent- 
wickeln, während  zu  den  letzteren  alle  jene  gezählt  werden  müssen,  welche 
sich  durch  äussere  Schädlichkeiten   wie    durch  Ansiedelung   von  Parasiten 


ANAEMIE.  61 

oder  Vergiftungen  auch  in  einem  bis  dahin  gesunden  Körper  zu  entwickeln 
vermögen.  . 

1.  Endogene  Ana  emien. 

Ehe  zur  Besprechung  jener  durch  pathologische  Vorgänge  im  Körper 
bedingten  Anaemien  geschritten  wird,  erscheint  es  nothwendig,  der  Mo- 
mente kurz  zu  erAvähnen,  welche  zu  den  physiologischen  zu  zählen 
sind  und  einen  Einfluss  auf  die  Blutkörperchenzahl  entfalten  oder  ent- 
falten sollen. 

Hieher  sind  zu  zählen: 

a)  Das  Geschlecht.  Diese  schon  ohen  erwähnte  Thatsache  ist  zweifellos  haupt- 
sächlich in  den  physiologischen  Blutverlusten  der  weiblichen  Individuen  innerhalb  der 
Geschlechtsperiode  begründet,  da  gesunde  junge  Mädchen  und  gesunde  alte  Frauen  diese 
Differenz  gegen  das  männliche  Geschlecht  nicht  erkennen  lassen. 

h)  Das  Alter.  Dieses  Moment  kommt,  abgesehen  vom  Blutbefund  bei  Neugeborenen, 
beim  weiblichen  Geschlecht  am  meisten  zur  Geltung  und  scheint  in  den  gleichen  Mo- 
menten begründet  zu  sein,  wie  die  des  Geschlechtes. 

c)  ErnährHiigszustcmd  und  Nahyungsaufnahyne.  Wenn  sich  auch  meist  ein  Ein- 
fluss einer  einmaligen  Nahrungsaufnahme  auf  die  in  der  Eaumeinheit  vorhandene  Zahl 
von  rothen  Blutkörperchen  nicht  nachweisen  lässt  und  wie  oben  'gezeigt  wurde,  auch 
die  experimentell  an  Menschen  und  Thieren  gewonnenen  Resultate  dafür  sprechen,  dass 
Hunger  oder  ungenügende  Ernährung  für  sich  allein  keine  Verminderung  der  rothen 
Blutkörperchen  verursachen,  so  lehren  doch  tausendfach  gemachte  klinische  Erfahrungen, 
dass  beim  Menschen  einerseits  die  Lebensbedingungen,  an  welche  sich  meist  Unterernäh- 
rung anschliesst,  Anaemie  zur  Folge  haben,  andererseits,  dass  solche  Individuen,  unter 
günstigere  Existenzbedingungen  gebracht,  relativ  rasch  wieder  ihre  alten  Blutkörperchen- 
werthe  erwerben.  Bemerkenswerth  sind  diesbezüglich  die  von  Stierlix  gemachten  Be- 
obachtungen, welcher  bei  Kindern  vor  und  nach  dem  Aufenthalt  in  Fei'iencolonien  mit- 
unter beträchtliche  Differenzen,  in  einem  Falle  einen  Unterschied  von  2-3i  Mill.  rother 
Blutkörperchen  pro  mm^  nach  Hebung  des  Allgemeinbefindens  constatiren  konnte. 

d)  Menstruation,  Schwangerschaft  und  Lactation.  Der  Einfluss,  welchen  die 
Menstruation  auf  die  Zahl  der  rothen  Blutkörperchen  ausübt,  lässt  sich  einem  mehr 
minder  starken  Blutverluste  gleichsetzen,  doch  gibt  der  Umstand,  dass  sich  der  Blut- 
verlust meist  auf  eine  grössere  Spanne  Zeit  ausdehnt  und  auch  häufig  nicht  erhebliche 
Grade  erreicht,  die  Erklärung  hiefür  ab,  dass  man  nach  oder  während  der  Menstruation 
oft  keinen  oder  keinen  erheblichen  Blutkörperchenverlust  gegen  die  vorher  erhobenen 
Werthe  nachzuweisen  .vermag. 

Der  Einfluss  der  Schwang irschaft  auf  die  Zahl  der  rothen  Blutkörperchen  bildete 
bis  vor  Kurzem  ein  viel  discutirtes  Thema.  Das  Bestehen  einer  sogenannten  Schwanger- 
schaftschlorose,  von  Einigen  behauptet,  von  Anderen  geläugnet,  ist  wohl  jetit  fast  allge- 
mein dahin  erklärt,  dass  wenn  eine  solche,  d.  h.  eine  relative  Blutkörperchenabnahme 
besteht,  dieselbe  nicht  der  Schwangerschaft  per  se,  sondern  den  für  Anstalts-Schwangere 
fo  häufig  geltenden  schlechten  Lebensbedingungen  überhaupt  während  der  Schwanger- 
schaft zuzuschreiben  ist.  Dass,  wie  dies  neuerer  Zeit  ausgesprochen  wurde,  schwächliche 
Individuen  durch  Gravidität  anaemisch  werden,  kräftige  jedoch  nicht,  ist  ja  wohl  ver- 
ständlich, sofern  unter  ,. schwächlich"  auch  anaemisch  verstanden  wird. 

e)  Tages-  und  Jahreszeit  übt,  wenn  nicht  überhaupt,  so  doch  mittelbar  einen  Ein- 
fluss auf  die  Zahl  der  Blutkörperchen  in  der  Eaumeinheit  des  Blutes  aus. 

/)  Der  Einfluss,  welchen  die  Seehöhe  auf  die  Zahl  der  rothen  Blutkörperchen  in 
der  Eaumeinheit  äussert,  ist  jüngst  bekannt  geworden  und  äussert  sich  in  einer  Zunahme 
derselben  für  die  Eaumeinheit.  Ob  dies  ein  Anpassungseffect  an  die  verdünnte  Luft 
oder  eine  Eindickungs-Erscheinung  des  Blutes  wegen  der  in  solchen  Höhen  bestehenden 
Trockenheit  der  Luft  ist,  dürfte  noch  nicht  entschieden  sein. 

g)  Dem  Aufenthalt   in   den    Tropen   wurde  ein  anaemisirender   Einfluss   wiederholt, 
zugeschrieben,    doch  ist  dies  neuerer  Zeit   dahin  richtig  gestellt  worden,    dass    demselben 
ein  solcher  nur  mittelbar,  durch  Malaria  oder  anderweitige  Erkrankung  zukommt. 

Von  den  e  n  d  o  g  e  n  e  n,  eine  A  n  a  e  m  i  e  e  r  z  e  u  g  e  n  d  e n  jM  o  m  e  n  t  e  n 
sind  hier  als  die  wichtigsten  folgende  zu  nennen: 

a)  I n f  e c t i 0 n s k r a n k h e i t e n. 

Es  gehört    mit    zu   den   ältesten  Erfahrungsthatsachen   der  ärztlichen 

Praxis,    dass   Individuen,   welche    eine    acute    oder    chronische   Infections- 

krankheit  tiberstanden  haben  oder  noch  an  einer  solchen  leiden,  anaemisch 

werden  können.  Trotzdem  sind  auch  diese  Anaemien,  sofern  sie  sich  nicht 


62  ANAEMIE. 

an  stattgehabte  Blutverluste  (Typhus  abd.)  oder  au  die  Blutkörperchen  sicht- 
bar destruirende  Lifectiouskraukheiten  Olalaria)  auschliessen,  in  ihrem 
Wesen  bisher  unverständlich.  Wenn  wir  nämlich  auch  guten  Grund  haben 
anzunehmen,  dass.  wie  bei  allen  Ernährungsstörungen  die  Blutkörperchen- 
Xeubildung  auch  bei  diesen  Krankheiten  darnieder  liegen  dürfte,  so  scheint 
trotzdem  das  für  die  nachfolgende  Anaemie  hauptsächlichst  massgebende 
Moment  nicht  hierin,  sondern  in  einem  vermehrten  Zugrundegehen  von 
rothen  Blutzellen  gelegen  zu  sein.  Immerhin  fehlt  uns  jedoch  nicht  nur  der 
sichere  Beweis  liiefür.  sondern  wir  wissen  auch  nicht,  was  für  Substanzen 
oder  durch  welche  Einflüsse  der  vermehrte  Zerfall  dieser  Zellen  be- 
wirkt wird. 

Der  Blutbefund  während  der  Fieberperiode  acuter  Infectionskrank- 
heiten  lässt  an  den  rothen  Blutkörperchen  oft  weder  der  Zahl  noch  ihrer 
Grösse  nach  Abweichungen  von  der  Xorm  erkennen.  Zweifellos  hat  die 
erstere  Erscheinung  häufig  in  Bluteindickungen  ihre  Ursache.  Als  einzigem 
pathologischen  Moment  begegnen  wir  nur  jenen  schon  oben  erwähnten  endo- 
globulären,  seltener  den  das  ganze  Blutkörperchen  betreffenden  Degene- 
rations -Erscheinungen,  welche  als  Folge  der  Anwesenheit  dieser  Zellen 
in  dem  pathologisch  veränderten  Blutplasma  aufzufassen  sind,  umsomehr 
als  dieses  auch  an  Blutkörperchen  Gesunder  die  gleichen  Wirkungen  ent- 
faltet. Blutfarbstoff'  und  Blutdichte  gehen  der  Zahl  der  vorhandenen 
rothen  Blutzellen  meist  parallel.  Die  Alkalescenz  des  Blutes  ist  während 
des  Fiebers  immer  herabgesetzt.  Die  weissen  Blutkörperchen  zeigen  wäh- 
rend der  Fieberperiode  acuter  Infectionskrankheiten  ein  verschiedenartiges 
Verhalten,  je  nachdem  ob  der  vorliegende  Process  mit  Exsudatiou  in  die 
Gewebe  verknüpft  ist  oder  nicht.  Im  ersteren  Falle  beobachtet  man  fast 
immer  eine  Zunahme  von  Leukocyten  im  kreisenden  Blute  {enf- 
zündliclie  Leul'ocytose),  im  letzteren  fehlt  eine  solche  oder  kommt  es  sogar 
zur  Verminderung  derselben  z.  B.  bei  Typhus  abd. :  die  Blutplättchen  zeigen 
meist  keine  Vermehrung. 

Fällt  das  Fieber  ab  und  hat  der  Patient  die  betreffende  Infection 
überstanden,  so  bemerken  wir  in  der  ersten  Zeit  meist  keine  anderweitige 
Aenderung  des  Blutbefundes,  als  dass  die  Leukocytose.  sofern  sie  be- 
standen hatte,  geschwunden  ist.  Häufig  erst  nach  ein  oder  zwei  Wochen 
nach  der  Entfieberung  können  wir,  so  z.  B.  nach  Typhus  abd.,  den  Beginn  der 
Blutkörperchen-Verarmung  des  Blutes  constatiren.  Diese  erreicht  gewöhnlich 
keine  sehr  hohen  Grade,  wie  wohl  auch  Fälle  bekannt  sind,  bei  welchen 
noch  während  des  Fiebers  die  rothen  Blutkörperchen  bis  auf  Werthe  unter 
1  ^Million  pro  mrn^  gesunken  waren.  Je  nach  der  Schwere  der  bestehenden 
Anaemie  werden  auch  die  endoglobulären  und  die  das  Gesammtblutkörper- 
chen  betreffenden  Degenerations-Erscheinungen  der  Zahl  nach  mehr  weniger 
ausgeprägt  sein.  Kernhaltige,  rothe  Blutkörperchen  gehören  hier  zu  den 
Seltenheiten,  ebenso  Mikrocytpn,  Makrocijten,  Polkiloci/fen  und  Megalohlasten. 
Auch  hier  begegnet  man  dem  schon  wiederholt  beschriebenen  Phänomen, 
dass  die  rothen  Blutkörperchen  im  Vergleich  zu  der  vorhandenen  Menge 
von  Blutfarbstoff'  relativ  zahlreich  sind. 

Die  Symptome  von  Seite  der  Orgaue  des  Körpers  zeigen  bei  post- 
infectiösen  Anaemien  nichts  für  diese  Charakteristisches.  Je  nach  der  Höhe 
der  bestehenden  Blutkörperchen- Verarmung  werden  im  Uebrigen  die  schon 
beschriebenen  Symptome  von  Seite  des  Herzens  etc.  zu  finden  sein. 

Die  Prognose  der  in  Piede  stehenden  Anaemie  ist  meist  günstig. 

Auch  chronische  Infectionskrankheiten.  von  welchen  hier  in  erster 
Linie  T  u  b  e  r  c  u  1  o  s  e  und  S  y  p  h  i  1  i  s  ins  Auge  gefasst  werden,  gehen  häufig 
mit  mehr  weniger  ausgebildeter  Anaemie  einher.    Wenn  auch  betreffs  der 


AXAEMIE.  03 

ersteren  uns  in  wiederholten  Blutverlusten  durch  die  Luftwege  häufig  eine 
Erklärung  für  eine  bestehende  Anaemie  gegeben  werden  kann,  so  fehlt 
diese  oft  und  man  pflegt  dann  häufig,  sofern  dies  angeht,  gleichzeitig  be- 
stehende Diarrhöen  als  Ursache  der  Blutveräuderung  zu  bezeichnen,  ohne 
zu  berücksichtigen,  dass  solche  fürs  erste  ein  Plus  von  rothen  Blut- 
körperchen durch  Bluteindickung  in  der  Raumeinheit  erzeugen,  wie  dies 
z.  B.  bei  Cholera  asiatica  schon  so  häufig  beobachtet  wurde.  Dass  der- 
artige Momente  jedoch  bei  der  Erzeugung  von  Anaemie  bei  Tuberculose 
von  relativ  untergeordneter  Bedeutung  sind,  dass  vielmehr  die  tuhercuJös? 
Infedion  cjua  se  schon  die  Blutkörperchen  zu  schädigen  vermag,  beweist 
die  tausendfältig  gemachte  Beobachtung,  dass  die  initialen  Formen  der 
Lungenphthise  so  häufig  unter  dem  Bilde  einer  Anaemie,  Pseudo-Chlorose, 
verlaufen  und  der  Arzt  erst  die  vom  Patienten  auf  Blutarmuth  bezogenen 
Zustände  als  auf  Spitzentuberculose  beruhend  erkennt.  Wodurch  diese  Er- 
scheinung bewirkt  wird,  ist  bis  heute  räthselhaft.  Es  soll  hier  nicht  ge- 
läugnet  werden,  dass  Darmtuberculose  ebenso  wie  viele  Darmerk r anhing eyi 
überhaupt  an  und  für  sich  gleichfalls  Anaemie  erzeugen  können,  doch  sei 
hier  betont,  dass  die  tuberculose  Infection  für  sich  ohne  Hilfe  secundärer 
Veränderungen  im  Darme  anal  die  gleiche  Wirkung  zu  entfalten  vermag, 
wie  sie  dies  z.  B.  bei  Drüsentuberculose,  der  sogenannten  Scrophulose,  oft  so 
deutlich  darthut.  Der  Blutbefund  lässt  bei  initialer  wie  chronischer  Tuber- 
culose, sei  es  der  Lungen  oder  Knochen,  eine  oft  nur  geringgradige  Ver- 
minderung der  rothen  Blutkörperchen  in  der  Raumeinheit,  mit  welcher  der 
Haemogiobingehalt  Hand  in  Hand  geht,  erkennen.  Die  weissen  Blutkörper- 
chen zeigen  bei  rein  tuberculöser  Infection  keine  Vermehrung.  Besteht 
jedoch,  wie  dies  z.  B.  bei  Lungentuberculose  fast  immer  der  Fall  ist,  eine 
Mischinfection  mit  Eiterung  erregenden  Mikroorganismen,  so  lässt  sich  eine 
meist  nur  massige  Leukocytose  nachweisen. 

Die  Prognose  der  tuberculösen  Anaemie  richtet  sich  nach  der  des 
bestehenden  Organleidens. 

Die  Frage,  ob  Syphilis  bei  Erwachsenen  Anaemie  erzeugen  kann,  ist 
bis  heute  noch  nicht  entschieden.  Einige  leugnen  dies  und  beziehen  sie, 
falls  eine  solche  besteht,  auf  die  eingeleitete  Hg.-Therapie,  für  welch' 
letztere  ein  anaemisirender  Einfluss  von  vielen  Seiten  jedoch  gleichfalls 
bestritten  wird.  Dem  Thatsächlichen  entspricht,  dass  bei  secundären  und 
tertiären  Formen  von  Syphilis  mitunter  Anaemie  zu  finden  ist,  welche  mit 
dem  Rückgange  der  syphilitischen  Symptome  gleichfalls  weicht,  also  eine 
Erscheinung,  welche  unbedingt  dafür  zu  sprechen  scheint,  dass  ein  gene- 
tischer Zusammenhang  zwischen  beiden  Momenten  besteht,  doch  ist  immer- 
hin auffallend,  dass  bei  der  weiten  Verbreitung  der  Syphilis  anaemische 
Zustände  bei  solchen  Personen  trotzdem  relativ  selten  sind.  Der  Blut- 
befund d  e  r  S  y  p  h  i  1  i  s  -  A  n  a  e  m  i  e  weicht  in  nichts  von  dem  einer  genug- 
gradigen  Anaemie  aus  anderer  Ursache  ab.  Eine  Leukocytose  besteht  meist 
nicht.  Ihre  Prognose  ist,  wie  erwähnt,  gewöhnlich  günstig. 


6;  St  off  Wechsel- Erkrankungen. 
(Diabetes  meUitus,  Gicht,  Scofbut,  Purpura  haemorrhagica,  Morbus  mac.  Werl- 
hoß,  Fettsucht,  Osteomalacie,  Addisson'sche  Krankheit ) 
Die  Mehrzahl  dieser  meist  unter  dem  Namen  der  ConsHtutionsanomaUen 
zusammengefassten  krankhaften  Processe  zeichnet  sich  dadurch  aus,  dass 
sie  als  solche  meist  keine  Anaemie  im  Gefolge  haben  und  überhaupt  auch 
dem  Blute  keinerlei  leicht  erkennbare  Zeichen  aufdrücken.  Nur  die  Blut- 
krankheiten, Haemopliilie,  Scorbut,  Morbus  mac.  WerJhofi  und  Purpura  lia"- 
morrhagica  gehen,  sei  es,  dass  sie  als  selbstständiges  Leiden  oder  nur  sym- 


64  ANAEMIE. 

ptomatiscli  auftreten,  regelmässig  mit  Anaemie  einlier,  deren  Intensität  von 
der  Grösse  der  stattgehabten  Blutverluste  abhängt.  Sie  ist  also,  sofern  sie 
überhaupt  nachweisbar  ist,  eine  posthaemorrhagische  Anaemie  und  trägt 
auch  alle  Kennzeichen  derselben. 

c)  K r e  b  s k r a n  k h  e  i  t  e  n. 

Wie  die  meisten  Formen  acuter  oder  chronischer  Cachexie,  übt  auch 
die  Krebs-Cachexie,  sei  es  in  Folge  von  Carcinom  oder  Sarkom,  einen  un- 
leugbaren Einfluss  auf  die  Zusammensetzung  des  Blutes  aus.  Abgesehen 
davon,  dass  bei  den  meisten  derartig  Kranken  e i n  V e r  1  u s t  des  Serums 
an  Eiweiss,  also  Hvdraemie,  nachweisbar  ist,  begegnet  man  der  Anaemie 
bei  solchen  Kranken  viel  zu  häufig,  um  nicht  einen  genetischen  Zusammen- 
hang derselben  mit  der  bestehenden  Erkrankung  annehmen  zu  müssen.  Ohne 
Rücksicht  auf  solche  Fälle,  wo  das  bestehende  Neoplasma  zu  Blutver- 
lusten führt  (Magen-  oder  Uteruscarcinom)  und  eine  secundäre  Anaemie 
dem  Arzte  dann  verständlich  erscheint,  tritt  dieselbe  ungemein  häufig 
auch  in  solchen  Fällen  auf,  wo  ein  derartiges,  die  Anaemie  erklärendes  Hilfs- 
moment nicht  besteht.  Besonders  scheinen  mir  Sarcome  die  schwersten 
Formen  secundärer  Anaemie  zu  erzeugen.  Die  Frage  nach  der  Ursache  solcher 
Anaemien  ist  bis  heute  nicht  gelöst.  Wenn  man  auch  weiss,  dass  ähnlich 
wie  beim  Fieber  eine  Alkalescenzabnahme  des  Blutes  und  ein  Eiweissver- 
lust  des  Serums  bei  Krebskranken  überhaupt  besteht,  so  besagen  diese 
Daten  nur  das  Eine,  dass  das  Blut  ebenso  wie  sämmtliche  Gewebe  des 
Körpers  von  der  allgemeinen  Consumption  mitbetroti'en  wird,  ohne  uns  über 
die  Ursache  desselben,  speciell  der  des  Blutkörperchenschwundes,  aufzu- 
klären. Dass  dieser  ebenfalls  in  erster  Linie  auf  vermehrten  Zerfall  und 
.nebenher  auf  verminderte  Neubildung  zurückzuführen  sein  dürfte,  ist  mehr 
als  wahrscheinlich. 

Der  Blutbefund  bei  der  secundären  Anaemie  der  Krebskranken 
kann  alle  Stadien  von  der  leichtesten  bis  zur  schwersten  Form  zeigen  und 
durchmachen.  Die  Charakteristica  desselben  richtet  sich  des  Weiteren 
nach  dem  Grade  der  bestehenden  Blutveränderung.  Der  Haemoglobin- 
gehalt  entspricht  meist  der  Zahl  der  gefundenen  rothen  Blutkörperchen, 
doch  wurden  besonders  bei  blutenden  Krebsarten  Befunde  beschrieben, 
welche  ein  relatives  Minus  an  Haemoglobin  gezeigt  haben, .  also  den  Blut- 
befund ähnlich  der  Chlorose  haben  erkennen  lassen.  Die  weissen  Blut- 
körperchen zeigen  ein  äusserst  wechselndes  Verhalten.  Oft  ist  ihre  Zahl 
normal,  mitunter  erniedrigt  und  dann  meist  innerhalb  enger  Grenzen  er- 
höht. Diese  Erhöhung  kann  jedoch  auch  ungewöhnlich  hohe  Grade  er- 
reichen. Die  Ursache  dieser  Leukocytose  scheint  mir  in  regressiven  Ver- 
änderungen der  Neubildung  wenigstens  in  einigen  Fällen  begründet  zu  sein. 
Die  Symptome  dieser  Formen  secundärer  Anaemie  decken  sich  mit  den 
wiederholt  für  Anaemie  als  charakteristisch  beschriebenen.  Die  Prognose 
derselben  tritt  neben  4er  des  Grundleidens  in  Hintergrund  und  hängt 
von  ihr  ab. 

d)  0  rgan  erkr  ankungen. 

Gehirn-  und  Rückenmarkserkrmikimgen  acuter  oder  chronischer  Natur  üben  als 
solche  keinen  Einfluss  auf  die  Zahl  der  rothen  Blutkörperchen  aus.  Sofern  Anaemie 
gleichzeitig  besteht,  hat  sie  entweder  bereits  vorher  bestanden  oder  ist  accidenteller 
Natur.  Erkrankungen  der  Luftwege.  Betreffs  dieser  wurde  bereits  auf  die  innigen  Be- 
ziehungen, welche  die  Lungentuberculose  zur  Anaemie  hat,  hingewiesen.  Die  croupöse 
Pneumonie  schliesst  sich  im  Allgemeinen  dem  über  den  Einfluss  von  acuten  lufections- 
Krankheiten  Gesagten  an.  Die  übrigen  Formen  von  Lungeuerkrankung  üben  als  solche 
keinen  Einfluss  auf  die  Blutkörperchenzahl  aus.  Nur  der  Lungenabscess  oder  ander- 
weitige mit  Eiterung  einhergehende  Erkrankungen  bedingen  wie  alle  Eiterungen  eine 
Zunahme  der  weissen  Blutkörperchen.    Die  gleichen  Verhältnisse  wie  bei  den  Lungen- 


ANAEMIE.  65 

affectionen  gelten  auch  im  Allgemeinen  bei  den  Pleuraerkrankuugen.  Die  Krankheiten 
des  Herzens  und  der  grossen  Gefässe  erzeugen  nie  Anaemie.  Man  findet  die  rothen 
Blutkörperchen,  wenn  überhaupt  ihrer  Zahl  nach  verändert,  in  der  Kaumeinheit  eher 
vermehrt  als  vermindert,  jedenfalls  konnten  bisher  noch  nie  irgendwelche  Zeichen  der 
für  einige  Formen  von  Herzfehler  von  Oektel  angenommenen  Plethora  serosa  gefunden 
werden.  Die  Erkrankungen  des  Magen-Darmcancds  bieten  ungemein  häufig  die  Quelle 
einer  bestehenden  Anaemie.  Nicht  nur,  dass  Blutverluste  wie  bei  Magencarcinom  oder 
Ulcus  rotundum  eine  solche  sehr  häufig  bedingen,  so  schliesst  sich  Anaemie  auch  sehr 
oft  an  jene  grosse,  unter  dem  Sammelnamen  des  chronischen  Magenkatarrhs  meist 
zusammengefasste  Krankheitsgruppe  an,  und  schwerste  Formen  von  Anaemie  wurden 
bei  Atrophie  der  Magendrüsen  beobachtet.  Nicht  minder  selten  finden  wir  diese 
Erscheinung  als  Folge  einer  chronischen  Dünn-  oder  Dickdarmentzündung  auftreten. 
Wenn  auch  die  Letzteren,  sofern  sie  acut  auftreten,  auf  das  Blut  je  nach  ihrer  Inten- 
sität einen  concentrirenden  Einfluss,  also  eine  Blutkörperchenzunahme  in  der  Raumeinheit 
verursachen,  bewirken  sie,  sobald  das  Moment  der  Wasserentziehung  wegfällt,  bei 
chronischem  Verlauf  sehr  häufig  Anaemie.  Zweifellos  spielt  bei  der  Genese  der  Anaemie  durch 
Magen-Darmerki'ankungen  die  bestehende  Unterernährung  die  Hauptrolle.  Ob  ausser- 
dem noch,  wie  wiederholt  vermuthet  wurde,  Giftkörper  aus  dem  Darmcanal  resorbirt 
werden,  welche  ein  vermehrtes  Zugrundegehen  rother  Blutkörperchen  bewirken,  ist  wohl 
behauptet,  bis  heute  jedoch  noch  nicht  bewiesen.  Erkrankungen  der  Leber  scheinen 
als  solche,  den  leukaemischen  und  Malaria-Lebertumor  ausgenommen,  meist  keinen  directen 
Einfluss  auf  die  Blutkörperchenzahl  zu  entfalten.  Bei  der  atrophischen  Form  der  Leber- 
cirrhose  fand  ich  mitunter  die  Zahl  der  Blutkörperchen  in  der  ßaumeinheit  gesteigert, 
was  mir  wegen  des  bestehenden  Ascites  als  Eindickungserscheinung  des  Blutes  gedeutet 
werden  zu  müssen  scheint.  Die  Erkrankungen  der  Milz  hier  auch  zu  erwähnen,  stösst 
insoferne  auf  Schwierigkeiten,  als  isolirte  Erkrankungen,  Vergrösserungen  dieses  Organs 
an  und  für  sich  selten  und  dann  wahrscheinlich  secundärer  Natur  sind  (Leukaemie,  sog. 
Psetidoleukaemie).  Acute  und  chronische  Nierenerkrankungen,  speciell  der  Morbus  Brighti 
in  seinen  verschiedensten  Foi'men,  sind  sehr  häufig  von  einem  Verlust  an  rothen  Blut- 
körperchen begleitet.  Ob  die  bei  allen  Formen  von  Nephritis  bestehende  Eiweissver- 
armung  des  Blutserums  bei  der  Aetiologie  dieser  Anaemie  eine  Rolle  spielt,  ist  wahr- 
scheinlich, doch  unbewiesen.  Eine  andere  Erklärungsursache  dieser  Anaemien  ist  uns 
jedoch  bis  jetzt,  sofern  nicht  Haematurie  besteht  oder  bestanden  hat,  nicht  geläufig. 
Die  Localisation  von  Erkrankungen  in  den  Geschlechtsorganen  übt  als  solche  keinen 
weiteren  Einflus  auf  die  Blutmischung  aus.  Blutverluste,  maligne  Neoplasmen  oder 
Eiterungen  werden  jedoch  auch  von  hier  aus  den  oben  für  solche  Vorkommnisse  be- 
schriebenen Blutbefund  verursachen  können.  Erkrankungen  der  Knochen  und  Gelenke 
können  je  nach  ihrer  Natur  auch  den  Blutbefund  modificiren. 

2.  Exogene  Anaemien. 

Aus  der  grossen  Fülle  von  Schädlichkeiten,  die  den  menschlichen  Körper 
von  Aussen  treffend  bei  ihm  Anaemie  erzeugen  können,  sollen  hier  nur  die 
für  die  Praxis  wichtigsten  herausgegriffen  werden. 

Es  sind  dies  vor  Allem  einige  Parasiten  und  ausserdem  einige  z.  T. 
als  Blutgifte  bezeichnete  Giftstoffe. 

a)  Parasiten. 

Änchylostomiim  duodenale.  (Nematoden.)  Im  Orient  häufig,  wurde  in 
den  letzten  Jahren  auch  in  Europa  besonders  bei  Erdarbeitern  beobachtet. 
Die  Infection  erfolgt  per  os;  der  Wurm  lebt  im  Dünndarm  und  nährt 
sich  vom  Blute  des  Wirthes.  Er  kann  auf  diese  Weise  die  schwersten  Grade 
von  Anaemie  erzeugen,  ähnlich  soll  auch  Amjuilulla  intestinalis  seu  stercorjxlis 
(Nematoden)  wirken.  Filaria  sanguinis  (Nematoden)  und  Distomitm  haenia- 
tohium  (Trematolen),  die  Ursache  der  Chylurie  und  Haematurie  der  Tropen, 
verursachen  in  derselben  Weise  Blutverluste  und  können  gleichfalls  schwere 
Anaemien  erzeugen. 

Bofriocephalus  latus  (Cestoden),  ein  Bandwurm  von  (3—8  Meter  Länge, 
hat  für  Europa  durch  sein  Vorkommen  an  den  Ufern  der  Ostsee  Bedeutung 
gewonnen.  Die  Art  und  W^eise  seiner  anaemisirenden  Wirkung  ist  unbekannt, 
doch  vermag   er   gleichfalls  schwerste  Formen  von  Anaemien  zu  erzeugen. 

Auch  andere  Taenien  können  mitunter  zweifellos  mehr  minder  schwere 
Formen  von  Anaemie  verursachen. 

Ribl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkiankheiten.  5 


6ö 


AXAEMIE. 


h)  Giftstoffe.    . 

Blei,  Arsen,  QiiecksiWer  stehen  seit  Langem  in  dem  Piufe.  l)ei  gewerbs- 
mässiger Beschäftigung  bei  dem  betreffenden  Individuum  Anaemie  zu  er- 
zeugen. Wie  weit  die  secundären  Ernährungsstörungen  (Stomatitis.  Gastritis. 
Enteritis)  bei  der  Genese  derselben  betheiligt  sind,  ist  noch  unentschieden, 
umsomehr  als  es  bisher  experimentell  nicht  gelungen  ist.  durch  acute  oder 
chronische  Vergiftungen  bei  Thieren  das  gleiche  Bild  zu  erzeugen.  Das- 
selbe gilt  für  die  praktisch  minder  wichtigen  Metalle  Silber,  Kiipfer,  ZinPc, 
Cadmium,  Antimon,   Mangan,   Chrom,  WismufJi,   Zinn  und   Gold. 

Phosplior  lässt  bei  acuter  Vergiftung  fürs  Erste  die  Blutkörperchen- 
zahl scheinbar  nnbeeinflusst,  vermag  sie  später  scheinbar  sogar  mit- 
unter zu  steigern,  wobei  jedoch  Diarrhöen  und  Erbrechen,  diese  Ver- 
mehrung vielleicht  mit  bedingen.  In  der  Reconvalescenz  nach  Phosphor- 
vergiftimg zeigen  die  Fälle  jedoch  häufig  leichtere  Grade  von  Anaemie. 
von  welcher  gleichfalls  noch  nicht  ausgemacht  ist,  ob  sie  Folge  der  be- 
stehenden Verdauungsstörung  oder  einer  specifischen  Wirkung  des  Phos- 
phors ist. 

Die  Cldorafe  werden  mit  vielen  Anderen  zu  den  echten  Blutgiften 
gerechnet.  Sie  verwandeln  im  Blutkörperchen  das  Oxyhaemoglobin  in 
Methaemoglobin,  worauf  das  Blutkörperchen  zerfällt.  Anaemie  kann  bei  Ver- 
giftung mit  dieser  und  ähnlichen  Substanzen  nur  nach  subacuten  oder 
chronischen  Vergiftungen  eintreten,  worauf  jedoch  das  klinische  Bild  durch 
die  secundären  Merenveränderungen  sehr  getrübt  ist.  Ein  Gleiches  gilt 
noch  für  einige  z.  T.  in  der  Fiebertherapie  beliebte  Stoffe,  das  Anfifebrin, 
Thallin,  Phenacetin  und  das  Amijlnitrit,  sowie  eine  grosse  Gruppe  anderer 
Körper,  wie  der  Amoniakderivate  {Hydroxylamin  etc.)  u.  a. 

Das  Kohlenoxijdgas  trennt  sich  insoferne  von  cliesen  Stoffen  ab,  als 
es  das  normale  Oxyhaemoglobin  nicht  in  Methaemogiobin,  sondern  in  ein 
specifisches  Product.  das  Kohlenoxydhaemoglobin  verwandelt.  Acute  Ver- 
giftungen mit  dieser  Substanz  können  gleichfalls  in  der  Pteconvalescenz  das 
Symptom  der  Anaemie  zeigen,  doch  sind  wir  über  das  Entstehen  derselben 
noch  unklar,  als  ^^ir  nicht  wissen,  ob  das  mit  CO  vergiftete  Blutkör- 
perchen nachträglich  zu  Grunde  geht  oder  bei  Erhaltung  seiner  Lebens- 
functionen  sich  des  Giftes  entledigt.  Die  solchen  Vergiftungen  folgenden 
Anaemien  sind  meist  geringgradig  und  gewöhnlich  ausserdem  noch  mit 
anderen  Organveränderungen  (Xieren,  Lungen)  complicirt. 

Therapie  der  chronischen  Anaemie. 

Die  Therapie  der  secundären  chronischen  Anaemie  weicht  inso- 
ferne von  der  der  primären  ab,  als  diese  vor  Allem  das  Anaemie  er- 
zeugende Krankheitsmoment  zu  berücksichtigen  hat.  Ist  dies  jedoch  erfolg- 
reich geschehen,  so  bieten  primäre  und  secundäre  Anaemie  dem  Arzte  die 
gleiche  Aufgabe,  die  vorhandene  Blutanomalie  zu  beheben.  Bösartige  Neu- 
bildungen, Parasiten  wercFen  entfernt  werden  müssen,  Syphilis,  Tuberculose 
und  Intoxicationen  ihre  speciellen  Antidota  oder  anderweitige  Massnahmen 
erfordern  und  erst  wenn  dies  geschehen  ist.  tritt  die  früher  untergeordnete 
Bedeutung  der  Anaemie  in  ihre  Eechte  und  erheischt  besondere  Mass- 
nahmen. 

Neben  der  Hebung  der  allgemeinen  Existenzbedingungen 
des  Individuums,  welche  sich  ebensowohl  auf  Kost,  wie  auf  Wohnung, 
Arbeitsverhältnisse  etc.  erstrecken,  kommen  bei  Behandlung  chronischer 
Anaemien.  vor  Allem  zwei  Stoffe,  das  Eisen  und  das  Arsen,  in  den  ver- 
schiedenartigsten Gestalten  in  Betracht.  Trotzdem  die  Frage  über  das 
Wie  der  Beeinflussung  der  Piegenerationsvorgänge    des  Blutes  durch  diese 


ANAEMIE.  67 

zwei  Stotfe  noch  völlig  dunkel  ist,  bleibt  sie  trotzdem  eine  durch  tausend- 
fältige klinische  Beobachtung  erhärtete  Thatsache.  So  sicher  Eisen  und 
Arsen  die  beiden  souveränen  Mittel  sind,  so  ist  eine  stricte  Indications- 
stellung  im  gegebenen  Falle  für  eines  derselben  schon  deshalb  unmöglich, 
weil  wir  über  ihre  Wirkungsweise  nichts  Positives  wissen.  Beide  Substanzen 
können  im  einzelnen  Falle  wirksam  scheinen,  jedoch  auch  beide  im  Stiche 
lassen.  Die  sicherste  Indication  scheint  unter  den  primären  Anaemien  die 
Chlorose  zu  haben,  bei  welcher  die  Eisenwirkung  fast  sprichwörtlich  ge- 
worden ist.  Die  Form,  in  welcher  dasselbe  gereicht  wird,  scheint  von  unter- 
geordneter Bedeutung.  Der  grössten  Beliebtheit  erfreuen  sich  bis  jetzt  noch 
die  sogenannten  BLAUo'schen  Pillen  (Ferr.  siüfur.,  Kah  carhon.  pur. 
fTa  lö'O  in  pill.  Ko.  100).  Im  Uebrigen  wurde  das  Eisen  zum  innerlichen 
Gebrauche  noch,  meist  mit  nicht  geringerem  Erfolge  als,  Ferr.  carbonicum. 
lacticum,  citricum,  diah/satmn,  peptoyiatum,  albuminatitm  etc.  etc.  angewandt. 
Eine  stricte  Indication  für  ein  oder  das  andere  Präparat  hat  auch  die 
klinische  Erfahrung  nicht  ergeben  und  der  Arzt  wird  nicht  selten  gezwungen 
sein,  falls  das  eine  oder  andere  Präparat  „nicht  vertragen"  wird,  zu  einem 
anderen  zu  greifen,  ohne  sich  von  bestimmten  theoretischen  Vorstellungen 
leiten  lassen  zu  können,  indem  er  sich  vielmehr  nur  auf  seine  subjectiven 
Erfahrungen  stützt.  Ausser  der  medicamentösen  Application  des  Eisens,  zu 
welcher  übrigens  auch  die  Darreichung  der  zahlreichen  in  den  Handel 
gebrachten  Eisensyrupe  und  ähnlicher  Präparate  zu  zählen  ist,  verdient  die 
ungemein  alte  therapeutische  Methode,  Blutarmen  Blut  zu  trinken  zu  geben, 
hier  eine  Erwähnung.  Das  noch  an  einigen  Orten  geübte  Verfahren,  noch 
warmes,  dem  eben  geschlachteten  Thiere  entströmendes  Blut  von  Anaemi- 
schen  trinken  zu  lassen,  hat  nur  den  einen  Nachtheil,  dass  der  Ueberzahl 
der  Patienten  das  Blut  Magenbeschwerden,  Ekel  und  Ueblichkeiten  veran- 
lasst. Nicht  minder  gilt  dies  von  jenen  mitunter  als  Eisenpräparate  ge- 
reichten Blutpräparaten,  wie  Treftma  und  den  Hae^nogloUnpastillen.  Wenn 
das  Eisen  in  der  im  Blute  vorhandenen  Verbindung  im  Körper  thatsäch- 
lich  die  gleiche  Wirkung  zu  entfalten  mag,  als  wie  in  anorganischer,  dann 
weiss  die  alltägliche  Küchenerfahrung  Blut  jedenfalls  schmackhafter  zuzu- 
bereiten. Viel  grössere  Berechtigung  scheint  die  Darreichung  eisenhaltiger 
Mineralwässer  in  Curorten  zu  haben,  da  sich  hier  auch  die  allgemein 
hygienischen  Verhältnisse  der  Patienten  meist  wesentlich  bessern.  Die  ver- 
schiedenen Eisen-  und  Stahlquellen,  wie  Franzenshad,  Königswart, 
Marienbad,  König  Otto-Bad,  Pyrmont,  Reinerz  etc.  etc.,  von  welchen  jedes 
Land  fast  seine  eigene  aufzuweisen  hat,  dürften  sich  in  ihrer  Wirksamkeit 
nicht  viel  unterscheiden. 

Eine  in  gewissem  Sinne  gesonderte  Stellung  nehmen  die  Wässer  von 
Leoico,  Roncegno  und  die  bosnische  Guberquelle  ein,  als  sie  neben  dem 
Eisen  noch  einen  meist  schwankenden  Gehalt  an  Arsen  besitzen.  Gerade 
diese  haben  sich  neben  der  Sol.  arsenic.  Fowleri  in  letzter  Zeit  unter  den 
Aerzten  viele  Freunde  erworben,  u.  zw.  besonders  in  jenen  Fällen,  "b^i 
welchen  sich  die  einfache  Eisendarreichung  als  unwirksam  erwiesen 
hat.  Es  ist  vorwiegend  ein  Verdienst  der  Engländer,  das  Arsen  in 
die  Therapie  der  Anaemie  eingeführt  zu  haben.  Demselben  können  eben- 
sowenig wie  dem  Arsen  stricte  Indicationen  zugeschrieben  werden,  doch 
gilt  im  Allgemeinen  die  alte  bei  Arsenikesseru  und  in  der  Thierzucht  ge- 
machte Erfahrung,  dass  nicht  nur  das  Allgemeinbefinden  und  Aussehen  nach 
Arsendarreichung  sich  bessert,  sondern  dass  auch  besonders  schwere  anae- 
mische  Zustände  durch  Arsenikgebrauch  der  Genesung  zugeführt  werden 
können. 

Bei  den  meisten,    nicht   allzu  schweren  Formen  chronischer  Anaemie 

5* 


68  ANAEMIEN  IM  KINDESALTER. 

ist  schon  kurze  Zeit  nach  Beginn  der  Eisen-  oder  Arsendarreichimg  eine 
Besserung  des  Allgemeinbefindens  und  des  objectiven  Blutbefundes  zu  con- 
statiren.  Besonders  die  Zahl  der  rothen  Blutkörperchen  kann  innerhalb 
2 — 3  Wochen  schon  das  Doppelte  der  Anfangszahl  erreichen,  so  dass  der 
therapeutische  Effect  der  eingeleiteten  Therapie  sehr  deutlich  zu  sein 
scheint.  Nur  zu  häufig  stellen  sich  jedoch  bei  längerem  Gebrauche  dieser 
Stoffe  Störungen  von  Seite  des  Digestionstractus  ein,  welche  ein  Aussetzen 
des  betreffenden  Mittels  veranlassen  und  oft  von  Recidiven  der  Anaemie 
gefolgt  sind. 

Wenn  die  bisher  erwähnten  Massnahmen  für  primäre  chronische  Anae- 
mien  oder  auch  für  secundäre,  sofern  ihre  Ursache  entfernt  wurde,  Geltung 
haben,  so  werden  trotzdem  noch  letztere,  sofern  sie  mit  einer  chronischen 
Erkrankung,  z.  B.  Syphilis,  Malaria,  chronischen  Darmkatarrhen  u.  s.  w.. 
complicirt  sind,  eine  specielle  Behandlung,  vne  die  Darreichung  von  Jodkai i, 
Chinin,  Opiaten  etc.,  erheischen.  Auch  die  lästigen  Obstipationen,  sowie  die  dys- 
peptischen  Erscheinungen,  welche  die  Anaemie  so  häufig  begleiten,  werden 
specielle  Indicationen  ergeben.  Die  extremsten  Formen  von  Anaemie  müssen 
ausserdem  ebenso  wie  die  acute  Anaemie  die  Frage  der  Trans-  oder  In- 
fusion von  Blut  in  Erwägung  ziehen  lassen.  Dass  bei  der  Wahl  zwischen 
diesen  beiden  Methoden  der  subcutanen  Infusion  nach  Ziemssen  der  Vor- 
zug vor  der  Transfusion  wird  eingeräumt  Averden  müssen,  wurde  schon 
oben  erwähnt. 

Zum  Schlüsse  sei  hier  noch  einer  alten,  jüngst  jedoch  wieder  em- 
pfohlenen Methode  der  Behandlung  von  chronischen  Anaemien  gedacht, 
des  Aderlasses.  So  paradox  dies  auch  klingen  mag,  so  hat  sich  Wilhelmi 
neuerdings  doch  auf  Grund  seiner  Beobachtungen  mit  einer  solchen  Wärme 
für  wiederholte  kleinere  Aderlässe  bei  Anaemien  eingesetzt,  dass  hier 
nicht  nur  Autosuggestion  vorzuliegen  scheint.  Ich  selbst  hatte  Gelegenheit 
bei  3  Fällen  von  Chlorose,  kleine  Aderlässe  (30 — 40  cm^)  zu  machen,  und 
muss  bestätigen,  dass  ohne  weitere  therapeutische  Massnahmen  sich  sowohl 
ihr  subjectives  Befinden,  wie  der  objective  Blutbefund  besserte. 

V.  LIMBECK. 

Anaemien  im  Kindesalter.  Anaemische  Zustände  treten  im  frühe- 
sten Kindesalter  relativ  häufiger  im  Gefolge  verschiedener  Krankheiten 
auf,  als  dies  bei  Erwachsenen  der  Fall  zu  sein  pflegt.  Jedenfalls  ist  es  vom 
praktisch-klinischen  Standpunkte  nothwendig,  auch  die  Anaemien  dieser 
Altersperiode  in  zwei  Gruppen  einzutheilen,  in  primäre  und  secundäre. 
Das  Princip  dieser  Eintheilung  ist  theilweise  auf  ätiologische,  theil- 
weise  auf  klinische  Momente  basirt.  Tom  ätiologischen  Standpunkte 
nennen  wir  jene  Anaemie  primär,  von  der  wir  die  Ursache  überhaupt  nicht 
kennen,  eventuell  auch  in  obductione  keinen  Grund  für  den  schweren  anae- 
mischen  Zustand  zu  constatiren  vermögen.  Hierher  gehört  die  Anaemia 
perniciosa,  von  welcher  auch  für  das  Kindesalter  einige  Beobachtungen 
vorliegen,  hierher  wäre  ferner  die  Anaemia  splenica  Somma's  zu  rechneu. 
und  schliesslich  dürfte  sich  hiezu  die  Anaemia  infantum  pseudoleucaemica 
gesellen.  Als  secundäre  Anaemien  wären  sodann  jene  anaemischen  Zustände 
zu  bezeichnen,  deren  Auftreten  auf  irgend  eine  bestehende  oder  vorange- 
gangene Krankheit  zu  beziehen  möglich  ist.  Hierher  wären  zu  zählen: 
die  im  Kindesalter  so  häufig  an  Darmerkrankungen  sich  anschliessenden 
Anaemien,  die  Anaemie  der  rachitischen  und  jene  der  hereditär  syphili- 
tischen Kinder.  — 

Bei  der  Festhaltung  dieses  ätiologischen  Principes  in  der  Eintheilung 
der  Anaemien  wird  man  nicht  selten  auf  Schwierigkeiten  stossen.  Es  kommen 
nämlich  sehr  häufig  Anaemien  vor,  bei  denen  zwar  zur  Zeit  keine  Grund- 


ANAEMIEN  IM  KTNDESALTER.  69 

kraukbeit  oder  nur  Rudimente  derselben  zu  constatiren  sind,  anderseits 
unzweifelhaft  anamnestiscbe  Erbebungen  oder  directe  Untersucbung  er- 
geben, dass  das  Individuum  einen  schweren  Krankheitspro cess  (Rachitis, 
Lues  etc.)  durchgemacht  hat. 

Viel  richtiger  erscheint  aus  diesem  Grunde  das  Eintheilungsprincip 
der  Anaemien  nach  dem  vorliegenden  klinischen  Bilde.  Ist  die  Anaemie 
nur  eine,  wenn  auch  nicht  nebensächliche  Begleiterscheinung  des  dem  Arzte 
zur  Beobachtung  kommenden  Krankheitsbildes,  so  wird  er  von  einer  secun- 
dären  Anaemie  zu  sprechen  das  Recht  haben,  tritt  jedoch  die  Anaemie  in 
den  Vordergrund  und  beherrscht  sie  den  klinischen  Symptomencomplex, 
so  hat  die  Bezeichnung  „primäre  Anaemie",  recte  „selbstständige  Blutalte- 
ration" entschiedene  Berechtigung. 

Die  Ursachen,  aus  denen  der  anaemische  Zustand  i.  e.  die  Erkrankung 
des  Blutes  die  übrigen  vorhandenen  pathologischen  Erscheinungen  dominirt, 
sind  variabler  Art.  Es  geschieht  dies  zunächst  dann,  wenn  eben  Krankheits- 
symptome von  Seiten  anderer  Orgaue  fehlen,  wobei  die  Verminderung  der 
rothen  Blutzellen  und  des  Haemoglobingehaltes  nicht  gerade  den  höchsten 
Grad  zu  erreichen  braucht  (Anaemia  traumatica,  Anaemia  spleyiica  Somma). 
Die  zweite  Möglichkeit  ergibt  sich  in  jenen  Fällen,  in  denen  die 
Abnahme  der  in  der  Raumeinheit  vorhandenen  zelligen  Elemente  das  hervor- 
stechendste pathognomische  Merkmal  des  Krankheitsbildes  darstellt  und 
sich  eine  Reihe  von  Symptomen  auf  diesen  Ausfall  der  Sauerstoffträger 
zurückführen  lassen,  obgleich  nebstdem  eine  Grundkrankheit  mit  ihren  Er- 
scheinungen vorliegt.  (Anaemie  hei  Rachitis,  Anaemie  hei  hereditärer  Lues.) 
Die  dritte  Eventualität  endlich  betrifft  Krankheitstypen,  bei  denen  ab- 
gesehen von  der  verminderten  Zahl  rother  Blutkörperchen  —  gerade  diese 
tritt  oft  nicht  in  den  Vordergrund  —  andere  Eigenthümlichkeiten  des  Blut- 
befundes, wie  das  Auftreten  zahlreicher  kernhaltiger  Erythrocyten,  die 
Polychromatophilie  der  rothen  Blutzellen,  oder  die  begleitende  Leucocytose 
die  Berechtigung  ertheileu,  von  einer  „primären  Anaemie",  oder  richtiger 
gesagt,  von  einer  „selbstständigen  Bluterkrankung"  zu  sprechen.  (Anaeinia 
infantum  pseudoleucaemica  (Luzet,  Weiss),  Anaemia  syphilitica  (Loos.)  In 
allen  jenen  Fällen,  wo  keine  der  genannten  Bedingungen  zutrifft,  ist  die 
Annahme  einer  secundären  Blutalteration  (secundäre  Anaemie)  gerecht- 
fertigt. Vorstehende  Bemerkungen  sind  die  Consequenz  der  in  der  relativ 
jungen  haematologischen  Literatur  des  Kindesalters  niedergelegten  That- 
sachen,  inwieferne  eine  Correctur  dieses  Schemas  nothwendig  sein  dürfte, 
wird  erst  zukünftige  Forschung  lehren  können. 

Ein  näheres  Eingehen  auf  die  Art,  in  der  nach  gegenwärtig  herr- 
schenden Anschauungen  das  Zustandekommen  anaemischer  Zustände  ge- 
dacht wird,  dürfte  zur  Erläuterung  dieses  Eintheilungsschemas  dienen. 

Bei  der  einfachen  Anaemie  durch  Blutverlust,  wie  einen  solchen  Fall 
aus  dem  frühesten  Kindesalter  Schiff  mittheilte,  ist  die  Art,  in  der  die 
Verminderung  der  Zahl  der  rothen  Blutzellen  in  der  Raumeinheit  zu  Staude 
kommt,  wohl  klar.  Viel  schwieriger  ist  die  Frage  bei  den  übrigen  Anaemieli. 
Entweder  muss  man  eine  verminderte  oder  gehemmte  Bildung  der  rothen 
Blutzellen  annehmen,  oder  man  sieht  sich  gezwungen,  eine  vermehrte  Z  er- 
ster ung  dieser  Elemente  zu  supponiren.  Die  erstgenannte  Anschauung  theilen 
die  meisten  Autoren,  gleichgiltig  ob  sie  nun  einen  einheitlichen  Ausgangs- 
punkt für  rothe  und  weisse  Blutzellen  (einkernige  Mutterzellen)  annehmen 
und  so  die  rothen  Blutzellen  aus  den  kernhaltigen  Erythrocyten  her- 
vorgehen lassen  (Müller,  Wertheiji).  oder  ob  sie  dieselben  aus  den 
Haematoblasten  Hayem's  entstanden  glauben  {die  fanzösische  Schule).  Die 
zweite  Ansicht  vertritt  Maragliaxo.  Dieser  Forscher  nimmt  bei  verschiedenen 


70  ANAEMIEN  IM  KINDESALTER. 

Krankheiten  eine  verschieden  wirkende  necrobiotische  Kraft  des  Serums  an. 
wodurch  die  rothen  Bhitzellen  zerstört  werden,  wenngleich  der  Grad  ihrer 
eigenen  Festigkeit  sich  dieser  Zerstörung  hemmend  entgegenstellt. 

MoNTi   und  Berggrün  haben   eine   neue    Eintheilung   der  Anaemien 
vorgeschlagen.  Sie  unterscheiden: 
I.  Anaemi a  clwonica  levis: 

a)  Anaemia  chronica  levis  simplex^ 

b)  Anaemia  levis  cum  Leucocijfosi. 
II.  Anaetnia  chronica  gravis: 

a)  Anaemia  chronica  gravis  siAnplex, 
a)   Chlor osis, 

c)  Anaemia  gravis  cum  Leucoojtosi. 
in.  Anaemia.  pseudoleucaemica. 

IV.  Leucaemia. 
V.  Anaemica  jyerniciosa. 

Die  „schweren  Anaemien"  unterscheiden  sich  nach  dem  Schema  der 
genannten  Autoren  von  den  „leichten  Anaemien"  nicht  nur  hinsichtlich 
des  Zählbefundes  (bedeutend  stärkere  Verminderung  der  rothen  Blut- 
zellen mit  gleichzeitiger  Herabsetzung  der  Blutdichte  und  des  Haemo- 
globingehaltes),  sondern  auch  in  Bezug  auf  das  histologische  Blutbild 
(Form  und  Grösseveränderung  der  rothen  Blutkörperchen.  Auftreten  zahl- 
reicher kernhaltiger  Erythrocyten). 

LuzET  theilt  die  Anaemie  in  eine  solche  ohne  und  solche  mit  Milz- 
tumor. Diese  Eintheilung  hängt  mit  der  Blutbildungstheorie  der  Hayem- 
schen  Schule  zusammen.  Die  französischen  Autoren  peroriren  nämlich  die 
Lehre,  dass  das  Auftreten  kernhaltiger  Blutzellen  im  circulirenden  Blute 
als  ein  Wie  der  erwachen  der  embryonalen  Blutbildung  in  Leber 
und  Milz  zu  deuten  sei.  Nach  Luzet  entstehen  die  kernhaltigen  Erythro- 
cyten (CeUules  rouges)  innerhalb  gewisser  endothelialer  Zellen  in  den  nor- 
malen Blutbildungsstätten  und  gelangen  von  da  aus  in  den  Blutstrom.  Bei 
der  poste  mbry  onalen  Blutbildung  entwickeln  sich  die  kernlosen  rothen 
Blutzellen  ausschliesslich  aus  Blutplättchen  (Hayems  Haematoblastm),  nie 
gehen,  wie  die  deutschen  Autoren  lehren,  kernlose  Blutkörperchen  aus  kern- 
haltigen hervor.  Die  schweren  Anaemien  sind  deshalb  immer  mit  Milz- 
schwellung verbunden.  {Anemie  megaJospk'nique.)  Diese  ist  nach  Luzet  das 
klinisch  nachweisbare  Kennzeichen  des  Wiedererwachens  embryonaler  Blut- 
bildung. Die  Anemie  simple  bei  Magendarmaffectionen,  bei  Tuberculose  und 
Rachitis  leichteren  Grades  bietet  nebst  der  Verminderung  rother  Blutzellen 
keine  oder  nur  spärliche  kernhaltige  Erythrocyten  und  zeigt  keine  be- 
deutende Milzschwellung.  Die  schweren  Anaemien  dagegen  sind  klinisch 
durch  den  Milztumor  charakterisirt,  zeigen  stets  zahli  eiche  CeUules  rouges 
nebst  bedeutender  Leucocytose  und  entwickeln  sich  nicht  selten  auf  dem 
Boden  der  Rachitis  oder  der  hereditären  Lues,  d.  h.  im  Gefolge  dieser 
Krankheiten  kann  das  Wiedererwachen  der  embryonalen  Haematopoese 
die  eben  erwähnte  Blutalteration  erzeugen.  Dasselbe  pathogenetische  Moment 
muss  Luzet  für  die  Anaemia  infantum  pseudoleucaemica,  die  er 
als  Morbus  sui  generis  auffasst,  annehmen,  wenngleich  die  Aetiologie  dieser 
Krankheit  noch  wenig  geklärt  erscheint. 

Sieht  man  von  allen  theoretischen  Erörterungen  ab,  so  dürften  wohl- 
die  meisten  Autoren  über  folgende  Thatsache  einig  sein:  Bei  derselben 
Grundkrankheit  können  leichte  und  schwere  anaemische  Zustände 
auftreten.  Weder  der  Rachitis  noch  der  Lues  kommt  ein  specifisches,  nur 
für  diese  Krankheiten  allein  charakteristisches  Blutbild  zu 
Der   Terminus    „Schwere   Anaemie"     deckt    sich    aber    nicht    vollkommen 


ANAEMIEN  IM  KINDESALTER.  71 

mit  dein,  was  mau  bei  Erwacliseuen  als  Änaemia  gracis  zu  l)ezeic'linen 
pflegt.  Die  schweren  anaemischen  Zustände  des  Kindesalters  sind 
nicht  ausschliesslich  durch  die  excessive  Herabminderung  der  rothen  Blut- 
körperchenzahl, sondern  auch  durch  das  Auftreten  mannigfache  Grössen- 
und  Formdiö'erenzen  darbietender  Zellelemente  gekennzeichnet. 

Es  erübrigt  jetzt  nur  noch  über  zwei  Krankheitsbegriffe  zu  sprechen,  die 
sich  in  der  haematologischen  Literatur  des  Kindesalters  eingebürgert  haben : 
über  die  Änaemia  infantum  pseudoleucaeniica  und  die  Änaemia  splenica. 

Für  die  Diagnose  der  Änaemia  infantum  p^eudoIeHcaemica  verlangt 
V.  Jaksch  folgeudeKennzeichen :  „ 01igochromaemie,C)ligocythaemie,  hochgradig 
dauernde  Leucocytose,  Milztumor,  bisweilen  Schwellung  der  Drüsen,  ge- 
ringere Schwellung  der  lieber".  Luzet  und  Weiss  dagegen  beansprucheii 
den  Terminus  Anaem.  infant.  pseudoleucaeniica  für  Krankheitstypen  mit 
genau  ch  arakterisirtem  histologischen  Blutbef  iinde.  In  Schlag- 
worten lässt  sich  letzterer  folgendermassen  kennzeichnen:  „Bedeutende  Ver- 
minderung der  rothen  Blutzellen,  mehr  oder  minder  auffällige,  stets  poly- 
morphe Leucocytose,  sehr  reichliche  kernhaltige  Blutzellen  von  dem  Typus 
der  Megalo-,  Meso-  und  Mikroblasten,  viele  davon  gleichzeitig  Poikiloblasten. 
zahlreiche  von  ihnen  in  Kariokinese,  ferner  bedeutende  Poikilocytose  und 
endlich  sehr  charakteristische  Polychromatophilie  vieler  kernloser  rother 
Blutzellen".  Nicht  die  Einzelheiten,  sondern  die  Gesammtheit  dieses  Blut- 
befundes sind  so  charakteristische,  dass  ein  eigener  Terminus  wie  jener  der 
Änaemia  infantum  pseudoleucaeniica  zwar  nicht  treffend  gewählt,  aber  doch 
berechtigt  erscheinen  muss. 

MoNTi  und  BergCtEün  äussern  sich  in  ihrer  zusammenfassenden  Dar- 
stellung über  die  Änaemia  infantum  pseudoleucaemia  sehr  reservirt  und 
meinen,  dass  die  Anzahl  der  bisher  beobachteten  Fälle  mit  detaillirtem 
Blutbefunde  noch  immer  zu  gering  sei,  „um  in  dieser  Richtung  mit  Gewiss- 
heit die  besonderen  Eigenthümlichkeiten  der  Änaemia  pseudoleucaeniica 
feststellen  zu  können". 

Es  ist  wohl  eine  Frage  der  Zukunft,  ob  die  Änaemia  infantum  pseudo- 
leucaeniica ihre  derzeit  von  den  meisten  Autoren  als  Morbus  sui  generis 
anerkannte  Stellung  behalten  werde,  oder  ob  ihr  blos  als  eigenthüm- 
licher  Form  von  Blutalteration  mit  charakteristischem 
Blutbefunde  ein  eigener  Name  zuerkannt  werden  dürfte. 

Die  Stellung  der  Änaemia  pseudoleucaeniica  zur  Leucaemie  des  Kindesalters  zu 
statuireii,  stösst  gegenwärtig  noch  auf  bedeutende  Schwierigkeiten,  da  den  meisten  der 
für  das  Kindesalter  beschriebenen  Leucaemiefällen  die  Detaillirung  histologischer 
Blutbefunde  abgeht. 

Als  „Änaemia  splenica''  beschreiben  italienische  Autoren  ein  Krank- 
heitsbild, dessen  Hauptkennzeichen  nebst  der  sichtbaren  Anaemie  ein  bis 
zu  colossaler  Grösse  angewachsener  Milztumor  bildet.  Somma  unterscheidet 
dreierlei  Typen  von  dieser  Krankheit:  a)  eine  chronisch  febrile,  h)  eine 
chronisch  afebrile,  c)  eine  chronische  Form  mit  recurrirenden  Fieberan- 
fällen. Nach  Frede  lässt  sich  bei  der  Änaemia  splenica  eine  constante  Ver- 
minderung der  rothen  Blutzellen  und  des  Haemoglobingehaltes  und  eine 
gleichzeitige  Leucocytose  constatiren,  Fischl  cumulirt  die  Änaemia  splenica 
mit  der  Änaemia  infantum  pseudoleucaeniica,  während  Hock  und  Schlesincek 
die  beiden  Krankheitsbilder  scharf  von  einander  trennen.  Letztgenannte 
Autoren  sind  die  einzigen,  welche  einen  histologischen  Blutbefund  für  die 
Änaemia  splenica  mittheilen.  Derselbe  lautet:  „Sehr  wenige  kernhaltige 
rothe  Blutkörpereben  von  normaler  Grösse,  starke  Toikilocytose,  keine  Leu- 
cocytose" und  weicht  somit  von  den  für  die  Fälle  von  Änaemia  infantum 
pseudoleucaemia    mitgetheilten    Blutbefunden   (Luzet,    Weiss)   beträchtlich 


72  ANAEMIEN  IM  KINDESALTER. 

ab,  MoxTi  und  Berggrün  elimiuireu  den  Begriff  der  Anaemia  spleiiica  in 
ihrer  Eintheiluug  der  kindlichen  Auaemien  gänzlich  und  meinen  gleich  Fischl, 
„dass  die  Anaemia  spleuica  der  italienischen  Autoren  (Somma,  Frede,  Cara- 
SELLi)  als  Anaemia  pseudoleucaemica    zu  deuten  wäre". 

Als  „Anaemia  perniciosa  progressiva^'  sind  für  das  Kiudesalter  eine 
Pteihe  von  Fällen  beschrieben  worclen  (Steffen,  Demme,  Escherich  li.  A.). 
Welche  Stellung  dieser  Krankheitsbegriff  zu  der  „Anaemia  infantum  pseudo- 
leucaemica" und  zur  „Anaemia  sjjlenica"  einzunehmen  hat,  lässt  sich  derzeit 
nicht  entscheiden,  da  einerseits  über  das  Wesen  und  Symptomenbild  letzt- 
genannter Krankheitstypen  keine  einheitliche  Auffassung  unter  den  Autoren 
herrscht,  anderseits  die  Anschauungen  über  die  Fälle  von  Anaemia  perni- 
ciosa bei  Erwachsenen,  von  denen  der  Terminus  für  das  Kindesalter  über- 
tragen wurde,  noch  keineswegs  geklärt  erscheinen.  Geht  man  dem  prak- 
tischen Thatbestande  nach,  so  findet  man,  dass  die  Kliniker  sich  im  Allge- 
meinen an  die  von  v.  Limbeck  gegebene  Devise  halten  und  jene  schweren 
Anaemien  als  „Anaemia  perniciosa"  subsumiren,  „deren  Sectionsresultat 
betreffs  aetiologischer  Momente  völlig  negativ  ausfällt". 

Eine  feste  anatomische  Basis  fiii'  die  Anaemia  perniciosa  progressiva  hat  in 
neuester  Zeit  H.  F.  Müllek  zu  schatfen  gesucht.  Kindfletsch  berichtete  in  der  Mit- 
theihmg  des  Knochenmarkbefundes  einer  perniciösen  Anaemie  über  die  abnorme  Anzahl 
kernhaltiger  rother  Blutzellen :  „absonderlich  und  geradezu  abnorme  Gebilde  von  unge- 
wöhnlicher Grösse  und  sehr  wechselnder  Gestalt  des  haemoglobin- 
hältigen  Pr  otoplasmas".  Diese  Zellformen  wären  nach  Müller  „als  kernhaltige 
Erythro  cyten  früh  er  embryonaler  Zeiten',  die  sich  nach  dessen  Untersuchungen 
von  denen  des  späteren  foetalen  und  extrauterinen  Lebens  bedeutend  unterscheiden,  anzu- 
sehen. So  fasst  Müller,  obwohl  er  selbst  keine  Gelegenheit  hatte,  den  typischen  Knochen- 
mark sbefund  Rindfleisch's  nachzuuntersuchen,  die  „peniiciöse  Anaemie"  als  Erkrankung 
des  Knochenmarkes  auf,  bei  der  die  als  Keime  zurückgebliebenen  Erythrocyten  der 
früheren  embryonalen  Zeiten  in  abnorme  Wucherung  —  analog  einer  Geschwulstbildung 
im  Sinne  der  Cohnheim'schen  Hypothese  —  gerathen,  wodurch  die  normale  Blutbildung, 
die  Entstehung  kernloser  Blutzellen  aus  den  normalen  kernhaltigen  Erythrocyten,  gestört 
wird  und  die  schwere  „perniciöse  Anaemie'  hieraus  resultirt. 

Bei  üeberlegung  dieser  von  Müller  vertretenen  Anschauung,  der  übrigens  auch 
Ehrlech  in  seinem  Vortrage  auf  dem  XI.  Congress  für  innere  Medicin  (1892)  mit  dem 
Worte  der  „megaloblastischen  Entartung  des  Knochenmarkes  als  Charak- 
teristicon  der  perniciösen  Anaemie"  Ausdruck  gegeben  hat,  wird  man  unwill- 
kürlich auf  jene  merkwürdigen  Blutbefunde  gelenkt,  die  als  typisch  für  die  „Anaemia 
infantum  pseudoleucaemica"  beschrieben  worden  (Ltjzet,  Weiss).  Gerade  diese  Blutbilder 
zeigen  jene  polymorphen,  kernhaltigen  Erythrocyten  ,.von  ungewöhnlicher  Grösse  und 
sehr  wechselnder  Gestalt",  wie  sie  Rindfleisch  (s.  o.)  als  Elemente  des  Knochenmarkes 
bei  perniciöser  Anaemie  beschreibt  und  Müller  als  „kernhaltige  Erythrocyten  früher 
embryonaler  Zeiten"  significirt. 

Das  wichtigste,  was  den  Praktiker  aus  den  Ergebnissen  der  klinischen 
Forschung  interessirt,  sind  wohl  die  prognostischen  Schlüsse,  die  die 
einzelnen  Krankheitsbilder  erlauben  und  die  therapeutische  n  Mass- 
regeln, die  er  mit  Erfolg  anwenden  kann. 

Die  Prognose  hängt  bei  den  „secundären  Blutalterationen"  zunächst 
von  der  Art  des  Grundprocesses  ab;  aber  auch  bei  den  sogenannten  „selb- 
ständigen Erkrankungen  'der  blutbildenden  Organe"  ist  die  Vorhersage 
keineswegs  absolut  ungünstig  zu  stellen,  v.  Jaksch  hat  einen  Fall  von 
Anaemia  pseudoleucaemica  beschrieben,  bei  dem  vollkommene  Genesung 
eintrat  und  mit  einem  Anstieg  der  rothen  Blutzellen  von  1,380.000  pro  cmm^^ 
auf  3,643.70iJ  verbunden  war.  Die  günstige  Prognose  hat  v.  Jaksch  sogar 
als  wichtiges  Moment  gegenüber  der  Leukaemie  hervorgehoben. 

Die  Behandlung  der  kindlichen  Anaemien  congruirt  in  ihren  Mass- 
nahmen fast  vollkommen  mit  den  für  die  Anaemien  der  Erwachsenen 
üblichen  therapeutischen  Anordnungen.  Eisen  als  Ferr.  lactic.  und  Ferr. 
oxijdat.  diahjsat.  (3mal  täglich  5 — 15  Tropfen)  und  Arsen  in  der  Formel 
der  Solutio  arsenical.  Fowleri  (1 — 2jährigen  Kindern:  0-05  pro  dosi,  0-2  pro 


ANGINA  PECTORIS.  73 

die)  sind  die  bekannten  Specifica  gegen  die  schweren  anaemischen  Zustände 
des  Kindesalters.  Künstliche  Eisenbäder  (20*0  — 50*0  Ferr.  sulfur.  sicc.  für 
ein  Bad)  oder  Moorsalzbäder  (25-0^50-0  Moorsalz  pro  balneo)  werden 
namentlich  gegen  die  rachitisclien  Anaemien  in  praxi  seit  jeher  vielfach 
angewandt. 

HocK-ScHLESiNGER  haben  in  Fällen  von  Anaemia  infantum  pseudo- 
hmcaeniica  von  der  Verordnung  des  Phosphor-Leberthran  (nach  Kassowitz) 
unzweifelhafte  Besserung  gesehen,  „während  allerdings  in  anderen  trotz 
Besserung  der  Rachitis  dem  Krankheitsprocess  kein  Einhalt  gethan  wurde". 
In  jenem  oben  erwähnten  Falle  von  Anaemia  infantum  pseudoleucaemica, 
von  dem  v.  Jaksch  vollständige  Heilung  berichtet,  wurde  dieselbe  durch 
Blaud'sche  Pillen  erzielt. 

Jodpräparate  können  bei  Vorhandensein  oder  Verdacht  auf  Lues 
bnzweifelhaften  Nutzen  bringen,  zumal  die  Verordnung  von  Hg  -präparaten 
uei  Anwesenheit  anaemischer  Zustände  im  Allgemeinen  nicht  angezeigt 
erscheint.  Am  empfehlenswerthesten  wäre  das  Fen\  jodatum  saccharatum 
(MoNTi).  Man  verabreicht  dasselbe : 

Kindern  von  1—  5  Wochen    0*2  in  X.,    2 — 8  Pulver  täglich 
,,  „     6-12  ,.  0-2  in  X,    4—6         „  „ 

„     1—  2  Jahren      0-3— 0*4  pro  die  j.  WEISS. 

Angina  pectoris.  {Stenocardie,  herzneuralgie,  Brustbräune,  Nervöser 
Herzschnerz,  Neuralgia  plexus  cardiaci.)  In  der  weitaus  grösseren  Mehrzahl 
der  Erkrankungsfälle  von  Angina  pectoris  ist  die  Aetiologie  derselben 
theils  in  dem  anatomisch  nachweisbaren  Befunde,  theils  in  der 
Coincidenz  gewisser  äusserer  schädigender  Momente  mit  dem  Auftreten  der 
stenocardischen  Anfälle  gegeben.  Für  die  übrige  Reihe  der  Fälle  fehlt  uns 
derzeit  noch  jeder  Anhaltspunkt  zur  Erkennung  ihrer  Ursachen. 

In  erster  Reihe  kommen  für  die  E  n  t  s  t  e  h  u  n  g  der  Stenocardie  die 
Herz-  und  Gefässerkraiikungen  derselben  selbst,  vor  Allem  der  atheromatöse 
Process  der  Aorta  und  derCoronar-Arterien,  sowie  i\\QKlappen-Erkrankungen,Mm\ 
diesen  wieder  die  Stenose  und  Insufticienz  an  den  Aorten-Klappen  —  seltener 
die  Mitral- Affe ctionen  —  und  schliesslich  die  Herzmuskelerkrankungen, 
darunter  auch  die  nach  Infectionskrankheiten  wie  Pneumonie,  Ileotyphus, 
Erysipel  sich  ausbildende  Herzdilatation  in  Betracht.  Auch  Obliteration  des 
Herzbeutels,  Mediastinitis  und  Tumoren  des  Mediastinum  kommen  gelegent- 
lich als  Ursache  der  Angina  pectoris  zur  Beobachtung. 

Psychische  Aufregungen  sind  ganz  besonders  geeignet,  Anfälle  von 
Stenocardie  zu  erzeugen  und  Hysterie,,  Hypochondrie,  Epilepsie,  Psychopathie 
und  Neurasthenie  müs.-en  mit  demselben  Rechte  den  ätiologischen  Momenten 
zugezählt  werden,  als  dies  unter  Umständen  für  den  Tabak-,  Thee-,  Kafee- 
und  Alkoholgenuss,  resp.  deren  Missbr^vuch  zutrifft. 

ilucli  Kälteeinwirkung  ist  im  Stande,  Angina  pectoris  hervorzurufen, 
jene  Form,  die  wir  speciell  Angina  pectoris  oasomotoria  bezeichnen. 

Schliesslich  werden  noch  Rheuma,  Gicht,  Lues,  sowie  Dyspepsie  gfls 
veranlassende  Ursachen  angeführt  und  Leber-,  Uterus-,  Oüar/a/-Erkrankungen 
sollen  auch   auf  reflectorischem  Wege  Angina  pectoris   hervorrufen  können. 

Die  letztgenannten  Formen,  deren  Entstehungsursachen,  wie  aus  der 
Aufzählung  ihrer  ätiologischen  Momente  erhellt,  ausserhalb  des  Herzeus 
gelegen  erscheinen,  werden  mit  dem  Namen  Pseudoangina,  die  übrigen 
mit  dem  Namen  echte  Angina  bezeichnet. 

Das  Wesen  der  Krankheit  hat  mannigfache  Deutung  gefunden.  In  dem  Bestreben 
eine  gemeinsame  Ursache  für  die  hervorstechendsten  Symptome  der  Erkraukung  zu  finden, 
müsste  immer  wieder  auf  das  Herz  als  Ausgaiigspuukt  der  verschiedenen  Erscheinungen 
der  Stenocardie  verwiesen  und  mit  Rücksicht  auf  die  Art,  in  welcher  die  Symptome  zur 


74-  AXGINA  PECTORIS. 

Beobachtung  kommen,  nämlich  den  neuralgischen  Charakter,  speciell  das  XervensA'stem 
des  Herzens  dafür  verantwortlich  gemacht  werden.  Die  anatomischen  Verhältnisse  des 
plexus  cardiacus,  der  sich  aus  Fasern  des  Vagus  und  Sj'mpathicus  zusammensetzt  und 
dicht  unter  und  hinter  dem  Aortenbogen  verläuft,  sowie  der  Umstand,  dass  aus  dem 
plexius  cardiacus  auch  Fasern  zu  den  Coronargefässen  gehen,  sollten  als  Beweis  für  den 
neuropathischen  Charakter  der  Angina  pectoris  dienen.  Die  abwechselnd  auftretenden 
Eeizungs-  und  Lähmungszustände  von  Seite  der  Xer^-en  während  des  Aufalles  würden 
die  verschiedenen  Symptome  im  Verlaufe  der  Erkrankung  erklären. 

Auch  positive  pathologisch-anatomische  Befunde,  so  Compresson  des  plexus 
cardiacus  durch  vergrösserte  Drüsen,  Exsudate,  Extravasate,  sowie  Entzündungsherde  in  der 
nächsten  Umgebung  der  Herzganglien  —  besonders  in  der  Vorhof-Scheidewand  —  gestatteten 
w^eiters,  diese  Deutung  des  Wesens  der  Angina  pectoris  zu  stützen. 

Dieser  Deutung  der  Angina  pectoris  als  eines  vom  Nervensysteme,  respective 
den  Ganglien  des  Herzens  ausgehenden  Symptomencomplexes  gegenüber  entwickelte  sich 
unter  besonderer  Berücksichtigung  der  objectiv  nachweisbaren  Störungen  am  Herzen  eine 
Reihe  von  Theorien,  deren  gemeinsamer  Kern  die  Erklärung  bildet,  dass  auf  mecha- 
nischem Wege  durch  plötzlich  gesteigerte  Ansprüche  an  das  linke  Herz  die  Erschei- 
nungen der  Augina  pectoris  veranlasst  v/erden. 

Eine  dieser  Theorien  lässt  die  plötzlich  wachsende  Spannung  der  Ventricularwan- 
dungen  in  Folge  reichlicher  Blutansammlung  in  den  Herzhöhlen  (linker  Ventrikel,  eventuell 
auch  linker  Vorhof)  und  die  cousecutive  Zerrung  der  motorischen  uud  sensiblen  Elemente 
als  Ursache  des  Schmerze«  und  der  Erscheinungen  der  Herzschwäche  gelten,  eine  andere 
nimmt  eine  wirkliche  Hemmung  der  Herzthätigkeit  durch  mechanische  Hinderuisse  an. 
wobei  der  Schmerz  die  Folge  der  gesteigerten  Anstrengung  des  Herzens,  um  das  vorhan- 
dene Hinderniss  zu  überwinden,  ist  Eine  dritte  Auffassung  sieht  das  Wesen  der  Krank- 
heit in  der  Steigerung  der  Schwäche  eines  schon  geschwächten  Herzens,  wobei  durch  den 
Paroxysmus  eine  stärkere  Füllung  der  Herzhöhlen  hervorgerufen  wird. 

Nach  einer  vereinzelt  dastehenden  Ansicht  sind  sämmtliche  Erscheinungen  der 
Stenocardie  aus  einem  anomalen  Zustande  von  Blutleere  des  Muskels  zu  erklären. 

Nach  diesen  nebenangeführten  Erklärungen  Hesse  sich  bei  Ai'terios  derose  der 
Coronarien  der  Vorgang  in  der  Weise  vorstellen,  dass  die  Verengerung  der  Arterie  ein 
Hindernis  für  den  Abiiuss  einer  Blutmenge  abgibt,  die  sout  caeteris  paribus  zu  einer 
massigen  Kraftleistung  des  Herzens  eben  hinreicht,  die  aber  einer  gesteigerten  Anfor- 
derung an  das  Herz  nicht  mehr  genügen  kann,  worauf  dasselbe  mit  Erlahmung  reagiren  muss. 

Diese  Annahme  erklärt  auch,  dass  nicht  jede  Arteriosclerose  der  Coronarien  von 
Angina  pectoris  begleitet  ist,  und  dass  die  Intensität  und  der  Sitz  der  stärksten  Arterien- 
veränderung (Ursprung  der  arteria  coronaria  sinistr.  aas  der  Aorta  ascendens  und  dem 
Ramus  descendens  der  ersteren)  für  die  Entstehung  der  Stenocardie  entscheidend  ist. 

Bei  Herzaffectionen  ohne  Arteriosclerose  sind  Bedingungen  für  die  ungenügende 
Zufuhr  von  Blut  ohnedies  oft  hinreichend  vorhanden.  Nach  dieser  „mechanischen"  Er- 
klärungsweise, dass  eben  gesteigerte  Ansprüche  an  das  linke  Herz  im  Stande  sind,  An- 
fälle von  Angina  pectoris  hervorzurufen,  ist  es  auch  verständlich,  dass  besonders  bei 
erkranktem  Herzmuskel,  also  wenn  Bedingungen  für  ein  Missverhältniss  zwischen 
Leistungsfähigkeit  und  Widerstand  gegeben  sind,  die  Erscheinungen  der  Angina  pectoris 
eintreten  werden. 

Das  Druclcgefühl  unter  dem  Sternum  und  die  Präcordialangst  werden  auch  mit 
Arterien- Verstopfung  und  Necrose  des  Myocards  in  Verbindung  gebracht,  der  Schmerz 
mit  Erregung  der  sensiblen  Herznerven  durch  Sauerstoifmangel  des  Blutes. 

Die  Diagnose  der  Angina  pectoris  bietet  keine  besonderen  Schwierig- 
keiten, sei  es,  dass  sie  als  Begleit':'rscheinnng  einer  mehr  oder  minder  vor- 
geschrittenen Veränderung  am  Herzen  und  an  dessen  Gefässen.  sei  es.  dass 
sie  als  Kranldieit  sui  generis  auftritt. 

Die  Angina  pectoris  ist  durch  p  a  r  o  x  y  s  m  a  1  a  u  f  t  r  e  t  e  n  d  e  n 
Schmerz  charakterisirt,  der  meist  plötzlich  ohne  veranlassende  Ursache, 
vorwiegend  beim  Uebergange  vom  wachen  Zustande  zum  Schlafe  oder  nach 
einer  psychischen  Emotion,  nach  Kälteeinwirkung,  körperlicher  Anstrengung 
oder  Indigestion  auftritt.  Selten  gehen  Prodromalerscheinungen.  wie 
Schwindel.  Ohrensausen.  Brechreiz.  Schlingbeschwerden  oder  Kältegefühl 
in  der  linken  oberen  Extremität  voraus.  Der  Schmerz  wird  von  deii  Kranken 
innerhalb  der  vorderen  Thoraxpartie,  zwischen  Sternum  uud  Brustwarze  un- 
gemein heftig  empfunden.  Die  hievon  Befallenen  klagen  über  ein  Gefühl, 
wie  wenn  ihnen  das  Herz  mit  Zangen  aus  der  Brust  gerissen  würde  und 
sehen  unter   diesem   unsagbaren   Yernichtungsgefühle    dem   herannahenden 


ANGINA  PECTORIS.  75 

Tode  als  Erlösung  entgegen.  Hiebe!  tritt  Blässe  und  intensiver  Schweiss- 
ausbruch  auf  und  der  Kranke  versucht  oft,  sich  durch  Anstemmen  der  Herz- 
gegend gegen  einen  festen  Gegenstand  Erleichterung  zu  verschaffen. 

Der  unter  dem  Sternum  beginnende  Schmerz  strahlt  in  die  benach- 
barten Nervengebiete,  namentlich  in  den  linken  Oberarm,  gegen  die  Inser- 
tion des  M.  Deltoidefi  daselbst  und  gegen  die  Schulter  aus.  Er  zieht 
an  der  hintern  und  inneren  Oberarmseite,  entsprechend  dem  Verbreitungs- 
bezirke des  nerc.  cid.  med.  s.  internus  nach  abwärts,  um  öfters  uhiarwärts 
im  vierten  und  fünften  Finger  zu  endigen,  wobei  Taubheit,  Steifigkeit  und 
Formiration  in  der  Extremität  empfunden  Averden.  Ausnahmsweise  ist  auch 
die  rechte  obere  Extremität  betheiligt,  selten  sind  beide  Arme  gleichzeitig 
betroifen. 

In  einzelnen  Fällen  strahlt  der  Schmerz  in  den  Nacken  oder  das 
Hinterhaupt,  in  die  Brusthaut  (nerv,  thorac.  ant.,  Verbindung  der  vorderen 
Aeste  der  oberen  vier  Halsuerven  und  der  ersten  Brustnerven  mit  dem 
plex.  cardiacusj,  Mamma,  den  Testikel.  die  Beine,  sowie  die  Nabel-  und 
Magengegend  aus. 

Der  S  chmerzanf  all  ist  meist  von  kurzer  Dauer,  nach  wenigen 
Minuten  beendet,  doch  kann  er  auch  Stunden  währen,  wobei  es  sich  jedoch 
um  eine  Eeihe  rasch  folgender  Einzelparoxysmen  mit  verschwindend  kleinen 
Pausen  handelt,  oder  es  trennen  monatlange  Intervalle  den  einen  Anfall 
vom  nächsten.  Bei  längerem  Bestehen  des  Leidens  häufen  sich  die  Anfälle 
und  werden  intensiver,  versetzen  fast  täglich  die  Kranken  in  jenen  qual- 
vollen Zustand,  von  dem  sie  durch  den  im  Anfalle  öfter  plötzlich  eintre- 
tenden Tod  schliesslich  befreit  werden. 

Der  Puls  verhält  sich  während  des  Anfalles  wechselnd,  er  ist  meist 
schwächer,  nur  ausnahmsweise  bei  der  Angina  pectoris  vasomotoria  kräftiger 
als  in  der  anfallsfreien  Pause.  Zuweilen  ist  der  Puls  von  wechselnder 
Frequenz,  die  während  des  heftigen  Schmerzes  gesteigert  ist,  manchmal 
auch  intermittirend.  Der  Herzspitzenstoss  fühlt  sich  breit  an,  die  Auscul- 
tation  ergibt  als  wesentlichstes  Symptom:  CJiquetis  metaUiqice  oder  Emlirijo- 
cardie. 

Die  Pv,espiration  ist  meist  nicht  gesteigert,  ja  oft  durch  das  Ruhe- 
bedürfnis des  Kranken  im  Anfalle  durch  den  Willen  derselben  angehalten. 
Die  im  Aufalle  gesteigerte  Ptespirationsfrequenz  ist  vorwiegend  durch  das 
überwältigende  Angst-  und  Schmerzgefühl  des  Patienten  hervorgerufen.  Bei 
Combination  von  Angina  pectoris  und  cardialem  Asthma  —  und  dieses 
Zusammentreffen  ist  sehr  häufig  —  fehlt  die  respiratorische  Verlang^amung. 
In  einzelnen  Fällen  kommt  Husten  mit  schleimigem  oder  serösblutigem  Aus- 
wurfe mit  reichlichem  feinen  Rasseln  nach  dem  Anfalle  zur  Beobachtung. 
Schlingkrämpfe,  Singultus,  Erbrechen,  tonlose  Stimme,  unfreiwilliger  Abgang 
von  Koth  und  Harn,  Urina  spastica  sind  öfters  Begleiterscheinungen. 

Bei  der  Angina  'pectoris  vasomotoria,  deren  Auftreten  oft  schon  bei 
geringfügiger  Kälte einwirkung  zu  betrachten  ist,  treten  die  subjectiven  Er- 
scheinungen in  den  Extremitäten,  wie  Herabsetzung  der  Empfindung  in  der 
Haut  und  Kältegefühl  neben  Blässe  und  Cyanose,  als  Folge  des  peripheren 
Gefässkrampfes,  in  den  Vordergrund.  Manchmal  tritt  hiebei  Verlangsanumg 
des  Pulses  auf,  meist  ist  die  Frequenz  desselben  nicht  verändert,  doch 
fehlen  dabei  nicht  die  charakteristischen  Oppressions-  und  Schmerzgefühle 
in  der  Herzgegend.  Auch  „abortive"  Anfälle  mit  Brustbeklemmung  und 
Todesangst  ohne  Schmerz  können  zur  Beobachtung  kommen. 

In  differential-diagn  ostischer  Beziehung  sind  zunächst  die 
oft  plötzlich  auftretenden  Dyspnoe-Aufälle  mit  Cyanose.  Schweiss-  und  Puls- 
schwankungen (eventuell  auch  mit  Schmerz   in  der  Herzgegend)  bei  Herz- 


76  ANGINA  PECTORIS. 

klappen-  imd  Muskelerkraiikiuigen  strenge  von  der  Angina  pectoris  zu  treuneu. 
In  dem  letztgenaunteu  Symptouiencomplexe  auf  cardialer  Grundlage  handelt 
es  sich  um  eine  Steigerung  der  Respirationsfrequenz,  die  der  Kranke  nicht 
willkürlich  wie  hei  Angina  pectoris  vera  herahmindern  kann.  Man  findet  bei 
diesen  Erkrankungen,  die  zu  so  schweren  Zufällen  führen,  meist  objectiv 
deutlich  nachweisbare  Dilatation  des  Herzens  nebst  mannigfachen  anderen 
Begleiterscheinungen  der  schweren  chronischen  Herzerkrankung.  Herzpal- 
pitationen  auf  neurasthenischer  Basis  werden  nicht  leicht  von  so  schweren 
und  unvermittelt  auftretenden  Schmerzparoxysmeu  begleitet,  wie  bei  Steno- 
cardie :  bei  Asthma  bronchiale  fehlt  der  substernale  in  den  linken  Aim 
ausstrahlende  Schmerz,  es  treten  auch  die  pulmonalen  Symptome  mehr 
in  den  Vordergrund.  Schliesslich  werden  anamnestische  Daten,  sowie  sonstige 
hysterische  Symptome,  vor  Allem  die  im  Anfalle  auftretende  Unruhe  eine 
Verwechslung  eines  hysterischen  mit  einem  stenocardischen  Anfalle  ver- 
hüten lassen. 

Die  Prognose  gestaltet  sich  für  jene  Fälle  von  Angina  pectoris, 
bei  denen  anatomische  Veränderungen  nachweisbar  sind,  ungimstiger  als 
für  die  Fälle,  wo  es  sich  nur  um  rein  functionelle  Störungen  handelt. 

Die  Erkrankung  kommt  vor  dem  50.  Lebensjahre  nicht  häufig  zur 
Beobachtung,  und  trifft  die  Mehrzahl  der  Erkrankungen  das  männliche  Ge- 
schlecht. Das  kältere  Klima  begünstigt  das  Auftreten  der  Stenocardie.  auch 
vrird  von  einem  epidemischen  Auftreten  desselben  berichtet. 

Die  Therapie  hat  zwei  Aufgaben  zu  erfüllen.  Die  erstere  besteht 
darin,  den  stenocardischen  Anfall  abzuschwächen,  die  zweite  umfasst  die 
prophylactischen  Massnahmen,  um  die  Wiederholungen  der  Paroxysmen 
hintanzuhalten. 

Was  die  Massnahmen  während  des  Anfalles  selbst  betrifft,  so  handelt 
es  sich  zunächst,  den  Kranken  in  eine  für  seinen  Zustand  erträgliche  Lage 
zu  bringen,  die  er  sich  jedoch  meist  spontan  durch  Aufrichten  des  ganzen 
Körpers  selbst  verschafft.  Oeffnen  des  Fensters,  um  bei  dem  hochgradigen 
Angst-  und  Beklemmmigsgefühle  dem  Kranken  frische  Luft  zuzuführen. 
Piuhe.  unter  Lmiständen  ^'erdunklung  des  Zimmers  und  Lockerung  der 
Kleider  können  dem  Leidenden  Erleichterung,  und  trockene  Schröpfköpfe 
oder  Sinapismen  am  Thorax,  der  Eisbeutel  in  die  Herzgegend,  Schlucken 
von  Eis,  heisse  Hand-,  respective  Fussbäder  (mit  Zusatz  von  Senfmehl), 
Bürsten  der  Extremitäten,  sowie  spirituöse  Einreil)ungen  können  ihifi  wesent- 
lichen Nutzen  bringen. 

Einathmungen  von  Chloroform,  Essig-  oder  Schirefeläther,  Pijridin, 
Amtjhüfrit  (letzteres  vorwiegend  bei  der  vasomotorischen  Angina,  2  bis  o 
Tropfen)  und  Stickoxychd  sind  mit  Vorsicht  zu  versuchen. 

Mmmt  der  Puls  an  Kraft  ab.  sind  überhaupt  Erscheinungen  von  Herz- 
schwäche vorhanden ,  so  sind  Champagne)-,  Aether,  Valeriana,  Castoreum, 
Asa  foetida  und  Kampher,  überhaupt  Excitantia  am  Platze :  Xifroglgcerin 
(3  bis  4  stündlich  1  bis  2  Tropfen  einer  Iprocentigen  Spirituosen  Lösung) 
empfiehlt  sich  eher  für  den  länger  fortgesetzten  Gebrauch  in  der  anfalls- 
freien Zeit. 

Das  souveräne  Mittel  zur  Abkürzung  und  Milderung  im  stenocar- 
dischen Aufalle  ist  das  Morphin,  das  subcutan,  mit  Vorsicht  angewendet,  wohl 
in  all  den  Fällen,  wo  nicht  durch  Schwäche  oder  besondere  Frequenz  des 
Pulses  eine  Contraindication  gegeben,  meist  den  Erfolg  nicht  versagen 
wird.  Zur  besonderen  Vorsicht  halte  man  die  Kampher-Injection  nebenbei 
stets  bereit. 

Die  zur  Verhütung  der  stenocardischen  Anfälle  zu  tretfendeii  Mass- 
nalimen   haben   sich   zunächst   auf   die  Einhaltung;  einer  massigen,    ruhigen 


ANOREXIE.  77 

Lebensweise.  Veriiieidiing  psychischer  Aufregungen  und  Erkältungen,  Ent- 
haltung von  anstrengender  Muskelarl)eit.  Al)stinenz  von  Alkohol  und  Tabak, 
auch  Thee  und  Kaffee  zu  richten.  Bei  Digestionsstörungen  wird  eine  Milch- 
diät, bei  der  vasomotorischen  Form  werden  warme  Bäder  und  Frottirimgeu. 
bei  Stuhlverstopfung  Abführmittel  entsprechende  Dienste  leisten.  Bei  nach- 
w'eistaarer  oder  vermutheter  Arteriosclerose  hat  die  hiefür  giltige  Therapie 
Anwendung  zu  finden.  Xel)en  der  Einhaltung  entsprechender  Lebensweise 
treten  auch  medicamentöse  Verordnungen  in  Kraft. 

Bei  denjenigen  cardialen  Störungen,  die  von  unregelmässigem  Pulse 
und  Herzpalpitationen  in  der  anfallsfreien  Zeit  begleitet  sind,  ist  D/gifalis 
anzu\^'enden.  doch  mit  Vorsicht,  da  die  durch  dauernden  Gebrauch  herbei- 
geführte Steigerung  des  Blutdruckes  neue  Anfälle  von  Stenocardie  hervor- 
zurufen im  Stande  ist. 

Bei  nervöser  Grundlage  der  Erkrankung  ist  Chinin,  BromkaJi,  Eisen 
und  Arsen  zu  gebrauchen. 

Bei  der  arterio  sei  erotischen  (Coronar-)  Angina  ist  besonders 
der  längere  Gebrauch  von  Xitroglijcerin  0-0006  in  steigender  Dosis  oder 
Natrium  uitrosum  0-3  bis  DO  auf  loO-O,  3 — 4  Esslöffel,  täglich  empfohlen. 

Der  Vollständigkeit  halber  sollen  noch  Menthol  0.001  pro  dosi,  Cap- 
sicin  0"0006  pro  dosi,  Extract  fluid,  cact.  grandiflor  (8  bis  10  Tropfen  drei- 
bis  viermal  täglich)  angeführt  werden. 

Auch  kann  ein  Aufenthaltsort  von  nicht  zu  hoher  Lage  den  Leidenden 
wesentlichen  Vortheil  bringen. 

Die  Anwendung  der  Elektricität  bei  Stenocardie  hat  nur  in  seltenen 
Fällen  einen  offenbaren  Nutzen  gebracht :  es  muss  aber  mit  Beziehung  auf 
die  aus  dem  Thierexperimente  erhaltenen  Resultate  eher  von  der  Anwen- 
d'ung  derselben  abgerathen  werden.  ir.  v.  FPascii. 

Anorexiß.  Appetitlosigkeit,  Mangel  an  Esslust  (ops;'.;)  versteht  man 
unter  dem  gegenwärtig  weniger  üblichen  Ausdruck  Anorexie.  Jedermann 
weiss,  was  mit  Appetit  und  dem  Gegentheil  davon  gemeint  ist,  so  dass  eine 
Definition  fast  unnöthig  erscheint.  Aber  es  fragt  sich,  ist  Fehlen  der 
Esslust  gleich  zu  setzen  dem  Fehlen  des  Hungers,  mit  anderen  Worten: 
ist  Appetit  und  Hunger  dasselbe?  Bekanntlich  bietet  das  Wesen  des 
Hungergefühles  der  Erklärung  nicht  geringe  Schwierigkeiten.  Man  darf  es 
als  ein  aus  örtlichen  Empfindungen  (Muskelgefühlen  der  Zusammeuziehungeu 
des  leeren  Magens  [E.  H.  Weber],  vielleicht  auch  Einwirkung  der  freien 
Säure  auf  die  Magenschleimliaut)  und  allgemeinen  Erscheinungen  (Abge- 
spanntheit,  Schwäche)  zusammengesetztes  Gefühl  auffassen.  Unter  Appetit 
verstehen  die  Einen  den  Beginn  d^s  Hungers.  Andere  einen  auf  Bestimmtes 
gerichteten  Hunger.  Dass  ein  Unterschied  zwischen  Esslust  und  Hunger 
besteht,  wie  die  verschiedenen  Ausdrücke  es  andeuten,  ist  zweifellos :  doch 
sind  die  genannten  Erklärungen  nicht  erschöpfend,  eine  l)essere  schwer  zu 
geben.  Sicher  ist.  dass  nach  dem  gewöhnlichen  Si)rachgebrauche  Eines  olnx? 
das  Andere  bestehen  kann.  Ein  Kind  hat  oft  noch  Appetit,  wenn  von  Hunger 
nicht  mehr  die  Bede  sein  kann.  Dagegen  setzt  sich  ein  Magenkranker  mit 
ausgesprochenem  Hunger  zu  Tisch,  die  Esslust  aber  ist  verschwunden,  mag 
man  ihm  vorsetzen,  was  man  will.  Hunger  ist  die  Mahnung.  Appetit  die 
Lust,  etwas  zu  essen.  Beides  ist  gewöhnlich  vereinigt,  beides  oder  eines 
von  beiden  kann  fehlen.  Hunger  fehlt  selten  auf  die  Dauer  vollständig. 
der  Appetit  dagegen  viel  häufiger. 

Anorexie  kann  alle  Krankheiten  begleiten  und  ist  vielleicht  das  häu- 
figste Symptom  des  Krankseins  überhaupt.  Nicht  nur  organische  und  func- 
tionelle  Störungen  des  Magens  selbst    rufen   dieselbe  in  der  Regel  hervor. 


78  AXOREXIE. 

sondern  alle  allgemeinen  und  örtlichen  Krankheitsprocesse  können  durch  die 
Einwirkung  auf  das  Gehirn  (beziehungsweise  das  dort  supponirte  Hunger- 
oder Appetitcentrum)  oder  die  die  Appetitsempfindung  vermittelnden  Nerven 
den  Appetit  stören.  Beiden  Magenkrankheiten  mit  anatomischen 
V  e  r  ä  n  d  e  ru  n  g  e  n  fehlt  der  App  etit  geAvöhnlich,  coustant  bei  dem  acuten 
Magenkatarrh  und  fast  regelmässig  beim  Krebs,  dabei  in  der  Regel  sogar 
schon  ziemlich  frühzeitig.  Wechselnd  ist  der  Appetit  bei  dem  chronischen 
Magenkatarrh,  während  er  beim  M  a  g  e  n  g  e  s  c  h  w  ü  r  sogar  meist  vorhanden 
ist  und,  wie  es  scheint,  nur  bei  ausgedehnterem  begleitenden  Katarrh  oder  Erwei- 
terung zu  fehlen  pflegt.  Bei  den  verschiedenen  functionellen  Störungen  des 
Magens,  wienervöse  Dyspepsie,  Säuremangel,  Säureüberfluss 
etc.  trifft  man  die  Anorexie  ebenfalls  oft,  doch  fehlt  sie  wohl  ebenso  häufig. 
Vom  Darm  aus  wird  sie  oft  hervorgerufen,  durch  Unregelmässigkeiten  in 
der  Darmthätigkeit,  Diarrhöen,  wie  Verstopfung.  Ueberhaupt  wirken  in  dieser 
Hinsicht  zahlreiche  periphere  Reize.  Ebenso  wie  im  gewöhnlichen  Leben  Durst, 
Hitze,  äussere  Unbehaglichkeit  die  Esslust  abschwächen,  so  thun  es  auch  die 
meisten  krankhaften  Empfindungen,  vor  allem  die  S  c  h  m  e  r  z  e  i  n  d  r  ü  c  k  e,  aber 
auch  üble  Geruchs-  und  Geschmackswahrnehmungen,  sowie  die  Herabsetzung 
des  Geruchs  und  Geschmacks.  Ebenso  wie  Schreck,  Ekel,  Trauer,  Freude 
den  Appetit  auf  kurze  Zeit  nehmen  können,  so  bewirken  psychische  Alte- 
rationen, von  den  ne urasthenischen  und  hy  st e  ris  chen  Zuständen 
bis  zu  den  eigentlichen  Geistesstörungen,  oft  dauernden  Appetitmangel. 
Vergiftungen  aller  Art,  auch  wenn,  sie  nicht  den  Magen  direct  schä- 
digen, machen  fast  regelmässig  Anorexie,  insbebondere  anhaltend  der  ge- 
wohnheitsmässige  Missbrauch  des  Alkohols,  Tabaks,  Opiums.  Zahlreiche 
Arzneimittel  stehen  auch  in  medicamentösen  Gaben  mit  Recht  in  dem 
Ruf,  den  Appetit  zu  verderben,  wie  Morphin,  Digifalii^,  Chinin^  Metallsalze 
u.  V.  a.,  obwohl  man  gerade  da  die  grössten  individuellen  Verschieden- 
heiten trifft.  Blutkrankheiten  (Anaemie,  Chlorose,  Leukaemie)  und 
schwere  Kachexien  (Krebs,  seniler  Marasmus)  sind  fast  ausnahmslos 
von  Anorexie  begleitet.  Bei  der  Tuberculose  wird  sie  oft  verhängniss- 
voll und  bringt  nicht  selten  schon  im  frühesten  Stadium  der  Ernährung 
schweren  Nachtheil.  Alle  fieberhaften  Krankheiten  setzen  den 
Appetit  mehr  oder  weniger  herunter.  Wahrscheinlich  spielt  bei  allen  diesen 
allgemeinen  Störungen  die  Verminderung  der  S  a  1  z  s  ä  u  r  e  s  e  c  r  e  t  i  o  n 
des  Magens  bei  der  Appetitabnahme  eine  Rolle.  S  törungsv  orgänge  in 
der  Magenschleimhaut  in  Folge  von  Herzfehlern,  Emphysem,  Lebercirrhose 
führen  zu  Stauungskatarrhen  und  somit  zur  Anorexie.  Die  Selbstver- 
giftungen, wie  die  Uraemie  bei  Nierenentzündungen  und  andere, 
wirken  in  der  gleichen  Weise,  wie  Intoxicationen  von  Aussen  her.  Es  ist 
undenkbar,  alle  Fälle  aufzuzählen,  in  denen  der  Appetitsmangel  eine  Rolle 
spielen  kann. 

In  ihrer  Eigenschaft  als  ein  rein  subjectives  Symptom  ist  die 
Anorexie  sehr  schwer  zu  controliren.  Der  Begriff"  ist  ein  relativer.  Daher 
klagt  Mancher  über  Appetitmangel  bei  einem  Nahrungsconsum,  mit  dem 
ein  Anderer  völlig  zufrieden  ist.  Uebertreib  ungen  sind  sehr  häufig. 
Es  ist  deshalb  nicht  selten  nöthig,  dass  der  Arzt  sich  durch  eigene  Beob- 
achtung oder  diejenige  zuverlässiger  Personen  ein  möglichst  objectives 
Urtheil  verschafft.  Mit  Vorsicht  darf  man  auch  das  Aussehen  der  Zunge 
benutzen,  deren  dicker,  weisser  Beleg  gewöhnlich  auf  bestehende  Anorexie 
deutet.  Das  Wichtigste  bleibt  aber  stets  für  den  Arzt  die  Erkennung 
der  Ursache.  Man  bequeme  sich,  besonders  in  schweren  Fällen,  immer 
erst  im  Nothfall,  nach  Ausschluss  aller  anderen  Möglichkeiten  zu  der  An- 
nahme einer  rein  n  er  v  Ösen  Anorexie.  Es  gibt  gewiss  eine  solche  als  Theil- 


AXOREXIE.  79 

ersc'heiimiig  der  Neurasthenie  und  Hysterie.  Man  kann  auch  z.  B.  die- 
jenige, welche  sich  nach  schweren  Operationen  oder  im  hohen  Alter,  an- 
scheinend oline  jede  hesohdere  Ursache  einstellt,  zur  Noth  als  Neurose 
auffassen.  Sehr  oft  aher  verstecken  sich  die  A  n  f  ä  n  g  e  s  c  h  w  e  r  e  r 
Leiden,  insbesondere  von  Tuberbulose  und  Krebs,  hinter  diesem  einzigen 
Symptome.  Es  gilt,  verhängnissvolle  diagnostische  Irrthümer  rechtzeitig  zu 
vermeiden. 

Auch  die  Behandlung  der  Anorexie  hat  in  erster  Linie  die  Ur- 
sache ins  Auge  zu  fassen.  Alle  die  Möglichkeiten,  bei  welchen  eine  causale 
Therapie  in  Frage  kommt,  aufzuzählen,  ist  unthunlich.  Einige  Beispiele 
mögen  genügen.  Selbstverständlich  beseitigen  oder  mindern  wir  die  Appetit- 
losigkeit in  Folge  von  Magenkrankheiten,  indem  wir  letztere  heilen 
oder  bessern,  z.  B.  einen  chronischen  Magenkatarrh  durch  geeignete  Diät 
und  Auswaschungen  des  Magens,  eine  Erweiterung  nach  narbiger  Pylorus- 
strictur  durch  operative  Entfernung  der  letzteren.  War  die  Anorexie  durch 
einen  i  n  c  o  m  p  e  n  s  i  r  t  e  n  H  e  r  z  f  e  h  1  e  r  verursacht,  so  kehrt  auf  Digitalis- 
anwendung mit  der  compensirenden  Herzthätigkeit  oft  auch  der  Appetit 
zurück,  ebenso  wie  bei  Wechselfieberkranken  auf  Chinin,  und  es 
zeigt  sich,  dass  Mittel,  welche  in  der  Regel  den  Appetit  zu  verschlechtern 
pflegen,  ihn  unter  Umständen  herstellen  können.  Bei  allgemeinen  Blut- 
krankheiten, wie  der  Chlorose,  verhilft  eine  zweckmässige  Nahrung, 
Ruhe  und  Eisen  mit  der  allgemeinen  Besserung  auch  zu  gutem  Appetit 
und  dieser  ist  im  Stande,  den  ursprünglichen  Circulus  vitiosus,  in  welchem 
mangelhafte  Blutbildung  die  Anorexie  uiid  diese  wieder  jene  verursacht, 
zum  Vortheil  der  Kranken  umzudrehen.  Die  Auffindung  und  Entleerung 
eines  versteckten  Eiterherdes  gibt  dem  Patienten  oft  mit  einem  Schlage 
den  verlorenen  Appetit  wieder.  Bei  Nervösen  und  Geisteskranken 
hilft  oft  eine  energische  psychische  Einwirkung  (Suggestion). 

Ob  man  bei  Anwendung  der  frischen  Luft  zur  Beseitigung  der 
Anorexie  auch  eine  causale  Indication  erfüllt,  oder  nur  eine  symptomatische, 
ist  nicht  immer  ganz  durchsichtig.  Jedenfalls  ist  sicher,  dass  man  mit  der 
Freiluftbehandlung  in  zahlreichen-  Fällen,  in  denen  nicht  Magenkrank- 
heiten oder  vorgeschrittene  Organerkrankungen  die  Ursache  sind,  selbst 
hartnäckigen  Appetitmangel  beseitigt.  Dahin  gehören  insbesondere  die  Ano- 
rexien der  Anaemischen,  Tuberculosen,  Neurasthenischen.  Auf  die  Methode 
kommt  aber  viel  an.  Nicht  jede  Luft  ist  passend.  So  ist  ein  warme,  feuchte, 
weiche  Luft  weniger  geeignet  Appetit  zu  erwecken  als  eine  trockene,  kühle, 
wie  die  Hochgebirgsluft  oder  eine  feuchte,  rauhe,  wie  die  Meeresluft.  Viel 
Bewegung  im  Freien  ist  nur  für  kräftige  Appetitlose  nützlich,  für  schwäch- 
liche Leute,  um  die  es  sich  gewöhnlich  handelt,  dagegen  in  der  Regel  nicht. 
Für  diese  sind  die  Liegekuren  im  Freien  von  dem  besten  Erfolge  be- 
gleitet. Aber  auch  sie  darf  man  nicht  gleich  übertreiben.  Sehr  Herunter- 
gekommene müssen  sich  ganz  allmählich  an  die  Luft  gewöhnen.  Ist  Aufent- 
halt im  Freien  unmöglich,  so  ersetzt  man  denselben  durch  Bettliegen  b«i 
offenem  Fenster.  Consequente  Ueberwachung  ist  immer  nothwendig. 
Man  erzielt  aber  zuweilen  nicht  nur  normalen  Appetit,  sondern  sogar 
Steigerung  desselben,  so  dass  man  alsbald  eine  Mastkur  anschliessen  kann. 
Bäder,  sowohl  warme  als  ganz  besonders  kalte  (Fluss-  und  Seebäder),  sowie 
andere  hydrotherapeutische  Proceduren,  welche  den  Stoffwechsel  anregen, 
können  die  Freiluftbehandlung  wirksam  unterstützen.  Das  Gleiche  gilt  von 
der  Massage,  theils  der  örtlichen  an  der  Bauch-,  theils  der  allgemeinen 
der  gesammten  Körpermusculatur. 

Die  in  Laienkreisen  gebräuchliche  Reizung  des  Appetits  durch  An- 
bieten   besonders    leicht     verdaulicher,     wohlschmeckender,     p  i  k  a  n  t  e  r 


80  ANOREXIE. 

oder  auch  stark  gewürzter  (gesalzener,  gepfefferter )  und  grober  Speisen 
oder  durch  kleine  Mengen  Alkohols  darf  auch  der  Arzt  unter  gewissen 
Verhältnissen  am  Krankenbett  rathen.  Es  sind  dies  Fälle  von  rein  nervöser 
Anorexie  oder  solcher,  wie  sie  bei  Anaemischen.  Reconvalescenten.  leicht 
Fiebernden  wohl  in  der  Regel  mit  Abnahme  der  Säuresecretion  des  Magens 
einhergeht.  Xur  muss  man  schwere  Magenläsionen,  insbesondere  Katarrh 
und  Ulcus  und  ebenso  ernstere  Darmaöectionen  ausgeschlossen  haben.  Bei 
richtiger  Indicationsstellung  kann  der  Hausarzt  durch  rechtzeitige  Verord- 
nung von  Delicatessen  (Caviar,  Austern  u.  A.\  von  Senf,  Pfeffer,  ja  selbst 
von  grober  Bauernkost  (an  Stelle  unnöthig  strenger  Diät)  Segen  stiften. 
Besonderes  Gewicht  ist  auf  das  gleichzeitige  Trinken  bei  den  Mahlzeiten 
appetitloser  Anaemischer  zu  legen.  Wenn  man  jeden  Bissen  mit  einem 
Schluck  Wein  ibei  Ivindern  mit  Compot;  hinunterschlucken  lässt.  kann  man 
oft  den  AYiderwillen  besiegen. 

Als  appetitreizende  Arzneimittel  gelten  von  jeher  die 
l)flanzlichen  Bittermittel  (Genfiana,  Quassia,  Conduraugo,  Wermuth  u.  v.  A.). 
ferner  Bhaharher  in  kleinen  Gaben,  sowie  auch  einige  andere  bitter 
schmeckende  Mittel,  wie  kleine  Mengen  Chinin,  Stri/chnin.  Es  ist  nicht  zu 
läugnen,  dass  die  Amara  vorübergehend  den  Appetit  bessern  können,  ebenso 
wie  sie,  nach  Experimenten,  kurze  Zeit,  nachdem  sie  den  Magen  verlassen 
haben,  eine  Steigerung  der  Säureabscheidung  hervorrufen  sollen.  Von  einer 
Beseitigung  schwerer  Anorexien,  insbesondere  auf  die  Dauer,  ist  aber 
kaum  die  Ptede.  Eher  kann  man  dies  von  dem  Kreosot,  beziehungsweise 
dem  wirksamen  Bestandtheil  desselben,  dem  Guajmol,  behaupten,  welche 
gegenwärtig  in  der  Behandlung  der  Anfangsstadien  der  Lungentuberculose 
eine  Piolle  spielen.  Da  eine  directe  Einwirkung  dieser  Medicamente  auf 
den  tuberculösen  Process  sich  wenigstens  nicht  erweisen  lässt.  so  ist 
höchst  wahrscheinlich  die  Hebung  des  Appetits  und  damit  der  Ernährung  die 
wesentliche  Ursache  des  unleugbar  günstigen  Einflusses.  Ein  Mittel  von  zu- 
weilen ganz  ausgesprochener  Wirkung  auf  den  Appetit  habe  ich  in  dem 
Orexin,  (Fheni/Idihi/drochinazoJin)  gefunden.  Es  wirkte  besonders  bei  Anorexie 
in  Folge  von  gTossen  Operationen.  Phthisis.  Anaemie  und  gesunkener  Er- 
nährung überhaupt  etwa  in  der  grösseren  Hälfte  der  Fälle,  zuweilen  so, 
dass  förmlicher  unstillbarer  Heisshunger  auftrat.  Man  verwendet  am  besten 
das  Orexlnum  basicum  (das  früher  von  mir  empfohlene  salzsaure  brennt  zu 
sehr  auf  der  Schleimhaut)  ein-  bis  höchstens  zweimal  im  Tag  zu  0-3 — 0*5  in 
Oblaten  mit  viel  Flüssigkeit.  Der  Erfolg  kommt  zuweilen  schon  nach  der 
ersten  Gabe  und  hält  dann  an.  oder  er  wird  erst  nach  Anwendung  von 
mehreren  Tagen  dauernd,  oder  er  tritt  nur  nach  der  jedesmaligen  Dar- 
reichung auf  kurze  Zeit  ein.  Die  Wirkung  geht  mit  einer  Abkürzung  der 
Verdauungszeit  sowie  einer  Erhöhung  der  Säureabscheidung  einher:  auf 
letzterer  beruht  wahrscheinlich  der  appetiterhöhende  Eiiitiuss 

Wenn  alle  angeführten  causalen  und  symptomatischen  Massregeln  die 
Anorexie  nicht  zu  heben  im  Stande  sind,  so  kann  bei  schweren  Anae- 
mischen, Hysterischen  und  besonders  bei  Geisteskranken  die  zw^angs- 
weise  Einführung  der  Speisen  mit  der  M  a  g  e  n  s  o  n  d  e  angezeigt  sein. 
Eine  dünne  mit  einem  biegsamen  Rohrstäbchen  als  ]\Iandrin  versehene 
Schlauchsonde  wird  (bei  widerspänstigen  Kranken  durch  die  Nase)  in  den 
Magen  eingeführt  und  nach  Entfernung  des  Mandrins  durch  ein  feines  Sieb 
durchgeseihte  Milch,  verrührte  Eidottern,  dünner  Mehlbrei,  etwa  V2  Liter  auf 
einmal,  vermittelst  eines  Trichters  eingegossen.  Auf  diese  Weise  kann  die 
Ernährung  durch  Wochen  hindurch  erzwungen  werden  und  mau  sieht  nicht 
selten  in  Folge  davon  auch  die  natürliche  Esslusst  zurückkehren. 

PENZOLDT. 


AXTIPYRESE. 


il 


Antipyrese  Unter  Antipyrese  versteht  man  die  Belianillung  des 
Symptoms  :  F  i  e  b  e  r. 

Die  Erhaltung  der  normalen  Körpertemperatur  erfordert  eine  fortwährende  Wärme- 
erzeugung, durch  welche  die  Wärmeabgabe  gedeckt  wird.  Xun  werden  aber  die  beiden 
Factoren,  Wärmeerzeugung  und  Wärmeabgabe,  von  äusseren  uod  inneren  Umständen 
fortwährend  beeinflusst:  die  Wärmeprodaction  wird  bedeutend  erhöht  bei  Muskelarbeit, 
bei  vermehrtem  Wärmeverlust:  die  Wärmeabgabe  hängt  von  der  die  Hautoberfläche  um- 
gebenden Temperatur  und  vom  Grade  der  W  ärmeproduction  ab.  in  physiologischen  Ver- 
hältnissen. Die  Einhaltung  eines  richtigen  Masses  besorgt  jene  Funclion  des  Nerven- 
systems, welche  mau  die  Wärm  er  egulir ung  nennt.  Diese  Function  besteht  darin,  dass 
durch  sie  die  Körpertemperatur  immer  auf  einen  bestimmten  Grad  eingestellt  bleibt,  u. 
zw.  ebenso  im  physiologischen  als  im  pathologischen  Zustande  des  Organismus.  Zahl- 
reiche Versuche  haben  ergeben,  dass,  wenn  wir  mit  gewaltsamen  Mitteln  die  Körper- 
temperatur künstlich  erhöhen  oder  erniedrigen,  die  in  den  betreffenden  Nervencentra  ein- 
gestellte Temperatur  sofort  zurückkehrt,  sobald  dies  möglich  wird.  Gewöhnlich  bezeichnet  man 
eine  Temperatur  bis  37*4"  C.  als  normal,  obzwar  dieser  Grad  am  Ende  einer  fieberhaften 
Krankheit  noch  immer  nicht  als  Apyres.e  als  tieberloser  Zustand,  betrachtet  werden  kann. 
Es  ist  immer  verdächtig,  wenn  bei  der  Defervescenz  die  Körperwärme  nicht  unter  37°  0.  fällt. 

Die  Erhöhung  der  Kör  per  wärme  nennt  man  gewöhnlich  Fieber,  obzwar  in 
letzterem  Begriffe  alle  übrigen  Symptome  dieses  Zustandesmitinbegriifensind,  es  scheint  aber, 
dass  die  Temperaturerhöhung  als  die  eigentliche  Ursache  auch  der  übrigen  Beschwerden  be- 
trachtet werden  muss.  Das  Steigen  der  Temperatur  geschieht  unter  Kältegefühl,  welches 
in  intensiven  Schüttelfrost  übergehen  kann.  Dieser  ist  umso  heftiger,  je  rapider  die  Körper- 
wärme sich  erhöht,  kann  aber  fehlen  bei  langsam  eintretendem  Fieber.  Die  Ursache  dieses 
Kältegefühls  ist  der  Unterschied  zwischen  Blut-  und  Hauttemperatur,  denn  im  stärksten 
Schüttelfrost  ist  schon  die  Blutwärme  bedeutend  erhöht.  Das  Gegentheil  sehen  wir  beim 
rapiden  Abfall  einer  fieberhaft  erhöhten  Temperatur  in  einem  intensiven  Hitzegefühl  und 
Transpiration,  als  schon  die  Temperatur  zu  sinken  beginnt. 

Die  Erhöhung  der  Körpertemperatur  geschieht  zu  einem  geringen  Th  eile 
durch  Verminderung  der  Wärmeabgabe  (die  Hautcapillaren  contrahiren  sich,  die  Haut 
wird  blass,  kühlj,  hauptsächlich  aber,  wie  das  die  Versuche  Liebekmeister's  beweisen, 
durch  heäeuteiide  Erhöhung  der  Wärmeproduction.  Beim  Abfallen  des  Fiebers  vermindert 
sich  die  Wärmeproduction  und  gleichzeitig  w^erden  alle  Schleussen  der  Wärmeabgabe  ge- 
öffnet :  die  Capillaren  erweitern  sich,  es  tritt  profuse  Schweissabsonderung  ein. 

Indem  wir  die  im  Vorstehenden  wiedergegebenen  Anschauungen,  welche 
derzeit  über  das  Wesen  und  den  Entstehungsmechanismus  des  Fiebers  Gel- 
tung haben,  in  Berücksichtigung  ziehen,  können  wir  auf  die  Therapie  des 
Fiebers  übergehen.  Doch  fragt  sich  in  erster  Reihe,  ob  eine  Vermin- 
derung des  Fiebers  überhaupt  zwe  c  km  äs  s  ig  und  heilsam  sei? 
Um  die  Frage  beantworten  zu  können,  müssten  wir  präcise  Kenntnisse  über 
die  Ursache  des  Fiebers  haben,  was  aber  nicht  der  Fall  ist;  es  scheint 
jedoch  annehmbar  zu  sein,  dass  in  der  grössten  Mehrzahl  der  Fälle  ge- 
wisse giftige  Substanzen,  meist  Producta  von  Bacterien  im  Wege  des  Blutes 
die  höhere  Einstellung  der  Wärmeregulirung  verursachen,  indess  ist  aber 
der  Mechanismus  dieses  Processes  noch  unbekannt.  Es  gab  Zeiten,  wo  man 
glaubte,  und  es  gibt  heute  noch  Forscher,  die  derselben  Meinung  sind, 
dass  das  Fieber  eine  heilsame  Reaction  des  Organismus  gegen  die  Krank- 
heitsursache ist.  und  dieser  Annahme  zulieb  wurden  manche  Beobach- 
tungen ausgeführt,  welche  aber  mit  ebensoviel  Recht  auch  anders  gedeutet 
werden  können.  Zu  Beginn  der  bacteriologischen  Auffassung  der  Krankheits- 
ursachen bemühte  man  sich  nachzuweisen,  dass  diese  Microorganismeu 
durch  die  Fieberhitze  geschädigt  werden,  heute  wissen  wir.  dass  die 
Bacterien  die  erhöhten  Wärmegrade  entschieden  besser  vertragen  als  war 
selbst.  Diese  teleologische  Auffassung  scheint  mir  ganz  unbegründet  zu  sein, 
es  wäre  dasselbe,  wenn  man  den  Brandschorf  als  Wehrmittel  bezeichnen 
würde,  oder  den  Krebsknoten  als  Heilungsprocess  deuten  wollte.  Was  aber 
noch  sicherer  als  alle  theoretischen  Erwägungen  in  dieser  Frage  entscheidet, 
ist  der  Umstand,  dass  bei  fieberlos  gehaltenen  Infectionskranken  die  Krank- 
heit weder  länger  dauert,  noch  einen  schwereren  Verlauf  nimmt  als  in  den 
Fällen  mit  sehr  hohen  Temperaturen. 

Bibl.  med.  Wisscn.scliaften.  I.  Iiitenio  MeiHciii  und  Kiiuierkraiikheiteii.  6 


82  '       ANTIPYRESE. 

Der  zweite  Punkt,  den  man  in  der  Beiirtheilung  der  antipyretischen 
Behandlungsweise  vor  Augen  halten  muss,  ist  der,  dass  man  mit  einer  noch 
so  consequent durchgeführten  Antipyrese  den  eigentlichen  Krankheitsprocess 
nicht  im  Mindesten  verkürzt,  noch  in  irgend  welchem  Sinne  direct  beein- 
tlusst.  Nun  tritt  aber  die  Frage  heran,  ivas  tvir  durch  eine  antipyretische  Heil- 
methode gewinnen  können  ?  Das  Fieber  schädigt  den  Organismus  hauptsäch- 
lich durch  denvermehrten  Stotfverbrauch,  welcher  ausser  der  Abmagerung  noch 
alle  jene  Beschwerden  zugleich  hervorruft,  die  durch  die  mangelhafte  Re- 
stitution der  direct  in  Arbeit  umsetzbaren  Stoffe  zu  entstehen  pflegen,  so 
Ermüdung,  Abfall  der  Kräfte,  ferner  treten  noch  manche  mehr  oder  weniger 
schmerzhafte  Erscheinungen  (in  erster  Reihe  Kopfschmerz)  dazu.  Wir  sehen 
aber  tagtäglich,  dass  der  menschliche  Organismus  alle  diese  Beschwerden 
selbst  lange  Zeit  hindurch  aushalten  kann,  und  gewiss  waren  die  Aeusse- 
rungen,.  die  besonders  in  der  ersten  Periode  der  antipyretischen  Behand- 
lung fieberhafter  Krankheiten  von  namhaften  Forschern  über  die  schädliche 
Wirkung  des  Fiebers  auf  das  Herz  und  andere  Organe  gemacht  wurden, 
übertrieben,  da  man  Schädigungen,  welche  wir  heute  der  allgemeinen  Aus- 
breitung der  Infection,  der  Septicaemie  oder  der  Intoxication  zuschreiben 
müssen,  ganz  auf  Rechnung  der  erhöhten  Temperatur  schrieb.  Freilich  sind 
Temperaturen  von  und  über  42°  C.  äusserst  gefährlich,  doch  darf  man  nicht 
vergessen,  dass  die  Ursachen,  die  so  extreme  Erhöhungen  der  Körperwärme 
hervorrufen,  auch  an  und  für  sich  schon  sehr  intensive  sind. 

Wenn  wir  aber  auch  auf  Grund  dieser  Erfahrungsthatsachen  weder 
eine  Verkürzung  der  fieberhaften  Krankheiten  durch  die  Antipyrese  noch 
eine  Aufhebung  der  Gefährlichkeit  dieser  Affectionen  uns  versprechen  können : 
so  genügt  doch  ein  Blick  auf  den  Zustand  eines  Kranken,  der  vor  wenigen  Minu- 
ten in  grösster  Qual  dalag  und  nun  des  Segens  der  Antipyrese  theilhaftig  ge- 
worden ist,  um  die  ganze  Tragweite  dieser  Behandlungsmethode  einselien 
zu  können.  Der  Verlauf  einer  antipyretisch  behandelten  Krankheit,  besonders 
was  die  subjectiven  Gefühle  der  Patienten  betrifft,  ist  unvergleichlich  leichter 
als  ohne  diese  Methode.  Es  scheint  selbst,  dass  eine  sonst  schwere  Krank- 
heit weniger  bei  dieser  Behandlung  die  Betroffenen  entkräftet,  dass  sie 
nicht  so  sehr  abmagern,  dass  sie  sich  in  der  Reconvalescenz  schneller  er- 
holen; freilich  wäre  es  schwierig,  alle  diese  Umstände  statistisch  nachzu- 
weisen. Dass  überhaupt  die  statistische  Methode  nicht  sehr  geeignet  ist, 
in  diesen  Fragen  zu  entscheiden,  beweisen  am  besten  jene  Zusammen- 
stellungen, welche  den  Einfluss  der  Antipyrese  auf  die  Mortalität  zu  demon- 
striren  trachten.  Man  benutzte  gewöhnlich  den  Typhus  abdominalis  zu  diesem 
Zweck  und  fand  Daten,  die  bald  zu  Gunsten  der  Antipyrese  ausfielen,  bald 
aber  schlechtere  Ergebnisse  aufwiesen.  Immerhin  waren  die  Ersteren  in 
Mehrzahl,  doch  lässt  sich  auch  mancher  guter  Wille  in  der  Wahl  der  Fälle 
nicht  abläugnen.  Wenn  einige  Autoren,  Brand  in  erster  Reihe,  zu  einer 
vollständigen  Durchführung  der  Antipyrese  wünschen,  dass  Typhusfälle  vor 
dem  5.  Tage  in  die  Behandlung  kommen  sollen,  so  wird  eine  auf  solche 
Fälle  basirende  Statistik  schon  deshalb  keinen  besonderen  Werth  haben, 
da  sie  nicht  mit  genügend  grossen  Zahlen  arbeiten  kann ;  auch  ist  es  schwer 
einzusehen,  dass  eine  Antipyrese  in  den  ersten  Tagen  die  häufigsten  Todes- 
ursachen, welche  erst  bedeutend  später  eintreten,  beeinflussen  könnte. 
Eine  unparteiische  Betrachtung  der  publicirten  statistischen  Daten,  und  was 
vielleicht  noch  mehr  Werth  besitzt,  obzwar  es  in  Zahlen  nicht  ausdrückbar 
erscheint,  die  persönliche  Erfahrung  und  Beobachtung  zeigen  übereinstimmend, 
dass  in  der  Mortalität  nur  eine  kleine,  höchstens  wenige  Procente  aus- 
machende Differenz  (zii  Gunsten  der  Äntipi/rese)  aime\\mha.v  ist.  Gewiss  ist  das  mit 
der  höchst  evidenten  Erleichterung  des  subjectiven  Befindens  nicht  wenig  in 


ANTIPYRESE.  83 

Widerspruch,  wird  aber  sehr  natürlich,  wenn  man  bedenkt,  dass  die  tödt- 
liche  Wendung  des  Abdominaltyphus  meist  durch  eine  absolut  lethale  Compli- 
cation  (Perforationsperitonitis,  Verblutung,  septische  Allgemein-Infection,  etc.) 
verursacht  wird  und  nur  selten  einfach  in  Folge  von  Entkräftung  ein- 
tritt. Selbst  die  so  sehr  gefürchtete  Herzparalyse  mit  Entartung  des  Herz- 
fleisches hat  ihren  Grund  in  der  deletären  Wirkung  einer  bösartigen  Infec- 
tion,  nicht  in  der  der  erhöhten  Temperatur.  Nur  ein  ganz  kleiner  Theil 
der  Fälle  geht  an  solchen  Complicationen  zu  Grunde,  welche  nicht  von  vorn- 
herein tödtlich  sind,  und  in  welchen  eine  Schonung  der  Kräfte  durch  die 
Antipyrese  eventuell  eine  schlimmere  Wendung  abgehalten  hätte.  Diese 
Sachlage  passt  mutatis  mutandis  auch  auf  die  übrigen  acuten  Infections- 
krankheiten ;  auf  eine  nähere  Beweisführung  einzugehen,  scheint  uns  aber 
umso  weniger  nöthig,  da  die  Erfolge  der  Antipyrese  ihre  beste  Bestätigung 
bilden.  Nach  den  heutigen  Ertahrungen  hat  die  Antipyrese  sehr  wenig  Ein- 
fluss  auf  die  Lebensgefährlichkeit  der  einzelnen  Krankheitsformen,  wohl 
aber  erleichtert  sie  in  einem  sehr  hohen  Grade  die  Leiden  der  Patienten, 
spart  ihre  Kräfte,  vermindert  bedeutend  die  Abmagerung  und  erleichtert  die 
Reconvalescenz.  Nicht  die  Mortalitätsstatistik  der  Aerzte  wird  durch  sie 
gebessert,  sondern  die  Qualen  der  Patienten  werden  reducirt.  Natürlich  wird 
nur  eine  methodisch  durchgeführte  und  auf  richtige  Grund- 
sätze gebaute  Antipyrese  einen  wahren  Nutzen  bringen,  bevor  wir 
aber  von  den  speciellen  Indicationen  sprechen  wollen,  werden  wir  vorerst 
die  einzelnen  Mittel  betrachten. 

Wir  besitzen  heute  zweierlei  Arten  der  Antipyrese:  die  directe 
Entziehung  von  Wärme  mittelst  kalten  Wassers  und  die  medicamentöse, 
mit  verschiedenen,  den  organischen  Verbindungen  angehörigen  Substanzen. 

Die  Methoden  der  Wärme e n tzie hu ng  bestehen  hauptsächlich 
in  der  äusserlichen  Anwendung  des  mehr  oder  weniger  kalten  Wassers,  denn 
die  Versuche,  die  Temperatur  durch  Trinken  von  kaltem  Wasser  oder  durch 
Klysmata  herabzusetzen,  haben  keine  genügende  Piesultate  ergeben.  Die  Pro- 
cedur  der  kalten  Bäder  variirt  sehr  nach  den  einzelnen  Autoren.  Jl'rgensex 
will  die  Temperatur  des  Wassers  zu  15 — 19"  C,  selbst  zu  10 — \5^  C.  be- 
stimmen, Liebermeister  verordnet  Vollbäder  von  20"  C,  während  Ziemssex 
u.  A.  mit  80°  C.  beginnen  und  dann  die  Temperatur  durch  Hinzufügen  von 
kaltem  Wasser  allmälig  bis  25—20°  C.  herabsetzen.  PiIess  will  die  Kranken 
in  35 — 37"  C.  baden,  nachdem  aber  die  letzteren  Wärmegrade  nur  sehr 
wenig  Einfluss  auf  das  Fieber  zeigen,  verlängert  er  die  Dauer  eines  jeden 
Bades  auf  mehrere  Stunden.  Die  Application  dieser  Bäder  geschieht 
derart,  dass  die  Wannen  neben  dem  Bett  aufgestellt  werden  oder  das  Bett 
in  das  vorbereitete  und  genügend  erwärmte  Badezimmer  geschoben  wird, 
dann  wird  der  Kranke  im  Bette  vollständig  entblösst  und  mit  einem  Lein- 
tuch einfach  bedeckt.  Nun  lassen  wir  den  Patienten  mit  dem  ihn  bedeckenden 
Leintuch  ins  Bad  heben,  wobei  es  am  besten  ist,  wenn  das  Wasser  bis  zu 
seinem  Hals  reicht;  das  Leintuch  wird  einfach  über  der  Wanne  ausgebreifet. 
so  dass  eigentlich  nur  der  Kopf  und  diti  Schultern  des  Kranken  sichtbar 
bleiben.  Sollte  jedoch  ein  Vollbad  die  Athmung  erschweren,  dann  kann  man 
auch  weniger  Wasser  nehmen,  doch  muss  der  aus  dem  Wasser  heraus- 
ragende Körpertheil  fortwährend  mit  einem  Schwamm  gewaschen  werden. 
Auch  thut  man  gut,  vor  dem  Bade  einige  Eisumschläge  auf  den  Kopf  zu 
appiiciren,  welche  selbst  im  Wasser  fortgesetzt  werden ;  bei  starken  Gehirn- 
congestionserscheinungen  kann  man  den  Kopf  einigemale  mit  kaltem  Wasser 
übergiessen.  Der  Kranke  soll  sich  im  Bade  still  verhalten,  auch  muss  man 
ihn  so  unterstützen,  dass  er  sich  nicht  zu  halten  brauche.  Es  ist  gut,  während 
der   Dauer    des   Bades    bei  Vermeidung    heftiger  Bewegungen    mit    einem 

b* 


84  ANTIPYRESE. 

Schwämme  oder  dgl.  den  ganzen  Körper  zu  frottireu.  besonders  wenn  der 
Kranke  bald  zu  frieren  anfängt.  Sobald  dies  eintritt  oder  die  Herabsetzung 
der  Körperwärme  genügend  geschehen  ist,  was  circa  1 0  Minuten  beansprucht, 
wird  der  Kranke  (noch  immer  mit  dem  Leintuch  bedecktj  in  das  inzwischen 
neu  gemachte  Bett  auf  ein  trockenes,  nicht  zu  kaltes  Leintuch  gelegt  und 
zugedeckt.  Hände  und  Füsse  sollen  abgetrocknet,  und  wenn  sie  sehr  kalt 
geworden  sind,  mittelst  Wärmflaschen  erwärmt  werden.  Friert  der  Kranke 
stark,  so  muss  man  ihn  besser  zudecken,  doch  soll  mau  die  Bedeckung 
sobald  als  möglich  wieder  leichter  machen.  Das  Thermometer  wird  einge- 
legt, und  so  die  Abnahme  des  Fiebers  gemessen.  Nach  dem  Bade  gibt  man 
etwas  Wein,  bei  schwächeren  Patienten  ist  das  auch  im  Vorhinein  ange- 
zeigt. Das  Wasser  soll  für  ein  jedes  Bad  erneuert  werden  I  —  Die  Methode 
der  nassen  Ein  Wickelungen  wird  am  besten  so  ausgeführt,  dass  zwei 
Betten  nahe  zu  einander  gestellt  werden  uud  auf  das  leere  über  einen 
stärkeren  Kotzen  ein  in  circa  15 — 20°  C.  warmes  Wasser  getauchtes  und  ziem- 
lich ausgewundenes  Leintuch  gelegt  wird,  in  das  man  den  Patienten  hinein- 
hebt und  sodann  einwickelt.  Hiebei  sollen  die  Unterschenkel  und  Füsse 
freibleiben,  so  auch  der  Kopf,  auf  welchen  kalte  Umschläge  gelegt  werden. 
Die  Dauer  einer  Ein  Wickelung  wird  von  den  meisten  Autoren  auf  10 — 20 
Minuten  bestimmt  und  wird  sodann  auf  dem  nebenstehenden  Bett  wieder- 
holt, solange  bis  ein  genügender  Abfall  der  Temperatur  erreicht  ist.  Andere 
Aerzte,  wie  DuJAEDrN^-BEAUMETZ.  lassen  den  Patienten  nur  20 — 30  Secunden 
einge-^TLckelt  und  wiederholen  diese  Procedur  nur  in  grösseren  Zwischen- 
pausen :  der  Zweck  dieser  kurzen  Application  der  Kälte  ist  aber  nicht  die 
Herabsetzung  der  Körperwärme,  sondern  nur  eine  allgemeine,  erfrischende 
Nervenreizung.  Die  Einwickelungen  haben  jedoch  eine  bedeutend  sclucächere 
antipyretische  Wirkung  wie  die  Bäder.  —  Die  Bäder  oder  Einpackungen 
müssen  Tag  und  Nacht  so  oft  wiederholt  werden,  als  die  Temperatur  eine 
gewisse  Grenze  überschreitet  (39 — 40°  C),  was  freilich  bei  intensiveren 
Fiebern  nur  allzu  oft  geschieht,  und  so  werden  in  24  Stunden  bis  zu  16 
Bäder  verabfolgt.  Nun  ist  das  keine  Kleinigkeit  für  das  Wartepersonal, 
und  da  der  Arzt  auch  immer  zugegen  sein  muss,  um  Puls,  Temperatur  zu 
controliren,  etwaigen  Collapserscheinungen  abhelfen,  die  Dauer  der  Bäder 
bestimmen  zu  können,  auch  für  den  behandelnden  x\rzt  keine  geringe  Mühe. 
Aber  nicht  nur  diese,  die  Kranken  selbst,  die  zu  Anfang  die  Bäder  gerne 
ertragen,  werden  bald  ermüdet  und  entschliessen  sich  immer  schwerer. 
Doch  all'  dies  wäre  ja  Nebensache,  und  gewiss  kann  in  einem  Theil  der 
Fälle  diese  Methode  auch  in  der  Privatpraxis  ausgeführt  werden ,  natürlich 
wird  man  sich  aber  zu  einer  solchen  Behandlung  nur  dann  entschliessen,  Avenn 
man  sich  von  ihr  einen  wahren  Nutzen  versprechen  kann  und  wenn  kein 
besserer  W^eg  zu  wählen  bleibt.  Mit  diesen  Proceduren  kann  die  Körper- 
temperatur um  2 — 8"  C.  herabgesetzt  werden,  es  schwinden  damit  zugleich 
die  vom  Fieber  abhängigen  Beschwerden.  Doch  dauert  diese  Ptemission  nur 
kurze  Zeit,  die  Temperatur  steigt  binnen  Kurzem  u.  zw.  ziemlich  rapid 
und  erreicht  ihre  frühere  Höhe  (falls  nicht  eine  spontane  Remission  eintritt) 
in  U/a  bis  2  Stunden,  manchmal  noch  früher,  und  damit  kehren  alle  Qualen 
und  Gefahren  zurück.  Ein  gTOSser  Theil  der  Kranken  verträgt  die  Bäder 
sehr  gut,  andere  hingegen  bekommen,  kaum  ins  Bad  gesetzt,  einen  starken 
Frost  und  müssen  nach  wenigen  Secunden  weder  herausgehoben  werden, 
ohne  dass  ihre  Temperatur  in  nennenswerther  Weise  abgefallen  wäre ; 
diesen  wird  das  fortwährende  Wiederholen  der  Bäder  sehr  unangenehm. 
Oft  werden  die  ersten  Bäder  gut  ertragen,  die  späteren  aber  nicht,  und  in 
solchen  Fällen  nützt  auch  nicht  viel,  wenn  wir  den  Bädern  höhere  Wärme- 
grade geben  und  nur  allmälig  sie   abkühlen:    die  Haut  des  Patienten  wird 


ANTIPYRESE.  85 

Ijlass.  seine  Lippen  cyanotiscli.  Hände  und  Füsse  können  nur  scdiwer  wieder 
erwärmt  werden.  Dies  ist  der  Fall  namentlich  bei  sehr  intensiven  Fiebern, 
welche  allerdings  auch  sehr  schweren  Erkrankungen  entsprechen. 

Betrachten  wir  jetzt  die  me  die  ame  ntös  e  Antipyrese.  Es  gibt 
eine  ganze  Eeihe  von  chemischen  Substanzen,  deren  grösster  Theil  als 
künstliches  Product  dargestellt  wird,  den  aromatischen  Verbindungen  an- 
gehört und  welche  die  fieberhaft  erhöhte  Temperatur  zu  redudren  vermögen. 
Die  normale  Temperatur  wird  durch  diese  Mittel  kaum  beeinflusst.  umso- 
mehr  aber  die  erhöhte  (die  normale  Temperatur  zeigt  aber  auch  eine 
grössere  Resistenz  gegen  die  AYärmeeutziehungsverfahreu),  doch  können 
wir  derzeit  noch  den  Mechanismus  ihrer  Wirkung  nicht  leicht  erklären. 
Ein  Theil  der  Forscher  betrachtet  diese  ]Mittel  als  Xervina  und  ist  bemüht 
nachzuweisen,  dass  sie  direct  die  Wärmeregulirungscentra  angreifen  und 
ihre  erhöhte  Erregbarkeit  herabsetzen.  Andere  halten  wieder  eine  indirecte 
AVirkung  für  wahrscheinlicher  und  sind  geneigt  anzunehmen,  dass  diese 
Mittel  die  fieberverursachenden  Substanzen  (Producte  der  Bacterien  oder 
dgl.)  binden.  Während. die  einen  die  eminente  Wirkung  dieser  Arzneistoffe 
auf  nervöse  Zustände,  und  speciell  gegen  Schmerzen,  zur  Stützung  ihrer 
Annahme  betonen,  wollen  die  Anderen  die  auch  nicht  zu  unterschätzende 
antiseptische  Kraft  derselben  hervorheben.  Freilich  bleibt  es  nicht  ausge- 
schlossen, dass  wenigstens  für  einige  dieser  Medicamente  noch  andere 
Wirkungsweisen  annehmbar  wären.  Die  Beobachtung  scheint  aber  zu  be- 
weisen, dass  wenigstens  bei  den  ganz  speciell  wirksamen  Stoffen  der  Abfall 
der  Temperatur  eine  Folge  der  tiefer  eingestellten  Wärmeregulirung  ist. 
ferner,  dass  mit  ihrer  Wirkung  nicht  nur  die  Körperwärme  sich  zur  Nor- 
malen nähert  oder  selbst  subnormal  wird,  sondern,  dass  gleichzeitig  alle 
übrigen  fieberhaften  Beschwerden  auch  schwinden.  Dieser  unschätzbar  guten 
Wirkung  gegenüber  stehen  aber  auch  unanf/eneJune  Neben effecfe.  welche 
jedoch  den  einzelnen  dieser  Mittel  in  sehr  verschiedenem  Grade  anhaften 
und  uns  bei  der  Wahl  des  anzuwendenden  Antipyreticums  in  erster  Eeihe 
interessiren.  Wir  wollen  nun  diese  Stoffe  näher  besprechen. 

Die  ältesten  im  Gebrauche  sind  die  Herzgifte  Digitalis,  Veratrin,  Col- 
rliicin,  Aconitin.  etc.  Der  Ausgangspunkt  ihrer  Verwendung  gegen  das  Fieber 
war  die  grosse  Frequenz  des  Pulses,  welche  man  in  erster  Pieihe  bekämpfen 
wollte,  es  stellte  sich  hiebei  später  auch  heraus,  dass  diese  ]\Iittel,  und  haupt- 
sächli(di  das  erstere.  auch  einigen,  wenn  auch  spät  eintretenden  und  wenig 
ausgiebigen  Einfluss  auf  die  Temperaturcurve  besitzen.  Aber  um  welchen 
Preis!  Um  einigermassen  das  Fieber  vermindern  zu  können,  rauss  die  Digi- 
talis in  sehr  hohen  Dosen  verwendet  werden,  in  Dosen,  welche  man  ohne 
ernste  Gefährdung  der  Herzthätigkeit  nicht  über  1 — 2  Tage  hinaus  an- 
wenden kann,  umso  weniger,  da  in  fieberhaften  Affectionen  die  Erhaltung 
der  Kraft  des  Herzens  eine  wichtige  Rolle  spielt.  Ohne  Ursache  die  Herz- 
thätigkeit im  Beginne  einer  fieberhaften  Krankheit  anzuspornen.  heissL  so 
viel,  als  ihre  Kraft  im  vorhinein  verschwenden.  Der  cumulative  Cliarakt*er 
dieses  Mittels  verbietet  auch  eine  länger  dauernde  Anwendung  selbst  kleinerer 
Dosen.  Freilich  werden  gewöhnlich  diese  verordnet,  man  verschreibt  „ein 
wenig  Digitalis"  gegen  das  Fieber,  in  solchen  Dosen  entwickelt  es  keine 
antipyretische  Wirkung  und  übt  dennoch  einen  deletären  Effect  auf  das  Herz 
aus.  Heute,  da  wir  viel  ungefährlichere  und  bedeutend  sicherer  wirkende  Arz- 
neien besitzen,  ist  es  geradezu  als  fehlerhaft  zu  bezeichnen,  wenn  Jemand  gegen 
die  erhöhte  Körpertemperatur  Digitalis  verordnet,  ebenso  fehlerhaft  als  das 
früher  übliche  Verfahren  war,  das  Fieber  mittelst  l^enaesection  zu  besänftigen. 
Aerzte,  die  die  Digitalis  gegen  Fieber  verordnen,  kümmern  sich  wenig  um 
eine  mittelst  Thermometer  controlirbare  antipyretische  Wirkung. 


86  ANTIPYRESE. 

Das  Chinin  hat  eine  intensive  antipyretische  Wirkung,  welche  ge- 
wöhnlich 1 — 2  Stunden  nach  der  Einnahme  beginnt  und  2 — 4  Stunden  an- 
hält, jedoch  muss  man,  um  einen  genügenden  Effect  erreichen  zu  können, 
mindestens  l'o  g  bis  2-5  g  (einige  Autoren  wenden  noch  grössere  Gaben 
an)  in  höchstens  einer  Stunde  eingeben.  Mit  dem  Abfall  der  Temperatur 
—  welcher  aber  oft  trotz  der  enormen  Dosen  ungenügend  ist  —  zeigen  sich 
dann  die  unangenehmen  Nebenwirkungen  dieses  Medicaments :  Ohrensausen, 
Schwindel,  manchmal  Sehstörungen,  Verlust  des  Appetits,  Magenbeschwerden 
etc.  Die  Abnahme  des  Fiebers  geschieht  aber  ziemlich  langsam  und  so 
pflegt  kein  stärkeres  Schwitzen  einzutreten.  Die  Wiederkehr  des  Fiebers 
geschieht  auch  allmälig,  und  da  meistens  keine  vollständige  Apyrese  ein- 
getreten war,  somit  die  Differenz  nur  massig  war,  stellt  sich  die  Erhöhung 
der  Temperatur  ohne  Frost  ein. 

Einen  bedeutenden  Fortschritt  in  der  Antipyrese  bildete  die  Ein- 
führung der  Salicylsäure,  welche  aber  bald  durch  das  salicylsaure 
Natron  zweckmässig  ersetzt  wurde.  Der  antipyretische  Effect  dieses  Pul- 
vers ist  sehr  gross,  die  Temperatur  fällt  nach  Dosen  von  2 — 4l  g  um  2  — S^C, 
und  die  Wirkung  hält  mehrere  Stunden  an.  Die  Entfieberung  beginnt  schon 
innerhalb  der  ersten  Stunde  nach  der  Ingestion  der  nothwendigen  Dosis,  und 
nachdem  die  Temperatur  sehr  rasch  fällt,  so  bricht  ein  starker  Schweiss 
aus;  der  Wiederanstieg  der  Körperwärme  hingegen  geschieht  ziemlich  lang- 
sam, und  so  kommt  es  zu  keinem  Frostanfall.  Das  Natr.  salicyl.  sollte  man 
immer  in  Wasser  gelöst  eingeben,  da  es,  wenn  es  in  Pulverform  genommen  wird, 
sich  äusserst  schnell  im  Magen  löst  und  daselbst  ein  Brennen  verursacht; 
wollte  man  es  aber  doch  in  Oblaten  geben,  so  lasse  man  viel  Flüssigkeit 
(Milch,  Wasser)  gleich  nachtrinken.  Gewöhnlich  gibt  man  nicht  mehr  als 
l'O  g  pro  dosi,  wiederholt  aber  diese  Gabe  V2Stündlich  so  lange,  bis  der  Effect 
genügend  eingetreten  ist.  Als  unangenehme  Nebenwirkung  wird  Ohrensausen, 
hauptsächlich  aber  Magenschmerzen,  selbst  Appetitlosigkeit  verzeichnet,  es 
scheint  auch,  dass  bei  seinem  Gebrauch  Darmblutungen  beim  Typhus  abd. 
häufiger  eintreten.  Die  meisten  Autoren  erwähnen  auch  Collapserscheinungen 
und  Anfälle  von  Herzschwäche,  über  diese  siehe  weiter  unten.  Die  Salicyl- 
säure scheint  eine  noch  intensivere  antipyretische  Wirkung  zu  besitzen,  doch 
sind  alle  schädlichen  Nebenffecte  bei  ihr  bedeutend  ausgesprochener. 

Diese  eben  aufgezählten,  eminent  specifischen  Mittel:  die  Digitalis 
als  Herztonicum,  das  Chinin  als  Antimalaricum  und  das  Natr.  salicyl.,  der 
beste  Bekämpfer  der  Polyarthritis,  sind  heute  als  Antipyretica  durch  be- 
deutend bessere  ersetzt.  Unter  diesen  wollen  wir  aber  nicht  das  Kairin, 
Thallin,  Resorcin,  noch  die  Carbohcwre  etc.  erwähnen,  da  diese  derzeit  so 
gut  wie  ausser  Gebrauch  gesetzt  sind.  Auch  ist  es  noch  schwer,  ein  end- 
giltiges  Urtheil  über  das  neuerdings  aufgetauchte  PlienocoUum  Jujdrochlorlcum 
u.  a.  zu  fällen,  während  wir  heute  eine  reiche  Erfahrung  über  das  Aceta- 
nilid,  das  Antvpgr'm  imdPhenacetin  besitzen. 

Das  Acetanilid  oder  Antifebrin  hat  eine  sehr  kräftige  anti- 
pyretische Wirkung  und  setzt  schon  in  Dosen  von  O'ö — O-lb  Temperaturen 
von  4-00  C.  (bis  zur  normalen)  herab ;  nachdem  die  Defervescenz  in  diesen 
Fällen  binnen  wenigen  Minuten,  gewöhnlich  innerhalb  der  ersten  halben 
Stunde  beginnt  und  sehr  rasch  erfolgt,  so  wird  sie  von  einer  inten- 
siven Transpiration  begleitet,  deren  Unannehmlichkeit  die  Euphorie  der 
Apyrese  leicht  aufwiegt.  Das  Acetanilid  ist  ein  weisses  Pulver,  in  Wasser 
kaum  löslich  und  somit  geschmacklos,  sein  grösster  Vorzug  ist  sein  geringer 
Preis,  welcher  durch  die  relativ  kleine,  anzuwendende  Dosis  (höchstens 
l'O)  noch  eclatanter  hervortritt  (1-0  Acetanilid  =  3  kr.,  während  die  ihm 
gleich irerthlge  Dosis  Fhenacetin  l'ö  ==  22  kr.^  3-0 — i'O  Antlpijrin  48 — -64  kr. 


ANTIPYRESE.  87 

koüen  ohne  Exp.).  Dieser  Vortheil,  der  ihm  in  der  Armenpraxis  eine  gewisse 
Stelle  verschafft;  wird  durch  mancherlei  sehr  störende  Nebenwir- 
kungen bedeutend  eingeschränkt.  Erstens  tritt  nämlich  eine  ausgesprochene 
Ci/anose  besonders  an  den  Lippen  auf,  welche  ganz  bläulich  werden ;  man 
weiss  zwar  noch  nicht  die  eigentliche  Ursache  dieser  Erscheinung,  welche 
einige  Autoren  für  das  Symptom  einer  Contraction  der  Capillargefässe  be- 
trachten, andere  hingegen  auf  eine  Methaemoglobinbildung  im  Blute  zurück- 
führen wollen,  so  viel  ist  aber  gewiss,  dass  die  Cyanose  sonst  nichts  Beun- 
ruhigendes zeigt,  und  die  Kranken  sich  dabei  ganz  wohl  fühlen.  Zweitens 
aber  verursacht  dieses  Mittel  —  wahrscheinlich  nur  in  Folge  seiner  äusserst 
rasch  und  intensiv  eintretenden  Wirkung  —  bei  schwächeren  Individuen  kurz 
dauernde  Störungen  im  Allgemeinbefinden,  in  der  Herzthätigkeit,  welche 
zur  Vorsicht  mahnen,  und  wir  müssen  dem  allgemein  gegebenen  Eath  nur 
beistimmen,  dass  man  Kindern  und  sonst  schwächlichen,  besonders  an 
Circulationsstörungen  leidenden  Kranken  dieses  Mittel  absolut  nicht  ver- 
schreibe und  überhaupt  nur  dann  zu  diesem  Mittel  als  Antipyreticum  greife, 
wenn  Armuth  die  Verordnung  der  theuereren  Medicamente  ganz  verbietet. 
Die  Defervescenz  dauert  mehrere  Stunden  (6 — 7,  manchmal  noch  mehr), 
dann  aber  kehrt  das  Fieber  sehr  rasch,  oft  in  Form  eines  Schüttelfrostes 
zurück;  diesem  kann  man  dadurch  abhelfen,  dass  man  in  der  letzten  Stunde 
der  Apyrese  die  nöthige  Dosis  wiederholt.  Will  man  eine  Febris  continua 
mit  Acetanilid  behandeln,  so  ist  es  besser  die  Einzelgaben  kleiner  zu 
nehmen,  etwa  0-4— 0*5,  diese  aber  stündlich  so  lange  zu  repetiren,  bis  die 
gewünschte  Wirkung  erreicht  ist.  Hiedurch  wird  der  Verlauf  der  Deferves- 
cenz milder,  auch  die  Rückkehr  des  Fiebers  geschieht  ohne  besondere 
Störungen. 

Das  Antipyrin  ist  unstreitig  unser  u-irksamstes  und  bestes  Ardipi./re- 
ücum.  Es  löst  sich  in  Wasser  sehr  leicht,  die  Lösung  hat  aber  einen  wider- 
lichen Geschmack,  weshalb  man  dieses  Mittel  in  Oblaten  nehmen  lassen 
soll,  wobei  das  Nachtrinken  von  Wasser  oder  Milch  auch  zu  empfehlen  ist. 
Diese  Leichtlösbarkeit  des  Antipyrins  eignet  es  zur  Anwendung  mittelst 
Klystiere,  während  sich  die  subcutane  Application  in  der  Behandlung  des 
Fiebers  nicht  bewährt  hat.  - —  Das  Antipyrin  in  der  Dosis  von  2- — 4-0  g,  u.  z, 
in  Einzelgaben  von  1*0  g,  halbstündlich  wiederholt,  oder  3 — 5-0  g 
auf  einmal  in  circa  100  ccm  Wasser  gelöst  und  in  den  Mastdarm  ein- 
gespritzt, entfaltet  schon  in  kurzer  Zeit  (in  letzterer  Form  oft  nach  10  bis 
15  Minuten)  seine  sehr  intensive  Wirkung,  die  gewöhnlich  mit  einem  pro- 
fusen Schweisse  beginnt  und  dann  ziemlich  gleichmässig  längere  Zeit  an- 
hält; die  Temperatur  erreicht  ihr  Minimum  am  Ende  der  Apyrese,  kurz 
vor  dem  Beginn  des  wieder  eintretenden  Fiebers.  Diese  steigt  aber  ziem- 
lich allmälig  an,  die  Kranken  fangen  an  zu  frieren,  es  kommt  jedoch  sehr 
selten  zu  wahrem  Schüttelfrost.  Die  Apyrese  hält  auch  bei  intensiveren 
Fiebern  gewöhnlich  6  Stunden  an,  bei  der  Abnahme  des  Fiebers  verlängert 
sich  auch  seine  Wirkung,  es  scheint,  dass  ihre  Dauer  in  einem  bestimmten 
Verhältniss  zu  der  Intensität  des  Fiebers  steht.  Unangenehme  Nebenwir- 
kungen besitzt  das  Antipyrin  kaum  und  wird  in  den  meisten  Fällen  sehr 
gut  vertragen,  die  Sicherheit  seines  antipyretischen  Effectes  lässt  nichts  zu 
wünschen.  In  einigen  Fällen  erscheint  bei  seinem  längereu  Gebrauch  ein 
Hautausschlag,  welcher  den  Masern  nicht  unähnlich,  doch  massiver  als  diese 
ist-  und  schon  zu  falschen  Diagnosen  geführt  hat;  dieser  Ausschlag  schwindet 
in  wenigen  Tagen  und  hat  weder  prognostisch  noch  sonst  irgend  eine  üble 
Bedeutung. 

Als  letztes  in  der  Reihe  der  Antipyretica  wollen  wir  das  Phena- 
cetin  erwähnen,    welches    einige   sehr   schätzenswerthe  Eigenschaften  be- 


88  ANTIPYRESE. 

sitzt.  Seine  Wirkung  ist  ebenso  prompt,  vielleicht  noch  angenehmer  wie 
die  des  Antipyrins  und  ist  diesem  auch  in  der  Dauer  und  dem  Verlauf  der 
Apyrese  sehr  ähnlich.  Die  Vorzüge,  die  es  gegenüber  dem  Autipyrin  auf- 
weist, sind  erstens  die  bedeutend  kleinere  Menge,  mit  welcher  man  eine 
vollständige  Defervesceuz  erreichen  kann,  indem  für  den  Erwachsenen 
1-0  (j,  höchstens  l"o  g  genügen,  und  zweitens  seine  Geschmack- 
losigkeit, durch  welche  das  Phenacetin  in  der  Kinderpraxis  ganz  speciell 
angewendet  zu  werden  verdient.  Kindern  gibt  man  die  nöthige  Quantität 
vom  Pulver,  indem  man  sie  auf  einen  Löffel  Zuckerwasser  streut,  das 
Phenacetin  schwimmt  auf  der  Oberfläche  und  sieht  wie  Zucker  aus.  Selbst 
Säuglingen  kann  man  es.  und  mit  dem  besten  Piesultat  geben,  nur  sei  man 
nicht  allzu  sparsam  mit  der  Dosis,  0-10 — 0-30  werden  leicht  vertragen.  Eine 
der  allergrössten  Wohlthaten  dieser  Mittel  sieht  man  eben  in  diesen  Fällen, 
das  kranke  Kind  spielt  wie  ein  gesundes,  sobald  die  Wirkung  eingetreten 
ist.  Kräftigeren  Kindern  von  3  Jahren  an  muss  man  aber  0-75 — 0*90  g 
geben.  Unerwünschte  Nebenwirkungen  besitzt  dieses  Mittel  so  gut  wie  gar 
nicht,  nur  hat  es  einen  Fehler:  zuweilen  — •  aus  noch  unbekannten  Gründen 
—  bleibt  seine  Wirkung  einfach  aus,  selbst  in  Fällen,  in  denen  es  bis 
dahin  gan:^  vorzüglich  gewirkt  hat.  Vielleicht  fehlte  in  diesen  Fällen  die 
saure  Eeaction  des  Magens,  diese  Reaction  ist  aber  zu  seiner  Lösung  nöthig, 
es  wäre  möglich,  dass  man  unter  diesen  Umständen  durch  ein  saures  Ge- 
tränk, die  Wirkung  herbeiführen  könnte. 

Nun  wollen  wir  zur  Besprechung  der  Indicationen  übergehen, 
welche  Mittel  man  in  den  einzelnen  Fällen  am  besten  wählen  soll,  und 
wie  man  sie  verordnen  muss.  Wenn  wir  in  dem  Folgenden  von  der  Auf- 
fassung der  meisten  und  bedeutendsten  Bearbeitern  dieses  Themas  einiger- 
massen  abweichen,  so  hat  das  seinen  Grund  besonders  darin,  dass  wir  heute 
an  Erfahrung  bedeutend  reicher  sind  und  dass  wir  heute  bessere  Methoden 
haben,  als  man  bisher  hatte.  Es  ist  auch  unmöglich,  sich  ein  richtiges  Urtheil 
zu  bilden  über  die  Angaben  in  der  Literatur,  betreffend  den  Werth  der 
einzelnen  Verfahren,  besonders  wenn  man  nicht  genügende  persönliche  Er- 
fahrung besitzt,  ohne  die  historische  Entwicklung  der  Lehre  von  der  Anti- 
'pyrese  zu  berücksichtigen;  gleichzeitig  muss  man  aber  vor  Augen  halten, 
dass  einige  der  Krankheiten,  die  mittslst  Antipyrese  behandelt  werden, 
heute  beiweitem  nicht  mit  so  schweren  Symptomen  einhergehen  und  auch 
kleinere  Mortalität  aufweisen  wie  vor  15—20  Jahren,  u.  zw.  ganz  unabhängig 
von  der  Behandlungsweise. 

Die  Kaltwasserbehandlung  stammt  von  einem  Mitgiiede  jener 
genialen  Aerztegeneration,  welche  England  zu  Ende  des  vorigen  und  zu 
Beginn  unseres  Jahrhunderts  besass.  James  Cukrie  gab  zuerst  kalte  Bäder 
und  Waschungen  Fieberkranken  und  controlirte  schon  ihre  Wirkung  mit 
dem  Thermometer.  Ihm  folgte  bald  in  Ungarn  P.  Kolbany  (1811)  und  dann 
noch  Andere.  Obgleich  aber  die  beschriebenen  liesultate  die  besten  waren, 
konnte  man  sich\lamals  nicht  zu  dieser  Behandlungsweise  entschliessen,  bis 
Beand  (besonders  nach  1870)  und  seine  Anhänger,  Bartels,  Liebermeistek, 
JüeCtEnsen  u.  A.  durch  ihre  sorgfältigen  Arbeiten  der  Antipyrese  die  Thore 
öffneten.  Erst  später  (gegen  1840)  versuchte  man  das  Chinin,  welches  haupt- 
sächlich als  Antimalaricum  gebraucht  wurde,  gegen  andersartige  Fieber. 
1876  trat  die  Salici/lsäurp,  1877  das  Natron  saUci/lieum  iliren  Weg  an.  und 
das  ÄnUpi/rin  datirt  erst  seit  dem  Jahre  1884.  Nun  bedeutet  aber  ein  jedes 
dieser  Mittel  einen  Fortschritt  über  die  vorhergehenden,  und  wenn  wir 
heute  einen  Vergleich  zwischen  der  Kaltwasserbehandlung  und  der  inneren 
Medication  anstellen  wollen,  so  müssen  wir  die  besten  der  uns  zu  Gebote 
stehenden    IMittel   wählen,    was   früheren   Bearbeitern  dieses  Themas  nicht 


ANTIPYRESE.  80 

iu  solchem  Masse  möglich  war.  Hiezii  kommt  noch,  dass  die  wärmsten  Ver- 
theidiger  der  Kaltwasserbehandlung  die  antipyretischen  Mittel  nur  als  Re- 
serve (Liebeemeister)  für  die  allerschwersten  Fälle  verwenden  wollen, 
natürlich  wird  hiedurch  der  Credit  dieser  Medicamente  nicht  gehoben. 

Wir  müssen  eingestehen,  dass,  was  die  Kaltwasserhehandlung  anbetrifft, 
die  t  h  e  0  r  e  t  i  s  c  h  e  n  E  r  w  ä  g  u  n  g  e  n  einigermassen  in  Widerspruch  mit 
den  praktischen  Erfahrungen  sind.  Nachdem  nämlich  im  Fieber  die  Wärme- 
regulirung  höher  eingestellt  ist  als  normal,  so  muss  in  Folge  dessen  der 
durch  Wärmeentziehung  abgekühlte  Körper  von  Neuem  so  viel  Wärme 
produciren,  dass  die  Temperatur  wdeder  die  frühere  Höhe  erreiche.  Freilich 
könnte  man  auch  annehmen,  dass  durch  das  kalte  Bad  das  Wärmereguli- 
rungscentrum  reflectorisch  beeinflusst  wird,  dies  scheint  aber  nicht  der 
Wahrheit  zu  entsprechen,  da  thatsächlich  die  Körpertemperatur  sofort  nach 
dem  Bade  allmälig  zu  steigen  beginnt  und  in  kurzer  Zeit,  in  circa  l'/ü 
Stunden  die  frühere  Höhe  einnimmt.  Was  geschieht  während  dieser  Zeit? 
Der  Körper  muss  so  viel  Wärme  produciren,  als  er  im  Bade  verloren  hat, 
nebstbei  natürlich  noch  seinen  fortwährenden  A^erlust  decken.  Die  schönen 
Untersuchungen  Liebermeister's  beweisen  nun,  dass  die  Wärmeproduction 
besonders  während  des  Ansteigens  der  Temperatur  vergrössert  ist,  während 
im  Stad.  acmes  dieselbe  nur  wenig  mehr  als  das  normale  Mass  beträgt. 
Auf  Grund  dieser  Untersuchungen  (bestimmt  durch  die  Abwägung  der  Ver- 
mehrung der  Kohlensäureausscheidung)  kann  man  annehmen,  dass  die  Er- 
hebung der  Körperwärme  um  1  Grad  Celsius  ungefähr  ebensoviel  Calorien 
erfordert,  als  der  Körper  in  einer  halben  Stunde  bei  gleichbleibender 
Temperatur  verliert.  Wenn  wir  also  annehmen,  dass  bei  einem  Kranken 
die  Temperatur  von  40  Grad  auf  37  Grad  in  Folge  eines  kalten  Bades 
gesunken  ist,  und  das  Fieber  in  r/2  Stunden  wieder  seine  frühere  Höhe 
erreicht  hat:  dann  ist  es  leicht  einzusehen,  dass  der  Kranke  innerhalb 
dieser  IV2  Stunden  eben  das  Doppelte  an  Wärmeproduction  geleistet  hat. 
Nun  Wärmebildung  und  Stoffverbrauch  ist  ja  dasselbe,  wenn  wir  uns  aber 
fragen,  woher  der  Patient  diesen  Stoff  verbrauch  deckt,  so  wird  man  nicht 
annehmen  können,  dass  er  entsprechende  Mengen  zu  sich  nimmt,  sondern 
einen  grossen  Theil  aus  seinem  eigenen  Fleisch  und  Blut  zu  bezahlen  hat. 
Das  Ersparniss  während  der  Apyrese  kommt  hier  kaum  in  Betracht,  weil 
einestheils  dieses  Stadium  sehr  kurz  dauert,  anderentheils  aber  beträgt  die 
Differenz  zwischen  der  Apyrese  und  der  Febris  continua  nur  circa  25  bis 
oO  Procent,  während  bei  clem  raschen  Anstieg  des  Fiebers  in  einer  halbem 
Stunde  2-0  Procent  mehr  Wärme  gebildet  wird.  Somit  leistet  unser  Kranke 
in  der  Erwärmung  des  Bades  eine  Arbeit,  die,  wenn  das  Bad  15 — 16mal 
in  24  Stunden  wiederholt  wird,  eine  ganz  beträchtliche  zu  nennen  ist.  Die 
Erfahrung  lehrt  aber,  dass  die  Kranken  diese  Mehrarbeit  nicht  nur  leisten 
können,  sondern  dass  sie  dabei  noch  besser  auskommen.  Es  wäre  aber  ganz 
unrichtig,  wenn  man  die  guten  Effecte  der  Kaltwasserbehandlung  allein  der 
Verminderung  des  Fiebers  zuschreiben  wollte,  im  Gegentheil  sclieint-uns 
die  erfrischende  Wirkung  auf  das  Nervensystem  und  die  hygienische  auf  die 
Haut  vielleicht  noch  wichtiger  zu  sein.  Ob  diese  enorme  Steigerung  des 
Stoffumsatzes  auch  zum  Nutzen  der  Kranken  gereicht,  scheint  sehr  fraglich  zu 
sein  und  ist  nicht  besonders  wahrscheinlich.  —  Die  Kaltwasserbehandlung 
des  Fiebers  hat  aber  auch  einige  C  ontr  aindication  en,  welche  ihre 
Anwendung  (nebenbei  sei  bemerkt:  zu  Gunsten  ihrer  Mortalitätsstatistik)' 
absolut  verbieten,  diese  sind:  Neigung  zu  Blutungen  (aus  Darm-,  Lungen-. 
Gehirngefässen),  ferner  grosse  Schwäche  und  bedeutendere  Schmerzen  (Poly- 
arthritis, Meningitis  etc.,  selbst  bei  Verdacht  auf  Peritonitis  !).  dann  noch  com- 
plicirende  Nierenaffectionen,  Ohrenleiden,  starker  Hustenreiz  u.  m.  A. 


90  ANTIPYEESE. 

Anders  steht  es  mit  den  anüpijreüscJien  Mitteln,  die,  abgesehen  von 
ihren  Nebenwirkungen,  bedeutend  längere  Zeit  dauernde  Apyrese  hervorzu- 
rufen vermögen,  wobei  es  noch  in  unserer  Macht  steht,  die  so  bedeutende 
Wärmeproduction  bei  der  Wiederkehr  des  Fiebers  viel  gründlicher  wie  bei 
der  Kaltwasserbehandlung  dem  Patienten  ersparen  zu  können,  indem  ym 
noch  vor  dem  Eintritt  oder  beim  ersten  halben  Grad  der  Temperatur- 
erhöhung eine  erneuerte  Dosis  verabfolgen,  was  mit  der  Wärmeentziehungs- 
methode ganz  unerreichbar  ist.  Früher  hat  man  den  Satz  aufgestellt,  dass 
intermittirende  Fieber  viel  leichter  zu  ertragen  wären  als  continuirliche, 
und  hat  als  Beweis  den  Intermittens  mit  dem  Typhus  und  der  Pneumonie 
verglichen,  wobei  man  aber  vergass,  dass  die  grössere  oder  kleinere  Ge- 
fährlichkeit dieser  Krankheiten  gar  nicht  vom  Fiebertypus  bedingt  wird; 
ein  solcher  Vergleich  hat  absolut  keinen  Sinn.  Man  kann  aber  diese  Frage 
nicht  einmal  vom  pathologisch- anatomischen  Standpunkte  aus  beurtheilen, 
da  die  meisten  dem  Fieber  zugeschriebenen  parenchymatösen  Degenerationen 
nicht  viel  beweisen :  denn  erstens  findet  man  diese  Degenerationen  in  der 
Leiche,  somit  in  Fällen,  welche  tödtlich  verliefen,  und  wo  dieselben  ebenso 
gut  eine  Folge  der  schweren  Erkrankung  sein  konnten,  zweitens,  wenn  sie 
durch  die  erhöhte  Körperwärme  entstanden  sind,  so  müsste  man  ihr  Vor- 
handensein bei  allen  Fiebern  annehmen,  und  da  ein  grosser  Theil,  selbst 
der  schwersten  Fieberkranken,  wieder  gesund  wird,  so  müsste  diese  Degene- 
ration leicht  reparabel  sein,  und  drittens,  falls  dieselben  eine  directe  Folge 
des  Fiebers  wären,  so  müsste  die  antipyretische  Behandlung  noch  viel 
grösseren  Einfluss  auf  die  Verbesserung  der  Mortalität  haben. 

Wenn  wir  also  einen  Vergleich  zwischen  beiden  Behand- 
lungsmethoden anstellen,  so  zeigt  sich,  dass  wir  mittelst  der  medi- 
camentösen  Antipyrese  eine  bedeutend  energischere,  länger  anhal- 
tende und  ganz  pünktlich  bestimmbare  Verminderung  des 
Fiebers  erreichen  und  dabei  die  Rückkehr  der  Temperatursteigerung 
imd  die  hiemit  verbundene  Mehrarbeit  vermeiden  können ,  und  dies 
Alles,  ohne  dem  Kranken  das  Geringste  zu  schaden,  ohne  den  Heilungs- 
process  zu  verzögern.  Ich  muss  aber  hier  einen  oft  erwähnten  Umstand 
besprechen,  den  man  häufig  gegen  die  medicamentöse  Antipyrese  ins  Feld 
geführt  findet,  dass  nämlich  diese  Mittel  Herzschwäche  und  Collapserschei- 
nungen  verursachen.  Hier  hat  man  auch  vieles  übertrieben;  ich  habe 
gesehen,  wie  man  Kranke,  bei  denen  eine  subnoimale  Temperatur  von 
86"  C.  oder  ?>b-h^  bei  der  Defervescenz  eingetreten  ist,  schleunigst  mit 
Campher  und  anderen  Excitantieu  tractirte,  obzwar  der  Patient  im  besten 
Wohlsein  sich  fühlte  und  der  Puls  70 — 80  betrug.  Freilich  bemerkt  man. 
dass  der  gespannte,  volle. Puls  im  Fieber  während  der  Defervescenz  weich 
und  klein  geworden  ist;  nun  ist  aber  die  Ursache  dieses  Verhaltens  ganz 
natürlich:  im  Fieber  waren  die  Capillargefässe  mehr  contrahirt  und  die 
Herzaction  bedeutend  erhöht,  nach  der  Wirkung  des  Antipyreticums  er- 
weitern sich  die  Capillaren,  die  Herzthätigkeit  geht  auch  zurück  und  in 
Folge  dieser  Veränderungen  sinkt  der  arterielle  Blutdruck,  doch  wird  dabei 
die  Geschwindigkeit  der  Blutströmung  noch  erhöht.  Herzschwäche  zeigt 
sich  in  erster  Linie  durch  vermehrte  Frequenz  des  Pulses,  während  bei  der 
richtig  geleiteten  Antipyrese  die  Pulsfrequenz  immer  mit  der  Temperatur 
Schritt  hält.  Man  darf  nicht  vergessen,  dass  subnormale  Temperaturen  auch 
bei  der  natürlichen  Krise  eintreten.  Freilich  sind  wahre  Collapserschei- 
nungen  hie  und  da  beobachtet  worden,  besonders  wenn  die  Patienten  die 
Gebrauchsanweisung  des  Arztes  missverstanden  haben,  manchmal  aber  auch 
bei  persönlicher  Idiosynkrasie  gegen  das  eine  oder  andere  Mittel,  doch  so 
viel  man  weiss,  sind  tödtliche  Fälle  darunter  kaum  vorgekommen,  was  bei 


ANTIPYRESE.  91 

der  enormen  Anwendung  der  Antipyretica  (auch  zu  anderen  Zwecken)  der 
beste  Beweis  ihrer  Unschädlichkeit  ist. 

Bei  der  Autipyrese  durch  Wärmeentziehung,  durch  lii/drotherapeutische 
Proceduren,  gelingt  es  nur  mit  grosser  Mühe  den  Kranken  für  längere  Zeit 
lieberlos  zu  macheu,  und  eine  continuirliche  Apyrese  ist  so  gut  wie  unmög- 
lich. Das  fortwährend  zurückkehrende  Fieber  macht  dem  Kranken  eine 
beträchtliche  Mehrarbeit  nöthig,  indess  wird  diese  von  den  meisten  gut  er- 
tragen, umsomehr,  da  die  erfrischende,  die  Thätigkeit  des  Nervensystems 
sehr  wohl  beeinHussende,  und  in  hygienischer  Hinsicht  auch  sehr  schätzens- 
werthe  Wirkung  dem  Kranken  .'zugute  kommt. 

Aus  all  diesem  folgt,  dass  man  die  beiden  Methoden  nicht  in  gleichem 
Sinne  gebrauchen  wird,  sondern  nach  der  Individualität  des  Kranken  das 
passendere  wählen  soll,  auch  kann  man  beide  Methoden  sehr  wohl  mitein- 
ander verbinden,  und  dann  von  der  ersteren  die  antipyretische,  von  der 
letzteren  die  tonisirende  und  hygienische  Wirkung  ausnützen. 

Die  speciellen  Indicationen  wird  eine  sorgfältige  Beobachtung  ergeben, 
zu  diesem  Zwecke  muss  man  bei  einer  jeden  fieberhaften  Krankheit  die 
Temperatur  so  oft  als  nothwendig  messen.  Mit  den  heutigen  sehr  präcisen 
und  schnell  messenden  Thermometern  ist  dies,  besonders  wenn  man  dazu 
die  Beihilfe  der  Angehörigen  verwerthen  kann,  leicht  auszuführen,  man 
lässt  jede  zweite  bis  dritte  Stunde  die  Temperatur  bestimmen,  wenn  nöthig 
auch  in  der  Zwischenzeit.  Es  ist  äusserst  zweckmässig  in  jedem  Falle, 
gleich  zu  Beginn  die  Werthe  auf  einen  Papierstreifen  notiren  zu  lassen, 
da  man  sie  sonst  sehr  leicht  vergisst,  man  benützt  diese  Tabelle,  um  gleiche 
Notizen  auch  betreffend  die  Medicamente  und  Nahrung  zu  machen.  Nun 
ist  es  eine  verschiedenartig  aufgefasste  Sache,  ob  man  gleich  am  ersten 
Abend,  wenn  der  Kranke  stark  fiebert,  ein  Antipyreticum  anwenden  solle 
oder  nicht?  Manche  glauben,  dass  man  sich  hiedurch  die  Diagnose  erschwert, 
dies  scheint  mir  aber  nicht  der  Fall  zu  sein,  da  am  nächsten  Morgen  die 
Ptückkehr  des  Fiebers  eine  Febris  continua,  ihr  Ausbleiben  (über  die  Wir- 
kungszeit des  Antipyreticums)  ein  intermittirendes  Fieber  zeigt;  eine  Aus- 
nahme bilden  natürlich  die  Fälle,  welche  malarischen  Ursprungs  zu  sein 
scheinen,  in  welchen  man  bis  zur  Feststellung  der  Diagnose  keine  Anti- 
pyretica gibt.  Ich  wüsste  es  aber  nicht  genügend  zu  motiviren,  einen  Kranken 
aus  diesem  unzureichenden  Grunde  eine  ganze  Nacht  hindurch  leiden  zu 
lassen.  Doch  will  ich  damit  nicht  sagen,  dass  man  wegen  unbedeutender 
Temperaturerhebungen  gleich  therapeutisch  einschreiten  solle ;  was  uns  aber 
die  Indication  zur  Antipyrese  besonders  anzeigt,  sind  ausser  den  Angaben 
des  Thermometers  in  erster  Pieihe  die  subjectiven  Gefühle  des  Patienten. 
Einem  Phthisiker.  der  sich  besser  bei  40*'  C.  wie  bei  normaler  Temperatur 
fühlt,  soll  man  nicht  antipyretische  Mittel  verschreiben,  und  selbst  wenn 
das  Fieber  solchen  Kranken  manche  Beschwerden  verursacht,  greife  man 
nicht  sogleich  zu  den  aufgezählten  Mitteln,  sondern  trachte  durch  Bettruhe, 
hygienische  Massregeln  und  Appetitverbesserung  das  Fieber  zu  sistireir,  ,und 
nur  in  den  Fällen,  wo  hohe  Temperaturen  mit  grossen  Beschwerden  sich 
zeigen,  soll  man  —  natürlich  nicht  mit  kalten  Bädern  —  die  Dauer  der 
Anfälle  zu  verkürzen  trachten.  Man  gibt  mit  Vorliebe  in  diesen  Fällen  das 
Chinin,  weil  das  Fieber  einen  iutermittirenden  Charakter  zeigt  und  somit 
die  antipyretische  Wirkung  nur  auf  kurze  Zeit  nothwendig  ist,  und  weil  die 
Patienten  schon  ohne  Medicamente  auch  sehr  schwitzen.  Ein  profuser  Schweiss 
ist  gewiss  unangenehm,  wenn  man  aber  gewöhnlich  annimmt,  dass  er  die 
Kranken  schwäclit,  so  verwechselt  man  das  Schwitzen  mit  dem  tuberculo- 
tischen  Processe.  Der  Schweiss,  durch  welchen  man  fast  nur  Wasser  ver- 
liert, hat  nichts  mit  der  Entkräftung  zu  thun,  er  hat  auch  in  diesen  Fällen 


92  ■  ANTIPYRESE. 

liauptsacblich  nur  die  Bedeutung  des  jälien  Abfalles  der  Körpertemperatur. 
Die  neueren  Antipyretica,  und  namentlich  das  Antipyrin,  vertragen  sich  gut 
mit  den  schweisshemmenden  Mitteln,  so  dass  man  eventuell  auch  diese  an- 
wenden kann,  umsomehr,  da  die  zu  einer  Entfieberung  nöthige  Dosis  Chinin 
nicht  im  Mindesten  ein  Tonicum  genannt  werden  darf. 

Bei  einem  acuten  infectiösen  Processe  mit  einer  Febris  continua  wird 
man,  wenn  der  Kranke  gleich  in  den  ersten  Tagen  grosse  Abgeschlagenheit. 
Delirien,  Benommenheit,  Irregularität  des  Pulses  zeigt,  Vorkehrungen  zu 
einer  Hydrotherapie  treffen  und  einigemal  im  Tage  Bäder  von  24 — 20°  C. 
geben  oder  die  nassen  Einwickelungen  versuchen.  Da  wir  aber  in  diesen 
Bädern  hauptsächlich  nur  ein  Tonicum  des  Kervensystems  ersehen,  so 
glauben  wir,  und  unsere  Erfahrung  scheint  dasselbe  zu  beweisen,  dass  in 
24  Stunden  zwei,  höchstens  drei  solche  Bäder  vollkommen  genügen,  die 
eigentliche  Äntipyrese  besorgen  v:ir  aher  mit  der  medicamenfössn  Methode. 
Natürlich  geben  wir  die  Bäder  nur  während  des  Fiebers  und  theilen  uns 
die  Sache  so  ein,  dass  am  Morgen  ein  Bad  gegeben  wird,  1 — IVa  Stunden 
später,  als  die  Temperatur  wieder  eine  gewisse  Höhe  erreicht  hat,  bekommt 
Patient  ein  Antipyreticum,  dessen  Wirkung  sich  bis  in  die  Nachmittags- 
stunden verzieht.  Nun  wird  das  zweite  Bad  verabreicht  und  als  das  Fieber 
von  Neuem  einzutreten  beginnt,  wiederholen  wir  unser  Medicament.  Es 
geschieht  sehr  oft.  dass  in  den  ersten  Tagen  einer  Krankheit  die  allge- 
meinen Symptome  bedeutendere  Störungen  verursachen,  nach  einiger  Zeit 
aber,  obzwar  sich  das  Leiden  inzwischen  mehr  und  mehr  ausbildet,  die 
Beschwerden  weit  besser  vertragen  werden  —  vielleicht  da  in  Folge  einer 
Art  von  Angewöhnung.  In  dieser  ruhigeren  Periode  oder  in  Fällen,  wo 
diese  nervösen  Symptome  fehlen,  kann  man  ganz  zweckmässig  mit  der  medi- 
camentösen  Antipyrese  das  Fieber  behandeln,  immerhin  ist  es  aber  sehr 
•  gut,  auch  in  diesen  Fällen  hie  und  da  ein  Bad  zu  geben,  um  die  hygie- 
nische Seite  dieser  Behandluugsweise  zu  verwerthen:  zu  diesem  Zwecke 
können  wir  uns  mit  Vortheil  der  wärmeren  Bäder  (2Ö- — oO^)  bedienen. 

Was  die  Dosen  der  Antipyretica  anbetritft,  so  ist  es  rathsam, 
bei  der  ersten  Gelegenheit  kleinere  Mengen  zu  versuchen  (2-0  Antipyrin 
in  zwei  Theilen  und  halbstündigen  Intervallen  oder  DO  Phenacetiu)  und  den 
Gang  der  Temperatur  sorgfältig  controliren  zu  lassen,  bei  der  nächsten  Ele- 
vation  wird  man  schon  die  nöthige  Quantität  bestimmen  können,  mit  welcher 
man  die  Temperatur  wenigstens  bis  37^  C.  —  oder  noch  besser  unter  37^ 
drücken  kann.  Eine  solche  Defervescenz  dauert  5 — 7  Stunden,  gegen  Ende 
dieser  Zeit  macht  man  häufige  Messungen,  und  sobald  sich  eine  gewisse 
Steigerung  —  welche  dem  Patienten  schon  bedeutend  unangenehm  ist  — 
oder  stärkerer  Frost  zeigt  (circa  38'5),  wartet  man  nicht  länger,  son- 
dern wiederholt  die  volle  Dosis.  Es  ist  nicht  zweckmässig,  diese  Medicamente 
verzettelt,  in  grösseren  Intervallen  zu  geben,  wir  brauchen  viel  weniger 
und  haben  einen  viel  grösseren  Effect,  wenn  wir  die  nöthige  Dosis  in  kurzer 
Zeit  eingeben.  Bei  länger  dauernden  Leiden  bediene  man  sich  der  Kly- 
stiere  und  gebe  3 — 5-0  Antipifrin  auf  einmal,  welche  Dosis  ohne  die  geringste 
Gefahr  auch  viermal  in  24  Stunden  verabreicht  werden  kann. 

Durch  den  Effect  der  Antipyrese  bekommen  wir  ein  werthvolles  Zeichen 
zur  Beurtheilung  des  Zustandes  unseres  Kranken.  So  lange  durch  diese 
Mittel  eine  mit  Euphorie  begleitete  Defervescenz  eintritt,  ist  die  Pro- 
gnose günstig,  zeigt  sich  eine  sehr  grosse  Resistenz  gegen  diese  Verfahren, 
kehrt  das  Fieber  in  sehr  kurzer  Zeit  zurück,  und  fällt  die  Temperatur 
nach  vollen  Dosen  kaum,  oder  zeigen  sich  Depressionserscheinungeu,  während 
das  Fieber  spontan  nachlässt,  so  ist  die  Annahme  einer  allgemeinen  Infec- 
tion  sehr  wahrscheinlich  und  die  Prognose  sehr  ernst.  .iexdkassik. 


APHASIE.  93 

Aphasie,  Agraphie,  Alexie.  Zum  Verständnis  der  gegenwärtigen 
Lehren  über  Aphasie  ist  ein  kurzer  geschichtlicher  R  ü  c  k  b  1  i  c  k  noth- 
wendig.  Broca  beobachtete  im  Gegensatz  zu  der  in  seiner  Zeit  geltenden 
FLOUEENs'schen  Lehre  von  der  physiologischen  Einheit  des  Gehirns  und 
der  Gleich^Yerthigkeit  der  einzelnen  Gehirntheile,  dass  in  einer  Reihe  von 
Fällen,  in  denen  intra  vitam  eine  Unfähigkeit  zu  sprechen  anscheinend 
nach  cerebralen  Läsionen  aufgetreten  war,  bei  der  Section  die  Läsion  einer 
bestimmten  Partie  der  linken  Hemisphäre  vorgefunden  wurde.  Diese  Stelle 
localisirte  sich  typisch  am  Fuss  der  untersten  linken  Stirnwindung 
(BEOCA'sches  Sprachcentrum).  —  Auf  die  principielle  Wichtigkeit  dieser 
Entdeckung  für  die  Lehre  von  der  Localisation  der  Seelenfähigkeiten 
können  wir  hier  nur  hindeuten. 

Die  erste  Aufgabe  bestand  nun  darin,  jene  Formen  der  Sprachstörung, 
welche  durch  corticale  Läsionen  bedingt  sind,  einerseits  von  denen,  welche 
durch  die  Erkrankungen  des  verlängerten  Markes,  anderseits  von 
jenen,  welche  durch  Unterbrechung  der  motorischen  Bahn  von  der 
Hirnrinde  zu  den  Kernen  der  bei  dem  Sprechact  betheiligten  Nerven  be- 
dingt sind,  abzusondern.  Die  durch  pathologische  Veränderungen  der  bul- 
bären  Kerne  bedingten  Störungen  wurden  unter  dem  Namen  Anarthrie 
(Articulationsstörungen  sensu  strictiori)  von  den  Aphasim,  welche  durch 
Unterbrechung  der  Leitungen  vom  Grosshirn  oder  durch  Verletzungen 
der  Grosshirnrinde  selbst  bedingt  sind,  abgetrennt.^)  Der  Ausdruck  Aphasie 
iS'/)ai  ich  rede,  a  privativum)  wurde  also  entgegen  seiner  eigentlichen  all- 
gemeinen Bedeutung  auf  eine  besondere  Gruppe  von  Sprachstö- 
rungen eingeschränkt.  —  Der  zweite  Fortschritt  bestand  darin,  dass 
innerhalb  der  Aphasien  im  engeren  Sinne  z w e i  Hauptgruppen  gebildet 
wurden.  Neben  den  Kranken,  welche  nach  cerebralen  Läsionen  nicht  sprechen 
konnten,  während  ihr  Sprach  Verständnis  intact  war,  wurden 
Kranke  beobachtet,  welche  zwar  die  Worte  hörten,  aber  sie  nicht  ver- 
standen, und  die  gleichzeitig  das  Symptom  der  „Paraphasie"  („Daneben- 
sprechen", Wortverdrehung  und  Wortverstümmelung)  darboten. ^j  Diese 
Störung  wurde  von  Weknicke  sensorische  Aphasie  genannt  und  diese  Form 
der  für  Broca  in  Betracht  gekommenen  Fällen  von  „motorischer  Aphasie" 
entgegenstellt.  Es  fand  sich,  dass  häufig  in  den  Fällen,  welche  diese  sen- 
sorischen Sprachstörungen  zeigten,  die  L  und  ein  Theil  der  IL  Tem- 
poralwindung verletzt  waren,  welche  Gehirnpartie  von  der  motorischen 
Partie  Broca's  durch  die  Fossa  Sylvii  getrennt  liegt.  Damit  waren  für  die 
Localisation  der  cerebral  bedingten  Sprachstörungen  zwei  feste  Punkte  im 
Gehirn  gegeben,  und  zwar  liess  sich  das  bei  der  sensorischen  Aphasie  zer- 
störte Feld  als  Endausbreitung  der  cerebralen  Leitung  des 
Acusticiis,  und  als  Centrum  für  die  „Klangbilder",  das  bei  der  moto- 
i-ischen  Aphasie  zerstörte  Feld  als  Anfangsglied  der  für  die  Sprach- 
muskeln bestimmten  lunervationsbahnen  auffassen.  Die  nächste 
Verbindung  zwischen  diesen  Gehirnpartien  geht  durch  die  Lisel.  In  schea^a- 
tischer  Umgestaltung  bekam  man  also  zwei  durch  eine  Linie  verbundene 
a  (akustisches  Feld)  und  h  (Anfangsstadium  der  motorischen  Sprachbahn) 
derart,  dass  in  einer  zu  a  aufsteigenden  Linie  die  akustischen  Pteize,  in 
der  von  b  absteigenden  Linie  die  centrifugalen  Leitungen  in  der  Sprach- 
bahn verstanden  wurden.  Damit  haben  wir,  wenn  man  a  mit  den  Hinter- 
hörnern des  Ptückenmarkes,  h  mit  den  Vorderhörnern  in  Analogie  bringt, 
vollständig  das  Schema  des  Reflexbogens  (vergl.  die  Figur  pag.  95). 

M  Cfr.  Levden,    „Berl.   klin.  Wochenschr.",   1867.   Nr.  8.    Wekxicke,  Fortschritte 
der  Med.  1884,  pag.  1  — 10.  405-413. 

''■)  WER^ficKE,  der  aphasische  Symptomencomplex,  1874. 


94  APHASIE. 

Nim  handelt  es  sich  aber  bei  der  Sprache  nicht  bloss  um  diese  pri- 
mitivste Fähigkeit  des  Hörens  und  Nachahmens  von  Sprachlauten,  sondern 
auch  um  das  Verstehen  der  gehörten  Worte.  In  Weenicke's  Beobachtungen 
über  sensorische  Aphasie,  d  h.  über  die  Unfähigkeit  gehörte  Worte  zu  ver- 
stehen, verbunden  mit  Paraphasie  war  die  „Worttaubheit"  als  Theilerschei- 
nung  vorhanden. 

Diese  Vorgänge  des  Verstehens  wurden  nun  schematiscli  unter  dem 
Namen  „Begriff s  centrum"  zusammengefasst  und  im  Schema  durch 
Verbindung  dieses  imaginären  Centrums  C  mit  dem  anatomisch  greifbaren 
motorischen  und  sensorischen  Sprachcentrum  dargestellt. 

Für  das  kritische  Verständnis  der  meisten  Veröffentlichungen  über 
Aphasie  ist  es  nothwendig,  sich  klar  zu  machen,  dass  die  einzelnen  Theile 
des  dadurch  entstehenden  Schemas  ganz  verschiedenen  anatomischen  Werth 
haben.  Während  a  und  h  einen  festen  anatomischen  Boden  in  den  ge- 
nannten Beobachtungen  haben,  schwebt  das  Begriff  s centrum  als  ideale 
Vereinigung  einer  grossen  Menge  von  verschiedenen  geistigen  Vorgängen 
in  der  Luft,  ist  also  keine  anatomische  Einheit,  sondern  der  schematische 
Ausdruck  für  alle  diejenigen  Vorgänge,  welche  zum  „Verstehen"  in  specie 
eines  Wortes  nothwendig  sind.  Die  wechselnde  und  nicht  anatomische  Natur 
des  „Begritfscentrums"  hat  man  nun  öfter  vergessen  und  hat  die  einzelnen 
Beobachtungen  über  Sprachstörungen  dogmatisch  in  dieses  Schema  einge- 
tragen, (Vergl.  Sommer.  Das  Begriffscentrum,   1892.) 

In  dem  Schema  wird  das  Hören  und  die  Erinnerung  an  die  früher 
gehörten  Klänge  und  Worte  als  Function  von  a  gedacht,  das  Nachsprechen 
als  Leitung  zu  a,  von  a  zu  h  und  von  h  zu  den  Sprachwerkzeugen,  das 
Verstehen  von  Worten  als  Leitung  von  «zu  C ;  das  spontane  Sprechen  als 
Leitung  von  C  über  a  nach  h.  Zu  den  Möglichkeiten  :  „Hören  ohne  zu 
Verstehen"  —  „Hören  mit  Verstehen"  —  „Nachsprechen  ohne  zu  Ver- 
stehen" —  „Nachsprechen  mit  Verstehen"  —  „Spontansprechen"  — 
kann  man  sich  die  schematischen  Vorstellungen  leicht  suchen.  Je  nachdem 
man')  die  Störung  1.  unterhalb  von  a  oder  h  (suhcortical),  2.  in  a  oder  h 
(cortical)  oder  3.  jenseits  (transcortical)  von  a  und  h  nach  dem  imagi- 
nären Begriffscentrum,  4.  zwischen  a  und  h  („Leitungsaphasie"  mit  Para- 
phasie als  Symptom)  im  Schema  annimmt,  bekommt  man  folgende 
Formen  von  Aphasie,  deren  Symptome  man  leicht  aus  dem 
Schema  ablesen  kann:  1.  Corticale  sensorische  Aphasie:  Hören 
ohne  zu  Verstehen  —  Nachsprechen  unmöglich  —  Spontansprechen  mög- 
lich, aber  mit  Paraphasie.  2.  Subcorticale  sensorische  Aphasie: 
Hören  ohne  zu  Verstehen  —  Nachsprechen  unmöglich  —  Spontansprechen 
ohne  Störung.  3.  Transcorticale  sensorische  Aphasie:  Hören 
ohne  zu  Verstehen  —  Nachsprechen  ohne  Verständnis  möglich  —  Spontan- 
sprechen möglich,  aber  mit  Paraphasie.  4.  Corticale  motorische 
Aphasie:  Verständnis  der  gehörten  Worte  möglich  —  Nachsprechen  und 
Spontansprechen  ganz  oder  fast  ganz  unmöglich  —  Unmöglichkeit  W^orte 
inwendig  zu  denken  (der  Wortschatz  der  Kranken  ist  manchmal  auf  ein 
Minimum  reducirt)  —  Unfähigkeit  die  Silbenzahl  von  Worten  durch  Zeichen 
oder  Schreiben  anzugeben.  5.  Subcorticale  motorische  Aphasie: 
Verständnis  der  gehörten  Worte  möglich.  Nachsprechen  und  spontanes 
Sprechen  unmöglich.  Die  Worte  können  innerlich  gedacht  und  auch  nieder- 
geschrieben werden.  Die  Kranken  können  durch  Händedruck  oder  Schreiben 
angeben,  wie  viel  Silben  die  innerlich  gedachten  Worte  haben.  6.  Trans- 
corticale   motorischeAphasie:    Verständnis    der    gehörten   Worte 


')  Cfr.  Die  populäre  Darstellung  von  MALiCHowsKi  in  Volkmakn's  Sammlung  Nr.  108. 


APHASIE. 


95 


möglich  —  ebenso  Nachsprechen  —  willkürliches  Sprechen  unmöglich. 
7.  Lei  tiings  aphasie  (Unterbrechung  zwischen  a  und  h,  d.  h.  in  der 
Insel):  Verständnis  der  gehörten  Worte  —  Spontansprechen  möglich, 
aber  mit  Paraphasie  —  Nachsprechen  entweder  unmöglich  oder  im  Sinne 
der  Paraphasie  gestört.  —  Der  Hauptwert  dieses  Schemas  für  den  prak- 
tischen Arzt  liegt  darin,  dass  es  einen  Anhaltspunkt  für  die  Untersuchung 
von  Sprachkranken  gewährt. 

Beim  Lesen  wird  in  uns  durch  den  Anblick  von  gewissen  optischen 
Zeichen  ein  Laut-  und  Wortgebilde  rege  gemacht.  Der  totale  Verlust  der 
Lesefähigkeit  heisst  Alexie.  In  allen  Fällen,  wo  die  Lesefähigkeit  aus  cere- 
bralen Ursachen  mangelt,  muss  genau  untersucht  werden,  ob  zu  anderen 
optischen  Eindrücken  und  Vorstellungen  (Farben,  Figuren,  Zeichen,  Bildern, 


Broca'sche  Wind,     b 


Fossa  Sylvii 


a  (G.  Te.  I.) 


Gegenstände)  die  Namen  gefunden  werden,  ferner  ob  Hemianopsie  vorliegt. 
Es  muss  zunächst  geprüft  werden,  ob  alle  Buchstaben  einzeln  gezeigt,  er-- 
kannt  werden.  Man  muss  kleine  und  grosse  Buchstaben  derjenigen  Alpha- 
bete, in  denen  der  Untersuchte  unterrichtet  worden  ist,  vorlegen.  Manchmal 
zeigen  sich  ganz  isolirte  Lücken.  Ein  von  Rieger  beschriebener  Kranker 
konnte  nicht  lesen:  von  geschriebenen  oder  gedruckten  kleinen  deutschen 
Buchstaben  p,  x,  y,  von  geschriebenen  oder  gedruckten  kleinen  lateinischen 
Buchstaben  p,  x,  y,  ferner  d,  h,  k,  v;  von  grossen  Buchstaben  (deutsch 
oder  lateinisch  gedruckt  oder  geschrieben)  B,  E,  F,  H,  K,  M,  N,  P,  B,'  T, 
V,  W,  X,  Y.  Selbst  wenn  man  diesem  Kranken  einen  Buchstaben,  z.  B.  a 
zeigte  mit  der  Frage:  Ist  das  ein  a?,  so  konnte  er  ihn  nicht  erkennen. 
Dieser  Zustand  ist  völlig  von  dem  unterschieden,  bei  welchem  Buchstal)en 
zwar  nicht  beim  blossen  Ansehen,  wohl  aber,  wenn  man  den  richtigen  Namen 
dazu  sagt,  erkannt  werden.  Schematisch  ausgedrückt  heisst  das  Letztere : 
DieLeitung  vomBuchstabenbildcentrum  zum  Klangbildcentrum  ist  unterbrochen, 
die  umgekehrte  ist  erhalten.  Im  ersteren  Falle  wäre  im  Sinne  von  W er- 
nicke ein  Verlust  von  Buchstabenerinnerungsbildern  vorhanden.  —  Ein  von 
mir  beobachteter  Kranker  konnte  nur  folgende  geschriebene  Buchstaben 
lesen:  f,  g,  i,  m,  u,  r,  ferner:  a,  b,  c,  i,  n,  m,  f,  r,  ferner:   A,  1),  L,  M. 


96  APHASIE. 

N,  S,  ferner:  H,  I,  K,  L,  M,  Pv,  S,  U.  —  Sodann  ist  zu  prüfen,  ob  aus 
den  vorgeschriebenen  einzeln  bekannten  Buchstaben  Worte  zusammengefügt 
werden  können.  Anscheinend  ist  das  Lesen  von  einzelnen  Buchstaben  und 
das  Zusammenfügen  derselben  zu  einem  Wort  ganz  getrennte  Fähig- 
keiten. Mein  oben  erwähnter  Kranker  konnte  z.  B.  die  ihm  bekannten 
Buchstaben  L,  A,  N,  P,  nicht  zu  dem  Wort  „Land"  zusammenfügen.  Ferner 
werden  manchmal,  wenn  auch  Buchstabiren  ganz  unmöglich  ist,  einzelne 
Worte  richtig  erkannt.  Sodann  kommt  die  Frage,  ab  dass  Gelesene  richtig  ver- 
standen wird.  —  Neben  dem  Lesen  von  Buchstaben  muss  besonders  Benennen 
von  Ziffern  geprüft  werden,  welches  oft  bei  starken  Störungen  im  Buchstaben- 
lesen ganz  normal  sein  kann.  Auch  hier  kommen  isolirte  Lücken  vor.  Der 
genannte  PiiEGEE'sche  Kranke  konnte  nur  0,  ],  2,  3  erkennen.  Auch  in 
Bezug  auf  Zahlen  ist  das  Combiniren  etwas  ganz  vom  Erkennen  der  ein- 
zelnen Zeichen  verschiedenes.  Genannter  Kranke  konnte  1  und  0  lesen 
aber  nicht  10.  Ferner  gehört  zum  Lesen  auch  das  Erkennen  von  Inter- 
punktionszeichen, welches  ebenfalls  isolirt  geschädigt  sein  kann.  Auch  in 
Bezug  auf  musikalische  Noten  können  isolirte  Defecte  vorkommen.  Gerade  aus 
diesen  ganz  isolirten  und  partiellen  Defecten  ist  ersichtlich,  dass  die  Sche- 
mata nur  eine  vorläufige  Orientirung  für  die  Untersuchung  bieten. 

In  Bezug  auf  die  cerebral  bedingten  Schreibstörungen  (Agraphie) 
ist  zu  untersuchen  1.  Das  Nachmalen  von  Figuren,  speciell  Buchstaben 
und  Worten:  Dieser  optisch-motorische  Vorgang  ist  möglich,  ohne  dass  in 
dem  betreffenden  Kranken  im  Mindesten  ein  Lautgebilde  entsteht  oder  ein 
Verständnis  des  Wortes  rege  wird.  Beim  Dictandoschreiben  findet  die  Auf- 
nahme des  Reizes  im  akustischen  Gebiet  statt  und  wird  in  Bewegungen 
umgesetzt,  welche  etwas  optisches,  nämlich  sichtbare  Zeichen  hervorbringen. 
Man  hat  nun  offenbar  im  Hinblick  mit  diesem  optischen  Effect  (Buchstaben- 
zeichen) angenommen,  dass  auch  innerlich  bei  dem  Akt  des  Schreibens 
eine  Vorstellung  von  Buchstabenzeichen  vorhanden  sein  müsse.  Dies  ist 
aber  nicht  allgemein  giltig.  Obgleich  beim  Schreiben  optische  Wirkungen 
(Schriftzüge)  zu  Tage  kommen,  sind  beim  erwachsenen  Menschen  oft  keine 
diese  bedingenden  optischen  Vorstellungen  vorhanden.  Allerdings  lernen 
wir  ja  das  Schreiben  durch  Abzeichen  von  Buchstaben,  deren  Klang  wir 
kennen.  Es  liegen  aber  mehrere  Fälle  vor,  welche  das  Gesagte  beweisen. 
Ein  von  mir  beschriebener  Kranker  fand  erst  durch  Schreibbewegungen 
die  Laute  der  Worte  i).  Der  oben  erwähnte  Kranke  mit  partieller  Alexie 
könnte  fast  keinen  Buchstaben  auf  Dictat  richtig  schreiben,  schrieb  aber 
auf  bestimmte  Fragen  „nach  Heimat,  Bezirksamt,  Namen  seiner  Söhne"  etc. 
alles  richtig  nieder.  Ferner  ist  2.  das  Spontanschreib  en  zu  unter- 
suchen. 

Um  ein  dem  obigen  entsprechendes  Schema  für  das  Lesen  und  die 
Schriftsprache  zu  construiren,  hat  man  den  „Wortbegriff"  als  Combination 
von  Lautgebilde  und  Bewegungsvorstellung  zusammengefasst  und  dieses 
construirte  Centrum  nach  Analogie  des  Begriffscentrums  über  einen  Beflex- 
bogen  gesetzt,  welcher  durch  nervus  opticus,  Buchstabenbildcentrum,  Cen- 
trum der  Schreibbewegungsempfindungen  und  motorische  Bahn  der  Schreib- 
bewegungen, die  gewöhnlich  mit  dem  rechten  Arm  ausgeführt  werden, 
gebildet  wird.  Im  Hinblick  auf  dieses  Schema  sind  folgende  Krankheits- 
bilder unterschieden  worden :  f.  Cortkale  Älexie,  soll  auf  Verlust  der  Er- 
innerungen der  optischen  Schriftzeichen  beruhen.  Symptome :  Verlust  der 
Fähigkeit  zu  lesen  und  das  Gelesene  zu  verstehen,  Verlust  der  Fähigkeit, 


')  Sommek:  Zur  Psychologie  der  Sprache.  Zeitschrift  für  Psychologie  und  Physio- 
logie der  Sinnesorgane  1891. 


APHASIE.  97 

spontan  und  auf  Dictat  zu  sclireibeu  und  nach  Vorlage  zu  copiren.  2.  Suh- 
corticale  Älexle:  Verlust  der  Fähigkeit  zu  lesen  und  eine  Vorlage  abzu- 
zeichnen, spontanes  Schreiben  und  Schreiben  nach  Dictat  erhalten.  3.  Trans- 
corticaU  Alexie :  Aufgehobene  Fähigkeit  zu  lesen  und  spontan  sowie  nach 
Dictat  zu  schreiben,  Möglichkeit  eine  Vorlage  mechanisch  nachzuzeichnen. 
4.  Corticcde  Agraphie.  Verlust  der  Schreibbewegungsvorstellungen,  soweit 
sie  sich  auf  die  Innervation  der  von  uns  gewöhnlich  zum  Schreiben  be- 
nützten rechten  Hand  beziehen.  Schreiben  und  Copiren  unmöglich,  Lesen 
möglich.  5.  SSubcorticale  Agraphie.  Die  gleichen  Symptome  wie  bei  Nr.  4, 
der  Unterschied  liegt  darin,  dass  bei  der  corticalen  Form  die  Bewegungs- 
vorstellungen fehlen,  bei  der  subcorticalen  erhalten  sind.  6.  TranscorUcale 
Apraphie  wird  als  unmöglich  angenommen,  weil  eine  directe  Verbindung 
des  Wortbegriffes  mit  den  Schreibbewegungsempfindungen  nicht  ange- 
nommen wird. 

Da  zum  Lesen  und  Schreiben  der  ganze  Wortbegriflf  als  nothwendig 
angenommen  wird,  so  werden  im  Schema  ausser  den  genannten  Formen 
sich  bei  denjenigen  Arten  von  Aphasie  Lese-  uud  Schreibstörungen  finden, 
bei  welchen  die  Worterinnerungsbilder  verloren  gegangen  sind  oder  das 
hypothetische  Begriffscentrum  zerstört  ist.  Darnach  zeigen  die  verschiedenen 
Formen  von  Aphasie  folgende  Verhältnisse  in  Bezug  auf  Lesen  und  Schreiben: 
1.  Cort.  sens.  Aph.:  Völlige  Alexie  und  Agraphie.  Copiren  möglich.  2.  Sub- 
cort.  sens.  Aph. :  Keinerlei  Störung  des  Lesens  und  Schreibens.  3.  Trans- 
cort.  sens.  Aph.:  Lesen  ohne  Verständnis,  Schreiben  nach  Vorlagen  möglich. 
Schreiben  auf  Dictat  geschieht  ohne  Verständnis  des  Gehörten.  Spontanes 
Schreiben  möglich,  aber  mit  Paragraphie.  In  diesem  Falle  besteht  die  Para- 
graphie  in  dem  correcten  Zeichnen  von  falschen  Buchstaben,  während  bei 
der  verbalen  Form  der  Agraphie  d.  h.  der  durch  Verlust  der  Wortvor- 
stellungen bedingten  unverständliche  Zeichen  zu  Papier  gebracht  werden. 
4.  Cort.  motor.  Aph.:  Völlige  „verbale"  Alexie  und  Agraphie.  Copiren 
möglich.  5.  Subcort.  motor.  Aph. :  Lesen  und  Schreiben  möglich.  6.  Transc. 
motor.  Aph. :  Lesen  mit  Verständnis,  Copiren  nach  Vorlage  möglich;  —  spon- 
tanes Schreiben  unmöglich.  7.  Leitungsa'ph.  -.  Verbale  Alexie  und  Agraphie. 
Nur  das  Copiren  ist  erhalten.  —  Dass  alle  die  hier  genannten  und  im 
Schema  dargestellten  Symptomencomplexe  vorkommen  können,  unterliegt 
keinem  Zweifel,  aber  damit  ist  die  Summe  aller  nicht  erschöpft. 

In  den  Darstellungen  des  Zusammenhanges  von  cerebralen  Lese- 
und  Schreibstörungen  (Alexie  und  Agraphie)  mit  Aphasie  spielt  der  Gedanke 
eine  Hauptrolle,  dass  das  Schreiben  nur  möglich  ist,  wenn  beide  Bestaftd- 
theile  der  Wortvorstellungen,  nämlich  die  Klangvorstellungen  und  die  Be- 
wegungsempfindungen, erhalten  sind.  Hier  müssen  wir  etwas  ausführlicher 
auf  die  Stellung  von  Stricker  i)  in  der  Entwickelung  der  Lehre  von  der 
Beschaffenheit  der  Wortvorstellungen  eingehen. 

Die  wesentliche  Tendenz  von  Stricker's  Abhandlung  ging  (cfr.  ].  c.  pag.  19)  dahin, 
die  Lehre  zu  widerlegen,  dass  die  W  o  r  t  v  o  r  s  t  e  1 1  <i  n  g  lediglich  aus  Schallbildern  bestehe. 
Das  acustische' Element  am  Wort  sei  nicht  das  Wesentliche,  sondern  es  handle  sich  da"bei 
um  „motorische  Vorstellungen".  Stricker  beobachtete  an  sich  selbst,  dass  er  beim  stillen 
Denken  in  Worten  keine  Schallerinnerungen,  auch  keine  Vorstellung  von 
Schrift  zeichen  habe,  wohl  aber  Innervationsgetühle  in  gewissen  Muskel- 
gebieten. 

Den  gleichen  Gedanken  führte  Stricker  in  Bezug  auf  die  Ton  Vorstellungen  durch. 
In  (ien  Discussionen  zwischen  Stricker  mit  Paxjliiax  und  Stumpf  wurde  ihm  von  diesen 
auf  Grund  von  Selbstbeobachtung  entgegengehalten,  dass  beim  Denken  von  Worten  und 
Tönen  das  acustische  Moment  überwiege.  In  Wahrheit  scheint  es  sich  hier  um  in- 
dividuelle Differenzen  zu  handeln.  —  Das  Individuelle  der  Selbstbeobachtung  hat  Stricker 


^)  cfr.  Stricker,  Studien  über  die  Sprachvorstellungen,  Wien   ISSü. 
Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten. 


98  APHTHEN. 

selbst  an  verschiedenen  Stellen  scharf  hervorgehoben.  Diesen  individuellen  Verhältnissen 
ist  besonders  in  der  französischen  Literatur  Beachtung  geschenkt.  Gilbert  Ballet  weist 
hier  auf  die  Kenntnis  de  la  formnle  cerehi-ale  physiologiqite  und  räth  dazu,  womöglich 
zu  vergleichen  la  formule  cerebrale  normale  de  l'individu  ä  sa  formule  pathologique.  — 
Trotz  der  individuellen  Verschiedenheiten  ist  es  Strickee's  wichtiges  Verdienst,  auf  das 
activ-motorische  Moment  bei  scheinbar  passiven  Eindrücken,  wie  es  ge- 
hörte Worte  sind,  hingewiesen  zu  haben, 

Stricker  will  diese  „motorischen  Vorstellungen"  von  den  sensoriellen  „Bewegungs- 
vorstellungen" (cfr.  1.  c.  pag.  29),  welche  Erinnerungen  an  die  Wahrnehmung  von  aus- 
geführten Bewegungen  sind,  abtrennen.  Mit  dieser  durch  Selbstbeobachtung  ermittelten 
motorischen  Natur  der  Wortvorstellungen  bringt  Stricker  die  anatomische  Zerstörung 
des  in  der  motorischen  Region  gelegenen  BROCA'schen  Sprachfeldes  in"  Verbindung  (1.  c. 
pag.  26).  Stricker's  Beweisführung  führt  also  zu  dem  Satze,  dass  wir  in  dem  Sprach- 
centrum Centren  für  die  La  utbildung,  nicht  für  die  Conservirung  von  Sprachlauten 
besitzen.  Die  Grundlage  der  motorischen  Sprachvorstellungen  ist  also  die  Function  der 
corticalen  Anfaugsapparate  der  motorischen  Sprachbahn.  Die  Wortvorsiellungen  bestehen 
also  in  nichts  anderem  als  in  dem  Bewusstwerden  von  der  Thätigkeit  dieser  Centren,  in 
dem  Bewusstsein  von  der  Erregung  jener  motorischen  Nerven,  die  zu  den  Artikulations- 
muskeln ziehen.  Stricker  meint  nun,  dass  die  Anfangsapparate  der  Lautbildung  wie  die 
Tasten  einer  Schreibmaschine  gelagert  sind,  also  nicht  zu  bestimmten  Worten  verflochten 
wie  in  einem  gedruckten  Buch,  und  hat  dementsprechend  die  Frage,  wie  die  Laute  zu 
Worten  combinirt  werden,  scharf  betont  (cfr.  pag.  34).  Entsprechend  behauptet  Stricker. 
(pag.  43),  dass  die  Auffassung  der  Schrift  von  der  anderer  Objecto  abweicht.  Grashet 
hat  nun  in  ähnlicher  Weise  sich  jedes  Wort  aus  einer  successiven  Reihe  von  Buchstaben- 
bestandtheilen  entstehend  gedacht  und  hat  in  seiner  1884  erschienenen  Abhandlung  „Ueber 
Aphasie  und  ihre  Beziehungen  zur  Wahrnehmung"  die  Theorie  aufgestellt,  dass  immer 
buchstabirend  gelesen  und  geschrieben  wird.  Es  spricht  jedoch  vieles  hiergegen,  was  im 
einzelnen  nicht  auseinander  gesetzt  werden  kann.  Die  Theorie  des  Lesens  und  Schreibens 
ist  noch  nicht  spruchreif. 

Mit  Stricker's  Anschauung  über  die  motorische  Natur  der  Wortvorstellungen  hängt 
seine  Lehre  über  das  Verhältnis  von  Aphasie  zur  Agraphie  zusammen  (cfr.  1.  c.  pag.  98). 
Er  bestreitet  das  Vorkommen  einer  „wirklichen  Aphasie  ohne  Agraphie'  aus  theoretischen 
Gründen.  Stricker  fasst  hier  das  Wort  „Aphasie"  in  einem  viel  engeren  Sinne,  als  es 
z.  B.  bei  der  subcorticalen  Aphasie  Wernicke's  der  Fall  ist,  und  meint  speciell  den  Ver- 
lust oder  die  Störung  der  Sprachvorstellungen.  Dass  es  cerebrale  Kranke  gibt,  welche  ihre 
Wortgedanken  nicht  mündlich,  wohl  aber  s(;hriftlich  ausdrücken  können  (wie  bei  der  sub- 
corticalen Aphasie),  bezweifelt  Stricker  nicht. 

Von  Wichtigkeit  für  die  Diagnose  von  Sprachstörungen  ist  schliesslich 
noch  die  Prüfung  des  Gedächtnisses  für  Laute  und  Worte.  Oft  zeigt  das 
Erinnerungsvermögen  isolirte  Lücken  für  bestimmte  Worte.  Abgesehen  von 
der  Erforschung  dieser  isolirten  Lücken,  muss  man  prüfen,  wie  lange  Laute, 
Lautzeichen  und  Worte  im  Gedächtnis  gehalten  werden  können.  Alle  die 
durch  Gedächtnisschwäche  bedingten  Sprachstörungen  können  unter  dem 
Sammelnamen  der  amnestischen  Aphasie  zusammengefasst  werden. 

»  E.  SOMMER. 

Aphthen  {Stomatitis  aphthosa,  ßbrinosa,  follicularis). 

Es  unterliegt  gar  keinem  Zweifel,  dass  früher  eine  ganze  Reihe  von 
Affectionen  der  Mundhöhle  mit  diesem  Namen  bezeichnet  wurde.  Heute 
ist  dies  anders.  Was  man  heute  mit  Aphthen  bezeichnet,  ist  ein  wohl 
charakterisirtes  und  fast  überall  gleich  charakterisirtes  Krankheitsbild,  zu 
dessen  vollendeter  Klarheit  in  jeder  Beziehung  allerdings  noch  manche 
Studien  nothwendig  sein  werden. 

Man  könnte  die  Krankheit  fast  eine  s  p  e  c i  f  i  s  c  h  e  des  Kindes- 
alters  nennen  und  hier  auch  beschränkt  sie  sich  vornehmlich  auf  eine 
begrenzte  Zeitperiode  —  die  Periode  der  ersten  Dentition.  —  Monti,  der 
587  Fälle  zusammengestellt  hat,  weiss  nur  von  10  zu  berichten,  in  denen 
die  befallenen  Kinder  das  Alter  von  10  Monaten  noch  nicht  erreicht  hatten. 
Das  Auftreten  in  den  zwei  ersten  Liebensmonaten  gehört  zu  den  aller- 
grössten  Seltenheiten.  Und  weiters  ist  nach  zurückgelegtem  Zahnungsalter 
eine  rapide  Abnahme  der  Erkrankungsziffer  zu  bemerken.  Ebenso  lauten 
unsere  Erfahrungen  und  die  aller  anderen  Untersucher. 


APHTHEN.  99 

Die  von  Aphthen  befallenen  Individuen  sind  krank.  Die  Kinder  sind 
unlustig,  haben  vermehrte  Salivation,  einen  leichten  Foetor  ex  ore,  Zahn- 
fleisch und  Mundhöhlenschleimhaut  sind  geröthet  und  geschwellt,  das  erstere 
blutet  sehr  leicht  bei  der  geringsten  Berührung,  bei  der  Untersuchung  der 
Kinder.  Die  Zunge  ist  meist  belegt,  die  Kranken  haben  die  Lust  zum  Essen 
verloren  und  zeigen  eine  ausgeprägte  Aversion  gegen  warme  Speisen. 

Fieber  ist  im  Beginne  der  Krankheit  eine  regelmässige  Erscheinung. 
Begleitet  wird  die  Affection  der  Mundhöhle  öfter  von  Herpeseruptionen  an 
den  Lippen  und  Mundwinkeln,  begleitet  öfter  von  Schwellungen  der  sub- 
mentalen, submaxillaren  Drüsen  und  der  am  Kieferwinkel. 

Der  gewöhnliche  Sitz  der  Aphthen  ist  die  Zunge,  und  zwar  meist 
die  Spitze  und  der  vordere  Theil  derselben.  Gleichzeitig  sind  ergriffen  das 
Zahnfleisch,  am  dichtesten  in  der  Nähe  gerade  durchbrechender  Zähne, 
ferner  die  Lippen.  Weiters  werden  sie  am  Gaumen  bis  zum  weichen  hin, 
an  der  Wangenschleimhaut  angetroffen.  Die  rückwärtigen  Partien  der 
Mundhöhle,  die  Tonsillen  werden  seltener  von  ihnen  befallen.  .  Einmal  sah 
ich  bei  einem  INIädchen  neben  reichlicher  Eruption  von  Aphthen  in  der 
Mundhöhle  gleichzeitiges  Ergriffensein  der  Schleimhaut  der  äusseren 
Genitalien  von  demselben  Processe. 

An  den  genannten  Partien  findet  man  Flecke  von  graugelber  oder 
grauweisser  Farbe,  leicht  erhaben  über  das  Niveau  der  Schleimhaut,  an 
der  sie  sich  befinden.  Ihre  Grösse  variirt  von  Stecknadelkopf-  bis  Linsen- 
grösse  und  darüber.  Sie  stehen  verschieden  dicht  beisammen.  Sind  sie 
dicht  gedrängt,  dann  können  sie,  was  sehr  oft  geschieht,  confluiren, 
wodurch  die  verschiedenartigsten  Figuren  entstehen ;  und  so  findet  man 
mitunter  grössere  Partien  der  erkrankten  Schleimhaut  mit  einem  grauweissen 
oder  graugelben  Belage  versehen  (confluirende  Aphthen).  In  der  Umgebung 
solcher  Stellen  wird  man  schwerlich  je  einzelne  typische  Eruptionen  ver- 
missen. Die  Schleimhaut  in  der  unmittelbarsten  Umgebung  der  Aphthe  ist 
circa  1  mm  breit,  intensiv  injicirt  und  umgibt  wie  ein  rother  Ring  den 
graugelben  Plaque.  Zwischen  den  bereits  graugelben  Plaques  finden  sich 
öfter  rothe  Pünktchen,  kaum  bemerkbar  bei  flüchtiger  Betrachtung.  Sie 
treten  sofort  klar  hervor,  sobald  man  die  erkrankte  Schleimhaut  mit  einer 
circa  2procentigen  Lösung  von  Ac/NO^  pinselt.  Die  afficirten  Partien 
nehmen  darnach  sämmtliche  eine  grauweisse  Farbe  an,  werden  deutlich 
sichtbar,  und  so  erscheint  nach  der  Pinseluug  die  Zahl  der  Effioreszenzen 
plötzlich  vermehrt. 

Selten  ist  die  Krankheit  mit  einer  Eruption  beendet.  Bei  Nach- 
schüben durch  mehrere  Tage  pflegt  der  Process.  durch  8 — 10  Tage  zu 
dauern.  Der  Verlauf  gestaltet  sich  meist  so,  dass  die  Plaques  allmählich 
dünner  und  durchscheinender  werden,  bis  schliesslich  wieder  die  normale 
Schleimhaut  zu  Tage  tritt.  Hebt  man  während  des  Verlaufes  einen  der 
Plaques  ab,  dann  findet  man  unter  ihm  einen  Defect  der  Schleimhaut, 
ähnlich  dem  einer  Hornhautfacette.  Die  Affection  endet  mit  Restitutio,  ad 
integrum,  ohne  Narben  zu  hinterlassen. 

FräjsKEl  verdanken  wir  die  histologische  und  patholosfisch-an  atomische 
Kenntnis  der  Aphthen.  Nach  ihm  ist  das  Wesentliche  des  Aphthenherdes  ein  grob- 
balkiges,  scholliges,  enge  Maschen  aufweisendes,  hyalin  glänzendes,  bald  äusserst  fein- 
fädiges  Fibringerüste,  in  welchem  Masebenwerke  sich  in  verschiedener  Keichlichkeit,  Rund- 
zellen und  in  Coagulationsnekrose  befindliche  Epithelzeilen  vorfinden.  Die  Betheiligung 
der  Epithelzellen  erklärt  das  Festhaften  der  Aphthen.  Man  kann  den  Process  im  Sinne 
Weigee,t's  als  einen  pseudo-diphtheritischen  auffassen. 

Es  handelt  sich  also  um  eine  mit  Abtödtung  des  Epithels  einhergehende 
Bildung  eines  fibrinösen  Exsudates,  an  dessen  Bildung  auch  Leukocyten  einen 
hervorragenden  Antheil  nehmen.  Bleibt  doch  eine  Epitheldecke  übrig,  dann  ist  dieselbe 
so  dünn,  dass  man  schon  daraus  erkennen  kann,  dass  der  grösste  Theil  des  sonst  mächtigen 

.7* 


100  APHTHEN. 

Mimdhöhlenepithellagers  zur  Bildung  des  Exsudates  verwendet  worden  ist.  Und  that- 
sächlich  linden  sich  auch  Epithelreste  in  demselben.  Das  eigentliche  Schleimhautgewebe 
ist  in  den  Process  nicht  miteinbezogen.  Darum  fehlt  auch  das  Geschwür  und  die  Xarbe 
bei  der  Heilunjj-.  So  stehen  klinischer  Verlauf  und  mikroskopische  Untersuchung  mit 
feinander  im  besten  Einklänge.  Die  subepitheliale  Lage  der  Plaques,  welche  z.  B.  Bohx 
behaujjtet,  ist  somit  nicht  erwiesen. 

Ein  vesiculöses  Vorstadium  der  Aphthen  wird  fast  von  sämmtlichen  Unter- 
suchern in  Abrede  gestellt.  Auch  wir  erinnern  uns  nicht,  je  ein  Bläschen  auf  der 
Schleimhaut  des  Mundes  gesehen  zu  haben. 

Fkäxkel  hat  aus  cleni  Exsudate  zweierlei  Bacterienarten  gezüchtet:  den  Staphylo- 
cocciis  pijogenes  cifreus  (Passet)  und  den  Staphi/lococcus  pijogenes  flavm.  Ob  jedoch 
diese  Bakterien  bei  der  Krankheit  mehr  als  eine  saprophy tische  Piolle  spielen,  ist 
bis  jetzt  noch  nicht  entschieden.  Es  ist  jedoch  das  letztere  sehr  wahrscheinlich.  Wenn 
sie  also  auch  mit  der  Genese  der  Krankheit  nichts  zu  thun  haben,  so  dürften  sie  doch 
die  Ursache  sein  der  Drüsenabscesse,  welche  man,  wenn  auch  selten,  im  Gefolge  derselben 
zu  sehen  Gelegenheit  hat.  Experimentell  Aphthen  zu  erzeugen  ist  bisher  noch  Niemandem 
gelangen, 

So  wissen  wir  denn  über  die  Aetiologie  der  Krankheit  nichts. 
Wir  wissen  nur.  dass  sie  sehr  häufig  die  Dentition  begleitet,  ebenso  wie 
sie  öfter  nach  Exanthemen  ^Varicella.  Morbilli),  vielleicht  auch  bei  mangel- 
hafter Mundpflege  aufzutreten  pflegt.  Bei  manchen  Erwachsenen  sollen  sich 
Recidive  periodischer  Art  einstellen,  einhergehend  z.  B.  mit  der 
Menstruation.  Die  Krankheit  tritt  häufiger  im  Sommer  auf,  als  in  der  kalten 
Jahreszeit. 

Die  Beziehungen  der  Aphthen  zu  der  Maul-  und  Klauenseuche  unserer  Hausthiere, 
einer  mit  dem  gleichen  Namen  bezeichneten  Afl'ection,  die  wohl  sicherlich  nicht  mit  den 
Aphthen  der  Kinder  identisch  ist.  sind  heute  insoweit  geklärt,  dass  man  behaupten  darf, 
dass  beide  Krankheiten  miteinander  dir  e  et  nicht  im  Zusammenhang  stehen.  Auch  die 
Epidemiecurven  beider  Krankheiten  decken  sich  nicht  miteinander  (Escheeich).  Jeden- 
falls soll  Niemand  die  Milch  so  erkrankter  Thiere  unsterilisirt  geniessen  lassen  oder 
geniessen. 

Da  wir  keinen  Grund  haben,  die  Aphthen  als  secundäres  Leiden  eines 
bekannten  Processes  aufzufassen,  plaidiren  wir  mit  anderen  für  die  Selbst- 
ständigkeit der  Aphthen  und  halten  sie  für  eine  Krankheit  sui  generis. 
Die  gerade  aufgezählten  aetiologischen  Momente  können  immerhin  als 
prädisponirend  angesehen  werden. 

Epidemisches  Auftreten  im  Sinne  anderer  Infectionskrankheiten 
ist  nicht  bekannt,  gleichzeitiges  Erkranken  mehrerer  Geschwister  oder 
Hausgenossen  wiederholt  beschrieben.  Man  könnte  daraus  auf  die  Möglich- 
keit der  Contagiosität  der  Aphth'en  schliessen. 

BoH]Sf  will  die  Krankheit  als  eine  Form  einer  exanthematischen 
Stomatitis  auffassen,  und  sie  für  gleichwerthig  halten  mit  Ekzem  oder 
Impetigo  der  äusseren  Haut,  eine  Ansicht,  welcher  wir  uns  nicht  anschliessen 
möchten.  Wenn  wir  sie  mjt  etwas  vergleichen  wollen,  so  können  wir  dies 
noch  am  ehesten  mit  dem  Herpes  der  Haut,  mit  dem  sie  öfter  nicht  nur 
gleichzeitig  vergesellschaftet  vorkommt,  sondern  mit  dem  sie  auch  bezüglich 
der  Schnelligkeit  des  Verlaufes  etc.  verschiedene  Aehnlichkeiten  besitzt. 
Varicellaeruptionen  an  der  Mundschleimhaut  ähneln  stark  den  Aphthen. 
Schon  das  sie  immer  begleitende  Hautexanthem  schützt  vor  Verwechselung. 
Ausserdem  treten  Varicellen  im  Munde  nur  sehr  spärlich  auf  und  finden 
sich  meist  nur  am  Gaumen,  selten  auf  der  Schleimhaut  der  Wangen,  noch 
seltener  auf  der  Zunge.  Soor  und  andere  Affectiouen  der  Mundhöhle  sind 
mit  Aphthen  nicht  zu  verwechseln.  Die  Bednarsc^ien  AplitJip)!.  die  bekannten 
Decubitusgeschwüre  bei  meist  atrophischen  Kindern  bis  etwa  zum  dritten 
Lebensmonate  sich  findend,  die  ihrer  Lage  nach  den  Hamulis  pterygoideis 
entsprechen,  seien  der  Gleichheit  des  Namens  wegen  hier  erwähnt.  Diese 
wohl  stets  symmetrischen  Ulcera  am  harten  Gaumen  danken  mecha- 
nischen Läsionen  ihre  Entstehung. 


APOPLECTISCHER  INSULT.  101 

Therapie.  Mechanische  Reiiiigiiiig  der  kranken  Mundhöhle  mit 
irgend  einem  Desinficiens ;  ob  2  procentige  Resorcinlösimg,  schwache  Lösung 
von  Kai.  hijpermangaync.,  Kai.  chloric,  Carhollösung  etc.,  ist  wohl  gleich- 
giltig  und  gleich  gut  wirksam.  Sehr  gerne  wird  1 —2  procentige  Lösung  von 
Kai.  chloric.  mtern  verabreicht.  Wir  bedienen  uns  mit  Vorliebe  der  Pinselungen 
mit  1 — 2procentiger  Lapislösung,  die  zuerst  täglich,  dann  jeden  zweiten  Tag 
vorgenommen  werden.  Diese  kann  man  zweckmässig  mit  interner  Kai.  chloric. 
Medication  combiniren.  loos. 

ApoplectiSCtier  Insult.  Der  Begriff  des  apoplectischen  Insultes  ist 
nicht  ganz  identisch  bei  den  verschiedenen  Autoren,  viele  gebrauchen  ihn 
im  Sinne  der  Gehirnblutung.  Eigentlich  soll  man  aber  unter  dem  apo- 
plectischen Insult  die  in  Folge  einer  örtlich  begrenzten  Läsion 
des  Gehirns  mehr  oder  weniger  plötzlich,  wie  durch  einen  Schlag  (daher 
auch  der  Ausdruck  iSchlctganfall)  entstandene  Aufhebung  aller,  oder  der 
meisten  Gehirnfunctionen  verstehen.  Es  .entsteht  hiedurch  entweder  sofort 
der  Tod,  oder  bei  Erhaltung  der  vegetativen  Functionen  ein  vollkommenes 
oder  unvollkommenes  Coma.  Im  Sinne  dieser  Definition  muss  man  jene, 
manchmal  fast  plötzlich  eintretenden  comatösen  Zustände,  die  in  Folge  von 
Urämie,  septischen  allgemeinen  Infectionen  und  anderen  Intoxicationen, 
öder  aus  dittusen  Gehirnerkrankuugen,  wie  Meningitis  etc.,  entstanden  sind, 
nicht  als  apoplectische  Insulte  auffassen,  was  auch,  wenn  eine  eingehendere 
Beobachtung  möglich  ist,  durch  die  Verschiedenheit  des  Krankheitsbildes 
begründet  wird ;  immerhin  aber  gebrauchen  besonders  französische  Autoren 
.diese  Bezeichnung  auch  für  toxämische  comatöse  Anfälle  und  sprechen 
dann  von  urämischen  und  malarischen  Apoplexien. 

Ganz  unrichtig  liat  man  Blutergüsse  in  die  Milz,  Retina  und  in  andere  Organe 
auch  als  Apoplexien  bezeichnen. 

Diese  Verschiedenheit  im  Begriffe  der  Apoplexie  hängt  mit  der  histo- 
rischenEntwickelung  unserer  diesbezüglichen  Kenntnisse  zusammen :  früher 
betrachtete  man  besonders  nur  die  klinische  Seite  des  Processes,  dann  kam 
eine  Zeit,  wo  der  pathologisch-anatomische  Begriff  hauptsächlich  dominirte, 
während  heute  die  Aetiologie  die  Basis  bildet.  Der  Ausdruck  „apoplectischer 
Insult"  bedeutet  somit  nur  einen  Symptomencomplex,  nicht  eine  besondere 
Krankh  eitsform. 

Die  nächste  Ursache  des  apoplectischen  Insultes  ist  entweder  eine 
Blutung,  oder  eine  locale,  plötzlich  entstandene  Behinderung  der  Blutcircu- 
lation  durch  Embolie  oder  Thrombose.  Gleichen  sich  diese  letzteren  Störungen 
schnell  aus,  so  wird  der  Anfall  als  apoplectiformer  benannt.  Die  eigent- 
liche Aetiologie  der  Blutungen  ist  in  der  weitaus  grössten  Mehrzahl  der 
Fälle  eine  chronische  Erkrankung  der  Gehirngefässe,  wodurch  die  soge- 
nannten Miliaraneurysmen,  zuerst  von-  Charcot  und  Bouchaed  erkannt 
(1868),  entstehen.  Diese  kommen  in  verschiedener  Anzahl,  oft  zahlreich, 
besonders  an  den  kleineren  Arterien  der  Stammgauglien :  Nucl.  caudcdus, 
lentic,  Thalam.  opticus,  vor;  ihre  Wandung  verdünnt  sich  allmälig  und 
berstet,  oft  in  Folge  einer  zufälligen  Erhöhung  des  Blutdruckes  (copiöses 
Gastmahl,  Aufregung  etc.). 

Am  häufigsten  stammt  die  Blutung  aus  einer  kleinen  Arterie,  welche 
zwischen  dem  III.  Gliede  des  Linsenkernes  und  der  äusseren  Kapsel 
hinaufsteigt,  und  welche  von  Charcot  als  arfere  de  lliemorrhagie  cerebrale 
benannt  wurde.  Ob  der  der  Erkrankung  der  Gefässe  zu  Grunde  liegende 
Process  eine  einfache  Arteriosklerose,  oder  eine  andersartige  Degeneration 
ist,  wurde  endgiltig  noch  nicht  entschieden.  In  einer  kleineren  Anzahl  der 
Fälle,  besonders  bei   jüngeren  Individuen,   stammt    die  Blutung   nicht    aus 


102  APOPLECTISCHER  INSULT. 

der  eben  besprochenen  Erkrankung  der  Gefässwände,  sondern  aus  einer 
hämorrhagischen  Diathese,  welche  als  Folge  anderer  Krankheiten  sich  aus- 
bildete, so  z.  B.  bei  Blutkrankheiten,  Morbus  maculosus,  Skorbut  u.  s.  w., 
ferner  bei  schweren  Infectionskrankheiten,  wie  Typhus,  Variola  etc.,  end- 
lich bei  Cachexien.  Eine  dritte  Reihe  der  zu  Gehirnhämorrhagien  führenden 
Leiden  betrifft  Erkrankungen  des  Gehirnes  selbst.  So  können  besonders 
bei  Hirntumoren,  ferner  bei  Meningitis  und  anderen  mehr  diffusen  Pro- 
cessen Blutungen  eintreten,  welche  aber  gewöhnlich  schon  durch  ihre 
andere  Localisation  von  der  gewöhnlichen  Apoplexie  dilferiren. 

Embolien  und  Thrombosen  können  nicht  nur  bei  Herz-  und 
Gefässerkrankungen,  sondern  auch  bei  Infectionskrankheiten  auftreten,  sie 
werden  am  häufigsten  in  der  Art.  fossae  Sylvü  (besonders  in  der 
linken)  angetroffen;  ferner  scheinen  mehr  vorübergehende  Circulations- 
störungen  den  schon  oben  erwähnten  apoplectiforraen  Anfällen  zu  Grunde 
zu  liegen.  In  diesen  letzteren  Fällen  findet  man  in  der  Leiche  keine  er- 
kennbaren Läsionen ;  früher  glaubte  man,  dass  hier  anstatt  Blutes  eine  seröse 
Transsudation  den  Insult  hervorruft  (seröse  Apoplexie),  allein  die  vermehrte 
Menge  der  cerebro-spinalen  Lymphe  ist  nur  die  Folge  der  (meistens  senilen) 
Atrophie  des  Gehirns,  welche  gewöhnlich  in  diesen  Fällen  angetroffen  wird, 
und  nicht  die  Ursache  des  apoplectischen  Anfalles. 

Symptome.  Der  apoplectische  Insult  stellt  sich  meist  ganz. unverhofft 
ein,  doch  gehen  ihm  manchmal  Vorboten  zuvor,  in  selteneren  Fällen  ent- 
wickelt sich  die  Apoplexie  langsamer,  dann  spricht  man  von  einem  verzögerten 
apoplectischen  Insult.  Die  Vorboten  bestehen  in  einem  Gefühl  von  Schwere, 
Wüstheit  im  Kopfe,  Dunkelwerden  vor  den  Augen,  Schwindel,  Erscheinungen, 
die  sich  zumeist  rasch  steigern,  so  dass  der  Patient  oft  nicht  Zeit  hat, 
sich  niederzulegen,  da  sich  schon  Sprachstörung  und  zunehmende  Beein- 
trächtigung des  Bewusstseins  einstellen.  Häufig  aber  tritt  die  Apo- 
plexie ohne  Vorboten  mitten  im  besten  Wohlsein,  in  eifriger  Thätigkeit 
ein.  Abgesehen  von  jenen  Fällen,  wo  der  Insult  sofort  zum  Tode  führt 
(apoplexie  foudroijante),  finden  wir  den  Kranken  in  tiefstem  Coma,  aus 
welchem  er  nicht  erweckt  werden  kann.  Gewöhnlich  ist  der  Kopf  und  das 
Gesicht  stark  geröthet,  selten  blass.  Das  Herz  arbeitet  mit  verstärkter 
Kraft,  der  Puls  ist  voll,  stark,  in  der  Frequenz  vermindert.  Die  Respiration 
ist  tief,  oft  verlangsamt  und  häufig  von  starkem  Schnarchen  (stertoröses 
Athmen)  begleitet,  was  aus  der  Paralyse  des  Gaumensegels  resultirt;  bei 
noch  tieferem  Coma  sammelt  sich  in  der  Luftröhre  auch  Schleim,  sogar 
Speichel,  und  so  kommt  es  zu  Trachealrasseln.  Bei  jeder  Exspiration  blasen 
sich  die  Wangen  auf,  und  bei  aufmerksamer  Betrachtung  kann  man  schon 
einen  Unterschied  in  der  Schlaffheit  der  beiden  Gesichtshälften  entdecken. 
Die  Extremitäten  liegen  schlaff,  unbeweglich,  sie  zeigen  bei  passiven 
Bewegungen  gar  keine  Resistenz.  Es  kommt  aber  auch  ausnahmsweise  vor, 
dass  in  der  betroffenen  Körperhälfte  die  Muskeln  in  einer  tonischeu  Starre 
angetroffen  werden,  welches  Symptom  gewöhnlich  auf  einen  Durchbruch 
der  Blutung  in  einen  Seitenventrikel  bedeutet  und  von  sehr  schwerer 
Prognose  ist. 

Die  Sensibilität  ist  auch  oft  vollständig  erloschen,  manchmal  aber  ge- 
lingt es,  durch  stärkeres  Kneifen,  Stechen  auf  der  einen  Körperhälfte  Be- 
wegungen hervorzurufen.  Auf  diese  Weise  kann  man  die  gelähmte  Seite 
erkennen,  auch  zeigen  sich  die  oberfiächlichen  Reflexe  (Cremaster-,  Bauch- 
etc.  Reflexe)  auf  der  gelähmten  Seite  bedeutend  vermindert.  Die  Patellar- 
reflexe  sind  (oder  scheinen  wenigstens)  in  der  ersten  Zeit  auch  geschwunden. 
Urin  und  Stuhl  werden  oft  unter  sich  gelassen,  doch  kann  auch  Harn- 
retention   vorkommen.     Im   Urin    findet   sich   oft  vorübergehend   Albumin, 


APOPLECTISCHER  INSULT.  103 

manchmal  auch  Zucker.  Die  Temperatur  ist  gewöhnlich  subuormal,  nur  in 
Fällen,  wo  der  Sitz  der  Läsion  in  der  Brücke  oder  im  verlängerten  Mark 
ist,  besteht  eine  Steigerung  der  Körperwärme  von  Beginn  des  Insultes  an. 
Die  Pupillen  zeigen  nichts  Charakteristisches,  die  Augen  und  der  Kopf 
sehen  oft  nach  der  einen  Körperhälfte  (deviation  conjuguee),  doch  hängt 
die  Blickseite  davon  ab,  ob  dieses  Symptom  aus  einer -Reizung  oder  einer 
Lähmung  entstanden  ist,  gewöhnlich  sind  die  Augen  nach  der  erkrankten 
Hemisphärenseite  gewendet.  Selten  beginnt  der  apoplectische  Lisult  mit 
epileptiformen  Krämpfen,  diese  haben  dann  den  Charakter  der  corticalen 
Convulsionen  und  betreffen  gewöhnlich  blos  eine  Körperhälfte. 

Was  den  Mechanismus  des  apoplectischen  Insultes  anbetrifft,  so  müssen  wir 
theils  nach  den  klinischen  und  pathologisch  anatomischen  Erfahrungen,  theils  nach  experi- 
mentellen Untersuchungen  (von  Düket)  annehmen,  dass  der  plötzliche  Eintritt  des  Insultes 
ein  Hanptfactor  des  Symptomencornplexes  ist.  Langsam  erfolgende  Blutungen  rufen  nur 
hei  bedeutend  grösserer  Menge  —  ceteris  paribus  —  ein  so  tietes  Coma  als  rasch  ent- 
standene kleinere  Herde  hervor.  Ausser  der  Grösse  des  Herdes  ist  aber  auch  dessen  Sitz 
von  hoher  Bedeutung  auf  das  Krankheitsbild.  Die  schwersten  Störungen  verursachen 
die  Herde  im  Hirnstamm,  da  hier  der  Blutdruck  iu  den  Gefässen  grösser  ist,  wie  in  den 
Arterien  des  Hirnmantels  und  die  einzelnen  Gefässe  bedeutend  stärker  sind.  Ferner 
kommt  noch  dazu  der  Umstand,  dass  in  diesem  Gehirntheil  auf  einer  eng  begrenzten 
Strecke  —  in  der  inneren  Kapsel  —  die  Leitungsbahnen  nahezu  sämmtlicher  centrifugaler 
und  centripetaler  Bahnen  vereinigt  liegen,  und  somit  von  hier  aus  die  ganze  Rinden- 
fläche durch  den  plötzlichen  Shok  stark  beeinflusst  wird,  vielleicht  noch  stärker,  als 
durch  die  sich  auf  die  ganze  Hirnmasse  fast  glefchmässig  vertl] eilende  Druckerhöhung 
bei  der  Gehirnblutung,  während  diese  Druckerhöhung  bei  ganz  gleich  starkem  Insult 
in  Folge  von  Embolie  vollständig  ausbleibt.  Bei  weitem  geringere  Insulterscheinungeu 
treten  gewöhnlich  bei  corticalen  Processen  ein.  obzwar  auch  hier  manchmal  schwere 
Insulte  vorkommen,  doch  bilden  sie  sich  bedeutend  rascher  —  bis  auf  die  Herdsymptome 
entsprechend  der  lädirten  Stelle  —  zurück.  —  Am  leichtesten  —  manchmal  aber  mit 
plötzlichem  Tod —  verlaufen  die  Apoplexien  der  Hirn  Schenkel  und  der  Brücke.  Hiebe! 
bleibt  die  Bewusstseinsstörung  oft  ganz  aus,  und  selbst  in  den  tödtlichen  Fällen  sind 
nicht  die  Erscheinungen  des  apoplectischen  Insultes,  die  den  letalen  Ausgang  herbei- 
führen, sondern  die  Störungen  in  den  vegetativen,  besonders  den  Flerz-  und  Athmungs- 
functionen.  Wir  müssen  hier  aber  betonen,  dass  man  aus  der  Schwere  des  Insultes  noch 
keineswegs  auf  dessen  Localisation  Schlüsse  ziehen  darf,  es  kommen  ziemlich  häufig  ganz 
leichte  Insulte  bei  den  verschiedensten  Localisationen  vor,  die  freilich  oft  (wenn  auch 
nicht  immer)  von  schwereren  gefolgt  werden. 

Was  die  Diagnose  des  apoplectischen  Lisultes  betrifft,  so  ist  am 
meisten  charakteristisch  der  comatöse  Zustand  bei  normaler,  oder  selbst 
erhöhter  Herzthätigkeit ;  eigentlich  kann  aber  die  Diagnose  nur  dann  mit 
Sicherheit  gestellt  werden,  wenn  Ausfallserscheinungen,  besonders  Läh- 
mungen nachgewiesen  werden.  Es  ist  leicht,  den  apoplectischen  Insult 
von  der  einfachen  Ohnmacht  oder  Herzschwächeanfällen  zu  unterscheiden, 
da  bei  beiden  die  Herzthätigkeit  bedeutend  geschwächt  ist.  Hysterische 
Anfälle  —  besonders  Schlafanfälle  —  können  zuweilen  Aehnlichkeit  mit 
der  Apoplexie  haben,  und  manche  Autoren  sprechen  auch  von  einer  hysteri- 
schen A.,  doch  wird  die  Unterscheidung  in  den  einzelnen  Fällen  keine 
besonderen  Schwierigkeiten  verursachen.  Toxämische  Zustände  können  aber 
manchmal  für  Apoplexien  gehalten  werden,  besonders  wenn  die  ßeobaclrtung 
des  Kranken  mangelhaft  ist.  In  zweifelhaften  Fällen  muss  der  Geruch  des 
Athems  (nach  Alkohol,  Aceton),  ferner  der  Urin  auf  Albumin  (Urämie)  und 
Zucker  (Diacetämie)  geprüft  werden.  Doch  muss  man  hiebei  die  Nebenumstände 
noch  sehr  sorgfältig  analysiren,  da  eben  diese  letzteren  Befunde  uns  irreführen 
können  :  es  geschieht  oft,  dass  man  noch  vor  unserer  Ankunft  solchen  Patienten 
alkoholhaltige  Flüssigkeiten  in  den  Mund  giesst ;  Albuminurie  und  Melliturie 
können  auch  Folgen  des  apoplectischen  Insultes  sein.  —  Bei  Opiumvergiftung 
sind  die  Pupillen  sehr  enge,  doch  finden  wir  dasselbe  Verhalten  bei  Blut- 
ergüssen in  die  Brücke.  Wir  müssen  somit,  falls  sich  keine  directen  Lähmungs- 
,erscheinungen  zeigen,    sehr  vorsichtig  bei   der  Stellung  der  Diagnose  sein. 


104  ARTERIENECTASIE. 

Von  der  Prognose  des  apoplectischen  Insultes  kann  man  ebenso 
wenig  reden  wie  von  der  Prognose  der  Wassersucht.  Darüber  entscheidet 
nur  der  Sitz,  die  Ausdehnung  und  besonders  die  Art  des  Grundprocesses. 
Fortschreitende  Gefässerkrankung  führt  zu  Wiederholungen  der  Anfälle, 
während  diese  bei  der  durch  eine  acute  Krankheit  entstandenen  hämorrha- 
gischen Diathese  gewöhnlich  ausbleiben.  ApoplecU forme  Anfälle  sind  äusserst 
verdächtig  auf  'progressive  Paralyse;  apopledische  Insulte  mit.  epileptiformen 
Convulsionen  aiif  Neubildungen  im  Gehirn. 

Die  Therapie  soll  womöglich  nach  der  ätiologischen  Seite  sich 
richten.  Eigentlich  aber  haben  wir  ziemlich  wenig  Einiluss  weder  auf  eine 
Gehirnblutung,  noch  auf  eine  Embolie.  Früher  war,  und  selbst  heute  noch 
ist  eine  der  ersten  Aufgaben  tüchtig  zur  A d e r  z u  1  a s s e n,  und  wehe 
dem,  der  dieses  scheinbar  sehr  logische  Mittel  nicht  ergreift.  Eine  solche 
Procedur  ist  aber  ganz  verwerflich  bei  anämischen  Zuständen,  bei  Herz- 
leiden ohne  besondere  Stauungssymptome,  und  ihr  Nutzen  bei  Congestion 
ist  auch  sehr  problematisch.  Immerhin  mag  man  an  einem  Arm  (an  welchen 
bleibt  sich  gleich),  bei  geröthetem  Gesicht,  stark  pulsirenden  Arterien,  ro- 
bustem Körperbau  eine  Vene  eröffnen.  Die  Quantität  des  herauszulassenden 
Blutes  bestimmt  man  am  besten  während  der  Operation;  200—300  ccm. 
(1 — IV2  Trinkgläser)  werden  gewiss  nicht  schaden:  sieht  man  aber  hiebei, 
dass  hiedurch  einige  Erleichterung  eintritt  (ruhigeres  Athmen,  Wiederkehr 
des  Sensoriums  etc.),  so  kann  man  noch  mehr  herausfliessen  lassen.  Einfach 
aus  theoretischem  Gutdünken  die  Venaesection  ganz  zu  verwerfen,  wäre 
ebenso  falsch  als  wenn  man  glaubte,  dass  man  durch  dieselbe  den  Blut- 
druck im  Gehirn  wesentlich  herabsetzen  vermag ;  die  Gesammtquantität 
des  Blutes  wird  durch  sie  so  gut  wie  gar  nicht  beeinflusst,  höchstens  kann 
sich  in  einzelneu  Fällen  die  Vertheilung  des  Blutes  im "  arteriösen  und 
venösen  System  etwas  bessern.  Es  kommen  jedoch  hie  und  da  Fälle  vor, 
bei  welchen  die  Venaesection  momentan  Erleichterung  verschafft.  Wichtiger 
aber  als  diese  Frage,  ist,  dass  man  den  Kranken  womöglich  wenigstens  in 
der  ersten  Zeit  nicht  transportire,  oder  nur  mit  äusserster  Vorsicht,  ferner 
gebe  man  durch  Kissen  eine  hohe  Lagerung  seinem  Kopf,  und  mache  kalte 
Umschläge  an  der  Kopfhälfte,  wo  man  die  Läsion  vermuthet.  Sinapismen 
an  den  unteren  Extremitäten  haben  nicht  viel  Sinn,  angezeigt  ist  abör,  durch 
Klysmata  eine  gehörige  Ausleerung  der  Därme  herbeizuführen.  Ferner 
versuche  man  vorsichtig  Wasser  in  den  Mund  zu  bringen  und  wiederhole 
dies  von  Zeit  zu  Zeit,  wenn  der  Kranke  schluckt.  Medicamente,  und  in 
erster  Reihe  Digitalis  sollen  nicht  verordnet  werden,  weil  eine  Verstär- 
kung der  Herzaction  nicht  angezeigt  ist;  man  überwache  die  Blase  und 
entleere  sie ,  wenn  nöthig ,  mittelst  eines  frisch  sterilisirten  Catheters. 
Frequenterwerden  des  Pulses  und  Cheyne-Stokes'sches  Athmen  sind  von 
ominöser  Bedeutung  und  können,  ebenso  wie  stark  anämische  Zustände, 
die  Anwendung  von  Excitantien  erheischen.  Natürlich  wird  man  sich  in 
diesem  Falle  der  subcutanen  Methode  bedienen,  und  Kampheröl  (2 — 3  Proc), 
oder  eine  Coffeinlösung  {Coffeinum  natriosalici/Ucuni  20  Proc.)  einigemal  in- 
jiciren.  Bei  hoher  Steigerung  der  Körperwärme  gibt  man  2 — 4*0  Antipyrin 
in  Milch  gelöst  in  einem  kleinen  Klystier. 

Den  weiteren  Verlauf,  sowie  die  fernere  Behandlung  der  Folgen  des 
apoplectischen  Insultes  s.  unter  „Gehirnblutung''  und  „Embolie", 

ERN'ST  JENDRÄSSie. 

Arterienectasie  der  grossen  Brust-  und  Bauchgefässe.  {Innere 
Aneurysmen.) 

Die  umschriebene  Erweiterung  einer  Arterie  {Arterienectasie)  bezeichnet 
manals  Aneurysma.  Die  Grösse  derselben  wechselt  innerhalb  der  weitesten 


AUTERIENECTASIE.  105 

Grenzen,  so  dass  man  ganz  kleine,  erbsengrosse  Aneurysmen  antrifft  bis 
lierauf  zu  solchen,  welche  die  Grösse  einer  Männerfaust  weit  überragen. 
Der  Form  nach  unterscheidet  man  sackförmige,  cylindrische  und  spindel- 
förmige, wobei  Uebergänge  und  Combinationen  der  einzelnen  Formen  in 
mannigfacher  Weise  vorkommen.  Man  hat  hierbei  zu  berücksichtigen,  dass 
die  Erweiterung  des  Arterienrohrs  nicht  ganz  plötzlich,  sondern  häufig  allmälig 
beginnt,  so  dass  die  Arterie  schon  vor  ihrem  Uebergang  in  die  sackförmige 
Erweiterung  eine  Strecke  vorher  deutliche  Dilatation  erkennen  lässt.  In 
noch  höherem  Grade  gilt  dies  für  die  der  Entstehung  der  Aneurysmen  zu 
Grunde  liegende  Erkrankung  der  Arterie,  welche  meistens  in  einer  ausge- 
sprochenen Arteriosclerose  besteht.  In  Folge  dessen  findet  man  die  Wand 
der  Aneurysmen  niemals  von  einer  normalen-  Gefässwand  gebildet.  Vielmehr 
zeigt  die  Intima  fast  ausnahmslos  diejenigen  Veränderungen  in  hohem 
Grade,  welche  für  die  Arteriosclerose  charakteristisch  sind.  Aber  auch 
die  Media  und  die  Adventitia  nehmen  meistens  in  vorgeschrittenen  Stadien 
der  Dilatation  immer  an  der  Erkrankung  Theil,  so  dass  das  Aneurysma 
durch  eine  Ausweitung  aller  drei  Arterienhäute  gebildet  wird.  Es  gilt  dies 
namentlich  für  die  Aneurysmen  der  Aorta,  welche  hier  vorzugsweise 
besprochen  werden  sollen.  Die  Tunica  muscularis  nimmt  bei  der  Bildung 
des  Aneurysma  an  Umfang  ab,  verliert  an  Tonus  und  Resistenzfähigkeit 
und  unterstützt  dadurch  die  partielle  Ausdehnung  des  Gefässrohrs  sehr 
wesentlich.  Die  Verdünnung  derselben  kann  so  weit  vorschreiten,  dass  man 
bei  der  mikroskopischen  Untersuchung  des  Aneurysma  stellenweise  keine 
Spuren  der  Muscularis  findet.  In  anderen  Fällen  ist  dieselbe  fettig  degenerirt. 
Die  Adventitia,  welche  anfangs  noch  unversehrt  sein  kann,  wird  später 
ebenfalls  erkrankt  und  durch  chronisch-entzündliche  Vorgänge  verdickt 
gefunden.  Bei  hochgradigem  Schwund  und  Atrophie  der  Innenhaut  und  der 
Muscularis  bildet  sie  zuweilen  allein  die  Wand  des  Aneurysma;  in  anderen 
Fällen  nimmt  auch  sie  an  der  fortschreitenden  Atrophie  der  Gefässhäute 
Theil,  wenigstens  an  einer  oder  der  anderen  Stelle  des  aneurysmatischen 
Sackes,  so  dass  es  hier  leicht  zu  einer  Ruptur  desselben  und  zu  einer 
tödlichen  Blutung  kommen  kann.  Fast  niemals  ist  der  aneurysmatische 
Sack  durchgehends  von  gleicher  Stärke  und  Beschaffenheit;  während  er 
stellenweise  durch  wiederholte  Entzündungen  sehr  verdickt  und  uneben  ist 
und  schwielige  Beschaffenheit  darbietet,  ist  derselbe  an  anderen  Stellen  so 
verdünnt,  dass  er  bei  dem  Versuch  der  Herausnahme  bei  der  Section 
sofort  einreisst.  Dieselbe  Verschiedenheit  finden  wir  auch  mit  Bezug  auf 
die  Verwachsungen  mit  den  benachbarten  Organen,  mit  welchen  der  Balg 
in  Folge  chronisch-entzündlicher  Processe  vielfach  in  so  grosser  Ausdehnung 
und  so  untrennbar  fest  verlöthet  ist,  dass  es  überhaupt  nicht  gelingt,  die 
Adhäsionen  zu  lösen  und  das  Aneurysma  unverletzt  und  uneröffnet  aus  dem 
Thorax  zu  entfernen. 

Der  Inhalt  der  Aneurysmen  bildet  zum  grossen  Theil  flüssiges,  zum  gerin- 
geren geronnenes  Blut.  Ausserdem  findet  man  recht  häufig,  aber  durchaus 
nicht  regelmässig  ältere  geschichtete  Thromben,  welche  zuweilen  eine  im 
Verhältnis  zur  Grösse  des  Sackes  selbst  enorme  Ausdehnung  erreichen 
können  und  nach  vielerlei  Richtung  hin  von  grosser,  häufig  günstiger 
Bedeutung  sind.  Diese  thrombotischen  Abscheidungen  sind  von  derber 
Beschaffenheit  und  lassen  stets  eine  geschichtete  Structur,  zuweilen  deutlich 
concentrische  Schichtung,  ähnlich  wie  die  Jahresringe  der  Bäume,  erkennen, 
wobei  die  ältesten  Schichten  der  Innenwand  am  nächsten  liegen.  Sie  sind 
fest,  gelblich  gefärbt;  bestehen  aus  faseriger  Grundsubstanz  mit  Resten  von 
Blutpigment,  zuweilen  in  krystallinischer  Form  und  können  mit  der  Wand 
verwachsen.  Am  häufigsten  findet  man  sie  in  sackförmigen  Aneurysmen  mit 


106  ARTERIENECTASIE. 

engem  Hals,  in  welchen  der  geringste  Blutwechsel  stattfindet.  Diese 
Thromben  wachsen  beständig  und  bilden  immer  von  Neuem  wieder  den 
Kern,  an  welchen  die  gerinnenden  Fibrinniederschläge  sich  ansetzen ;  sie 
können  verkalken,  oder  erweichen  und  zerfallen,  in  manchen  Fällen  auch 
einer  Art  von  Organisation  unterliegen,  wobei  sie  von  Canälen  und  Gängen 
durchzogen  werden,  Avelche  vom  Aneurysma  selbst  gespeist  werden.  Während 
auf  der  einen  Seite  diese  thrombotischen  Gerinnungen  mancherlei  schwere 
Schädigungen  im  Circulationsapparat  hervorrufen  können,  einmal  dadurch, 
dass  sich  Partikel  von  ihnen  loslösen  und  als  Emboli  dienen,  welche 
peripher  in  die  abgehenden  Arterien  verschleppt  werden,  und  ferner  durch 
die  Verlegung  solcher  Gefässe,  welche  von  dem  Aneurysma  abgehen  (z.  B. 
der  art.  subclavia  dextra  bei  Aneurysmen  des  trimcus  anoni/mus),  sind  sie 
auf  der  anderen  Seite  als  günstiger  Vorgang,  ja  gewissermassen  als  eine 
Art  von  spontaner  Heilung  zu  betrachten,  welche  man  sogar  therapeutisch 
durch  Einführung  von  Fremdkörpern  in  den  Sack  nachzuahmen  bestrebt 
gewesen  ist.  Durch  die  Erfüllung  des  Sackes  mit  thrombotischem  Material 
wird  derselbe  wesentlich  verkleinert  event.  bei  Aneurysmen  von  geringerem 
Umfang  ganz  ausgefüllt  werden.  Bei  Aneurysmen  peripherer  Arterien  hat 
man  diese  Gerinnung  durch  con stauten  Druck  zu  erreichen  versucht.  — 
Man  findet  nicht  immer  ein  einzelnes  Aneurysma ;  selbst  neben  einem  sehr 
grossen  Sack  findet  man  an  der  Brustaorta  zuweilen  noch  einen  zweiten, 
der  mit  ersterem  durch  einen  kurzen  Hals  communicirt;  bei  den  kleinen 
Aneurysmen,  wie  sie  namentlich  im  Gehirn  und  den  Lungen  zuweilen  vor- 
kommen und  Apoplexien  respective  Haemoptoe  hervorrufen,  findet  man 
häufiger  mehrere,  als  ein  einzelnes  Aneurysma.  Bei  starkem  Wachsthum 
der  von  der  Brustaorta  abgehenden  Aneurysmen  gelangen  sie  durch  Ver- 
drängung der  darüber  liegenden  Lunge  an  die  Brustwand,  wo  sie  einen 
sichtbar  pulsirenden  Tumor  bilden;  wenn  die  Lunge  sich  in  Folge  früherer 
Synechien  mit  der  Brustwand  nicht  retrahiren  kann,  verdrängen  die 
Aneurysmen  andere  Organe,  ohne  peripher  sichtbare  Erscheinungen  oder 
physikalisch  erkennbare  Symptome  hervorzurufen.  In  solchen  Fällen  können 
dieselben  sehr  lange  oder  gänzlich  unerkannt  bleiben,  bis  ein  plötzlicher 
Tod  in  Folge  von  Ruptur  des  Sackes  das  Räthsel  löst.  Wo  die  Aneurysmen 
an  Knochen  angrenzen,  werden  die  letzteren  in  Folge  der  beständig 
wirkenden  Pulsation  des  ausserdem  ständig  wachsenden  Tumors  usurirt 
und  schliesslich  perforirt.  Man  sieht  auf  diese  Weise  Einschmelzungen  von 
Rippen,  Durchbohrungen  des  Sternum,  Luxation  der  Clavicula,  selbst  die 
hochgradigsten  Zerstörungen  der  Wirbel,  mit  Eröffnung  des  Wirbelcanals, 
so  dass  der  aneurysmatische  Tumor  einen  clirecten  Druck  auf  das  Rücken- 
mark ausübt,  wodurch  Erscheinungen  von  Mening'itis  spinalis  und  von 
Drucklähmung  der  unteren  Extremitäten,  der  Blase  und  des  Mastdarms 
mit  Sensibilitätsstörungen  hervorgerufen  werden  können. 

Die  unafangreichste  Zerstörung  von  Knochensnbstanz  habe  ich  bei  der  Autopsie 
eines  Aneurysma  der  absteigenden  Aorta  angetroffen,  wobei  vier  Brustwirbel  so  vollständig  zum 
Schwund  gebracht  worden  waren,  dass  nur  noch  die  Körper  bestanden,  während  die 
hintern  Bögen  mit  den  Quer-  und  iDornfortsätzen  gänzlich  fehlteu.  Die  hintere  Wand  des 
Rückenmarkcanals  bildete  eine  fast  papierdiinne  Lamelle  von  Knochensnbstanz.  In  der 
weichen  Substanz  des  über  mänuerfaustgrossen  thrombotischen  Gerinnsels,  welches  den 
aneurysmatischen  Sack  zum  grossen  Theil  erfüllte,  fand  sich  ein  getreuer  Abdruck  der 
übriggebliebenen  Reste  dieses  Theiles  der  Wirbelsäule,  ebenso  deutlich  erkennbar,  als 
hätte  man  einen  Gj^psabguss  davon  vor  sich. 

Auch  durch  directen  Druck  des  Sackes  auf  die  im  Thorax  oder  im 
Abdomen  gelegenen  Organe  können  die  schwersten  Störungen  hervorgerufen 
werden,  welche  später  besprochen  werden  sollen.  Ich  hebe  hier  nur  die 
Compression   eines  Bronchus,  der  Speiseröhre,    des  Vagus   und    Recurrens 


AETERIEXECTASIE.  107 

der  Trachea,    der  Hohlvenen,    der  Yorhöfe,   im  Abdomen   die  Compression 
der  Gefässe,  des  Ductus  choledochus,  einer  Darmschlinge  u.  s.  w.   hervor. 

Wir  haben  bis  jetzt  diejenige  Form  des  Aneurysma  besprochen,  welche 
durch  eine  Betheiligung  aller  drei  Schichten  der  Arterie  hervorgerufen  und 
als  Aneurysma  verum  bezeichnet  wird;  im  Gegensatz  dazu  steht  die- 
jenige Form  des  Aneurysma,  welche  ebenfalls  an  der  Aorta  vorkommt  und 
Aneurysma  dissecans  genannt  wird.  Es  ist  ungleich  seltener  und 
entsteht  durch  Zerreissung  der  Intima  und  Media,  oder  einer  dieser  Häute 
allein.  Das  Blut  wühlt  sich  zwischen  die  Media  und  die  Adventitia  oder 
zwischen  die  Schichten  der  Media  hinein  und  führt  dadurch  zur  Bildung 
sehr  grosser  Säcke,  welche  durch  Paiptur  in  den  meisten  Fällen  einen 
plötzlichen  Tod  hervorrufen.  In  anderen  Fällen  reisst  in  Folge  einer  plötz- 
lichen, sehr  energischen  Bewegung  die  meist  vorher  schon  fettig  degenerirte 
Muscularis  ein,  so  dass  an  dieser  Stelle  das  Arterienrohr  nur  von  der 
Intima  und  Adventitia  gebildet  wird.  Die  Intima  stülpt  sich  durch  die 
rupturirte  Stelle  der  Muscularis  hernienartig  hervor  und  wird  durch  den 
Blutdruck  immer  mehr  vorgewölbt,  bis  schliesslich  der  aneurysmatische 
Sack  fertig  ist. 

Unter  allen  Aneurysmen  sind  diejenigen  der  Aorta  am  häufigsten; 
dann  folgen  diejenigen  der  Art.  anonyma.  Was  die  Aorta  und  ihre  Ver- 
ästelung selbst  anbetrifft,  so  entspricht  die  Häufigkeitsscala  dem  Verlauf 
des  Gefässes  selbst,  d.  h.  es  überwiegen  diejenigen  der  Aorta  ascendens 
und  des  Bogens,  dann  folgen  diejenigen  des  Truncus  anonymus  resp.  der 
linksseitigen  grossen  Gefässe.  welche  getrennt  vom  Stamm  abgehen  ('Art. 
carotis  und  subclavia  siuistra),  dann  die  der  Aorta  thoracica  descendens 
und  endlich  die  der  Aorta  abdominalis  an  Häufigkeit.  Dem  entsprechend 
habe  ich  unter  25  Fällen  von  Aneurysmen  der  Aorta  12  mal  die  Aorta 
ascendens  und  den  Arms  aortae,  10  mal  die  Art.  anomjma  resp.  die  links- 
seitig vom  Bogen  abgehenden  grossen  Gefässe  {Carotis  und  Subclavia  sin.), 
2  mal  die  Aorta  thoracica  descendens  und  nur  1  mal  die  Aorta  abdominalis 
erkrankt  gefunden.  Jedoch  ist  dabei  zu  berücksichtigen,  dass,  soweit  die 
Fälle  zur  Autopsie  gelangten,  die  aneurysmatischen  Erweiterungen  nicht 
scharf,  mit  distincter  Grenze  einsetzten,  sondern  dass  sich  schon  vor  dem 
eigentlichen  sackartigen  Aneurysma  mehr  oder  weniger  spindelförmig 
gestaltete  Erweiterungen  der  grossen  Schlagadern  vorfinden,  so  dass  es 
selbst  post  mortem  häufig  schwer  ist,  den  genauen  Anfang  der  Erweiterung 
scharf  zu  präcisiren.  Ausserdem  finden  sich  bei  den  Autopsien  zuweilen 
mehrere  Aneurysmen,  von  denen  sich  intra  vitam  nur  eines  klinisch  deutlich 
manifestirte. 

Das  Lebensalter  übt  auf  die  Entwicklung  der  Aortenaneurysmen 
unzweifelhaft  einen  grossen  Einfluss  aus;  alle  Autoren  bezeichnen  die  Zeit 
zwischen  dem  30,  und  60.  Lebensjahr  als  die  günstigste  für  die  Entwicklung 
dieser  Krankheit.  Diese  Angabe  kann  ich  ebenfalls  bestätigen;  mein  jüngster 
Patient  war  eine  Frau  von  38,  mein  ältester  ein  Mann  von  62  Jahren. 

Es  standen  von  25  Patienten : 

in  den  dreissiger  Lebensjahren         4  Patienten 
„     .,     vierziger  „         \  .     ^  t>  ^-     * 

;,     ;,     fünfziger  „         M^   1*^  Patienten 

„     „     sechziger  „  1   Patient 

Es  hat  dies  seinen  Grund  darin,  dass  die  Arterienerkrankungen, 
welche  erfahrungsgemäss  am  häufigsten  zur  Aneurysmenbilduug  führen,  erst 
im  vorgerückteren  Lebensalter  zur  Entwicklung  gelangen.  Es  ist  dies  haupt- 
sächlich die  Arteriosclerose  mit  ihren  endarteritischen  Veränderungen 
(Verlust  und  Wucherung  des  Endothels,' Verfettung,  Verkalkung,  Geschwürs- 


108  AETERIENECTasIE. 

bildiing),  welche  auch  auf  die  Media  übergreift  und  zur  Abnahme  des 
Tonus  und  der  Resistenzfähigkeit  führt  (Mesarteritisi.  Hierdurch  und  durch 
die  Abnahme  der  Elasticität  der  Intima  wird  einer  mehr  oder  weniger  weit 
verbreiteten  Ausdehnung  des  Gefässrohrs  Vorschub  geleistet. 

Das   Vorhandensein     arteriosclerotischer    und     endarteritischer   Ver- 
änderungen  in    der   erweiterten  Aorta   ist   allein  noch   kein  Beweis  dafür, 
dass  erstere  die  Ursache  des  Aneurysma  sein  müssen,  da  sie  ja  auch  eine 
secundäre  Erkrankung  darstellen  können,  immerhin  ist  das  ursächliche  Ver- 
liältuis  das  wahrscheinlichere,  da  man  niemals  eine  aneurysmatischeErweiterung 
bei  einer  sonst  glatten   und  unveränderten  Intima   der  Aorta   antrifft.    Mit 
dieser  primären  Gefässerkrankung   hängt  es  auch  unzweifelhaft  zusammen, 
dass  Männer  häufiger  an  Aortenaneurysmen  erkranken  als  Frauen  (in  meinen 
Fällen   17  Männer  und  8  Frauen),  obgleich  noch  andere  Gründe  für  diese^ 
constante  Verhältnis  maassgebend   sind,    so   namentlich   die  Beschäftigung, 
die  Constitution,  die  grössere  Gelegenheit  zu  Traumen,  das  Heben  schwerer 
Lasten,  der  Alkohol-   und  eventuell  Tabak  missbrauch.    Dass  klima- 
tische Verhältnisse  von    maassgebendem    Einfluss    sind,    zeigt    die    grosse 
Häufigkeit   des   Vorkommens   von   Aneurysmen   in   England   und   den   Ver- 
einigten Staaten  gegenüber  derjenigen  des  europäischen  Continents;  selbst 
innerhalb  Deutschlands  zeigt  das  Vorkommen  dieser  Erkrankung  die  erheb- 
lichsten geographischen  Unterschiede.  Da  wir  aber  in  denjenigen  Ländern, 
in  welchen    die  Aneurysmen    so   ganz  besonders  häufig  beobachtet  werden, 
wie    namentlich    in   England,    auch    gleichzeitig    besonders  häufig    Arterio- 
sclerose  antreffen,  so  dürfte  wohl  auch  hier  die  Gefässerkrankung  das  ver- 
mittelnde Glied  bilden,  wobei  die  Thatsache,  dass  man  sehr  häufig  Sclerose 
der  Aorta  und  nur  in  einem  sehr  geringen  Procentsatz  Aneurysmenbildung 
antrifft,    nicht  wesentlich    ins  Gewicht    fällt.    Von    einigem  Einfluss    dürfte 
auch  der  gesteigerte  Alkoholconsum  in  England  eine  Rolle  spielen.  Ich  bin 
überhaupt  der  Meinung,  dass  für  die  überwiegende  Mehrzahl  aller  Aorten- 
aneurysmen  die   primäre  Gefässerkrankung  das  maassgebende  und 
bestimmende  Moment  bildet,    und   dass    alle  übrigen  angeführten  aetiologi- 
schen    Verhältnisse    nur    die    unmittelbare    Gelegenheitsursache     für     die 
Erweiterung    des   bereits    erkrankten  Gefässrohrs    darstellen.    Von    diesem 
Gesichtspunkt  aus  dürfte  wohl  auch  die  Einwirkung  gewisser  constitutioneller 
Krankheiten   auf  die  Entwicklung  der  Aortenaneurysmen    aufzufassen  sein. 
Hierher  gehören  die  Gicht,  die  SijphiUs  imö.'  d.ev  Bhewnansmus.  Der  Einfluss 
der    beiden    erstgenannten  Krankheiten    auf    die    Gefässveränderungen    ist 
bekannt    genug,    wenngleich    wir   in   Deutschland    verhältnismässig    selten 
Gelegenheit  haben,  die  gichtischen  Formen  der  Arteriosclerose  zu  studiren. 
Um   so   bestimmter   glauben   die   Engländer   an   die    arthritische     Ursache 
der   Aneurysmen,   und   einer   der   glänzendsten   Vertreter  ihrer  Literatur, 
Stokes,    sieht  in   der   gichtischen   Diathese    eine    sehr    wichtige   Ursache 
jener  Aortenerkrankung,  -wobei   die    Gicht-Aortitis   das   vermittelnde  Glied 
darstellt.    Die  Syphilis    ist   ausserdem   vorzugsweise  von   den  Franzosen  in 
ursächlichen  Zusammenhang   mit   der    Entwicklung   der   Aortenaneurysmen 
gebracht  worden.  So  zählt  allein  Jaccoüd  22  Fälle  von  Aortenaneurysmen 
bei  Syphilitischen  auf,  bei  denen  ebenfalls  Aortitis  syphilitica  bestand.  Auch 
in  der  englischen  Literatur   begegnen   wir   dieser  Ansicht   auf  Schritt   und 
Tritt,  und  die  enthusiastische  Empfehlung  des  Jodkalium  bei  der  Therapie 
dieser  Krankheit  beruht  grössteutheils  auch  auf  dieser  Anschauung. 

Zuweilen  können  die  ersten  Anfänge  eines  Aortenaneurysma  unmittelbar 
auf  eine  heftige  Erschütterung,  auf  Traumen  (Fall,  Stoss,  Schlag,  welche 
der  Thorax  erlitten),  auf  Heben  schwerer  Lasten  etc.  zurückgeführt  werden. 
Wenn    auch    diese    Gelegenheitsursachen    bisweilen     überschätzt     werden 


ARTERIENECTASIE.  '  109 

mögen,  so  sind  unzweifelhaft  Fälle  beobachtet  worden,  in  welchen  sich  die 
ersten  Zeichen  eines  Aneurysma  unmittelbar  an  ein  Trauma  im  weitesten 
Sinne  angeschlossen  haben.  Auch  in  diesen  Fällen  konnte  mau  bei  der 
Autopsie  nachweisen,  dass  die  Wand  der  Aorta  schon  vorher  erkrankt  war. 
dass  dieElasticität  unddie  Widerstandsfähigkeit  der  Arterienwand  bedeutend 
abgenommen  hatten.  Dies  gilt  namentlich  auch  für  die  in  Folge  von  Traumen 
wiederholt  beobachteten  Fälle  von  Aneurysma  dissecans. 

Aetiologisch  wichtig  scheinen  mir  folgende  Fälle  zu  sein: 

Erster  Fall.  Ein  Mann  hatte,  um  heim  Ausgleiten  nicht  zu  fallen,  mit  seiner  vollen 
Muskelkraft  eine  rasche  ruckweise  Riickwärtsbewegung  des  Rum^^fes  ausgeführt,  wodurch 
es  zur  Ruptur  der  Aorta  und  Bildung  eines  dissecirenden  Aneurysmas  kam.  Bei  der 
Rückbewegung  \vurde  die  Aorta  übermässig  gedehnt  und  bei  der  hochgradigen  Arterio- 
sclerose  und  dem  dadurch  bedingten  Elasticitätsverlust  trat  die  Ruptur  ein.  Es  handelte 
sich  um  eine  partielle,  die  intima  und  Media  betreffende  Ruptur.  Wie  in  andern  Fällen 
sass  auch  hier  die  Rissstelle  dicht  über  den  Klappen. 

Zweiter  Fall.  Einen  ähnlichen  Fall  theilt  Patjl  mit:  Ein  48jähriger  Mann  hatte 
sich  eine  Aortenruptur  zugezogen  in  Folge  einer  gewaltigen  Anstrengung,  die  er  machte, 
um  sein  durchgehendes  Pferd  zum  Stehen  zu  zwingen.  Bei  der  Section  (nach  einigen 
Tagen  nachdem  ünfalF  fand  sich  ein  diifuses  Aneurysma  der  Aorta  ascendens  dicht  über 
den  Klappen.  Der  Riss  ging  durch  die  Intima  und  Media  und  führte  in  einen  mit  Blut 
gefüllten  Raum,  der  zwischen  Media  und  Adventitia  gelegen  war.  Das  Aneurysma  war 
ins  Pericardium  durchgebrochen. 

Dritter  Fall.  Ich  selbst  habe  beobachtet,  dass  ein  Locomotivführer  der  preussischen 
Xordbahn  dadurch  ein  Aneurysma  der  Aorta  ascendens  und  des  Bogens  acquirirte,  dass 
bei  einem  Eisenbahnunfall  eine  schwere,  mehrere  Centner  wiegende  Packwagenthür  ihm 
auf  die  Brust  fiel.  Der  Verletzte  klagte  sofort  über  starke  Dyspnoe  und  Schmerzen  auf 
der  Blust;  der  nach  einigen  Stunden  hinzugekommene  Arzt  konnte  die  Symptome  von 
Lungenödem  und  ungleichen  Puls  constatiren.  Ich  behandelte  den  Kranken  lange  Zeit 
und  beobachtete  ausser  den  übrigen  ausgesprochenen  Zeichen  eines  Aortenaneurysma 
einen  pulsirenden  Tumor  rechts  vom  Sternum,  der  sich  allmälig  enorm  vergrösserte.  Der 
Tod  erfolgte  nach  Monaten  durch  Ruptur.  Bei  der  Autopsie  fand  sich  ein  Aneurysma 
von  enormer  Grösse,  welches  dicht  über  den  Aortaklappen  begann  und  den  Arcus  mit- 
betraf.   Die  Aorta  war  hochgradig  sclerotisch. 

Auch  psijclüsche  E/.nßüsse  als  Ursache  von  Herz  und  Aortendilatation 
werden  mit  einiger  Berechtigung  angeführt.  Schliesslich  wäre  für  gewisse 
Formen  der  Aneurysmen  der  Aorta  und  namentlich  deren  Aeste,  welche 
sich  sous  l'asped  des  anevrijsmes  de  poche  ä  coUet  darstellen^  noch  die 
embolische  Ursache  (Ponfick,  Pel,  Spronck,  Langton  und  Bowlbt) 
zu  erwähnen,  wobei  hartes  und  unebenes,  sprödes,  mit  unebener,  rauher 
Oberfläche  versehenes  embolisches  Material  in  eine  Arterie  hinein- 
gelangt, sich  mit  dem  einen  spitzen  Ende  in  die  eine  Arterienwand  ein- 
spiesst  und  dieselbe  perforirt,  so  dass  die  Perforationsstelle  schliesslich 
zum  Hals  des  neu  gebildeten  Aneurysma  wird.  Dass  auf  diese  Weise  sehr 
umfangreiche  Aneurysmen  entstehen,  ist  wohl  bisher  nicht  beobachtet  worden, 
noch  auch  sehr  wahrscheinlich. 

Ebenso  wie  Aneurysmen  der  Aorta  lange  Zeit  unerkannt  bestehen 
können,  ohne  manifeste  Erscheinungen  hervorzurufen,  bis  sie  gelegentlich 
einer  zu  anderem  Zweck  unternommenen  Untersuchung  gewissermassen  mehr 
zufällig  entdeckt  werden  oder  durch  Paiptur  zum  plötzlichen  Tode  führen, 
können  in  andern  Fällen  auch  Aneurysmen  durch  andere  pathologische 
Processe  vorgetäuscht  werden.  Vorzugsweise  gehört  hierher  die  häufig  vor- 
kommende Insufticienz  der  Aortaklappen,  welche  wegen  der  dabei  statt- 
findenden starken  arteriellen  Pulsationen  namentlich  im  Bereich  des  Bogens 
selbst  und  der  von  demselben  abgehenden  Aeste  auf  den  Verdacht  eines 
Aneurysma  führen  können.  Es  kommen  hierbei  sowohl  die  "vom  Truncus 
anonymus.  als  die  linkerseits  getrennt  vom  Aortenbogen  abgehenden  grossen 
Arterien  des  Halses  und  der  obeni  Extremitäten  in  Betracht,  welche  durch 
die  starke  spindelförmige  Ausdehnung  des  Arterieurohrs,  durch  den  eigen- 
thümlichen,   in   einem    grossen  Theil   des  Arteriensystems   wahrnehmbaren 


110  ARTERIENECTASIE. 

klopfenden  Puls,  die  sichtbare  Pulsation  und  gesteigerte  Action  der  Arterien, 
das  doppelte  Blasebalggeräusch  in  der  Aorta  ascendens  resp.  im  Bogen  und 
endlich  durch  die  Verschiedenheit  der  Pulse  an  symmetrischen  Stelleu 
gleicher  Arterien  auf  beiden  Seiten  ein  Aneurysma  vortäuschen  können, 
ohne  dass  ein  solches  besteht. 

Wie  gross  die  Aehnliclikeit  des  Kvankheitsbildes  sein  kann,  lehrt  u.  a.  ein  Fall 
von  Hake,  welcher  durch  die  Autopsie  verificirt  wurde.  Hier  bot  ein  ITjähriges  Mädchen 
einen  eiförmigen  pulsirenden  Tumor  im  Jugulum  dar,  neben  fühlbarer  Erweiterung  der 
Arteria  anonyma,  und  systolisch-diastolischen  Geräuschen,  Pulsdifferenz  mit  Verspätung  der 
rechten  Radialis,  Hypertrophie  des  linken  Ventrikels,  diastolischem  Geräusch  über  dem 
Sternum  und  „water  hammer  pulse"  (pulsus  celer)  der  Radialarterien.  Bei  der  Section  fand 
sich  keine  Spur  einer  aneurysmatischen  Dilatation  des  Truncus  anonymus,  sondern  ledig- 
lich Insufficienz  der  Aortenklappen.  Einen  analogen  P'all  beobachtete  ich  bei  einer 
<10jährigen  Frau,  welche  mir  wegen  Aortenaneurysma  von  einem  andern  Collegen  über- 
wiesen worden  war :  Hier  bestand  eine  gleichfalls  eiförmige  Geschwulst  oberhalb  des 
rechten  Sternoclaviculargelenks,  durch  welche  die  beiden  Muskelbäusche  des  Sternocleido- 
mastoideus  auseinander  gedrängt  wurden.  Bei  der  Betastung  des  Tumors  mit  mehreren 
Fingern  wurden  dieselben  bei  jeder  Herzsystole  energisch  auseinander  gedrängt.  Ueber 
diesem  Tumor  war  eine  Dämpfung  des  Percussionsschalls  nachweisbar.  Die  Carotis  und 
Subclavia  an  ihrem  Ursprung  sehr  erweitert  und  deutlich  schwirrend,  jedoch  war  dieses 
Fremissement  arteriel  auch  links  ebenso  deutlich  nachweisbar.  Der  Puls  in  der  linken 
Subclavia  erheblich  kleiner,  als  rechts.  Der  Spitzenstoss  excentrisch.  Ueber  dem  Tumor 
ein  lautes  systolisches  und  diastolisches  Geräusch  hörbar:  auf  dem  Sternum  und  darüber 
verbreitet  ein  lautes  diastolisches  Wasserfallgeräusch.  Pulsus  celer,  Capillarpuls,  auch 
ophthalmoskopisch  nachweisbar  neben  spontanem  Arterienpuls.  Ausserdem  starke  Brachial- 
neuralgie und  heftiger  Schmerz  im  Schultergelenk;  Dyspnoe  und  subjectives  Klopfen  der 
Arterien,  welche  in  ihrer  gesammten  Ausdehnung  von  der  Axillaris  an  bis  zur  Hand  stark 
hüpften.  Diiferenz  der  Pupillen.  Bei  der  Autopsie  lediglich  Aortenin  s  uf  fielen  z,  ohne 
Aneurysma  des  Truncus  anonymus.    Keine  Arteriosclerose. 

Die  richtige  Würdigung  der  symptomatischen  Verhältnisse  ist  keines- 
wegs immer  so  einfach,  als  es  scheinen  dürfte,  namentlich  wenn  eine  so 
ausgesprochene  Differenz  der  Radialarterien  vorhanden  ist.  Eine  andere 
Krankheit,  welche  den  Verdacht  eines  Aneurysma  vortäuschen  könnte,  ist 
nach  Stokes  die  gkhtkche  Aortitis.  „Hiervon  habe  ich  vor  Jahren  ein  in- 
teressantes Beispiel  gesehen",  sagt  Stokes,  „es  waren  so  viele  physikalische 
Zeichen  von  Aneurysma  uiid  auch  so  viele  autfallende  Symptome  vorhanden, 
dass  ich  fast  mit  Sicherheit  das  Vorhandensein  eines,  grossen  Aneurysma 
der  Aorta  annahm.  Der  Kranke  genas  und  lebte  noch  mehrere  Jahre  ohne 
irgend  ein  Symptom  von  Aneurysma.  Wahrscheinlich  handelte  es  sich  bei  seinem 
Leiden  um  eine  gichtische  Aortitis.  Ausser  heftigem  Klopfen  in  der  oberen 
Brustbeingegend  hatte  dieser  Kranke  jedesmal,  wenn  er  horizontal  lag,  die 
grösste  Athemnoth,  so  dass  er  mehrere  Wochen  hindurch  aufrecht  sitzen 
musste.  Die  Symptome  waren  von  der  Art,  dass  ich  damals  nicht  den 
mindesten  Zweifel  hatte,  dass  der  Kranke  an  einem  Aneurysma  der  Aorta 
leide."  Auch  Krebsgeschwülste  sollen  nach  Stokes  ähnliche  Symptome  her- 
vorrufen können. 

Unter  den  localen  charakteristischen  Zeichen  eines  Aneu- 
rysma ist  das  werthvollste' Symptom  das  A  u  f  t  r  e  t  e  u  einer  pulsirenden 
Geschwulst  an  der  vorderen  Brustwand,  vorzugsweise  rechts,  unter  den 
Schlüsselbeinen,  am  oberen  Theil  des  Sternum,  am  Sternalrand,  oder 
endlich  beim  Ausgang  des  Aneurysma  von  der  Aorta  thoracica  descendens 
zwischen  Wirbelsäule  und  linkem  Scapularrand.  In  einem  Fall  von  enorm 
grossem  Aneurysma  der  Aorta  ascendens,  welches,  wie  die  Section  lehrte, 
ganz  unmittelbar  oberhalb  der  Semilunirklappen  begann,  bis  zum  Arcus 
reichte  und  in  die  linke  Lunge  durchgebrochen  war,  sah  ich  einen  flaschen- 
kürbisartig gestalteten  Tumor  links  vom  Sternum,  welcher  weit  in  die  Fossa 
infraclavicularis  hinaufreichte. 

Es  fand  sich,  dass  das  Aneurysma    aus    zwei  mit  einander  communi- 


ARTERIENECTASIE.  Hl 

cirendeii  Höhlen  bestand,  von  denen  die  kleinere  so  in  die  linke  Lunge 
hineingewachsen  war,  dass  der  aneurysmatische  Sack  überhaupt  nicht  aus- 
geschält werden  konnte.  —  Bekanntlich  ist  für  die  Erkennung  kleinerer 
pulsirender  Prominenzen  die  seitliche  oder  schiefe  Beleuchtung  von  beson- 
derem Nutzen.  Sehr  schön  kann  man  die  rythmischen  Pulsationen  solcher 
Tumoren  demonstriren,  wenn  man  einen  ganz  schmalen,  fingerlangen 
Streifen  eines  Cartons  darauf  klebt,  welcher  alsdann  die  ihm  mitgetheilten 
Bewegungen  anzeigt,  wie  der  Hebel  eines  Kardiographen  oder  eines  an- 
deren registrirenden  Apparates.  Namentlich  ist  das  Vorhandensein  eines 
pulsirenden  Tumors  dann  von  grosser  Bedeutung,  wenn  man  räumlich  ge- 
trennt noch  ein  zweites  pulsirendes  Centrum  findet,  welches  dem  Spitzen- 
stoss  entspricht.  Die  fest  auf  einen  solchen  Tumor  aufgelegten  Fingerspitzen 
w^erden  nicht  nur  rythmisch  gehoben,  sondern  auch  seitlich  auseinander 
gedrängt,  ein  Beweis,  dass  der  Tumor  sich  bei  der  herzsystolischen  Füllung 
allseitig  vergrössert,  während  ein  Tumor,  welcher  seine  Pulsationen  von 
der  Aorta  mitgetheilt  erhält,  nur  die  rythmischen  Bewegungen  nach  einer 
Richtung  hin  erkennen  lässt,  d.  h.  entsprechend  der  Systole  und  Diastole 
sich  hebt  und  senkt,  lieber  dem  Tumor  ist  der  Percussionsschall  gedämpft, 
um  so  intensiver,  je  vollständiger  die  Lunge  sich  retrahirt  hat,  auch  findet 
man  zuweilen  über  latenten  Aneurysmen  eine  leichte  umschriebene  Däm- 
pfung, welche  namentlich  gegen  Ende  der  Exspiration  deutlicher  hervortritt; 
jedoch  kann  auch  jede  Dämpfung  fehlen,  ohne  dass  dies  gegen  das  Vorhan- 
densein eines  Aneurysma  in  der  Brusthöhle  spräche.  BeiVerdacht  auf  Aneurysma 
der  Arteria  anonyma  kann  die  Percussion  des  inneren  Abschnittes  der  Clavicula 
von  Bedeutung  sein.  Die  Dämpfung  sowohl  als  auch  circumscripte  Pul- 
sationen können  von  ihrer  ursprünglichen  Stelle  verschwinden,  ohne  dass 
das  Aneurysma  verödet  oder  geheilt  ist,  lediglich  deshalb,  weil  die  Ge- 
schwulst eine  andere  Lage  einnimmt.  Zuweilen  fühlt  man  über  dem  sicht- 
baren Tumor  ein  sehr  mächtiges  herzsystolisches  Fremissement,  selten  ein 
diastolisches.  Besteht  gleichzeitig  eine  lusufficienz  der  Aortenklappen,  so 
ist  constant  ein  Schwirren  in  den  Arteriae  subclaviae  und  beiden  Carotiden  zu 
fühlen;  dasselbe  kann  auch  häufig  noch  dann  gefühlt  werden,  wenn  man 
den  Finger  tief  in  das  Ingulum  einführt,  wo  man  den  convexen  Rand  des 
Arcus  aortae  unter  den  genannten  Verhältnissen  palpiren  kann.  —  Auscul- 
tatorisch  kann  man  über  dem  aueurysmatischen  Sacke  • —  entsprechend  den 
fühlbaren  Pulsationen  —  einen  einfachen  oder  doppelten  Ton,  ein  herz- 
systoMsches  Geräusch  oder  systolisches  und  diastolisches  Geräusch  wahr- 
nehmen. Das  Vorkommen  der  im  Tumor  selbst  entstehenden  Geräusche 
betrachtet  Stokes  als  Ausnahme :  „Die  Gegenwart  eines  Geräusches  scheint 
ein  zufälliges  Phänomen  zu  sein,  offenbar  durch  mechanische  Verhältnisse 
des  Sackes,  des  Herzens  oder  der  Gefässe  bedingt,  welche  nichts  weniger 
als  constant  sind".  Ich  stimme  nach  meinen  Beobachtungen  mit  dem  ge- 
nannten Autor  nicht  nur  bezüglich  der  Seltenheit  dieses  Geräusches 
überein,  als  ganz  besonders  bezüglich  seiner  Inconstanz.  Ein  lautes,  systo- 
lisches Geräusch,  welches  unzweifelhaft  im  aueurysmatischen  Sack  selbst 
seinen  Ursprung  nahm,  habe  ich  nur  über  grossen  sichtbaren  Tumoren 
gehört,  bei  denen  gleichzeitig  ein  fühlbares  Fremissement  vorhanden  war. 
In  diesen  Fällen  war  das  Geräusch  constant  und  in  gleicher  Stärke  zu 
hören,  so  oft  ich  untersuchte.  Da  man  aber  die  Geräusche  über  den  Aneu- 
rysmen auf  die  Wirbelbewegungen,  welche  im  Blut  in  Folge  der  plötzlichen 
Erweiterung  der  Strombahu  entstehen,  zurückführt,  so  ist  es  andererseits 
nicht  auffällig,  dass  auch  gelegentlich  Geräusche  ihre  Intensität  verändern 
oder  zeitweilig  gänzlich  verschwinden,  wenn  die  mechanischen  Verhältnisse 
der  Circulation  eine  Veränderung  erleiden.    Hierher  gehört  beispielsweise 


112  ARTERIENECTASIE. 

die  Abnahme  der  Strömungsgeschwindigkeit  in  Folge  verminderter  Herz- 
thätigkeit.  oder  eine  veränderte  Contiguration  der  meist  geschichteten 
Thromben  im  aneurysmatischen  Sacke.  Ungleich  häufiger  habe  ich  in  meinen 
Fällen  einen  einfachen  herzsystohschen  ton  über  dem  Aneurysma  hören 
können,  während  der  zweite  Ton.  falls  er  hörbar  war,  von  den  Klappen 
der  Aorta  fortgeleitet  und  von  deren  Schluss  abhängig  war.  Feaxcois 
Feaistck  hat  vermittelst  der  von  ihm  modificirten  MAREY'schen  Methode, 
welche  in  gleichzeitiger  Application  eines  Messapparates  für  die  Herzpul- 
sationen auf  das  Aneurysma  und  eines  Sphygmographen  auf  eine  Arterie 
besteht,  wobei  die  Pulscurven  des  Aneurysma  und  der  Arterie  in  bekannter 
Weise  auf  eine  gleichmässig  und  rasch  bewegte  Trommel  übertragen  werden, 
nachgewiesen,  dass  die  aneurysmatische  Pulscurve  drei  Erhebungen  zeigt. 
von  denen  die  zwei  ersten  mit  der  Ventrikelsystole  coincidiren:  das  Blut 
gelangt  aus  dem  Ventrikel  in  zwei  Schüben  in  den  Sack,  dessen  doppelte 
Expansion  der  Finger  wegen  zu  schneller  Aufeinanderfolge  nicht  unter- 
scheiden kann.  Die  dritte  Erhebung  coincidirt  mit  dem  Schluss  der  Aorten- 
klappen und  ist  demnach  ein  gutes  Zeichen  für  deren  normale  Schluss- 
fähigkeit. Xur  in  denjenigen  seltenen  Fällen,  in  denen  über  dem  Aneurysma 
auch  ein  herzdiastolisches  Geräusch  hörbar  ist,  während  der  diastolische 
Aortenton  fortbesteht,  findet  die  Entstehung  desselben  im  Aneurysma  selbst 
statt  und  wird  dann  auf  die  Regurgitation  des  Blutes  aus  der  Aorta  in  das 
Aneurysma  während  der  Diastole  bezogen.  Da  aber  die  Kraft,  mit  welcher 
das  Blut  während  der  Kammerdiastole  in  den  aneurysmatischen  Sack  regur- 
gitirt,  sehr  gering  ist.  so  liegt  auf  der  Hand,  dass  dieses  diastolische  Ge- 
räusch als  ein  im  Aneurysma  selbst  entstehendes,  sehr  selten  gehört  wird. 
Viel  häufiger  hört  man  einen  systolischen  Ton  und  ein  diastolisches  Ge- 
räusch, welches  von  den  Aortaklappen  fortgeleitet  ist  und  auf  der  Schluss- 
unfähigkeit dieser  Klappen  beruht.  Diese  letztere  findet  unter  folgenden 
Verhältnissen  statt: 

1 .  Als  relative  Insufficienz  bei  starker  Dilatation  der  aufsteigenden 
Aorta,  welche  bis  an  den  Klappenring  unmittelbar  heranreicht.  Von  einem 
ge'^dssen  Stadium  der  Erweiterung  an  sind  die  Klappen  nicht  mehr  im 
Stande,  den  Ventrikel  abzuschliessen.  so  dass  bei  der  diastolischen  Ent- 
faltung desselben  Blut  in  den  Ventrikel  zurückfluthet.  Jedoch  kann  diese 
Insufficienz  auch  fehlen  trotz  hochgradiger  Dilatation  der  Aorta,  da  die 
Klappen  sich  compensatorisch  dehnen  und  erweitern. 

2.  Als  Folge  einer  sderotischen  Endocarditis,  meist  bei  älteren  Indivi- 
duen, vorzugsweise  männlichen  Geschlechts.  Es  besteht  eine  starke  Arterio- 
sclerose  der  Aorta  mit  Endarteriitis,  welche  auf  die  Klappen  übergreift 
und  hier  durch  sclerotische  Processe  zur  Schrumpfung  führt.  Dass  dies  bei 
Aortenaneurysmen  namentlich  im  aufsteigenden  Theil  eine  häufige  Ursache 
der  Klappenerkrankuug  bildet,  lehrte  mich  sowohl  die  Häufigkeit  des 
gleichzeitigen  Vorkommens  beider  Processe  (x4.neurysma-  Insuffienz  der  Aorten- 
klappen!, als  auch  die  Vergleichung  verschiedener  anatomischer  Präparate 
von  Aortenaneurysmen  mit  ausgedehnter  Arteriosclerose.  Während  in  der 
einen  Gruppe  von  Fällen,  übrigens  der  selteneren,  in  welchen  die  Klappen 
schlussfähig  geblieben  waren,  die  Aorta  fast  durchweg  hochgradig  arterio- 
sclerotisch  degenerirt  und  die  Intima  in  eine  narbige,  mit  Geschwüren  und 
Kalkplatten  bedeckte  Haut  verwandelt  war.  schnitt  diese  Erkrankung  ziemlich 
scharf  in  der  Xähe  der  Klappen  ab  und  hörte  vollständig  auf,  so  dass  die 
Aortenintim a  zwei  Finger  breit  von  den  Klappen  entfernt  oder  w^eniger 
total  gesund  und  spiegelnd  erschien.  In  einer  andern  Gruppe  von  Fällen 
reichte  der  geschwürige  Zerfall  der  Intima  nicht  nur  bis  an  die  Klappen 
heran,  sondern  hatte  auf  dieselben  übergegrifien,  wodurch  die  Klappen  ver- 


ARTERIENECTASIE.  113 

dickt,  retraliirt  und  viel  unbeweglicher,  als  normal  erschienen.  Bei  der 
Wasserprobe  floss  der  grössere  Theil  der  Flüssigkeit  durch  die  insufficienten 
Klappen  zurück.  — 

Es  ist  klar,  dass  die  sub  1.  und  2.  erwähnten  Formen  der  Aorten- 
insutficienz  erst  während  des  Bestehens  der  Aneurysmen  zur  Entwicklung 
gelangen,  so  dass  die  diastolischen  Geräusche  erst  während  der  Beobachtung 
des  Falles  auftreten. 

3.  Als  Folge  einer  chronisch  verlaufenden  Etidocarditis  vahtdaris, 
welche  als  solche  mit  dem  Aneurysma  in  keinem  ursächlichen  Verhältnis 
steht,  sondern  bereits  bestand,  ehe  das  Aneurysma  sich  entwickelte.  In 
diesem  letzteren  Fall  sind  die  Erscheinungen  von  Seiten  des  Klappenfejilers 
am  ausgeprägtesten,  namentlich  auch  die  compensatorische  Hypertrophie 
des  linken  Ventrikels. 

Ausser  Aorteninsufficienzen  habe  ich  in  meinen  Fällen  von  Aortenaneu- 
rysmen noch  Complic  ationen  mit  anderen  Klappenfehlern  beob- 
achtet, und  zwar  je  einmal  eine  Mitraliusufficienz  und  eine  Aortenstenose.  Die 
erstere.fand  sich  bei  intacten  Aortenklappen  und  bildete  den  Abschluss 
einer  chronisch-rheumatischen  Endocarditis ;  bei  der  letzteren  hatte  der 
endarteritische  Process,  der  zur  Bildung  des  Aneurysma  geführt  hatte,  auf 
die  Aortenklappen  übergegritfen  und  zu  der  genannten  Erkrankung  geführt. 
Hierbei  bestand  ein  ungemein  intensives  und  weit  verbreitetes  systolisches 
Schwirren  am  rechten  Sternalrand  und  im  Bereich  des  sichtbaren  pulsirenden 
Tumors.  Rindfleisch  und  Obernier  beobachteten  in  einem  Falle  vonAneurysma 
der  aufsteigenden  Aorta  intra  vitam  Tricuspidalinsufficienz  mit  starkem 
Venenpuls.  Bei  der  Autopsie  fand  sich,  dass  das  Aneurysma  einen  Druck 
auf  die  Pulmonalarterie  ausgeübt  hatte,  wodurch  dieselbe  erheblich  com- 
primirt  worden  war.  In  Folge  davon  war  der  rechte  Ventrikel  dilatirt,  so 
dass  die  Tricuspidalklappe  das  Ostium  nicht  mehr  vollständig  abschloss 
und  relativ  insufficient  geworden  war. 

Das  Verhalten  des  Herzmuskels  ist  sehr  verschieden.  Sind  ein- 
zelne Herzklappen  functionsunfähig,  so  treten  diejenigen  Veränderungen 
am  Herzmuskel  ein,  welche  nach  den  Gesetzen  der  Compensation  zu  er- 
warten sind,  am  häufigsten  excentrische  Hypertrophie  des  linken  Ventrikels. 
Auch  wird  die  letztere  vorhanden  sein,  wenn*  ausgedehnte  Arteriosclerose 
lange  Zeit  der  Bildung  eines  Aneurysma  vorausging.  Hat  man  uncomplicirte 
Verhältnisse  und  ein  reines  Aneurysma  vor  sich,  so  können  Veränderungen 
am  Herzmuskel  ganz  fehlen,  ja  der  linke  Ventrikel  kann  atrophisch  und 
dilatirt  sein.  Schon  Stokes  weist  darauf  hin,  dass  die  Hypertrophie  des 
Herzens  bei  den  Aortenaneurysmen  nur  eine  zufällige  Complication  dar- 
stellt. In  manchen  Fällen  geht  sie  dem  Aneurysma  voraus  oder  ist  in 
anderen  die  Folge  der  Insufficienz  der  Aortenklappen.  „Wenn  jedoch  das 
Herz  oder  seine  Klappen  nicht  schon  vorher  afficirt  waren,  so  ist  kein 
Grund  vorhanden,  anzunehmen,  dass  ein  Aneurysma  an  irgend  einer  Stelle 
der  Aorta  die  Herzthätigkeit  vermehrt,  und  so  finden  wir  denn  auch  in.  der 
Regel  bei  grossen  Aneurysmen  das  Herz  normal." 

Zu  dem  gleichen  Schlussresultat  gelangte  auch  Axel  key.  der  die  häufig  fehlende 
Hypertrophie  des  linken  Ventrikels  theils  auf  Anämie  und  mangelhafte  Blutbildung,  theils 
auf  Druck  d^s  Aneurysma  auf  den  Stamm  der  benachbarten  Art.  pulmonalis  zurückführt, 
wodurch  weniger  Blut  ins  linke  Herz  gelangt  Abgesehen  davon,  dass  das  anatomische 
Substrat,  der  Druck  auf  die  Luugenarterie.  jedenfalls  zu  den  grossen  Seltenheiten  gehört, 
die  ich  selbst  niemals  gesehen  habe,  würde  sich  der  Richtigkeit  seiner  Schlussfolgerung 
noch  die  Thatsache  entgegenstellen,  dass  bei  starker  Behinderung  des  pulmonalen  Kreis- 
laufes der  Druck  im  Aortensystem  nicht  abzusinken  braucht,  wie  Lichtiieui  experimentell 
gezeigt  hat.  Würde  die  Anschauung  von  Axel  key  zu  Recht  bestehen,  so  müsste  der 
grösste  Theil  des  Blutes  sich  in  den  Hohlvenen  anhäufen  und  zu  schweren  Stauungserschei- 
nungen im  Körpervenensystem  führen,  was  keineswegs  den  klinischen  Erfahrungen  entspricht ; 
Bibl.  med,  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  ^ 


114  -  ARTERIENECTASIE. 

vielmehr  findet  man  die  cyanotischen  Indurationen  der  grossen  Unterleibsdrüsen  erst  in 
den  letzten  Stadien  sub  finem  vitae.  Auch  Suckling  behauptet  auf  Grund  seiner  Beob- 
achtungen von  20  Aortenaneurysmen,  dass  Hypertrophie  des  linken  Ventrikels  nur  bei 
gleichzeitiger  Insuflficienz  der  Aortenklappen  vorkäme.  Auf  Grund  seiner  Untersuchungen 
von  12  Aneurysmen  im  Leipziger  Jacobspital  kam  Schmidt  ebenfalls  zu  dem  Resultat, 
dass  Aneurysmen  der  Aorta,  selbst  wenn  sie  umfangreich  und  dem  Herzen  nahe  gelegen 
und  mit  ausgebreitetem  Atherom  der  Arterien  combinirt  sind,  an  sich  keine  Hypertrophie 
bewirken.  Nicht  selten  sei  das  Herz  atrophisch.  Gegen  diese  Ansicht  spricht  sich  nur 
Gatrdnee  in  Glasgow  aus. 

Sehen  wir  von  den  complicirenden  Klappenerkrankungen  ab,  von  denen 
ja  ganz  vorzugsweise  die  Insufficienz  der  Aortenklappen  in  Betracht  kommt, 
sowie  von  etwaiger  vorhandener  Nierenschrumpfung,  so  findet  man  in  der 
That' bei  reinen  uncomplicirten  Fällen  trotz  der  scheinbar  ver- 
mehrten Widerstände  niemalsHypertrophiedeslinken  Ventrikels, 
selbst  wenn  eine  massige  Arteriosclerose,  die  ja  fast  niemals  ganz  fehlt, 
vorhanden  ist.  Ja  häufig  genug  findet  man  sogar  Atrophie  und  Dilatation. 
Dass  eine  relative  Insufficienz  der  Aortaklappeu  ebenso  gut  wie  eine  orga- 
nische zu  einer  Hypertrophie  fiihrt,  beobachten  wir  häufig  genug  uiid  mag 
in  dieser  Thatsache  der  Grund  für  die  entgegenstehende  falsche  Beob- 
achtung zu  suchen  sein.  In  Folge  dessen  finden  wir  in  reinen  Fällen  von 
Aneurysma  der  Brustaorta  den  Spitzenstoss  an  normaler  Stelle,  häufig  sogar 
von  geringer  Intensität  und  nur  undeutlich  wahrnehmbar.  Bei  gleichzeitig 
bestehender  Insutticienz  der  Aortenklappen  ist  er  dagegen  excentrisch  und 
auffallend  hebend,  in  weitem  Umkreis  sieht-  und  fühlbar  und  die  Brust- 
wand erschütternd.  Es  muss  jedoch  bemerkt  werden,  dass  auch  ein  excen- 
tris eher  Spitzenstoss  ohne  jede  Hypertrophie  des  linken  Ventrikels  vorkommen 
kann,  und  zwar  bei  Verschiebungen  des  Herzens  nach  links  in  Folge  von 
Aneurysmen  der  Aorta  ascendens  und  des  Bogens.  Andererseits  findet  man 
Verschiebungen  des  Herzens  nach  aufwärts  und  innen  bei  grossen  dem 
Zwerchfell  nahe  liegenden  Aneurysmen  der  Aorta  descendens. 

Erkrankungen  am  Herzbeutel  kommen  in  Folge  von  Aneurysmen 
nicht  selten  als  umschriebene  Pericarditiden  ■  vor,  sind  aber  meist  vorüber- 
gehend und  von.  wechselnder  Dauer. 

Die  Herzbewegungen  sind  häufig  sehr  unregelmässig  und  erregt, 
so  dass  die  Carotiden  heftig  klopfen  und  sehr  stark  sichtbar  pulsiren.  Von 
grosser  Bedeutung  ist  die  Beobachtung  des  Pulses;  theils  findet  man  Re- 
tardation  desselben  gegenüber  dem  Spitzenstoss  und  theils  Ptetardation  und 
ungleiche  Beschaffenheit  desselben  an  symmetrischen  Arterien  des  Körpers. 
Sitzt  das  Aneurysma  am  aufsteigenden  Theil  der  Aorta,  so  werden  sämmt- 
liche  Pulse  der  Peripherie  gegenüber  dem  Spitzenstoss  verspätet  erscheinen; 
sitzt  es  an  der  Aorta  descendens  oder  abdominalis,  so  werden  die  Hais- 
und Armpulse  synchron  mit  dem  Spitzenstoss,  die  Cruralpulse  verspätet  auf- 
treten. Die  Verspätungszunahme  ist  der  Ausdehnbarkeit  der  Wand  des 
Sackes  proportional.  Bei  Aneurysmen  am  Bogen  kommen  häufig  Differenzen 
in  der  Füllung  und  in  dem  zeitlichen  Auftreten  zwischen  gleichen  Arterien 
beider  Körperhälften  vor,  am  häufigsten  im  Bereich  der  Art.  subclaviae. 
Oft  werden  dieselben  dadurch  verursacht,  dass  ein  in  das  Aneurysma  ein- 
mündendes Gefäss  an  seinem  Ursprung  gedehnt  oder  spaltförmig  verengt 
wird.  Aber  selbst  bei  völliger  Intactheit  aller  dem  Aortenbogen  zugehörigen 
Gefässmündungen  sind  durch  das  Aneurysma  selbst  Bedingungen  gegeben, 
dass  die  in  Ptede  stehenden  zeitlichen  oder  graduellen  Pulsditterenzen  zur 
Beobachtung  gelangen.  Ob.  Verengerungen  der  Gefässmündungen  oder  allein 
der  Sitz  des  Aneurysma  die  Pulsänderung  bedingen,  wird  man  eventuell  aus  der 
Grösse  des  Pulses  erkennen;  bei  Verengungen  und  Verzerrungen  wird  der 
Puls  wesentlich  kleiner  sein.    Geringere  Unterschiede  kann  man  nur  sphyg- 


ARTERIENECTASIE.  115 

mographisch  wahrnelimen,  wobei  dann  auf  der  einen  Seite  die  Ciirve  weniger 
hoch  und  die  zweite  secundäre  Welle  weniger  ausgeprägt  erscheint.  Die 
Verminderung  der  Expansion  der  peripheren  Arterien  ist  für  Aneurysmen 
nicht   pathognostisch,    da  sie  auch   bei  andren  Affectionen  vorkommt. 

Die  Respiration  hat  auf  den  Blutstrom  der  Brustaneurysmen  und  auf  den 
Arterienpuls  einen  Einfiuss.  Man  beobachtet  bisweilen  Pulsus  paradoxus, 
weil  das  Aneurysma  dem  Einfluss  des  intrathoracischen  Druckes  eine  sehr 
grosse  Oberfläche  darbietet.  Je  grösser  der  Tumor,  je  nachgiebiger  seine 
Wandungen,  um  so  bedeutender  sind  diese  respiratorischen  Pulsschwankungen. 
Da  diese  aber  auch  bekanntlich  bei  anderen  Affectionen  vorkommen,  so 
haben  sie  nur  diagnostischen  Werth  in  Verbindung  mit  anderen  aneurys- 
matischen  Symptomen ;  von  grosser  Bedeutung  sind  sie  bei  Localisation  auf 
einzelne  Arterien,  da  diese  schon  auf  eine  intrathoracische  Ursache  der 
Erkrankung  hinweisen. 

Die  Pulsverlangsamung  wurde  sehr  bedeutend  verstärkt  in  einem 
meiner  Fälle  durch  Complication  mit  Aortenstenose  und  in  einem  anderen 
mit  Mitralinsufficienz  ;  nicht  jedoch  durch  gleichzeitige  Insufhcienz  der  Aorten- 
klappen. 

Bei  Aneurysmen  der  Arteria  innominata  ist  es  wichtig,  zu  bestimmen,  ob 
Carotis  und  Subclavia  von  dem  aneurysmatischen  Sack  getrennt  abgehen 
oder  mit  in  das  Aneurysma  einbegriffen  sind.  In  solchen  Fällen  kann  der 
rechte  Piadialpuls  fehlen  oder  sehr  klein  sein,  während  der  rechte  Carotis- 
puls  normal  ist.  Dies  ist  wichtig  für  die  BEASDOR-WARDROp'sche  Operation. 
In  einem  Fall  meiner  Beobachtung  von  rasch  wachsendem  pulsirendem 
Tumor  der  Arteria  anonyma  traten  neuralgische  Schmerzen  im  Kopf  und  der 
rechten  Schulter  auf,  alsdann  bemerkte  Patient  eine  die  Ptespiration  und 
Deglutition  beschwerende  Schwellung  nahe  dem  rechten  Sternoclavicular- 
gelenk,  die  schnell  wuchs  und  auf  Druck  schmerzte.  Das  innere  Ende  der 
Clavicula  war  von  dem  Tumor  nach  vorn  gedrängt.  Letzterer  reichte  von 
dem  Sternalgelenk  bis  zum  inneren  Drittel  der  Clavicula,  diese  nach  oben 
und  unten  überragend ;  systolisches  Geräusch  hörbar,  lautes  Schwirren  fühl- 
bar. Neuralgische  Schmerzen  und  Taubheit  im  rechten  Arm.  Die  Grenzen 
solcher  Aneurysmen  sind  nur  durch  die  peripheren  Pulse  zu  erkennen.  In 
einem  von  Fischer-Dietscht  beschriebenen  Fall  von  Aneurysma  der  Aorta 
ascendens  und  des  Bogens  aus  der  Klinik  von  Liebermeister  schienen  die 
Radial-  und  Carotidenpulse  beiderseits  gleich,  bis  durch  die  sphygmographische 
Curve  nachgewiesen  wurde,  dass  die  Curve  der  rechten  Radialis  viel  weniger 
hoch  und  die  secundären  Wellen  viel  weniger  ausgeprägt  waren,  als  links. 
Die  rechte  Carotis  ergab  dagegen  normalen  Puls.  Daraus  konnte  man 
schliessen,  dass  die  Subclavia  doch  noch  in  den  Krankheitsprocess  mit  ein- 
begriffen war,  während  die  rechte  Carotis  intact  war,  aber  nur  mit  Hi  If  e 
des  Sphygmographen. 

Jedenfalls  steht  soviel  fest,  dass  bei  Aneurysma  der  Art.  anonyma 
Erscheinungen  von  Seiten  des  Pulses  in  der  rechten  Carotis  und  Subclavia 
von  wichtigster  diagnostischer  Bedeutung  sind,  wenn  der  Puls  verspätet 
erscheint  oder  kleiner  ist,  als  auf  der  anderen  Seite.  Dass  dies  häufig  oder 
vielmehr  regelmässig  der  Fall  ist,  ist  die  unbestrittene  Annahme,  die  sich 
in  allen  Büchern  findet.  Die  Ursachen  sind  Verzerrungen  und  Verengungen, 
Thrombusbildungen  und  eventueller  Druck  eines  Aneurysma  des  Bogens  oder 
der  Aorta  ascendens  auf  den  truncus  oder  die  abgehenden  Arterien  selbst. 
Dies  ist  jedoch  bei  Weitem  nicht  für  alle  Fälle  zutreffend' 
und  auffallender  Weise  habe  ich  bei  aneurysmatischen  Er- 
weiterungen desTruncus  resp.  der  links  vom  Bogen  abgehen- 
den Arterien   viel   häufiger   das    umgekehrte  Verhältnis   an- 

8* 


116  ARTERIENECTASIE. 

getroffen.  Ich  habe  derartige  Fälle  namentlich  von  Aneurysmen  des 
Truncus  anonymus,  bei  denen  der  Puls  in  der  linken  Subclavia  verspätet' 
und  ungleich  kleiner  war,  als  rechts,  wiederholt  secirt  und  dabei  fast  jedes- 
mal eine  Verzerrung  der  linksseitig  vom  Bogen  abgehenden  Arterien,  nament- 
lich der  Subclavia  gefunden.  Man  muss  dabei  in  Betracht  ziehen,  wie 
ausserordentlich  nahe  vom  Truncus  die  linksseitigen  Gefässe  entspringen, 
so  dass  eine  geringe  Ausbuchtung  und  Dilatation  schon  genügt,  um  den 
Querschnitt  der  Subclavia -Mündung  zu  verziehen  und  zu  verzerren.  In 
andern  Fällen  sind  endarteritische  Erkrankungen  an  der  Gefässmündung, 
wo  jene  bekanntlich  hauptsächlich  ihren  Sitz  haben  oder  Compression  der 
Arterie  der  entgegengesetzten  Seite  durch  das  Aneurysma  selbst  die  Ur- 
sache dieser  bisher  nicht  beschriebenen  Erscheinung.  Ob  auch  Druck  des 
Aneurysma  auf  die  benachbarten  sympathischen  Ganglien  und  dadurch  be- 
dingte vasomotorische  Paralyse  der  betreffenden  Gefässe  diese  Erscheinung 
bedingen  kann,  lasse  ich  dahingestellt.  In  einem  Fall  von  Blackmann  habe 
ich  dieses  Vorkommen  erwähnt  gefunden;  hier  lag  ein  grosser  pulsirender 
Tumor  hinter  dem  rechten  Sternoclaviculaxgelenk.  Der  rechte  Radialpuls 
war  voll  und  stark,  der  linke  klein,  schwach,  kaum  fühlbar.  Bei  der 
Autopsie  fand  sich  ein  Aneurysma  des  Tr.  anonymus.  Die  Subclavia  sin.  war 
atheromatös  entartet  und  wurde  von  dem  Tumor  comprimirt.  Ich  selbst 
habe  dieses  Verhalten  des  Pulses,  wobei  derselbe  auf  der  dem  Sitz  des 
Aneurysma  entgegengesetzten  Seite  kleiner  ist  und  später  auftritt,  viel 
häufiger  beobachtet,  als  das  umgekehrte,  welches  allgemein  als  die  Regel  gilt. 

Eine  weitere  bemerkenswerthe  Thatsache,  welche  ich  auch  nirgends 
erwähnt  gefunden  habe,  betriift  das  Verhalten  der  Radialpulse  bei  Aneu- 
rysmen der  aufsteigenden  Aorta  und  des  Bogens.  Wenn  bei  herunterhän- 
genden Armen  beide  ßadialpulse  absolut  gleich  erscheinen,  kann  man  zu- 
weilen sehr  bedeutende  zeitliche  und  graduelle  Unterschiede  wahrnehmen, 
M^enn  man  den  Patienten  anweist,  die  Arme  vertical  in  die  Höhe  zu  halten. 
In  Folge  der  vermehrten  Widerstände  summiren  sich  jetzt  die  Differenzen 
bis  zu  wahrnehmbarer  Höhe.  Ich  konnte  in  diesen  Fällen  auch  sphygmo- 
graphisch  deutlich  erkennbare  Diiferenzen  der  beiden  Pulse  nachweisen. 

Nicht  minder  wichtig  für  die  Diagnose  eines  Aneurysma  kann  die 
Beobachtung  des  sogenannten  rückläufigen  Pulses  bei  scheinbar  gleich- 
massigen  Radialpulsen  sein.  —  Der  rückläufige  Puls  und  seine  Bedeutung 
für  die  Aneurysmen  besteht  in  folgendem:  Comprimirt  man  eine  Stelle 
der  Radialis,  nachdem  man  sich  von  der  Beschaffenheit  des  Pulses  genau 
überzeugt  hat,  oberhalb  des  Handgelenks  bis  zum  gänzlichen  Verschwinden 
des  Pulses,  so  erscheint  derselbe  unter  normalen  Verhältnissen  peripher 
fast  augenblicklich  in  gleicher  Stärke  wieder,  indem  die  Blutwelle  aus  der 
Art.  ulnaris  durch  den  Arcus  palmaris  rückwärts  in  die  Art.  radialis  eintritt 
und  unterhalb  der  comprimirten  Stelle  in  unveränderter  Weise  fühlbar  ist. 
Von  dieser  Thatsache  kann  man  sich  bei  gesunden  Individuen  mit  kräftiger 
Herzaction  an  beiden  Armen  überzeugen.  Besteht  nun  ein  Hinderniss  in 
einer  Art.  subclavia,  welches  die  Circulation  beeinträchtigt,  so  wird  dieser 
rückläufige  Arterienpuls  entweder  verspätet,  oder  mit  viel  geringerer 
Intensität,  in  hochgradigen  Fällen  überhaupt  gar  nicht  zur  Erscheinung 
gelangen.  Hieraus  wird  man  in  Fällen,  welche  für  ein  Aneurysma  verdächtig 
sind,  den  Schluss  ziehen,  dass  auf  derjenigen  Seite,  auf  welcher  der  rück- 
läufige Puls  verspätet,  oder  mit  geringerer  Intensität  oder  überhaupt  nicht 
erscheint,  ein  Hinderniss  im  Bereich  der  Art.  subclavia  vorhanden  ist. 

An  den  Halsvenen  sieht  man  nicht  selten  starke  Füllung  und 
undulatorische  Bewegungen.  Wird  die  Ven.  cava  sup.  durch  ein  Aneurysma 
comprimirt,  was  ich  zweimal  beobachtet  habe,  so  kommt  es  zu  Schlängelungen 


ARTERIENECTASIE  117 

und  Erweiterungeii  der  subcutanen  Hautvenen  in  der  Hals-  und  oberen 
Brustgegend.  Bei  Compression  einer  Ven.  anonyma  sind  diese  Erscheinungen 
einseitig.  Hydropische  Anschwellungen  des  Gesichts  und  der  oberen  Extre- 
mitäten habe   ich  ebenfalls  bei  Druck   auf   die  Ven.  cava  sup.  beobachtet. 

Bei  der  ophthalmoskopischen  Untersuchung  sieht  man  nicht  selten 
spontanen  Arterienpuls,  zuweilen  deutlicher  auf  einem  Auge.  Capillarpuls 
mit  rhythmischem  Erröthen  und  Erblassen  der  papilla  nervi  opt.  nur  bei 
sehr  grossen  Aneurysmen  und  constant  bei  gleichzeitigem  Vorhandensein 
einer  Aorteninsufficienz.  In  letzteren  Fällen  fehlt  der  Capillarpuls  auch 
nicht  an  den  Nägeln,  an  der  Schleimhaut  des  Rachens  und  auf  der  Stirn- 
haut, namentlich  wenn  man  durch  Reizung  der  Gefässe  eine  künstliche 
Hyperämie  der  Haut  erzeugt. 

Sehr  mannigfach  sind  die  Störungen  am  Re  spirations  System. 
Dyspnoe  ist  fast  immer  vorhanden,  meist  bedingt  durch  eine  Compression 
der  Lungen  durch  das  Aneurysma.  Je  grösser  dasselbe,  je  schneller  das 
Wachsthum,  je  unnachgiebiger  der  Thorax,  um  so  gefahrdrohender  die 
Dispnoe.  Den  Hauptbronchus  fanden  wir  säbelscheidenartig  veiengt  durch 
ein  Aneurysma  der  Art.  ascendens  bei  einem  40jährigen  Mann,  welcher  während 
der  Demonstration  plötzlich  todt  umfiel  und  im  forensischen  Institut  secirt 
wurde.  Der  Tod  war  durch  Ruptur  dicht  über  den  Klappen  erfolgt,  und 
es  fand  sich  ein  grosses  Haematopericard.  In  zwei  andern  tödtlich  endenden 
Fällen  von  Aneurysmen  des  Bogens  und  der  Aorta  descendens  fand  sich 
Compression  je  eines  grossen  Hauptbronchus  mit  Oedem  und  blutigem 
Schleim,  stets  auf  der  linken  Seite.  Auf  der  betheiligten  Seite  des  Thorax 
sind  die  Athmungsbewegungen  geringer,  auch  bestehen  nicht  selten  systolisch 
inspiratorische  Einziehungen  der  Intercostalräume.  Der  Stimmfremitus  ist 
verändert  oder  aufgehoben.  Perkutorisch  ist  auf  der  betreffenden  Thorax- 
seite wegen  veränderter  Spannung  der  Lungen  tiefer  tympanitischer  Schall  und 
bei  Lungencollaps  Dämpfung  vorhanden.  Auscultatorisch  ist  abgeschwächtes 
Athmen  oder  fehlendes  Athmungsgeräusch  mit  katarrhalischen  Geräuschen, 
Husten,  Auswurf,  eventuell  Haemoptoe  vorhanden.  An  der  Compressions- 
stelle  des  Bronchus  hört  man  lautes  Bronchialathmen.  In  einem  Fall  von 
Aneurysma  der  Aorta  descendens  mit  Druck  auf  den  linken  Bronchus 
bewirkte  Druck  auf  die  Geschwulst  regelmässig  Husten. 

Wichtig  sind  die  Erscheinungen  seitens  der  Trachea  und  des 
Larynx.  Ein-  oder  doppelseitiger  Druck  auf  den  nv.  recurrens  ergiebt 
Lähmung  der  Stimmbänder.  Bei  einseitiger  Parese  ist  fast  immer  der  linke 
Recurrens  gelähmt.  Hierbei  sprechen  die  Kranken  anfangs  heiser,  bessern 
sich  aber  in  der  Regel  soweit,  dass  die  Stimme  nur  noch  einen  rauhen 
Charakter  behält,  indem  das  gesunde  Stimmband  übercompensirt.  Rechts- 
seitige Stimmbandlähmungen  sind  sehr  selten  durch  Aorten-Aneurysmen 
bedingt,  wie  auch  doppelseitige  Lähmungen  nur  sehr  selten  auf  derselben 
Ursache  beruhen.  In  einem  meiner  Fälle  von  einseitiger  Abductore-nparalyse 
in  Folge  von  Druck  des  Bogen- Aneurysma  auf  den  Recurrens,  trateit  trotz 
der  permanenten  Existenz  der  Lähmung  anfallsweise  Attaquen  von  Dispnoe 
mit  freien  Intervallen  auf.  Aehnliche  Anfälle  kamen  in  einem  andern  Falle 
durch  den  Druck  des  Tumors  auf  die  Trachea  zustande,  wahrscheinlich 
bedingt  durch  Schwellung  der  Schleimhaut  und  Schleimabsonderimg, 
eventuell  durch  zeitweilige  Steigerung  des  Blutdrucks  mit  consecutiver 
Erweiterung  des  Sackes  und  verstärkten  Druck  auf  die  Trachea.  Es  betraf 
dies  einen  Fall  von  Aneurysma  der  hinteren  Wand  des  Arcus,  bei  welchem 
neben  der  Compression  der  Trachea  gleichzeitig  Druckerscheinungen  auf 
den  Oesophagus  und  Vagus  mit  Dysphagie  und  Anfällen  von  Angina  pectoris 
beobachtet  wurden. 


118  ARTEPJENECTASIE. 

Auf  ein  anderes  Symptom,  welches  bei  Aneurysmen  des  Bogens  fast  constant  vor- 
kommen soll,  macht  B.  Fkae^kel  aufmerksam.  Es  ist  dies  die  Palpati ou  der  Trachea 
im  lugulum.  Dasselbe  ist  wohl  zuerst  von  W.  Olivee  und  später  von  R.  Macdoxeli, 
angegeben  worden.  Man  lässt  den  Patienten  mit  nach  hinten  übergelegtem  Kopf  stehen 
oder  sitzen,  sucht  den  Kehlkopf  am  Piingknorpel  ein  bischen  in  die  Höhe  zu  heben,  um 
möglichst  tief  an  die  Trachea  hinabzukommen.  \Yenn  man  nun  einen  Zeigefinger  gegen 
die  Trachea  in  das  lugulum  hineinlegt,  fühlt  man  bei  Aneurysma  sehr  deutlich  eine 
fortgeleitete  Pulsation.  Ich  zweifle  nicht  daran,  dass  mau  dieses  Symptom  bei  den 
genannten  Aneurysmen  sehr  häufig,  vielleicht  auch  constant  antrifft,  glaube  aber,  dass 
es  ebenso  häufig  bei  Aorteninsufficienzen  vorgefunden  wird. 

Durch  Druck  von  thoracischeu  Aneurysmen  auf  den  Oesophagus 
werden  zuweilen  Schlingbeschwerden  und  Dysphagie  hervorgerufen.  Die- 
selben können  namentlich  bei  alten  Leuten  Öesophaguskrebs  vortäuschen. 
Zuweilen  treten  die  Schlingbeschwerden  in  Anfällen  auf.  Derartige 
Paroxysmen  beobachtete  ich  in  einem  Fall,  in  welchem  Wochen  lange 
Pausen  von  vollständigster  Euphorie  bestanden.  Bevor  man  in  fraglichen 
Fällen  von  Oesophagusstenose  die  Sonde  einführt,  untersuche  man  den 
Thorax  genau  auf  etwaiges  Vorhandensein  eines  Aneurysma,  da  mau  durch 
die  Sonde  die  Wand  des  letzteren  leicht  perforiren  kann.  Ist  ein  Aneurysma 
vorhanden,  so  mrd  die  eingeführte  Sonde,  wenn  sie  den  Sitz  des  pulsirenden 
Tumors  erreicht  oder  passirt.  ebenfalls  stark  pulsiren  und  rythmisch 
gehoben  und  gesenkt  werden.  Ich  kann  aber  darin  mit  Kraszewski  nicht 
übereinstimmen,  dass  derartige  Pulsationen  der  Sonde  ein  höheres  Zeichen 
eines  Aneurysma  seien,  da  ich  dieselben  Pulsationen  sowohl  ohne  Bestehen 
eines  Aneurysma,  als  auch  in  einem  Fall  von  Carcinoma  oesophagi  in  der- 
selben Weise  beobachtet  habe.  Keaszewski  beobachtete  plötzlich  auftretende 
Schlingbeschwerden  bei  einem  Kranken  mit  Aneurysma  der  Aorta  descendens. 
Die  Stenose  Hess  sich  auscultatorisch  in  der  Höhe  des  8, — 9.  Wirbels' 
nachweisen.  Um  sich  zu  überzeugen,  ob  es  sich  wirklich  um  eine  Compression 
durch  ein  Aneurysma  handelte,  führte  er  eine  blindschliessende  Schlund- 
sonde, die  mit  Wasser  gefüllt  und  mit  einem  Glasrohr  verbunden  war, 
in  den  Oesophagus  bis  zur  stenosirten  Stelle  ein.  Es  traten  rhythmisch  mit 
dem  Radialpuls  synchrone  „Schwankungen  der  Wassersäule  ein.  die  den 
Beweis  lieferten,  dass  die  Stenose  durch  Druck  des  Aneurysma  bedingt 
war".  Ich  kann,  wie  gesagt,  mich  mit  dieser  Schlussfolgeruug  nicht  einver- 
standen erklären,  da  ich  dieselben  Schwankungen  der  Sonde  ohne  Aneurysma 
wiederholt  beobachtet  habe. 

In  der  Mehrzahl  meiner  Fälle  von  Aneurysmen  der  Brustaorta 
beobachtete  ich  auffallende  Pupillendifferenz,  was  gewöhnlich 
auf  Pieizung  oder  Lähmung  sympathischer  Fasern  zu  beziehen  ist.  Meist 
war  die  Verengerung  auf  der  entsprechenden  Seite,  bedingt,  wie  Sectionen 
ergaben,  durch  mechanische  Leitungshemmung  in  dem  Nerv,  sympathicus 
derselben  Seite.  —  Fehlen  der  Pupillarreaction  auf  Lichtreiz  wurde  wieder- 
holt beobachtet,  während  die  Pieaction  bei  der  Accomodation  erhalten  Avar. 
So  häufig  auch  die  Pupillendifferenz  bei  Aneurysmen  beobachtet  wird,  so 
ist  sie  doch  keineswegs  ein  constantes  oder  sicheres  Zeichen  dieser 
Erkrankung,  da  man  dasselbe  Symptom  auch  bei  andersartigen  Tumoren 
der  Thoraxhöhle  und  selbst  bei  pleuritischen  Exsudaten  beobachtet. 

Die  subjectiven  Erscheinungen  können  sehr  heftig  und  quälend 
sein:  sie  variiren  fast  in  jedem  einzelnen  Fall  und  hängen  ganz  von  der 
Natur  des  jeweiligen  Falles  ab.  namentlich  aber  vom  Sitz  der  Geschwulst 
und  von  den  durch  dieselbe  bedingten  Compressionserscheinungen.  Am 
constantesten  sind  die  Störungen  seitens  des  Nervensystems,  bedingt  durch 
Druck,  welchen  das  Aneurysma  namentlich  auf  den  Brachialplexus  ausübt, 
bestehend  in  heftigen  Byacliiahirurahikn  und  intensivem  Brustschmerz, 
welcher  nach  der  Schulter  ausstrahlt.  Diese  Erscheinuusen  werden  ungleich 


ARTERIENECTASIE.  119 

« 

häufiger  auf  der  linken  Seite  beobachtet  und  sind  verbunden  mit  Taubheits- 
gefühl, Paraesthesien,  Formicationen  und  lähmungsartigen  Zuständen  im 
betreftenden  Arm.  In  einem  Fall  von  Aneurysma  der  Aorta  descendens 
bestand  hitercosialneiiralgie  mit  Herpes  infercost.  und  Anaesthesia  dolorosa. 
In  einem  zweiten  Fall  der  gleichen  Erkrankung,  in  welchem  Rippen  und 
Wirbelsäule  arrodirt  gefunden  wurden,  bestand  heftiger,  in  den  linken  Arm 
ausstrahlender  Brustschmerz.  Angina  pectoris  und  intensive  Schweiss- 
absonderung,  welche  auf  die  fünfte  und  sechste  Rippe  und  den  betreffenden 
Intercostalraum  localisirt  war.  Sie  trat  sieht-  und  fühlbar  in  Intervallen  auf, 
welche  von  den  Schmerzanfällen  unabhängig  waren,  und  wurde  durch  grosse 
Gaben  von  Jodkalium  gebessert. 

Auch  heftige  Schmerzen  in  der  Wirbelsäule  kommen  dabei  ohne  und 
mit  Usur  der  Wirbel  vor.  Ist  das  Rückenmark  comprimirt,  so  beobachtet  man 
Lähmungen  der  untern  Extremitäten,  der  Blase  und  des  Rectum  neben 
sensiblen  Störungen ;  bei  EigriÖ'ensein  der  Häute  —  Meningitis  spinalis.  Die 
Schmerzen  in  der  linken  Schulter  und  im  linken  Arm  erwecken  bei 
Ausschluss  anderer  Ursachen  den  Verdacht  latenter  Aneurysmen;  jedoch 
kommen  sie  auch  bei  anderweitigen  Herzerkrankungen,  namentlich  Dilatation 
des  Herzens  nicht  selten  vor.  Zu  erwähnen  sind  noch  das  quälende  Herz- 
klopfen, welches  häufig  in  Paroxysmen  auftritt,  sowie  das  Schlagen,  Klopfen 
und  Pulsiren  der  Arterien.  Der  Schmerz  auf  der  Brust  tritt  auf  oder  wird 
wesentlich  verstärkt  durch  gewisse  Lagerungen  des  Körpers,  namentlich  die 
auf  die  linke  Seite.  Am  quälendsten  für  die  Patienten  sind  die  Anfälle 
von  Angina  pectoris,  verbunden  mit  Herzklopfen,  Athemnoth,  Praecordialangst 
und  heftigen  Schmerzen  in  der  Brust,  welche  nach  der  Schulter  ausstrahlen. 
Auch  asthmatische  Anfälle  mit  Oppressionsgefühl,  Dyspnoe,  heftigem  Husten, 
ja  selbst  mit  Haemoptoe  kommen  bisweilen  vor  und  können  vollständige 
Suffocationserscheinungen  hervorrufen,  wenn  das  Aneurysma  auf  einen  grossen 
Bronchus  einen  Druck  ausübt.  —  Sehr  qualvoll  empfinden  viele  Kranke 
auch  die  anhaltende  Schlaflosigkeit. 

Der  genaue  Sitz  des  Aneurysma  ist  auf  Grund  des  gesammten 
Symptomencomplexes  zu  stellen ;  dabei  werden  namentlich  die  Verhältnisse 
des  Pulses  und  etwaige  vorhandene  Compressionserscheinungen  in  Betracht 
zu  ziehen  sein.  Wesentlich  verschieden  und  eigenartig  werden  sich  die 
Verhältnisse  bei  den  Aneurysmen  der  Aorta  abdominalis  gestalten,  deren 
Häufigkeit  sich  zu  denjenigen  der  Aorta  thoracica  wie  1:3  verhält^). 
Ihr  Lieblingssitz  ist  die  Gegend  des  Tripus  Halleri.  Sie  bilden  Geschwülste 
von  äusserst  differenter,  bis  Mannkopfs-Grösse,  und  sind  als  pulsirende 
Körper  deutlich  durch  die  Bauchwand  wahrnehmbar.  Hierbei  kann  jedoch 
nicht  nachdrücklich  genug  betont  werden,  dass  die  Aorta  sehr  häufig,  und 
namentlich  bei  hysterischen  Frauen,  Neurasthenikern  und  sogenannten 
„nervösen"  Frauen  auch  ohne  pathologische  Erweiterung  ausserordentlich 
heftig  und  deutlich  sichtbar  pulsirt  und  bei  der  Palpation  eine  Geschwulst 
vortäuscht.  Dasselbe  gilt  von  dem  fühlbaren  Schwirren,  welches  in  sokhen 
Fällen  sehr  deutlich  fühlbar  ist  und  zuweilen  auch  gehört  werden  kann. 
Bei  umfangreicheren  Aneurysmen  wird  die  Erkennung  keine  Schwierig- 
keiten haben,  wenn  man  die  Contouren  des  Sackes  deutlich  verfolgen  und 
namentlich  die  Ausdehnung  der  Aorta  im  Querdurchmesser  nachweisen 
kann.  Bei  grossen  Tumoren  kann  das  Zwerchfell  in  die  Höhe  gedrängt 
werden.  Wichtig  ist  auch  die  Verspätung  der  Pulse  in  den  Cruralarterien. 


')  Anmerkung.  Diese  Angabe  bezieht  sich  auf  eine  Statistik  von  CRi.sr,  welcher 
unter  234  Fällen  von  Aneurysmen  der  Aorta  59  Aneurysmen  der  Aorta  abdom.  und 
ihrer  Aeste  fand. 


120  ARTERIENECTASIE. 

Zunächst  sind  auch  hier,  wie  bei  den  thoracisohen  Aneurysmen,  neural- 
gische Beschwerden  hervorzuheben,  welche  als  epigastrische  Schmerzen 
auftreten  und  Gastralgien  oder  (Gallen-  resp.  Harnstein-)  Koliken  vor- 
täuschen können.  Nicht  selten  treten  Anfälle  von  heftigem  Erbrechen  auf, 
welche  Traube  auf  intermittirende  Reizung  der  Vagusfasern  bezogen  hat, 
Die  möglichen  Compressionserscheinungen  sind  sehr  mannigfach.  Speise- 
röhre, Darm,  Ductus  choledochus,  Ureteren,  Pfortader,  benachbarte  Arterien, 
Vena  cava  inf.  und  Nervenstämme  können  betheiligt  sein.  Ueber  die  Dys- 
phagie und  Schlingbeschwerden  ist  bereits  gelegentlich  der  oberhalb  des 
Zwerchfells  gelegenen  Aneurysmen  gesprochen  worden ;  dasselbe  und  auch 
betreffs  der  durch  Compression  verursachten  Stenosen  gilt  für  die  sub- 
phrenischen  Aneurysmen,  nur  dass  hier  die  Stenosen  tiefer  sitzen  und 
eventuell  mit  einem  Krebs  der  Cardia  verwechselt  werden  können.  Durch 
die  Compression  eines  Aneurysma  abdominale  auf  den  Oesophagus  können 
auch  die  venae  ösophag.  comprimirt  werden,  so  dass  Varicen  der  Speise- 
röhre, event.  mit  tödtlichen  Blutungen  hervorgerufen  werden  können.  Druck 
auf  die  grossen  Gallengänge  bedingt  hartnäckigen  Icterus ;  auf  den  Darm 
erschwerte  Defaecation,  auf  den  Ureter  Hydronephrose  etc.  Dass  Druck 
des  Aneurysma  auf  die  Nervenstämme  oder  nach  allmäliger  Usur  der  Wirbel 
auf  das  Rückenmark  hiervon  abhängige  schwere  Neuralgien  und  Läh- 
mungen hervorrufen  können,  ist  bereits  oben  erwähnt. 

Von  den  Aesten  derBauchaorta  hat  mau  aneurysmatisch  erkrankt 
gefunden  vorzugsweise  die  art.  coellaca,  die  hepatica,  die  coronaria  venfri- 
cuU,  die  pancreatico-duodenalis,  die  lienalis,  renalis  und  am  häufigsten  die  mesa- 
raica  sup.  Kleinere  Tumoren  bleiben  meistens  unentdeckt,  grössere  werden 
durch  Druck  auf  die  benachbarten  Organe  u.  A.  schwere  Schädigungen 
hervorrufen,  sich  aber  nicht  immer  von  aneurysmatischen  Erweiterungen 
der  Bauchaorta  selbst  unterscheiden  lassen.  Verspätung  der  Cruralpulse 
werden  in  fraglichen  Fällen  für  letztere  sprechen. 

Ausser  den  Aneurysmen  der  Aorta  und  ihrer  Aeste  verdienen  noch 
diejenigen  der  Lungenarterie  Berücksichtigung.  Dieselben  sind,  soweit 
sie  den  Stamm  der  Art.  pulmonalis  betreffen,  ausserordentlich  selten ;  un- 
gleich häufiger  trifft  man  kleine  Aneurysmen  an  den  Verzweigungen  der- 
selben in  Cavernen  an,  Avelche  alsdann  die  Ursache  von  profusen  Lungen- 
blutungen werden  können.  Die  grossen  Aneurysmen  können  als  pulsirende 
Tumoren  an  der  Oberfläche  der  Brustwand  zum  Vorschein  kommen,  u.  zw. 
meist  im  zweiten  linken  Intercostalraum.  Eine  sichere  Unterscheidung  von 
Aortenaneurysmen  (namentlich  des  aufsteigenden  Theils  und  des  Bogens) 
ist  nicht  immer  möglich;  namentlich  können  die  Verdrängungs-  und  Com- 
pressionserscheinungen bei  beiden  dieselben  sein.  Bei  Stellung  der  Diffe- 
rentialdiagnose werden  folgende  Punkte  in  Betracht  kommen  und  zu 
Gunsten  eines  Aneurysma  der  Art.  pulmonalis  sprechen :  eine  etwaige 
Hypertrophie  des  rechtem  Ventrikels,  Störungen  der  Athmung  und  im  Pul- 
monalkreislauf  und  fehlende  Verspätung  der  peripheren  Pulse  gegenüber 
dem  Spitzenstoss. 

Ein  Aneurysma  kann  sehr  lange,  10—20  Jahre,  getragen  werden.  Die 
durchschnittliche  Dauer  hat  Lebert  auf  15 — 18  Monate,  gerechnet  von  dem 
ersten  Auftreten  der  Symptome,  festgestellt.  Der  tödliche  Ausgang  kann  durch 
allgemeinen  Marasmus,  Lianition,  durch  Erstickung  in  Folge  von  Compression 
der  Trachea  oder  eines  Bronchus  oder  durch  intercurrente  Krankheiten 
erfolgen ;  sehr  häufig  auch  plötzlich  durch  Ruptur  nach  aussen,  oder  in  die 
Pleuren,  Herzbeutel,  Bronchus,  Trachea  etc. 

Die  Gefahr  eines  Aneurysma  besteht  vor  Allem  in  seiner  Nei- 
gung zu  fortdauernder   Vergrösserung.     Offenbar   muss   es   dabei  an  einen 


ARTERIENECTASIE.  121 

Punkt  anlangen,  an  welchem  benachbarte  Organe  durch  Compression  in 
ihrer  Integrität  und  Function  gestört  werden.  Welche  Organe  in  Mitleiden- 
schaft gezogen  werden,  das  richtet  sich  hauptsächlich  nach  dem  Sitze  und 
der  Wachsthumsrichtung  des  Aneurysma. 

Bei  dieser  Lage  der  Verhältnisse  wird  man  sich  therapeutisch  vor- 
zugsweise auf  die  Bekämpfung  der  besonders  lästigen  und  schmerzhaften 
Symptome  zu  verlegen  haben,  da  die  Bemühungen,  Aneurysmen  der  Aorta 
zur  definitiven  Heilung  zu  bringen,  bisher  nur  wenige  glückliche  Resultate 
ergeben  haben. 

Symptomatisch  hat  man  besonders  gegen  die  neuralgischen 
Schmerzen  und  die  Schlaflosigkeit  anzukämpfen.  Gegen  erstere  wird  man 
salicylsaures  Natron  und  Arifipijrin  mit  einigem  Erfolg  anwenden.  Bei  den 
Stenokardischen  und  asthmatischen  Anfällen  und  den  damit  verbundenen 
Schmerzen  sind  Jodpräparate  häufig  recht  wirksam:  Jodkalium  und  Jod- 
natrium; wenn  dieselben  versagen,  sowie  bei  anhaltender  Schlaflosigkeit, 
wird  man  von  den  Narcoticis  vorsichtigen  Gebrauch  machen:  Bromkalium, 
Sulfonal,  Somnal.  eventuell  Cldoralln/drat.  Den  sichersten  Erfolg  versprechen 
die  subcutanen  Injectionen  von  Morphiimi.  Bei  starkem  Herzklopfen  und 
starkem  Pulsiren  und  Hüpfen  der  arteriellen  Gefässe,  Eisblasen  auf  die 
Herzgegend  (nicht  unmittelbar,  sondern  gemildert  durch  eme  dazwischen 
gelegte  Leinwandlage)  und  innerlich  Digitalis  eventuell  zusammen  mit  Stro- 
pliantus  oder  Valeriana.  Ln  Allgemeinen  wende  man  ein  rationelles 
hygienisches  und  diätetisches  Regime  an,  wobei  alle  stärkeren 
Bewegungen  und  Anstrengungen,  sowie  jede  geistige  Anstrengung  möglichst 
vermieden  werden.  Man  lasse  leicht  verdauliche  und  nahrhafte  Kost,  na- 
mentlich viele  grüne  Gemüse  (Spinat,  Spargeln,  Salate,  frische  Früchte) 
gemessen  und  für  ausgiebige,  regelmässige  Leibesöffnung  Sorge  tragen. 
Jede  stärkere  körperliche  Bewegung  und  Anstrengung,  sowie  namentlich 
starkes  Pressen  beim  Stuhlgang  kann  zu  einer  Perforation  des  Aneurysma 
führen.  —  Wenn  das  Aneurysma  als  sichtbarer,  prominirender  Tumor  nach 
aussen  tritt,  so  schütze  man  dasselbe  durch  eine  geeignete,  hohl  gearbeitete 
und  sorglich  gepolsterte  Pelotte  von  Metall  vor  Druck.  Quetschung  oder 
anderweitigen  Verletzungen. 

Vielfache  Versuche  sind  gemacht  worden,  um  ein  Aneurysma  zur  Ob- 
literation  und'  damit  zur  Verkleinerung  und  schliesslichen  Heilung  zu 
bringen.  Während  dies  bei  den  peripheren  Aneurysmen  vielfach  gelungen 
ist,  hat  man  bei  denjenigen  der  Aorta  bisher  nicht   grosse  Erfolge  erzielt. 

Lnmerhin  verspricht  in  einzelnen  Fällen  die  eine  oder  andere  Me- 
thode einige  Aussicht  auf  Erfolg,  der  leitende  Gesichtspunkt,  von  dem  man 
dabei  ausging,  war  künstliche  Schrumpfung  und  Verkleinerung  der  Ge- 
schwulst, künstliche  Gerinnselbildung  im  Sack,  entsprechend  den  häufig 
vorkommenden,  sich  natürlich  bildenden  geschichteten  Thromben.  Ablen- 
kung des  zufliessenden  Blutstromes  u.  a. 

Vom  ätiologischen  Standpunkt  aus  versprechen  diejenigen  Mittel  die 
grösste  Aussicht  auf  Erfolg,  welche  den  fortschreitenden  Degenerations- 
process  der  Arterienwand  in  ausgiebigster  Weise  hintanzuhalteu  vermögen ; 
unter  allen  Mitteln  verdient  nach  dieser  Richtung  hin  Jodkalium  das  grösste 
Vertrauen,  nicht  nur  in  denjenigen  Fällen,  in  denen  Syphilis  nachweisbar 
ist,  sondern  auch  in  allen  üljrigen.  Fortgesetzte  grosse  und  steigende  Gaben 
des  Jodsalzes  (2  —  4  Gramm  pro  die),  anhaltende  Bettruhe  und  angemessene  Er- 
nährung haben  nach  den  Angaben  vieler  Autoren  Aneurysmen  der  Aorta 
zur  Verkleinerung,  ja  selbst  zur  Heilung  gebracht.  Ungleich  weniger  Ver- 
trauen verdient  die  innerliche  Darreichung  des  Seeale  cornutum  und  seiner 
Präparate,  des  PlumLum  acetic.tm-  u.  a. 


1 22  ARTERIENECTASIE. 

Andauernde  Compression  durch  eine  Pelotte  kann  unter  Umständen 
die  eben  angeführte  Behandlungsmethode  wirksam  unterstützen,  namentlich 
wenn  der  Tumor  sich  an  einer  Stelle  der  Brustwand  vorwölbt,  verursacht 
aber  gewöhnlich  grosse  Schmerzen  und  wird  daher  schlecht  vertragen. 

Einspritzungen  chemischer  Substanzen  in  den  aneurysmatischen 
Sack,  um  Gerinnungen  zu  erzeugen,  sind  gefährlich,  da  einzelne  Partikel 
leicht  in  den  Blutstrom  gelangen  und  zur  Bildung  von  Embolien  Veran- 
lassung geben  können.  Die  angestellten  Versuche  mit  Eisenchlorid  haben 
nicht  zu  den  gewünschten  Resultaten  geführt  und  sind  aufgegeben  worden. 
Empfehlenswerther  erscheint  Injectiou  von  Fibrinferment  in  den  Sack, 
selbst  oder  von  Ergotin  (0.1  —0.3  Gramm  Extr.  See.  cor  n.  aquos.  in  Wasser  oder 
Glycerin  gelöst)  in  die  Umgebung  des  Sackes.  Das  Ergotin  soll  die  glatten 
Muskeln  in  der  Wand  des  Aneurysma  zur  Contraction  bringen.  Unter  den 
Mitteln,  welche  Gerinnselbildung  im  Aneurysma  erzeugen  sollen,  verdienen 
ferner  die  EJectrolyse  und  Electroyunctur  erwähnt  zu  werden,  wobei  man 
isolirte  Nadeln  in  das  Aneurysma  einsticht  und  den  constanten  Strom  hin- 
durchgehen lässt. 

Diese  Methode  ist  von  Petrequin  zuerst  im  Jahre  1831  empfohlen  worden.  Die 
Literatur  über  diesen  Gegenstand,  sowie  die  Anzahl  der  nach  dieser  Methode  operirten 
Fälle  ist  sehr  gross  Ciniselli  hat  45  Fälle  mit  angeblich  5  Heilungen  gesammelt,  Vivian 
PovKE  fand  6  Todesfälle  unter  einer  klfeinen  Zahl  von  Fällen,  Petit  152  Fälle  mit 
69  Besserungen,  38  Todesfällen  und  45  misslungenen  Operationen.  Die  Besserungen 
hielten  in  37  Fällen  nur  ganz  kurze  Zeit,  in  den  übrigen  auch  nicht  viel  länger  an. 
Jaccotjd  hat  viermal  die  Elektropunktur  des  Aneurysma  der  Aorta  ascendens  ausgeführt, 
jedoch  ohne  Erfolg;  desgleichen  Wilson.  Black  stiess  zwei  isolirte  Nadeln  an  entgegen- 
gesetzten Stellen  in  den  Tumor  und  brachte  sie  mit  30  Elementen  einer  LECLANCHE'schen 
Batterie  in  Verbindung.  Der  Strom  ging  eine  Stunde  hindurch,  dann  wurde  er  gewendet 
und  wieder  ^j^  Stunde  hindurch  geführt.  Trotz  viermaliger  Wiederholung  fand  sich  keine 
Coagulation  im  aneurysmatischen  Sack.  Die  Operation  war  sehr  schmerzhaft.  In  andern 
Fällen  wurden  mehrex'e  isolirte  kleine  Nadeln  mit  dem  einen  Pol  in  Verbindung  gesetzt 
und  rund  herum  in  den  Tumor  eingestochen,  während  die  Nadel  des  andern  Pols  ins 
Centrum  der  Geschwulst  eingesenkt  wurde.  In  einem  Fall  von  Black,  der  in  dieser  Weise 
galvanopunctirt  wurde,  erschien  der  Tumor  nach  der  Operation  viel  prominenter,  die 
Pulsation  distincter,  die  Haut  über  demselben  intensiv  roth  und  entzündet.  Der  Tod 
erfolgte  sehr  bald  im  Coma;  Coagulation  war  im  Sack  trotz  wiederholter  Galvanopunctur 
nicht  eingetreten.  In  einem  andern  Fall  von  Chxjrtox  wurde  ein  pulsirendes  Aneurysma 
der  linken  Brustwand  viermal  galvanisch  punctirt;  nach  der  vierten  Punction  cessirte 
die  Pulsation,  20  Minuten  später  erfolgte  der  Tod.  Gibbons  theilt  2  Fälle  von  Aneurysma 
mit,  die  galvanisch  punctirt  worden  waren.  Beide  Fälle  endeten  sehr  -bald  letal,  und  in 
beiden  fand  man  feste  Klumpen  an  den  Einstichsstellen.  Aus  diesen  Fällen,  die  ich  um 
viele  andere  vermehren  könnte,  ersieht  man,  dass  der  operative  Eingriff  weder  ein 
therapeutisch  sicherer,  noch  ungefährlicher  ist.  Eine  andere  Gefahr,  welche  durch  diese 
Methode  bedingt  wird,  besteht  in  der  Bildung  kleiner  Gerinnsel,  welche  leicht  fortge- 
schwemmt  werden  und  als  Emboli  wirken  können. 

Eine  Oombination  der  Elektropunctur  mit  Einführung  eines  Fremdkörpers  in  das 
Aneurysma  versuchte  Bakewell,  welcher  Stahldraht  in  den  Sack  einführte  und  einen 
galvanischen  Strom  hindurchgehen  Hess.  Der  positive  Pol  wurde  mit  dem  Stahldraht  in 
Verbindung  gesetzt,  der  negative  auf  einen  Dorsalwirbel  applicirt.  1  )er  Tod  erfolgte  nach 
vier  Tagen ;  um  den  spiraligen  Draht  fand  sich  ein  hartes  Gerinnsel. 

Vielfache  Versuche'sind  auch  nach  der  Richtung  hin  angestellt  worden, 
Fremdkörper  in  das  Aneurysma  einzuführen,  um  diese  zum 
Mittelpunkt  oder  Kern  der  Fibrinausscheidung  zu  machen  und  auf  diesem 
Wege  umfangreiche  Gerinnselbildung  zu  erzeugen. 

In  der  Literatur  der  letzten  dreissig  Jahre  findet  sich  eine  grosse  Anzahl  derartiger 
Fälle  verzeichnet.  Wooke  führte  im  Jahre  1864,  wie  es  scheint  als  der  Erste,  26  Eilen 
feinen  Eisendraht  ein.  Der  Patient  starb  am  fünften  Tage  nach  der  Operation  an  einer 
Pericarditis.  Dann  füllte  Lewis  in  Philadelphia  ein  Aneurysma  der  Subclavia  mit  25  Fuss 
Kosshaar  aus.  Der  Patient  starb  nach  14  Tagen;  .die  Höhle  war  neben  Gerinnsehi  mit 
flüssigem  Blut  ausgefüllt".  Dann  hat  Bacelli  feine  Uhrfedern  eingeführt;  dieselben 
zeigten  sich  später  oxydirt  und  zerbröckelt.  Schköttee,  welcher  sich  am  enthusiastischsten 
für  diese  Methode  ausspricht,  führte  in  einem  Fall  von  Aortenaneurysma  mit  pulsirendem 
Tumor  an  der  zweiten  Rippe    in   zwei  Sitzungen    126  cm   Flls  de  Florence   in    den   Sack 


ARTEPJENECTASIE.  123 

ein.  Es  ist  dies  die  aus  dem  Seidenwurm  unmittelbar  vor  seiner  Einpuppung  heraus- 
gezogene und  weiter  präparirte  eigentliche  Seidensubstanz.  Nach  der  ersten  Operation 
war  das  Allgemeinbefinden  unverändei't,  die  Temperatur  normal.  Die  Schmerzen  im  Arm 
blieben  dieselben;  örtlich  Avar  ganz  entschieden  ein  Härterwerden  und  geringeres  Pulsiren 
der  Geschwulst  wahrzunehmen,  und  zwar  schon  sehr  bald  nach  der  Operation.  Vier  Tage 
später  wurde  die  Operation  wiederholt  und  dabei  74  cm  Fils  de  Florence,  weiche  zehn 
Minuten  lang  in  einer  Lösung  von  Ferr.  oxyd.  dialys.  gekocht  worden  war,  eingeführt. 
Das  Allgemeinbefinden  unverändert,  nur  klagte  Patient  drei  Tage  später  über  brennende 
Schmerzen,  die  sich  von  der  Schulter  nach  dem  Arm  hinzogen.  Die  Geschwulst  wuchs 
bei  aller  Härte  in  beiden  Durchmessern.  Patient  verlies  drei  Tage  später  das  Kranken- 
haus und  starb  9  Tage  später.  Bei  der  Autopsie  fand  sich  rechts  unter  dem  muscul. 
pectoralis  eine  kindskoptgrosse,  halbkuglige  Geschwulst,  welche  von  der  Aorta,  4  cm 
oberhalb  der  Klappe  ausgieng.  Abgesehen  von  alten  geschichteten  Thrombusmassen 
fanden  sich  frische  schwarzrothe,  lockere  Blutgerinnsel,  in  denen  die  Fils  de  Florence 
eingefilzt  waren.  Schköttek  spricht  sich  trotz  des  Misserfolges  sehr  befriedigt  über  den 
Verlauf  aus  und  ist  der  Meinung,  dass  es  gerechtfertigt  wäre,  den  Versuch  zu  wiederholen. 
In  der  amerikanischen  Literatur  findet  sich  ein  Artikel  von  Cattay,  worin  er  auf 
acht  nach  dieser  Methode  (aber  nicht  mit  demselben  Material)  ausgeführten  Operationen 
recurrirt,  die  sämmtlich  letal  endeten.  Auch  zwei  von  ihm  selbst  operirte  Fälle  starben 
sehr  bald.  —  Ich  selbst  habe  in  Gemeinschaft  mit  Professor  Sonkenbuiic  einen  Fall  von 
Aneurysma  der  Aorta  descendens  in  analoger  Weise  operirt.  Das  Aneurj'sma  hatte  einen 
stark  prominirenden  und  palsirenden  Tumor  von  Apfelgrösse  zwischen  Wirbelsäule  und 
linkem  Scapularwinkel  mit  umfangreicher  Arosion  mehrerer  Wirbel  gebildet.  Die  Schmerzen 
waren  unerträglich.  Die  Operation  geschah  in  zwei  Sitzungen;  in  der  ersten  wurden 
mehrere  tiefe  Hautschnitte  bis  auf  den  Sack  angelegt,  so  dass  die  Weichtheile  ganz  fest 
und  in  weiter  Ausdehnung  mit  dem  Aneurysma  verwachsen  waren.  Alsdann  wurde  in.einer 
zweiten  Sitzung  das  Aneurysma  mit  einem  eigens  dazu  angefertigten,  nach  der  Fläche 
gebogenem  Troicart  punctirt,  wobei  kein  Blut  nach  der  Entfernung  des  Stilets  aus  der 
Canule  abfloss  Darauf  wurde  dünn  gewalzter  Platindraht,  dessen  Durchmesser  genau  mit 
dem  der  Canule  übereinstimmte,  durch  die  letztere  eingeführt  und  eventuell  mit  einem 
Mandrin  weiter  geschoben.  Auf  diese  Weise  gelaug  es  einige  zehn  Meter  Draht  in  das 
Aneurysma  einzuführen,  obwohl  derselbe  wiederholt  abbrach  und  von  Neuem  eingeführt 
werden  musste.  Das  Allgemeinbefinden  veränderte  sich  absolut  nicht.  Die  Patientin 
befand  sich  recht  wohl,  fiel  aber  am  zweiten  Tage  nach  der  Operation  bei  einer  plötz- 
lichen Aufrichtung  im  Bett  in  die  Kissen  zurück  und  verschied  nach  wenigen  Secunden. 
Bei  der  Autopsie  fand  sich  zunächst  eine  Ruptur  des  Aneurysma  an  der  vorderen  Fläche 
des  Sackes,  während  der  Draht  in  die  hintere  Wand  eingeführt  worden  war.  Im  Sack 
selbst  fanden  sich  alte  geschichtete  Thromben,  ausserdem  einige  Stückchen  Platindraht 
im  freien  Theil  des  Aneurysma  mit  ganz  frischen  lockern  dunkelrothen  Blutgerinseln. 
Der  überwiegende  Haupttheil  des  Drahtes  war  in  den  alten  Thrombus  eingeführt  worden, 
welcher  der  hintern  Wand  des  Aneurysma  anlag.  Daher  war  der  Draht  auch  wiederholt 
abgebrochen.  Wenn  ich  auch  glaube,  dass  in  diesem  Fall  die  Ruptur  des  Aneurysma 
unabhängig  von  dem  operativen  Eingriff  eingetreten  war,  da  der  Sack  an  der  Perforations- 
stelle bis  zur  Papierdünne  verdünnt  war,  so  zeigt  der  Fall,  dass  man  leicht  in  die  Lage 
kommt,  den  Fremdkörper  in  den  vorhandenen  Thrombus  einzuführen,  wodurch  der  Erfolg 
der  Operation  vollständig  vereitelt  wird. 

Ich  glaube  daher  mit  Bezug  auf  diesen  und  alle  übrigen  Fälle,  die 
sämmtlich  letal  und  meist  geringe  Zeit  nach  der  Operation  geendet 
haben,  dass  diese  Methode  keine  Zukunft  hat  und  dass  sich  im  besten 
Fall  um  den  eingeführten  Fremdkörper  lockere  Gerinnsel,  aber  k  e  i  n  e 
festen  Thrombusmassen  bilden,  die  eine  Obliteration  oder  Ver- 
kleinerung des  Sackes  bewirken  und  so  den  Naturheilungsprocess  nachzu- 
ahmen im  Stande  sind. 

Die  Methode  der  Unterbindung  aneurysmatisch  erkrankter  Arterien, 
welche  namentlich  bei  peripheren  Schlagadern  in  Anwendung  kommt, 
wird  an  anderer  Stelle  Berücksichtigung  finden.  Hier  möchte  ich  nur 
die  sehr  geistreiche  Methode  erwähnen,  Aneurysmen  durch  Unter- 
bindung der  peripher  vom  Sacke  abgehenden  Arterien  zur 
Heilung  zu  bringen,  da  dieselbe  auch  namentlich  bei  Aneurysmen  des 
Truncus  auonymus  zur  Anwendung  gezogen  wird. 

Diese  Methode  beruht  auf  dem  Gesichtspunkt,  den  Blutstrom  von  den  Aneurysmen 
abzulenken  und  dadurch  Gerinnung  in  dem  Sacke  zu  erzeugen.  Man  unterlnudet  also  bei 
einem  Aneurysma  des  Truncus  anonymus  die  rechte  Carotis  und  Subclavia.  Diese  Methode, 
die  Unterbindung  auf  der  peripheren  Seite  des  aneurysmatischen  Sackes  anzulegen,  wurde 


124  ARTERIOSKLEROSE. 

von  Bkasdok  im  Jahre  1795  ersonnen.  Desaitlt,  welcher  auch  öfters  als  Urheber  dieser 
Operation  genannt  wird,  hat  dieselbe  niemals  ausgeführt.  Der  Erste,  welcher  dieselbe 
ausführte,  war  Deschamps  und  nach  ihm  Sik  Astley  Coopek.  Doch  hat  erst  Wabdkop 
im  Anfang  dieses  Jahrhunderts  die  Methode  verallgemeinert  und  zuerst  ausgesprochen, 
dass  die  Unterbindung  aller  von  dem  Aneurysma  abgehender  Arterienstämme  nicht 
erforderlich  sei.  Die  Brasdor- Wardrop' sehe  Methode  ist  seitdem,  namentlich  auch  bei 
Aneurysmen  des  Trancus  anonymus  wiederholt  mit  glänzendem  Erfolg  ausgeführt  worden. 

LITTEN. 

Arteriosklerose.  Insoferne  die  Arteriosklerose  als  Theiler- 
scheinung  des  Marasmus  senilis  zur  Beobachtung  kommt,  wird  diesbezüglich 
auf  das  diesen  betreffende  Capitel  verwiesen  und  soll  im  Folgenden  nur  die 
A.  als  selbständig  auftretende  Erkrankung  zur  Erörterung  gelangen.  In 
ätiologischer  Beziehung  kommen  für  die  A.  vor  Allem  die  Lebensweise, 
die  schwere  körperliche  Arbeit  und  der  Alkoholgenuss  resp.  Missbrauch  in 
Betracht,  wobei  natürlich  öfters  das  Zusammenwirken  auch  mehrerer  dieser 
ätiologischen  Momente  als  schädigende  Ursache  nicht  ausgeschlossen  ist. 

Wir  finden  die  A.  ungemein  häufig  bei  Individuen,  die  sich  dauernd 
reichlicher  und  ausgewählter  Nahrungsaufnahme  bei  mangelnder  Körperbe- 
wegung hingeben  und  hiebei  oder  eben  deshalb  zu  Fettansatz  neigen,  auftreten. 

Aber  auch  bei  nicht  fetten,  ja  selbst  mageren  Individuen,  die  nicht  im 
Essen  zu  schwelgen  Gelegenheit  haben,  denen  jedoch  die  Zeit  und  der  Wille  zu 
Körperübungen  mangelt,  kommt  der  atheromatöse  Process  zur  Entwicklung 
und  Ausbildung.  Beide  Arten  von  Individuen  pflegen  zumeist  der  besitzenden 
Classe  anzugehören.  Eine  grosse  Zahl  arteriosklerotischer  Erkrankungen  finden 
wir  andererseits  unter  der  armen,  scliicere  Körperarheit  verrichtenden  Be- 
völkerung, wobei  sich  allerdings  der  Umstand,  wie  weit  der  von  derselben 
geübte  Jlkoh oJniissbrauch  hiehei  eine  Rolle  spielt,  der  Beurtheilung  entzieht. 

Es  unterliegt  auch  ferner  keinem  Zweifel,  dass  ein  grosser  Theil  der- 
jenigen Alkoholiker,  die  weder  dauernd  schwere  Arbeit  verrichten,  noch  bei 
zu  reichlicher  Nahrungder  Bewegung  entsagen,  dem  arteriosklerotischen  Processe 
unterliegt.  Ebenso  kommt  auch  der  Syphilis  eine  ätiologische  Bedeutung  zu;  es 
handelt  sich  bei  derselben  jedoch  meist  um  Erscheinungen  localisirter  Gefäss- 
wanderkrankung,  vorzugsweise  des  Gehirns,  selten  des  Herzens.  Ebenso  stellen 
auch  Gichtisc-lie  ein  gewisses  Contingent  für  die  Gefässsklerose,  doch  mag  für 
Gicht  und  die  A.  das  gemeinsame  ätiologische  Moment  vielleicht  in  der  reich- 
lichen Nahrungsaufnahme  und  Nahrungsauswahl  bei  besonderer  Pflege  der  Buhe 
gesucht  werden  können.  Auch  findet  man  bei  Diahetikern  häufig  Erscheinungen 
vonA.  Schliesslich  muss  noch  des  Zusammenhanges  zwischen  Nierensclirumpfung 
und  A.  gedacht  werden,  wenn  auch  eine  Klärung  der  Beziehungen  in  diesem 
Punkte  noch  mangelt.  Die  Deutung  des  Zustandekommens  des  arterioskle- 
rotischen Processes  unter  den  eben  angeführten  ätiologischen  Momenten  zielt 
vorwiegend  nach  der  Entstehung  derselben  auf  mechanischem  Wege. 

Es  kommen  hienach  als  Ursachen  vorwiegend  Verhältnisse  in  Betracht, 
die  eine  gesteigerte  Inanspruchnahme  des  Flerzens,  zunächst 
besonders  des  linken  Ventrikels,  veranlassen,  und  die  aus  den  Widerständen 
im  arteriellen  Systeme  in  Folge  der  abnormen  Füllungs-  und  Strömungsver- 
hältnisse in  den  Abdominalgefässen  resultiren.  Wenn  wir  dieser  Annahme 
zunächst  bei  Individuen,  für  welche  die  erstgenannten  ätiologischen  Momente 
der  reichlichen  Nahrungsaufnahme  und  des  Bewegungsmangels  herangezogen 
wurden,  Rechnung  tragen,  so  stellt  sich  bei  derselben  in  Folge  der  reichlichen 
Nahrungszufuhr  eine  besondere  Füllung  des  Pfortaders}^stems  und  der  Chylus- 
gefässe  ein,  die  sich  unter  normalen  Verhältnissen  bald  wieder  auszugleichen 
pflegt,  bei  Wiederholungen  dieses  Zustandes  jedoch  folgerichtig  zu  einer  gestei- 
gerten Füllung  des  Herzens  führen  muss,  die  bei  der  dauernden  Behinderung 
des  venösen  Abflusses  —  namentlich  bei  mangelnder  Muskelarbeit,    die    den 


ARTERIOSKLEROSE.  125 

venösen  Abfluss  sonst  unterstützt  —  und  der  arteriellen  Blutvertheilung  schliess- 
lich eine  dauernde  Belastung  des  Herzrens  darstellt,  die  Herzarbeit  dauernd 
steigert.  Die  sich  entwickelnde  Gefässüberfiillung,  Plethora  (ahdominalis)  wird 
durch  den  gleichzeitig  auftretenden  Fettansatz,  namentlich  im  Abdomen, 
noch  weiter  propagirt,  und  zwar  durch  die  Gefässcompression  in  den  Därmen 
durch  das  im  Bindegewebe  des  Mesenteriums  und  der  Nierenkapsel  sich  ein- 
lagernde Fett,  welcher  Umstand  eine  Verlangsamung  der  Blutströmung  in 
den  Darmgefässen,  die  in  weiterer  Folge  abnorme  Gasentwicklung,  Verdauungs- 
trägheit mit  Stuhlverhaltung  herbeiführt,  nach  sich  zieht.  Bei  mageren  Indi- 
viduen ist  es  die  in  Folge  des  betreffenden  Bewegungsausfalles  mangelnde 
Peristaltik,  die  zur  Strömungsretardation  und  consecutiver  Ueberfüllung  der 
Darmgefässe  (Hämorrhoiden  als  Vorläufer)  führt.  Die  Drucksteigerung  im 
Gefässsysteme  als  Folge  der  dauernd  gehäuften  Widerstände  stellt  noch  nicht 
das  letzte  Glied  in  der  Kette  der  Erklärungen  dar.  Die  allgemeine  Annahme 
geht  dahin,  dass  die  Gefässwand,  speciell  die  Gefässintima  durch  den  conti- 
nuirlichen  Druck  der  gesteigerten  Spannung  mechanisch  gereizt  wird  und 
die  Strömungsverlangsamung  zur  Adliärenz  weisser  Blutzellen  an  der  Gefäss- 
intima führt,  durch  welche  in  weiterer  Folge  Bindegewebsbildung,  Verkalkung 
oder  Verfettung  daselbst  bewirkt  wird.  Die  Wirkung  des  Alkohols  wird  in 
der  Weise  erklärt,  dass  derselbe  speciell  die  kleineren  Gefässe  zu  stärkerer 
Contraction  anregen  und  hiedurch  die  Herzaction  steigern  soll,  andererseits  ist 
die  Möglichkeit  einer  directen  chemischen  Wirkung  auf  die  Gefässintima  zuge- 
geben. Bei  Diabetikern  hat  man  ebenfalls  die  Möglichkeit  einer  chemischen 
Wirkungsweise  für  die  Entstehung  der  Arteriosklerose  in  Betracht  gezogen. 

Dass  auch  Baderien  unter  Umständen  auf  die  Innenwand  der  Gefässe 
derart  wirken  können,  dass  es  daselbst  zur  Entwicklung  des  genannten  Pro- 
cesses  kommt,  wird  als  sehr  wahrscheinlicli  hingestellt. 

Was  den  Zusammenhang  zwischen  Schrumpfniere  und  A.  betrifft,  so  ist 
es  bekannte  Thatsache,  dass  der  arteriosklerotische  Process  durch  Betheiligung 
der  Kierengefässe  zur  Schrumpfniere  führen  kann.  Andererseits  findet  man 
aber  bei  chronischer  Nephritis  und  genuiner  Schrumpfniere  oft  auch  Ver- 
änderungen an  den  Gelassen  (arterio  ccqnUanj  ßhrosis  der  englischen  Autoren) 
selbst  des  Herzens,  die  nach  übereinstimmender  Meinung  als  der  Ausdruck 
einer  allgemeinen  Endarteriitis  aufzufassen  sein  dürften.  Die  Untei'suchungen 
hierüber   sind  noch  nicht  geschlossen. 

Die  A.  kommt  vorwiegend  erst  nach  dem  50.  Lebensjahre  zur  Beob- 
achtung, doch  gehören  Fälle,  in  denen  das  Leiden  bald  nach  dem  30.  Jahre 
auftritt,  nicht  zu  den  seltensten  Erscheinungen.  Das  männliche  Geschlecht  ist, 
wie  dies  die  ätiologischen  Erörterungen  verstehen  lassen,  in  überwiegender 
Mehrzahl  von  dieser  Erkrankung  gegenüber  dem  weibliclien  betroffen. 

Die  ersten  Stadien  des  -sich  entwickelnden  arteriosklerotischen 
Processes  sind  einer  sicheren  Diagnose  nicht  zugänglich  und  auch  dann, 
wenn  die  Veränderungen  in  den  Gelassen  —  dies  gilt  vorwiegend  für  die 
allgemeine  Gefässsklerose  —  weiter  vorgeschritten  ist,  unterliegt  die* Er- 
kennung oft  den  grössten  Schwierigkeiten  und  ist  nur  vermuthungsweise  zu 
stellen,  da  sich  das  Krankheitsbild  (sei  es  nun  bei  der  allgemeinen,  sei  es 
bei  der  localisirten  Erkrankung  der  Gefässe)  oft  nur  aus  einigen  subjectiven 
Beschwerden  und  einzelnen  objectiven  Symptomen  zusammensetzt,  die  in 
ihrer  Gesammtheit  auch  anderen  Erkrankungen  zukommen. 

Wir  wollen  zunächst  die  diagnostisch  wichtigen  Symptome  der 
entwickelten  allgemeinen  A.,  wo  dieselbe  bereits  auch  kleine  Gefässe  ergriffen 
hat,  in  ihrer  Aufeinanderfolge  anzuführen  versuchen. 

Obwohl  der  Process  schon  längere  Zeit  bestehen  mag,  sind  subjectiv 
oft   keine   anhaltenden  wesentlichen  Beschwerden  vorhanden,   namentlich  so 


126  ARTERIOSKLEROSE. 

lange  der  Herzmuskel  genügend  ernährt  ist.  Die  Patienten  werden  durch 
Athemnoth  und  Beklemmungen  von  kurzer  Dauer,  und  zwar  meist  nach 
Muskelanstrengungen  oder  psychischen  Affecten,  die  vordem  ohne  JSTachtheil 
ertragen  wurden,  aufmerksam,  dass  ihr  Gesundheitszustand  eine  Störung  er- 
litten. Die  objective  Untersuchung  ergibt  einen  nur  wenig  von  der 
Norm  abweichenden  Befund,  da  die  bereits  entwickelte  Hypertrophie  des 
linken  Ventrikels  und  seine  erst  in  späteren  Stadien  des  Processes  wesent- 
liche Dilatation  durch  die  meist  gleichzeitig  vorhandene  Volumsvergrösserung 
der  Lunge  verdeckt  ist.  Als  wichtigstes,  weil  einziges  objectives,  für  die 
Diagnose  verwerthbares  Symptom  dient  die  Härte  des  regelmässigen  Radial- 
pulses, die  palpatorisch  auch  an  anderen  Gefässen  nicht  schwer  zu  erkennen 
ist.  Kommt  dazu  noch  der  fühlbar  oder  sichtbar  geschlängelte  Verlauf  der 
Arterie,  wie  dies  sehr  oft  an  den  Temporal-Arterien  zur  Erscheinung  kommt, 
so  ist  die  Erkenntnis  schon  leichter  geworden.  Der  auscultatorische  Befund 
am  Herzen  ist  in  Folge  der  Lungenveränderung,  die  die  Prüfung  des  Spitzen- 
und  des  Herzstosses  und  die  percutorische  Bestimmung  der  Herzgrösse  ver- 
eitelt, oft  undeutlich  oder  anscheinend  normal  und  dann  ist  am  Manubrium 
sterni  eine  Andeutung  der  Verstärkung  und  des  Klanges  der  Töne  zu  con- 
statiren.  Bei  Fehlen  der  Lungenblähung  ist  der  Klang  der  Herztöne  an  der 
Auscultationsstelle  der  grossen  Herzgefässe  oft  besonders  deutlich  und  für 
die  Diagnose  verwerthbar. 

Anfälle  von  carcUalem  Asthma  die  wohl  von  den  Angina  pectoris-Paro- 
xysmen  zu  trennen  sind  und  die  ein  Fortschreiten  des  Processes  resp.  die 
eintretende  Compensationsstörung  andeuten,  treten  allmälig  in  den  Vorder- 
grund der  Erscheinungen  und  werden  mit  der  Ausbreitung  der  Muskel  Ver- 
änderungen des  Herzens  häufiger  und  intensiver,  schliesslich  treten  auch 
Anfälle  von  Angina  pectoris  auf. 

Hat  man  durch  lange  Zeit  und  auch  in  dieser  Periode  der  fort- 
schreitenden Ausdehnung  des  Processes,  der  auch  das  Myocard 
in  Mitleidenschaft  gezogen,  den  Puls  dauernd  beobachtet,  so  fällt  nunmehr 
auf,  dass  seine  Härte  abgenommen  hat,  er  ist  jetzt  auch  frequenter  geworden. 
Es  stellt  sich  vorübergehend  Arythmie  ein,  die  im  weiteren  Verlaufe,  ent- 
sprechend den  Veränderungen  am  Myocard  selten  mehr  schwindet.  Wir  finden 
jetzt  auch  die  Dilatation  des  rechten  Ventrikels  entwickelt  und  die  hiedurch 
begünstigte  Stauung  im  Pulmonalkreislaufe  führt  zum  chronischen  Stauungs- 
katarrh der  Bronchien,  der  den  Patienten  mit  wechselnder  Intensität  bis  zum 
Lebensende  begleitet. 

Li  Folge  der  mehr  oder  minder  entwickelten  Herzschwäche  —  nach 
dem  degenei'ativen  Processe  am  Myocard  —  kommt  es  zu  Stauungserschei- 
nungen, Hydrothorax,  Leber-  undMilzintumescirung,  Oedem  der  Beine,  Ascites, 
die  sich  nur  selten  mehr  vollständig  bannen  lassen,  öfter  jedoch  noch  für 
kurze  Zeit  einen  geringen  Rückgang  zeigen  können.  Oft  bringt  ein  acutes 
Lungenödem  den  Kranken  dem  Exitus  nahe,  doch  kann  auch  diese  Erschei- 
nung nach  öfterem  Auftreten  wieder  zurückgehen.  Der  Exitus  in  Folge  von 
rasch  eintretender  Herzparalyse,  auch  manchmal  im  Angina  pectoris-Anfall 
ist  ein  häufiges  Vorkommnis  bei  diesem  Leiden.  Abweichend  von  dem  bisher 
geschilderten  Symptomen-Bilde  und  Verlaufe  gestalten  sich  die  Erscheinungen, 
wenn  es  sich  um  vorzugsweise  Localisation  der  Gefässsklerose  in  den  Coro- 
narien  handelt.  Bei  sehr  rapidem  Verlaufe  (mit  Exitus  nach  vorhergegan- 
gener Cyanose,  Dyspnoe  und  Collaps)  fehlt  'das  wichtige  Symptom  der  Puls- 
härte in  Folge  der  geringen  oder  noch  nicht  entwickelten  Hypertrophie  des 
linken  Ventrikels,  andererseits  findet  man  bei  rasch  eintretenden  Verände- 
rungen am  Herzmuskel  die  Dilatation  schon  in  relativ  kurzer  Zeit  ausgebildet 
und   nachweisbar.    In    beiden    Fällen   ist   meist    Angina   pectoris   vorhanden, 


ARTERIOSKLEROSE.  1 2  7 

wobei  nach  rasch  eintretendem  Coronar- Verschluss,  wie  erwälmt,  Exitus  b^ld 
und  plötzlich  einzutreten  pflegt. 

Bei  mehr  protrahirtem  Verlaufe  kommen  unter  Vorantritt  der  Anfälle 
von  Angina  pectoris  mehr  pulmonale  Symptome  zum  Vorschein. 

Bei  der  eben  angeführten  acuten  und  subacuten  Form  des  Verlaufes 
ist  die  Diagnose  meist  sehr  schwierig,  ja  oft  unmöglich  zustellen;  die  oft 
in  kurzer  Zeit  sich  entwickelnde  und  rasch  fortschreitende  Blässe  vermag 
die  Aufmerksamkeit  auf  die  Coronar-Arterien  zu  lenken. 

Ebenso  schwierig  ist  die  Diagnose  oft  auch  in  den  chronisch  verlaufenden 
Fällen  von  Coronar- Sklerose,  die  zu  mehr  oder  minder  schweren  Muskelver- 
änderungen geführt  hat,  da  in  solchen  Fällen  auch  wieder  der  Puls  keinen 
wesentlichen  Aufschluss  zu  geben  im  Stande  ist.  Die  hiebei  auftretenden 
Anfälle  von  Angina  pectoris  entscheiden  allerdings  für  die  Diagnose  der 
Arteriosklerose  der  Coronarien,  namentlich  da,  wo  gleichzeitig  Ohnmachts- 
anfälle und  Pulsretardation  —  Symptome  des  Fettherzens  —  vorkommen. 

Die  arteriosklerotische  Schrumpfniere  ist  diagnostisch  nicht  immer  sicher 
zu  stellen.  Ein  reichlich  gelassener  heller  Urin  mit  niedrigem  specifischen 
Gewichte,  massige  Eiweissmengen  und  Persistenz  dieser  Symptome  selbst 
dann,  wenn  Stauungserscheinungen  bestehen,  gestattet  bei  sonstigem  Nachweis 
von  arteriosklerotischen  Symptomen  das  Vorhandensein  der  Nierengefäss- 
sklerose  anzunehmen. 

Die  cerebralen  Erscheinungen  bei  A.  der  Hirnarterien  verlaufen 
theils  unter  dem  Bilde  der  Hirnhämorrhagie,  theils  unter  dem  der  Arterio- 
thrombose.  Die  erste  Afl'ection  ist  die  bei  jüngeren  Individuen  häufigere, 
während  bei  älteren  sowohl  die  Hirnblutung  als  die  Arteriothrombose  (mit 
oder  ohne  folgende  Erweichung  der  Hirnsubstanz)  vorzukommen  pflegt. 

Die  Prognose  der  A.  ist  für  so  lange  eine  relativ  günstige,  als  Zeichen 
einer  besonderen  Localisation  der  Gefässentartung  nicht  bestehen.  Sobald 
einmal  solche  Symptome  zur  Erscheinung  kommen,  namentlich  bezüglich  der 
Coronar-  und  Cerebral- Arterien  gestaltet  sich  die  Voraussicht  stets  schon 
bedenklich. 

Nachdem  die  Lebensweise  eine  grosse  Rolle  in  der  Aetiologie  der  Arterio- 
sklerose spielt,  so  ergeben  sich  die  therapeutischen  Massnahmen 
zum  Theil  von  selbst.  Bei  Individuen,  die  unter  Gewöhnung  an  opulente 
Mahlzeiten  zu  Fettansatz  neigen,  der  Bewegung  entbehren  und  dabei  an 
chronischer  Stuhlverhaltung  laboriren,  wird  vor  Allem  Regelung  der  Kost  in 
quantitativer  und  qualitativer  Beziehung,  Alkohol-Entziehung,  unter  Um- 
ständen Flüssigkeits- Entziehung  überhaupt  und  OERTEL'sches  Verfahren  gute 
Dienste  leisten. 

Dort,  wo  schon  Hypertrophie  des  1  i  n  k  e  n  Ve  n  t  r  i  k  e  1  s  besteht,  wird 
darnach  getrachtet  werden  müssen,  die  Widerstände  eventuell  durch  Bh/fent- 
ziekungen,  Darreichung  von  Laxantien  selbst  bis  zum  Eintritte  von  profusen 
Diarrhoen  und  OERTEL'sche  Behandlungsmethode  zu  verringern. 

Hier  darf  nicht  unerwähnt  bleiben,  dass  bei  Terraincuren  und"Körper- 
übungen  überhaupt  (Ergostat,  Z immer giimnastik)  eine  besondere  Vorsicht  am 
Platze  sein  soll,  um  nicht  das  Gegentheil  der  beabsichtigten  Wirkung  herbei- 
zuführen. Bei  eingetretener  Compensationsstörung  und  abnehmender  Herz- 
energie muss  durch  die  Herzmittel  {Digitalis,  Coffein  etc.)  auf  die  Anregung 
der  Herzthätigkeit  hingewirkt  werden, 

Roborirende  und  excitirende  Medication,  spärliche  Kost,  event.  Milch- 
diät sind  im  Stande,  befriedigende  Resultate  herbeizuführen. 

Bei  h  y  d  r  o  p  i  s  c h  e  n  E  r  s  c  h  e  i  n  u  n  g  e  n  können  Diuretin  ( 4-0 — ö'O  pro 
die)  mit  Digital is-lnhm  (0-5 — ]-0  pro  die)  und  auch  Calomel  (0-6  pro  die)  stets 
durch  mehrere  Tage  fortgesetzt,  für  längere  Zeit  wesentliche  Dienste  leisten. 


128  ATHETOSE  —  AUSCULTATION  DES  HERZENS. 

Bei  cardialera  Asthma  bringt  die  Combination  von  Digitalis  und 
Morj^Mum-lDJectionen  meist  Erleichterung,  auch  Hautreize  sind  hier  am  Platze. 

Bezüglich  der  Therapie  bei  Angina  ])ectoris  und  bei  den  cerebralen 
Begleiterscheinungen  wird  auf  die  betreffenden  Capitel  verwiesen. 

H.  V.  FRISCH. 

ÄthetOSe  (Hammoncrsche  Kranl'heif),  eine  eigenthümliche  Krampf- 
erscheinuug  der  Finger  oder  Zehen,  in  Form  von  Beugung,  Streckung,  Ab- 
und  Adduction  continuirlich  und  ohne  die  Möglichkeit  einer  Willeusb eein- 
flussung  auftretend.  Man  unterscheidet  eine  Hemiathetose  und  eine  bila- 
terale Athetose:  erstere  ist  viel  häufiger  und  gewöhnlich  nur  auf  die 
Finger  beschränkt. 

Die  Hemiathetose  zeigt  sich  gewöhnlich  im  Gefolge  einer  als 
Hemiplegie  auftretenden  cerebralen  Herderkrankung.  Somit  gehört  die 
Hemiathetose  zu  den  posthemiplegischen  Krampfzuständen  und  ist  insbe- 
sondere auch  klinisch  mit  der  posthemiplegischen  Hernie  ho  rea 
verwandt. 

Nach  Kahlee.  und  Pick  sind  alle  posthemiplegischen  Bewegungsstörun- 
gen durch  die  Laesion  jenes  P.yramidenfaserbündels,  das  zwischen  Thalamus  opticus 
und  hinterem  Ende  des  Nudeus  lenticularis  aufsteigt,  bedingt.  Die  Verschiedenheit  der 
bald  choreatischen,  bald  athetotischen  Bewegungen  wäre  auf  die  Art  der  Läsion  (Reizung, 
Unterbrechung.  Zerstörung  der  Bahn)  zu  beziehen.  Eine  Keihe  von  Sectionsbefanden 
ergab  in  der  That  „typische  Herde"  zwischen  Thalamus  opticus  und  Nucleus  lenticularis. 
Da  man  in  anderen  Fällen  keine  anatomische  Ursache  nachweisen  konnte,  so  war  man 
gezwungen,  von  einer  idiopathischen  Hemiathetose  zu  sprechen. 

Die  Hemiathetose  begleitet  einerseits  die  gewöhnlichen  Hemiplegien 
des  vorgerückten  Alters,  andererseits  ist  sie  ein  charakteristisches  Symptom 
der  als  cerebrale  Kinderlähmung  im  frühesten  Kiudesalter  auf- 
tretenden Polioencephalitis  acuta  (s.  d.). 

Die  bilaterale  Athetose  wird  immer  als  „idiopathisch"  bezeich- 
net, d.  h.  man  kennt  Ursache  und  Mechanismus  ihres  Entstehens  noch  viel 
weniger  als  die  der  Hemiathetose.  Eine  Erklärung  sucht  man  in  den  Worten 
„es  handle  sich  um  theils  cerebrale,  theils  spinale  Reizzustände  motorischer 
Faserzüge". 

Die  in  den  letzten  Jahren  publicirten  Fälle  von  bilateraler  Athetose  weisen 
darauf  hin,  dass  die  Hirnrinde  der  Entstehungsort  der  die  beiderseitige  A.  veranlassenden 
Krankheitsprocesse  sei.  Als  solche  supponirt  man  eine  chronisch  verlaufende  Entzündung 
mit  dem  Ausgang  in  Sklerose  (KorajS'yi.  Richaediere).  Für  diese  Auffassung  spricht 
der  von  Blocq  und  Blix  mitgetheilte  Fall,  bei  dem  auch  die  Gesichtsmuskeln  und  die 
Zunge  athetotische  Bewegungen  zeigte,  ferner  ein  Fall  Kkaft-Ebixg's,  der  mit  Hei'ab- 
setzung  der  motorischen  Kraft,  Steigerung  der  tiefen  Reflexe,  Kältegefühl  und  Sensibilitäts- 
ausfall einherging,  endlich  der  von  Kurella  veröffentlichte  Casus,  bei  dem  die  Section 
allgemeine  Hirnatrophie  mit  Pachymeningitis  ergab. 

Prognose.  Die  Athetose  ist  ein  unheilbares  Leiden  oder  prä- 
ciser  ausgedrückt,  ein  Symptom  unheilbarer  Leiden. 

Therapie.  Nach  Gowers  wären  absteigende  Ströme  zu  versuchen, 
GowERS  selbst  sah  eine-- Heilung.  Sonst  verwendet  mau  die  gewöhnlichen 
Nervina  (Bromkalium,  Arsen  u.  a.).  Hammond,  der  Entdecker  der  Athetose, 
berichtet  über  einen  günstigen  Erfolg  durch  Nervendehnung. 

Auscultation  des  Herzens  und  dar  grossen  Gefässe.  (Allge- 
meine Uebersicht.) 

Technik.  Die  Auscultation  des  Herzens  ist  fast  ausschliesslich  eine 
mittelbare,  instrumentelle  mit  Hilfe  des  Stethoscops.  Die  unmittelbare  An- 
legung des  Ohrs  kommt  wohl  kaum  in  Betracht,  da  die  Herzauscultation 
gerade  die  gesonderte  Beurtheilung  der  einzelnen,  auf  verhältnismässig 
engen  Piaum  zusammengedrängten  Töne  und  deren  Schallquellen  anstrebt  und 
diese   isolirt  und  möglichst   wenig  von  den  Nachbarn    beeintlusst  zur  Wahr- 


AUSCULTATION  DES  HERZENS.  129 

nehmung  bringen  will.  Die  unmittelbare  Auscultation  auf  Distanz  ergibt  sich 
von  selbst  in  den  Fällen,  wo  Herzgeräusche  schon  in  einiger  Entfernung  vom 
Thorax  gehört  werden.  Hier  kommen  vor  Allem  in  Betracht:  das  systolische 
Geräusch  bei  Aorten  Stenose,  Geräusche  bei  Pneumopericardium,  namentlich 
wenn  gleichzeitige  Anwesenheit  von  Flüssigkeit  metallisches,  von  der  Herz- 
action  abhängiges  Plätschern  bedingt,  ferner  auch  die  (musikalischen)  Ge- 
räusche, die  bei  relativer  Insufficienz  der  Aortenklappen  von  den  (noch) 
schwingungsfähigen  Klappen  erzeugt  werden.  Diese  Auscultation  par  distance 
wird  selbstverständlich  immer  durch  genaue  Stethoscopirung  ergänzt  werden 
müssen.  Uebrigens  hört  man  öfters,  als  allgemein  bekannt  sein  dürfte,  mit 
dem  der  Brustwand  genäherten  Ohr  die  Herztöne  oder  wenigstens  einzelne 
derselben,  auch  in  Fällen,  wo  gerade  keine  besonderen  Anomalien  im  Sinne 
einer  auffallenden  Verstärkung  vorliegen.  Für  Fälle,  in  welchen  ein  den 
Ton  verdeckendes  Geräusch  vorhanden,  erweist  sich  zuweilen  Kantenstellung 
des  Stethoscops  nützlich,  das  Geräusch  wird  dabei  ceteris  paribus  stärker 
abgeschwächt  gehört,  als  der  Ton. 

Inst rumen teile s.  Das  zur  Herzauscultation  benutzte  (einfache) 
Stethoscop  hat  seit  Laennec's  Zeiten  allerlei  Wandlungen  seiner  Gestalt 
nach  Form  und  Grösse  durchgemacht;  auch  das  Material,  aus  dem  es  her- 
gestellt wurde,  hat  oft  gewechselt,  obwohl  ein  Grund  kaum  vorliegt,  von  den 
leicht  zu  bearbeitenden  Holzarten  (Kirschbaum,  Tanne,  Zwetschge)  abzugehen 
und  sie  durch  Metallbleche,  Celluloid,  Hartgummi,  Elfenbein  zu  ersetzen. 
Bei  keiner  Untersuchungsmethode  scheint  aber  die  Form  des  Instruments  so 
unwesentlich,  wie  bei  der  Stethoscopirung.  Speciell  ist  es  eine  Illusion,  durch 
irgendwie  gestaltete  Trichter  am  Ohrende  die  (primären)  Töne  vor  ihrem 
Eintritt  ins  Ohr  in  merkbarer  Weise  verstärken  zu  wollen ;  auch  ist  es  bei 
der  Mannigfaltigkeit  der  Auscultationsphänomene  von  vornherein  einseitig, 
mit  einem  Ansatz  von  bestimmter  Grösse  eben  nur  Töne  und  Geräusche 
gewisser  Qualität  und  Höhenlage  resonatorisch  zu  verstärken.  Mir  erscheint 
die  „physikalisch  unbegreifliche  Ohrplatte"  insofern  von  Nutzen,  als  sie,  ganz 
leicht  vertieft,  dem  aufliegenden  Ohr  einen  gewissen  Halt  gewährt  und  ein 
leichtes  Balanciren  des  Instruments  zwischen  Ohr  und  Brustwand  gestattet, 
wenn  z.  B.  starke  Herzaction  das  Stethoscop  hin  und  her  bewegt,  systolisch 
hebt,  während  der  Untersuchende  diastolisch  wieder  nachzugeben  hat.  Ob 
man  das  Instrument  so  lang  machen  soll,  wie  Laennec  und  Skoda  oder 
so  kurz,  wie  man  neuerdings  an  Miniaturausgaben  von  Stethoscopen  gelegent- 
lich sieht,  ist  Geschmackssache.  Ich  komme  aus  mit  einem  Instrument  von 
18  cm  Länge,  das  mir  nur  ausnahmsweise  zu  kurz  erscheint,  wenn  man  bei 
Piückenlage  des  Kranken  in  der  Seitenwand  des  Thorax  auscultiren  muss  und 
mit  dem  Bett  unter  Umständen  in  zu  nahe  Berührung  kommt.  Von  schall- 
verstärkenden Doppelstethoscopen  habe  ich  auch  bei  experimenteller  Prüfung 
(vergl.  meine  Schrift :  Messung  der  Intensität  der  Herztöne  pag.  35) 
besondere  Vortheile  nicht  ermitteln  können,  für  die  Diagnostik  vermögen 
sie  nichts  Wesentliches  zu  leisten,  vor  Allem  deshalb,  weil  Geräusche,  die 
erst  auf  solchen  Umwegen  zur  Wahrnehmung  gebracht  werden  können,  in 
praxi  im  Allgemeinen  vernachlässigt  werden  dürfen,  umso  mehr  als  sie 
möglicherweise  Artefacte  darstellen. 

Die  einzelnen  Auscultation sstellen.  Man  hat  für  die  Klappen 
den  vier  Herzostien  entsprechende  Stellen  an  der  Vorderwand  ties  Thorax 
fixirt,  an  deren  Wahl  Theorie  und  Praxis  gleichen  Antheil  genommen  haben. 
Für  die  Mitralklappe  gilt  die  jeweilige  Stelle  des  Herzstosses  unter  der 
Voraussetzung,  dass  hier  das  an  die  Brustwand  anschlagende  Herz,  unter 
normalen  Verhältnissen  von  Lunge  nicht  bedeckt,  den  Schall  direct  durch 
die  Brustwand  leite.    Diese  Voraussetzung  trifft  zwar  für  viele,  durchaus  aber 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  T.  Interne  ATedioin  und  Kinderkrankheiten.  9 


130  AUSCULTATIÜN  DES  HERZENS. 

nicht  für  alle  Fälle  zn.  Die  Berühruntz  während  des  Herzstosses  ist  ohnedies 
nur  eine  vorübergehende;  bei  der  Beweglichkeit  des  Herzens,  zumal  in 
Rückenlage  des  zu  Untersuchenden,  kann  dasselbe  von  der  Thoraxwand  ab- 
sinken;  jedenfalls  hört  man,  auch  ohne  dass  stärkeres  Emphysem  der  Lunge 
vorhanden  ist,  namentlich  systolische  Töne  und  schwächere  Geräusche  öfters 
nicht  an  der  Stelle  des  Herzstosses  am  deutlichsten,  sondern  weiter  entfernt, 
im  Aortenwege  näher  der  Herzbasis  und  dem  linken  Sternalrand.  Die  Tri- 
cuspidalklappe  wird  auscultirt  in  der  Höhe  des  V.  und  VI.  rechten 
Rippenknorpels  und  auf  dem  anliegenden  Sternaltheil,  so  ziemlich  der  ana- 
tomischen Lage  entsprechend,  was  auch  für  die  Auscultationsstelle  der  Pul- 
monalarterien  klappen  im  Sternalende  des  IL  linken  Intercostalraums 
gilt;  sie  befinden  sich,  in  ihrer  Lage  übrigens  etwas  wechselnd,  ein  wenig 
weiter  abwärts  hinter  dem  Sternalansatz  des  3.  linken  Rippenknorpels  ziem- 
lich nahe  der  Oberfläche.  Die  symm.etrisch  zu  den  Pulmonalklappen  im  IL 
rechten  Intercostalraum  zu  auscultirenden  Aortenklappen  liegen  von 
ihrer  Auscultationsstelle  mehr  als  die  anderen  Klappen  ab,  hinter  dem  Sternum 
nach  rechts  hinten  unten  von  den  Pulmonalklappen ;  die  Entfernung  der 
Aortenklappen  von  ihrer  Auscultationsstelle  dürfte  ungefährer  Berechnung 
nach  im  Erwachsenen  mindestens  8  cm  betragen. 

Intensität  der  ausculta torischen  Zeichen.  Ueber  die  wahre 
Intensität  pflegt  man  sich  kaum  genauere  Rechenschaft  zu  geben,  man  be- 
gnügt sich  mit  allgemeinen  Bezeichnungen,  die  das  Mehr  oder  Weniger  der 
Stärke  oder  die  Verschiedenheit  zweier  unter  sich  zu  vergleichender  Töne 
zum  Ausdruck  bringen  sollen.  Das  Ohr  hat  für  das  Ausmass  des  Schalles 
selbst  nach  einfachsten  Reciprocitätsverhältnissen  keine  Befähigung  und  nur 
auf  Umwegen  konnte  H.  Vieeordt  feststellen,  dass  unter  normalen  Verhält- 
nissen der  Herzton  über  der  Herzspitze  reichlich  3mal  so  stark  ist,  als  der 
schwächste,  der  erste  Ton  über  der  Aorta.  Nicht  zufällig  dürfte  es  sein, 
dass  in  dem  System  der  Herzfehler  (s.  u.)  über  die  Stärke  des  ersten  Tons 
von  Aorta  und  Art.  pulmonalis  nichts  verlautet;  sie  sind  die  überhaupt 
schwächsten  der  acht  Töne,  ihre  Abstufungen  sind  demnach  minder  auffallend 
und  verwerthbar.  Ein  als  „sehr  laut"  (bei  einem  sonst  Gesunden)  imponirender 
erster  Aortenton  wurde  von  mir  blos  rund  -jg  der  durchschnittlichen  Intensität 
des  I.  Mitraltons  gefunden.  Verbreitet  ist  die  Annahme,  die  zweiten  Töne 
über  Aorta  und  der  seit  Skoda's  Zeiten  auch  diagnostisch  verwerthete  zweite 
Pulmonalton  seien  ungefähr  gleich  stark  oder  eher  der  Aortenton  der  stärkere 
wegen  des  unter  grösserem  Druck  erfolgenden  Klappenschlusses.  Dem  ist 
nicht  so  und  aus  dem  vorhin  über  die  Lage  der  Klappen  Auseinanderge- 
setzten wohl  begreiflich.  Der  Pulmonalton  ist  durchschnittlich  der  stärkere, 
im  Verhältnis  6:5.  Wo  die  „Accentuirung"  des  zweiten  Pulmonaltons  in 
Betracht  kommt,  ist  die  objective  Stärke  des  gerne  zum  Vergleich  herange- 
zogenen zweiten  Aortentons  zu  berücksichtigen ;  ist  dieser,  wie  es  öfters  der 
Fall,  verhältnismässig  sclxwach,  so  erscheint  nicht  selten  der  andere  bei  einer 
unter  dem  Normalen  liegenden  Intensität  relativ  stark.  Von  den  gewöhnlichen 
Herzgeräuschen  ist  zu  sagen,  dass  die  laut  blasenden,  wie  sie  beispielsweise 
systolisch  bei  ausgesprochener  Mitralinsufficienz  vorkommen,  an  Intensität 
den  ersten  Mitralton  allerdings  übertreffen  können,  dass  aber  oft  die  wahre 
objectiv  gemessene  Intensität  dem  acustischen  Eindruck  nicht  entspricht  und 
beträchtlich  unter  ihr  liegt.  Die  weicheren  Geräusche,  wie  sie  gewöhnlich 
die  Insuö'icienz  der  Aortenklappen,  oft  neben  dem  Ton  und  diesem  sich  an- 
hängend, begleiten,  sind  viel  schwächer,  oft  kaum  die  Hälfte  der  Stärke 
eines  ersten  durchschnittlichen  Mitraltons  zeigend. 

Zu  beachten   ist  der  Wechsel   in  der  Intensität   der  Geräusche. 
Bekannt  ist  das  Manöver,  zweifelhafte  oder  .sehr  leise  Geräusche  durch  Agi- 


AUSCULTATION  DES  HERZENS.  131 

tation  des  Kranken,  Gehen  desselben,  Bewegungen  der  Arme  und  des  Üurapfes 
deutlicher  zu  machen.  Es  lässt  sich  der  häufig  nicht  genügend  berücksichtigte 
Einfluss  der  Körperstellung  dahin  präcisiren,  dass  im  Allgemeinen  die  sitzende 
und  vollends  die  liegende  Haltung,  gegenüber  der  stehenden,  Töne  und  Ge- 
räusche zumeist  unter  Verlangsamung  der  Pulsfrequenz  verstärkt.  Besonders 
soll  dies  hervortreten  an  der  neuerdings  empfohlenen  (Azoulay)  aber  wohl 
nur  in  beschränkterem  Masse  anwendbaren  „Position  relevee",  wobei  der 
Rumpf  horizontal  liegt,  das  Kinn  der  Brust  genähert  ist.  Arme  vertical  er- 
hoben, ebenso  die  Unterextremitäten  elevirt  oder  wenigstens  die  Fersen  zum 
Becken  heraufgezogen  werden.  Diese  Stellung  soll  die  gewöhnlichen  (Klappen-) 
Herzgeräusche  auf  das  Maximum  der  Intensität  bringen,  während  z.  B,  bei 
chronischer  Myocarditis  ein  nennenswerther  Einfluss  nicht  bemerkt  werden 
soll.  Die  eigentlich  pericardialen  Geräusche  pflegen  ohnedies  bei  aufrechter 
und  leicht  vornübergebeugter  Stellung  am  deutlichsten  zu  sein.  Auch  für 
beginnende  Aortenklappeninsufficienz  gibt  Gerhardt  an,  dass  sie  Ge- 
räusche im  Stehen  liefern  könne,  die  im  Liegen  fehlen,  während  es  bei  be- 
ginnender Mitralisinsuß'icienz  sich  umgekehrt  verhält. 

A  e  n  d  e  r  u  n  g  e  n  i  m  R  h  y  t  h  m  u  s.  Man  pflegt  den  Rhythmus  über  den 
Ventrikeln  als  einen  trochäischen,  den  über  den  grossen  Gefässen  als  jam- 
bischen zu  bezeichnen,  wobei  aber  mehr  der  Accent,  als  die  Quantität  der 
Silben  in  Betracht  kommt.  Im  Uebrigen  nimmt  man  unter  „normalen"  Ver- 
hältnissen den  Gesammtrhythmus  als  einen  durchaus  gleichmässigen  an,  was 
streng  genommen,  nicht  gilt.  In  einer  Folge  von  Herzschlägen  können  die 
Dauern  derselben  in  den  einzelnen  Individuen  um  Bruchtheile  von  Secunden 
schwanken:  so  sind  0'13  bis  zu  0  19  Secunden  beobachtet  an  gesunden  In- 
dividuen, Unterschiede,  die  ein  geübtes  Ohr  recht  wohl  wahrzunehmen,  wenn 
iuch  nicht  gerade  zu  taxiren  im  Stande  ist.  Es  scheint  demnach  verfehlt, 
zumal  in  pathologischen  Fällen,  unter  Zugrundelegung  eines  fixen  Rhythmus 
jedesmal  den  Entscheid  über  die  Zeitphase,  in  welche  ein  etwaiges  Geräusch 
fällt,  treflen  zu  wollen.  Als  Galopprhythmus  ist  von  Potain  ein  nicht  selten 
zu  beobachtender  Dreitact  beschrieben  von  anapästischem  Rhythmus  (-  — -) 
mit  einem  angehängten  dritten  Ton,  Er  hat  sich  als  Signum  pathognomonicum 
für  gewisse  Niereiiafiectionen  nicht  bewährt,  indem  er  auch  bei  allerlei  mit 
Herzschwäche  einhergehenden  Krankheiten  vork(jmmt.  Einen  gewissen  typischen 
Rhythmus  stellt  der  für  reme  Mitralste?wse  höchst  charakteristische  prä- 
systolische Rhythmus  dar,  ein  als  mehr  oder  minder  stark  ausgeprägter, 
das  diastolische  Geräusch  abschliessender  oder  dieses  ersetzender  Vorschlag  der 
eigentlichen  Kammersystole.  Dieses  der  Vorhofscontractioa  entsprechende  Ge- 
räusch ist  im  Allgemeinen  umso  ausgesprochener,  je  frequenter  die  Herzaction 
und  je  kürzer  die  (grosse)  Pause  ist.  Eine  besondere  Abtrennung  noch  anderer 
Geräusche,  z,  B.  der  in  die  sogenannte  kleine  Pause  lallenden  „perisysto- 
lischen"   und  ähnliche  dürfte  für  gewöhnlich  entbehrt   werden  können. 

Beiden  endocardia  1  en  Geräuschen  ist  innerhalb  der  Herzrevolution 
<äie  Einstellung  derselben  in  bestimmte  Phasen  derselben  eine  für  die  Dia- 
gnostik ganz  wesentliche  Sache.  So  leicht  nun,  selbst  w^jin  die  Geräusche 
leise  sind,  bei  langsamer  und  regelmässiger  Herzaction  die  Beurtheilung  der 
Sachlage  zu  sein  pflegt,  so  gross  können  die  Schwierigkeiten  werden  bei 
frequenterem  Puls  (100  und  mehr)  und  unruhigem  Gang  der  Herzaction.  Es 
^ind  dies  Punkte,  die  nicht  immer  genugsam  gewürdigt  werden  und  auch 
geübte  Auscultatoren  lassen  sich  in  complicirten  Fällen  oft  mehr  vom  Gefühl 
und  gewissen  acustischen  Erinnerungsbildern  leiten,  als  von  ojectiver  Er- 
fassung der  augenblicklich  sich  bietenden  Erscheinungen.  Bei  Markirung  der 
Systole  fehlt  oft  genug,  gerade  in  den  schwierigeren  Fällen,  ein  distincter 
Spitzenstoss   oder   ein   gut   fühlbarer   Carotispuls   und  im  Besonderen  ist  es 

.    •  9* 


132 


AUSCULTATION 


Mitralis 

Ostimn   venosum  sin. 


Aortenklappen 

Osfiiini   arteriosum  sin. 


Insufficienz 


Stenose 


Insufficienz 


Stenose 


Herzstoss 


rerstärkt  und    ver- 
breitert, nach 

aussen  verlagert, 

weniger  nach 

imten 


1         T-      IX.  i     ^  i    n    1    ■,       T         T !  schwach  his  feh- 
schwach seihst    ::stark,  hebend,  nach,  le^d    ^^nig  nach 
fehlend,  nach       abwärts   verlagert, j^ij^gj^ig    verlagert 
aussen  verlagert.  \      weniger  nach      '^^^  weniger  nach 
kaum  nach  unten  .  aussen  anaaon 


Dämpfung 


Dämpfung  hauptsächlich  vergrössert 
jin  der  Breite  und  nach  rechts,  nach  links 
oben  durch  VergTösserung  d.  1.  Vorhofs 
auch  nach  unten  bei' 
[stärkerer  Hypertro-, 
phie  d.  1.  Ventrikelsj 


hauptsächlich  ver-Uässig  vergrössert 
grossert  in  der  i3esonders  in  die 
Lange,  oft  sehr    1  Länge 

bedeutend        \ 

i 


Geräusch 


systolisch 


diastolisch,  resp. 
präsystolisch 


diastolisch 


systolisch 


I.  Mitralton 


2.  Ton  a.  d.  Herz- 
spitze 


I.  Aortenton 


Geräusch 


verstärkt 


"  sehwach  bis  feh- 
■   lend  (auch  wohl 
]  accidentelles  Ge- 
räusch) 


Geräiisch  (oder 
auch  blos  Spal- 
tung) 


zuweilen  Geräusch 
[wegen  irregulärer 
Wandspannung  ?] 


Geräusch 


2.  Aortenton 


schwach 


schwach 


Geräusch 


schwach  bis  un- 
hörbar 


I.  Pulmonalton 


'[zuweilen  a.d.l.Ven-i 
itrikel  in  den  1.  Vor-: 
hof  fortgeleitetes 
Geräusch,  das  sich: 
Inach  den  Gefässen 
fortpflanzt] 


2.  Pulmonalton 


accentuirt 


accentuirt,  nicht 
selten  gespalten 


Radialpuls 


Halsgefässe 


ziemlich  kräftig, 
im  ganzen  regel- 
mässig 


durchschnittlich 

;  kleiner  u.  arhyth- 

l  mischer  als  bei  der 

Insufficienz 


celer  et  magnus,   j-iein,  hart,  oft  we- 
öfters  mit  dem  Ste-i       ^^j^  frequent 
thoskop  hörbar    ' 


Ton  d.  Carotis  i 

stark    oder    mitll.  Ton  der  Carotis 
Geräusch  !     mit  Geräusch 

Ton  fehlend  oder|2.  Ton  fehlend 
mit  Geräusch      , 


Periphere  Gefässe 


zuweilen  Doppel- 
ten an  Cruralis 


Doppelton  u.  Dop- 
pelgeräusch an  der 
Cruralis,  häufig  Ca- 
pillarpuls  an  den 
Fingernägeln 


Bemerkungen 


Hypertrophie  des  bei  reinen  Fällen  ; 

linken  Ventrikels  concentrische  Atro 

oft  massig  ent-        phie  des  linken 

wickelt  Ventrikels 


DES  HERZENS. 


133 


f                 ! 

Tricuspidalis  '       Pulmonalarterien- 

klappen 

Ostium    venös  dextr:         ^  ,.            ^     .             ,     ^ 
üstiHin  artenosum  dextr. 

Aneurysma 
aortae 

(relative}  Insufficienz            Insufficienz                    Stenose 

ascendentis         i            arcus 

i 

verbreitert  nach 
rechts 

! 

eher  abgeschwächl 
jalsverstärkt,  diffuse 
Erschütterung-    der 
Praecordialgegend 

t 

1 

;                           verstärkt, 

1                 nach  unten  verlagert 

vergi-össert  nach  rechts 
und  oben  rechts  (ent- 
sprechend dem  r.  Vor- 
hof) 

■  verbreitert  nach 
rechts  hin 

begrenzte  Däm- 
pfung rechts  vom 
Sternum,  resp. 
pulsirende  Ge- 
schwulst 

Pulsation  fühlbar 
im  Jugulum  und 
(niitgetheilt)  am 
Kehlkopf  bei  ge- 
strecktem Hals 

systolisch  (auf  dem 
Stemum  neben  5.  rech- 
tem Eippenknorpel) 

diastolisch                  systolisch 

nicht  nach  den  Halsgefässen  sich  fort- 
pflanzend 

1 

nicht  typisch 
(s.  u.) 

• 

event.  linksseitige 

Stimmbandläh- 
mung (N.  recurrens) 

Ton  oder  Ge- 
räusch 

Ton  oder  Ge- 
räusch 

[zuweilen  Geräusch 
im  erweiterten 

Gefäss] 

Geräusch 

schwach 

Geräusch  meist 

tiefer  und  rauher 

als  bei  Lisuff. 

aortae 

schwach  bis  feh- 
lend 

(klein) 

(durch  Capillarpuls 

der  Pulmonal- 

arterie  ?) 

unterbrochenes  Ve- 
siculärathmen 

i 
klein 

Ungleichheit  der 
Grösse  auf  beiden 
Seiten  und  Verspä- 
tung für  die  eine 

Halsvenenpuls  (systo- 
lisch), meist  2Geräusche 

*!* 

Lebervenenpuls  mit    i 
Zunahme  des  Volumens 
der  Leber 

kein  diastolisches 

Geräusch  in  der 

Aorta    abdominalis 

'wie  bei  Insufific. 

valv.  aortae 

1 

liäufig  mit  offenem 
Foramenovale  auch 

mit  Insufficienz 

der  Aortenklappen 

combinirt 

meist  angeboren 

und  mit  anderen   1 

Anomalien  des 

äerzens  verbunden 

(angeb.  Cyanose) 

134  AUSCÜLTATION  DEK  LUNGEN. 

neben  starkem  systolischen  Geräusch  oft  schwer  zu  entscheiden,  ob  ein  etwa 
als  Diastole  anzusprechender  Zeitabschnitt  rein  oder  von  leisem  Geräusch 
begleitet  ist.  Die  in  ihren  Resultaten  freilich  einigerraassen  schwankenden 
Untersuchungen  haben  etwa  ergeben,  dass  unter  normalen  Verhältnissen  bei 
geringerer  Pulsfrequenz  (60)  ca.  30  Proc,  bei  grösserer  (100)  43  Proc.  der 
ganzen  Herzrevolution  auf  die  Systole  kommen,  dass  aber  die  eigentliche 
Diastole  bei  seltenem  Puls  Vi—Vs^  durchschnittlich  etwa  V2  und  bei  höherer 
Frequenz  immerhin  noch  Vg  Secunde  Zeit  beansprucht.  Auch  diesen  Um- 
ständen dürfte  mehr,  als  es  gewöhnlich  geschieht,  Rechnung  zu  tragen  sein ; 
die  einzelnen  Phasen  der  Herzrevolution  ändern  sich  mit  der  Pulsfrequenz 
in  verschiedener  Weise.  Es  gibt  also  auch  nach  dieser  Seite  hin  keinen 
fixen,  durchwegs  anwendbaren  Rhythmus.  Gerade  die  Ventrikeldiastole  wird 
weniger  bei  der  Auscultation  der  Aorta  und  Pulmonalis,  wo  der  beginnende 
Klappenschluss  deutlich  markirend  eintritt,  als  bei  der  Mitralis  von  Unge- 
übten leicht  zu  kurz  angesetzt,  umso  mehr,  als  die  (Prä-)  Systole  des  Vor- 
hofs, wenn  sie  nicht  gut  ausgeprägt  ist,  mit  der  Ventrikelsystole  zusammen- 
genommen wird  beim  Vorhandensein  lauter  Geräusche.  Ein  geübtes  Ohr 
wird  aber  oft  noch  in  einem  scheinbar  gleichmässig  sich  hinziehenden  Geräusch 
Hebungen  und  Senkungen  und  damit  mehr  oder  minder  typische  Merkzeichen 
verschiedener  Herzphasen  wahrnehmen  können,  bei  sehr  lauten  Geräuschen  be- 
sonders dann,  wenn  man  die  Auscultation  nicht  auf  die  Punkte  der  stärksten 
Intensität  beschränkt,  sondern  auch  in  der  Nachbarschaft  übt,  wo  der  domini- 
rende  und  nicht  selten  störende  Eindruck  des  lauten  Geräusches  mehr  zurücktritt. 
Unter  Verzicht  auf  eine  genauere  Darlegung  der  sogenannten  accidentellen 
(anämischen)  Geräusche,  die  nur  einen  begrenzten  diagnostischen  Werth  haben, 
ist  in  der  pag.  132  und  133  dargestellten  Tabelle  eine  hauptsächlich  die  Aus- 
cultation berücksichtigende  schematische  Charakteristik  der  wich- 
tigsten Herz  (klappen)  fehler  gegeben,  wobei  dieselben  isolirt,  nicht  mit 
anderen  complicirt  gedacht  sind,  was  häufig  genug  nicht  der  Fall  ist.  So 
kommt  beispielsweise  Aortenstenose  meist  mit  Insufficienz  der  Klappen, 
Stenose  der  Mitralis  oft  mit  Insufficienz  derselben  vor.  Die  Stenose  des  rechten 
venösen  Ostiums,  als  ein  für  sich  allein  nicht  vorkommender,  zudem  überaus 
seltener  Klappenfehler  ist  w^eggelassen.  h.  vlerordt. 

Auscultation  der  Lungen.  Man  auscultirt  die  Lungen  am  zweck- 
mässigsten  direct,  ohne  Stethoscop.  Nur  an  bestimmten  Stellen  muss  ein 
Stethoscop  (vergl.  den  Artikel :  Instrumente  zur  klinisch  -  diagnostischen 
tJntersuchung)  angewendet  werden.  Solche  Stellen  sind :  der  Supra-  und  minde- 
stens der  äussere  Winkel  des  Lifraclavicidar-Rsiumes,  der  A.riUarraum,  even- 
tuell auch  der  Lanjnx  und  die  Trachea.  Bei  Schwerkranken  muss  das  fle- 
xible Stethoscop  zur  Anwendung  kommen,  wenn  man  sie  überhaupt  auscultiren 
kann.  Die  zu  auscultirende  Stelle  muss  nicht  vollständig  entblösst  sein.  Ein  bis 
zwei  Lagen  nicht  zu  dickes,  nicht  steifes  Gewebe  —  Leinwand,  Flanell  etc. 
—  ändern  bei  directem  Auscultiren  die  hörbaren  Phänomene  nicht  wesentlich. 
Beim  gesunden  Menschen  hört  man  an  der  ganzen  Thoraxoberfläche  mit 
Ausnahme  des  kleinen  Raumes  der  totalen  Herzdämpfung  ein  Inspirations- 
und ein  Exspirationsgeräusch.  Letzteres  kann  stellenweise  ganz  fehlen.  Spricht 
der  zu  Untersuchende  während  des  Auscultirens,  so  hört  man  auch  die 
Sprechstimme  mehr  weniger  abgeändert  durch  Alle  diese  hörbaren  Erschei- 
nungen können  als  diagnostische  Behelfe  dienen. 

I.  Respirationsgeräusche. 

Das  Inspirationsgeräusch  ist  entweder vesiculär  (schlürfend)  oder 
unbestimmt.  Typisch  vesiculär  nur  bei  Kindern  in  den  ersten  Lebensjahren. 


AUSCULTATION  DER  LUNGEN.  135 

Bei  Erwachsenen  um  so  weniger  vesiculär,  je  kräftiger  der  Thorax  und  die 
Musculatur  entwickelt  sind,  je  älter  das  Individuum  und  je  ruhiger  die  In- 
spirationsbewegung ist.  Man  kann  sonach  sagen,  dass  beider  Mehrzahl 
erwachsener,  gesunde i'  Menschen  das  Inspirationsgeräusch 
unbestimmt  ist.  Das  Exspirationsgeräusch  besteht  aus  einem  kurzen, 
meist  auch  schwachen  Hauchen,  das  bei  Erwachsenen  nach  abwärts  noch 
schwächer  wiid,  wohl  auch  ganz  fehlt.  Am  Larynx  und  an  der  Trachea  hört 
man  sowohl  beim  In-  als  beim  Exspirium  ein  fast  gleiches,  reines,  etwas  scharfes 
,^h" förmiges  Bronchialathmen. 

In  Folge  von  Erkrankungen  der  Bronchien,  Bronchiolen,  Lungenalveolen, 
sowie  der  äusseren  Umgebung  der  Lungen  erleiden  die  Respirationsgeräusche 
mannigfache  Abänderungen. 

Man  hört  bei  Erkrankungen  1.  die  normalen  Respirationsgeräusche 
mehr  w^eniger  auffällig  abgeändert,  2,  ganz  neue  Schallphänoraene,  die  im 
normalen  Zustande  gar  kein  Analogon  finden. 

Schon  das  normale  vesiculär e  oder  unbestimmte  Inspirations- 
geräusch zeigt  verschiedene  Höhe,  Localisirliarkeit,  Grösse  und  Sonorität. 
Am  häufigsten  wird  nun  die  Sonorität  auffällig  abgeändert.  Uebermässig 
sonore  Geräusche  heissen,  wenn  sie  gut  localisirbar,  auf  grosse  (weite)  Räume 
beziehbar  und  tief  sind:  rauh  bei  geringem  und  „schnurrend"  bei  hohem 
Sonoritätsgrade.  Sind  sie  auf  kleine  (enge)  Räume  beziehbar  und  hoch,  so 
heissen  sie  ebenfalls  nach  dem  Sonoritätsgrade  scharf  und  zischend. 
Die  Sonorität  kann  aber  auch  abnorm  ansteigen  bei  verminderter  Localisir- 
barkeit,  d.  h.  man  kann  das  Geräusch  weder  auf  eine  Fläche  noch  auf 
einen  sonst  begrenzten  Raum  beziehen,  dann  erscheinen  sie  einfach  sehr  laut, 
gross,  aber  weder  rauh  noch  scharf;  sie  stellen  die  Uebergänge  zu  verschie- 
denen Bronchialgeräuschen  dar.  Zwischen  den  normalen  Geräuschen  und  den 
extremen  Graden  der  genannten  Anomalien  gibt  es  alle  möglichen  Zwischen- 
stufen ;  je  näher  diese  den  extremen  Graden  stehen,  um  so  sicherer  ist  ihre 
diagnostische  Bedeutung.  Massige  Grade  werden  nur  dann  zur  Diagnose 
herangezogen  werden  können,  wenn  sie  durch  längere  Zeit  constant  und  nur 
an  einzelnen  Thoraxstellen  gehört  werden,  so  dass  von  zwei  congruenten 
Stellen  beider  Thoraxhälften  nur  die  eine  die  acustische  Anomalie  aufweist. 

Die  diagnostische  Bedeutung  aller  dieser  Anomalien  ist :  massige 
Verengerung  der  Luftwege  durch  zähes,  der  Schleimhaut  in  dünner  Lage 
aufliegendes  Secret,  durch  Schwellung,  Faltenbildung  der  Schleimhaut,  durch 
massige  Compression  der  Luftwege  an  umschriebenen  Stellen  durch  peribron- 
chitische  Infiltrate,  Tumoren  aller  Art.  Das  Schnurren  wird  auf  grosse,  das 
hohe  scharfe  Geräusch  auf  kleinere  Bronchiolen  zu  beziehen  sein. 

Die  Diagnose  wird  sonach  immef  auf  Bronchialkatarrh  oder  Bronchitis 
mit  wenig  Secret  zu  lauten  haben.  Ob  primärer  oder  secundärer  muss  durch 
andere  Symptome  angedeutet  sein. 

Das  sehr  laute,  grosse,  weder  rauhe  noch  scharfe,  nicht  localisirbare 
Inspirationsgeräusch  deutet  auf  Erschlaffung  sowohl  des  Lungenparenchyms 
als  der  Bronchialwandungen  hin,  wie  solche  in  erster  Linie  allerdings  bei 
allen  localen  Erkrankungen  des  Respirationsapparates  sich  vorfinden,  besonders 
aber,  wenn  selbe  combinirt  sind  mit  mangelhafter  Ernährung,  im  Allgemeinen 
bei  Anämien,  Reconvalescenz  oder  mindestens  späteren  Stadien  schwerer 
Krankheiten  (Typhus,  chron.  Eiterungsprocesse,  Tuberculose  etc.),  bei  massigen 
pleuritischen,  grossen  pericardialen  Exsudaten.  Ein  massig  lautes,  mittel- 
hohes, wie  auf  eine  grössere  Fläche  localisirbares,  dem  scharfen  sich  näherndes 
aber  doch  noch  weiches  Geräusch  deutet  zumeist  auf  Schlaffheit  des  Lungen- 
parenchyms, namentlich  an  der  Oberfläche  hin.  Man  hört  es  oft  vorne  oben  einer- 
seits, oder  auch  seltener  rückwärts  unten  bei  beginnender  Emphysembildung. 


136  AUSCULTATION  DER  LUNGEN. 

So  wie  excessive  Steigerung  kommt  auch  abnorme  Abnahme  der 
Sonorität  und  Stärke  der  Inspirationsgeräusche  vor,  doch  kann  selbe  nur 
dann  diagnostische  Bedeutung  gewinnen,  wenn  sie  nur  an  umschriebenen 
Stellen  des  Thorax,  besonders  nur  an  der  einen  Hälfte  desselben  vorkommt, 
während  sie  am  übrigen  Thorax  selbst  an  der  congruenten  Stelle  der  zweiten 
Hälfte  fehlt;  ferner  könnte  auch  noch  darauf  Werth  gelegt  werden,  dass  das 
geschwächte  Geräusch  selbst  bei  forcirtem  Athmen  nachweisbar  bleibt.  Eine 
derartige  Schwächung  des  Inspirationsgeräusches  kommt  vor :  bei  pleuritischen 
Exsudaten,  selbst  oft  bei  deren  Residuen,  bei  manchen  chronischen  Pneu- 
monien, beim  essentiellen  Emphysem. 

Auch  das  Exspirationsgeräusch  kann  abnorm  werden,  ohne  seinen 
ursprünglichen  Charakter  einzubüssen,  indem  es  lauter,  und  was  wichtiger 
ist,  länger  wird.  Die  Verlängerung  ist  oft  so  extrem,  dass  das  Exspirium 
viel  länger  dauert,  als  das  Inspirium.  Die  Bedeutung  dieses  Symptoms  ist 
in  der  Regel  dieselbe,  wie  die  der  oben  genannten  sehr  lauten,  grossen,  nicht 
localisirbaren  weichen  Inspirationsgeräusche,  d.  i.  also  entweder  catarrha- 
lische  und  sonstige  Verengerungen  an  einzelnen  Stellen  der  Luftwege,  oder 
verminderte  Elasticität  und  Retractilität  des  Lungenparenchyms  an  umschrie- 
benen Stellen. 

Abnorme  Schallphänomene,  die  nur  unter  pathologischen  Ver- 
hältnissen auftreten,  sind  a)  das  Bronchialathraen,  b)  das  Rasseln 
und  Knistern,  c)  das  Pfeifen  und  Giemen,  d)  das  Reibegeräusch, 
e)  der  Metall  klang. 

Das  Bronc  h  ialathmen  kann  beim  In-  oder  auch  beim  Exspirium 
gehört  werden,  letzteres  ist  häufiger.  Es  kann  nachgeahmt  werden,  indem 
man  die  Consonanten  „h"  oder  „ch"  tonlos  ausspricht,  Variationen  desselben 
lassen  sich  herstellen,  indem  man  die  genannten  Consonanten  mit  den  ver- 
schiedensten Vocalen  und  deren  Umlauten  combinirt  ausspricht.  Die  weicheren 
Bronchialgeräusche  erscheinen  mitunter  sehr  gross  und  lassen  eine  Art 
Nachhall  hören,  wie  wenn  ein  Luftstrom  an  der  Mündung  eines  geschlossenen 
Luftraumes  vorbei  oder  in  denselben  hineinbläst  (amphorisches  Geräusch). 
Die  Bronchialgeräusche  sind  mitunter  nur  vom  Larynx  und  der  Trachea  her  fort- 
gepflanzt, viel  häufiger  an  der  Auscultationsstelle  gebildet  zu  hören.  Zu  den 
ersteren  gehören  manche  in  der  Nähe  der  Trachea  vorne  sowohl  als  rück- 
wärts zu  hörende,  in  der  Regel  grosse,  massig  laute  „h" förmige  Bronchial- 
geräusche. Sie  deuten  auf  luftleeres,  stark  erweichtes  Lungenparenchym  in 
der  Nachbarschaft  der  Trachea  hin,  wobei  in  dem  erkrankten  Parenchym 
gar  keine  Schallbildung  erfolgt.  Hört  man  es  rückwärts  tiefer,  etwa  in  der 
Gegend  des  Schulterblattwinkels,  so  kann  es  auf  pleuritisches  Exsudat  hinweisen. 

Sonst  deuten  alle  Bronchialgeräusche  darauf  hin,  dass  an  der  Auscul- 
tationsstelle luftleeres  Lungenparenchym  von  guter  Schalleitung,  also  mehr 
weniger  verdichtet  sich  befindet,  in  welchem  einzelne  Bronchien  verlaufen,  die 
selbst  lufthaltig,  mittelst  eines  Bruchtheiles  der  von  ihnen  abzweigenden 
kleineren  Bronchien  zu  lufthaltigem  Parenchym  führen  und  daselbst  den 
Respirationsprocess  unterhalten.  Sie  sind  somit  beinahe  von  pathognostischer 
Bedeutung  für  Pneumonien  besonders  croupöse  und  tuberculöse,  nur  selten  für 
catarrhalische.  Ausnahmsweise  können  sie  wohl  auch  in  Folge  circumscripter 
Compression  des  Lungenparenchyms  durch  äussere  Ursachen,  Tumoren  aller 
Art  ganz  besonders  grosser  Bronchialdrüsen  und  Aehnliches  bedingt  sein.  Mit 
Rücksicht  auf  die  Variationen  der  Bronchialgeräusche  lässt  sich  constatiren, 
dass  die  sehr  grossen  amphorischen  oder  auch  einfachen  Geräusche  zumeist 
auf  Cavernen  mindestens  aber  auf  weite  Bronchien  zu  beziehen  sind,  wo  sie  nicht 
etwa  als  vom  Larynx  oder  der  Trachea  fortgeleitet  erkannt  werden.  Die 
„h"förmigen  unterscheiden  sich  von  den   „ch"förmigen  zumeist  dadurch,  dass 


AUSCULTATIOX  DER  LUNGEN.  137 

letztere    an    der   Auscultationsstelle    direct    gebildet,    während    erstere    aus 
einiger  Entfernung  dahin  geleitet  werden. 

Unter  Rasseln  und  Knistern  versteht  man  ein  nur  selten  aus  einem 
einzelnen,  meist  aus  mehreren,  ja  sehr  vielen  momentanen  Schallstössen  be- 
stehendes Geräusch.  Die  einzelnen  Schallelemente  folgen  bald  langsam  in 
geringer  Zahl,  bald  schneller  aufeinander,  oft  so  dicht,  dass  sie  beinahe  zu 
einem  einheitlichen,  gedehnten  Geräusch  zusammenfliessen,  wobei  aber  der 
Grundcharakter  doch  immer  leicht  zu  erkennen  ist.  Nur  selten  verschmelzen 
sie  zu  einem  wirklichen  einheitlichen  Geräusch,  dem  feuchten  Schnurren.  — 
Sowohl  Rasseln  als  Knistern  lässt  sich  experimentell  herstellen.  Ersteres  einmal 
wenn  man  in  ein  in  Wasser  zum  Theile  getauchtes  Rohr  Luft  einbläst,  wobei 
die  Luft  wieder  an  die  Oberfläche  dringt,  dort  Blasen  bildet,  die  sofort  platzen 
und  dabei  einen  momentanen  Schallstoss  hören  lassen.  Diese  Schallstösse  folgen 
nun  mehr  weniger  dicht  auf  einander  und  liefern  ein  dem,  aus  dem  Thorax 
hörbaren  Rasseln,  wenn  auch  nur  in  geringerem  Grade  ähnliches  Ge- 
räusch. Eine  andere  Methode,  Rasselgeräusche  experimentell  herzustellen, 
besteht  darin,  dass  man  verschieden  grosse,  dicke  und  steife  Papierblätter 
vorsichtig  "knittert.  Auch  da  entstehen  bald  vereinzelte,  bald  zahlreiche  mehr 
weniger  dicht  auf  einander  folgende  Schallstösse,  die  von  dem  Wasser-Luft- 
blasenschall immer  deutlich  zu  unterscheiden  sind.  Geräusche  im  Thorax, 
die  letzteren  mehr  weniger  ähnlich  sind,  heissen  feuchte,  solche,  die  dem 
Papierknittern  ähnlich  sind,  heissen  trockene  Rasselgeräusche.  Bei 
beiden  unterscheidet  man  gross-,  mittel- und  kleinbl  asiges  Rasseln, 
je  nachdem  die  einzelnen  Schallelemente  denjenigen  grösserer  oder  kleinerer 
Blasen  gleichen  bezüglich  der  Schallgrösse.  Bei  trockenem  Rasseln  werden  die 
einzelnen  Elemente  oft  so  klein  und  folgen  so  dicht  auf  einander,  dass  selbe 
nicht  mehr  einzeln  percipirt  werden  können,  dann  nennt  man  es  Knistern. 
Es  wird  nachgeahmt,  wenn  man  etwa  krystallinische  Salze,  z.  B.  Salpeter 
oder  auch  Fettropfen  auf  glühende  Platten  fallen  lässt.  Uebrigens  ist  auch 
noch  das  Knistern  als  gröberes  und  feineres  zu  unterscheiden.  Sämmtliches 
Rasseln  und  Knistern  ist  entweder  sehr  hell  und  laut,  und  heisst  dann 
consonirend  —  klingend,  oder  es  ist  dumpf  und  schwach  —  nicht 
klingend. 

Rasselgeräusche  entstehen  innerhalb  der  Bronchien  bei  Anwesen- 
heit von  Secreten,  Eiter  und  sonstigen  flüssigen  Massen,  die  durch  die  vor- 
beistreichende Luft  in  Bewegung  versetzt  M'erden.  Sind  die  Massen  dünn- 
flüssig, so  wird  das  Geräusch  dem  feuchten  näher  stehen,  sind  dieselben  dick- 
flüssig, zäh,  so  dem  trockenen.  Rasselgeiäusche  und  Knisterrasseln  entstehen 
aber  auch  noch  dadurch,  dass  die  Wandungen  der  kleineren  keinen  Knorpel 
führenden  Bronchien,  oder  die  der  Alveolen  während  des  Exspiriums  anein- 
anderklebeh  und  beim  Inspirium  wieder  auseinander  gerissen  werden.  Bei 
den  Bronchien  ist  das  nur  möglich,  wenn  die  Kreisform  ihres  Lumens 
früher  in  eine  ovale  spaltähnliche  umgewandelt  worden,  was  eben  nur  bei 
ungleicher  Retractilität  des  umgebenden  Lungenparenchyms  nach  verschiedenen 
Richtungen  möglich  ist.  Alle  auf  diese  Art  entstehenden  Rasselgeräusche 
zeigen  den  trockenen  Charakter,  und  stehen  dem  wahren  Knistern  umso 
näher,  je  kleiner  die  Lufträume  sind,  in  denen  sie  sich  bilden.  Das  feinste 
Knistern  kann  somit  wohl  nur  auf  die  Alveolen  bezogen  werden.  Gross- 
blasiges Rasseln,  sowohl  feuchtes  als  trockenes,  kann  nur  in  grösseren  Bronchien 
oder  in  Cavernen  sich  bilden ;  kleinblasiges  hingegen  sowohl  in  grossen  als 
auch  in  kleinen  Broncliien. 

Bezüglich  des  hellen,  lauten  (consonirenden,  klingenden)  Rasseins  ist 
zu  bemerken,  dass  nur  die  extremen  Grade  diagnostische  Bedeutung  haben. 
Im  Allgemeinen  ist  trockenes  Rasseln   meist  etwas  heller   als  feuchtes.    Die 


138  AUSCÜLTATION  DER  LUNGEX. 

höchsten  Grade  des  hellen  und  lauten  erfordern  das  Zusammentreffen  mehr- 
facher Bedingungen.  Wird  dasselbe  durch  flüssige  Massen  gebildet,  so  müssen 
diese  in  grösserer  Menge  vorhanden  sein  (kleine  Mengen  lassen  in  der  Regel 
nur  dumpfes  Rasseln  hören);  ferner  muss  die  Inspirations.esch windigkeit 
mehr  weniger  gesteigert,  oder  mindestens  die  Luftstromgeschwindigkeit 
örtlich  eine  grössere  sein  in  Folge  verminderter  Resistenz  also  stärkerer 
Blähung  des  bezüglichen  Lungenparenchyms;  die  Entstehungsstelle  des 
Rasseins  muss  der  Auscultationsstelle  möglichst  nahe  sein ;  schliesslich  muss 
die  Schalleitung  allenthalben  eine  wesentlich  bessere  sein  als  normal,  w^as 
eben  nur  bei  starker  Erweichung  luftleerer  Massen  der  Fall  ist. 

Die  diagnostische  Bedeutung  der  Rasselgeräusche  ist  mithin 
stets  die  des  Katarrhs  der  Luftwege  mit  mehr  weniger  reichlicher  Secretion. 
Speciell  ist  gross-  und  kleinblasiges,  nicht  helles  feuchtes  Rasseln  auf  ein- 
fachen Bronchialkatarrh,  Knistern  auf  Lungen-  oder  Alveolenkatarrh ;  trockenes, 
schütteres,  mittelblasiges  Rasseln  vorwiegend  auf  chr.onischen  Bronchialkatarrh 
besonders  bei  Emphysematikern  zu  beziehen.  Sehr  helles,  lautes  Rasseln  ist 
stets  auf  Katarrh  bei  entzündlichen  Processen  namentlich  Pneumonien,  das 
sehr  helle,  laute  sehr  grossblasige  (plätschernde)  Rasseln,  wie  es  so  häufig 
an  den  oberen  Thoraxpartien  zu  hören  ist,  deutet  in  der  Regel  auf  Cavernen. 

Unter  Pfeifen  und  Giemen  versteht  man  einen  mehr  weniger  lauten, 
immer  sonoren,  gedehnten  aber  doch  nur  kurz  dauernden  Schall,  der  mitunter 
rein  musikalischen  Charakter  hat  wie  das  Pfeifen  eines  dünnen  kleinen 
Pfeifchens,  meist  aber  gar  nicht  als  musikalischer  Ton  zu  erkennen  ist. 
Beide  Phänomene  haben  genau  dieselbe  Bedeutung  wie  das  zischende 
schnurrende  Geräusch,  nämlich  Verengerungen  höheren  Grades  in  den 
Bronchien  in  bestimmten  regelmässigen  Entfernungen  von  der  Ausmündungs- 
stelie  derselben.  Ihre  Bedeutung  ist  auch  ganz  dieselbe  wie  die  der  genannten 
ähnlichen  Phänomene. 

Reibe geräusche  sind  theilweise  durch  ihren  acustischen  Charakter 
so  deutlich  gekennzeichnet,  dass  sie  selbst  jeder  Anfänger  sofort  als  solche 
bezeichnen  wird,  wenn  er  sie  hört.  Theilweise  jedoch  sind  sie  manchem 
trockenen,  kleinblasigen  Rassel-  und  groben  Knistergeräusch  so  ähnlich, 
dass  man  sie  direct  von  diesen  nicht  unterscheiden  kann.  Man  erkennt  solche 
.  Reibegeräusche  erst,  wenn  man  sie  längere  Zeit  (mehrere  Tage  hindurch)  in 
gleicher  Form  an  gleicher  Stelle  constant  hört,  da  die  ähnlichen  Rassel- 
geräusche erfahrungsgemäss  nicht  so  constant  sind.  Schliesslich  haben 
Reibegeräusche  mitunter  einen  deutlich  knarrenden  Charakter,  wie  ihn 
etwa  neues  Leder  bei  starkem  Dehnen,  oder  gefrorener  Schnee  beim  Betreten 
hören  lässt.  Diese  Art  von  Geräuschen  ist  auch  leicht  erkennbar.  Sämmt- 
liche  Reibegeräusche  entstehen  an  der  Pleura,  durch  die  respiratorische  Ver- 
schiebung beider  Blätter  übereinander,  wenn  selbe  in  Folge  von  Entzündung 
rauh  geworden  sind.  Die  erste  Form  immer  im  Beginne  der  Entzündung, 
bevor  noch  Exsudat  in  grösseren  Mengen  vorhanden  ist,  schwindet  später, 
wenn  die  Pleurablätter  durch  das  Exsudat  auseinander  gedrängt  sind.  Die 
zweite  Form  hört  man  meist  bei  beginnender  Resorption  der  Exsudate  an 
solchen  Stellen,  wo  beide  mit  Bindegewebswucherung  bedeckten  Blätter  sich 
wieder  zu  berühren  beginnen.  Es  kleben  nämlich  die  bindegewebigen  Fäden 
beider  Blätter  bei  der  Exspiration  aneinander  und  werden  bei  der  Inspiration 
immer  wieder  auseinander  gerissen.  Man  hört  diese  am  häufigsten  in  derUmgebung 
des  Schulterblattwinkels  in  gewisser  Breite  nach  abwärts.  Die  letzte  Form,  das 
Knarren,  hört  man  nach  beendigter  Resorption,  wenn  bereits  noch  nicht  gazn 
feste  Verwachsungen  beider  Blätter  vorhanden  sind,  die  in  Folge  des  inspi- 
ratorischen Zuges  noch  w^enig  gedehnt  werden.  Sie  erscheint  am  häufigsten 
rückwärts  und  seitlich  an  den  untersten  Lungenabschnitten.    Die  Bedeutung 


AUSCULTATION  DER  LUNGEN.  139 

der  Reibegeräusche  ist  sonach  immer  die  von  Pleuritis,  die  erste  sowohl 
von  Pleuritis  sicca  als  auch  exsudativa  im  ersten  Stadium ;  die  beiden  andern 
Formen  bedeuten  spätere  Stadien  der  Pleuritis  exsudativa. 

Was  den  auscultatorischen  Metallklang  anbelangt,  so  ist 
derselbe  theils  andern  auscultatorischen  Phänomenen,  der  Stimme,  den 
Respirationsgeräuschen  aller  Art  angehängt,  theils  hört  man  ihn,  wenn 
während  des  Auscultirens  schwach,  etwa  mit  der  Nagelspitze,  auf  ein  ange- 
legtes Plessimeter  percutirt  wird.  In  nur  wenig  deutlicher  Form  hört  man 
den  Metallklang  über  manchen  grossen  Cavernen,  jedenfalls  sehr  selten; 
hingegen  hört  man  ihn  ganz  exquisit  beim  Pneumothorax. 

IL  Die  jiuscultatorische  Stimme. 

Die  Stimme  kann  mit  oder  auch  ohne  Stethoscop  auscultirt  werden, 
doch  diff'erirt  der  sinnliche  Eindruck  in  beiden  Fällen  in  sehr  hohem  Grade. 
Zweckmässig  ist  es  beim  Auscultiren  —  wenn  man  nicht  etwa  das  binaurale 
Stethoscop  benützt  —  das  freie  Ohr  mit  einem  Finger  zuzustopfen,  um  den 
Einfluss  des  Schalles  in  der  freien  Luft  möglichst  abzuhalten.  Die  Differenzen, 
die  man  an  der  auscultativen  Stimme  wahrnimmt,  lassen  sich  nach  folgenden 
Principien  gruppiren :  A.  nach  der  objectiven  Schallstärke,  B.  nach  der 
Sonorität  und  Localisirbarkeit ,  C.  nach  der  Articulation  der  Sprache, 
D.  nach  der  Klangfarbe. 

Die  Stimme  kann  an  einzelnen  Stellen  wesentlich  lauter,  stärker 
sein  als  an  andern,  namentlich  an  solchen  einer  Thoraxhälfte  lauter  als 
an  denen  der  andern.  Derartige  Differenzen  müssen  freilich  sorgfältig  con- 
trolirt,  folglich  wiederholt  geprüft,  alle  Irrthumsmöglichkeiten  beachtet  werden, 
dann  sind  sie  aber  nicht  minder  verlässlich,  als  alle  andern  Symptome,  ja 
in  einzelnen  wesentlich  verlässlicher.  Ganz  besonders  gilt  das  für  die  Lungen- 
spitzengegend. Die  Bedeutung  der  Stimmverstärkung  ist  immer  die  der  ver- 
besserten Schalleitung  in  Folge  von  Erschlaffungszuständen  des  sonst  normalen 
Lungenparenchyms,  wie  sie  nicht  selten,  besonders  in  Initialstadien  der 
Tuhercnlose  sich  nachweisen  lassen,  bevor  noch  andere  objective  Zeichen  der 
Krankheit  gefunden  werden  können.  Selbstverständlich  findet  sich  die  ört- 
liche Stimmverstärkung  auch  bei  allen  ausgesprochenen  Erkrankungen  in 
Begleitung  aller  früher  schon  genannten  auscultatorischen  Symptome  da, 
wo  es  sich  um  verbesserte  Schallleitung  handelt,  also  bei  chronischer  Bronchitis, 
caiarrhal.  Pneumonie  etc. 

Die  Stimme  kann  aber  auch  an  umschriebenen  Stellen  auffallend 
geschwächt  sein,  was  mitunter  den  Eindruck  macht,  als  wäre  die  Schall- 
quelle in  die  Ferne  gerückt.  Es  bedeutet  dies  immer  nur,  dass  die  Schall- 
quelle factisch  weiter  vom  Ohre  entfernt  ist.  Am  auffälligsten  bemerkt  man 
dies  in  grossem  Umfange  beim  pleuritischen  Exsudat  und  Emphysem,  in 
beschränkterem  bei  chronischen  Infiltrationen  mit  Verstopfung  aller  Bronchien 
in  der  Umgebung  der  Auscultationsstelle. 

Die  Stimme  wird  an  einzelnen  Stellen  wesentlich  sonorer,  gewinnt  rein 
musikalischen  Charakter,  ohne  deshalb  immer  auch  stärker  zu  sein,  dabei  ist 
sie  deutlich  localisirbar,  erscheint  wie  aus  einem  Hohlraum,  einem  Rohr,  einer 
Pfeife  heraus,  manchmal  in  auffälliger  Weise  wie  der  Klang  eines  Kinder- 
trompetchens  (Bronchophonie).  Sie  erscheint  bald  wie  aus  einem  grossen 
Raum  (Pectoriloquie)  bald  wie  aus  einem  mittleren,  in  seltenen  Fällen  wie  aus 
sehr  feinen  strohhalmdünnen  Röhrchen  (helles  Lispeln,  Skoda). 

Die  Bronch  oph  onie  bedeutet  ungeschwächte  Fortpflanzung  aller 
am  Larynx  gebildeten  Töne  und  Geräusche  durch  eine  einheitliche  Luftsäule 
bis  zum  auscultirten  Bronchus.  Es  ist  das  nur  möglich  bei  verhinderter 
Ausbreitung  der  bezüglichen  Vibrationen  in  einen  grössern  Luftraum  wegen 


140  AUTOINTOXICATION. 

Mangels  eines  solchen  in  der  Umgebung  des  den  Schall  leitenden  Bronchial- 
traktes. Hiebei  bilden  sich  in  diesem  letztern  eigene  Resonanztöne.  Je  nach 
der  Schalleitung  bis  zur  Thoraxwand  erscheint  die  Bronchophonie  bald 
stärker  bald  schwächer.  Ihre  diagnostische  Bedeutung  ist  sonach  immer  die 
einer  Infiltration,  seltener  eines  Exsudates  an  der  auscultirten  Stelle,  letzteres 
fast  immer  nur  in  der  Umgebung  der  Schulterblattwinkel,  während  die 
sogenannte  Pectoriloquie  zumeist  nur  in  den  obersten  Thoraxpartien 
gehört  wird.  In  einem  gewissen  Zusammenhang  mit  der  Bronchophonie  steht 
die  Articulation  der  Stimme,  d.  h.  die  vollständige  Unterscheidbarkeit 
aller  gesprochenen  Vocale  und  Consonanten.  Im  normalen  Zustande  fehlt  die 
Articulation  fast  vollständig.  Man  täuscht  sich  hierüber  gewöhnlich,  weil 
man  im  Vorhinein  weiss,  was  der  zu  Untersuchende  spricht,  oder  weil  der 
Schall  von  aussen,  sei  es  durch  das  freie  Ohr,  sei  es  durch  die 
Nasenhöhle  oder  die  Kopfknochen  zur  Perception  gelangt.  Weiss  man  dies 
Alles  zu  verhüten,  so  hört  man  von  der  Stimme  immer  nur  eine  Reihe  von 
Vocalen  aber  auch  nicht  immer  so  wie  sie  gesprochen  waren  und  nur  ganz 
vereinzelt  Consonanten.  Deshalb  ist  man  besonders,  wenn  Bronchophonie 
besteht,  nicht  selten  überrascht  durch  die  vollständige  Verständlichkeit  des 
Gesprochenen,  es  entgeht  dem  Hörer  oft  kein  einziger  Consonant,  und  hat 
er  den  Eindruck,  als  würde  ihm  direct  ins  Ohr  gesprochen.  Diese  verbesserte 
Articulation  hat  sonach  in  der  Regel  dieselbe  Bedeutung  wie  die  Broncho- 
phonie, da  sie  durch  dieselben  Bedingungen  zu  Stande  kommt. 

Bezüglich  der  Klangfarbe  ist  zu  bemerken,  dass  die  Stimme  in 
allerdings  nur  seltenen  Fällen  einen  auffällig  näselnden,  zitternden 
oder  meckernden  Charakter  annimmt  (Äegophonie).  Nur  wenn  dieser 
Klangcharakter  in  ganz  exquisitem  Grade  gehört  wird,  lässt  sich  ihm 
diagnostischer  Werth  beimessen.  Er  deutet  dann  wohl  immer  nur  auf  pleurl- 
tisches  Exsudat  Inn.  s.  stern. 

AutointOXication  (autogenetische  Di/scrasle).  Toxisch  nennt  mau  krank- 
hafte Veränderungen,  welche  im  Organismus  durch  chemisch  wirkende 
Agentien  hervorgerufen  werden.  Da  die  meisten  Substanzen  gelegentlich 
toxisch  wirken  können,  ist  der  Umfang  des  Begriffes  Gift  fast  unbegrenzt. 

Autointoxication  darf  mau  dementsprechend  zunächst  dann  an- 
nehmen, wenn  toxisch  wirksame  Verbindungen  in  gewissen 
Phasen  des  normalen  oder  gestö  rten  Stoff  we  chsels  imOrga- 
n  i  s  m  u  s  s  e  1  b  s  t  en  t  s  t  e  h  e  n,  beziehungsweise  in  demselben  sichanhäufen. 
Entstehen  lassen  bestimmte  Ernährungsstörungen  dem  Körper  in  der  Norm 
fremde,  direct  giftige  Stoffe.  Durch  gewisse  Grenzen  überschreitende  An- 
häufung im  Haushalte  M^erden  aber  auch  ganz  adäquate  Verbindungen, 
Substanzen,  welche  für  die  normale  Zusammensetzung  des  Körpers  selbst 
von  Wichtigkeit  sein  können,  und  ebenso  die  typischen  Endproducte  des 
normalen  Stoffwechsels  Ursache  von  Selbstvergiftung. 

Neben  abnormen  Bedingungen  des  Stoffwechsels  kommt  mit  gewissen  Ein- 
schränkungen als  zweite  Ursache  von  Autointoxicationen  auch  dielufection 
in  Betracht.  Dass  die  parasitären  Mikroorganismen  den  Infectionsträger 
gewisser  Stoffe  berauben,  deren  sie  zur  eigenen  Ernährung  bedürftig  sind 
und  dass  dieselben  auch  direct  toxisch  wirksame  Substanzen  im  kranken 
Körper  erzeugen,  kann  an  einer  den  Autointoxicationen  gewidmeten  Stelle 
weitere  Ausführung  nicht  beanspruchen.  Die  Vergiftung,  welche  in  verschie- 
dener Gestalt  als  unmittelbare  Theilerscheinung  der  einzelnen  Infecte 
sich  darstellt,  gehört  in  ein  anderes  Gebiet.  Wohl  aber  ist  an  dieser  Stelle 
die  Grösse  des  Antheiles  zu  untersuchen,  welchen  jene  Bacterien,  die  auch 
im   Normalzustande    einen   beträchtlichen   Theil    unseres    Darmtractus    be- 


AUTOINTOXICATION.  141 

wohnen  und  gegen  welche  wir  immun  geworden  sind,  an  der  Toxicität  des 
Darminhaltes  haben.  Und  ebenso  wird  gezeigt  werden  müssen,  inwiefern 
sich  zur  Vergiftung  mit  den  Bacterienproducten  die  Autointoxication  mit 
den  chemischen  Trümmern  der  Gewebe,  sowie  mit  den  veränderten  Se- 
und  Excreten  hinzugesellt,  wenn  die  pathogenen  Parasiten  in  den  Organen 
sich  cantonnirt  haben. 

Wie  bei  von  aussen  eingeführten  Giften  kann  auch  bei  den  verschie- 
denen Autointoxicationeu  die  toxische  Wirkung  der  schädlichen  Substanzen 
im  Allgemeinen  sich  nur  äussern  als  abweichende  Function  der  verschiedenen 
Organe,  oder  zu  Aenderungen  der  chemischen  Zusammensetzung  des  Zell- 
inhaltes sowie  der  Flüssigkeiten  im  Körper,  zu  Zerstörung  der  mole- 
cularen  Constitution  und  selbst  der  gröberen  histioiden  Striictur  der  ge- 
formten Elemente  führen. 

Die  Vorstellung,  dass  der  Organismus  in  sich  selbst  Quellen  der  Ver- 
giftung besitzt,  ist  eine  sehr  alte  in  der  klinischen  Pathologie.  Wenn  z.  B. 
schon  bei  den  Chemiatern  zur  Erklärung  bestimmter  paroxystischer  und  auch 
chronischer  Dyscrasien  die  Rede  ist  von  „Fäulnis  und  Gährung  des  Blutes" 
aus  dem  Körper  immanenten  Ursachen  oder  von  sauren  und  alkalischen 
„Schärfen",  so  enthält  dies  wohl  den  Kern  einer  Lehre  der  Autointoxication. 

Erst  der  modernen  Epoche  der  Medicin  aber  blieb  es  vorbehalten, 
an  Stelle  blosser  Speculationen  hier  thatsächliche  Anhaltspunkte  zu  gewinnen. 
Die  Auffassung  der  Uraemie  als  Harnvergiftung,  wie  dieselbe  seit  Bright 
von  englischen  Aerzten  vertreten  wurde,  hat  wegen  ihres  anfänglich  ganz 
hypothetischen  Charakters  und  weil  auch  später  ihre  toxische  Grundlage 
dem  pathologischen  Verständnis  nur  wenig  vollkommen  zugänglich  wurde, 
die  Lehre  von  den  autogenetischen  Dyscrasien  nicht  so  nachhaltig  gefördert, 
als  zu  erwarten  stünde.  Grundlegend  jedoch  sind  hiefür  Beobachtungen 
geworden,  welche  Pettees  im  Jahre  1857  über  das  Auftreten  von  Aceton  in  den 
Säften  und  im  Blute  bei  Diabetes  und  anderen  Krankheiten  gemacht 
hat.  Nicht  als  ob  man  heute  mehr  die  genannte  Verbindung  als  alleinige 
Ursache  des  Coma  diabeticorum  und  ähnlicher  klinischer  Symptomenbilder 
ansehen  könnte:  jene  mit  vollem  Bewusstsein  ihrer  allgemeinen  patholo- 
gischen Tragweite  vom  Entdecker  verwerthete  Thatsache  hat  aber  die  An- 
regung gegeben  zu  einer  ganzen  Reihe  von  ebenso  exacten  als  consequenten, 
alle  einschlägigen  Fragen  berührenden  Untersuchungen.  Die  Fortschritte  der 
heutigen  physiologischen  Chemie  haben  diesen  Arbeiten  über  das  rein  Ca- 
suistische  hinweggeholfen  und  ihnen  eine  bestimmte,  fruchtbare  Richtung 
gegeben.  Die  heutige  Lehre  von  der  Säureautointoxication,  deren  cardinale 
Thatsachen  wir  den  Schulen  Schmiedeberg' s  und  Naunyn's  verdanken,  ist 
die  Frucht  dieser  zielbewussten  Vereinigung  theoretischen  und  klinischen 
Forschens. 

So  hat  die  Vergiftmig  des  menschlichen  Organismus  durch  in  ihm 
selbst  entstandene  Substanzen  zunächst  eine  grosse  theoretische  Bedeutung 
erlangt.  Wie  weit  heutzutage  hier  bisweilen  gegangen  wird,  sei  ohne  weitere 
kritische  Betrachtungen  beispielsweise  dadurch  illustrirt,  dass  die  Schule 
Peter's  den  Abdominaltyphus,  also  eine  klinisch  autonome  Krankheit,  in 
allen  Stücken  als  vom  Kranken  selbst  erzeugt  angesehen  und  diese  Auto- 
typhisation  erklärt  hat  als  das  Resultat  der  Folgen,  welche  durch  Retention 
der  Stoffwechselschlacken  bei  Ueberernährung  hervorgerufen  werden !  Ab- 
gesehen von  solchen  Rückfällen  in  die  legendenhafte  Chemiatrie  verfügt 
aber  der  durch  die  Bezeichnung  „Autointoxication"  definirte  Zweig  der 
Pathologie  auch  sonst  bereits  über  ein  sehr  ansehnliches  Thatsachenmaterial, 
dessen  Sichtung  bei  dem  Vorherrschen  der  Pathogenie  in  den  Bestrebungen 
der  zeitgenössischen  Medicin   ein   gewisses   Interesse  erhoffen   darf,    umso 


142  AUTOrNTOXICATION. 

mehr,  als  die  einschlägigen  Krankheitsprocesse  zum  Theil  sehr  schwere  und 
wichtige  sind,  und  vor  Allem  aus  der  Erkenntnis  der  Ursachen  eine  ratio- 
nelle Therapie  zu  erhoffen  ist. 

Der  vorliegende  Artikel  sollte  blos  eine  einleitende  üeber- 
sicht  über  das  pathologische  Gebiet  derAutointoxicationen 
bieten.  Den  Formen  der  Autointoxication.  welche  mit  wohlcharakterisirten 
Minischen  Symptomenbildern  ausgestattet  sind,  wird  in  speciellen  Artikeln 
"Rechnung  getragen  werden. 

Verweilen  wir  zunächst  beim  Stoff  we  chsel  als  directer  Quelle  der 
Selbstvergiftung. 

Die  Avichtigsteu  Stoffe  des  Thierkörpers  sind  Eiweiss.  Fett,  Kohlen- 
hydrate, Aschenbestandtheile,  Wasser.  Die  chemischen  Processe.  deren 
Gesammtheit  den  Stoffwechsel  darstellt,  sind  an  den  fortwährenden  Umsatz 
dieser  Verbindungen  geknüpft.  Betrachtet  man  die  Störungen  des  Stoff- 
wechsels aus  allgemeinen  Gesichtspunkten,  so  kann  überhaupt: 

1.  Die  Zufuhr  derjenigen  Nährsubstanzeu  zu  den  Zellen  beeinträchtigt 
w^erdeu,  welche  die  vorstehend  genannten  Stoffe  im  Körper  zum  Ansatz  zu 
bringen,  beziehungsweise  ihre  Verminderung  daselbst  zu  verhüten  ge- 
eignet sind; 

2  die  eigentliche  Aufnahme  der  Nährstoffe  in  die  Zellen  selbst  und 
ihre  partielle  Umsetzung  durch  einfache,  hydrolytische  und  oxydative 
Spaltung,  durch  Reductionen  und  Synthesen  —  sog.  Assimilation  und  Des- 
assimilation  —  gehemmt  oder  in  falsche  Richtung  gebracht,  und 

3.  die  Expuision  der  Stoffwechselproducte  aus  den  Organen  imd  aus 
dem  Organismus  erschwert  sein. 

Im  Wesen  der  Autointoxication  ist  es  gelegen,  dass  für  ihr  Entstehen 
vorwiegend  die  beiden  1  etztaugeführten  Acte  des  Stoffwechsels 
in  Betracht  kommen.  Jede  Störung  dieser  Acte  kann  aber  unter  die 
Gesichtspunkte  der  Lehre  der  Autointoxication  fallen. 

Was  unter  den  wichtigsten  unsern  Organismus  constituirenden, 
beziehungsweise  durch  denselben  hindurchgehenden  Verbindungen  zunächst 
das  Wasser  anbelangt,  so  kommen  hier  nicht  durchaus  chemische,  sondern 
vielfach  (molecular-)  physicalische  Vorgänge  in  Betracht.  Von  einer  Behandlung 
der  für  die  Lehre  der  Autointoxicationen  bisher  relativ  wenig  discutirten 
einschlägigen  Fragen  in  einem  gesonderten  Artikel  muss  abgesehen  werden. 

Unter  den  Aschenbestand  t  heilen  des  Körpers  nehmen  die  Alkalien 
(und  die  alkalischeu  Erden)  den  ersten  Platz  ein.  Eine  Störung  der  Gegen- 
wirkung der  Alkalien  in  den  Gewebsflüssigkeiten  und  der  sauren  Educte 
der  Gewebszellen  mit  dem  Resultate  einer  Autointoxication  erfolgt  erfahruugs- 
gemäss,  wenn  unter  pathologischen  Verhältnissen  gewisse  Säuren  in  abnorm 
reichlicher  Menge  gebildet  werden,  beziehungsweise,  wenn  die  weitere 
oxydative  Umsetzung  bestimmter  saurer  Zwischenstoffwechselproducte  ver- 
zögert, und  wenn  die  Elimination  gewisser  Säuren  aus  dem  Organismus 
gehemmt  ist.  Abgesehen  von  der  gestörten  Kohleusäureausscheidung  durch 
die  Lungen  erscheint  die  behinderte  Excretion  von  Säuren  durch  Haut, 
Darm,  Nieren  von  relativ  geringerer  Bedeutung.  Die  klinisch  wichtigsten 
Formen  der  Säureautointoxication  resultiren  jedenfalls  aus  bestimmten 
Abnormitäten  des  Gewebschemismus.  Für  den  Begriff  der  Säureintoxication 
kommt  hier  nur  jene  Giftwirkung  der  Säuren  in  Betracht,  die  ihnen  ver- 
möge ihres  allgemeinen  chemischen  Charakters  als  Säuren  eigen  ist.  Die 
den  betreffenden  Säuren  specifisch  eigenthümliche  Wirksamkeit,  welche  in 
vergleichbarem  Maasse  auch  ihren  Salzen  zukommt,  hat  man  in  der  aus 
einer  vergangenen  Epoche  der  Medicin  herübergenommenen  Lehre  der 
„Säuredyscrasien'-    mit   Unrecht   hier   einbezogen.  "Ein  besonderer  Artikel 


BALNEOTHERAPIE  INTERNER  KRANKHEITEN.  143 

^Säiirevergiftunf/''  wird  eingehend  die  Maasstäbe  zur  Beurtheilung  der 
Intensität  der  Säureintoxication,  wie  solche  aus  dem  Gehalt  des  Blutes 
an  alkalisch  reagirenden  Salzen  iu  einschlägigen  Fällen,  sowie  aus  der 
Thatsache  der  sogenannten  experimentellen  Säureintoxication  sich  ergeben 
haben,  discutiren.  An  derselben  Stelle  soll  die  Bedeutimg  der  Fleisch- 
milchsäure, der  [:i-Oxybuttersäure,  der  Acetylessigsäure  und  des  Acetons 
für  die  Säureautointoxication  dargelegt  werden.  Ein  reiches  klinisches 
Material  zum  Studium  einschlägiger  Fragen  der  Selbstvergiftung  liefern 
Fälle  von  Diabetes,  Carcinom,  febrilem  Infect.  progres- 
siver Anämie,  Leukämie  und  endlich  gewisse,  wahrscheinlich  auf 
den  Darm  zu  beziehende  auto  genetische  Dys  er  a  sie  n.  Eine  kurze 
Besprechung  werden  auch  die  Formen  der  Hyperchlorhydrie  und  die 
chronische  Cyanose  dort  finden. 

Hinsichtlich  der  Ei weisskörper  fallen  zunächst  die  Ursachen  der 
Steigerung  de r  in  den  Geweben  ablaufenden  Eiweissspaltung 
theilweise  iu  das  Gebiet  der  Autointoxication.  Der  specielle  Artikel 
„Cachexie"  wird  dem  Nachweise  der  Gründe  gewidmet  sein,  die  das 
Carcinom  als  Intoxicationskrankheit  erscheinen  lassen.  Mit  den  ein- 
schlägigen Bedingungen  beim  Diabetes  wird  sich  der  dieser  Stoif- ' 
Wechselanomalie  gewidmete  Artikelbeschäftigen. 

Da  die  toxischen  und  autotoxischen  acuten  Verfettungen  der  Organe 
als  Fettmetastasen  betrachtet  werden  müssen,  spielen  die  Fette  in 
der  Lehre  von  den  Autointoxicationen  eine  weniger  wichtige  Rolle. 

Die  einschlägigen  xinomalien  des  K  o  h  1  e  n  h  y  d  r  a  t  -  Stoffwechsels  finden 
in  den  Aufsätzen  über  Diabetes  und  Glycurie  ihre  Besprechung. 

Inwiefern  die  Erschwerung  der  Expulsion  der  Stoffwechselproducte 
und  die  toxische  Wirkung  der  v er schiedenenexcrem enteilen 
Stoffe  für  ausreichend  klinisch  charakterisirte  Formen  der  Selbstvergiftung 
in  Betracht  kommt,  werden  die  der  Urämie,  der  Cholaemie  und  der 
intestinalen  und  vesicalen  Autointoxication  gewidmeten  Special- 
artikel darthun.  Die  hier  genannten,  in  pathologischer  Hinsicht  vielfach 
sehr  complexen  Autointoxicationen  hat  man  bisher,  wohl  aus  praktischen 
Rücksichten,  immer  in  den  Vordergrund  gestellt.  Es  ist  aber  nicht  zu 
leugnen,  dass  die  betreffenden  Probleme  vielfach  aus  zu  einseitigen 
Gesichtspunkten  betrachtet  worden  sind.  Die  sogenannten  Exclusivtheorien 
der  Urämie  sind  ein  entsprechender  Beleg  dafür.  Voit  hat  hier  zuerst 
einen  Wandel  geschatfen.  Die  Arbeiten  Schmiedeberg's  über  die  Harn- 
stoffbildung, die  Untersuchungen  v.  Scheödee's  über  die  Function  der 
Leberzelle  haben  neue  weite  Perspectiven  eröffnet.  Aber  es  bleibt  das 
Verdienst  Bouchard's,  vom  klinisch-pathologischen  Standpunkte  die  Noth- 
wendigkeit  erwiesen  zu  haben,  dass  die  toxische  Wirkung  der  normalen 
excrementellen  Stoffe  experimentell  geprüft  werden  muss.  Vor  Allem  hat 
dadurch  das  Studium  der  Urämie  und  der  intestinalen  Formen  der  Selbst- 
vergiftung neue  Impulse  erhalten. 

Die  zweite  Hauptursache  für  Autointoxication,  die  Infection,  soll 
in  einem  gesonderten  Artikel  —  Infect  nn'!  Anfointo.cicafi(m  —  behandelt 
werden.  Leider  sind  die  bisher  augeführten  Beziehungen  vielfach  rein 
hypothetische.  f.  kraus. 

Balneotherapie  interner  Kranl<heiten.  Der  Gebrauch  von  Bädern, 

deren  Wasser  therapeutisch  wirksame  Bestandtheile  enthalten,  und  das  Trinken 
sogenannter  Mineralwässer  gehört  zu  den  ältesten  Curmethoden  der 
praktischen  Heilkunde.     Da   in   vorliegendem  Sammelwerke  Vertreter  ver- 


144  BALNEOTHEEAPIE  INTERNER  KRANKHEITEN. 

schiedener  Disciplinen  über  „Hi/drofherapie"^  „KUmafotherapie",  „Balnea 
medicafa^'.  „6*?tr  und  Curen'-'',  „Heilquellen^,  „Minerahrässer'^  etc.  das  Wort 
nehmen  werden,  so  möge  an  dieser  Stelle  nur  in  Kürze  resumirt  werden, 
welche  Indicationen  vom  Standpunkte  des  Internisten  aus  für  die  Balneo- 
therapie der  einzelneu  internen  Krankheiten  bestehen. 

aSTachstehende  Indicationen  sind  selbstverständlich  nur  in  all- 
gemeinen, grossen  Zügen  entwickelt.  Xie  darf  man  ausser  Acht  lassen,  dass 
wir  in  praxi  nicht  Krankheitstypen,  sondern  kranke  Individuen  vor  uns 
haben.  Der  Arzt,  der  seinen  Patienten  in  die  Cur  schickt,  muss  sorgfältig 
Constitution,  Allgemein  -  Zustand,  locale  Erkrankung  und  Individualität  des 
Betreffenden  berücksichtigen,  und  ebenso  muss  auch  der  Badearzt,  dem  der 
Patient  überantwortet  wird,  all'  die  genannten  Momente  in  Erwägung  ziehen. 

A.  Herzkrankheiten. 

Während  früher  Herzaffectionen  eine  sichere  Contraindication  für  Bade- 
curen abgaben,  hat  man  heute  diese  Ansicht  aufgegeben,  indem  sich  gezeigt  hat, 
dass  balneotherapeutische  Garen  für  Herzkranke  bei  sorgfältiger  Individualisirung 
nicht  nur  zulässig,  sondern  in  der  That  erfolgreich  sein  können.  Als  „specifische 
Bäder  für  Herzkranke"  gelten  vornehmlich  die  Quellen  mit  reichlichem  Kohlen- 
säure- und  Kochsalzgehalt :  Nauheim  (Hessen-Darmstadt),  Eehme  (Westfahlen), 
Cudowa  (Schlesien),  Kissingen  (Bayern)  u.  A. 

Die  Erfahrungen  der  in  den  genannten  Orten  practicirenden  Badeärzte 
lauten  dahin,  dass  sowohl  Klappenfehler,  als  auch  Herzdilatationen 
bei  intactem  Klappenapparat,  ja  sogar  fi-ische  End  o  car  ditiden  sich  für 
den  Gebrauch  dieser  Quellen  eignen.  Nach  BoDE  können  Eesiduen  einer  eben 
abgelaufenen  Endocarditis,  besonders  Auflagerungen  auf  der  Mitralklappe,  unter 
dem  Einflüsse  einer  Nauheimer  Cur  gänzlich  zum  Schwinden  gebracht  werden. 
„Je  früher",  schreibt  Bode,  „nach  Ablauf  der  Endocarditis  eine  Cur  in  Nauheim 
unternommen  wird,  desto  mehr  ist  Aussicht  vorhanden,  das  endocarditische  Exsudat 
zum  Schwinden  zu  bringen  und  damit  der  Entstehung  einer  wirklichen  Insufficienz 
oder  Stenose  der  Klappe  vorzubeugen". 

Die  Wirkung  dieser  warmen,  koldensauren  Bäder  wird  theoretisch  als 
eine  Reizung  des  Vasomotorencentrums  erklärt.  Schott  vergleicht  ihre  W^irkung 
mit  der  der  Digitalis.  Neben  dem  directen  Ha.utreiz  von  Seite  der  mineralischen 
Bestandtheile  ist  es  insbesondere  der  Effect  der  Wärme,  welcher  eine  beträcht- 
lichere Strömung  des  Blutes  nach  der  Oberfläche,  eine  Verminderung  der  peri- 
pheren Widerstände  und  dementsprechend  eine  Erleichterung  der  Arbeit  des  linken 
Ventrikels  verursacht. 

Im  Gegensatz  zu  den  zahlreichen  günstigen  Urtheilen  spricht  sich  Oertel 
über  die  Wirkung  der  Bäder  bei  chronischer  Herzkrankheit  dahin  aus,  „dass  es 
specifisch  wirkende  Bäder  und  Badeorte  gegen  Kreislaufstörungen  nicht  gibt 
Zwar  bringt  die  Literatur  alljährlich  das  Gegentheil  versichernde  Be- 
richte, aber  wir  haben  -nicht  den  mindesten  Grund,  sie  in  die  wissenschaft- 
liche Medicin  hinüberzunehmen". 

Eine  allgemein  anerkannte  und  wohl  berechtigte  Rolle  spielen  die  pur- 
gir  enden  Trink  quellen  in  der  Tlierapie  der  Herzkrankheiten.  Der 
massige  Gebrauch  der  glaubersalzhältigen  Wässer  ist  bei  ]\Iitralklappenfehlern 
sehr  angezeigt.  Die  Stauungen  im  Bereiche  der  Untei-leibsgefässe  und  die  davon 
abhängigen  Magendarmkatarrhe  werden  durch  die  methodische  Trinkcur  leicht 
purgirender  Mineralwässer  ganz  erheblich  beseitigt  oder  gar  vorgebeugt, 
KisCH  konnte  bei  Herzkrankheiten  bedeutende  Leberschwellung  nach  Gebrauch 
einer  Marienbader  Cur  verringert  und  vollkommen  geschwunden  sehen.  Auch 
die  Nierenthätigkeit  wird  durch  den  Gebraucli  von  Mineralwasser  nicht  un- 
wesentlich angeregt.    Glax  empfiehlt  als  solche  kalte,  kohlensäurereiche,  alkalisch- 


BALNEOTHERAPIE  INTERNER  KRANKHEITEN.  145 

salinische  Quellen,  wie  die  von  Rolutsch- Sauerbrunn.  Bei  der  Verwendung  der- 
artiger Trinkcuren  muss  selbstverständlich  das  Mass  der  übrigen  Flüssigkeits- 
aiifnahme  wesentlich  eingeschränkt  werden.  Das  Mineralwasser  darf  in  der  täglich 
gestatteten  Flüssigkeitsquantität  nur  als  Substitut  flüssiger  Nahrungsmittel  (Suppe, 
Milch  etc.)   eintreten.' 

Die  Behandlung  des  Fe ttherzens  mittels  abführender  Trinkcuren  ist  eine 
gegen  die  allgemeine  Fettsucht  gerichtete  Therapie.  Darum  eignen  sich  nur  jene 
Fälle  von  Fettherz  hiefür,  die  thatsächlich  mit  allgemeiner  Adipositas  einhergehen. 

Auch  die  Herzneurosen  bilden  ein  Object  der  Balneotherapie.  So  werden 
insbesondere  jene  Formen  von  Tachykardie,  welche  in  einer  Plethora  der  Unter- 
leibsorgane ihren  Grund  haben,  durch  Trinkcuren  in  Marienbad  geheilt.  Nach 
KisCH  gelingt  es  hiedurch  rasch  und  leicht,  die  Herzbeschwerden  zur  Zeit 
des  Klimakteriums  zu  beseitigen.  Ist  Anaemie  die  Ursache  des  Herz- 
klopfens und  damit  verbundener  asthmatischer  Beschwerden,  so  werden  selbstver- 
ständlich die  Eisenbäder  und  die  Eisen-Arsenwässer  ihre  vielerprobte  Wirkung, 
thun.  Auch  für  die  Behandlung  des  Morbus  Basedowii  haben  nach  Schott  die 
Stahlbäder  nebst  den  kohlensäurereichen  Thermalsoolbädern  die  schönsten  Erfolge 
ergeben. 

B,  Krankheiten  der  Athmiingsor^ane. 

Bei  den  K  a  t  a  r  r  h  e  n  d  e  r  o  b  e  r  e  n  L  u  f  t  w  e  g  e  (acute  und  chronische  Laryngo- 
bronchitis)  ist  die  Verordnung  von  Selteys  oder  GleicJienhergei\  zur  Hälfte  mit  Milch 
gemengt,  eine  der  beliebtesten  Ordinationen,  indem  diese  Getränke  den  Hustenreiz  und 
das  peinliche  Gefühl  der  Trockenheit  wesentlich  zu  mildern  vermögen.  Wenn  man 
bedenkt,  dass  Inhalationen  nur  auf  die  Katarrhe  der  obersten  Luftwege  (Rachen 
und  Kehlkopf)  einwirken,  die  tiefer  gelegenen  Antheile  des  Tractus  respiratorius 
dagegen  nicht  treffen,  so  wird  es  begreiflich  erscheinen,  die  Trinkcuren  mit 
alkalischen  Mineralwässern  als  Ersatz  der  Inhalationen  gelten  zu  lassen. 
Experimentelle  Untersuchungen  haben  sogar  ergeben,  dass  die  Alkalien  auf  die 
Catarrhe  der  Eespirationsschleimhäute  viel  günstiger  einwirken,  wenn  sie  indirect 
(per  os),  als  wenn  sie  direct  (per  Inhalation)  verabreicht  werden. 

Bei  der  Behandlung  der  Lung  entub  er  culose,  des  Lungenemphy- 
sems,  des  Bronchialasthmas  ist  es  vornehmlich  der  begleitende  ßronchial- 
katarrh,  welcher  Gegenstand  medicamentöser  Behandlung  ist.  Da  der  Werth  und  der 
Nutzen  der  Expectorantien  noch  keineswegs  vollkommen  sichergestellt  sind,  so  sind 
es  gerade  die  Alkalien,  zu  denen  war  unsere  Zuflucht  nehmen  müssen.  Die  reiz- 
mildernde und  schleimauflösende  Wirkung  derselben  kommt  aber  in  keiner  Form 
so  deutlich  zur  Geltung,  wie  in  der  der  Mineralw^ässer.  Darum  schicken  wir 
unsere  Patienten  nach  Gleichenberg,  Selters,  Wiesbaden,  Ems,  Luhatschowitz, 
Giesshühl,  Bilin,  FacMngen  etc.  etc.,  wenngleich  wohl  zugegeben  werden  muss, 
dass  gerade  die  rationelle  diätetische  Behandlung  und  der  Aufenthalt  in  guter, 
staubfreier  Luft  einen  grossen  Antheil  an  dem  günstigen  Erfolge  solcher  Curen  hat. 

Man  pflegt  auch  noch  weitere  speciellere  Indicationen  für  die  einzelnen 
Badeorte  zu  geben.  Plethorische  Patienten,  die  an  Bronchialkatarrhen  leiden,  schickt 
man  nach  Salzbrunn,  Lippspringe,  Marlenbad,  oder  zu  den  kalten  Schwefelquellen 
{Langenbrücken,  Nenndorf) ;  bei  Katarrhen  der  Arthritiker  empfiehlt  man  Wiesbaden 
oder  Baden-Baden,  während  für  die  Mehrzahl  der  an  blennorrhoischen  Katarrhen  Lei- 
denden Giesltübl,  Bilin,  Selters,  Elö-Patak  Empfehlung  finden  können.  Auch  Sool- 
quellen  sind  bei  Bronchoblennorrhoe  empfehlenswerth,  während  sie  bei  trockenen 
Katarrhen  zu  stark  reizend  wirken.  Bei  scrophulösen  Individuen  eignet  sich  die 
Natron-Lithion-Quelle  YonWeilbach,  desgleichen  die  alkalisch-saliuischen  Quellen  von 
LuhatscltOH'itz. 

C.  Magen-  und  Darmkranklieiten. 

Bezüglich  der  Balneotherapie  der  Digestionskr  ankheiten  sagt  BoAS: 
„Wir  sehen  unter  dem  Gebrauche    von    Mineralwässern    einerseits    grandiose  Er- 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I,  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  10 


146  BALNEOTHERAPIE  INTERNER  KRANKHEITEN. 

folge,  die  unsere  medicamentöse  Therapie  beinahe  in  einem  armseligen  Lichte 
erscheinen  lassen,  und  andererseits  b'eiben  uns  auch  Misserfolge,  ja  selbst  un- 
günstige Beeinflussung  der  Krankheit  nicht  erspart". 

Die  bei  den  Erkrankungen  des  Intestinaltractes  gebräuchlich  verordneten 
Quellen  pflegt  man  in  folgendes  Schema  zu  bringen : 

1.  Alkalische  Säuerlinge,  deren  Wirkung  vorzüglich  auf  den  Gehalt 
an  Natriumcarbonat  und  Kohlensäure  zurückzuführen  ist.  Sie  sind  in  allen  jenen 
Fällen  indicirt,  wo  eine  übermässige  Salzsäure-Ausscheidung  der  Magenschleim- 
haut besteht  —  Hyperacidität,  Pyrosis  hydrochlorica.  —  Ein  Theil  der  pharma- 
kodynamischen  Wirkung  der  alkalischen  Säuerlinge  liegt  in  ihrer  schleimlösenden 
Eigenschaft.  Die  am  häufigsten  angewendeten  alkalischen  Säuerlinge  wären  folgende  : 
Bilin,  Fachingen,   Vichi],  PreMau,  Salzbrunn,   Giesshühl,  Neuenahr. 

2.  Alkalisch -muriatische  Säuerlinge.  Sie  enthalten  nebst  Kohlen- 
säure und  kohlensaurem  Natron  noch  Kochsalz  in  bedeutender  Menge.  Nach  BoAS 
wären  es  insbesondei-e  die  secundären  Formen  der  Dyspepsie  (Dyspepsie 
bei  incipienter  Phthise,  Dyspepsie  in  Folge  von  Stauungskatarrhen),  und  die 
chronische  Enteritis,  für  welche  diese  Quellen  zu  empfehlen  wären.  Die 
bedeutendsten  alkalisch  -  muriatischen  Quellen  sind:  Luhatschowitz,  Gleichenberg 
(Constantinquelle),  Ems  und  Selters. 

3.  Die  Kochsalzwässer.  Es  sind  das  jene  Quellen,  bei  denen  der  Koch- 
salzgehalt ein  ziemlich  bedeutender  ist,  die  aber  ausserdem  noch  sämmtlich 
Kohlensäure  enthalten.  Gerade  die  Kohlensäure  ist  es,  der  vielleicht  der  Haupt- 
antheil  an  dem  günstigen  Effect  dieser  Kochsalzwässer  zuzuschreiben  ist. 
„Der  Gehalt  an  Kohlensäure  bei  den  Kochsalzwässern"  —  sagt  HoFPMANN 
—  „wirkt  auf  den  Magen  und  übt  einen  gewissen  Eeiz  auf  die  Circulation  aus. 
Das  Wesentliche  ist  hier  die  Zufuhr  des  Wassers,  welches  durch  seinen  Salz- 
gehalt nach  meiner  Ansicht  den  Zellen  und  Geweben  gegenüber  sich  so  neutral 
wie  möglich  verhält  und  daher  in  verhältnismässig  grosser  Menge  gut  vertragen 
wird.  Die  Verdünnung  des  Blutes,  welche  dadurch  zu  Stande  kommt,  begünstigt 
offenbar  eine  leichte,  reichliche  Secretion  aller  der  verschiedenen  Säfte,  welche 
sich  in  das  Innere  des  Darmcanals  ergiessen  und  so  ist  die  Beförderung  der 
Verdauung  und  des  Stuhlganges,  welche  wir  durch  diese  Darreichung  hervor- 
bringen können,  nur  die  Folge  des  phj^siologischen  Reizes.  Ich  glaube,  dass  hier 
die  Schonung  des  Darmes  eine  so  vollkommene  ist,  wie  sie  überhaupt  bei  einem 
längeren  Gebrauche  von  Mittelsalzen  nur  sein  kann." 

Bei  acuten  und  subacuten  Magenkatarrhen,  bei  denen  die  Magen- 
saftpro duction  darniederliegt,  werden  durch  den  Gebrauch  der  Kochsalzwässer 
binnen  kurzer  Zeit  sämmtliche  Symptome,  wie  Druckgefühl  nach  dem  Essen, 
üebelkeiten,  Brechneigung  gebessert  oder  gar  vollkommen  zum  Schwinden  ge- 
bracht. Dagegen  gehören  die  A t  o n i e n  und  Magendilatationen  nicht  in 
die  Kochsalzbäder.  Die  bedeutendsten  Kochsalzquellen  sind :  Nauheim,  Alsö-sebes, 
Homburg,  Pyrmont,  Wiesbaden  (Kochbrunnen),  Bourbonne-les-bains  in  den  Py- 
renäen, Kissingen  und  Soden. 

4.  Alkalisch -salinische  Quellen  (Glaubersalzwässer).  Sie  enthalten 
der  Hauptsache  nach  Natriumsulfat,  nebst  wechselnden  Mengen  von  Natrium- 
bicarbonat,  Kochsalz  und  freier  Kohlensäure.  Die  berühmteste  dieser  Quellen  ist 
Karlsbad.  Die  Karlsbader  Quellen  sind  Thermen,  während  die  meisten 
übrigen  Glaub  er  Salzwässer  Franzensbad,  Marienbad,  Eohitsch,  Elster  kalt  sind. 
Endlich  wäre  noch  die  Lucius-Quelle  von  Tarasp  zu  erwähnen,  die  nach  Karls- 
bad von  einzelnen  Specialärzten  sehr  gerne  empfohlen  wird. 

Die  Karlsbader-Thermen  haben  folgende  Indicationen : 

1.  Alle  Formen  von  Dyspepsie,  die  mit  Hyperacidität  und  massiger  Obsti- 
pation verbunden  sind. 

2.  Magen-Atonie,  combinirt  mit  habitueller  Obstipation. 


BALNEOTHERAPIE  INTERNER  KRANKHEITEN.  U7 

3.  Magen-  und  Duodenal-Geschwüre. 

Dagegen  ist  die  Karlsbader  Brunnencur  contraindicirt : 

1 .  in  Fällen  von  beträchtlicher  Magenectasie ; 

2.  bei  der  Dyspepsia  nervosa; 

3.  bei  malignen  Neoplasmen  des  Intestinaltractes. 

Die  günstige  Wirkung  der  Karlsbader  Quellen  beim  Magengeschwür  wird 
damit  erklärt,  dass  dieselben  die  Selbstverdauung  der  kranken  Schleimhaut  nach 
Möglichkeit  hindern,  obwohl  gegen  diese  Auffassung  von  Fromm  Bedenken  er- 
hoben wurde.  Jedenfalls  sind  bei  Ulcus  ventriculi  et  duodeni  nur  die  minder 
temperirten  Quellen  zu  verordnen. 

5.  Bitterwässer.  Auf  dem  XI.  Balneologen-Congress  sprach  sich  Ewald 
über  die  Behandlung  der  chronischen  Gastritis  folgendermassen  aus :  „Die  reinen 
Kochsalzquellen  sollen  dort  ihre  Anwendung  finden,  wo  man  rein  stimulirend 
auf  den  Magen  wirken  will,  die  alkalischen,  resp.  alkalis  ch- salinische n 
Wässer,  wo  man  eine  Hyperacidität  oder  Hypersecretion  zu  bekämpfen  hat  und 
die  Bitterwässer,  wo  ausser  der  Magenaflfection  Störungen  der  Darmthätigkeit 
vorliegen".  Der  Gebrauch  der  Bitterwässer  zu  Hause  ist  ein  namentlich  beim 
Publicum  so  beliebter  und  allgemeiner,  dass  die  Frequenz  in  den  Curorten  da- 
gegen wesentlich  zurücksteht. 

J).  Leberkrankheiten. 

Seit  Stadelmann's  Untersuchungen  wissen  wir,  dass  die  Alkalien  die 
Gallensecretion  vermindern.  Der  Nutzen  der  Alkalien  bei  Gallen wegskatarrhen  und 
Gallensteinbildungen  muss  nach  Stadelmann  darin  gesucht  werden,  dass  dieselben 
einen  günstigen  Einfluss  auf  den  katarrhalischen  Zustand  der  Schleimhäute  aus- 
üben, andererseits  darin,  dass  sie  die  Alkalescenz  des  Blutes  vermehren.  Unter 
dem  Gebrauche  der  Alkalien  wird  eine  stärker  alkalische  Galle  abgesondert  und 
nur  dadurch  werden  Gallenconcremente  gelöst  und  Gallensteine  zerkleinert.  Karls- 
bad und  Vichy  sind  die  am  meisten  gegen  Cholelithiasis  empfohlenen 
Curorte. 

In  dem  Anfangsstadium  der  Lebercirrhose  sind  Curen  mit  Karlsbader 
und  Marienbader  Brunnen,  bei  schwächlichen  Constitutionen  solche  mit  Franzens- 
bader oder  Elster- Wasser  indicirt.  Dass  bei  Stauungsleber  die  alkalisch- 
salinischen  Quellen  einen  günstigen  Einfluss  ausüben,  wurde  bereits  bei  den  Herz- 
krankheiten erwähnt. 

M  Nierenkrankheiten; 

Schon  bei  den  acuten  Formen  des  Morbus  Brigthi  wird  das  Trinken 
gewisser  Mineralwässer  (Selters,  Emser,  Biliner),  gemengt  mit  Milch,  empfohlen. 

Bei  der  chronischen  Nephritis  wirken  die  Natron-Säuerlinge  {Prehlau, 
Bilin,  Badein,  Giesshühl)  als  Diuretica,  dagegen  sind  die  letzteren  contraindicirt 
bei  acuten  Blasenkatarrhen,  weil  der  ohnehin  schmerzhafte  Harndrang  durch  diese 
nur  noch  gesteigert  wird.  Bei  harnsaurer  und  oxalsaurer  Diathese,  wenn  reichliche 
Urate  im  Harnsediment  erscheinen,  ist  der  Curgebrauch  in  Karlsbad,  Vichy, 
Wildungen  und  Baden-Badeti  angezeigt. 

-F.  Nervenkrankheiten. 
Eines  jener  Gebiete,  auf  denen  die  Balneotherapie  wirklich  allgemein  aner- 
kannte Erfolge  zu  leisten  vermag,  ist  jenes  der  peripheren  Nervenkrankheiten. 
Die  verschiedenen  Formen  der  Neuralgie,  als  deren  Typus  die  Ischias  gelten  mag, 
werden  durch  die  Schwefelthermen  {Baden,  Trencsin-Te'plitz,  Pistyan)  binnen 
kurzer  Zeit  günstig  beeinflusst.  Der  Tic  douloureux  wird  durch  eine  purgirende 
Cur  in  Marienbad  oft  binnen  kurzer  Zeit  geheilt,  während  früher  medicamentöse 
Therapie  und  Elektricität  wirkungslos  w'aren.  Bei  der  Neuritis  multiplex 
wird  der  Gebrauch  von  27°  Soolbädern  empfohlen. 

10* 


148  BALNEOTHERAPIE  INTERNER  KRANKHEITEN. 

Was  die  Gruppe  der  o  r  g  a  n  i  s  c  li  e  n  Erkrankungen  des  Central- 
nervensystems  betrifft,  so  ist  man  heutzutage  wohl  darüber  einig,  dass  weder 
bei  cerebralen  Hemiplegien  die  Curen  in  OeyyihauseM,  Gastein  und  -Ragatz, 
noch  auch  bei  Mj^elitis  der  Gebrauch  von  Thermal soolen  oder  Moorbädern 
irgend  welchen  besonderen  Nutzen  zu  bringen  vermag.  Wenn  wir  Kinder  mit  spinaler 
Kinderlähmung  in  die  Soolbäder  {Kreuzenach,  Beichenhall,  Kolberg),  in  die 
Eisenbäder  {Franzensbad,  Pi/rmmit,  Schivalbach),  in  die  Kochsalzsäuerlinge 
{Rehme,  Soden)  oder  in  die  indifferenten  Thermen  {Gastein,  Johannisbad)  schicken, 
so  sind  es  nach  den  Erfahrungen  der  meisten  Practiker  nicht  die  Bäder,  als 
vielmehr  die  die  Cur  begleitenden  Umstände  und  Massregeln,  welche  eventuell 
die  Lähmung  bessern.  Für  die  Tabes  dorsalis  hat  sich  Rehme- Oeynhausen 
geradezu  einen  specifischen  Ruf  erworben.  Nebstdem  empfiehlt  man  auch  gegen 
di«  Tabes  die  indifferenten  Thermen  {Gastein,  Johannisbad,  Teflitz,  Pfeiffers) 
und  die  warmen  Schwefelbäder  {Aachen,  Baden  bei  Wien,  Trencsin,  Landeck) ; 
doch  sollen  nur  Quellen  von  massiger  Temperatur  (bis  26°  E.)  verordnet  werden. 

Die  grösste  Wirksamkeit  haben  Badecuren  auf  die  .sogenannten  Neurosen, 
wenngleich  manchmal  auch  diese,  wie  unzählige  andere  therapeutische  Behelfe^ 
zu  versagen  pflegen.  Bei  nervösen  Personen,  die  anaemisch  und  herabgekommen  sind, 
empfehlen  sich  Moorbäder.  Die  beiden  wichtigsten  Bestandtheile  derselben,  das 
schwefelsaure  Eisenoxydul  und  die  neutralisirbare  Schwefelsäure,  üben  bei  ihrer 
Application  einen  kräftigen  Hautreiz  aus,  und  mit  diesem  allein  mag  schon  der 
günstige  Einfluss  der  Moorbäder  erklärt  werden.  Hiemit  ist  auch  gleichzeitig  der 
Wirkung  der  Eisenbäder  gedacht.  Neben  der  eigentlichen  Balneotherapie  ist  es 
aber  vorzugsweise  die  Klimatotherapie  und  die  Hydrotherapie,  die  das 
ganze  grosse  Gebiet  der  Nervenkrankheiten  beherrschen.  Nicht  zuletzt  zu  nennen 
wären  die  Seebäder.  Da  in  den  Nordseebädern  {Ostende,  Scheveningen, 
BlancJcenberghe,  Norderneij,  Helgoland)  die  Luft  stärker  bewegt  wird,  und  der 
Kochsalzgehalt  und  die  Wellenbewegung  grösser  ist,  als  in  den  Ostseebädern 
{Dobberan,  Rügen,  Misdroy),  so  wären  erstere  für  sonst  kräftige,  letztere  für 
schwächliche  Individuen  und  Reconvalescenten  angezeigt.  Die  französischen  Bäder 
{Trouville,  Biarriz)  sind  in  Parallele  zu  stellen  mit  den  Nordseebädern,  während 
die  Seebäder  am  mittelländischen  Meere  {Venedig,  Abbazia,  Ischia)  ebenso  mild 
oder  eigentlich  Hoch  milder  sind,  wie  die  der  Ostsee. 

Bei  organischen  Nervenleiden,  welche  auf  luetischer  Infection  be- 
ruhen, schickt  man  die  Patienten  zu  den  jod-  und  bromhaltigen  Kochsalzquellen 
{Kreuzenach,  Hall,  Lipik,  Krankenheil -Tölz,  Saxon-les-Bains)  oder  in  die 
Schwefelbäder  {Aachen,  Baden  bei  Wien). 

6r.  Krankheiten  der  Bewegungsorgane,  Blut-  und  Stoffwechsel- 
krankheiten. 

Zu  den  ältesten  balneotherapeutischen  Erfahrungen  gehört  die  Wirksamkeit 
der  Schwefelthermen  gegen  die  s  üb  acuten  und  chronischen  Formen  des 
Gelen  ks-RheU  m  a  t  i  s  mix  s. 

Ein  grosser  Antheil  ihrer  Wirkung  kommt  sicherlich  nicht  dem  Schwefel- 
gehalte, sondern  der  Temperatur  des  Badwassers  zu.  Die  niedrigste  Temperatur 
haben  die  Badner  Selncefelfliermen  (28 — Sß**  C.) ;  letztgenannten  Temperatur- 
grad haben  auch  die  Quellen  von  Trencsin -Tepl Hz,  während  die  Wässer  von 
Aachen  45 — 46'^  C.  und  jene  von  Pistgan  sogar  57 — 64°  C.  besitzen.  Die 
Quellen  von  Herkulesbad  {Mehadja)  und  jene  von  Varasdin-Töplitz  (Kroatien) 
stehen,  was  den  Temperatnrgrad  ihrer  Wässer  betrifft,  den  letztgenannten  gleich. 
Gerade  bei  den  Schwefelquellen  ist  die  individuelle  Bestimmung  des  für  eine  Cur 
vorzuschlagenden  Bades  ausserordentlich  wichtig,  weil  bei  Fettherz,  asthmatischen 
Beschwerden  infolge  von  Emphysem  und  arteriosclerotischen  Gefässveränderungen 
der  Gebrauch  von  warmen  Bädern  nur  mit  Vorsicht  geschehen  darf. 


BALNEOTHERAPIE  IKTERNER  KRANKHEITEN.  149 

( r^:'  _  Die  Wirkung  der  Schwef  elb  äder  bei  den  chronisch  defor  mir  enden 
G  elenk  sentzündungen  ist  der  Natur  des  Leidens  entsin-echend  eine  viel 
unwesentlichere,  wena  nicht  g-anz  negative. 

Für  die  „echte"  Gicht,  der  Arthritis  urica,  geniessen  die  Curen  mit 
alkalisch-salinischen  und  muriatischen  Säuerlingen  einen  altbewährten  Euf.  Wies- 
baden mit  seinen  warmen  Kochsalzthermen  verdient  den  Namen  eines  „Mekka 
der  Gichtiker",  zumal  daselbst  eine  grosse  Anzahl  erfahrener  Curärzte  für  die 
genaue  Einhaltung  einer  streng  diätetischen  Lebensweise  bei  den  Gichtkranken 
Sorge  tragen;  desgleichen  werden  die  Li thion quelle n,  wie  i?/s^er,  X^/ss/'n^/ew^ 
Homburg,  Baden-Baden,  Sülzbrunn  gegen  die  gichtische  Diathese  empfohlen. 

Eine  fast  unumschränkte  Herrschaft  übt  die  Balneotherapie  in  der  Be- 
handlung des  Diabetes  mellitus.  Niemeyer's  Ausspruch:  „eine  Brunnencur 
in  Karlsbad  ist  diejenige  Verordnung,  welche  in  der  Therapie  des  Diabetes 
mellitus  das  meiste  Vertrauen  verdient",  gilt  noch  heute.  Fast  sämmtliche 
leichtere  Formen  des  Diabetes  erfahren  in  Karlsbad  wesentliche  Besserung, 
während  freilich  bei  erschöpftem  Organismus,  wenn  reichliche  Fleischnahrung 
wegen  darniederliegender  Verdauungsthätigkeit  nicht  mehr  vertragen  wird,  von 
der  Trinkcur  nicht  mehr  viel  zu  erwarten  ist.  —  Man  •  lässt  zunächst  Mühl-  oder 
Schlossbrunn  trinken  (2 — 3  Becher  täglich),  später  kann  man  bei  kräftiger  Consti- 
tution zum  „Sprudel"  übergehen. 

Nach  Karlsbad  ist  Yicluj  das  am  meisten  bekannte  Bad  für  Diabetiker. 
BouCHAEDAT  hält  dessen  Quellen  für  alle  Diabetesformen  geeignet,  mit  Ausnahme 
sehr  geschwächter  Individuen.  In  neuester  Zeit  hat  sich  auch  Nenenahr  (Rhein- 
preussen)  zu  den  für  Diabetiker  empfohlenen  Bädern  gesellt.  Zur  Nach  cur 
empfiehlt  KisCH  die  Eisenquellen  Marienbads  (Ambrosiusbrunnen)  und  ausserdem 
Eisen-Moorbäder  zur  Anregung  der  Diaphorese. 

Bei  der  Behandlung  der  Fettsucht  mittels  Mineralwässer  spielt  die 
abführende  Wirkung  des  Glaubersalzes  die  Hauptrolle  (Marlmbad).  Bei  den  anä- 
mischen Formen  der  Fettsucht  finden  auch  die  eisenhaltigen  Mineralwässer 
Empfehlung,  zumal  bei  anämischer  Corpulenz  die  heroischen  Curen  mit  alkalisch- 
salinischen  Wässern  nur  ganz  vorsichtig  angewandt  werden  dürfen.  In  solchen 
Fällen  wären  die  Curen  in  Franzensbad,  Elster  oder  Kissingen  jenen  in  Marienh^d. 
vorzuziehen. 

Auch  in  der  Therapie  dar  Osteomalacie  und  ßhachitis  spielt  die 
Bädercur  eine  Eolle.  Gegen  beide  Processe  sind  die  einfachen  Kochsalzquellen, 
die  Soolbäder  wie  die  jodhaltigen  Kochsalzquellen  in  Verwendung. 

Die  Anämie,  die  in  so  verschiedenartigen  Formen  auftritt  und  auch  sehr 
verschiedene  Ursachen  hat,  wird  balneo-therapeutisch  durch  die  Trinkcuren  mit 
sogenannten  Eisenwässern,  bekämpft.  Die  wichtigsten  Stahlquellen  sind :  Alexander- 
bad,  Cudowa,  Elster,  Franzensbad,  Homburg,  Königswart,  Pgrniont,  Beinerz, 
Scliiralbach,  St.  Moritz,  Spaa,  Tarasp.  Die  günstige  Wirkung  der  Stahlbäder 
ist  hauptsächlich  auf  ihren  Kohlensäuregehalt  zu  beziehen,  indem  die  Kohlensäure 
von  der  Haut  aus  einen  reflectorisch  wirkenden  Eeiz  auf  das  Nervensystem  aus- 
übt, da  die  Möglichkeit  einer  Aufnahme  von  Eisen  durch  die  Haut  nach  autoritativen 
Ansichten  zurückzuweisen  ist.  Noch  viel  mehr  als  die  Einfuhr  von  Eisen  empfiehlt 
sich  die  Verordnung  von  Arsen  in  Form  der  arsenhaltigen  Mineralwässer.  Die  Ver- 
ordnung von  Levico-,  Boncegno-  und  Guberquelleirasser  hat  heute  bereits  allgemeine 
Verbreitung  gefunden.  ^  _^ 

Es  ist  eine  unzweifelhafte  Thatsache,  dass  der  Mechanismus  der  Wir- 
kung bei  einer  Reihe  von  Bädern  und  Trinkcuren  gar  nicht  erklärt  ist. 
Dies  hat  auch  die  Veranlassung  dazu  gegeben,  dass  viele  Kliniker  einen 
specifischen  Einfluss  nur  bei  jenen  Mineralwässern  gelten  lassen  wollen, 
welche  wirklich  anerkannte  Specifica  enthalten,  wie  Jod,  Eisen,  Arsen  etc. 


150  BARLOW'SCHE  KRANKHEIT. 

Der  günstige  Erfolg  bei  den  Curen  mit  anderen  Mineralwässern,  den 
Kochsalzquellen,  den  alkalischen  und  alkalisch-salinischen  Säuerlingen,  wird 
dann  damit  erklärt,  dass  hauptsächlich  zweckmässige  Regulirung  der  Diät 
und  Lebensweise,  Fernhaltung  von  allen  Berufsgeschäften,  körperliche  und 
geistige  Ruhe  als  Heilung  und  Besserung  befördernde^  Factoren  anzu- 
sehen sind.  Wenn  wir  nun  aber  andererseits  bedenken,  dass  eine  erheb- 
liche Wasserzufuhr  allein,  wie  Hoffmann  sagt,  „eine  Schwankung  in  der 
Harnstoffbildung  erzeugt  und  einen  neuen  Gleichgewichtszustand  im  Körper 
herstellt",  so  geht  es  wohl  nicht  über  die  Grenzen  des  Wahrscheinlichen 
anzunehmen,  dass  auch  die  Zufuhr  von  Salzen,  deren  Schleim  lösende,  Säure 
tilgende  und  purgirende  Eigenschaften  sichergestellt  sind,  auf  den  Gesammt- 
stoffwechsel  einen  mächtigen,  wenn  auch  in  allen  seinen  Phasen  bisher  noch 
nicht  detaillirt  erklärten  Einfluss  auszuüben  vermag.  -  e. 

BarlOW'SChe  Krankheit.  Unter  der  „Barlow'schen  Krankheit" 
verstehen  wir  eine  eigenartige,  hämorrhagische  Diathese,  welche  mit  Vor- 
liebe während  der  zweiten  Hälfte  der  Säuglingsperiode  bei  rhachitischen 
Kindern  zum  Ausdruck  kommt.  Einzelbeobachtungen  waren  in  Deutschland 
schon  längere  Zeit  bekannt  geworden  und  als  „acute  Rhachitis"  be- 
schrieben. (Zuerst  von  Möllee- Königsberg  1859  und  1863).  Fökster- 
Dresden  hatte  (1880)  die  Eigenartigkeit  der  „acuten  Rhachitis"  in  ge- 
bührender Weise  betont,  aber  erst  BAELOw-London  brachte  (1883)  unsere 
Kenntnis  über  das  Wesen  der  Krankheit  durch  eine  Reihe  sorgfältiger 
Beobachtungen  und  pathologisch -anatomischer  Untersuchungen  auf  den 
jetzigen  Standpunkt.  Er  bezeichnete  nach  dem  Vorgang  von  Cheadle  (1878 
und  1882)  die  Erkrankung  direct  als  Scorbut,  hob  aber  doch  den  Zu- 
sammenhang der  Erkrankungen  mit  rhachitischen  Veränderungen  bei  den 
Kindern  hervor  und  stellte  fest,  dass  die  als  „acute  Rhachitis"  von  den 
deutschen  Autoren  beschriebenen  Fälle  seinen  eigenen  gleichzustellen  seien. 
(Heubner.)  Ausser  den  in  letzter  Zeit  in  Deutschland  sich  mehrenden 
Beobachtungen  (Rehn,  Heubner,  Pott)  liegt  auch  aus  Nordamerika  ein 
Bericht  über  diese  eigenthümliche  Krankheit  des   frühen  Kindesalters  vor. 

(NOETHEUP.) 

Für  das  Entstehen  dieses  Leidens  ist  man  geneigt,  in  erster 
Linie  eine  fehlerhafte  Ernährungsweise  des  Kindes  verantwortlich 
zu  machen.  Sämmtlichen  Kindern  fehlte  die  Mutter-  oder  Ammen- 
brust oder  wo  diese  gereicht  wurde,  war  man  schon  nach  wenigen  Wochen 
oder  Monaten  zur  künstlichen  Nahrung  übergegangen.  An  Stelle  der  f  r  i  s  c  h  e  n 
Kuhmilch  hatten  die  Kinder  als  ausschliessliche  Nahrung  M i  1  c h p r ä- 
parate  oder  Kindermehle  bekommen.  Der  höhere  Preis  dieser  Nähr- 
präparate erklärt  nicht  allein  die  Thatsache,  dass  die  Krankheit  weit  häufiger 
in  den  gut  situirten  Familien  und  verhältnismässig  seltener  in  der 
Armenpraxis  zur  Beobachtung  gelangt.  Rücksicht  verdient  der  Umstand, 
dass  den  Proletarierkindern  neben  den  Mehlsuppen  und  den  zu  geringen 
Mengen  frischer  Milch  frühzeitig  auch  frische  Vegetabilieu  (Gemüse, 
Kartoffeln  etc.)  als  Kost  verabreicht  werden !  So  kommt  es  zwar,  wie  Cheadle 
meint,  unter  den  Kindern  der  Armenbevölkerung  zur  Entwicklung  der 
schwersten  Formen  von  Rhachitis,  aber  nicht  zu  scorbutischen  Erkrankungen. 
Mangelhafte  Wohnungsverhältnisse,  „die  dumpfe,  feuchte  Kellerluft"  können 
als  ätiologisches  Moment  hier  nicht  mit  in  Betracht  gezogen  werden.  In- 
wieweit der  lange  Aufenthalt  des  Kindes  während  der  Winterszeit  in  Tag 
und  Nacht  überheizten,  ungenügend  gelüfteten  Räumen  von  Einfluss  sein 
kann,  lasse  ich  dahingestellt. 

Die  Mehrzahl  der  erkrankten  Kinder  steht  im  8,  bis  18.  Lebensmonat. 


BARLOWSCHE  KRANKHEIT.  151 

Anfangs  haben  sich  dieselben  in  normaler  Weise  entwickelt,  sind  sogar  oft 
„tiberernährt",  aber  schon  in  dem  letzten  Viertel  des  ersten  Lebensjahres, 
bisweilen  früher,  lassen  sich  die  ersten  Zeichen  der  beginnenden  Rhachitis 
Jachweisen.  Die  Kinder  verlieren  ihre  gesunde  Gesichtsfarbe,  sehen  blass 
und  anämisch  aus,  werden  weinerlich,  sind  in  der  Nacht  sehr  unruhig, 
schwitzen  viel;  besonders  auffallend  sind  die  Kopfschweisse ;  Obstipation 
wechselt  mit  diarrhoischen  Stuhlentleerungen.  Leichte  Auftreibungen  der 
Epiphysen  der  langen  Röhrenknochen,  Schwellungen  der  Chondrocostalver- 
bindungen,  auch  woW  Weichheit  der  Hinterhauptschuppen  sichern  die 
Diagnose.  Hierzu  gesellt  sich  zuerst  eine  ganz  ungewöhnliche  Schmerz- 
empfindlichkeit. Jeder  noch  so  vorsichtige  Versuch,  die  Kinder  hoch- 
zurichten, sie  umzukleiden,  zu  baden  oder  „trocken  zu  legen",  ja  jede 
leise  Berührung  ruft  augenscheinlich  die  hochgradigsten  Schmerzen  hervor. 
Aengstlich  vermeiden  es  die  Kinder,  active  Bewegungen  mit  den  Armen 
oder  Beinen  auszuführen.  Es  bilden  sich  Zwangslagen  und  Pseudoparalysen 
der  Extremitäten  aus.  Den  Sitz  der  Schmerzen  bei  den  kleinen  Patienten 
zu  localisiren,  ist  ungemein  schwierig.  Anfänglich  glaubt  man,  dieselben 
wohl  in  die  grösseren  Gelenke  (Knie-,  Hüft-,  Schultergelenke  etc.)  verlegen 
zu  müssen,  doch  werden  Ergüsse  in  dieselben  (nur  in  einem  Falle  beide 
Kniegelenke !)  nicht  beobachtet.  So  fehlen  die  Anschwellungen  der  Gelenke 
und  man  gewinnt  bei  wiederholter,  sorgfältiger  Abtastung  der  Extremitäten 
mehr  und  mehr  die  Ueberzeugung,  dass  die  excessiven  Schmerzen 
von  den  Knochen  ausgehen,  die  Gelenke  in  ihrer  Beweglichkeit  nicht 
beeinträchtigt  und  schmerzfrei  sind.  Den  Gedanken,  einen  acuten  Gelenks- 
rheumatismus vor  sich  zu  haben,  wird  man  umso  leichter  fallen  lassen,  als 
Temperatursteigerungen  ganz  fehlen  oder  nur  geringfügiger  Natur  zu  sein 
pflegen.  Wochenlang  bestehen  diese  hochgradigen  Schmerzen  fort,  ehe  cha- 
rakteristische Veränderungen  an  den. Knochen  zu  Tage  treten. 

Eine  deutlich  ausgesprochene  Auftreibung  und  cylindrische  Verdickung 
der  langen  Röhrenknochen  fällt  zunächst  auf.  In  sämmtlichen  Fällen  sind 
die  unteren  Extremitäten,  wenn  nicht  immer  allein,  doch  jedenfalls  am 
schwersten  betroffen.  Li  hervorragendem  Masse  werden  die  Tibiae  ergriffen, 
dann  folgen  die  Femora.  Die  Dickenzunahme  betrifft  mit  Vorliebe  die  Dia- 
physe  in  ihrem  unteren  Drittel.  Doch  kommen  hier  Abweichungen  vor !  In 
besonders  schweren  Fällen  erstreckt  sich  die  Dickenzunahme  über  die 
ganze  Diaphyse.  Die  Schwellungen  zeichnen  sich  durch  eine  prall- 
elastische Consistenz  aus,  erwecken  auch  wohl  das  Gefühl  einer  tiefen  Fluc- 
tuation.  Die  Berührung  ist  ungemein  schmerzhaft.  Die  Haut  erscheint  an 
diesen  Stellen  stark  gespannt,  etwas  ödematös  geschwollen,  die  örtliche 
Temperatur  etwas  erhöht,  doch  fehlt  jede  Spur  von  Röthung  oder  Entzündung. 
Ein  s  y  m  m  e  t  r  i  s  c h  e  s  E  r  g  r  i  f  f  e  n  s  e  i  n,  analog  den  rhachitischen  Epiphysen- 
schwellungeu,  findet  nicht  statt.  Sind  beide  Tibiae  oder  Femora  befallen, 
so  treten  die  Anschwellungen  nicht  immer  gleichzeitig  und  in  derselben 
Ausdehnung  und  Heftigkeit  auf.  Es  kann  der  Knochenschaft  der  einen  Ex- 
tremität bereits  wieder  abschwellen,  während  eine  Zunahme  an  der  an- 
deren festgestellt  wird.  Gleiche  Veränderungen  spielen  sich  auch  an  den 
Vorderarmknochen,  dem  Humerus,  ab.  In  einzelnen  Fällen  kam  es  sogar 
zu  Epiphysenlösungen  mit  deutlicher  Crepitation.  Auch  die  Rippen 
(Brustbeinenden !)  die  Schulterblätter,  Schädel-  und  Gesichtsknochen  werden 
in  Mitleidenschaft  gezogen.  Besonders  erwähnenswerth  ist  die  Dickenzu- 
nahme der  Alveolarfortsätze  des  Ober-  und  Unterkiefers. 

Dementsprechend  constatiren  wir  auch  auffallende  Veränderungen  am 
Zahnfleisch,  aber  nur  an  den  Stellen,  wo  die  Zähne  bereits 
durchgebrochen  sind,  oder  ihr  Durchbruch  nahe  bevorste  ht. 


152  BARLOW'SCHE  KRANKHEIT. 

Also  meist  nur  au  den  Alveolen  der  oberen  und  unteren  Schueidezcäline. 
Die  übrige  Mundschleimhaut  erscheint  normal.  Das  Zahnfleisch  ist  an  den 
erwähnten  Stellen  schwammig  gewulstet  und  gelockert,  blauroth  verfärbt 
und  blutet  bei  der  leisesten  Berührung,  oft  schon  beim  Oeffnen  des  Mundes. 
Geschwüre,  schmieriger  Belag.  Fötor  ex  ore.  Lockerwerden  der  Zähne 
wurden  nicht  beobachtet.  Die  Zahnfleischblutungen  sind  zwar  nur  minimal 
und  als  solche  bedeutungslos,  doch  wiederholen  sie  sich  im  Laufe  der 
Krankheit  öfters;  jedenfalls  sind  sie  charakteristisch.  Man  vermisste  sie 
übrigens,  wie  schon  angedeutet,  ebenso  wie  die  Zahnfleischsugillationen 
in  allen  Fällen,  wo  noch  keine  Zähne  vorhanden  waren. 

Inconstant  sind  Blutungen  unter  die  Haut  und  ins  Unterhautzell- 
gewebe. Sie  treten  in  Form  von  Petechien,  Purpuraflecken  oder  auch  als 
einzelne  grössere,  unregelmässige  blaurothe  Bkitsugillationen  auf.  Wiederholt 
sind  entstellende  hämorrhagis  che  Oe  deme  der  Augenlider  beob- 
achtet. Sie  treten  abwechselnd  bald  rechterseits,  bald  linkerseits  auf,  oder 
auch  gleichzeitig  auf  beiden  Augen.  Die  Augenlider  bilden  unförmliche 
Wülste  und  können  spontan  nicht  geöffnet  werden.  Der  Bulbus  wird  voll- 
ständig bedeckt  und  nach  unten  und  vorwärts  gedrängt.  Auffallend  con- 
trastirt  die  blutrothe  Färbung  des  Augenlides,  die  nach  Abschwellen  des 
Oedems  ein  bleifarbenes,  blau-graues  Colorit  annimmt,  mit  der  gelblichen, 
wachsbleichen  Gesichtsfarbe  der  Kinder.  Nicht  selten  entwickeln  sich  auch 
Oedeme  an  den  Knöcheln,  doch  sind  diese  wohl  nur  hydraulischer  Natur. 
Ist  auch  vereinzelt  Albuminurie  und  blutiger  LMn  beobachtet,  so  fehlen 
diese  Erscheinungen  jedenfalls  in  der  Mehrzahl  der  Fälle.  Alle  übrigen 
Organe,  Herz,  Lungen  etc.  zeigen  normale"  Verhältnisse.  Die  Stuhlent- 
leerungen sind  vorwiegend  diarrhoischer  Natur,  bei  vielen  zeigte  sich  auch 
Blut  im  Stuhlgang. 

Ist  die  Prognose  im  Allgemeinen  auch  nicht  ganz  ungünstig,  so 
haben  mv  es  doch  mit  einer  wahren  Ernährungsstörung  zu  thun.  Schon  der 
mangelnde  Appetit,  die  Neigung  zu  Durchfällen,  die  starken  Schweisse, 
die  Schlaflosigkeit  sind  an  sich  geeignet,  die  Kinder  in  ihrer  Ernährung 
herabzubringen  und  ihre  Widerstandsfähigkeit  gegen  intercurrent  auftretende 
Krankheiten  herabzusetzen;  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  handelt  es  sich 
ab  er  um  eine  krankhafte  B 1  u  t  b  e  s  c  h  a  f  f  e  n  h  e  i  t ,  obwohl  der  Nachweis 
für  dieselbe  noch  aussteht.  Eine  Gewichtsabnahme  der  Säuglinge  erfolgt  nur 
allmälig,  da  ein  Schwimd  des  Fettpolsters  nur  laugsam  eintritt.  Frühzeitiger 
kommt  es  zu  atrophischen  Zuständen  der  Skelettmusculatur.  Ein  deutlicher 
Muskelschwund  zeigt  sich  namentlich  bei  der  Schultergegend.  Hebt  man  die 
Kinder  wagerecht  empor,  so  hängen  die  Arme  schlaff,  wie  gelähmt  herab. 

Wir  müssen  leichtere  und  schwerere  Formen  unterscheiden. 
Die  leichteren  Fälle  werden  jetzt,  wo  man  die  Krankheit  besser  kennt, 
wohl  häufiger  als  früher  beobachtet  werden.  Ich  rechne  zu  denselben  die- 
jenigen, welche  bei  einer  geeigneten  hygienisch-diätetischen  Behandlung 
in  einigen AVochen  zur  Besserung  und  Heilung  gelangen.  Bei  den  schwereren 
Fällen  vergehen  mindestens  2 — 3  Monate,  ehe  eine  völlige  Heilung  erfolgt. 
Je  frühzeitiger  aber  die  Krankheit  erkannt,  je  consequenter  die  gegebenen 
Vorschriften  durchgeführt  werden,  um  so  sicherer  ist  ein  Stillstand  und 
eine  Paickbildung  der  oben  geschilderten  Krankheitserscheinungen  zu 
erzielen.    Sonst  verfallen   die  Kinder  einer  schweren  Cachexie.    der  sie 

schliesslich  erliegen. 

Die  Ob  ductions  befände  haben  gezeigt,  dass  die  oben  geschilderten  Knochen- 
verdickungen und  Auftreibungen  auf  sub  p«  riostale  Blutungen  zurückzuführen  sind. 
■Die  Quelle  der  subi^eriostalen  Blutung  ist  in  dem  verdickten  und  stark  congestionirten,  in 
loser  Verbindung  mit  den  unterliegenden  Knochen  stehenden  Periost  zu  suchen.  Auch 
am  Lebenden  wurde  die  subperiostale  Blutung  durch  Function    resp.  Incision  festgestellt. 


BASEDOWSCHE  KRANKHEIT.  I53 

Das  Periost  ersclieint  abgehoben,  der  weissbläuliche  Knochen  liegt  frei  und  der  Hohlraum 
zwischen  Periost  und  Knochen  ist  mit  zum  Theil  noch  flüssigen,  diinkellackfarbicren.  zum 
Theilmehr  krümmlichen  Blutmassen  ausgefüllt.  Abgesehen  von  den  herdförmigen  Blutunt^en 
in  der  Haut,  im  Unterhautzellgewebe  und  Muskelgewebe,  hämorrhagischen"  und  serösen 
Ergüssen  in  die  serösen  Säcke  (Pleura,  Pericard !)  spärlichen  Lungenhämorrhagieu  werden 
weitere  Orgauveränderungen  nicht  erwähnt. 

Darf  mau  auch  wohl  der  Yermuthuug  Raum  gebeu,  dass  dieser  eigeu- 
thümlicheu  hämorrhagischeu  Diathese  eiue  Erkraukuug  des  Blutes 
oder  der  capillareu  Blutgelasse  zu  Grunde  liegt,  so  fehlen  doch  bis  jetzt 
alle  thatsächlichen  Unterlagen.  Die  ursprüngliche  Ansicht,  in  der  fraglichen 
Krankheit  eine  „acute  PJiachitis  mit  tumultuarischem  Verlauf"  erblicken 
zu  wollen,  hat  man  mit  Recht  bald  fallen  gelassen,  aber  auch  gegen 
Scorbut  spricht  vieles.  Alles  deutet  beim  Scorbut  auf  eine  infectiöse, 
epidemisch  oder  endemisch  auftretende  hämorrhagische  Diathese 
hin.  Es  entspricht  aber  das  Krankheitsbild  solcher  Fälle  von  Scorbut,  wie 
sie  uns  von  Kühx  (Epidemie  in  Moringen  1875/76)  bei  Kindern  unter 
einem  Jahre  geschildert  werden,  durchaus  nicht  dem  Symptomen- 
coraplex  der  BAELOw'scheu  Krankheit,  ganz  abgesehen  davon,  dass  es  sich 
bei  letzterer  stets  nur  um  vereinzelte  Fälle,  die  zeitlich  und  örtlich  weit 
auseinander  liegen,  gehandelt  hat.  Bei  den  an  Scorbut  erkrankten  Säug- 
lingen kam  es  niemals  zu  subperiostalen  Blutungen,  dagegen  waren  sämmt- 
liche  Fälle  durch  Bronchitiden  resp.  Pneumonien  complicirt,  während 
Erkrankungen  der  Respirationsorgane  bei  der  BAELOw'schen  Krankheit 
eigentlich  gar  nicht  in  Frage  kommen.  Klarheit  werden  wir  erst  dann  er- 
warten dürfen,  wenn  der  specifische  Krankheitserreger  des  Scorbuts  mit 
Sicherheit  nachgewiesen  ist. 

Ist  man  auch  nicht  berechtigt,  ohne  weiteres  die  BARLow'sche 
Krankheit  mit  dem  Scorbut  zu  identificiren,  so  hat  doch  die  anti- 
s  c  0  r  b  u  t  i  s  c  h  e  Behandlung  in  vielen  Fällen  überraschend  günstige 
Erfolge  aufzuweisen  gehabt.  Auf  grosse,  luftige,  helle,  warme,  aber  nicht 
überheizte  Wohnräume,  Wechsel  derselben  für  die  Tag-  und  Nachtzeit, 
stimdenlüTigeB  Auf  enfhaJ f.  des  Kindes  im  Freien  bei  warmemSonnenschein :  auf 
genügeucVe  Hautpflege  durch  lauwarme  Bäder,  spirituöse  Abreibungen  oder 
dergl.  glaube  ich  gerade  hier  ein  besonderes  Gewicht  legen  zu  müssen. 
Das  sind  zwar  selbstverständliche,  allgemein  giltige,  hygienische  Vorschriften, 
doch  werden  diese  auch  in  den  besser  situirten  Familien  aus  übel  ange- 
brachter Aengstlichkeit,  die  Kinder  vor  Erkältungen  zu  schützen,  oft  genug 
ausser  Acht  gelassen.  Die  bisherige  Ernährungsweise  des  erkrankten 
Kindes  hat  einer  völligen  Umgestaltung  zu  unterliegen!  Die  präcise- 
sten  Vorschriften  in  dieser  Beziehung  gibt  Heubnee.  Keine  Kindennehle 
oder  Miklipräijaratel  Frische,  nicht  steriUsirfe,  mir  pasteurifiirte  Kuhmilch, 
täglich  einige  Kinderlöffel  frisch  ausgepressten  FleiscJisaftes  mit  etwas 
Malaga-  oder  Ungarwein,  ferner  Fruchtsaft  (am  besten'  Apfelsinensaft, 
2 — 3  Kaffeelöffel  täglich,  oder  Apfelmus):  mittags  nel)en  einer  KaJhshrühe 
oder  Hilhnersvpfe,  einige  Kaffeelöffel  frischen,  durch  das  Sieb  geschlagenen 
Gemüses  {Kartoffel,  Spinat,  Mohrrüben  etc.)!  Gegen  die  Schmerzhaftigkeit 
der  Glieder  haben  sich  Priessnitz'sche  Umschläge,  an  den  unteren  Extremitäten 
V.  VoLKJViANN'sche  Extensionsverbände  als  nützlich  erwiesen.  pott. 

BasedOW'SChe  Krankheit.  Die  Basedow^sche  Krankheit 
{Morlms  Basedoivii,  Maladie  de  Graues  (Teousseau),  Glotzrcugenkranl-Jieif, 
Tachijcardia  strumosa  (Lebert),  Exophthalmia  cachectica,  Maladie  exophthal- 
mique,  Cachexie  thyreoidienne  (Gaütier),  Dijscrasia  s.  Cachexia  exopMuthnica, 
Cardiopjcämus  strumosus  (Hirsch),  Keurosis  thi/reoexophfliahnica  (Corlieu). 
Struma  exophthahnica),    zuerst    in   England  von  Graves   (1835),    später  in 


154  BASEDOWSCHE  KRANKHEIT. 

Deutschland  von  Basedow  (1848)  genau  beschrieben,  ist  ein  durch  Ver- 
grösserung  der  Schilddrüse,  Pulsbeschleunigung  und  Pro- 
minenz der  Bulbi  streng  charakterisirtes  Leiden.  Die  genannte  Sym p- 
tomentrias  ist  nicht  immer  vollständig,  zuweilen  fehlt  die  eine  oder 
andere  der  Haupterscheinungen,  und  an  deren  Stelle  tritt  eine  Menge 
anderer  das  Krankheitsbild  complicirender  Symptome. 

Die  Krankheit  beginnt  in  der  Ptegel  langsam  und  allmälig,  in  seltenen 
Fällen  ist  sie  acut  und  verläuft  rapid.  Bezüglich  der  Reihenfolge  kann 
man  sagen,  dass  die  Erscheinungen  seitens  des  Herzens  am 
frühesten  auftreten.  Wo  dieselben  fehlen,  ist  die  Diagnose  überhaupt  sehr 
zweifelhaft.  Herz-  und  Arterienklopfen,  allerhand  peinliche  Gefühle,  die 
auf  den  Herzschlag  bezogen  werden,  Beschleunigung  der  Herzthätigkeit 
(100 — 150  Schläge  in  der  Minute)  sind  gewöhnlich  die  ersten  beunruhi- 
genden Symptome  des  Leidens.  Der  bei  den  geringsten  körperlichen  Bewe- 
gungen und  psychischen  Affecten  sich  beschleunigende  P  uls  ist  klein, 
weich  und  rhytmisch.  Arhytmie  mit  Athembeschwerdeu,  Oedemen,  Anfällen 
von  Angina  pectoris  findet  man  nur  in  den  letzten  Stadien  als  Zeichen 
eingetretener  organischer  Herzschwäche.  Herzgeräusche  sind  relativ  häufig, 
"etwa  in  zwei  Drittel  der  Fälle  (RErsroLDs),  gewöhnlich  systolischer  Art 
und  an  der  Herzbasis  am  deutlichsten  auscultirbar.  Dilatation  des  Herzens 
ist  bedeutend  seltener  als  das  Arterienklopfen  am  Halse  oder  am  Unter- 
leibe. In  den  Halsarterien  ist  fast  immer  ein  systolisches  Geräusch  zu 
hören,  gelegentlich  am  Halse  Venenpuls  und  systolisches  Schwirren. 

Die  Anschwellung  der  Schilddrüse  ist  gewöhnlich  gleich- 
massig,  zuweilen  einseitig  oder  auf  den  Isthmus  beschränkt.  In  der  Drüse 
kann  man  —  speciell  wo  es  sich  um  einen  Gefässkropf  handelt  —  Pulsa- 
tionen und  deutliches  Schwirren  constatiren.  Volumen  und  Resistenz  der 
Struma  wechselt  von  Zeit  zu  Zeit,  zuweilen  recht  rasch,  in  wenigen  Stunden. 
Bei  Leuten  mit  alten  parenchymatösen  oder  interstitiellen  Strumen  ent- 
wickelt sich  zuweilen  der  typische  Morbus  Basedowii. 

Der  Exophthalmus  folgt  in  der  Regel,  gerade  wie  die  Struma,  auf 
die  Herzpalpitationen,  und  nur  in  seltenen  Fällen  ist  er  das  erste  Krank- 
heitssymptom. Bei  einseitigen  Strumen  ist  er  zuweilen  einseitig,  beziehungs- 
weise auf  dem  einen  Auge  stärker  als  auf  dem  anderen.  Sind  die  Bulbi 
hochgradig  protrudirt,  so  können  sie  im  Schlafe  von  den  Lidern  nicht  mehr 
völlig  bedeckt  werden,  was  dem  Kranken  ein  abschreckendes  Aussehen 
verleiht.  Am  unbedeckten  Bulbus  entwickeln  sich  zuweilen  Conjunctivitiden, 
Trübungen  der  Cornea  und  selbst  schwere  Ulcerationen.  Abgesehen  von 
der  arteriellen  Netzhautpulsation  und  dem  gelegentlich  auftretenden  Oedem 
der  Papille  finden  wir  beim  Ophthalmoscopiren  nichts  abnormales. 

Eine  andere  bemerkeuswerthe,  zuerst  von  Stellwag  beobachtete 
Erscheinung  seitens  der  Augen  ist  die,  dass  die  Lidspalte  ungewöhnlich 
gross  ist,  und  der  Lidschlag  selten  unwillkürlich  erfolgt.  Diagnostisch 
wichtiger  als  das  Stell wAG'sche  Symptom  ist  das  von  Graefe.  Es 
besteht  darin,  dass  bei  verticaler  Veränderung  der  Blickrichtung  das  obere 
Lid  dem  Augapfel  nicht  in  normaler  Weise  folgt,  sondern  zurückbleibt. 
Das  genannte  Symptom  stellt  sich  ausschliesslich  bei  Senkung  des  Blickes 
dar,  während  bei  Hebung  des  Blickes  das  Lid  dem  Augapfel  präcis  folgt. 
Beim  Sehen  nach  unten  wird  deshalb  eine  etwa  2  tmn  breite  Zone  der 
Sclera  über  der  Cornea  sichtbar.  Willkürlich  kann  das  Lid  ganz  prompt 
geschlossen  werden.  Die  Abwärtsbewegung  des  oberen  Lides  soll  nach 
Manchen  deshalb  erschwert  sein,  weil  eine  Tendenz  zur  Erweiterung  der 
Lidspalte  besteht,  es  sei  mithin  das  GRAEFE'sche  Symptom  eine  Folge  des 
Stell  wag' sehen.     Der   normale   willkürliche  Lidschluss   trotz  bestehenden 


BASEDOWSCHE  KRANKHEIT.  155 

GRAEFE'schen  Symptoms,  die  Seltenheit  des  STELLWAG'schen  Zeichens  bei 
relativer  Häufigkeit  des  GRAEFE'schen,  das  consecutive  Auftreten  des 
GEAEFE'schen  Symptoms  nach  manchen  completen  Oculomotoriuslähmungen 
machen  es  jedoch  unwahrscheinlich,  dass  es  sich  einzig  und  allein  um 
erhöhten  Tonus  handelt. 

Die  von  Möbius  zuerst  beschriebene,  später  von  Strümpell  und 
Chaecot  bestätigte  Insufficienz  der  Convergenz  gehört  zu  den 
seltenen  Symptomen  der  B.-Krankheit  und  ist  weder  als  Folge  des  Exoph- 
thalmus, noch  einer  wirklichen  Lähmung  aufzufassen.  Am  deutlichsten  ist 
die  Insufficienz,  wenn  man  den  Kranken  erst  nach  der  Stubendecke  und 
dann  auf  die  eigene  Nase  sehen  lässt.  Die  Kranken  wissen  von  dem  Vor- 
gänge nichts,  haben  keine  Doppelbilder,  klagen  nur  beim  Convergiren  über 
ein  Gefühl  von  Spannung. 

Augenmuskellähmungen  mit  Strabismus  und  Diplopie  werden 
oft  genug  beobachtet,  speciell  die  OphthalmopUrjia  externa,  bei  der  der 
Sphincter  iridis  intact  bleibt.  Sie  treten  zuweilen  gleichzeitig  mit  Lähmungen 
anderer  Gehirnnerven  auf  (Gesichts-,  Gaumen-,  Zungen-.  Kaumuskelparesen), 
was  den  intracerebralen  Charakter  der  Lähmung  unverkennbar  macht.  Der 
gelegentlich  auftretende,  unterbrochene  schnellschlägige  Tremor  der 
Augenlider  ist  wahrscheinlich  als  Analogon  des  unten  zu  besprechenden 
Händezitterns  aufzufassen. 

Ziemlich  häufig  sind  die  Erscheinungen  seitens  der  Verdauuugs- 
organe,  seltener  der  Athmungs-  und  Geschlechtsorgane.  Eigen- 
thümliche,  sehr  profuse,  ohne  bestimmte  Ursache  auftretende  und  ver- 
gehende, jeder  Therapie  trotzende  Durchfälle  gehören  zu  den  gewöhnlichen 
Erscheinungen  der  Basedowkranken.  Erbrechen  und  Heisshunger  werden 
gelegentlich  beobachtet.  Ob  die  von  Federn  beschriebene  partielle  Darm- 
atonie,  „die  häufigste  und  wichtigste  Complication,  vielleicht  die  Ursache  des 
Morbus  B.  ist",  lässt  sich  wohl  sehr  bezweifeln.  Seitens  des  Respirations- 
tractus  sind  zu  erwähnen:  Starker  Husten,  Vermehrung  der  Athemzüge 
(bis  33  in  der  Minute  —  Marie)  und  eine  geringe  Erweiterung  des  Brust- 
kastens bei  der  Einathmung  („Brijsons  Zeichen''-)  —  Symptome,  die  viel- 
leicht auf  beginnende  Tuberculose  —  häufige  Complication  der  B.-Krank- 
heit —  zurückgeführt  werden  dürfen.  Sehr  häufig  ist  Amenorrhoe,  ver- 
einzelt sind  die  Fälle  von  Atrophie  der  Brüste  und  Gebärmutter. 

Auf  x\sthenie  der  Hautvasomotoren  ist  die  Neigung  der 
Kranken,  häufig  und  stark  zu  schwitzen,  zurückzuführen.  Das  Schuitzen 
tritt  auch  halbseitig  auf.  Schon  geringe,  zuweilen  auch  keine  nachweis- 
bare Anstrengung  ruft  Anfälle  von  subjectivem  Hitzegefühl  und  Unwohlsein 
hervor.  Unbedeutende  Pieizung  der  Haut  verursacht  zuweilen  tiefdunkel- 
rothe  Flecke,  die  erst  nach  1 — 2  Minuten  wieder  verschwinden.  Zu  den 
Erscheinungen  seitens  der  Haut  gehören  auch  die  Veränderungen 
des  Haiitpigmetits:  Vitiligo  und  Broncehaut,  die  sich  hie  und  da  auf  eine 
Complication  mit  der  AoDisoN'schen  Krankheit  zurückführen  lässt.  Erythem, 
Urticaria,  Alopecia  areata  sind  vereinzelte  Male  beobachtet  worden.  Die, 
nicht  immer  von  der  Herzschwäche  abhängigen  Oedemi  bieten  gelegentlich 
diagnostische  Schwierigkeiten.  Sie  sind  selten  allgemein,  gewöhnlich  circum- 
script  oder  nur  an  der  unteren  Körperhälfte  localisirt.  Die  constanteste 
aller  Veränderungen  der  Haut  bleibt  jedoch  das  profuse  Schwitzen.  Die 
starke  Durchfeuchtung  der  Haut  bei  der  Perspiratio  insensibilis  bedingt 
die  interessante,  zuerst  von  Vigouroux  bemerkte  Thatsache,  dass  der 
Widerstand  der  Haut  gegen  den  Batteriestrom  bedeutend 
geringer  ist.  als  im  gesunden  Zustande,  und  so  kommt  es,  dass,  während 
der  Leitungswiderstand  bei  Gesunden   bei   einer  Stromstärke    von    10 — 15 


J56  BASEDOAY'SCHE  KRANKHEIT. 

Volts  4—5000  Ohms  beträgt,  er  sich  im  Verlaufe  der  B.-Kraukheit  auf 
300—600  herausstellt.  Pathognostisch  ist  der  herabgesetzte  Leitungswider- 
stand nicht,  da  weder  Vorhandensein  desselben  unbedingt  für,  noch  Fehlen 
desselben  mit  Bestimmtheit  gegen  das  B.  Leiden  spricht. 

Der  allgemeine  Gesundheitszustand  solcher  Kranken  leidet 
gewöhnlich  ebenfalls:  Regelmässig  besteht  Anämie,  Hinfälligkeit  und 
Abmagerung.  Mit  Hinblick  auf  die  Cachexie  der  Kranken  wurde  von  Gautier 
der  Namen  Cachexie  fJit/reoklienne  vorgeschlagen.  Trotz  des  oft  vorhandenen 
Gefühls  übergrosser  Hitze  kommt  Steigevung  der  Temperatur  nach  Charcot 
ganz  ausnahmsv/eise  vor,  nach  Bartote  ziemlich  häufig,  nach  Gowers  nur 
in  den  Endstadieu  der  Krankheit.  Das  Fieber  kann  remittireud  und  inter- 
mittireud  auftreten.  In  schweren  Fällen  ist  es  äusserst  hartnäckig  und 
wird  von  den  übrigen  Fiebersymptomen  begleitet  (Röthung  des  Gesichts, 
Kopfschmerzen,  belegte  Zunge,  Appetitlosigkeit,  Fieberharn). 

Im  Blute  findet  man  eine  bedeutende  Abnahme  des  Hämoglobin- 
gehaltes und  Vermehrung  der  eosinophilen  Leucocyten:   Eosinophilie. 

Von  Seiten  des  K er v e n s y  s t  e  m s  werden  gar  nicht  selten  beobachtet : 
Kopfschwindel,  Hemicranie,  Schlaflosigkeit,  Crampi,  geistige  Depression 
und  Reizbarkeit.  Eine  andere  Erscheinung,  die  meist  zu  den  Complicationen, 
aber  wegen  seines  häufigen  Vorkommens  als  Symptom  betrachtet  zu  w^erden 
verdient,  ist  MusMtremor.  Er  zeigt  eine  grosse  ißegelmässigkeit  des  Rhythmus 
und  lässt,  analog  dem  Alkoholtremor,  etwa  8 — 9  Oscillationen  in  der  Secunde 
erkennen.  Zuweilen  ist  er  unregelmässig,  choreiform,  zuweilen  errinuert  er 
an  das  Zittern  bei  der  Paralysis  agitans.  Durch  Kälte  und  psychische 
Emotionen  wird  er  gesteigert.  Tremor  der  Augenlider  wurde  oben  unter 
den  Augensymptomen  erwähnt. 

Charcot  hat  wiederholt  auf  ein  Symptom  aufmerksam  gemacht, 
das,  seiner  Ansicht  nach,  zu  den  Zeichen  der  B.-Krankheit  selbst  gehört, 
nicht  etwa  eine  Complication  darstellt.  Es  ist  das  eine  lähmungs  artige 
Schwäche  der  Beine,  dem  das  giving  waij  of  the  Legs  der  Eng- 
länder vorausgeht,  d.  h.  das  plötzliche  Nachgeben,  Kraftlöswerden  der 
Beine,  das  die  Kranken  niederstürzen  lässt.  Abschwächung  der  Haut-  und 
Sehnenreflexe  soll  die  Paraparese  begleiten.  Trophische  Störungen 
der  Haut,  Haare,  Muskeln  und  Knochen  sind  mehrmals  notirt  worden. 

Complicationen.  Wo  eine  Complication  anfängt  und  eine  Theilerschei- 
nung  des  symptomreichen  Leidens  endet,  wird  sich  nur  in  einzelnen  Fällen,  und 
oft  da  nicht  mit  Bestimmthit,  entscheiden  lassen.  Die  Hysterie  mit  dem 
ganzen  Heere  ihrer  Erscheinungen  ist  als  die  häufigste  Complication  auf- 
zufassen ;  theils  geht  sie  der  B.-Krankheit  voraus,  tleils  scheint  die  letztere 
als  „agent  provocateur"  der  Hysterie  zu  dienen.  Beides  kommt  vorwiegend 
bei  Leuten  mit  einem  von  vornherein  instablen  Nervensystem  vor.  Es  ge- 
hören deshalb  auch  die  geistigen  Störungen  zu  den  gar  nicht  seltenen 
Complicationen.  Die  gewölmlich  vorhandene  Reizbarkeit,  Unruhe,  Launen- 
haftigkeit führen  hie  und  da  zu  Zuständen  zweifelloser  Psychosen  mit 
Verwirrtheit,  Sinnestäuschungen,  Wahnvorstellungen.  Hypochondrische  Ver- 
stimmung, bedingt  durch  das  fortwährende,  unangenehme  Gefühl  des  Herz- 
klopfens und  Schlaflosigkeit,  wechselt  zuweilen  mit  dem  maniakalischen  Zu- 
cjtande  ab.  Am  meisten  tragen  jedoch  die  psychischen  Erscheinungen  den 
Charakter  des  hysterischen  Irreseins,  allgemeiner  der  Neuropsychosen 
der  Entarteten. 

Von  functionellen  und  organischen  Nervenleiden,  die  sich  zuweilen 
mit  dem  B.  Leiden  combiniren,  seien  erwähnt:  Epilepsie,  Migräne, 
Neuralgien,  Diabetes  mellitus,  Diabetes  insipidus,  Chorea, 
intermittirende  Glykos-und  Albuminurie. 


BASEDOWSCHE  KRANKHEIT.  157 

•  Verlauf  und  Varietäten.  In  der  Regel  ist  der  Beginn  der- 
Kranklieit  ein  allmälicher  und  der  Verlauf  erstreckt  sich  über  eine  Reihe 
von  Jahren,  indem  zuerst  die  Herzpalpitation  auftritt,  später  das  Stärker- 
werden des  Halses  und  Exophthalmus  sich  hinzugesellen.  Gelegentlich  ist 
der  Beginn  auch  ein  akuter,  so  dass  sich  die  Symptom entrias  im  Verlaufe 
von  wenigen  Tagen  bis  24  Stunden,  meist  nach  einer  psychischen  Emotion, 
entwickelt.  Bedeutende  und  prolongirte  Remissionen  kommen  häufig 
vor,  zuweilen  sogar  richtige  Intermittenzen  von  solcher  Dauer  und  Voll- 
kommenheit, dass  ein  solcher  Kranke  von  mehreren  getrennten  Anfällen 
heimgesucht  wird.  Bei  der  anscheinend  fast  unbegrenzten  Dauer  der  Re- 
missionen darf  man  in  praxi  freilich  von  Heilung  sprechen,  doch  pflegt  es 
sich  dabei  nicht  um  eine  complete  Restitutio  ad  integrum  zu  handeln. 
Wie  gross  der  Procentsatz  der  geheilten  Fälle  ist,  ist  nicht  er- 
wiesen; man  schätzt  ihn  auf  etwa  25  Proc.  Am  längsten  halten  sich  die 
am  frühesten  auftretenden  Symptome  seitens  des  Herzens.  Im  Ganzen  soll 
das  Leiden  bei  Männern  bedeutend  seltener  auftreten,  dagegen  einen 
schnelleren  Verlauf  als  bei  Frauen  nehmen. 

Abgesehen  von  den  Todesfällen  durch  complicirende  Erkrankung 
(Tuberkulose),  hat  man  die  B.-Kranken  auf  verschiedenste  Weise  sterben 
sehen,  durch  Herzschwäche  mit  Oedem,  unstillbares  Erbrechen,  Durchfall, 
Marasmus,  permanentes  hohes  Fieber.  Zuweilen  tritt  der  Tod  plötzlich  ein, 
ohne  dass  eine  Ursache  zu  finden  ist. 

Aetiolog'ie.  Aetiologisch  etwas  Sicheres  anzugeben,  sind  wir  ausser 
Stande :  hereditäre  Verhältnisse,  neuröpathische  Prädisposition,  physische 
Emotionen,  Erkältung,  Infectionskrankheiten  (Rheumatismus,  Diphterie, 
Influenza)  sind,  wie  bei  vielen  anderen  Nervenleiden,  so  auch  hier,  geltend 
gemacht  worden.  Uebereinstimmung  herrscht  vorläufig  nur  darüber,  dass 
eine  angeborene  Prädisposition  anzunehmen  ist.  Dafür  sprechen  die  Un- 
menge der  nervösen  und  physischen  Symptome,  die  das  typische  Bild  com- 
pliciren ,  ferner  das  häufige  Vorkommen  von  Nervenkrankheiten  ver- 
schiedenster Art  in  der  Familie  des  BASEDOW-Kranken.  So  war  beispiels- 
weise in  einem  Falle  von  Marie  der  Vater  mit  Paralysis  agitans  behaftet, 
der  Sohn  mit  B.- Krankheit,  eine  Schwester  der  Mutter  irrsinnig,  zwei 
Geschwisterkinder  epileptisch.  Solche  Fälle  gehören  keineswegs  zu  den 
Ausnahmen.  Für  das  hereditäre  Moment  sprechen  ebenfalls  mehrere  Be- 
obachtungen, wie  z.  B.  die  von  Rosenbeeg,  wo  eine  Frau,  ihr  Sohn,  ihre 
zwei  Töchter  und  zwei  Enkeln  vom  Morbus  Basedowii  befallen  waren. 

Pathologische  Anatomie  und  Pathogenese.  In  der  Schilddrüse 
sind  alle  Gefässe  deutlich  vergrössert,  zuweilen  aueurysmatisch  ausgebuchtet, 
das  eigentliche  Drüsenparenchym  vermehrt,  hie  und  da  cystisch  oder  colloid 
entartet.  Herz  und  Gefässe  sind  dilatirt.  In  der  Orbita  findet  sich  gewöhn- 
lich eine  Zunahme  des  Fettgewebes.  Manchmal  ist  die  Thymus,  beziehungs- 
weise ihre  Reste,  gelegentlich  auch  die  Lymphdrüsen  am  Halse  deutlich 
hyperplastisch. 

Die  frühere  Lehre,  dass  eine  Erkrankung  des  Sympathicus  Ursache  der 
Krankheit  sei  (SipupathicustJieoy/e,  Koeben-Troüsseau),  muss  schon  aus  dem 
Grunde  als  widerlegt  betrachtet  werden,  dass  man  einerseits  bei  den  verschie- 
densten Leiden  dieselben  Veränderungen  findet,  andererseits  in  vielen  Fällen 
von  typischer  B.  -  Krankheit  eine  anatomische  Alteration  im  Sympathicus 
vermisst.  Uebrigens  beweisen  die  neuesten  mikroskopischen  Untersuchungen, 
dass  ein  grosser  Theil  jener  älteren  Befunde  auf  mangelhaften  histologischen 
Methoden  beruhte.  In  letzterer  Zeit  hat  man  besonders  auf  die  Veränderungen 
des  verlängerten  Markes  gefahndet  (OhlongafafJieorie,  Sattler  -  Filehne). 
Filehne  und  Durdufi  gelang  es  sogar   auf  experimentellem  Wege,    durch 


158  BASEDOWSCHE  KRANKHEIT. 

Durchschneidimg  des  Corpus  restiforme  im  vorderen  Viertel,  die  Symptome 
der  B.-Kraiikheit  an  Hunden  und  Kaninchen  zu  erzeugen.  Atrophie  des 
KRAusE'schen  solitären  Respirationsbündels  und  des  Corpus  restiforme, 
Congestionserscheinungen  der  Medulla,  acute  kleinere  Blutungen  am  Boden 
des  vierten  Ventrikels  sind  vereinzelt  beobachtet.  Die  capillaren  Blutungen  an 
der  Medulla  sollen  nämlich  auf  den  locus  minoris  resistentiae  hinweisen,  auf 
diejenigen  Stellen,  die  schon  functionell  längst  afficirt  sind.  Es  bleibt  immer- 
hin dahingestellt,  ob  nicht  ein  die  Tachycardie  bewirkendes  Agens  zuerst  auf 
die  Apparate  in  der  Oblongata  (Vaguscentrum)  lähmend  einwirkt  oder  nicht. 
Bei  dem  Mangel  irgend  welcher  constanten  und  zweifellosen  patho- 
logisch-anatomischen Befunde  scheint  die  sogenannte  Thyreoldeatheorie 
(MoEBius)  die  wahrscheinlichste  zu  sein.  Die  Schilddrüse  soll  nämlich  einen 
wichtigen  Einfluss  auf  die  chemische  Beschaffenheit  des  Blutes  und  der 
Körpersäfte  ausüben.  Wird  die  Drüse  krank,  so  kann  sie  ihre  chemische 
Thätigkeit  nicht  in  normaler  Weise  entfalten.  Die  abnorm  beschaffeneu  Kör- 
persäfte wirken  toxisch  auf  das  centrale,  resp.  periphere  Nervensystem. 

Für  die  Richtigkeit  dieser  Theorie  sprechen  mehrere  Thatsachen.  1.  Der 
Verlust  der  Thyreoidea  auf  operativem  Wege  (z.  B.  bei  Kropfexstirpation)  ruft  bekannt- 
lich die  schwersten,  letal  endenden  Ernährungsstörungen  hervor,  die  sogenannte  Cachexia 
strumipriva.  Aehnlich  verhält  es  sich  bei  dem  mit  schweren  Ernährungsstörungen  und 
psychischen  Alterationen  verlaufenden  Myxoedem^  das  sich  durch  Atrophie  der  Thyreoidea 
kennzeichnet.  2.  Man  findet  andererseits  bei  dem  Cretinismus,  der  sich  analog  dem  B.- 
Leiden durch  Hyperplasie  und  Entartung  der  Schilddrüse  auszeichnet,  ebenfalls  schwere 
Ernährungsstörungen.  Die  erwähnten  Erscheinungen  in  der  physischen  und  psychischen 
Sphäre  können  mithin  bei  den  genannten  Krankheiten  als  Folge  der  krankhaft  verän- 
derten bezw.  ausgefallenen  Function  der  Schilddrüse  betrachtet  werden.  3.  Man  weiss 
über  die  Ursache  des  Schilddrüsenschwundes  bei  Myxoedem  und  der  Schilddrüsenent- 
artung bei  Cretinismus  nichts  Definitives,  man  muss  aber  aus  dem  endemischen  Auftreten 
beider  Krankheiten  den  Schluss  ziehen,  dass  die  Krankheitsursache  ein  nur  unter  be- 
stimmten äusseren  Bedingungen  entstehendes  oder  wirksames  Gift  ist.  Dieselbe  Ver- 
muthung  ist  auch  bei  der  B. -Krankheit,  die  hauptsächlich  in  England  (endemisch?)  vor- 
zukommen pflegt,  zulässig.  4.  Für  die  Thyreoldeatheorie  sprechen  diejenigen  Fälle  von 
primärem,  essentiellem  Kropf,  bei  denen  Zeichen  der  B. -Krankheit  hinzutreten  (Zittern, 
Herzklopfen,  psychische  Störung).  Zuweilen  tritt  bei  mehreren  Gliedern  einer  Familie 
Kropf  auf,  bei  dem  Einen  bleibt  der  Kropf  ohne  Complicationen  bestehen,  bei  dem  An- 
deren treten  nach  mehreren  Jahren  (in  einem  Falle  von  Lamy  nach  23  Jahren)  Base- 
Dow-Symptome  auf.  Die  letzteren  gesellen  sich  zuweilen  den  interstitiellen  und  ent- 
arteten einfachen  Kröpfen  hinzu.  5.  Für  die  ursächliche  Abhängigkeit  der  Krankheits- 
symptome von  den  Veränderungen  der  Schilddrüse  sprechen  endlich  das  Schwinden  des 
Symptomencomplexes  nach  operativen  Eingriffen  —  partielle  Exstirpation  —  an  der 
Drüse.  6.  Einen  scheinbaren  Einwurf  gegen  diese  Theorie  könnte  man  aus  der  That- 
sache  entnehmen,  dass  in  manchen  Fällen  ein  Theil  der  Erscheinungen  eher  da  ist  als 
die  Struma.  Indessen  kann  doch  die  Drüse  sehr  wohl  erkra,nkt  sein,  ehe  die  Betastung 
eine  Veränderung  des  Volumens  erkennen  lässt  Bemerkenswerth  ist  BEKTOTE-REjfATJT's 
statistische  Angabe,  dass  er  auch  dann,  wenn  im  Leben  nichts  an  der  Schilddrüse  nach- 
zuweisen war,  dieselbe  bei  der  Section  krankhaft  gefunden  habe  Zu  erwähnen  wären 
bei  Gelegenheit  zwei  Fälle  von  Combination  der  B  -Krankheit  mit  Myxoedem  (Jollier), 
bei  denen  die  Drüse  hypertrophisch  war.  7.  Nach  Rexattt  soll  das  von  ihm  nachgewiesene 
relativ  häufige  Auftreten  von  Fieber  den  infectiös-toxischen  Ursprung  der  B.-Krankheit 
wahrscheinlich  machen.  Das  Fieber  erinnert  an  dasjenige  bei  schwerer  Chlorose,  per- 
niciöser  Anämie,  Leukämie  auftretende.  Es  kann  stets  auf  Einwirkung  giftiger  Stoff- 
wechselproducte  etwa  wie  das  Fieber  bei  Chorea  —  theils  auf  rein  nervöser  Störung 
—  wie  bei  Hysterie  —  beruhen. 

Wollen  wir  noch  kurz  die  Pathologie  der  einzeln  en  Symptome 
betrachten. 

Zunächst  die  Dilatation  der  Gefässe  und  die  Steigerung 
der  Herzaction,  die  die  Aufmerksamkeit  der  Kliniker  auf  das  sym- 
pathische System  gelenkt  haben.  In  der  That,  im  Halstheile  des  Sym- 
pathicus  finden  sich  Fasern,  deren  Reizung  die  Herzaction  beschleunigen. 
Es  müsste  aber  dann  zufolge  der  gleichzeitigen  Reizung  der  vasoconstricto- 
rischen  Fasern  eine  Contraction  der  Gefässe  mit  erhöhtem  Druck  entstehen. 


BASEDOWSCHE  KRANKHEIT.  159 

Diese  Erwägung  hat  manche  Pathologen  dazu  geführt,  auf  das  Central- 
nervensystem  als  den  Sitz  des  pathologischen  Processes  zu  sehen,  welcher 
die  Störungen  an  den  Gefässen  und  dem  Herzen  bewirkt.  Ob  diese  Affec- 
tion  genuin  entsteht,  oder  auf  toxischem  Wege,  das  ist  eine  vorläufig 
nicht  mit  Bestimmtheit  zu  entscheidende  Frage. 

Dass  die  Struma  nicht,  wie  Graves  meinte,  einzig  und  allein  von 
der  Gefässdilatation  und  der  consecutiven  Hypertrophie  abhängt,  lässt  sich 
aus  den,  wenngleich  seltenen  Fällen  schliessen,  wo  die  Struma  den  Herz- 
palpitationen  zeitlich  vorangeht,  oder  wo  sie  bei  sehr  intensiven  und  lang- 
dauernden kardio-vasculären  Erscheinungen  gar  nicht  oder  nur  sehr  unbe- 
deutend ausgesprochen  ist. 

An  dem  Auftreten  des  Exophthalmus  sind  die  Erweiterung  der 
Gefässe  der  Augenhöhle,  die  autoptisch  constatirbare  Vermehrung  des 
Fettes  in  der  Orbita  und  die  Reizung  des  MüLLER'schen  Muskels  beschul- 
digt worden.  Der  am  Lide  angeheftete,  glatte  MüLLER'sche  Muskel  gibt 
bekanntlich  wenige  Fasern  ab,  die  vom  Lid  zu  der  die  Orbita  begrenzen- 
den Membran  gehen  und  voraussetzlich  durch  ihre  Contraction  eine  Pro- 
minenz des  Bulbus  bewirken. 

Die  weite  Lidspalte  beim  Blick  nach  oben  —  Stellv^ag's  Symptom 
—  und  die  mangelhafte  Mitbewegung  des  oberen  Lides  beim  Blick  nach 
unten  —  Graefe's  Symptom  —  werden  ebenfalls  auf  einen  Spasmus  des 
MüLLER'schen  Muskels  zurückgeführt.  Für  die  thatsächliche  Abhängigkeit 
der  genannten  Symptome  von  einer  Reizung  des  MüLLER'schen  Muskels  (N. 
Sympathicus)  spricht  der  von  Gov^ers  citirte  Versuch  Jessop's,  wonach  man, 
bei  Application  von  Cocain  auf  die  Conjunctiva,  das  Auftreten  des  Stell- 
WAG'schen  und  GRAEFE'schen  Symptoms  merken,  nach  vorausgeschickter 
Durchschneiduug  der  sympathischen  Nervenendigungen  aber  vermissen  soll. 
Wie  man  sich  aber  einerseits  den. permanenten  Reizzustand  des  Sympathicus, 
andererseits  die  ungleiche  und  nicht  immer  congruente  Entwickelung  des 
Exophthalmus,  der  Lidretraction  und  der  Mitbewegung  des  Lides,  die  doch 
alle  drei  von  derselben  Reizung  abhängig  sein  sollen,  vorzustellen  hat, 
bleibt  eine  ganz  unentschiedene  Frage.  Das  GRAEFE'sche  Symptom  führt 
Sattler  auf  die  Läsion  eines,  sich  wahrscheinlich  in  der  Medulla  befin- 
denden Coordinationscentrums  zurück,  welches  die  consensuelle  Action  des 
Levator  und  Orbicularis  oculi  einer-  und  der  um  eine  horizontale  Axe  dre- 
henden Augenmuskeln  andererseits  beherrscht ;  das  Stellwag' sehe  Symptom 
soll  mit  der  Läsion  derjenigen  Reflexcentren  zusammenhängen,  welche  die 
von  der  Netzhaut  und  den  sensiblen  Nerven  der  Binde-  und  Hornhaut  zu 
den  motorischen  Lidapparaten  ausstrahlenden  Reflexe  auslösen.  Diese  Re- 
flexe sind  bekanntlich  bei  Neugebornen  überhaupt  nicht  vorhanden. 

Die  Diagnose  ist  in  denjenigen  Fällen,  wo  alle  drei  Cardinalsymptome 
gut  ausgeprägt  sind,  eine  der  leichtesten.  Schwieriger  ist  es  in  den 
Anfangsstadien,  sobald  nur  ein  Symptom  vorhanden  ist :  die  Krankheit  wird 
dann  gewöhnlich  übersehen.  Ziemlich  zweifelhaft  bleibt  die  Diagnose  in 
den  atypischen,  unvollständigen  oder  verwaschenen  Formen,  in  den  sog. 
Formes  frustes,  wo  das  Kränkheitsbild  die  vollständige  Ausbildung  noch 
nicht  erreicht  hat,  respective  wo  es  ausgebildet  war,  aber  durch  Remission 
manche  Symptome  zurückgetreten  sind.  Was  die  Häufigkeit  der  einzelnen 
Symptome  anbelangt,  so  fehlen,  wenn  wir  von  der  typischen  Symptomentrias 
absehen,  so  gut  wie  nie:  Blässe  und  Abmagerung,  Zittern,  vermehrte 
Feuchtigkeit  der  Haut,  Stell wag's  Zeichen;  sehr  häufig  sind  Graefe's 
Symptom,  Schlaflosigkeit,  leichte  seelische  Veränderungen,  Hitzegefühl; 
häufig  sind  Veränderungen  des  Hautpigments,  Durchfall,  Erbrechen,  Insuf- 
ficienz  der  Couvergenz,  Beschleunigung  der  Athmung  (Moebius). 


160  BASEDOWSCHE  KRANKHEIT. 

Differeiitialdiagnostiscli  kommen  liaiiptsächlicli  in  Betracht: 
grosse  essentielle  Kröpfe,  Hysterie  und  cereprospinale  Lues. 

Bei  grossen  Strumen,  die  in  Folge  des  Druckes  auf  den  SympatM- 
cus  Herzpalpitation  und  Exophthalmus  hervorrufen,  ist  letzterer  gewöhnlich 
einseitig  und  entspricht  der  Seite,  wo  die  Struma  am  grössteu  ist';  ferner 
ist  er  mit  Mydriasis  spastica  —  eine  Folge  der  Reizung  der  sympathischen 
Irisfasern  —  verbunden.  Das  Wechselvolle  und  Veränderliche  des  Krank- 
heitsbildes kann  in  Fällen  von  atypischem  Morbus  B.,  wo  neben  der  Tachy- 
cardie  Zittern,  Schlaflosigkeit,  Blässe,  Erbrechen,  leichte  seelische  Verän- 
derung etc.  bestehen,  an  Hysterie  denken  lassen.  Das  Auftreten  von 
Struma  und  Exophthalmus  entscheidet  dann  die  Diagnose.  Dasselbe  gilt  bei 
denj enigen,  von  der  c  e  r  e  p  r  o  s  p  i  n  a  1  e  n  Syphilis  schwer  zu  unterschei- 
denden Formen,  wo  Ophthalmoplegien,  Paraparesen,  Anämie,  Haarausfall, 
psychische  Störungen  im  Vordergrunde  stehen.  Eine  Quecksilbercur  kann 
in  verdächtigen  Fällen  die  Diagnose  entscheiden.  Dass  die  B.-Krankheit 
sich  mit  den  drei  genahnten  Krankheiten  combiniren,  resp.  auf  ihrem  Boden 
entwickeln  kann,  wurde  schon  oben  erwähnt. 

Die  Prognose  ist  nie  absolut  ungünstig;  auch  bei  vollständig  ent- 
wickelten Formen  sieht  man  gelegentlich  ganz  unerwartete  Besserung  ein- 
treten. Es  lässt  sich  daher  nie  etwas  Bestimmtes  über  die  Dauer  des 
Leidens  aussagen.  Bei  frischen  Fällen  ist  die  Vorhersage  ziemlich  gut,,  wird 
aber  ungünstiger,  wenn  der  Allgemeinzustand  sich  verschlechtert,  oder 
wenn  ein  organisches  Herzleiden  besteht.  Bei  Frauen  ist  die  Prognose 
günstiger,  wie  bei  Männern.  Eintretende  Gravidität  soll  die  Krankheit 
unterbrechen.  Mit  Piemissionen  verlaufende  Formen  sind  im  Allgemeinen 
am  günstigsten  zu  beurtheilen.  Abnahme  der  Pulsfrequenz  ist  das  emfind- 
lichste  Reagens  für  die  Besserung  des  Zustandes. 

Therapie.  „Je  weniger  man  von  einer  Krankheit  weiss,  umso  zahl- 
reicher pflegen  die  Heilmittel  zu  sein.  Je  schwankender  der  Verlauf,  je 
häufiger  und  unregelmässiger  die  Remissionen,  umso  mehr  scheinbare  Heil- 
erfolge, umso  zuversichtlicher  der  Glaube  an  die  verschiedenartigsten 
Mittel.  Spielen  endlich  seelische  Einflüsse  eine  Rolle,  vermögen  sie  den 
Zustand  zu  verbessern  oder  zu  verschlechtern,  so  wird  das  Chaos  voll- 
ständig." Mit  diesen  durchaus  zutreffenden  Worten  charakterisirt  Möbiüs 
die  Heilversuche  bei  der  B.-Krankheit.  Die  Heilmethode  ändert  sich  gemäss 
den  Ansichten  der  einzelnen  Kliniker  über  die  Ursache  des  Leidens,  Es 
wurden  deshalb  die  meisten  Herzmittel  (Digitalis,  Strophantus,  Adonis), 
Nervina  {Belladonna,  Brom,  Zink,  Veratrin^  Ergotin),  Tonica  (Eisen, 
StrycJmin,  Chinin,  Arsenik),  Resorbentia  (Jodkali,  Jodtinctur)  mit  mehr 
oder  weniger  Recht  und  Erfolg  in  Anwendung  gezogen.  Ueber  den  that- 
sächlichen  Werth  einzelner  Mittel  lässt  sich  kaum  etwas  Bestimmtes  aus- 
sagen; am  meisten  Erfolg  verspricht  man  sich  jedoch  von  dem  ßro?>^;  Bella- 
donna und  Strophantus.     -' 

Von  anderen  Heilungsmitteln  seien  erwähnt  die  OERTEL'sche  Cur, 
die  Hydro-  und  Electrotherapie.  Milde  Kaltwassercuren, 
Abreibung,  Einwickelungen,  verbunden  mit  Gymnastik,  wirken  zuweilen  heil- 
bringend. Gahanisation  des  Sympathicus,  des  Rückenmarkes  und  quer  durch 
die  Processus  mastoidei  —  sind  die  in  Deutschland  gebräuchlichsten 
Methoden  der  elektrischen  Behandlung.  Charcot  empfiehlt  die  Galvani- 
sation der  Herzgegend,  Vigoueoux  rühmt  die  faradische  Behandlung,  er 
setzt  die  breite  Anode  im  Nacken,  die  kleinere  Kathode  leitet  er  etwa 
zehn  Minuten  lang  abwechselnd  auf  den  Sympathicuspunkt  am  Halse,  auf 
die  Lider,  auf  die  Schilddrüse  und  Herzgegend.  Es  macht  wohl  den  Ein- 
druck, als  wirke  die  ViGoußoux'sche  Methode  als  beschränkte  „allgemeine 


BESCHÄFTIGUNGSNEUROSEN.  161 

Faradisation",  deren  ausgezeichnete  Wirkung  bei  Hysterie  und  Neurasthenie 
von  Beard  und  Rockwell  so  sehr  gepriesen  wird.  Die  FrankUnisation  hat 
sich  nach  Vigouroux  ganz  erfolglos  erwiesen.  In  Fällen  von  „partieller 
Darmatonie"  empfiehlt  Federn  B  a  u  c  h  m  a  s  s  a  g  e  und  leichte  Purgantia. 

Ruhe  für  Geist  und  Körper,  das  ist  das  Wichtigste,  wofür  bei  solchen 
Kranken  gesorgt  werden  muss,  da  bei  Aufregungen  und  Anstrengungen  die 
an  und  für  sich  schon  gesteigerte  Pulsfrequenz  noch  mehr  zunimmt.  Ab- 
solute Bettruhe  ist  in  schweren  Fällen,  Luftwechsel,  gelegentlich  See- 
reisen sind  in  leichten  Fällen  zu  empfehlen. 

Endlich  bleibt  noch  ein  Wort  über  die  chirurgische  Behand- 
lung zu  sprechen  übrig.  Dieselbe  beweist  gleichzeitig,  dass  in  manchen 
Fällen  ein  peripherer  Ursprung  des  Leidens  anzunehmen  ist.  Es  sind 
mehrere  Beobachtungen  bekannt,  wo  die  galvanokaustische  Zerstörung  der 
beträchtlich  vergrösserten  Nasenmuscheln  einzelne  Symptome,  z.  B.  den 
Exophthalmus,  und  zwar  auf  der  operirten  Seite,  sofort  zum  Schwinden 
brachte.  In  anderen  Fällen  schwanden  auch  die  Herzpalpitationen  nach  Be- 
handlung der  atrophischen  Na'senschleimhaut.  Die  Exstirpation  der  Struma 
wird  in  den  meisten  Fällen  von  Erfolg  gekrönt.  Rathsam  ist  es,  einen  Theil 
der  Drüse  zurückzulassen,  um  auf  diese  Weise  dem  Auftreten  von  Myxoedem 
und  Tetanie  vorzubeugen.  Die  Unterbindung  der  Art.  thyreoidea  gab 
manchen  Chirurgen  ausgezeichnete  Resultate. 

Ueber  die  Wirkung  der  meisten  in  der  letzten  Zeit  warm  empfohlenen 
subcutanen  Mittel  (Glycerinemulsion,  Schilddrüsenextract,  Browk- 
SEQUAED'sche  Hodenflüssigkeit)  lässt  sich,  bevor  wir  über  ein  umfang- 
reicheres und  kritisches  Material  verfügen,  nichts  Bestimmtes  aussagen. 

H.  HIGIER. 

Beschäftigungsneurosen.  Unter  der  Bezeichnung  „coordinato- 
rische  Beschäftigungsneurosen"  fasst  man  nach  Benedikt  eine 
Gruppe  krankhafter  Störungen  in  verschiedenen  Muskelgebieten,  besonders 
der  oberen  Extremität  zusammen,  deren  charakteristischstes  Symptom  darin 
besteht,  dass  dieselben  nur  bei  Ausführung  bestimmter  Beschäftigungen 
auftreten,  während  alle  übrigen  Bewegungen  von  denselben  Muskeln  mit 
ungeschwächter  Kraft  vollzogen  werden.  Vorzugsweise  sind  die  beim 
Schreiben  in  Thätigkeit  tretenden  Muskeln  ergriffen,  aber  auch  bei 
Klavier-  und  Violinspielern,  bei  Schneidern,  Schmieden,  Tele- 
graphisten,  Cigarrenarb  eitern,  Uhrmachern  u.  s.  w.  kommen 
ähnliche  Affectionen  vor,  ja  es  scheint,  dass  keine  berufs-  oder  gewohn- 
heitsmässig  häufig  ausgeführte  Muskelthätigkeit  eine  Immunität,  wenn  man 
so  sagen  darf,  gegen  diese  Erkrankung  besitzt. 

Die  in  Betracht  kommenden  Bewegungen  haben  das  Gemeinsame, 
dass  sie  durch  das  Zusammenwirken  einer  grösseren  Anzahl  von  ver- 
schiedenen Nerven  versorgter  Muskeln  und  eine  sehr  feine  Combination 
der  Thätigkeit  derselben  erfolgen.  Lange  und  emsige  Uebung  befähigt  erst 
dazu,  diese  complicirten  Muskelcontractionen  schnell  und  gleichsam  un- 
bewusst  zu  vollführen.  Es  bilden  sich  vermuthlich  Coordinationscentren  in 
dem  Centralnervensystem,  im  Rückenmark  oder,  was  noch  wahrscheinlicher 
ist,  im  Gehirn,  welche  die  erforderlichen  Impulse  den  einzelnen  Muskeln 
übermitteln  und  somit  die  prompte  Ausführung  der  complicirten  Be- 
wegungen ermöglichen.  Krankhaft  gesteigerte  oder  herabgesetzte  Erreg- 
barkeit dieser  Centren  führt  zu  Störungen,  welche  im  ersteren  Falle  als 
krampfartige,  im  letzteren  als  lähmungsartige  Zustände  erscheinen  werden 
(spasme  et  impotence  musculaires  fonctionnels  Duchenne's).  Man  unter- 
scheidet demnach  eine  spastische  und  eine  paralytische  Form  des  Leidens, 
welchen  als  dritte  die  tremorartige  sich  hinzugesellt. 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  1 1 


162  BESCHÄFTIGUNGSNEUROSEN. 

Die  am  häufigsten  vorkommende  und  daher  auch  am  ge- 
nauesten studirte  Beschäftigungsneurose  ist  der  Schreibekrampf 
(Mogigraphre,  Graph 0 Spasmus).  Derselbe  tritt  bei  Menschen,  welche 
durch  ihren  Beruf  gezwungen  sind,  viel  zu  schreiben,  besonders  bei 
Secretären,  Bureaubeamten,  Kaufleuten,  Gelehrten  in  den  Muskeln  der 
rechten  Hand  auf.  Vorwiegend  sind  Männer  von  dem  Leiden  befallen,  aber 
auch  Frauen,  welche  viel  mit  der  Feder  arbeiten;  so  werden  Schriftstelle- 
rinnen gelegentlich  von  demselben  heimgesucht.  Die  Kranken  bieten 
häufig  Zeichen  allgemeiner  nervöser  Prädisposition  dar,  können  aber  auch 
bis  auf   diesen   einen  Punkt  völlig  gesunde   und   kräftige  Individuen   sein. 

Die  H  aup  tu  r  s  a  ch  e  des  Schreibekrampfes  ist  in  vielem  und  angestrengtem 
Schreiben  zu  suchen;  als  begünstigend  kann  schlechte  Haltung  der  Feder, 
schlechte  Beschaffenheit  des  Schreibmaterials  (zu  spitze  Federn  und  Aehn- 
liches)  hinzukommen.  Von  manchen  Autoren  ist  der  Gebrauch  der  Stahl- 
federn angeschuldigt  und  als  Beweis  das  seit  Einführung  derselben  häufigere 
Auftreten  der  Krankheit  angesehen.  Dem  widerspricht  aber  die  Thatsache, 
dass  Schreibekrampf  auch  bei  Menschen  vorkommt,  welche  stets  Gänse- 
federn benutzt  haben.  Aus  früherer  Zeit  liegen  wohl  nur  deshalb  keine 
Beobachtungen  vor,  weil  die  Erkenntnis  krankhafter  Zustände  des  Nerven- 
systems damals  eine  sehr  mangelhafte  war. 

Am  häufigsten  tritt  das  Leiden  in  der  spastischen  Form,  als 
eigentlicher  Schreibekrampf  auf.  Die  Entwickelung  ist  eine  ganz 
allmähliche.  Anfangs  erst  nach  längerem  Schreiben,  später  schon  bei  den 
ersten  Versuchen  stellen  sich  spannende,  häufig  schmerzhafte,  tonische 
Contractionen  in  den  betreffenden  Muskeln  ein,  welche  bei  Fortsetzung 
der  Arbeit  in  dem  Maasse  sich  steigern,  dass  eine  Fortbewegung  der  Feder 
nicht  mehr  möglich  ist.  In  den  ausgebildetsten  Fällen  kann  schon  das  Er- 
fassen des  Halters  oder  der  Versuch,  die  Finger  in  die  zum  Schreiben  er- 
forderliche Stellung  zu  bringen,  den  Krampf  hervorrufen.  Sobald  die  Feder 
fortgelegt  ist,  schwinden  Contractionen  und  Schmerzen  und  der  Kranke 
ist  im  Stande,  alle  anderen  Bewegungen  der  Hand  mit  ungeschwächter 
Kraft  auszuführen.  Meist  sind  die  Muskeln  der  drei  ersten  Finger,  die 
kleinen  Muskeln  des  Daumenballens,  die  luterossei,  Lumbricales  und  die 
langen  Beuge-  und  Streckmuskeln  ergriff'en,  unter  ihnen  wieder  häufiger 
die  Adductoren  und  Flexoren  als  die  Abductoren  und  Extensoren,  aber 
auch  die  Muskeln  des  Kleinfingerballens,  der  Pronator  teres,  sowie  einzelne 
Muskeln  des  Oberarms  und  der  Schulter  können  isolirt  und  in  Verbindung 
mit  den  anderen  afficirt  sein.  Daraus  ergibt  sich  eine  gewisse  Mannig- 
faltigkeit des  Symptomenbildes,  welche,  zumal  im  Interesse  einer  sach- 
gemässen  Behandlung,  für  jeden  einzelnenFall  ein  eingehendes 
Studium  erfordert.  Bald  (bei  Krampf  der  Adductoren  und  Flexoren)  wird 
die  Feder  fest  auf  das  Papier  gedrückt,  bald  (Abductoren,  Extensoren) 
lösen  die  Finger  sich  voni,  Halter  los,  so  dass  derselbe  der  Hand  entfällt, 
bald  endlich  ist  der  Kranke  nicht  mehr  im  Staude,  die  Hand  von  links 
nach  rechts  weiter  zu  bewegen  und  muss  daher  das  Papier  mit  der 
andern  Hand  in  umgekehrter  Pachtung  fortschieben.  Die  Schrift,  wo  eine 
solche  überhaupt  noch  zu  Stande  gebracht  wird,  sieht  sehr  ungleichmässig, 
holprig,  wie  von  einem  Kinde  geschrieben  aus  und  ist  durch  viele  Kleckse 
verunstaltet.  Manche  Kranke  versuchen  das  Schreiben  mit  der  linken  Hand 
zu  erlernen,  aber  häufig  stellt  sich  bald  auch  in  den  Muskeln  der  linken 
Extremität  der  gleiche  tonische  Krampfzustand  bei  Ausführung  der  Schrift 
ein.  In  einem  Falle  meiner  Beobachtung  war  das  zwar  nicht  der  Fall,  aber 
sobald  der  Kranke  mit  der  linken  Hand  zu  schreiben  versuchte,  traten  in 
der  jetzt   unthätigen  rechten  Hand   und  im  Vorderarme  heftige,    schmerz- 


BESCHÄFTIGUNGSNEUROSEN.  163 

hafte  tonische  Coutractionen  der  Adductioos-,  Flexions-  und  Pronations- 
muskehi  auf,  welche  auch  durch  Fixirung  der  Hand  nicht  unterdrückt 
werden  konnten  und  somit  einfach  mechanisch  jeden  Schreibversuch 
illusorisch  machten.  —  Die  zuletzt  angeführten  Beobachtungen  liefern  zu- 
gleich  den  Beweis,   dass   das  Leiden   auf  einer   centralen  Störung  beruht. 

Seltener  als  die  spastische  gelangt  die  tremor artige  Form  des 
Schreibekrampfes  zur  Beobachtung.  Sobald  der  daran  Leidende  zu  schreiben 
beginnt,  wird  seine  Hand  von  einem  Zittern  ergriffen,  welches  in  der  Ruhe 
und  bei  anderen  Bewegungen  fehlt.  Die  Schrift  gestaltet  sich  dadurch 
wellenförmig,  ist  jedoch  nicht  so  hochgradig  entstellt  wie  bei  dem  Spasmus. 

Die  paralytische  Form  des  Schreibekrampfes,  besser  und  richtiger 
als  Schreibelähmung  zu  bezeichnen,  ist  wiederum  häufiger.  Hier 
besteht  bei  jedem  Schreibversuche  eine  allmählich  zunehmende  Schwäche 
und  ein  lähmungsartiges  Gefühl  in  Hand-  und  Armmuskulatur,  welches  die 
Fortbewegung  der  Feder  sehr  erschwert,  bei  hochgradiger  Erkrankung  zur 
Unmöglichkeit  macht.  Charakteristisch  ist  wiederum,  dass,  sobald  das 
Schreiben  aufgegeben  ist,  alle  anderen  Thätigkeiten  mit  ungeschwächter 
Kraft  vollführt  werden  können.  Die  paralytische  Form  combinirt  sich  oft 
mit  der  tremorartigen,  wie  denn  überhaupt  Combinationen  und  Uebergänge 
der  einzelnen  Formen  in  einander  nicht  selten  beobachtet  werden. 

Den  Schreibekrampf  begleiten  häufig  s  c  hm  erzhafte.  Sensationen 
in  Hand  und  Arm,    dieselben  können  aber  auch  vollkommen  fehlen. 

Die  objective  Untersuchung  der  Kranken  ergibt  sehr  wenig. 
Das  elektrische  Verhalten  der  befallenen  Muskeln  ist  in  der  Mehrzahl  der 
Fälle  normal  gefunden,  nur  ausnahmsweise  bestand  Entartungsreaction.  Die 
Sensibilität  weist  gewöhnlich  keine  Störungen  auf,  doch  klagen  viele  Kranke 
über  Parästhäsien  in  der  Hand,  welche  bestehen  bleiben,  auch  wenn  sie 
zu  abreiben  aufgehört  haben.  Mitunter  sind  äussere  Verletzungen  und 
Periostitis  verzeichnet,   in  einzelnen  Fällen  auch  Neuritis   der  Armnerven. 

Die  Diagnose  des  Leidens  ist  nicht  schwier;  zu  Verwechslungen 
könnten  höchstens  gewisse  organische  Erkrankungen  des  Centralnerven- 
systems  Anlass  geben,  bei  welchen  ebenfalls  eine  Störung  der  Schrift 
besteht.  Die  Beachtung  des  Umstandes,  dass  der  Schreibekrampf  nur  bei 
der  Ausführung  dieser  einen  Beschäftigung  auftritt,  während  sonst  die 
Muskeln   vollkommen   normal   functioniren,    wird   vor  Irrthümern  schützen. 

Die  Prognose  ist,  soweit  die  Wiedererlangung  der  Schreibfähigkeit 
in  Frage  steht,  im  Allgemeinen  als  ungünstig  zu  bezeichnen.  Dauernde 
Heilungen  sind  sehr  selten,  meistens  treten  bald  Ptecidive  ein,  und  häufig 
nimmt  das  Leiden  derart  zu,  dass  die  Patienten  das  Schreiben  vollkommen 
aufgeben,  eventuell  ihrem  Berufe  entsagen  müssen.  Das  körperliche  Be- 
finden der  Kranken  wird  gewöhnlich  nicht  beeinflusst,  dagegen  stellen  sich 
nicht  selten  infolge  der  Sorge  um  die  durch  die  Krankheit  bedrohte 
Existenz  psychische  Verstimmungen  schwerer  Art  ein,  welche  bisweilen  sogar 
zu  Selbstmord  geführt  haben. 

Für  die  Therapie  ist  zunächst  die  Enthaltung  von  jedem  Versuche 
zu  schreiben  für  längere  Zeit,  mehrere  Monate,  unbedingt  erforderlich. 
Dadurch  allein  wird  oft  schon  eine  erhebliche  Besserung  erzielt.  Wo  ein 
örtliches  Leiden  oder  eine  Allgemeinkrankheit  zu  Grunde  liegt,  sind  diese 
zugleich  in  energische  Behandlung  zu  nehmen.  Gegen  den  Schreibekrampf 
selbst  wird  der  constante  Strom  in  Anwendung  gezogen;  auf  seine  Wirkung 
sind  viele  Heilungen  und  Besserungen  zurückzuführen ;  ich  habe  auch  eine 
solche  gesehen.  Man  galvanisirt  entweder  das  Gehirn  und  die  oberen 
Theile  des  Ptückenmarks  mit  schwachen  constanten  Strömen  (Aufsetzen  der 
Electroden  zu  beiden  Seiten  des  Kopfes  resp.  längs   der  Hals^Ndrbelsäule), 

11* 


154  BESCHÄFTIGUNGSNEUROSEN. 

oder  man  applicirt  labil  die  Anode  auf  die  befallenen  Muskeln,  während 
die  Kathode  an  einem  indifferenten  Punkte  angebracht  ist.  Ferner  ist  die 
Massage  der  befallenen  Muskeln  zu  empfehlen.  Durch  Ausführung  derselben 
in  Verbindung  mit  einem  elementaren  Schreibunterricht  hat  Wolff  in 
Frankfurt  a.  M.,  ein  Schreiblehrer,  sehr  gute,  durch  das  Zeugnis  aner- 
kannter Autoritäten  beglaubigte  Erfolge  zu  verzeichnen.  Aber  auch  bei 
dieser  Behandlung  bleiben  Recidive  nicht  aus,  wie  ich  aus  eigener  Er- 
fahrung berichten  kann. 

Bisweilen  erleichert  der  Gebrauch  dicker  Federhalter  aus  Kork  das 
Schreiben.  Für  Fälle,  in  denen  dieselben  nicht  genügen,  ist  eine  Reihe  von 
Vorrichtungen  construirt,  welche  den  Kranken  das  Schreiben  ermöglichen 
sollen;  unter  ihnen  ist  wohl  am  bekanntesten  Nüssbaum's  Bracelet.  Dieser 
Apparat  besteht  aus  einem  querovalen  Guttapercharing  von  9 ~ll cm  Längs- 
und 3—5  cm  Querdurchmesser,  an  welchem  der  Federhalter  angeschraubt 
ist.  Man  führt  in  denselben  die  ersten  vier  Finger  und  spreizt  dieselben 
dann.  Auf  diese  Weise  ist  der  Apparat  fixirt  und  nun  vermag  man  mit 
Hilfe  desselben  zu  schreiben.  Dabei  treten  nur  die  Extensionsmuskeln  in 
Thätigkeit,  die  Flexoren  und  Adductoren  bleiben  in  Ruhe.  Bei  Krampf 
der  letzteren  wird  das  Instrument  sich  mithin  besonders  nützlich  erweisen. 

Wo  alle  Mittel  die  Therapie  im  Stiche  gelassen  haben,  kann  manchem 
Kranken  durch  Empfehlung  einer  der  in  neuerer  Zeit  construirten  Schreib- 
maschinen vielleicht  die  Ausübung  seiner  Berufspflichten  ermöglicht 
werden.  — 

Die  Behauptung  Benedikt's,  dass,  „wenn  die  Coordination  für  eine 
Beschäftigung  gestört  ist,  dasselbe  auch  von  allen  verwandten  Beschäfti- 
gungen gilt,  dass  also  ein  an  Schreibekrampf  Leidender  auch  nicht  Klavier- 
spielen, geigen,  nähen  u.  s.  w.  kann",  ist  bisher  von  keinem  Autor  in 
dieser  Ausdehnung  bestätigt  und  darf  daher  in  dieser  Allgemeinheit  Mcht 
aufrecht  erhalten  werden.  Das  Wesentliche  des  Processes  ist  es  gerade, 
dass  nur  die  für  eine  bestimmte  Art  von  Bewegung  nothwendige  Muskel- 
thätigkeit  unmöglich  wird,  während  alle  anderen  ungehindert  von  statten 
gehen.  Combinationen  verschiedener  Beschäftigungsneurosen  bei  einem 
Individuum  können  wohl  vorkommen,  stellen  aber  immerhin  etwas  Zufälliges 
dar,  was,  soweit  die  bisherigen  Erfahrungen  reichen,  nicht  gerade  häufig 
gefunden  wird. 

Sehr  viel  seltener  als  der  Schreibekrampf  gelangen  die  anderen  hier- 
her gehörigen  Neurosen  zur  Beobachtung. 

Bei  jungen  Pianistinnen  stellt  sich  häufig  im  Anschluss  an  ange- 
strengte Uebungen  lähmungsartige  Schwäche  der  Flexoren  des  Vorder- 
arms verbunden  mit  heftigen  Schmerzen  und  einem  Gefühl  von  Starre  in 
Hand  und  Fingern  ein,  ein  Zustand,  welchen  man  nicht  sehr  passend  als 
Klavierspielerkrampf  bezeichnet.  Derselbe  kann  sowohl  eine  als  auch 
beide  Hände  befallen  und  macht  häufig  die  Fortsetzung  des  Berufs  zur 
Unmöglichkeit.  Aehnliche  Zustände  sind  auch  bei  Orgel-  und  Violin- 
spielern beobachtet. 

Bei  dem  Schneider-  und  Schusterkrampf  treten  krampfhafte 
Contractionen  in  den  theils  vom  Medianus,  theils  vom  Ulnaris  versorgten 
Muskeln  des  Daumenballens  auf,  welche  die  sichere  Führung  der  Nadel, 
eventuell  sogar  schon  das  Einfädeln  derselben  verhindern. 

Bei  Viehmägden  findet  sich  bisweilen  der  beim  Melken  auftretende 
und  [in  krampfhaften  Spannungen  der  Muskulatur  des  Vorderarms  be- 
stehende Melkerkrampf. 

In  ähnlicher  Weise  sind  bei  Telegraphisten,  Cigarren- 
arbeiterinnen,  Uhrmachern,  Fechtlehrern,  Webern,  Schmieden 


BLEILÄHMÜNG.  165 

krampfartige  Zustände  beschrieben  worden,  welche  als  Beschäftigungs- 
neurosen zu  deuten  sind. 

Auch  an  den  unteren  Extremitäten  kommen  dieselben,  wenn 
auch  seltener,  vor,  so  bei  Näh  maschinenarbeiter  innen,  Tänze- 
rinnen, Drechslern  u.  s.  w. 

Nur  ausnahmsweise  sind  Beschäftigungsneurosen  in  anderen  Muskel- 
gebieten beobachtet.  Duchenne  berichtet  davon  einige  bemerkenswerthe 
Beispiele.  So  trat  bei  einem  Herrn,  welcher  unmässig  viel  gelesen  hatte, 
bei  jedem  erneuten  Versuche  dazu  eine  krampfhafte  Drehung  des  Kopfes 
nach  rechts  auf,  bedingt  durch  die  Contraction  der  Rotationsmuskeln  des 
Kopfes.  Bei  einem  Gelehrten,  welcher  seine  Augen  durch  jahrelanges  Ent- 
ziffern von  Handschriften  überangestrengt  hatte,  stellte  sich  jedesmal,  wenn 
er  einen  nahe  gelegenen  Gegenstand  fixiren  wollte,  Doppelsehen  infolge 
Contraction  des  rectus  internus  eines  Auges  ein.  Bei  einem  dritten  Manne 
endlich  wurde  Jede  Inspiration  von  einer  Zusammenziehung  der  Bauch- 
muskeln der  rechten  Seite  begleitet,  welche  die  Thätigkeit  des  Zwerchfells 
in  hohiem  Grade  erschwerte  und  dadurch  zu  bedeutenden  Respirations- 
störungen Anlass  gab. 

Die  Prognose  und  Therapie  dieser  Zustände  stimmt  im  Wesentlichen 
mit  dem  beim  Schreibekrampf  Ausgeführten  überein.  Heilungen  sind  nur 
ausnahmsweise  erzielt,  meist  sind  die  Kranken  gezwungen,  die  betreffende 
Beschäftigung  aufzugeben.  .         hilbert. 

Bleilähmung.  Lähmungen  zählen  zu  den  häufigeren  Erscheinungen 
der  Bleiintoxication.  Unter  den  vier  Hauptsymptomen  der  Bleivergiftung 
nehmen  sie  nach  Tanqueeel  die  dritte  Stelle  ein.  Auf  1217  Fälle  von  Blei- 
kolik kommen  755  Arthralgien,   107  Paralysen  und  72  Encephalopathien. 

Die  Kenntnis  der  Bleilähmung  reicht  historisch  weit  zurück  (Nicandek,  Galen). 
In  der  neuen  Zeit  soll  Boeehave  der  erste  gewesen  sein,  der  Lähmung  und  Bleiintoxi- 
cation in  Beziehung  brachte.  Von  den  späteren  Autoren  ist  neben  Stockhusen,  Van- 
SwiETEN  u.  A.  besonders  hervorzuheben  de  Haef,  von  dem  bereits  eine  sorgfältige  Be- 
schreibung der  typischen  Formen  der  Bleilähmung  vorliegt.  Unsere  Zeit  knüpft 
an  die  klassischen  Untersuchungen  von  Tanqiteeel  des  Planches  und  die  von  DucHENisrE 
DE  BoTjLOGNEs  an.  Während  Tanqtjekel  als  der  Schöpfer  des  klinischen  Bildes  bezeichnet 
werden  muss,  verdanken  wir  DrcHEXNE  die  wichtigsten  Einzelheiten  dieser  Erkrankung, 
namentlich  bezüglich  des  elektrischen  Verhaltens  der  Nerven  und  Muskeln.  Von  neueren 
Autoren  seien  genannt:  Erb,  Vulpian,  Rayjtaud,  Gombatjlt,  Rekak,  Frau  Dejekine- 
Klumpke,  der  wir  die  jüngste  Monographie  über  diesen  Gegenstand  verdanken  (Paris  1889). 

A  e  t  i  0 1 0  g  i  e.  Diese  Lähmungen  betreffen  in  der  überwiegenden  Zahl 
der  Fälle  chronische  Bleivergiftungen,  weit  seltener  acute.  Nur  ausnahmsweise  be- 
gegnet man  ihnen  bei  alimentären  (z.  B.  Genuss  von  Trinkwasser  aus  blei- 
haltigen Leitungsröhren,  von  in  Bleistanniol  gehüllten  Genussmitteln)  oder 
medicamentösen  Intoxicationen  durch  Blei.  Hier  überwiegen  nämlich  fast 
immer  die  Darmerscheinungen,  während  die  Lähmungen  bei  der  habituellen 
Beschäftigung  mit  Blei  prävaliren. 

Es  kommen  ätiologisch  zunächst  alle  jene  Schädlichkeiten  in  Betracht, 
welche  eine  chronische  Intoxication  herbeizuführen  geeignet  sind.  Das  Haupt- 
contingent  stellen  daher  auch  Arbeiter,  welche  mit  Blei  und  bleihaltigen 
Objecten  beschäftigt  sind :  Schriftsetzer,  Letterngiesser  und  -Schleifer,  Töpfer, 
Anstreicher  etc. 

Im  Allgemeinen  stellen  Männer  ein  weit  grösseres  Contingent  als 
Frauen  und  Kinder,  doch  erklärt  sich  dieses  Verhältnis  zur  Genüge  aus 
der  geringen  Betheiligung  der  letzteren  an  den  einschlägigen  Beschäftigungs- 
arten. Erfahrungsgemäss  erweisen  sich  jedoch  Frauen  und  Kinder,  soweit 
sie  eben  herangezogen  werden,  in  dieser  Richtung  sehr  empfänglich.  Ueberdies 
liegen  in  der  Literatur  Beobachtungen  vor,   nach  welchen  Frauen,  die  blei- 


166  BLEILÄHMUNG. 

hältige  Schminke  benützten  oder  Vaginalirrigationen  mit  Bleiwasser  machten, 
an  Bleilähmung  erkrankten. 

In  der  Kegel  bedarf  es  einer  längeren  und  intensiven  Beschäftigung 
mit  dem  Metalle,  ehe  Lähmungserscheinungen  auftreten.  Meist  sind  es 
Individuen,  welche  bereits  wiederholt  Kolikanfälle  hatten  und  deutlichen 
Bleisaum  am  Zahnfleisch  aufweisen. 

Mitunter  sind  es  aber  Leute,  welche  erst  kurze  Zeit  mit  Blei  zu  thun 
hatten,  so  gibt  dies  Tanquerel  unter  200  Fällen  für  14  an.  Hier  kommen 
neben  individuellen  Eigenheiten  (Ernährungszustand,  Disposition)  gewiss  auch 
die  äusseren  Verhältnisse  in  Betracht,  unter  welchen  die  Beschäftigung 
stattfindet,  so  die  hygienischen  Verhältnisse  der  Werkstätte,  die  persönliche 
Sorgfalt  des  Individuums  (Reinigung  der  Hände  vor  den  Mahlzeiten  u.  dgl.). 
Nach  Remak  handelt  es  sich  bei  rasch  eintretenden  Lähmungen  um  zu- 
fällige Vergiftungen. 

Zur  Regel  gehört  das  späte  Auftreten  der  Lähmungen.  So  gibt  Remak 
als  Mittelzahl  13jährige  Beschäftigung  mit  Blei  an.  Tanqüerel  fand  in 
102  Fällen  9,  in  welchen  die  Lähmungen  schon  im  ersten  Monate,  14,  in  Welchen 
dieselben  im  zweiten,  36,  in  welchen  sie  in  den  ersten  beiden  Jahren, 
32,  in  welchen  nach  10  Jahren,  13,  in  welchen  nach  20  Jahren  und  1  Fall, 
in  welchem   nach  52jähriger  Beschäftigung   mit   Blei  Lähmungen    auftraten. 

Fast  typisch  findet  man  dieselben  bei  Leuten,  welche  bereits 
Bleisaum  zeigen,  in  ihrer  Ernährung  sehr  herabgekommen  und  anämisch 
sind,  so  dass  es  immerhin  möglich  ist,  dass  in  vielen  Fällen  die  abnorme 
Blutbeschaffenheit  das  Hauptmoment  für  das  Zustandekommen  der  nervösen 
Veränderungen  abgibt,  welche  die  Lähmungen  hervorrufen.  Doch  werden 
mitunter  wohl  auch  noch  kräftige  Individuen  von  der  Lähmung  befallen. 
Nach  einer  alten  Beobachtung  soll  das  Bestehen  anderer  toxischer  Einflüsse, 
z.  B.  chronischer  Alkoholismus  die  Disposition  erhöhen  (Taistqüerel). 

Weshalb  bei  der  Bleiintoxication  gewisse  Nerven  am  häufigsten 
betroffen  werden,  ist  hier  ebensow^enig  wie  bei  anderen  Intoxicationen  klar. 
Die  Erklärung  in  einer  erhöhten  Inanspruchnahme  der  betreffenden  Nerv- 
muskelgruppen  zu  suchen  (Manouvrier),  erscheint  nicht  ausreichend.  Dafür 
spricht  wohl  die  Beobachtung,  dass  bei  Rechtshändern  die  rechte,  bei  Links- 
händern in  der  Regel  die  linke  obere  Extremität  zuerst  erkrankt.  Dem 
gegenüber  darf  man  nicht  vergessen,  dass  bei  der  generalisirten  Form  der 
Erkrankung  manchmal  die  verschiedenartigsten  Nerven  nebeneinander 
befallen  erscheinen. 

Nach  eingetretener  Heilung  genügt  oftmals  eine  geringfügige  Veran- 
lassung (Excess),  um  einen  Nachschub,  welcher  eventuell  auch  früher  nicht- 
erkrankte  Nerven  betreffen  kann,  hervorzurufen.  Doch  wird  die  Disposition 
zur  Recidive  durch  fortgesetzte  Beschäftigung  mit  Blei  bedeutend  erhöht. 

Symptome.  Die  Erscheinungen  entwickeln  sich  zwar  manchmal  ohne 
Prodrome,  meist  gehen  aber  Mattigkeit,  mitunter  Muskelzittern  auch  Krämpfe 
in  den  später  gelähmten  Muskelgruppen  voraus.  Nur  selten  werden  im 
Prodromalstadium  Ameisenlaufen,  Kriebeln,  Schmerzen  im  Verlauf  der  Nerven- 
stämme oder  Druckempfindlichkeit  beobachtet.  Diese  namentlich  gehört  hier, 
im  Gegensatze  zu  den  übrigen  Formen  der  multiplen  Neuritis,  zu  denAusnahmen. 

In  vereinzelten  Fällen  erfolgt  eine  acute  Entwicklung  der 
Lähmungen.  Die  Regel  ist,  dass  die  Symptome  ganz  allmälig  ihren 
Höhepunkt  erreichen,  um  dann  chronisch  abzuklingen.  Nur  ausnahmsweise 
werden  die  Prodrome  von  Temperatursteigerung  begleitet,  und  da  handelt 
es  sich  immer  um  generalisirte  Formen. 

Elektrisches  Verhalten.  Das  elektrische  Verhalten  der  Nerven 
und  Muskeln  entspricht  in  den  typischen  Fällen,   da    es  sich  ja  gewöhnlich 


BLEILÄHMUNG.  •    1^7 

um  eine  periphere  Erkrankung  der  Nerven  handelt,  dem  Verhalten  bei  jeder 
anderen  Form  der  Neuritis.  Man  findet  meist  unter  raschem  Sinken  der 
Erregbarkeit  vom  Nerven  aus  eine  erhöhte  Erregbarkeit  der  Muskeln  bei 
directer  Reizung  gegen  den  galvanischen  Strom,  häufig  Entartungsreaction  oder 
auch  nur  einfache  quantitative  Herabsetzung  der  elektrischen  Erregbarkeit. 

Wichtig  ist  zu  wissen,  dass  die  Veränderungen  der  elektrischen  Erreg- 
barkeit durchaus  nicht  mit  den  Functions^törungen  im  Muskel  parallel 
sind.  So  können  gelähmte  Muskeln  normales,  elektrisches  Verhalten  zeigen. 
In  diesen  Muskeln  stellt  sich  die  normale  Function  am  raschesten  wieder 
her  (Remak).  In  den  Muskeln,  in  welchen  die  elektrische  Erregbarkeit  er- 
loschen ist,  stellt  sich  die  Functionsfähigkeit  viel  früher  ein  als  die  elektrische 
Erregbarkeit.  Nicht  selten  zeigen  daher  im  Stadium  der  Reconvalescenz 
bereits  leistungsfähige  Muskeln  Mangel  an  elektrischer  Erregbarkeit.  Wie 
unzweifelhaft  sichergestelt,  treten  erhebliche  Störungen  in  der  elektrischen 
Reaction  auch  in  Nervmuskelgruppen  ein,  welche  während  des  ganzen  Ver- 
laufes der  Krankheit  keine  Lähmungserscheinungen  geboten  hatten. 

Dem  Eintritt  der  Lähmung  und  der  elektrischen  Alteration  folgt  auf 
dem  Fusse  die  Atrophie  der  betreffenden  Muskeln,  wenn  diese /nicht  schon 
als  erste  Erscheinung  die  Erkrankung  inaugurirt  hat.  Die  Atrophie  betrifft 
vorwiegend  gelähmte  Muskeln,  Durch  dieselbe  verschwindet  die  normale 
Wölbung,  welche  die  Muskeln  bilden.  So  zeigt  bei  dem  Vorderarmtypus  die 
Dorsalfläche  des  Vorderarmes  eine  Einsenkung,  über  welcher  die  Haut  sich 
falten  lässt.  Schreitet  die  Atrophie  nicht  weit  fort,  so  steht  baldiger  Ausgleich 
der  Störungen  in  Aussicht.  Beiläufig  bemerkt,  kann  auch  Atrophie  ohne 
Lähmung  leicht  zur  Entwicklung  gelangen  (Vulpian,  Eisenlohr), 

Sensibilitätstörungen  werden  insbesonders  bei  der  partiellen 
Bleilähmung  gewöhnlich  vermisst.  Frau  Dejerine-Klumpke  findet  jedoch  bei 
der  Vorderarmlähmung  eine  solche  auf  der  Rückenfläche  der  Hand,  dann 
insbesondere  auf  der  des  Daumens,  seltener  des  Vorderarmes,  eine  mehr  oder 
minder  ausgesprochene  anästhetische  Zone  von  wechselnder  Ausbreitung. 
Nach  Frau  D.-K.  weichen  in  dieser  Hinsicht  die  Lähmungen  des  Radialis  durch 
Blei  durchaus  nicht  ab  von  denen  anderer  Aetiologie.  Dieselbe  Autorin  gibt 
auch  eine  Herabsetzung  der  faradocutanen  Sensibilität  im  Bereiche  der  ge- 
lähmten Zone  an. 

Von  den  weiteren  Symptomen  wären  zu  erwähnen  vasomotorische 
Störungen  (Cyanose,  Kälte  der  Extremitäten),  dann  trophische  Stö- 
rungen (Auftreibungen  der  Metacarpalknochen,  Verdickungen  der  Sehnen). 

Das  Verhalten  der  Sehnenreflexe  ist  meist  ein  der  Erkrankung 
der  Nerven  und  Muskeln  paralleles. 

Eintheilung;. 

Die  Lähmungen  sind  entweder  partielle  und  dann  localisirte,  oder 
gener alisirte  und  dann  fortschreitende.  Diese  beiden  Formen  bilden 
heute  allgemein  die  Grundlage  der  klinischen  Eintheilung  dieser  Krankheit. 
Die  Eintheilung  nach  der  Entwicklung  der  Symptome  in  acute,  subacute 
und  chronische  ist  nicht  haltbar,  da  doch  die  meisten  Lähmungen  abgesehen 
von  der  Entwicklungsperiode  chronisch  verlaufen. 

Wir  unterscheiden  somit: 

A.  Partielle  Lähmungen,  d.  h.  Lähmungen,  welche  in  der  Regel 
nur  auf  eine  Nervmuskelgruppe  beschränkt  bleiben.  Unter  diesen  trennen  wir : 

1.  Lähmungen  dei*  oberen  Extremitäten: 

a)  Vorderarmlähmungen  —  die  häufigste  Form; 

b)  Schulterarmlälimungen ; 

c)  HandmuskeUähmungen. 


168  BLEILÄHMUNG. 

2.  Lähmungen  der  unteren  Extremitäten. 

3.  Lähmungen  dercerebralenNerven,  spec.  derKehlkopf- 
nerven. 

B,  Greneralisirte  Lähmungen,  d.  h.  Lähmungen,  welche  mehr  oder 

minder   regellos  von  einer   Nervmuskelgruppe   auf  die  andere   fortschreiten. 

Diese  entwickeln  sich  bald  langsam,  bald  rasch  mitunter  unter  fieberhaften 

Prodromen. 

A.  Partielle  Lähmungen. 

1.  a)  die  Vord  era  rmlähmung  —  ist  die  liäufigste  Form  und  betrifft 

die  Streckergrnppe. 

Die  Erkrankung  befällt  hier  in  den  typischen  Fällen  zunächst  den  Extensor 
digitorum  communis,  meist  die  Strecker  des  dritten  und  vierten  Fingers  in  erster 
Linie,  dann  den  des  kleinen  und  des  Zeigefingers,  schliesslich  den  langen  und 
den  kurzen  Strecker  des  Daumens.  Der  letzgenannte  bleibt  in  manchen  Fällen 
ganz  verschont  oder  wird  erst  spät  befallen.  Nach  den  Fingerstreckern  wird  die 
Gruppe  der  Eadialmuskeln  ergriffen.  Die  solchermassen  fast  stets  symmetrisch 
erkrankten  vorderen  Extremitäten  werden  im  Ellbogengelenke  rechtwinklig  gebeugt 
gehalten,  die  Hand  in  Pronationsmittelstellung  gleichfalls  rechtwinklig  gebeugt, 
die  Finger  sind  flectirt  und  der  Daumen  eingezogen.  Der  Händedruck  ist  in 
dieser  Stellung  von  minimer  Kraft;  wird  jedoch  die  Hand  passiv  gestreckt,  so 
wächst  die  Intensität  des  Händedruckes  wesentlich  —  ein  Zeichen,  dass  die 
Kraftlosigkeit  der  Beuger  wohl  nur  auf  den  gelähmten  Zustand  der  Strecker 
zurückzuführen  ist.  Von  der  Lähmung  bleiben  meist  verschont  der  Suplnator 
longus,  der  Änconaeus  quartus  und  der  Ahductor  pollicis  brevis.  Nichtsdesto- 
weniger werden  auch  Lähmungen  dieser  Muskeln  beobachtet,  so  dass  wir  das 
Bild  einer  completen  Eadialislähmung  vor  uns  haben.  Es  ist  dies  namentlich 
dann  der  Fall,  wenn  sich  zur  Lähmung  der  Vorderarmgruppe  die  nachfolgende 
hinzugesellt. 

b)  Die  S  c  h  u  1 1  e  r  a  r  m  I  ä  h  m  u  n  g  (Remak)  betrifft  die  DuCHENNE-Erb'- 
sche  Gruppe,  den  M.  deltoides,.  biceps,  brachialis  internus  und  den  Siipinafor 
longus.  Selten  sind  die  Schulterblattmuskeln  und  der  Pectoralis  major  mitergriffen. 
Entwickelt  sich  diese  Lähmungsform  primär,  so  setzt  sie  mit  einer  Deltoideslähmung 
ein.  In  den  meisten  Fällen  wird  diese  Gruppe  aber  im  Anschlüsse  an  eine 
bereits  bestehende  Vorderarmlähmung  befallen,  auch  hier  fast  immer  symmetrisch.  Der 
Triceps  bleibt  gewöhnlich  intact.  Unter  diesen  Umständen  bleibt  die  Streckung 
im  Ellbogengelenke  nicht  beeinflusst.  Der  Vorderarm  befindet  sich  in  Pronations- 
stellung, denn  die  Supination  und  Rotation  nach  aussen  ist  aufgehoben.  Die  Con- 
touren  des  Deltoides  und  des  Biceps  sind  nicht  kenntlich,  und  die  Arme  hängen 
schlaff  herunter.  Completer  Verlust  der  elektrischen  Erregbarkeit  wird  hier  selten 
beobachtet. 

c)  Handmuskellähmungen  (Tijpus  Ar  an- Duchenne).  In  diesen  Fällen 
kann  sich  ein  Bild  entwickeln,  welches  der  progressiven  Muskelatrophie  zum 
Verwechseln  ähnlich  ist,  jedoch  von  dieser  sich  meist  durch  die  bestehenden 
Lähmungen  trennen  lässt.  Diese  Form  tritt  mitunter  primär  auf,  z.  B.  bei  den 
Feilhauern  (Moebius),  sonst  erscheint  sie  meist  nur  im  Anschluss  an  eine  Vorder- 
armlähmung. Es  handelt  sich  hier  um  eine  Erkrankung  der  Interossei,  des  Thenar 
und  Antithenar  (Remak,  Dejeeixe-Klumpke). 

2.  Lähmung  der  unteren  Extremitäten.  Tanquerel  gibt  an, 
diese  in  I^^Iq  der  Fälle  gesehen  zu  haben,  u.  zw.  in  5  von  15  Fällen  als 
isolirte  Lähmung.  Fast  immer  haben  wir  es  hier  mit  einer  Partialersch einung 
einer  generalisirten  Lähmung  zu  thun.  Die  Prodrome  sind:  rasche  Ermüdung, 
Kriebeln  und  Ameisenlaufen  in  den  Füssen,  Gelenkschmerzen.  Später  entwickelt  sich 
ein  typischer  stampfender  Gang  {Steppage,  Charcot),  der  dui'ch  die  Lähmung 
der   Peronei    bedingt  ist,    um  die  es  sich  hier  gewöhnlich  handelt.     Der  Patient 


BLEILÄHMUNG.  1 69 

schlägt  mit  dem  äusseren  Fassrand  auf  den  Boden.  Die  Gangart  hat  grosse 
Aehnlichkeit  mit  der  atactischen  des  Tabikers.  Neben  den  M.  peronei  sind  hier 
auch  der  Extensor  digiforum  communis  und  der  Extensor  hallucis  betheiligt. 
Der  Ischiadicus  ist  selten  betroffen  (Remak,  Oppenheim). 

3.  Lähmungen  der  Cerebralnerven.  Von  diesen  werden  in  der 
Literatur  nur  Kehlkopfnerven  erwähnt.  Diese  Einschränkung  gilt  nur  für  die 
partielle  Lähmung,  während  bei  der  generalisirten  auch  Kopfnerven  betroffen  werden. 
Kehlkopfmuskellähmungen  sind  bereits  seit  TanqüEREL  mehrfach  beschrieben  worden 
(Seifert,  Scheck,  Mackenzie  u.  A.).  Die  Erscheinungen  kündigen  sich  durch 
Heiserkeit  an,  die  nähere  Untersuchung  ergibt  dann  Muskellähmungen. 

JB.  Geiieralisirte  Lähmung.  Diese  breitet  sich  in  mehr  oder  minder 
raschem  Laufe  über  verschiedene  Nervengruppen  aus,  gelegentlich  wie  erwähnt, 
unter  fieberhaften  Prodromen.  In  den  Fällen  mit  langsam  fortschreitender 
Entwicklung  sind  meist  bereits  Kolik,  Lähmung  einzelner  Muskelgruppen, 
unter  Umständen  auch  cerebrale  Symptome  (Encephalopathia  satumina)  voraus- 
gegangen, welchen  dann  die  allmälige  Ausbreitung  der  Lähmungen  folgt.  In 
der  Eegel  werden  dann  nur  Extremitätennerven  betroffen,  während  die  Nerven 
des  Stammes  verschont  bleiben. 

Die  Fälle  mit  raschem  Umsichgreifen  der  Lähmungen  betreffen  meist 
durch  die  chronische  Intoxication  heruntergekommene  Individuen.  Die  Lähmungen 
können  in  auf-  oder  absteigender  Folge  zur  Entwicklung  gelangen,  und  können 
auch  die  Stammesnerven  einbezogen  sein,  ebenso  die  Cerebralnerven  (Pal).  Das 
Krankheitsbild  entspricht  seinem  Wesen  nach  vollkommen  dem  einer  generalisirten 
multiplen  Neuritis  (s.  „Neuritis  multiplex").  Da  auch  das  Centralnervensystem 
in  Mitleidenschaft  gezogen  sein  kann,  können  auch  Blasen-  und  Mastdarmstörungen 
gelegentlich  beobachtet  werden  (Pal). 

Pathogenese,  lieber  das  Wesen  der  Bleilähmung  sind  die  Meinun- 
gen in  den  letzten  beiden  Decennien  wesentlich  auseinander  gegangen.  So 
sind  diese  Lähmungen  von  Gusserow  auf  eine  primäre  Erkrankung  der 
Muskeln,  von  Hitzig  auf  eine  solche  der  Gefässe  zurückgeführt  worden. 
Nachgewiesenermassen  ist  die  Lähmung,  beziehungsweise  deren  Ausbreitung, 
durch  eine  entsprechende  Ablagerung  des  Metalls  in  den  erkrankten  Geweben 
nicht  zu  erklären  (Heubel,  Bernhardt)  Später  hat  man  die  Erkrankung 
auf  eine,  wenn  auch  nicht  immer  anatomisch  nachweisbare  Veränderung  des 
Rückenmarkes  speciell  der  grauen  Vordersäulen  des  Rückenmarkes  im  Sinne 
der  Lehre  von  Duchenne  zurückzuführen  gesucht  (Erb). 

Mit  der  Ausbreitung  der  Lehre  von  der  multiplen  Neuritis  hat  sich 
ein  vollständiger  Umschwung  in  der  Auffassung  vollzogen,  indem  die  Blei- 
lähmung als  eine  durchaus  periphere  Erkrankung  der  Nerven,  also  multiple 
periphere  Neuritis  hingestellt  wurde  (Dejerine-Klumpke).  Doch  diese  Lehre 
ist  nicht  mit  den  Thatsachen  vereinbar,  denn  es  liegen  Beobachtungen 
vor,  welche  die  Mitbetheiligung  des  centralen  Nervensystems  unzweifelhaft 
erscheinen  lassen  (Oppenheim,  Pal)  und  es  bleibt  nun  nichts  übrig,  als  die 
Bleilähmung  als  das  Symptom  einer  toxischen  Allgemeinerkrankung  des 
Nervensystems  hinzustellen.  Wie  bei  den  meisten  allmälig  wirkenden 
Noxen  entwickeln  sich  die  Erkrankungsherde  vorwiegend  an  den  peripheren 
Nerven  (s.  „Neuritis  multiplex"). 

Die  in  dieser  Richtung  angestellten  Experimentahmtersuchungen  an  Thieren  haben 
kein  einheitliches  Resultat  zu  Tage  gefördert  (Hieglitz). 

Pathologische  Anatomie.  Veränderungen  finden  sich  hier  im 
Nervensystem  einerseits  und  in  den  Muskeln  andererseits.  Im  Grossen  und 
Ganzen  handelt  es  sich  nur  um  Erscheinungen,  wie  wir  sie  bei  der  multiplen 
Neuritis  finden. 

Die  Muskeln    zeigen   bereits   makroskopisch   Atrophie   und   eine  grau- 


170  BLEILÄHMUXG. 

gelbliche  Verfärbung.  Die  Fasern  erweisen  sich  mikroskopisch  als  ver- 
schmälert, die  Muskelkerne  meist  vermehrt,  die  Querstreifung  ist  ver- 
schwommen, häufig  besteht  fettige  Entartung.  Das  interstitielle  Gewebe 
erscheint  vermehrt  und  mit  Fett  erfüllt.  Fast  in  allen  in  neuerer  Zeit  mit 
Hilfe  der  jüngsten  technischen  Hilfsmittel  untersuchten  Fällen  sind  in  den 
peripheren  Nerven  degenerative  Processe  nachgewiesen  worden.  In  einer 
Reihe  von  Fällen  betrafen  solche  auch  Rückenmarkswurzeln  (Lancereaux, 
Dejerixe  u,  A.). 

Im  Rückenmark  fanden  sich  in  vereinzelten  Fällen  auch  Veränderungen 
in  der  grauen  Substanz,  insbesondere  Atrophie  der  grossen  Ganglienzellen 
der  Vorderhörner  (Vulpian,  Monakow,  Oppenheim  u.  A.),  ohne  dass  aber 
diese  zur  Erklärung  der  ausgedehnten  Lähmung  ausreichend  bezeichnet 
werden  konnten.  In  neuester  Zeit  sind  endlich  auch  ausgedehnte  Erkran- 
kungen der  weissen  Substanz  beschrieben  worden  (Pal.),  lieber  das  Verhalten 
des  Grosshirns  fehlen  noch  die  Belege. 

Die  Diagnose  der  Bleilähmung  stützt  sich  auf  das  anamnestische 
Moment  der  Beschäftigung  oder  Berührung  mit  Blei.  In  Fällen,  in  welchen 
eine  solche  von  vornherein  nicht  bekannt  ist,  kann  die  charakteristische 
Anaemie,  der  Bleisaum  des  Zahnfleisches  zur  Erkenntnis  der  Bleiintoxication 
führen. 

Der  Typus  der  Lähmung,  beispielsweise  der  Vorderarmlähmung  kann 
wohl  als  unterstützendes  Moment,  keineswegs  aber  als  entscheidendes 
Moment  herangezogen  werden.  Man  darf  nicht  vergessen,  dass  ganz  gleiche 
Lähmungsformen  auch  bei  anderen  Intoxicationen  beobachtet  werden. 

Die  Prognose  ist  in  erster  Linie  davon  abhängig,  ob  es  sich  um 
eine  generalisirte  oder  aber  um  eine  abgegrenzte ,  partielle  Lähmung 
handelt.  Es  kann  zwar  die  letztere  stets  in  erstere  übergehen.  Die 
generalisirte  Lähmung  ist  durch  den  Umstand  gefährlich,  dass  sie'  auch 
lebenswichtige  Nerven  befallen  kann.  Im  Uebrigen  hängt  der  Verlauf  von 
dem  allgemeinen  Zustande  des  Individuums  und  dann  von  der  Eliminirung 
der  Schädlichkeit,  d.  h  der  Sistirung  der  weiteren  Bleieinwirkung  ab.  Die 
professionellen  partiellen  Lähmungen  verlaufen  meist  gutartig.  Eine  zuneh- 
mende Bleicachexie,  vorgeschrittene  Cerebralsymptome  machen  die  Prognose 
stets  ungünstiger.  Bei  fortgesetzter  Einwirkung  des  Giftes  erfolgen  leicht 
Recidiven,  doch  sind  solche  auch  trotz  Enthaltung  von  der  weiteren  Be- 
schäftigung mit  Blei  beobachtet  worden  (Tanquerel,  Bernhardt). 

Therapie.  Diese  fordert  die  Sistirung  der  weiteren  Beschäftigung 
mit  Blei.  Nicht  selten  gehen  die  Lähmungen  dadurch  allein  schon  von  selbst 
zurück,   besonders   wenn   der  Ernährungszustand   gleichzeitig  gehoben   wird. 

Die  nächste  Aufgabe  ist,  die  Eli;iiinirung  des  Bleies  aus  dem 
Körper  anzustreben.  Zu  diesem  Behufe  sind  Schuitzbäder  und  Sclucefelhäder 
empfohlen  worden.  Die  Wirkung  beider  ist  wohl  sehr  zweifelhaft,  doch  wird 
eine  Ausscheidung  von  Blei  durch  die  Schweissdrüsen  neuerdings  von  Oddo 
und  SiLBERT  angegeben.  Innerlich  Jodkalium  oder  -natrium  —  auch  pro- 
phylactisch.  Unter  dem  Einflüsse  der  Jodsalze  soll  die  Blei-Ausscheidung 
im  Harne  thatsächlich  steigen  (Sv^te).  Auch  Jodeisen  besonders  bei  gleich- 
zeitig bestehender  Anaemie  ist  zu  empfehlen  (Gowers).  Doch  ist  der  längere 
Gebrauch  der  Jodsalze  in  Hinblick  auf  die  Möglichkeit  einer  Jodbleivergiftung 
(Thomsen)  nicht  ungefährlich.  Von  einer  medicamentösen  Beeinflussung  der 
Lähmungen  ist  wohl  nichts  zu  erwarten.  Für  diese  Zwecke  ist  Stri/cknin 
innerlich  und  subcutan  empfohlen  worden.  Im  Uebrigen  gelten  hier  dieselben 
Principien  wie  bei  der  Behandlung  der  multiplen  Neuritis  überhaupt:  Elek- 
tricitäty  Massage,  vor  Allem  aber  Hebung  der  Ernährung.  pal. 


BLUTENTZIEHUNG.  1 7 1 

Biutentziehung.  Die  Blutentziehuug  kann  eine  locale  oder  all- 
gemeine sein.  Local  ist  sie  dann,  wenn  sie  den  Zweck  verfolgt,  einem 
begrenzten  Körpertheil  (Krankheitsherd)  Blut  zu  entziehen. 

Die  1.  B.  löst  die  Stase  in  den  Blutgefässen,  die  aneinander  ge- 
pressten  Blutzellen,  kommen  in  Bewegung  und  derart  ist  es  eigentlich  nicht 
die  Blutentziehung  als  solche,  sondern  deren  mechanische  Wirkung,  welche 
den  gewünschten  Erfolg  erzielt.  Die  1.  B.  ist  nach  der  Kälteapplication 
das  tüichtigste  Äntiphlogisücum. 

Die  1.  B.  kann  erfolgen  durch  Sc  arifi  cation  mit  dem  Bistouri, 
durch  das  Ansetzen  von  Blutegeln  und  durch  die  Application  des 
S  chröpfkopf  e  s.  Bei  internen  Krankheiten  wird  die  Scarification  nicht 
angewendet,  wohl  aber  die  beiden  letztgenannten  Methoden.  Das  Schröpfen 
geschieht  mittels  des  sogenannten  Schneppers,  früher  ein  unentbehrliches 
Instrument  jedes  Praktikers,  welches  in  einem  Messinggehäuse  zwölf  Messer- 
klingen verborgen  enthält,  die  durch  Federdruck  gleichzeitig  und  plötzlich 
vorgeschnellt  und  wieder  zurückgezogen  werden.  Das  Schröpfen  ist  heut- 
zutage gänzlich  obsolet  geworden. 

Die  Application  von  Blutegeln  geschieht  in  folgender  Weise: 
An  disparaten  Stellen  wird  ein  leicht  blutender  Einstich  gemacht  und  über 
diesen  ein  Gläschen  gestülpt ,  in  das  man  den  Blutegel  hineingethan 
hat.  Um  das  Anbeissen  zu  erleichtern,  kann  man  die  betreffende  Stelle 
zuvor  mit  etwas  gezuckerter  Milch  benetzen.  Man  vermeide  immer  Haut- 
partien über  grossen  Gefässen  und  solche  mit  zu  dicker  Epidermis.  Sind 
die  Blutegel  gesättigt,  so  fallen  sie  ab,  und  man  kann  dann  beliebig  lang 
nachbluten  lassen,  indem  man  die  Stiche  mit  warmer  Salicyllösung  betupft. 
Will  man  die  Egel  früher  zum  Abfall  bringen,  so  bestreiche  man  ihr 
Schwanzende  mit  Salz.  Die  Stillung  der  Blutung  geschieht  durch  Com- 
pression  mittelst  antiseptischer  W^atte  oder  mittels  Pengwar- Djambi;  es 
ist  dies  deshalb  erwähnenswerth,  weil  die  Blutung  aus  Blutegelstichwunden 
sich  oft  schwer  stillen  lässt. 

Empfohlen  wird  das  Setzen  von  Blutegeln  vorzüglich  bei  folgenden 
internen  Krankheiten:  EndocarcUtis  acuta,  Pneumonie  und  Pleuritis  im  Be- 
ginne; Neuralgien  aller  Art,  Bheumatismus  nmsculorum,  Tgphlitis,  acute 
Myelitis  in  der  Höhe  der  vermutheten  Läsion,  Pachy-  und  Lepfotneningitis, 
Insolation^  Gelrirnhlutungen,  Congestions-  und  Stauungszustände  im  Bereiche 
der  Gefässe  des  Kopfes  und  insbesondere  der  Hirnvenen,  sei  es  dass  die- 
selbe in  Folge  einer  Herzinsutficienz,  eines  Lungenemphysems,  einer  all- 
gemeinen Plethora  sich  einstellen  oder  als  hartnäckige  Kephalalgie  unbe- 
kannten Ursprungs  sich  darbieten. 

Als  allgemeine  Blutentziehung  bezeichnen  wir  jene,  bei  der 
wir  die  gesammte  Blutmenge  um  eine  bestimmte  Quantität  zu  vermindern 
trachten.     Das  Ziel  wird  erreicht   durch  den  Aderlass,    die   Vennesection. 

Die  Meinungen  über  die  Zulässigkeit  des  Aderlasses  sind  noch  heut- 
zutage getheilt.  In  den  letzten  zwei  Jahrzehnten  waren  es  zumeist  die 
nicht  deutschen  Aerzte,  welche  für  die  Anwendung  der  Venaesection 
energisch  eintraten.  Erst  in  der  Gegenwart  scheint  sich  auch  unter  den 
deutschen  Klinikern  ein,  man  könnte  sagen,  theilweiser  Umschwung  der 
Ansichten  zu  Gunsten  des  Aderlasses  vollzogen  zu  haben.  Als  die  wichtigsten 
Indicationen  des  Aderlasses  wären  folgende  anzunehmen: 

1.  Gehirnaffectionen:  Haemorrhagia  cerehri,  Pctchg-  und  Lepto- 
)yieningitis,  gesteigerter  Hirndruck  nach  Schädelverletzungen,  Insolation.  Nach 
Saccharjin  ist  insbesondere  eine  drohende  oder  sich  vollziehende  Gehirn- 
apoplexie im  Gefolge  chronischer  Nephritis  eine  dringende  Indication 
für   den   Aderlass.     In  solchen  Fällen   ist  die  Venaesection  jedoch  nur  zu 


172  BLUTENTZIEHUNG. 

lässig  bei  kräftigen  Leuten,  wenn  der  Puls  voll  und  gespannt  erscheint, 
die  Herztöne  dementsprechend  laut  und  accentuirt  und  der  Gesichtsaus- 
druck einen  gewissen  Turgor  darbietet. 

2.  Herzaf  f  e  ctionen.  Durch  den  Aderlass  wird  hei  Klappenfehlern 
das  venöse  System  entlastet  und  der  arterielle  Druck,  steigt.  Nur  wenn 
bedeutende  Atheromatose  der  Gefässwände  vorhanden  ist,  ist  der  Aderlass 
contraindicirt,  denn  dann  führt  jeder  acute  Blutverlust  zum  Sinken  des 
Blutdruckes  und  zu  einer  meist  irreparablen  Verschlechterung  der  ganzen 
Kreislaufverhältnisse.  Liebeemeister  empfiehlt  den  Aderlass  neuerdings 
dringend  bei  allen  jenen  Kranken,  welche  in  einem  Zustande  so  bedeutender 
Circulationsstörung  zur  Behandlung  kommen,  dass  für  eine  Wirkung  der 
Digitalis  oder  anderer  Mittel  keine  Zeit  mehr  ist.'  Dabei  empfiehlt  er  am 
zweckmässigsten  den  Aderlass  aus  der  Vena  jugularis  interna,  ein  Ver- 
fahren, wozu  sich  ein  praktischer  Arzt  schwer  entschliessen  dürfte,  zumal 
LiEBERMEiSTER  selbst  zugebeu  muss,  dass  auch  durch  reichliche  Blutent- 
leerung aus  einer  Armvene  derselbe  Zweck  erreicht  wird. 

3.  Lungenaffectionen.  Die  Zulässigkeit  des  Aderlasses  bei  der 
Pneumonie  bildet  bis  zur  Gegenwart  ein  beliebtes  Streitobject  jener 
Kliniker,  die  überhaupt  die  Venaesection  anzuwenden  pflegen.  Englische 
und  französische  Aerzte  (Richardson,  Bird,  Johnson,  Pappilaud  u.  a.) 
waren '  stets  für  die  Nothwendigkeit  der  Venaesection  bei  der  croupösen 
Pneumonie  eingetreten. 

In  der  im  Jahre  1889  in  der  belgischen  Akademie  geführten  Discussion 
erklärte  Verriest  die  Venaesection  bei  normalen  Blutmengen  immer  er- 
laubt. Als  Nothwendigkeit  bezeichnet  sie  der  genannte  Autor,  wenn  eine 
allgemeine  acute  Bronchitis  zur  Pneumonie  hinzutritt,  oder  wenn  von  früher 
her  Emphysem  oder  Cirrhose  besteht.  Jene  Autoren,  welche  den  cyclischen 
Ablauf  der  pneumonischen  Infection  hervorheben,  halten  aus  diesem  Grunde 
den  Aderlass  für  überflüssig.  Crocqe  behauptet,  dass  die  Venaesection, 
wenn  auch  nicht  den  Fieberverlauf  beeinflusse,  so  doch  das  „Chronisch- 
werden der  Pneumonie"  verhindere.  Saccharjin,  der  den  Blutentziehungen 
im  Allgemeinen  lebhaft  das  Wort  spricht,  betont  den  Werth  des  Ader- 
lasses namentlich  im  Anfangsstadium  der  Pneumonie,  wenn  dieselbe  bei 
einem  kräftigen  Individuum  stürmisch  einsetzte.  Unzweifelhaft  nutzbringend 
ist  der  Aderlass,  wenn  Lungenoedem,  z.  B.  bei  chronischer  Nephritis,  auf- 
getreten oder  auch  nur  drohend  bevorsteht.  Limgenblutungen,  seien  sie  blos 
die  Folge  einer  Stauungshyperaemie,  seien  sie  das  Symptom  eines  Infarctes, 
können  ebenfalls,  so  ferne  sonst  alle  Bedingungen  für  den  Aderlass  zu- 
treffen, eine  Indication  zur  „allgemeinen  Blutentziehung"  bieten.  Lungen- 
bluhmgen  bei  Phthise  bilden  im  Allgemeinen  eine  Contraindication  für  die 
Venaesection.  Dass  auch  von  dieser  Regel  Ausnahmen  bestehen  können, 
beweist  eine  Beobachtung  von  William  R.  Huggard. 

Derselbe  theilte  folgenden  praktisch  wichtigen  Fall  mit: 

Junger  Mann  mit  physikalisch  nachweisbarer  Spitzeninfiltration  und 
Bacillen  im  Sputum  hat  sich  nach  einer  Periode  schlechten  Befindens  derart  erholt, 
dass  er  ein  exquisit  plethorisches  Aussehen  darbot.  Zu  dieser  Zeit  Haemoptoe  (ein 
Mundvoll).  Es  wird  Bettruhe  und  Morphin  verordnet,  trotzdem  tritt  ein  zweites  Mal 
Haemoptoe  ein;  da  der  Puls  sehr  hoch  gespannt,  voll  und  frequent  war,  entschliesst  sich 
HiTGGAKD  zur  Venaesection  und  entzieht  1440  Blut,  worauf  der  Kranke  sich  bedeutend 
besser  fühlt,  die  Pulsfrequenz  von  96  auf  68  sinkt  und  eine  weitere  Blutung  bis  zur  voll- 
ständigen Recreation  nicht  mehr  auftritt. 

4.  Nierenerkrankungen  bilden  nicht  als  solche,  wohl  aber  in- 
soferne  sie  einerseits  zum  Lungenoedem,  anderseits  zum  apoplectischen 
Insult  führen,  eine  Indication  für  den  Aderlass.  F.  A.  Hoffmann,  der 
sonst   nicht   gerade    als   Anhänger    des   Aderlasses   erscheint,    befürwortet 


BLUTENTZIEHUNG.  173 

diese  Indicationsstellung  aufs  Wärmste,  indem  er  zur  obgenaiinten  Formu- 
lirung  der  In dication  hinzufügt  „besonders  bei  acut  Uraemischen  und 
Eclamptischen". 

5.  Blutkrankheiten.  Nach  der  Mittheilung  vielfältiger  praktischer 
Erfahrungen  eignen  sich  viele  anaemische  Zustände,  insbesondere  die 
Chlorose  für  den  Aderlass  und  werden  durch  denselben  geradezu  im- 
ponirende  Erfolge  erzielt  (s.  u.).  Freilich  datiren  diese  Erfahrungen  aus 
zu  kurzer  Zeit,  als  dass  sie  bereits  allgemein  anerkannte  Berechtigung 
und  Beachtung  gefunden  hätten. 

6.  Vergiftungen,  wo  der  Aderlass  bei  dyspnoischen  und  soporösen 
Zuständen   depletorisch  und   excitirend  wirkt  oder  das  erste  Moment  einer 
lebensrettenden    Transfusion    bildet.     Bei    Leuchtgas  (CO)  Vergiftungen    ist 
diese  Therapie  die  einzig  berechtigte. 


Nachdem  der  Aderlass  in  den  letzten  Jahrzehnten  aus  der  Rüstkammer 
des  ärztlichen  Praktikers  gänzlich  verbannt  worden  war,  haben  neuester  Zeit 
einige  Kliniker  bereits  wieder  energisch  ihre  Stimme  zu  Gunsten  des  Aderlasses 
erhoben  (s.  o,).  Noch  bemerkenswerther  ist  aber  eine  Bewegung  zur  Eehabili- 
tation  des  Aderlasses,  die  von  Seiten  einiger  praktischer  Aerzte  in  Deutschland 
ihren  Ausgang  nahm.  In  den  nachfolgenden  Zeilen  nimmt  einer  der  „Führer  dieser 
Bewegung"  das  Wort.  ^  ^ 

* 

Mehrere  Tausend  Jahre  nahmen  die  Blutentziehungen  im  Heilschatze  eine 
der  wichtigsten  Stellungen  ein,  und  noch  HuFELAND  zählte  den  Aderlass  zu  den 
Heroen  der  Kunst ;  da  mit  einem  Male  wurde  durch  Diett's  Vorgehen  der  Ader- 
lass und  die  anderen  Blutentziehungen  in  Acht  und  Bann  gethan  und  die  Be- 
hauptung aufgestellt,  dass  kein  Mensch  zu  viel  Blut  habe  und  jeder  Blutstropfen 
dem  Körper  zu  erhalten  sei.  Der  Grund  dieser  Erscheinung  liegt  hauptsächlich 
darin,  dass  man  zu  Diett's  Zeit  anfangs  der  BouiLLAND'schen  Irrlehre  huldigte, 
den  Aderlass  coup  sur  coup  und  heroiquement  anzuwenden  und  zu  gleicher 
Zeit  Abführmittel  zu  verordnen,  wodurch  naturgemäss  eine  Menge  Misserfolge 
kommen  mussten.  Anstatt  nun  die  Aderlasstherapie  in  die  richtigen  Wege  zu 
leiten,  schüttete  man  das  Kind  mit  dem  Bade  aus  und  verwarf  den  Aderlass 
als  solchen.  Jahrelang  ruhte  der  Aderlass  in  der  medicinischen  Rumpelkammer, 
wurde  in  den  Lehrbüchern  nur  noch  als  historisch  wichtig  aufgeführt,  und  kein 
Mensch  dachte,  dass  er  je  wieder  im  Heilschatze  auftauchen  könnte. 

Ganz  hatte  man  ihn  zwar  nie  zu  beseitigen  vermocht,  und  die  älteren  Aerzte 
und  Heilgehilfen,  vor  Allem  aber  das  Laienpublicum  konnten  sich  von  den  Blut- 
entziehungen nicht  trennen  und  übten  sie  ruhig  weiter.  Aber  auch  die  Verächter 
des  Aderlasses  mussten  ihm  bei  einigen  Krankheiten  noch  eine  wichtige  Stellung 
einräumen,  so  bei  Lungenödem  und  Apoplexie,  bei  letzerer  allerdings  erst  nach 
dem  Schlaganfalle ;  selbst  bei  Pneumonie  Hess  er  sich  nur  schwer  verdrängen, 
und  nur  die  Furcht  der  jüngeren  Aerzte  vor  einer  etwaigen  Anklage  wegen  fahr- 
lässiger Tödtung  liess  ihn  mehr  und  mehr  ausser  Gebrauch  kommen. 

Schon  starben  die  älteren  Aerzte  und  Heilgehilfen,  die  letzten  Freunde  der 
Blutentziehung,  aus,  schon  begann  auch  das  Laienpublikum  sich  der  Lehre  der 
ärztlichen  Schulwissenschaft  anzubequemen,  dass  jede  Blutentziehung  schädlich 
sei,  da  trat  mit  einem  Male  AuG.  Dtes,  Oberstabsarzt  a.  D.  in  Hannover^  mit 
voller  Ueberzeugung  für  den  Aderlass  ein  und  stellte  denselben  besonders  als 
Radical mittel  bei  Bleichsucht  und  Blutarm uth  hin,  eine  Ansicht, 
die  bei  fast  allen  Aerzten  anfangs  nur  ein  mitleidiges  Lächeln  hervorrief.  Jahre- 
lang predigte  Dyes  tauben  Ohren,  und  nur  seine  ausgesprochenen  Erfolge  führten 
ihm  mehr  und  mehr  Patienten  zu.     Plötzlich  erstand  ein  neuer  Vertheidiger  des 


174  BLUTENTZIEHUNG. 

Aderlasses  in  Dr.  AVilhelmi  in  Güstroic  (jetzt  Kreisphysikus  in  Schcerin),  der 
in  seiner  1890  erschienenen  Broschüre  30  mit  Aderlass  behandelte  Kranken- 
geschichten mittheilt,  und  zwar  hauptsächlich  Bleichsuchtsfälle.  Er  kommt  darin 
zum  Schluss,  dass  der  Aderlass  hei  Bleichsucht  ein  hervorragendes  Heilmittel  sei, 
und  dass  nach  seiner  Meinung  die  Wiedereinführung  kleiner  Blutentziehungen  nur 
noch  eine  Frage  der  Zeit  sei.  Fast  zu  gleicher  Zeit  erschien  von  Dr.  Scholz, 
Director  der  Krankenanstalt  in  Bremen,  eine  Schrift  über  die  Aderlasswirkung 
bei  Bleichsucht,  worin  er  die  Bleichsucht  als  eine  Plethora  erklärt  und  ebenfalls 
für  die  Anwendung  des  Aderlasses  mit  nachfolgenden  Schwitzbädern  eintritt. 

Meine  eigenen  Erfahrungen  in  der  Therapie  der  Blutentziehungen 
datiren  seit  dem  Sommer  1890.  Aufmerksam  gemacht  durch  einen  Artikel  von 
Dr.  Dtes  über  den  Aderlass  bei  Bleichsucht  und  die  WiLHELMi'sche  Broschüre 
begann  ich  damals  meine  ersten  Versuche  bei  Bleichsuchtsfällen  und  berichtete  am 
XIII.  Balneologen-Congresse  zu  Berlin  im  März  1891  über  meine  ersten  fünfzehn 
Fälle.  Ein  Jahr  später  konnte  ich  auf  dem  XIV.  Balneologen-Congresse  bereits 
über  40  und  auf  dem  diesjährigen  Congresse  bereits  über  113  mit  Aderlass  be- 
handelte Fälle  berichten.  Jetzt  habe  ich  bereits  ein  Krankenmaterial  von  165 
Fällen,  meist  Bleichsucht,  Blutarmnth,  Rheumatismen,  Kopfschmerzen,  Congestionen 
u.  dgl.  Vor  meinem  letzten  Vortrage  i)  ersuchte  ich  die  wenigen  Collegen,  die 
noch  ausser  den  bekannten  den  Aderlass  üben,  durch  öffentliche  Aufforderung,  mir 
ihre  Erfahrung  und  Ansicht  über  die  Aderlasswirkung  kundzugeben,  und  es  liefen  von 
einundzwanzig  Collegen  Xachi'ichten  ein,  die  fast  alle  sich,  günstig  aussprachen, 
nur  einige  Collegen  enthielten  sich  des  Urtheiles,  keiner  sprach  sich  dagegen 
aus.  Aus  der  Summe  dieser  Mittheilungen,  den  Erfahrungen  von  Dtes,  Scholz, 
Wn^HELMi  und  mir,  ergibt  sich  als  heutiger  Stand  der  Frage  der  Blutent- 
ziehungen folgender; 

Der  Aderlass  ist  nach  den  Erfahrungen  von  Dyes,  Wh^helmi,  Scholz, 
Joppich  —  Neusalz,  Hauschild  —  Steinern  a.  0,,  Simon  —  Cottbus,  K aliebe 
—  Treptow  a.  B.,  junge  —  Heide  i.  Holstein.,  Oesterlein  —  Stuttgart, 
Ieion  —  Nagold  und  mir  das  vorzüglichste  Heilmittel  bei  Bleich- 
sucht. Frische  Fälle  heilen  in  kurzer  Zeit,  meist  nach  einem  einzigen  Ader- 
lasse. Aeltere  Fälle,  besonders  solche,  die  jahrelang  Medicamente  gebraucht  haben, 
bedürfen  einer  viel  längeren  Zeit,  je  nach  der  Schwere  des  Falles  und  2-  bis 
4  maliger  Wiederholung,  da  im  Anfange  leicht  Eecidive  eintreten.  Man  kann 
wohl  sagen,  dass  sich  jede  Bleichsucht  zum  Aderlass  eignet,  wenn  nicht  schwere 
Complicationen  vorhanden  sind,  wie  vorgeschrittene  Phthise,  schwere  Herzstörung 
u,  dgl.,  immerhin  wird  man  mit  einer  kleinen  vorsichtigen  Venaesectio  noch  mehr 
erreichen,  wie  mit  einer  anderen  Behandlung.  Anaemie  der  Frauen  eignet  sich 
nach  Dtes,  Ieion  und  mir  ebenfalls  in  hervorragender  Weise  zum  Aderlass. 
Frische  Fälle  heilen  sehr  schnell,  schwere  langsamer,  als  bei  Bleichsucht,  sehr 
schwere  Fälle  gestatten  wohl  einen  Versuch,  werden  aber  nur  selten  von  Erfolg 
begleitet  sein,  da  die  Anaemischen  meist  schon  den  späteren  Lebensjahren  an- 
gehören, wo  die  zur  Eeacti^n  dringend  nöthige  Lebenskraft  schon  sehr  geschwächt 
ist.  Die  Anaemie  des  männlichen  Geschlechtes  bedarf  im  Allgemeinen  einer  ver- 
hältnismässig längeren  Zeit  und  öfterer  Wiederholung,  weil  die  ausgleichende 
Periode  der  Frauen  fehlt. 

Für  den  Aderlass  bei  Pneumonie  treten  Sanitätsrath  Dr.  Albu  — 
Schmiedeberg  im  Erzgeh.,  Dr.  Neumann  —  Guben,  Dr.  Krauss  —  Mergent- 
Jieim,  mit  aller  Entschiedenheit  ein,  allerdings  meist  bei  kräftigen  voUsäftigen 
Patienten  bei  starker  Dj^spnoe  und  bedrohlichen  Erscheinungen,  ebenso  tritt  Prof. 
Maragliano  für  ihn  ein.  Nach  Dtes  und  Guido  Catola  ist  der  Aderlass  bei 
acuter  Pneumonie  stets  iudicirt,    ausser    bei    Marasmus    senilis    und    Herzhyper- 


^J  Der  Aderlass  in  therapeutischer  Beziehung.  M.  Perles.  Wien  1893. 


BLUTENTZIEHUNG.  175 

tropliie  mit  fettiger  Entartung-.  Bei  einzelnen  Fällen  sahen  vom  Aderlasse  bei 
Pneumonie  sehr  gute  Erfolge :  Dr.  Legiehn  —  Udericangen,  Dr.  Falk  —  Hamm 
i.  W.,  Dr.  Vogt  —  Dresden,  und  Dr.  Hofrichter  —  Liltzelstein,  während 
die  mit  Aderlass  behandelten  vier  Fälle  von  Dr.  Dietrich  —  Elbing,  ein  Fall 
von  Dr.  Goldmann  —  Hertwigsivalde^  zwei  Fälle  von  mir  zwar  zunächst  eine 
auffallende  Besserung  zeigten,  dann  aber  schliesslich  tödtlich  endeten.  Directe 
Gegner  des  Aderlasses  bei  Pneumonie  von  solchen  Collegen,  die  ihn  versucht 
haben,  haben  sich  nicht  gemeldet. 

Obwohl  der  Aderlass  bei  Lungenödem  und  Apoplexie  noch  als 
ultimum  refugium  selbst  in  den  neueren  Lehrbüchern  empfohlen  wird,  wird  er 
doch  meist  selten  geübt,  da  die  Furcht  der  Aerzte  vor  dem  Aderlasse  eine  zu 
grosse  ist.  Dass  er  bei  Lungenödem  das  einzige  lebens  rettende  Mittel 
ist,  vermag  selbst  der  entschiedenste  Gegner  nicht  zu  bestreiten.  Bei  Apoplexie 
ist  es  ebenso,  doch  wird  man  bei  stärkeren  Schlaganfällen  nur  selten  Erfolge 
haben ;  hingegen  ist  er  bei  apoplectischem  Habitus  nach  den  Erfahrungen  von 
Dyes  und  mir  ein  hervorragendes  Mittel  zur  Beseitigung  der  drohenden  Erschei- 
nungen des  Schlagaüfalles.  Bei  Congestionen  und  den  damit  zusammen- 
hängenden Kopfschmerzen  ist  der  Aderlass  ein  geradezu  specifisch  wirkendes 
Mittel.  Ebenso  sah  ich  fast  immer  vorzügliche  Erfolge  bei  Eclampsie  und 
einigen  Fällen  von  Epilepsie.  Nach  den  Beobachtungen  von  Dtes,  Dr.  Irion 
und  mir,  wirkt  der  Aderlass  ferner  vorzüglich  bei  Neuralgien,  acutem 
und  chronischem  Eheumatismus;  ferner  bei  gewissen  melancholi- 
schen und  hypochondrischen  Zuständen,  bei  nicht  heilenden  Bein- 
geschwüren und  Ekzemen.  * 

Fragen  wir  uns  nun,  wie  es  kommt,  dass  der  Aderlass  bei  einer  so  grossen 
Menge  von  Krankheiten  so  günstigen  Einfluss  hat,  so  liegt  dies  in  der  Art  seiner 
Wirkungsweise,  Er  wirkt  nämlich  überall  da,  wo  eine  fehlerhafte  Circulation, 
die  sich  in  Kälte  der  Extremitäten  und  Ueberfüllung  der  inneren  Organe  mit 
Blut  äussert,  oder  eine  schlechte  Blutbeschaffenheit  vorhanden  ist,  die  Circulation 
regelnd  und  die  Blutbeschaffenheit  verbessernd,  und  zwar  deshalb,  weil  er  das 
erste  und  mächtigste  Schwitzmittel  ist,  das  stets  prompt  wirkt  und  unter  Ent- 
lastung des  Herzens  die  contracilen  Gefässfasern  zur  Ausscheidung  anregt.  Diese 
Wirkungsweise  ist  allein  ausschlaggebend  für  seine  Anwendung  und  demnach  der 
Aderlass  überall  da  am  Platze,  wo  man  ableiten  und  die  Circulation  und  Blut- 
neubildung heben  will.  Da  ich  nach  den  Erfahrungen  von  Dyes,  Scholz  und 
mir  nun  auch  die  Chlorose  und  Anaemie  als  eine  Plethora  auffassen  muss,  so 
ist  danach  auch  hier  die  so  überraschende  Wirkung  zu  erklären.  Nach  jedem 
Aderlasse  tritt,  selbst  bei  den  kältesten  Patienten,  nach  Verlauf  oft  nur  weniger 
Minuten  bis  einer  Stunde  allgemeine  Wärme,  Eöthe  und  Schweiss  auf,  der  mit- 
unter tage-,  selbst  wochenlang  anhält;  die  subjectiven,  bedrohlichsten  Symptome 
verschwinden  in  kurzer  Zeit,  um  nie,  oder  nur  ganz  leicht  wiederzukehren. 
Hier  hat  auch  der  von  Wilhelmi  aufgestellte  Satz  volle  Geltung:  „Je  schwerer 
die  subjectiven  Erscheinungen,  umso  auffälliger  die  Wirkung  des  Aderlasses." 
Man  kann  diesen  für  die  Bleichsucht  aufgestellten  Satz  getrost  verallgemeinern; 
stets  bedenke  man  dabei,  dass  hier  von  Symptomen,  nicht  von  der  Schwere  des 
Falles  an  sich  die  Rede  ist. 

Was  die  Menge  des  zu  entnehmenden  Blutes  anlangt,  so  genügt 
bei  schwächlichen  Patienten  V2  ^^^  ^  fl  ^^^*  ^^^  Pfund  Körpergewicht,  besonders 
bei  Chlorose  und  Anaemie.  Bei  Congestionen,  Krämpfen,  Pneumonie  ist  je  nach 
dem  Falle  1  bis  2  g  auf  das  Pfund  zu  entnehmen.  Die  Wiederholung  geschieht  in 
der  Zeit  von  vier  zu  vier,  oder  bei  sehr  Schwachen  im  Zwischenraum  von  actit 
Wochen.  Bei  acuten,  stürmischen  Krankheitserscheinungen  ist  eine  Wiederholung 
in  kürzerer  Zeit,  selbst  in  acht  bis  zehn  Tagen  nöthig. 

Stets    mache  man  den    Aderlass    am    liegenden    Kranken    im    Bett,  benütze 


176  BLUTENTZIEHÜNG. 

nach  Abbindung  des  Oberarmes  mit  Guramibinde  zum  Stiche  eine  Lancette. 
Fliesst  nicht  genügend  Blut  ab,  lockere  man  die  Binde  etwas,  worauf  dann  ge- 
nügend Blut  entströmt.  Ist  das  zu  entnehmende  Quantum  abgeflossen,  löst  man 
die  Gummibinde  ganz;  das  Blut  steht  dann  meist  von  selbst.  Hierauf  einen 
Wattebausch  auf  die  kleine  Wunde  und  eine  Binde  darum.  Nachher  ruhige  Lage 
im  Bett,  leichten  Thee  zur  Schweissbeförderung.  Der  Patient  muss  wenigstens 
einen  Tag  das  Bett  hüten,  ist  er  schwach  und  schwitzt  er  stark,  dann  womöglich 
mehrere  Tage.  Die  Weiterbehandlung  hat  ihre  Aufmerksamkeit  hauptsächlich 
darauf  zu  richten,  die  durch  den  Aderlass  in  Fluss  gebrachte  Circulation,  die 
Wärme  der  Extremitäten,  zu  erhalten  und  kleine  Eecidive  sofort  zu  beseitigen. 
Daher  ist  vor  Allem  auf  Wärme  der  Füsse  zu  achten  und  bei  eintretender  Kälte 
derselben  warme  Fuss-  oder  Halbbäder  anzuordnen,  später  durch  kalte  Abreibungen 
die  Circulation  zu  erhalten  und  den  Körper  abzuhärten.  Stets  besuche  man  den 
Kranken  am  anderen  Tage  und  besichtige  das  ruhig  stehen  gelassene  Aderlass- 
blut, das  man  am  besten  in  einem  Suppenteller  aufgefangen  hat.  Durch  wiederholte 
Besichtigung  nach  verschiedenen  Aderlässen  wird  man  bald  den  Unterschied  des 
betreffenden  Blutes  vom  Normalen  kennen  lernen  und  vor  Allem  Verständnis  für 
die  Aderlasswirkung  bekommen.  Das  normale  Blut  zeigt  1/3  helle,  goldgelbe, 
klare  Lymphe  ohne  jeden  Satz,  ^/^  festen  Blutkuchen,  dessen  Oberfläche  ganz 
dünn,  löschpapierdünn,  hellroth  ist,  entsprechend  dem  Procentgehalt  an  weissen 
Blutkörperchen,  die  in  Folge  ihrer  Leichtigkeit  oben  schwimmen  und  3 — 5%  der 
Masse  betragen  sollen.  Der  untere  Theil  ist  dunkel  schwarzroth  und  fest.  Das 
kranke  Blut  zeigt  nun  die  verschiedensten  Abweichungen  von  der  Norm,  meist 
zu  wenig  Lymphe,  bis  1/20  nur,  "dann  wieder  zu  viel,  bis  %  und  mehr,  letzteres 
besonders  bei  älteren  Fällen.  Die  Qualität  der  Lymphe  schwankt  von  der  leich- 
testen Trübung  bis  zur  stärksten  eiterigen  Masse.  Der  Satz  schwankt  ebenso 
zwischen  ganz  leichter  Bestreuung  und  dickem,  massenhaftem  Satz,  wie  Schlamm. 
Die  feste  Masse,  der  Blutkuchen,  zeigt  wieder  die  grösste  Verschiedenheit  in  der 
Dicke  der  hellrothen  oder  graugelben  Oberfläche  und  der  dunklen  unteren  Schicht, 
mitunter  ist  das  Verhältnis  ganz  umgekehrt,  über  900/o  helle  Schicht.  Ich  sah 
bei  allen  meinen  mit  Aderlass  behandelten  Fällen  eine  mehr  oder  weniger  starke 
Abweichung  von  der  Norm.  Leider  lässt  sich  vor  dem  Aderlass  kein  bestimmter 
Schluss  ziehen  über  die  Blutbeschaffenheit,  hier  entscheidet  nur  die  Erfahrung 
und  ein  eventueller  Probe-Aderlass.  Alle  die  Instrumente,  das  von  Wilhelmi 
und  mir  angegebene  Haematoskop  Und  das  Mikroskop,  haben  nur  einen  relativen 
Werth,  weil  sie  die  oben  beschriebenen  Unterschiede  in  der  Blutzusammensetzung 
nicht  anzugeben  vermögen,  was  einzig  und  allein  die  makroskopische  Besichti- 
gung vermag. 

Fragen  wir  uns  nun  zum  Schluss,  welcher  Art  der  Blutentziehung 
der  Vorzug  zu  geben  ist,  ob  dem  Blutegel,  dem  Schröpfen  oder  dem 
Aderlasse,  so  wird  man  sich  immer,  wenn  irgend  angäuglich,  für  den  Ader- 
lass entscheiden,  da  er  die  grösste  Entlastung  des  Venensystems  herbeiführt, 
sehr  schnell  und  sicher  wirkt  und  genaue  Abmessung  des  Blutquantums  gestattet, 
vor  Allem  auch  die  auf  die  Blutentziehung  meist  unmittelbar  folgende  Schweiss- 
reaction  in  keiner  Weise  stört,  wenn  er  nach  Vorschrift  im  Bett  vorgenommen 
wird.  Die  Blutegel  wählt  man  meist  bei  Kindern  unter  10  Jahren,  und  zwar 
nach  DyeS  soviel  Blutegel,  als  das  Kind  Jahre  zählt;  die  Application 
geschieht  am  Vorderarm,  um  durch  möglichst  geringe  Körperentblössung  die 
Schweissreaction  nicht  zu  verhindern.  Das  Schröpfen  ist,  obwohl  auch  nach  ihm, 
wie  nach  dem  Aderlass  und  den  Blutegeln,  eine  allgemeine  Eeaction  erfolgt, 
scfion  deshalb  möglichst  zu  vermeiden,  weil  der  grösste  Theil  des  Körpers  zu 
lange  entblösst  bleibt,  und  dadurch  das  Eintreten  des  Schweisses,  wenn  auch 
nicht  immer  gehindert,  so  doch  verzögert  wird.  Auch  meint  Dyes,  dass  die 
Entnahme  des  Blutes    direct  aus  dem  Venensystem  die  Hauptsache  ist,  und    dies 


BLUTSERUMTHERAPIE.  177 

ist  auch  meine  Ueberzeugung-,  Immerhin  wird  man  da,  wo  der  Aderlass  verweigert 
wird  oder  die  weite  Entfernung  und  andere  Umstände  seine  Ausführung  unmöglich 
machen,  sich  mit  der  Bhitentziehung  durch  Blutegeln  oder  Scliröpfköpfe  begnügen, 
allerdings  unter  denselben  Cautelen  wie  beim  Aderlasse :  Vornahme  im  Bette  mit 
nachheriger  Schweissunterstützung,  Bettruhe  und  Vermeidung  der  gleichzeitigen 
Darreichung  von  Abführmitteln.  Schubert. 

Blutserumtherapie.  Die  Entwicklung  der  Blutserumtherapie  beruht 
auf  den  bacteriologischen  Untersuchungen,  welche  in  den  letzten  Jahren  über 
gewisse  Beziehungen  zwischen  Blutserum  und  pathogenen 
Bacterien  gemacht  worden  sind. 

Zunächst  wurde  festgestellt,  dass  das  defibrinirte  Blut  und  das  Blut- 
serum verschiedener  Thierarten  gegenüber  vielen  pathogenen  und  sapro- 
phytischen  Bacterien  abtödtende  Wirkung  besitzt  (GrohmanN;  v.  Fodor, 
Nuttall,  Nissen,  H.  Buchner  u.  A.);  auch  menschliches  Blut  und 
Blutserum,  ebenso  Transsudate  und  Exsudate  (R.  Stern,  Rovighi  u.  A.), 
haben  z.  B.  gegenüber  den  Cholera-  und  Typhusbacillen  meist  ein 
starkes  Abtödtungsvermögen  —  so  dass  oft  einige  Tropfen  des  Serums 
genügen,  um  in  wenigen  Stunden  Tausende  der  genannten  Bacillen 
abzutödten  —  während  andere  pathogene  Mikroorganismen,  z.  B.  Strepto- 
coccen, Staphylococcen,  in  vielen  Fällen  auch  Milzbrandbacillen  durch  das- 
selbe Serum  wenig  oder  gar  nicht  beeinträchtigt  werden.  Individuelle  Unter- 
schiede kommen  hier  vor,  wie  dies  auch  bei  Versuchen  mit  thierischem 
Blute  constatirt  wurde. 

Worauf  die  bactericide  Eigenschaft  des  Blutes  zurückzuführen  ist, 
bedarf  noch  weiterer  Aufklärung.  Buchner  suchte  es  wahrscheinlich  zu 
machen,  dass  sie  auf  der  Wirkung  leicht  zersetzlicher  Eiweisskörper,  der 
sogenannten  „Alexine",  beruhe,  doch  ist  dies  durchaus  nicht  bewiesen.  Un- 
wahrscheinlich ist,  dass  es  sich  lediglich  um  ein  Zugrundegehen  von  Bacterien 
in  Folge  des  plötzlichen  Wechsels  des  umgebenden  Mediums  handle  (E. 
Metschnikoff),  oder,  wie  andere  meinen,  um  den  Einfluss  der  Kohlensäure 
oder  der  Salze  des  Serums.  Mit  dem  Gerinnun2;sact  steht  die  bacterien- 
tödtende  Eigenschaft  allem  Anschein  nach  nicht  im  Zusammenhang. 

Ob  das  Blut  innerhalb  der  Gefässe  des  lebenden  Organismus  ebenfalls 
bacterientödtende  Wirkung  besitzt,  liess  sich  bisher  mit  Sicherheit  noch  nicht 
entscheiden,  doch  ist  dies  aus  verschiedenen  Gründen  (deren  Erörterung  in 
Kürze  nicht  thunlich  ist)  wahrscheinlich.  Beziehungen  jener  Wirkung  zur 
natürlichen  und  künstlich  erworbenen  Immunität  gegen  Infectionskrankheiten 
bestehen,  soweit  bisher  ersichtlich,  nur  bei  manchen  Infectionen,  und  auch 
bei  diesen  ist  ihre  Bedeutung  noch  zweifelhaft,  so  dass  von  einer  näheren 
Darstellung  dieser  Verhältnisse  hier  abgesehen  werden  kann. 

Therapeutische  Wirkungen  im  Thierexperiment,  welche  auf  die 
bacterientödtende  Eigenschalt  des  Blutserums  zurückzuführen  sind,  wurden  bisher 
nur  vereinzelt  erzielt:  so  übt  nach  Behring  das  Blutserum  weisser  Ratten, 
welches  auf  Milzbrandbacillen  stark  abtödtend  wirkt,  auf  die  Milzbrand- 
infection  bei  weissen  Mäusen  heilende  Wirkung  aus. 

An  dieser  Stelle  ist  noch  zu  erwähnen,  dass  0.  Liebreich  (1891)  versucht  hat,  die 
bacterientödtende  Wirkung  des  menschlichen  Blutserums  zur  Begründung  seiner  Cantha- 
ridin-Behandlung  der  Tuberkulose  heranzuziehen.  Er  stellte  sich  vor,  dass  das 
Cantharidin,  indem  es  eine  Transsudation  von  Blutserum  an  die  erkrankten  Stellen  her- 
vorrufe, einerseits  den  Gewebselementen  reichlichere  Nahrung  zuführe,  andererseits  bacterien- 
tödtende Substanzen  an  den  locus  affectus  concentrire.  (Allerdings  ist  der  Nachweis, 
dass  menschliches  Blutserum  im  Stande  sei,  Tuberkelbacillen  abzutödten,  bishernicht 
erbracht  worden.)  Liebreich  empfahl  subcutane  Injectionen  einer  alkalischen  0-02  "/o 
Cantharidin-Lösung  in  Dosen  von  ca.  1  ccm  (=  0-2  mr/  Cantharidin)  und  glaubte,  nament- 
lich bei  Lupus  die'heilende  Einwirkung  dieser  Einspritzungen  direct  —  besonders  mittelst 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  I*^ 


178  BLUTSERUMTHERAPIE. 

geeigneter  Lupen-Vergrösserung  —  beobachten  zu  können.  Aiicb  einige  andere  "Autoren 
haben  über  Erfolge  mit  dieser  LiEBEEicH'schen  „Serumtherapie"  —  namentlich  beiKehl- 
kopf-Tuberculose  —  berichtet;  indess  scheint  das  Verfahren  jetzt  bereits  nicht  mehr^viel 
angewendet  zu  werden. 

Von  grösster  Wichtigkeit  für  die  weitere  Entwicklung  der  Blutserum- 
therapie wurde  die  Entdeckung  von  Behring  und  Kitasato  (1890),  dass 
das  Blutserum  von  Thieren,  die  gegen  Tetanus- und  Diphtherie- 
Bacillen  immunisirt  worden  sind,  die  Fähigkeit  besitzt,  andere 
Thiere  gegen  dieselbe  Infection  und  auch  gegen  die  Intoxi- 
cation  mit  den  von  j enen  Infectionserregern  producirten 
Giften  zu  schützen. 

Schon  vorher  (seit  1 888)  hatten  allerdings  einige  französische  Forscher  (Hekicourt  und 
RiCHET,  Bebtin  und  Pico,)  das  Blut  natürlich  immuner  und  künstlich  immunisirter  Thiere  zu 
Immunisirungs-,  bezw.  Heilungsversuchen  zu  verwenden  versucht.  U.  A.  wurde  das  Blut  von 
Ziegen  (die  gegen  Tuberkulose  immun  sind)  als  Heilmittel  gegen  Tuberkulose  auch  beim 
Menschen  angewandt.  Indes  sind  die  experimentellen  Ergebnisse  der  genannten  Autoren  keine 
sehr  befriedigenden  und  ein  Theil  derselben,  der  von  anderer  Seite  (Bofchakd)  nachgeprüft 
wurde,  konnte  nicht  bestätigt  werden.  Auch  hat  sich  inzwischen  bei  verschiedenen,  darauf 
hin  untersuchten  Infectionen  gezeigt,  dass  das  Blutserum  natürlich  immuner  Thiere 
nicht  die  Eigenschaft  besitzt,  die  Immunität  auf  andere  Thierarten  zu  übertragen.  Daher 
entbehren,  wie  wir  an  dieser  Stelle  bereits  hinzufügen  wollen,  die  in  jüngster  Zeit  ange- 
stellten Versuche,  die  Syphilis  des  Menschen  durch  Injectionen  von  Thierblut  zu  heilen, 
einstweilen  gänzlich  der  wissenschaftlichen  Begründung. 

Erwähnt  sei  noch,  dass  Babes  und  Lepp  bereits  1889  Experimente  anstellten,  bei 
denen  Hunde  vor  und  bald  nach  der  Infection  mit  dem  Virus  der  Tollwuth  mit  dem 
Blute  immunisirter  Hunde  behandelt  wurden.  Der  Erfolg  war  theilweise  ein  günstiger. 

Trotz  dieser  und  anderer  Versuche  bleibt  Behmxg  das  Verdienst,  durch  seine 
umfassenden,  consequent  fortgesetzten  Forschungen  die  Blutserumtherapie  mächtiger  und 
rascher  gefördert  zu  haben,  als  irgend  einer  seiner  Vorgänger. 

Behring  und  Kitasato  fanden  ferner,  dass  beim  experimentell  erzeugten 
Tetanus  die  Injection  des  Serums  immunisirter  Thiere  (Kaninchen)  auch 
nach  stattgefundener  Infection,  wenn  die  inficirten  Thiere  (weisse  Mäuse) 
bereits  ausgebildeten  Tetanus  der  Extremitäten  zeigten,  rettend  wirken  kann, 
dass  also  derartiges  Serum  nicht  nur  prophylactisch,  sondern  auch  thera- 
peutisch zu  verwerthen  ist.  Wahrscheinlich  beruht  diese  Heilung  auf  einer 
raschen,  nachträglichen  Immunisirung  des  inficirten  Organismus,  wie  sie 
zuerst  Pasteur  —  freilich  durch  eine  andere  Methode  —  bei  der  Hunds- 
wuth  zu  erreichen  strebte. 

Die  immunisirende  Wirkung  des  Serums  bemisst  Behring  nach  der 
Menge  thierischer  Substanz,  die  durch  1  can  Serum  vor  der  tödtlichen 
Infection,  bezw.  Intoxication  geschützt  werden  kann;  wenn  z.  B.  V50  ccw 
Serum  eines  gegen  Tetanus  immunisirten  Thieres  hinreicht,  um  eine  Maus 
von  20  gr  Körpergewicht  gegen  eine  sicher  tödtliche  Dosis  von  (durch 
Filtriren  keimfrei  gemachter)  Tetanusbouilloncultur  zu  schützen,  so  bezeichnet 
B.  den  „Immunisirungswerth"  dieses  Serums  als  1  :  1000. 

Bald  stellte  sich  heraus,  dass  diejenige  Menge  Serum,  welche  nach 
stattgefundener  Infection,  bezw.  Intoxication,  injicirt  werden  muss,  um 
Heilung  zu  bewirken,  sehr  viel  grösser  sein  muss  als  diejenige,  welche, 
24  Stunden  vorher  injicirt,  hinreicht,  um  das  Thier  zu  schützen;  jene 
Menge  "kann  das  1000  fache  und  noch  weit  mehr  von  der  letzteren  Quantität 
betragen.  Je  später  nach  der  Infection  oder  Vergiftung  die  Application  des 
Serums  beginnt,  desto  höher  muss  auch  die  Menge,  resp.  der  Immunisirungs- 
werth des  Serums  sein,  um  noch  Heilerfolge  zu  erzielen.  Da  nun  bei  der 
Behandlung  des  tetanuskranken  Menschen  die  Anwendung  des  Serums  erst 
einige  Zeit  nach  der  Infection,  nachdem  bereits  deutliche  Krankheits- 
Symptome  aufgetreten  sind,  erfolgen  kann,  so  suchte  Behring  die  Immunität 
seiner  Versuchsthiere  (durch  Methoden,  deren  Schilderung  nicht  an  diese 
Stelle   gehört)    immer  mehr   und  mehr  zu  steigern.   Es   ist  ihm  neuerdings 


BLUTSERUMTHERAPIE.  I79 

bei  Pferden  gelungen,  Immunisirungswerthe  des  Serums  von  1  :  1,000.000 
bis  1  :  10,000.000  zu  erreichen.  Derartiges  Serum  ist  von  Behring  auch 
zu  Versuchen  bei  menschlichem  Tetanus  verwendet  worden. 
Behring  glaubt,  dass  100  ccm  dieses  Serums,  subcutan  injicirt,  für  massig 
schwere  Fälle  der  Krankheit  zur  Heilung  hinreichen  dürften;  über  100  ccm 
möchte  er  einstweilen  im  Allgemeinen  nicht  hinausgehen,  weil  -er  das  Serum, 
um  es  keimfrei  zu  erhalten,  mit  0-5  %  Carbolsäure  versetzt  und  mehr 
als  0-5  (/ Carbolsäure  nicht  appliciren  will.  (Bei  Anwendung  carbolsäurefreien 
Serums  sah  B.  einmal  Abscesse,  zweimal  scharlachähnliche  Exantheme 
mit  Temperatursteigerung  entstehen.) 

Ob  mit  diesem  „Tetanusheilserum"  bisher  schon  therapeutische 
Erfolge  beim  Menschen  erzielt  worden  sind,  ist  nicht  mit  Sicherheit  zu 
sagen,  weil  wir  bei  den  zur  Heilung  gelangten  Fällen  schwer  entscheiden 
können,  ob  sie  durch  das  Serum  geheilt  worden  sind,  oder  ob  sie  nicht 
auch  ohne  Anwendung  desselben  genesen  wären. 

Die  Prognose  beim  Tetanus  ist  bekanntlich  durchaus  nicht  immer  leicht  zu  stellen; 
sie  hängt  im  Wesentlichen  von  zwei  Umständen  ab:  erstens  ist  sie  umso  günstiger,  je 
länger  die  Zeit  zwischen  der  Infection  und  dem  Ausbruch  der  tetanischen  Erscheinungen, 
also  die  Incubationsdauer  ist;  zweitens  umso  ungünstiger,  je  rascher  sich  die  Krankheit 
auf  die  verschiedenen  Muskelgruppen  ausbreitet. 

Die  bisher  mit  dem  von  Behking  abgegebenen  Serum  angestellten  Versuche  sind 
erst  zum  kleinsten  Theil  näher  mitgetheilt  worden;  am  ausführlichsten  ein  Fall  von  Rottek, 
in  welchem  im  Ganzen  250  ccTO  Serum  (Immunisirungswerth :  1  :  1,000.000)  subcutan  injicirt 
wurden.  Der  Ausgang  war  günstig ;  doch  sieht  der  klinische  Beobachter  hierin  wohl  mit 
Recht  keinen  zweifellosen  Beweis  für  die  Wirksamkeit  des  „Tetanusheilserums",  da  die 
Prognose  des  Falles  auch  vor  Anwendung  desselben  keine  ganz  ungünstige  war. 
Ebenso  sind  die  jüngst  aus  München  berichteten  Fälle  zu  beurtheilen.  Andere 
Fälle  sind  trotz  der  Serumbehandlung  gestorben.  Für  ganz  schwere  Fälle  hält  Behring 
selbst  den  jetzigen  Immunisirungswerth  seines  Heilserums  noch  für  unzureichend,  besonders, 
wenn  die  Behandlung  erst  24  Stunden  nach  dem  Auftreten  der  ersten  Krankheitserschei- 
nungen begonnen  wird. 

Kurze  Zeit  nach  der  ersten  Mittheilung  von  Behring  und  Kitasato 
berichteten  Tizzoni  und  Cattani  über  Immunisirungsversuche  gegen  Tetanus 
mittelst  eines  aus  dem  Serum  immunisirter  Hunde  ausgefällten  „Antitoxins"; 
bezüglich  seiner  Fällbarkeit  verhält  sich  dasselbe  wie  ein  Globulin.  Obgleich 
den  genannten  Forschern  mittelst  dieser  Substanz  die  Immunisirung  nur  bei 
manchen  Thierarten,  die  Heilung  von  bereits  an  Tetanus  erkrankten  Thieren 
zunächst  überhaupt  nicht  gelang,  so  Hessen  sie  dieselbe  doch  alsbald  bei 
tetanuskranken  Menschen  anwenden. 

In  Italien,  auch  in  der  chirurgischen  Klinik  in  Innsbruck  sind  bereits 
mehrere  Fälle  mit  diesem  „Tetanus-Antitoxin"  behandelt  worden.  In  den 
mitgetheilten  Fällen  war  der  Ausgang  meist  ein  günstiger;  ob  dies  jedoch 
auf  Rechnung  der  eingeleiteten  Therapie  zu  setzen  ist,  erscheint  sehr  zweifel- 
haft, da  die  meisten  derselben  eine  ziemlich  lange  Incubationsdauer  hatten 
und  einen  relativ  langsamen  Verlauf  nahmen. 

Auch  in  Frankreich  sind  bereits  mehrere  Tetanusfälle  mit  dem  Serum  immunisirter 
Thiere  behandelt  worden.  (Roiix  und  Vaillakd,  1893.)  Nur  in  2  von  9  Fällen  war  der 
Ausgang  ein  günstiger  und  diese  2  waren  leichte  Fälle. 

DieThatsache,dassdasSerumvonThieren,diegegeneine 
bestimmte  Infection  immunisirt  sind,  schützende,  z.  Th.  auch 
heilende  Wirkung  gegenüber  der  nämlichen  Infection  ausübt, 
ist  seit  der  grundleg  enden  Entdeckung  von  Behring  und  Kitasato 
von  zahlreichen  Forschern  für  alle  bisher  daraufhin  unter- 
suchten Infectionen  bestätigt  worden.  So  fanden  dies  u.  A.  Foa, 
Emmerich  und  Fowitzky,  G.  und  F.  Klemperer  (1891)  bei  der  Pneumo- 
cocceninfection,  Brieger,  Kitasato  und  Wassermann  (1892)  bei  den  durch 
Cholera-   und  Typhusbacillen   an  Versuchsthieren   hervorgerufenen     Erkran- 

12* 


IgO  BLÜTSERUMTHERAPIE. 

kungen  u.  s.  w.  Tizzom  und  Cattanni  berichteten,  dass  auch  die  bereits 
ausgebrochene  Rabies  durch  Injectionen  von  Serum  immuner  Thiere  (resp. 
eines  aus  diesem  gewonnenen  Älcohol-Niederschlages)  geheilt  werden  könne. 

Ehelich  (1892)  hat  die  wichtige  Entdeckung  gemacht,  dass  auch  die 
Milch  immunisirter  Thiere  die  „Antikörper"  enthält;  durch  geeignete 
Fällungsmittel  (Ammoniumsulfat,  Magnesiumsulfat)  lässt  sich  die  immuni- 
sirende  Substanz  ausfällen  und  damit  in  concentrirterer  Form  gewinnen. 
(Ehrlich  und  Beieger.)  Auch  mit  Blutserum  sind  Versuche  in  dieser 
Richtung  bereits  angestellt  worden.  Es  ist  wahrscheinlich,  dass  gerade  auf 
diesem  Wege  bald  noch  weitere  Fortschritte  zu  verzeichnen  sein  werden. 

Die  Frage,  in  welcher  Weise  die  immunisirende  und  heilende 
"Wirkung  des  Serums  zu  Stande  kommt,  kann  heute  noch  nicht  mit 
Sicherheit  beantwortet  werden.  Die  obenerwähnte  bacterientödtende  Eigenschaft 
des  Serums  kann  hierbei  nicht  wesentlich  in  Betracht  kommen;  denn  es  ist  schon  für 
mehrere  Infectionen  nachgewiesen,  dass  zwischen  beiden  Wirkungen  des  Serums  ein 
Parallelismus  nicht  besteht.  Nun  haben  Beheing  und  Kitasato,  wie  bereits  oben  erwähnt, 
für  den  Tetanus  und  die  Diphtherie  gefunden,  dass  das  Serum  immunisirter  Thiere  die 
Eigenschaft  hat,  auch  die  von  den  betreifenden  Infectionserregern  producirten  Gifte 
unschädlich  zu  machen.  Beheikg  hat  diese  Eigenschaft  des  Serums  als  ,.antitoxische'' 
bezeichnet  und  glaubte  ursprünglich,  dass  es  sich  dabei  um  Zerstörung  der  Bacterien- 
Gifte  durch  das  Serum  handle. 

Dieser  jetzt  so  vielfach  angewendete  Begriff  „antitoxisch"  ist  jedoch  durchaus 
nicht  eindeutig.  Wenn  sich,  wie  dies  Behring  und  Kitasato  fanden,  eine  Mischung  von  Gift  und 
Serum  als  unwirksam  erweist,  so  folgt  daraus  noch  nicht,  dass  das  Gift  durch  das 
Serum  zerstört  wurde,  sondern  es  besteht  noch  die  zweite  Möglichkeit,  dass  durch  das 
Serum  der  Organismus  gegenüber  dem  an  und  für  sich  unverändert  gebliebenen  Gifte 
unempfindlich  gemacht  wurde:  antagonistische  Wirkung  von  Gift  und  Serum. 

Welche  von  diesen  beiden  Möglichkeiten  vorliegt,  ist  heute  noch  nicht  entschieden, 
indess  reicht  die  antitoxische  Eigenschaft  des  Serums  zur  Erklärung 
seiner  schützenden  Wirkung  gegenüber  lebenden  Infectionserregern 
keinesfalls  aus.  Metschnikofe  hat  zuerst  für  die  sogenannte  Hog-Cholera  nach- 
gewiesen, dass  das  Serum  immunisirter  Thiere  sehr  wohl  schützende  Wirkung  gegenüber 
den  betreffenden  Infectionserregern  haben  kann,  ohne  antitoxisch  zu  wirken,  —  ein 
Befund,  der  auch  bereits  für  einige  andere  Infectionen  bestätigt  worden  ist.  Aber  selbst 
für  diejenigen  Fälle,  in  denen  eine  antitoxische  Wirkung  des  Serums  nachgewiesen  ist, 
kann  sie  nicht  die  Ursache  (zum  Mindesten  nicht  die  alleinige  Ursache)  der  schützen- 
den Kraft  gegenüber  den  lebenden  Infectionserregern  sein.  Denn,  legt  man  eine  Cultur 
der  letzteren  in  derartigem  Serum  an,  so  vermag  dieses  sie  nicht  an  Wachsthum  und 
Giftbildung  zu  verhindern.  Daraus  folgt,  dass  es  sich  nicht  allein  um  eine  ausserhalb 
des  Organismus  nachweisbare  Wirkung  des  Serums  auf  die  Bacterien-Gifte  handeln  kann, 
dass  vielmehr  durch  das  Serum  Veränderungen  im  Organismus  hervor- 
gebracht werden  müssen,  welche  die  Microorganismen  am  Wachsthum 
hindern.  Welcher  Art  diese  Veränderungen  sind,  ist  uns  einstweilen  noch  fast  völlig 
unbekannt.  Metschkikoef  ist  der  Ansicht,  dass  es  sich  bei  den  von  ihm  näher  unter- 
suchten Infectionen  um  Hervorrufung  von  Phagocythose  handelt. 

Beim  Menschen  ist  die  Blutserumtherapie  ausser  beim  Tetanus- 
bisher  auch  schon  bei  mehreren  anderen  Infectionskrankheiten  angewendet 
worden. 

Klemperer  injicirte  Patienten,  die  an  croupöser  Pneumonie 
litten,  subcutan  das  Serum  von  Kaninchen,  die  gegen  die  Pneumococcen- 
Infection  immunisirt  waren.  (In  Dosen  von  2—10  ccm,  event.  mehrmals.) 
Ueberzeugende  Erfolge  wurden  bisher  nicht  erzielt.  Klemperer,  der  über 
12  derartig  behandelte  Fälle  berichtet  hat,  giebt  selbst  zu,  dass  man  aus 
diesen  keine  allgemeinen  Schlüsse  zu  ziehen  berechtigt  sei. 

Mit  dem  Serum  von  Thieren,  die  gegen  Diphtherie  immunisirt 
worden  waren,  hat  Behring  bereits  Versuche  an  diphtheriekranken  Kindern 
anstellen  lassen ;  doch  konnte  bisher  nach  einer  kürzlich  erfolgten  Aeusserung 
Henoch's  eine  günstige,  therapeutische  Wirkung  des  Serums  nicht  constatirt 
werden.  In  jüngster  Zeit  sind  auch  in  dem  Berliner  Institute  für  Infections- 
krankheiten einige  Diphtherie-Fälle  mit  BEHRiNG'schem  „Diphtherieheil- 
serum" behandelt  worden  (Behring,  Boer  und  Kossel).  Ein  naclitheiliger 


BLUTSERÜMTHERAPIE.  181 

Einfliiss  der  subcutanen  Serum-Injectionen  (10 — 20  ccm,,  event.  mehrmals) 
wurde  nicht  beobachtet.  Bezüglich  einer  etwaigen  günstigen  Wirkung  der- 
selben gestatten  die  veröflentlichten  Fälle  noch  kein  Urtheil.  Es  wäre  offenbar 
voreilig,  aus  der  Mortalitätsziffer  dieser  11  Fälle  (2  Todesfälle  =  18%) 
Schlüsse  auf  die  Wirkung  der  Serum-Injection  zu  ziehen. 

In  zwei  Fällen  von  Abdorainaltyphus  haben  Chantemesse  und 
ViDAL  vor  Kurzem  analoge  Versuche  angestellt.  Genauere  Angaben  über 
den  Immunisirungswerth  des  angewendeten  Serums  fehlen.  Ein  Erfolg  war 
nicht  zu  bemerken. 

Ferner  hat  man  auch  das  Blutserum  von  Menschen,  welche 
eine  Infectionskrankheit  überstanden  hatten,  zu  thera- 
peutischen Zwecken  bei  der  nämlichen  Infectionskrankheit 
verwendet.  Dieser  Versuch  beruht  auf  der  Thatsache,  dass  das  Blut- 
serum des  Menschen  nach  überstandener  Pneumonie,  nach 
Abdominaltyphus,  Cholera,  Diphtherie  in  vielen  Fällen  die 
Eigenschaft  besitzt,  Thiere  vor  der  Wirkung  des  entspre- 
chenden Inf  e  ctionserregers  zu  schützen.  (Klemperer,  R.  Stern, 
Lazarus,  Escherich  und  Klemensiewicz  u.  A.  ') 

E.  Neissek  hat  in  drei  Fällen  Serum  oder  Exsudatflüssigkeit  von  Menschen,  die  eine 
Pneumonie  soeben  überstanden  hatten,  hochfiebernden  Pneumonikern  intravenös  injicirt. 
Besonders  ist  ein  Fall  bemerkenswerth,  in  welchem  ein  Patient  am  dritten  Krankheits- 
tage 130  ccm  derartigen  Serums  injicirt  erhielt;  bald  darauf  trat  die  Krise  ein. 

Während  der  vorjährigen  Cholera-Epidemie  in  Hamburg  wurden  auch  bei 
dieser  Krankheit  analoge  Versuche  angestellt,  jedoch  mit  völlig  negativem  Erfolg. 

In  jüngster  Zeit  bat  Hammekschlag  aus  der  NoTHXAGEL'schen  Klinik  eine  Mit- 
theilung über  Serumtherapie  bei  Typhus  veröffentlicht;  unter  Bezugnahme  auf  die  oben 
erwähnten  Versuche  Stekn's  berichtet  er,  dass  5  Typhuskranken  40 — 80  ccm  Blut  von 
Typhusreconvalescenten  intravenös  injicirt  wurden.  In  3  Fällen  war  das  Resultat  negativ, 
in  zweien  trat  nach  der  Injection  eine  starke  Temperatur-Herabsetzung  bis  Sö'^,  resp. 
35°  ohne  Anzeichen  eines  Collapses  auf.  (In  einem  dieser  beiden  Fälle  trat  gleichzeitig 
eine  Darmblutung  auf,  so  dass  dieser  Versuch  nicht  als  ganz  rein  zu  betrachten  ist.)  Im 
Uebrigen  hielt  die  Temperatur-Erniedrigung  nur  kurze  Zeit  an,  eine  Einwirkung  der 
Serum-Injectionen  auf  den  weiteren  Verlauf  war  nicht  zu  bemerken;  in  dem  einen,  von 
Anfang  an  schwereren  Falle  trat  schliesslich  der  Tod  ein.  (Eine  Prüfung  der  schüt- 
zen den  Wirkung  des  Serums  durch  das  Thierexperiment  scheint  Hammer- 
schlag nicht  vorgenommen  zu  haben ;  eine  solche  erscheint  jedoch  geboten,  da  nicht  in 
allen  Fällen  das  Blut  des  Typhusreconvalescenten  —  selbst  in  den  ersten  Tagen  und 
Wochen  nach  Ablauf  der  Krankheit  —  schützende  Wirkung  erkennen  lässt). 

Auch  in  der  Veterinär-Medicin  hat  man  in  jüngster  Zeit  ähnliche  Versuche  ange- 
stellt. (Hell.)  Das  Blutserum  von  Pferden,  welche  die  sogenannte  Brustseuche  überstanden 
hatten,  wurde  zur  Immunisirung  gegen  diese  Krankheit,  sowie  auch  zu  Heilversuchen  bei 
bereits  erkrankten  Pferden  angewendet.    Die  Resultate  sollen  günstig  gewesen  sein. 

Fassen  wir  das  Resultat  der  im  Vorstehenden  gegebenen  Schilderung 
des  heutigen  Standes  der  BlutserumtheTapie  zusammen,  so  müssen  wir  sagen, 
dass  beimMenschen  unzweifelhafte  Erfolge  bishernoch  nicht 
erzielt  worden  sind.  Dagegen  sind  im  Thierexperiment  sichere  Erfolge 
—  nicht  nur  Immunisirung,  sondern  auch  Heilung  von  sonst  absolut  tödtlichen 
Infectionen  —  bereits  in  stattlicher  Zahl  auf  diesem  Wege  erreicht  worden. 


*)  Freilich  Hess  sich  dies  nur  in  einem  Theil  der  daraufhin  untersuchten  Fälle 
constatixen  ;  und  andererseits  hat  sich  hierbei  die  bemerkenswerthe  und  in  ihrer  Bedeutung 
noch  nicht  hinreichend  erklärte  Thatsache  herausgestellt,  dass  zuweilen  auch  das  Blut- 
serum solcher  Personen,  die,  soweit  festzustellen,  niemals  an  einer  bestimmten  Infections- 
krankheit (z.  B.  Cholera)  gelitten  haben,  trotzdem  im  Thierexperiment  immunisirende 
Wirkung  gegenüber  dem  Erreger  dieser  Kränkelt  zeigt. 

Weiterhin  wurde  —  zunächst  für  die  Cholera  —  festgestellt,  dass  das  Blutserum 
von  Menschen,  die  der  Krankheit  erlegen  waren,  öfters  ebenfalls  eine  schützende 
Wirkung  im  Thierexperiment  zeigt.  (Botkix,  Metschnikoef.)  Somit  ergibt  sich, 
dass  für  die  natürliche  Heilung  einer  Infectionskrankheit  die 
schützende  Wirkung  des  Blutserums  weder  eine  nothwendige  noch 
eine  hinreichende  Bedingung  darstellt. 


182  3LUTUNTERSÜCHUNG. 

Inwieweit  auch  die  Behandlung  der  Infectionskrankheiten-  des  Menschen  von 
dieser  neuen  therapeutischen  Methode  Nutzen  ziehen  kann,  muss  durch 
weitere  Forschungen  im  Verein  mit  vorurtheilsloser,  klinischer  Prüfung  fest- 
gestellt werden.  eichaed  steest. 

Blutuntersuchung.  Zu  den  praktisch  leicht  ausführbaren  Methoden 
der  BlutuTitersuchung^)  rechnen  wir:  1. die  Bestimmung  der  Blutdichte,  2.  die 
Bestimmung  des  BlutfarbstqfgeJialtes,  3.  die  spectroskojnsche  Untersuchung  des 
Blutes,  4.  die  Untersuchung  der  zelligen  Elemente  des  Blutes,  5.  die  Untersuchung 
des  Blutes  auf  Parasiten. 

Die  Methoden  zur  Bestimmung  der  Blutmenge,  zur  Prüfung  der  iso- 
tonischen Grössen,  zur  Bestimmung  der  Blutalkalescenz  mögen  an  dieser 
Stelle  übergangen  werden,  da  sie,  wenn  auch  bedeutendes  theoretisches  Interesse  er- 
fordernd, zu  praktisch-diagnostischen  Zwecken  bisher  keine  Verwerthung  gefunden  haben. 

1.  Die  Bestimmung  der  Blutdichte. 

Direct  wird  dieselbe  in  sehr  exacter  Weise  bestimmt  durch : 

1.  die  Methode  von  Schmaltz  mittelst  des  Capillarpikno- 
meters.  Eine  circa  12  cm  lange,  an  ihrem  offenen  Ende  circa  2/3  ^^  breite 
Capillare  wird  zuerst  leer  und  hierauf  mit  destillirtem  Wasser  gefüllt  ge- 
wogen. Hierauf  wird  *die  Capillare  durch  Alkohol-  und  Aetherwaschung 
sorgfältig  des  Wassers  beraubt,  mit  Blut  gefüllt  und  wieder  gewogen. 
Dividirt  man  das  absolute  Gewicht  der  Blutsäule  durch  das  der  Wasser- 
säule, so  zeigt  der  Quotient  das  specifische  Gewicht  des  untersuchten 
Blutes  an. 

Indirect  bestimmt  man  die  Blutdichte 

2.  durch  die  Methode  von  Rot.  Man  hat  eine  Reihe  von  Glycerin- 
wassermischungen  vorräthig,  deren  Dichte  von  1035 — 1068  ansteigt. 
In  jedes  der  Gläschen  wird  ein  Tropfen  Blutes  gelassen,  und  das  specifische 
Gewicht  jener  Mischung,  in  welcher  der  Blutstropfen  schwebt,  ist  als  die 
Dichte  des  untersuchten  Blutes  anzusehen. 

3.  die  Methode  von  Hammerschlag,  mittels  der  wir 

a)  die  Dichte  des  Blutes  bestimmen. 

Man  hat  eine  Mischung  von  Chloroform  und  Benzol  (1:2);  in  dieselbe  lässt 
man  einen  Blutstropfen  fallen  und  fügt  nur  so  lange  eine  der  beiden  ge- 
nannten Flüssigkeiten  zu,  bis  der  Blutstropfen  in  der  Mitte  schwebt.  Hierauf 
wird  das  Flüssigkeitsgemisch  von  dem  Blutstropfen  abfiltrirt  und  sein  speci- 
fisches  Gewicht  mittels  Aräometers  bestimmt.  Die  gefundene  Zahl  repräsen- 
tirt  die  gesuchte  Blutdichte.  —  Etwas  complicirter  ist 

h)  die  Bestimmung  der  Dichte  des  Blutserums. 

Das  Verfahren  ist  folgendes:  Ein  Capillarröhrchen  von  circa  ^/^  dm 
Länge  und  circa  1  —  2  mm  Lumen  wird  in  eine  3proc.  Lösung  von  oxal- 
saurem  Kali  getaucht,  so  dass  eine  kleine  Menge  der  Flüssigkeit  in  das 
Röhrchen  aufsteigt.  Nach  mehrmaligem  Hin-  und  Herschwenken  wird  die 
Oxalatlösung  wieder  ausgeblasen,  so  dass  nur  an  der  Innenwand  etwas  von 
derselben  haften  bleibt.  Nun  füllt  man  das  Capillarröhrchen  bis  zu  Va  "^it 
Blut  und  verschliesst  beide  Enden  mit  Wachs.  Nach  einigen  Stunden  haben 
sich  die  Blutkörperchen  gesetzt  und  in  dem  oberen  Theile  befindet  sich  eine 
von  Blutfarbstoff  freie  Flüssigkeit,  das  Serum.  Um  dasselbe  von  den  Blut- 
körperchen zu  trennen,  wird  knapp  oberhalb  der  Grenze  mit  einer  Feile 
ein  kleiner  Strich  gemacht  und  der  obere  Theil  des  Röhrchens  abgebrochen. 
Sodann  schneidet  man  das  obere  mit  Wachs  verstrichene  Ende  ab  und  lässt 


1)  Vergl.  ferner  den  Artikel  „Blut'"  in  dem  Bande  „Chemie"  dieses  Sammelwerkes, 
bearbeitet  von  Prof.  Olaf  Hammaksten. 


BLUTÜNTERSUCHUNG.  183 

den  Inhalt  des  Röhrchens   in  eine  Benzol  -  Chloroformmischung  fallen.     Das 
weitere  Verfahren  ist  dasselbe  wie  das  oben  angegebene. 

2.  Die  Bestimmung  des  Blutfarbstoifgehaltes. 

Von  den  zahlreichen  Instrumenten,  welche  diesem  Zwecke  dienen, 
sind  gegenwärtig  nur  zwei  in  praktischer  Verwerthung.  Die  colorimetrischen 
Methoden  von  Bizozero,  Mallassez  und  Henocqe,  respective  deren  In- 
strumente stehen  zweifellos  bedeutend  zurück  gegen  die  einfachen  und  leicht 
ausführbaren  Bestimmungen  des  Blutfarbstoffes,  wie  sie  durch  die  Instrumente 
von  Gow^ERS  und  von  v.  Fleischl  ausgeführt  werden. 
H^ ;  Das  Princip  des  Haemoglobinometers  von  Gowers  besteht  darin, 
dass  die  in  der  Glasröhre  A  enthaltene  Karmin-Pikrokarmingelatine,  welche 
die  Färbung  einer  Iperc.  wässerigen  Lösung  normalen  Blutes  anzeigt»  mit 
dem  zu  untersuchenden  Blute,  das  sich  in  der  danebenbefindlichen  Glas- 
röhre B,  in  Aqua  destillata  gelöst,  befindet,  colorimetrisch  verglichen  wird. 
Die  Lösung  des  zu  untersuchenden  Blutes  wird  solange  mit  Aqua  dest.  ver- 
dünnt, bis  sie  dieselbe  Farbennuance  wie  die  Karrain  -Pikrokarmingelatine 
zeigt.  Bei  dem  Haemometer  von  v.  Fleischl  hingegen  ist  der  colo- 
rimetrische  Index  eine  in  einem  Halbcylinder  befindliche  Wassersäule, 
deren  Rothfärbung  durch  einen  unter  derselben  verschiebbaren  Keil  aus 
rothem  Glas  verschiedene  Farbennuancen  annehmen  kann,  welche  mit  der  in 
dem  daneben  befindlichen,  die  Blutlösung  enthaltenden,  Halbcylinder  ver- 
glichen wird.  Bezüglich  der  detaillirten  Beschreibung  und  Handhabung  der 
eben  genannten  Apparate  muss  auf  den  Artikel:  „Instrumente  zur  klinisch- 
diagnostischen  Untersuchung"  verwiesen  werden,  wo  auch  deren  Abbildung 
wiedergegeben  ist. 

3.  Die  spectroskopische  Untersuchung  des  Blutes. 

Während  die  vorgenannten  Instrumente  zur  Bestimmung  der  quantitativen 
Veränderungen  des  Blutfarbstoffes  dienen,  ist  die  spectroskopische  Blutunter- 
suchung der  Prüfung  seiner  qualitativen  Veränderungen  dienlich.  Hiezu 
verwendet  man  ein  einfaches  Taschenspectroskop,  etwa  ein  solches,  wie  es 
dem  Apparate  von  Henocqe  beigegeben  ist.  Das  Blut  wird  mit  destillirtem 
Wasser  im  Verhältnis  von  0-5  :  lOO'O  gemischt  und  in  einem  Gefässe  mit 
planparallelen  Wänden  (eventuell  einer  Eprouvette)  vor  den  Spalt  des 
Spectrokop  gebracht.  Zur  Orientirung  der  klinisch  wichtigsten  Veränderungen 
des  normalen  Oxyhaemoglobins  diene  folgende  schematische  Uebersicht : 

Oxyhaemoglobin:  Zwei  Absorptionsstreifen  zwischen  D  und  E. 

ßeducirtes  Haemoglobin:  Ein  einziger  Absorptionsstreifen  zwischen  D  und  E. 

Methaemoglobin:  Ein  Absorptionsstreifen  im  Roth  zwischen  C  und  i)  (Akaki, 
Dittkich). 

Kohlenoxydhaemoglobin:  Die  beiden  Absorptionsstreifen  des  Oxyhaemo- 
globin  sind  etwas  nach  rechts  verschoben. 

Das  Spectrum  des  Methaemoglobins  geht  bei  Zusatz  von  Schwefel- 
ammoniura  in  das  Spectrum  des  Oxyhaemoglobins  und  hierauf  in  das  des 
reducirten  Haemoglobins  über.  Das  Spectrum  des  K ohlenoxyd haemo- 
globin s  ändert  sich  auf  Zusatz  von  Schwefelammonium  nicht,  wodurch  es 
sich  vonjenem  des  Oxyhaemoglobins  unterscheidet,  da  letzteres  sich  bei  Ein- 
wirkung von  SNH4  in  das  Spectrum  des  reducirten  Haemoglobins  ver- 
wandelt. Da  aber  bei  gleichzeitigem  Vorhandensein  von  Kohlenoxydhaemo- 
globin und  Oxyhaemoglobin  in  derselben  Blutprobe  dieses  Unterscheidungs- 
merkmal im  Stiche  lässt,  so  wäre  nach  den  Angaben  Hoppe  -  Seylers 
folgende  einfache  Untersuchung  empfehlenswerth :  Die  zu  prüfende  Blut- 
lösung wird  mit  10  Proc.  Natronlauge  versetzt  und  erwärmt;  Oxyhaemoglo- 
bin wird  schmutzig-braun-grün,  während  Kohlenoxydhaemoglobin  zinnober- 
roth  bleibt. 


IQ^.  BLUTUNTERSÜCHÜNG. 

4.  Die  Untersuchung  der  zelligen  Elemente  des  Blutes. 

a)  Die  Zählung  der  rothen  Blutkörperchen. 

Dieselbe  beruht  auf  einer  direeten  Zählung  der  rothen  Blutzellen  in 
einem  Tropfen  einer  bestimnöten  Mischung  von  Blut  und  einer  Conservirungs- 
flüssigkeit.  Die  meisten  der  von  verschiedenen  Autoren  (Pacini,  Hayem, 
Go"v^^RS,  Potain,  Loewit  u.  A.)  angegebenen  Conservirungsflüssigkeiten  ent- 
halten Sublimat,  Chlornatrium,  Magnesium-  oder  Natrium  sulfuricum.  Em- 
pfehlenswerth  wäre  folgende : 

Hydrargyr.  chlor,  corr.        0'25 

Magnes.  sulf.  4-0 

Natr.  chlorat.  2-0 

Aqu.  dest.  300-0 

Der  gegenwärtig  am  meisten  gebrauchte  Zählapparat  ist  der  von 
Thoma-Zeiss.  Der  der  Fingerkuppe  entquellende  Blutstropfen  wird  in  die 
Pipette  aufgesaugt  und  hierauf  durch  Nachsaugen  der  Conservirungsfliissig- 
keit  in  dem  Verhältnisse  1  :  100  verdünnt.  (Man  zieht  das  Blut  bis  zu  jener 
Marke  auf,  welche  sich  vor  dem  erweiterten  Theile  der  Pipette  befindet. 
Vergl.  den  Artikel  ^^Instrumente  zur  Minisch 'Cliagnostischen  Untersuchung'^.) 
Der  Tropfen  wird  in  die  sogenannte  Zählkammer,  ein  Objectträger,  auf 
welchem  ein  Glasrahmen  mit  centralem  kreisförmigen  Ausschnitt  aufgekittet 
ist,  fallen  gelassen  und  hierauf  ein  Deckgläschen  so  über  die  Zählkammer 
geschoben,  dass  weder  Luftblasen  eindringen,  noch  auch  Flüssigkeit  den  so- 
genannten Graben  der  Zählkammer  überschreitet.  Der  Tropfen  muss  sich 
vollkommen  gleichmässig  auf  einer  feinen  Theilung  ausbreiten,  so  dass 
bei  mikroskopischer  Betrachtung  die  Blutzellen  in  den  einzelnen  Quadraten 
möglichst  gleichmässig  vertheilt  liegen.  Man  zählt  zunächst  die  in  einem 
Quadratraum,  d.  h.  16  von  Doppelstrichen  umgebenen  Quadraten,  gelegenen 
Zellen  und  wiederholt  diesen  Vorgang  an  16  Quadraträumen ;  man  hat  dann 
im  ganzen  160  Quadrate  ausgezählt.  Bezüglich  der  an  den  Grenzstrichen 
der  Quadraträume  liegenden  Blutkörperchen  merke  man,  dass  man  nur  die 
an  der  oberen  und  linken  Seite  gelegenen  zählt,  die  an  der  unteren  und 
rechten  Seite  befindlichen  nicht  berücksichtigt.  Die  Rechnung  geschieht 
nach  der  Formel  ^  m  x  4C00  x  lOQ 

^~~  160 

wobei  m  =  Zahl  der  gezählten  Blutkörperchen  bedeutet. 

b)  JJie  Zählung  der  tceissen  Blutkörperchen. 

Zur  Zählung  der  weissen  Blutzellen  verwendet  man  gewöhnlich  eine 
Pipette,  mit  welcher  eine  Verdünnung  von  1:10  vorgenommen  werden  kann. 
Als  Zählflüssigkeit  verwendet  man  eine  VsP^'oc.  Essigsäurelösung,  da  diese 
die  rothen  Blutzellen  auflöst  und  nur  die  weissen  intact  lässt,  deren  Kerne 
ziemlich  scharf  hervortreten.  Die  Zählung  und  Berechnung  ist  dieselbe,  wie 
die  für  die  rothen  angegebene. 

Nach  meinen  eigenen  Erfahrungen  kann  auch  die  Pipette,  Avelche  für  die  Zählung 
der  rothen  Blutkörperchen  benützt  wird  (Verdünnung  1  :  100),  unter  gewissen  C'autelen 
für  die  Zählung  der  weissen  verwendet  werden.  Es  empfiehlt  sich  zu  diesem  Zwecke 
einerseits  die  Verschiebung  des  Gesichtsfeldes  mittelst  des  beweglichen  Objecttisches, 
dessen  Verwendung  überhaupt  eine  viel  raschere  und  genauere  Zählung  ermöglicht, 
andererseits  die  4  Mal  hinter  einander  erfolgende  Füllung  der  Zählkammer,  wodurch  es 
gelingt,  binnen  kurzer  Zeit  1600  Quadrate  auf  das  Vorhandensein  von  weissen  Blutzellen 
durchzusehen. 

Da  das  Zählen  der  Blutkörperchen  aus  verschiedenen  aufeinander 
folgenden  Manipulationen  besteht,  so  ist  es  klar,  dass  die  Fehlerquellen 
diesen  verschiedenen  Manipulationen  anhaften  können. 


BLUTUNTERSUCHUNG.  185 

Für  die  praktische  Anwendung  des  Zählapparates  wären  deshalb 
folgende  Punkte  zu  merken: 

1.  Der  Stich  in  die  Fingerkuppe  (Dauraenballen,  Ohrläppchen)  soll 
immer  derart  tief  gemacht  werden,  dass  schon  bei  leichtem  Druck  ein  ge- 
nügend grosser  Blutstropfen  hervortritt;  jeder  stärkere  Druck  ist  ent- 
schieden zu  meiden. 

2.  Das  Aufziehen  des  Blutes  und  der  Conservirungsfliissigkeit  muss 
hintereinander  in  einem  Zuge  geschehen,  damit  nicht  Luftblasen  in  die 
Flüssigkeitssäule  eindringen. 

3.  Der  für  die  Zählkammer  bestimmte  Tropfen  darf  nicht  zu  gross  ge- 
nommen werden,  damit  derselbe  womöglich  nur  bis  zum  „Graben"  reicht, 
jedenfalls  aber  denselben  nicht  überschreitet. 

4.  Das  aufgelegte  Deckglas  muss  dem  Glasrahmen  so  anliegen,  dass 
die  NEWTOivr'schen  Farbenringe  sichtbar  werden. 

5.  Die  Verschiebung  des  Objectträgers  soll  womöglich  mit  Hilfe  des 
beweglichen  Objecttisches  vorgenommen  werden. 

Zur  Zählung  der  Blutplättchen  verwendet  man  nach  AFFA:srASiEW 
eine  0'6proc.  Kochsalzlösung,  zu  welcher  0-6  Proc.  Pepton  und  etwas 
Methylviolett  gesetzt  wird. 

Eine  indirecte  Bestimmung  der  Zahl  der  rothen  Blutkörperchen  ist 
jene,  bei  der  man  dieselbe  aus  dem  Volumen  zu  ermitteln  sucht.  Zur  Be- 
stimmung des  Volumens  der  rothen  Blutzellen  dient  der  von  Hedin  con- 
struirte  und  in  neuester  Zeit  von  Gärtner  modificirte  Haematokrit. 
Indem  bezüglich  der  Abbildung  und  Beschreibung  dieses  Apparates  wieder 
auf  den  Artikel:  „Instrumente  zur  klinisch-diagnostischen  Untersuchung"  ver- 
wiesen werden  muss,  möge  hier  nur  kurz  das  Princip  desselben  berührt 
werden.  Der  Haematokrit  ist  nichts  anderes  als  eine  Centrifuge,  durch  deren 
Rotation  das  zuvor  innerhalb  eines  Capillarröhrchens  mit  Bichromatlösung 
verdünnte  Blut  in  seine  festen  Bestandtheile  (rothe  und  weisse  Blutzellen) 
und  die  Blutflüssigkeit  (Mischung  von  Serum  und  Bichromatlösung)  ge- 
schieden wird. 

Die  rothen  Blutkörperchen  bilden  nach  geschehener  Centrifugirung 
innerhalb  des  Capillarröhrchens  einen  dicken,  roth  gefärbten  Faden,  während 
darüber  eine  dünne,  schmutzigweisse  Schichte,  aus Leucocyten  bestehend,  ge- 
lagert ist  und  über  diese  das  von  MüLLER'scher  Flüssigkeit  gelb  gefärbte 
Serum  sich  befindet.  Die  Höhe  der  aus  rothen  Blutzellen  bestehenden  ca- 
pillaren  Säule  gibt  uns  das  Maass  für  das  Volumen  der  rothen  Blutzellen, 
Gegen  die  Ansicht,  dass  das  Volumen  der  rothen  Blutkörperchen  ihrer 
Zahl  proportional  sei,  wurde  geltend  gemacht,  da.ss  das  Volumen  nicht 
bloss  von  der  Zahl,  sondern  auch  von  der  Grösse  der  rothen  Blutzellen 
abhängig  ist,  und  andererseits  die  Dellenform  der  einzelnen  rothen  Blut- 
zelle das  knappe  Aneinanderliegen  derselben  verhindere.  (L.  Bleibtreu.) 

e)   Untersuchung  des  Blutes  zur  Orientirung  über   die  Grösse  und  Gestcdt   der 

zelligen  Elemente. 
Die  einfachste  Methode  ist  wohl  die ,  dass  man  den  Bruchtheil 
eines  Blutstropfens  mit  einem  Deckgläschen  auffängt  und  durch  sanftes  Auf- 
legen auf  einen  Objectträger  die  Ausbreitung  des  Blutes  in  dünner  Schichte 
ermöglicht.  Zahlreich  sind  die  Methoden,  welche  angegeben  wurden,  um  das 
native  Blut  zu  conserviren  und  gleichzeitig  zu  färben.  So  empfahl  Bizozero 
den  Finger  anzustechen,  auf  die  Stichwunde  einen  Tropfen  einer  Methyl- 
violett-Kochsalzlösung  zu  bringen,  den  hervortretenden  Blutstropfen  am 
Finger  mit  der  Flüssigkeit   zu    durchmischen    und    von    dem    Gemenge    ein 


186  BLUTUNTERSUCHUNG. 

mikroskopisches  Präparat  herzustellen.  Aenold  verwendete  eine  Methylgrün- 
0-6%~Kochsalzlösung  und  gelang  es  ihm  mit  diesem  Verfahren  im  leucämi- 
schen  Blute  die  indirecte  Kerntheilung  nachzuweisen,  Affannasiew  bediente 
sich  folgender  Mischung:  Zu  0-6  Kochsalzlösung  werden  0  67o  trockenen 
Peptons  und  ungefähr  1 :  10.000  Methylviolett  zugesetzt,  die  Flüssigkeit  wird 
gekocht,  filtrirt  und  in  sterilisirten  Gefässen  aufbewahrt.  Noch  einfacher  ist 
eine  ähnliche  von  v.  Jaksch  angegebene  Methode,  die  er  insbesondere  zur 
Färbung  des  nativen  Blutes  auf  Malaria-Parasiten  verwendet.  In  physiolo- 
gischer (0-67o)  Kochsalzlösung  wird  eine  Spur  Methylenblau  gelöst,  so  dass 
die  Flüssigkeit  massig  intensiv  blau  gefärbt  erscheint,  dann  wird  sie  filtrirt, 
das  klare  Filtrat  sterilisirt,  in  kleinen  Quantitäten  vertheilt  und  in  wohl 
sterilisirten  Eprouvetten  aufgehoben. 

Zur  Zeit  der  Verwendung  dieser  färb'gen  Lösung  wird  ein  Tropfen  auf 
den  vorher  gereinigten  Finger  gebracht,  durch  den  Tropfen  in  den  Finger 
eingestochen  und  diese  Mischung  von  Blut  und  Farbstoff  lösung  in  möglichst 
dünner  Schichte  auf  ein  Deckgläschen  vertheilt  und  dasselbe  mit  der  be- 
schickten Seite  auf  den  Objectträger  gebracht. 

Alle  die  eben  angeführten  Methoden  ermöglichen  wohl,  die  äussere 
Gestalt  der  zelligen  Elemente  zu  conserviren,  ohne  uns  jedoch  die  feinere 
Structur  derselben  sehen  zu  lassen. 

Hiezu  dienen  die  sogenannten  fixir enden  Methoden  mit  nach- 
folgender Färbung,  welche  uns  ausserdem  den  Vortheil  bringen,  fertige  Prä- 
parate für  längere  Zeit  aufzubewahren.  Von  der  grossen  Reihe  ver- 
schiedener Verfahren,  welche  in  den  letzten  Jahren  von  Seiten  verschiedener 
Autoren  angegeben  wurden,  hat  sich  für  klinische  Zwecke  am  meisten  die 
von  Ehelich  angegebene  Methode  als  verwendbar  erwiesen. 

Dieses  Verfahren  ist  kurz  geschildert  folgendes:  Ein  Bruchtheil  des 
aus  der  Stichwunde  quillenden  Blutstropfens  wird  von  der  unteren  Kante 
eines  Deckglasrandes  aufgefangen.  Der  an  diesem  Deckglas  haftende  Bluts- 
tropfen wird  nun  auf  eine  Reihe  vorher  wohl  gereinigter  Deckgläschen 
gebracht,  indem  man  der  Reihe  nach  an  der  Kante,  wo  der  Bluts- 
tropfen sitzt,  unter  einem  Winkel  ansetzt  und  mit  einem  Ruck  der  Reihe 
nach  über  die  Fläche  der  einzelnen  Deckgläschen  fährt.  Die  so  hergestellten 
Präparate  müssen  nun  zu  mindestens  2  Stunden  lufttrockenen  und  werden 
hierauf  in  einen  regulirbaren  Trockenschrank  gebracht,  wo  sie  durch  circa 
2 — 4  Stunden  einer  Temperatur  von  HO — 115  Grad  ausgesetzt  werden.  Der- 
art fixirte  Präparate  können  nun  sofort  den  verschiedenen  Färbeverfahren 
unterworfen  werden  oder  auch  für  spätere  Färbungen  beliebig  lang  aufbe- 
wahrt bleiben. 

Rascher  führt  das  Fixationsverfahren  von  Gabeiczew^sky  zum  Ziele. 
Nach  der  Lufttrocknung,  die  freilich  auch  in  diesem  Falle  mindestens 
2  Stunden  währen  soll,  werden  die  Präparate  auf  20 — 30  Minuten  in  eine 
Mischung  von  Aether- Alkohol  ää  partes  aequales  gebracht  und  hierdurch 
zur  Tinction  fähig  gemacht. 

Die  Färbung  kann  verschiedene  Zwecke  verfolgen,  nämlich  «)  all- 
gemeine Uebersicbtsbilder  zu  erhalten,  h)  die  sogenannte  neutrophile  Granu- 
lation darzustellen,  c)  die  basophilen  oder  Mastzellen  Ehelich's  sichtbar  zu 
machen. 

Zur  Darstellung  von  Uebersichtsbildern  eignet  sich  eine  Eosin-Glycerin- 
lösung  (6-0  :  300-0),  in  welcher  die  Präparate  circa  6 — 12  Stunden  bleiben 
müssen,  da  diese  Lösung  sehr  langsam  den  Farbstoff  abgibt;  viel  rascher 
färbt  eine  Eosin  -  Alkohollösung  (Eosin  4-0,  TO^/o  Alkohol  lOO-O) ;  in 
dieser  genügt  ein  Verweilen  der  Präparate  von  circa  20 — 30  Minuten.  Das 
Eosin  färbt  Zellsubstanz  und  Kerne   diffus;    will   man   daher   eine   differen- 


BLUTUNTERSUCHUNG.  187 

zielle  Kernfärbung  erzielen,  so  muss  man  eine  Nachfärbung  mit  Hämatoxy- 
lin  (Geenacher)  oder  mit  concentrirter  Methylenblaulösung  vornehmen. 

Bei  der  Doppelfärbung  mit  Eosin-Methylenblau  erscheinen 
die  kernlosen  rothen  Blutzellen  intensiv  kupferroth,  die  polynuclearen 
Leucocythen  bieten  einen  rosaroth  gefärbten  Zelleib  und  einen  dunkel- 
blauen polymorphen  Kern,  die  mononuclearen  Leucocythen  und  die  so- 
genannten Uebergangsformen  zeigen  blassblau  gefärbte  Zelleiber  und  in 
viel  dünklerer  Farbennuance  tingirte  Kerne,  die  eosinophilen  Zellen  end- 
lich lassen  dicht  aneinanderliegende,  aber  deutlich  von  einander  differenzir- 
bare  dunkelroth  gefärbte  Körner,  die  in  ihrer  Gesammtheit  den  Zelleib  zu- 
sammensetzen, erkennen,  während  der  Kern  meist  polymorph,  dunkelblau  ge- 
färbt, dazwischen  sichtbar  ist.  Kernhaltige  rothe  Blutzellen  zeigen  inner- 
halb des  kupferroth  gefärbten  und  schon  durch  die  typische  Farbennuance 
als  hämoglobinhältig  erkennbaren  Zelleibes  einen  runden,  homogenen  oder 
auch  structurirten  blau  tingirten  Kern.  —  Die  Eosin-Methylenblau- 
färbung bietet  die  besten  Uebersichtsbilder  und  eignet  sich  deshalb  für 
die  klinisch-diagnostische  Blutuntersuchung  am  allermeisten. 

Zur  Darstellung  der  neutrophilen  Körnung  innerhalb  der  bei  der  Eosin- 
Methylenblaufärbung  als  homogen  erscheinenden  neutrophilen  Leucocyten 
wurden  folgende  Farbenmischungen  angegeben : 

Säurefuchsinmethylenblaulösung:  Zu  5  Volumen  einer  ge- 
sättigten Säurefuchsinlösung  setze  man  1  Volumen  starke  Methylenblau- 
lösung und  füge  hierauf  noch  weitere  5  Volumen  destillirten  Wassers  hinzu, 
darauf  lasse  man  die  Mischung  einige  Tage  stehen  und  filtrirt  hierauf  vor 
der  Anwendung.  Eine  zweite  Färbeflüssigkeit  ist  die  Methylgrün- 
fuchsinmischung: Zu  200  ccm  einer  concentrirten  Methylgrünlösung 
fügt  man  5  ccm  einer  gesättigten  alkoholischen  Fuchsinlösung  hinzu. 

Die  Trocknung  und  Fixation  der  Blutpräparate  wird  in  ganz  derselben 
Weise  wie  zur  Eosin-Methylenblautinction  vorgenommen.  Die  Präparate 
müssen  circa  3 — 6  Stunden  in  den  vorgenannten  Farbenmischungen  ver- 
bleiben, werden  dann  mit  Wasser  abgespült  und  in  Canadabalsam  einge- 
schlossen. Praktisch-diagnostischen  Werth  hat  die  Darstellung  der  neutro- 
philen Granulation  gar  keinen. 

Nach  Ehelich  sollen  mononucleare  Leukocyten  mit  neutrophiler  Körnung  für  den 
leucaemischen  Blutbefund  charakteristisch  sein. 

Dasselbe  gilt  auch  für  das  Verfahren  zur  Darstellung  der  sogenannten 
Mastzellen  (basophile  Zellen).  Zur  Färbung  dient  eine  Dahlialösung.  (50 ccm 
Alkohol  mit  Dalilialüa  gesättigt,  dazu  100  ccm  Wasser  und  10  cc?n  Eisessig.)  Von 
Ehrlich's  Schule  als  nur  im  leucaemischen  Blute  vorkommend  beschrieben, 
wurden  sie  in  neuerer  Zeit  von  Canon  auch  im  normalen  Blut  gefunden, 
ihr  differential-diagnostischer  Werth  somit  aufgehoben. 

Wie  man  sieht,  ist  es  also  schon  mit  Hilfe  eines  ganz  einfachen  Ver- 
fahrens (Trocknung  —  Erhitzung  bis  115  Grad  oder  Fixation  in  Aether- 
Alkohol  —  Tinction  mit  Eosin-Alkohol  und  Nachfärbung  mit  Methylenblau)  mög- 
lich, uns  über  alle  Zellformen  eines  zu  untersuchenden  Blutes  zu  orientiren, 
und  wüsste  ich  wohl  keine  von  den  vielen  zu  diesem  Zwecke  empfohlenen 
Methoden,  welche  mehr  zu  leisten  im  Stande  wäre,  soferne  wir  eben  in  der 
Anfertigung  von  Blutpräparaten  diagnostische  Behelfe  zu  finden  suchen. 

5.  Die  Untersuchung  des  Blutes  auf  Parasiten. 

Von  den  thierischen  Parasiten  finden  sich  im  Blute  Distoma  haema- 
tohium  und  Filaria  sanguinis. 

Distoma  haematohinm  findet  sich  in  den  grossen  Eingeweidegefässen 
(Milzvene,  Mesenterial-,  Mastdarm-  und  Blasenvenen),  während  der  Wurm  in 


188  BLUTUNTERSÜCHÜNG. 

den  peripheren  Gefässen  bisher  nicht  gefunden  wurde.  Seine  Eier  sind  ausser 
im  Blute  auch  noch  in  den  Därmen,  Leber,  Lunge,  Harnleiter  und  Harnblase 
abgelagert.  Nach  Billharz  leidet  mehr  als  die  Hälfte  der  einheimischen 
Bevölkerung  Aegyptens  an  den  von  dem  Parasitismus  dieses  Wurmes  be- 
dingten Krankheitserscheinungen . 

Filaria  sanguinis  ist  ein  zur  Ordnung  der  Nematoden  gehöriger  Wurm, 
der  sich  im  Blute  und  Lymphe  von  Personen  der  Tropengegenden  findet. 

Nach  Lanceraüx  ist  der  Wurm  meist  nur  während  der  Nacht 
im  Blute  vorhanden,  weshalb  die  diesbezügliche  Blutuntersuchung  in  den 
Nachtstunden  vorgenommen  werden  soll.  (Vergl.  die  Artikel  ,,Eingeweidepara- 
siteM  beim  3Ienschen"'  und  „Haematurie"). 

Viel  häufiger  kommt  der  praktische  Arzt  in  die  Lage,  eine  Blutunter- 
suchung auf  Malariaparasiten  vorzunehmen.  Ist  der  Patient  in  Fieber- 
anfall, so  genügt  oft  ein  einfaches  Deckglaspräparat,  vom  nativen  Blute  an- 
gefertigt, um  durch  einen  Blick  ins  Mikroskop,  die  Diagnose  zu  sichern.  Die 
endoglobulären  Formen  sind  durch  ihr  charakteristisches  Pigment  so  leicht 
zu  erkennen,  dass  der  einigermassen  Geübte  über  das  Vorhandensein  von 
Malariaparasiten  nicht  lange  im  Zweifel  sein  kann.  Wenn  man  gerade  will, 
kann  man  zum  üeberfluss  auch  das  von  v.  Jaksch  angegebene  Verfahren 
anwenden  und  das  Blut  unter  Methylenblau-Kochsalzlösung  (s.  o.)  oder  unter 
sterilisirter  Methylenblau-Ascitesflüssigkeit  (Celli  und  Guaeneri)  auffangen. 
Durch  dieses  Verfahren  färbt  man  die  Plasmodien  blau,  so  dass  sie  innerhalb 
des   hämoglobinfarbenen  Blutkörperchens    noch  deutlicher  zu  erkennen  sind. 

Mehr  angezeigt  ist  die  Anfertigung  von  Trockenpräparaten  nach  oben 
angegebener  Vorschrift,  wonach  die  einfache  Eosin-Methylenblautinction  vor- 
genommen werden  kann.  Vor  Verwechslung  mit  Leucocytenformen,  Blut- 
plättchen oder  kernhaltigen  rothen  Blutzellen  schützt  immer  die  Beachtung 
des  Vorhandenseins  von  Pigment  k  örnchen. 

Die  Untersuchung  des  Blutes  auf  Mikroorganismen  hat  die  sorg- 
fältige Desinfection  derjenigen  Stelle,  der  das  Blut  entnommen  wird,  zur 
Voraussetzung.  Die  Haut  der  Fingerbeere  wird  mit  Seife  und  Bürste  sorg- 
fältig gewaschen,  mit  l%o  Sublimatlösung  abgespült,  das  Sublimat  mit  Al- 
kohol entfernt  und  hierauf  noch  etwas  Aether  aufgetropft.  Mit  einer  ge- 
glühten Nadel  macht  man  den  Einstich  und  fährt  hierauf  nach  oben  ge- 
gebener Vorschrift  mit  einem  Deckgläschen  über  die  Kuppe  des  vorquellenden 
Blutstropfens,  den  man  rasch  auf  eine  Reihe  anderer  sorgfältig  sterilisirter 
Deckgläschen  vertheilt  (s.  o.).  Die  Trocknung  wird  in  möglichst  reiner 
Luft,  nach  v.  Jaksch  in  einem  Exsiccator  über  Schwefelsäure,  vor- 
genommen. Die  Fixation  erfolgt  durch  Erhitzung  im  Trockenkasten  durch 
einige  Stunden,  bis  die  Präparate  tinctionsfähig  gemacht  sind.  Ein  einfaches 
Durchziehen  durch  die  Flamme  genügt  übrigens  zu  dem  beabsichtigten 
Zwecke,  wo  es  nicht  auf  Zellstructuren  ankommt,  vollständig. 

Das  Färbe  verfahren  ist  verschieden,  je  nach  der  Art  der  Mikro- 
organismen, die  man  nachzuweisen  sucht.  Für  Tub  erkelbacillen  wendet 
man  dieselbe  Färbemethode,  wie  zu  ihrem  Nachweis  im  Sputum  (vergl. 
„  Sputum  und  Sputumuntersuchung'^).  Zur  Untersuchung  auf  Streptococcen 
empfiehlt  sich  das  von  Weigert  angegebene  Verfahren :  Färbung  in  Anilin- 
wasser -  Gentianalösung,  7\bspülen  mit  Wasser,  Auftropfen  von  Lugol'scher 
Lösung  durch  einige  Minuten,  Trocknung,  Auftropfen  voii  Anilinöl,  Entfernung 
des  Anilinöls  durch  Xylol,  Einschliessung.  Zum  Nachweis  von  Milz  brau  d- 
bacillen  und  Rotzbacillen  möge  das  von  Löffler  angegebene  Ver- 
fahren Anwendung  finden:  Färbung  durch  5 — 10  Minuten  in  LöFFLER'scher 
Methylenblaulösung  (30  cw^  concentr.  alkoh.  Methylenblaulösung  und  hiO  crn^ 
Kalilauge  von  1  :  10,000),  Abspülung  mit  Va^/o  Essigsäurelösung,  Eintragung 


BRECHDURCHFALL  DER  SÄUGLINGE.  189 

in  Alkohol,  Trocknung,  Einschliessung  in  Canadabalsam.  Milzbrand- 
bacillen  werden  übrigens  schon  auch  im  nativen  Blut  leicht  erkannt.  Zum 
Nachweise  von  R  e  c  u  r  r  e  n  s  s  p  i  r  i  1 1  e  n  empfiehlt  sich  Günther's  Methode : 
Vor  der  Färbung  werden  die  Präparate  auf  lO  Secunden  in  b^l^  Essigsäure 
gelegt,  dann  wird  die  Essigsäure  durch  Abblasen  entfernt,  hierauf,  um  die 
Essijisäure  vollständig  zu  entfernen,  über  Ammoniak  gehalten,  dann  mit 
WEiGERT'scher  Gentiana-Anilinwasserlösung  gefärbt,  mit  Wasser 
abgespült  und  in  Canadabalsam  eingeschlossen.  jul.  w^eiss. 

Brechdurchfall  der  Säuglinge.  Erbrechen  und  Durchfall  sind 
fast  constaute  Begleiter  aller  Verdauungsstörungen  im  frühen  Kindesalter. 
Ihr  gleichzeitiges  Auftreten  ist  sicher  nicht  bedeutungslos.  Als  Brech- 
durchfall dürfen  wir  aber  solche  Fälle  nur  dann  bezeichnen,  wenn  diese 
Krankheitserscheinungen  durch  ein  specifisch  wirkendes,  infectiöses 
Agens  bedingt  und  hervorgerufen  sind.  Freilich  sind  wir  noch  weit  davon 
entfernt,  dieses  infectiöse  Agens  zu  kennen.  Man  hat  es  bisher  vergebens 
unter  der  Unzahl  von  Spaltpilzen  gesucht,  welche  der  Verdauungstractus 
unter  normalen  und  pathologischen  Verhältnissen  beherbergt.  Wird  es  erst 
geglückt  sein,  specifische  Spaltpilze  für  den  Brechdurchfall  aufgefunden  zu 
haben,  so  treten  sofort  die  weiteren  Fragen  an  uns  heran :  In  welcher  Weise 
entwickeln  dieselben  ihre  pathogenen  Eigenschaften?  Wirken  sie  direct 
oder  indirect?  Jedenfalls  rufen  sie  im  Magen  und  Darm  Fäulnis-  und 
Gährungsprocesse  hervor.  Aber  erzeugen  sie  nur  auf  diese  oder  auch 
auf  irgend  eine  andere  Weise  chemisch  wirkende,  ins  Blut 
übergehende  Gifte?  Das  sind  noch  ungelöste  Fragen,  man  beginnt 
aber,  denselben  bereits  näher  zu  treten. 

Thatsache  ist  es  zunächst,  dass  die  Brechdurchfälle  der  Kinder  in 
regelmässiger  Wiederkehr  während  der  heissen  Sommermonate  auf- 
treten und  eine  epidemische  Verbreitung  zeigen.  Und  zwar  sind 
es  besonders  die  volksreichen  Städte,  welche  den  zweifelhaften  Vorzug 
gemessen,  in  jedem  Jahre  durch  diese  Kinderseuche  heimgesucht  zu  werden. 
Hier  zu  Lande  beginnen  die  Brechdurchfälle  in  der  zweiten  Hälfte  des 
Monates  Juni  sich  zu  häufen,  erreichen  Mitte  Juli  und  Anfang  August 
ihren  Höhepunkt,  klingen  im  September  allmählig  ab,  hören  oft  aber  auch 
ziemlich  plötzlich  auf.  Eine  Verschiebung  in  den  Anstieg  und  Abfall  der 
Epidemie  tritt  ein,  wenn  sich  die  Monate  Juni  und  Juli  einer  ungewöhn- 
lichen Kühle  erfreuen.  Dann  dauert  die  Epidemie  kürzere  Zeit,  fordert 
aber  darum  nicht  geringere  Opfer.  Sicherlich  spielt  die  Sommerhitze 
beim  Brechdurchfall  der  Kinder  eine  grosse  Rolle  und  doch  ist  sie  wohl 
kaum  der  einzige  Factor.  Auch  zu  anderen  Jahreszeiten  entwickeln  sich 
Endemien  von  Brechdurchfällen.  Sie  bewahren  aber  ihren  localen  Charakter. 
Findelanstalten  und  Kinderasyle  können  die  Brutstätten  solcher  Massen- 
erkrankungen werden.  Zweifelsohne  stellen  die  Proletarierkinder  das 
grösste  Contingeut  an  Kranken  und  Todten.  Man  könnte  hier  mit  Recht 
auf  die  ungesunden  Wohnungsverhältnisse,  auf  den  Mangel  an  Reinlichkeit, 
auf  die  verpestete  Luft  und  die  schwüle  Hitze,  welche  zur  heissen  Sommers- 
zeit in  den  Wohn-  und  Schlafräumen  der  kinderreichen  Proletarierfamilien 
herrscht,  hinweisen;  aber  die  Wohnungsverhältnisse  der  Proletarier  sind  im 
Winter  ganz  dieselben;  die  Luft  ist  in  den  überheizten  und  so  gut  wie 
gar  nicht  ventilirten  Räumen  eher  noch  schlechter,  und  die  Zimmer- 
temperatur geht  selten  unter  20°  R.  herab.  Trotzdem  bewahren  die  Magen- 
und  Darmerkraukungen  der  Säuglinge  im  Winter  den  Charakter  der 
Dyspepsien,  sie  treten  nur  sporadisch  auf  und  gewinnen  nie  eine  epi- 
demische Verbreitung.  Der  Verlauf  der  Einzelerkrankuug  ist  viel  gutartiger. 


190  BRECHDURCHFALL  DER  SÄUGLINGE. 

Das  Säuglingsalter  bis  etwa  zum  12.,  14.  und  16.  Lebensmonat 
ist  am  meisten  gefährdet.  Ueber  das  2.  Lebensjahr  hinaus  erkranken  die 
Kinder  ebenso  selten  an  Brechdurchfall  wie  Erwachsene.  Man  wird  keinen 
Anstand  nehmen,  den  Brechdurchfall  des  Erwachsenen  mit  dem  Brech- 
durchfall der  Säuglinge  zu  identificiren.  Die  relative  Seltenheit  der  Cholera 
nostras  des  Erwachsenen  und  des  späteren  Kindesalters  findet  ihre  Er- 
klärung in  der  grösseren  Widerstandsfähigkeit  des  ganzen  Verdauungs- 
apparates, in  der  weiter  vorgeschrittenen  Entwicklung  der  natürlichen 
Schutzmittel  gegen  die  in  den  Magen  gelangten,  schädlichen  Microorganis- 
men.  Solange  der  Magen  in  normaler  Weise  functionirt,  solange  namentlich 
Salzsäure  in  genügender  Menge  abgespalten  wird,  verfallen  eine  Unzahl 
der  betreffenden  Krankheitserreger  durch  die  normale  Magenverdauung 
einem  sicheren  Tode.  Erfahrungsgemäss  gibt  in  mindestens  95  Proc.  ein 
grober  Diätfehler  den  ersten  Anstoss  zum  Ausbruch  der  Krankheit. 
Bei  künstlich  ernährten  Säuglingen  liegen  in  Folge  habitueller  Ueber- 
fütterung  meist  schon  functionelle  Störungen  der  Magen-  und  Darm- 
verdauung vor.  Dyspepsien  sind  im  Säuglingsalter  eben  kein  seltenes  Er- 
eignis! Ist  dies  der  Fall,  oder  zeigt  die  Magen-  und  Darmschleimhaut 
etwa  gar  schon  pathologisch-anatomische  Läsionen,  dann  scheint  den  toxisch 
wirkenden  Stoffen  Thür  und  Thor  geöffnet  zu  sein.  Die  Kinder  erkranken 
anscheinend  „ganz  plötzlich"  und  gehen  eventuell  binnen  24 — 48  Stunden 
unter  den  Erscheinungen  einer  schweren  Vergiftung  zu  Grunde. 

Brustkinder  pflegen  die  heisse  Jahreszeit  gut  zu  überstehen. 
Werden  sie  aber  während  der  heissen  Sommermonate  entwöhnt,  so  er- 
kranken sie  8 — 14  Tage  später  mit  fast  unfehlbarer  Sicherheit.  Ja  man 
sieht  in  solchen  Fällen  grade  die  schwersten  Formen  zum  Ausbruch  kommen. 
Eine  absolute  Immunität  besitzen  die  Brustkinder  indessen  nicht.  Selbst 
endemisch  tritt  der  Brechdurchfall  unter  ihnen  auf.  (Epstein  u.  A.)  Doch 
sprechen  hier  locale  Ursachen  mit.  Es  handelt  sich  um  Findelhauskinder, 
also  um  Säuglinge  der  ersten  Lebenswochen-  oder  Monate,  welche  in  ge- 
schlossenen Anstalten  zusammengehäuft  sind.  Das  Gros  der  Erkrankten 
bilden  die  künstlich  ernährten  Kinder.  In  Frage  kommen  dabei  nicht 
etwa  blos  die  mit  Mehlsuppen,  eingeweichtem  Zwieback  und  undefinir- 
baren  Kinderbreien  aufgepäppelten  Kinder,  die  mit  Kuhmilch  er- 
nährten Flaschenkinder  erkranken  in  gleicher  Häufigkeit.  Sie  be- 
sitzen also  keineswegs  eine  geringere  Disposition.  Man  hat  daher  auch 
von  jeher  in  der  Kuhmilch  die  Ursache  für  die  häufigen  Magen-  und 
Darmstörungen  des  Säuglingsalters  suchen  zu  müssen  geglaubt.  Die  Unter- 
schiede, welche  zwischen  der  Kuhmilch  und  der  Frauenmilch  sowohl  in 
ihrer,  chemischen  Zusammensetzung  als  auch  in  ihrem  physiologischen 
Verhalten  gegen  die  Verdauungssäfte  bestehen,  sind  ja  bekannt  und  sicher 
nicht  gieichgiltig.  Sie  reichen  indessen  doch  nicht  aus,  um  in  genügender 
Weise  die  so  schweren  Krankheitserscheinungen,  wie  sie  der  Brechdurch- 
fall der  Säuglinge  in  der  That  bietet,  zu  erklären.  Diese  Unterschiede  lassen 
sich  ja  auch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ausgleichen.  Trotzdem  erkranken 
die  künstlich  ernährten  Kinder  an  Sommerdiarrhoeen,  Brechdurchfällen  etc., 
während  die  natürlich  ernährten  verschont  bleiben.  Es  ist  das  Haupt- 
verdienst von  SoxHLET  —  ohne  die  Verdienste  Anderer  um  die  Klarlegung 
derVerdauungsvorgängeim  Säuglingsalter  (Biedert,  Escherich,  Baginsky  etc.) 
schmälern  zu  wollen  —  der  Anschauung  allgemeine  Giltigkeit  verschafft 
zu  haben,  dass  der  Hauptnachtheil  bei  der  künstlichen  Ernährung 
der  Säuglinge  auf  der  unvermeidlichen  Infedion  der  Kuhmilch  mit  Spcdt- 
inlzen  beruhe.  In  Folge  dessen  unterliegt  die  Kuhmilch  bestimmten 
Gährungs-  und  Zers  etzungs Vorgängen.    Dass  diese  in  der  heissen 


BRECHDURCHFALL  DER  SÄUGLINGE.  19X 

Sommerszeit  weit  schneller  eintreten  als  im  Winter,  entspricht  einer  Er- 
fahrung des  täglichen  Lebens.  Im  Stadium  des  „Sauerwerdens"  der  Milch 
bilden  sich  Stoffwechselproducte,  welche  der  Milch  jedenfalls  toxisch 
wirkende  Eigenschaften  verleihen.  Andere  Spaltpilze,  welche  mit  der  Milch 
in  den  Darmcanal  eingeführt  werden,  entfalten  wahrscheinlich  erst  dort 
ihre  schädliche  Wirkung.  Dass  übrigens  auch  andere  Nahrungsmittel, 
namentlich  die  Amylaceen,  im  Darm  Gährungsprocessen  unterliegen,  be- 
darf wohl  nur  der  Erwähnung. 

Die  gefürchtetste  Form  des  Brechdurchfalls  bezeichnen  wir  gemeinhin 
als  Cholera  infantum.  Sie  bietet  in  ausgesprochendster  Weise  das  Bild 
einer  acuten  Vergiftung.  Anscheinend  ganz  plötzlich,  meist  nach  einem 
Diätfehler,  beginnt  die  Krankheit.  Sie  befällt  den  Säugling  „wie  ein 
Blitz  aus  heiterem  Himmel".  Es  muss  aber  doch  constatirt  werden,  dass 
in  der  grossen  Ueberzahl  der  Fälle,  oft  sogar  schon  wochenlang  prämoni- 
torische  Diarrhoeen  vorausgegangen  waren.  Die  etwas  häufigen  dünneren 
Stuhlentleerungeu  beeinträchtigten  indessen  das  Allgemeinbefinden  des 
Kindes  nicht  wesentlich,  und  da  dieselben  nicht  auffallend  abmagerten, 
wurde  diesen  Verdauungsstörungen  keine  grosse  Bedeutung  beigelegt. 

Die  Cholera  infantum  wird  charakterisirt  durch  massige,  rein 
wässerige  Ausleerungen,  heftiges  Erbrechen,  hohes  Fieber  und  durch 
einen  rapiden  Kräfteverfall  mit  hochgradiger  Abmagerung. 

Die  sehr  reichlichen  Ausleerungen  enthalten  nur  anfangs  noch 
Kothpartikelchen,  dann  werden  sie  serös,  rein  wässerig,  haben  einen 
etwas  säuerlichen,  mehr  „mulstrigen"  Geruch,  oder  sind  gänzlich  geruchlos.  Sie 
erfolgen  Schlag  auf  Schlag,  10-,  15-,  20mal  und  öfter  in  24  Stunden,  enthalten 
zahlreiche  Bacterien,  Darmepithelien  und  andere  zellige  Elemente,  reagiren 
meist  sauer,  seltener  neutral,  später  auch  alkalisch.  Sie  schiessen  im  Strahle 
ohne  Pressen  und  Drängen  aus  dem  Anus,  dessen  Sphincter  augenscheinlich 
nur  mangelhaft  schliesst  und  arrodiren  die  Umgebung  der  Analöffnung. 

Die  Reizbarkeit  des  Magens  ist  eine  sehr  grosse.  Was  die 
Kinder  zu  sich  nehmen,  wird  sofort  oder  nach  wenigen  Minuten  ohne  grosses 
Würgen  wieder  ausgebrochen.  Der  Appetit  geht  ganz  verloren,  dagegen  ist  der 
Durst  bedeutend  erhöht.  Die  Kinder  trinken  kaltes  Wasser  mit  grosser  Gier. 
Die  Zunge  und  die  Lippen  sind  trocken,  schwach  belegt.  Der  Puls  ist  sehr 
frequent,  kaum  zu  fühlen.  Die  Temperatur  im  Anus  steigt  auf  40»,  41" 
und  darüber,  andererseits  kommt  es  aber  auch  zu  Collapstemperaturen  von 
350,  30''  und  darunter.  Temperaturerhöhungen  werden  nur  bei  schon  an 
und  für  sich  in  der  Ernährung  sehr  zurückgebliebenen  atrophischen  Säuglingen 
vermisst.  Der  Unterleib  ist  etwas  aufgetrieben,  fühlt  sich  weich  und 
schwappend  an,  ist  auf  Druck  unempfindlich.  Urin  wird  nur  sparsam 
entleert,  er  ist  eiweisshaltig,  später  tritt  völlige  Anurie  ein.  Die  Kinder 
zeigen  anfangs  eine  grosse  Unruhe,  schreien  mit  heiserer  Stimme,  scheinen 
aber  frei  von  Schmerzen  zu  sein. 

Hiezu  kommt  binnen  24  bis  2mal  24  Stunden  eine  so  auffallende 
Abmagerung  und  ein  so  rapider  Kräfteverfall,  wie  er  nach  so 
kurzer  Zeit  nur  noch  bei  der  Cholera  asiatica  aufzutreten  pflegt.  Das  Fett- 
polster schwindet,  die  Knochenvorsprünge  treten  deutlich  hervor,  die  Haut 
lässt  sich  in  grossen  Falten  erheben.  Die  Fontanelle  ist  eingesunken,  zeigt 
eine  deutlich  kreuzförmige  Vertiefung,  die  Schädelknochen  sind  übereinander 
geschoben.  Das  aschgraue,  leicht  cyanotisch  verfärbte  Gesicht  bekommt 
einen  ängstlichen  und  zugleich  greisenhaften  Ausdruck ;  es  wird  spitz  runzlich 
und  faltig,  die  Augenhöhlen  sind  tief  eingesunken,  um  die  Augen  lagern 
bleifarbene  düstere  Schatten ;  die  Augenlider  sind  halb  geschlossen,  der 
Unterkiefer   hängt  schlaff  herab   und  der  Mund  ist  halb  geöffnet.     Nähert 


192  BRECHDURCHFALL  DER  SÄUGLINGE. 

^icli  die  Krankheit  dem  letalen  Ausgang,  so  liegen  die  Kinder  ganz  ruhig, 
völlig  apatisch  da.  Häufig  treten  Muskelcontracturen  und  convulsi^ische 
Zuckungen  der  Extremitäten  auf.  Las  Gesicht  und  die  Extremitäten  zeigen 
eine  auffallende  feuchte  Kälte.  Die  Augen  haben  ihren  Glanz  verloren. 
Die  Hornhaut  ist  trübe,  unempfindlich,  Pupillen  stark  contrahirt,  reactions- 
los  auf  einfallendes  Licht.  Zunge  und  Mundschleimhaut  zeigen  häufig  Soor- 
belag.  Die  Respiration  ist  beschleunigt,  das  Herz  contrahirt  sich  nur  noch 
schwach:  der  Puls  kaum  noch  zu  fühlen,  setzt  häufig  aus.  Das  Kind  wird 
comatös  und  ist  aus  diesem  Coma  nicht  mehr  zu  erwecken.  In  schweren 
Fällen  pflegt  der  letale  Ausgang  schon  nach  ein  bis  zwei  Tagen  einzutreten. 

Die  pathologis  ch- anatomischen  Veränderungen  des  Ver- 
dauungstractus  lassen  sich  auch  nicht  entfernt  mit  der  Schwere  der 
klinischen  Erscheinungen  in  Einklang  bringen.  Sie  decken  sich  mit  dem 
Befunde  eines  ganz  acuten  Magen-  und  Darmkatarrhs.  Wir  finden  Gefäss- 
injectionen,  ^Yulstungen  und  Lockerungen  der  Magen-  und  Darmschleim- 
haut, trübe  Schwellungen  und  Verlust  des  Epithels,  Schwellungen  der 
solitären  Follikel  und  der  Peter'schex  Plaques.  Einlagerung  reichlicher 
Ptundzellen  in  die  Schleimhaut  und  Submucosa.  BAaixsKY  constatirte  auch 
Coccen  und  zahlreiche  feine  Bacillen  in  den  Lieberkühn'schen  Schläuchen. 

Andere  Befunde  sind  als  Secundärerscheinungen.  als  Folgen  des 
enormen  Wasser  Verlustes  aufzufassen.  So  die  auffallende  Trocken- 
heit des  Binde-,  Fett-  und  Muskelgewebes,  die  Verdichtung  und  Starrheit 
des  ünterhautzellgewebes  an  den  Extremitäten  (Sclerema  adiposum\  die 
Eindickung  des  Blutes,  die  venösen  Stauungen  in  den  hinteren  und  unteren 
Lungenpartien,  im  Gehirn  und  in  den  Hirnhäuten  und  die  wiederholt  beob- 
achteten Thrombosen  der  Hirnsinus. 

Halten  wir  an  der  Annahme  fest,  dass  vom  Magen  und  Darm  aus 
toxisch  wirkende  Stoffe  in  die  Blutcirculation  gelangen,  so  scheinen  diese 
in  erster  Linie  lähmend  auf  das  sympathische  Nervensystem,  speciell  auf 
die  Xern  splanchnici  einzu^^irken.  Wir  können  die  so  plötzlich  eintretenden 
Collaps  ähnlichen  Zustände,  welche  der  Cholera  infantum  ein  so  ganz 
eigenartiges  Gepräge  verleihen,  geradezu  als  Shoc  bezeichnen.  Sie  beruhen 
auf  vasomotorischen  Störungen,  auf  plötzlichen  Veränderun- 
gen des  Circulationsgleichgewichts.  ^1e  wir  sie  physiologisch 
beim  „GoLx^schen  Klopfversuch"  zu  Tage  treten  sehen. 

Die  Prognose  des  acuten  Brechdurchfalls  ist  entschieden  ungünstig. 
Sie  gestaltet  sich  um  so  schlechter,  je  jünger  das  Kind  ist.  Doch  findet 
die  Krankheit  nicht  immer  emen  so  jähen  Abschluss.  Der  Sho  c  wird  über- 
wunden, das  Erbrechen  hört  auf,  die  Stuhlentleerungen  bleiben  noch  dünn, 
e'rfolgen  aber  weniger  häufig,  werden  übelriechend,  mehr  oder  weniger 
schleimig  und  kothhaltig.  Das  Fieber  besteht  fort  und  die  Krankheit  geht 
in  ein  protrahirteres  „typhoides"  Stadium  über.  In  diesem  Stadium  gehen 
noch  viele  Kinder  nachträglich  zu  Grunde.  Oft  erliegen  sie  den  mannig- 
fachen Complicationen  und  Xachkrankheiten !  —  Bronchitiden,  lobulären 
Pneumonien.  Xephritiden.  phlegmonösen  Entzündungen  des  Unterhautzell- 
gewebes. Xerosis  bulbi  etc.  —  Trotz  alledem  sind  aber  Besserung  und 
völlige  Heilimg  in  beiden  Stadien  der  Krankheit  nicht  völlig  ausgeschlossen. 

Xeben  der  Cholera  infantum  herrschen  zur  heissen  Sommerszeit  unter 
der  Kinderwelt  noch  mildere  Formen  des  Brechdurchfalls. 

Sie  bieten  zwar  in  klinischer  Beziehung  wesentliche  Abweichungen 
dar,  ihrer  Aetiologie  nach  gehören  sie  aber  zweifellos  zu- 
sammen. Wir  bezeichnen  dieselben  als  Gastro-ent eritis  und  unter- 
scheiden eine  acute  und  sub acute,  mehr  chronisch  verlaufende  Form. 
Die  Cholera  infantum   pflegt  häufig  aus  der  ersteren  Form  hervorzugehen, 


BRECHDURCHFALL  DER  SlUGLIXGE.  I93 

doch  vermissen    wir   bei  der  Gastro-enteritis  die  auffallend  hohen  Fieber- 
temperaturen,    die    cerebralen   Symptome,    die  Collapserscheinungen,    kurz 
jenen  Zustand,    welchen  wir  als  "Shoc  bezeichneten.    Die  Stuhlentleerunoen 
erfolgen  zwar  auch  sehr  häufig,  sind  bei  ausschliesslich  mit  Milch  geucährten 
Säuglingen  anfänglich  gehackt,  grünlich  gefärbt,  mit  Milchresten  und  Schleim- 
massen gemischt,   riechen  sauer  oder  faulig,  später  werden  sie  dünnflüssiger, 
wässrig,    bleiben    aber    immer    noch    grünlich    oder  bräunlich  gefärbt.  *Sie' 
reagiren  meist  stark  sauer,    seltener  alkalisch.    Letzteres   besonders   dann, 
wenn  sie   einen  ausgesprochenen  fauligen  Geruch  verbreiten.    Es  bestehen 
Kolikanfälle,    der   Leib    ist    auf  Druck    empfindlich,    weich,  pappig,    durch 
Darmgase  aufgetrieben.  Die  Kinder  haben  augenscheinlich  Schmerzen,  ziehen 
die  Beine  an  den  Leib  heran,  um  die  Bauchmuskeln  zu  entspannen.  Gastri- 
sche Erscheinungen  können  ganz  fehlen.  Wir  dürfen  in  solchen 
Fällen    annehmen,    dass    die  Zersetzungs-    und  Gährungsvorgänge    erst  im 
Darm  stattgefunden  haben.  Li  anderen  Fällen  besteht  Erbrechen,  Uebelkeit 
und  saures  Aufstossen.    Die  Kinder  sehen  etwas  bleich    und  verfallen  aus, 
fühlen  sich  heiss  an,  fiebern  etwas,  sind  unruhig  und  weinerlich. 

Als  Complicationen  treten  häufig  entzündliche  Luftröhren-  und  Lungen- 
katarrhe hinzu. 

Besonders  sind  es  rhachitische  Kinder,  bei  denen  dies  der  Fall  zu 
sein  pflegt.  Im  Allgemeinen  nimmt  die  Gastro-enteritis  bei  sonst  gesunden, 
kräftigen  Kindern  und  einer .  frühzeitig  eingeleiteten  rationellen  Behandlung 
einen  günstigen  Verlauf.  Erbrechen  und  Durchfälle  hören  auf,  das  vor- 
handene Fieber  lässt  nach,  Appetit  stellt  sich  ein,  und  überraschend  schnell 
erfolgt  eine  völlige  Pteconvalescenz. 

Die  subacuten  Fälle  von  Gastro-enteritis  schleppen  sich 
Wochen-  und  monatelang  hin.  Dyspeptische  Zustände  bestanden  schon 
längere  Zeit.  Der  Appetit  lässt  zu  wünschen  übrig.  Diarrhoeen  wechseln 
mit  zeitweiligen  Obstipationen.  Zwischendurch  treten  acute  Verschlimme; 
rungen  ein.  Die  Ausleerungen  erfolgen  häufiger  und  sind  dünnflüssiger,  die 
Kinder  brechen,  werden  unruhig,  fiebern  etwas.  Diese  Attaquen  werden 
überwunden,  aber  eine  völlige  Piestitutio  ad  integrum  findet  nicht  statt.  In 
Folge  dieser  langwierigen,  sich  häufig  verschlimmernden  Verdauungs- 
störungen magern  die  Kinder  in  erschreckender  Weise  ab  und  bestehen 
schliesslich  nur  noch  „aus  Haut  und  Knochen".  Wir  bezeichnen  diesen 
Zustand  als  Atrophie  oder  Athrepsie.  Es  schwindet  aber  nicht  blos 
das  Fettpolster,  alle  übrigen  Gewebe,  sowie  sämmtliche  Orgaue  werden 
mehr  oder  weniger  in  Mitleidenschaft  gezogen.  Handelt  es  sich  anfänglich 
auch  hier  wohl  nur  um  functionelle  Störungen,  hervorgerufen  durch 
Gährungsvorgänge,  welche  sich  innerhalb  des  Darms  abspielen,  so  ent^^^ckeln 
sich  doch  im  Laufe  der  Zeit  im  ganzen  Verdauungstractus,  vornehmlich 
im  Dlinndarm,  pathologisch-anatomische  Veränderungen.  Wir  treffen  sie  in 
den  verschiedensten  Stadien  ihrer  Entwicklung  an.  Doch  bieten  sie  kein 
anderes  Bild,  wie  bei  jedem  durch  andere  Ursachen  bedingten  Magen-  und 
Darmkatarrh. 

Die  Behandluiig  des  Brechdurchfalles  erfordert,  wie  keine  andere 
Krankheit,  eine  strenge  Individualisiruug  eines  jeden  Einzelfalles.  Bei  der 
Vielseitigkeit  der  Krankheit  verbietet  sich  eine  schablonenhafte  Behand- 
lung schon  von  selbst.  Folgende  Angaben  dürfen  daher  nicht  als  Norm, 
sondern  nur  als  Anhaltspunkt  für  ein  zielbewusstes,  therapeutisches 
Vorgehen  angesehen  werden. 

Die  Prophylaxis  erfordert  der  Natur  der  Sache  nach  eine  all- 
gemein hygienisch-diätetische  Behandlung.  Aber  auch  nach  Aus- 
bruch der  Krankheit  steht    dieselbe    obenan.     Sie  bleibt  in  jedem   Einzel- 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  13 


194  BRECHDURCHFALL  DER  SÄUGLINGE. 

falle  die  un  erl  ässliclie  Vorbedingung  einer  jeden  weiteren  Therapie. 
Aber  nur  in  den  seltensten  Fällen  wird  sie  allein  im  Stande  sein,  den  ge- 
w^ünschten  Erfolg  herbeizuführen.  Gerade  bei  den  infectiösen  Brechdurch- 
fällen werden  wir  der  mechanischen. und  medicamentösen  Behand- 
lung am  wenigsten  entbehren  können. 

Für  den  Säugling  ist  und  bleibt  die  Brustnahrung  das  unerreich- 
bare Ideal  einer  jeden  anderen  Ernährungsweise.  Sie  bietet  in  der  heissen 
Sommerszeit  die  meiste  Garantie  für  das  Gesundbleiben  des  Säuglings.  Und 
z.war  in  erster  Linie  deshalb,  weil  die  direct  aus  den  Milchdrüsen  stam- 
mende Milch  gesunder  Frauen  als  keimfrei  angesehen  werden 
muss.  Sieht  man  trotzdem  Brustkinder  an  Brechdurchfall  erkranken,  so 
hat  ein  Diätfehler  vorgelegen  und  den  ersten  Anstoss  zu  einer  Darmgährung 
gegeben.  Gelangt  jetzt  Brustmilch  in  den  Darm,  wird  sie  ebenfalls  Zer- 
setzungen unterliegen.  Andererseits  können  bei  Mangel  an  der  nöthigen 
Reinlichkeit  die  Gährungserreger  etc.  an  den  Brustwarzen  der  Stillenden 
haften.  Die  Kinder  können  sich  auch  selbst  inficiren,  indem  sie  die  be- 
schmutzten Hände  in  den  Mund  führen  etc.  Der  Möglichkeiten  der  Infection 
gibt's  auch  bei  Brustkindern  gar  viele !  Wir  dürfen  auch  nicht  ausser  Acht 
lassen,  dass  bei  einer  einmal  ausgebrochenen  Epidemie  alle  Säuglinge, 
mögen  es  Flaschen-  oder  Brustkinder  sein,  unter  dem  Einfluss  dieser  Epi- 
demie stehen,  d.  h.  dass  gewiss  auch  gesund  eSäuglinge  Krankheitserreger  in 
sich  beherbergen  und  es  nur  eines  bestimmten  Anstosses  bedarf,  die  Krank- 
heit zum  Ausbruch  kommen  zu  sehen. 

Umso  mehr  muss  auf  die  „Keimfreiheit"  jeder  anderen  Säug- 
lingsnahrung, speciell  der  Kuhmilch  Werth  gelegt  werden.  Es  ist  als 
grosser  Fortschritt  zu  begrüssen,  dass  sich  wenigstens  die  Mehrzahl  der 
Aerzte  diese  Anschauung  zu  eigen  gemacht  hat.  '  Die  sterilisirte  Kuh- 
milch, der  SoxHLET'sche  Milchapparat  bürgert  sich  auch  in  den  Laien- 
lyeisen  mehr  und  mehr  ein.  Leider  haben  aber  die  Proletarierfamilien 
von  diesen  Errungenschaften  zunächst  aus  rein  pecuniären  Gründen  noch 
am  wenigsten  profitiren  können.  —  Durch  ein  intensives,  25—30  Minuten 
langes  Kochen  der  Milch  mittelst  einfacher  und  billiger  Milchkocher  (Solt- 
MANN  etc.)  lässt  sich  ja  eine  annähernd  gleiche  „Keimheit"  der  Milch,  wie 
mit  dem  SoxHLET'schen  Apparat  erreichen.  Doch  erscheint  der  Werth  einer 
derartigen  Sterilisirung  schon  deshalb  sehr  problematisch,  als  sich  nicht 
Jedem  der  Begriff  von  Reinlickeit  und  besonders  von  Reinlichkeit  im 
medicinischen  Sinne  einimpfen  lässt.  Eine  keimfreie  Kuhmilch 
bietet  also  denjenigen  Kindern,  welchen  die  Mutter-  oder  Ammenbrust  ver- 
sagt bleiben  muss,  zur  heissen  Sommerszeit  einen  relativ  sicheren  Schutz 
gegen  Verdauungsstörungen  und  Brechdurchfälle.  Freilich  dürfen  wir  nie- 
mals vergessen,  dass  die  Frauenmilch  und  Kuhmilch  in  ihrer  chemischen 
Zusammensetzung  und  ihrem  physiologischen  Verhalten  zu  dem  Ver- 
dauungsvermögen des  Säuglingsmagens  und  Darms  wesentliche  Unterschiede 
darbieten.    (Schwerlöslichkeit  des  C  a  s  e  i  n  s  der  Kuhmilch ! ) 

Diesen  Unterschieden  müssen  wir  nach  wie  vor  Rechnung  tragen  und 
sie  durch  die  nöthigen  Verdünnungen  der  Kuhmilch  durch  schleimige  Zu- 
sätze (Haferschleim,  Graupenschleim)  u.  s.  w    auszugleichen  suchen. 

Ist  der  Brechdurchfall  aber  einmal  ausgebrochen,  treten 
namentlich  die  gastrischen  Erscheinungen  deutlich  hervor,  dann  befürworte 
ich,  wie  Epsteiis^,  eine  möglichst  vollständige  Abstinenz  jeder 
Nahrung,  auch  der  Brust,  für  die  nächsten  12,  24  bis  48  Stunden.  Mau 
befriedige  nur  das  hochgradige  Durstgefühl  des  Kindes  durch  vorher  ab- 
gekochtes und  wieder  abgekühltes  reines  Wasser  oder  durch  das  von 
Epstein  empfohlene,  indifferente  Eiweisswasser   (1  frisches   Hühnerei- 


BRECHDURCHFALL  DER  SÄUGLINGE.  195 

weiss  auf  V2 — 1  Liter  abgekochtes,  wieder  abgekühltes  Wasser,  intensiv 
verquirlt,  event.  mit  geringem  Zuckerzusatz).  Man  verabreicht  das  Wasser  an- 
fangs nur  esslöffelweise,  in  kleineren  oder  grösseren  Pausen,  später  auch 
in  grösseren  Mengen.  • 

Als  ein  grosser  Fortschritt  in  der  Behandlung  des  Brechdurchfalls 
sind  die  ebenfalls  von  Epstein  zuerst  empfohlenen  Magenausspüluugen 
der  Säuglinge  zu  bezeichnen.  Ich  halte  sie  bei  allen  Formen  des  Brech- 
durchfalles für  indicirt  und  habe  eclatante  Erfolge  danach  gesehen.  Nicht 
blos  in  den  Fällen  von  Magenüberfüllung  und  Magengährung,  sondern  auch 
bei  Katarrhen  und  Gährungsprocessen  in  dem  Dünndarm.  Auch  hier  ist 
der  Magen  der  Ausgangspunkt  der  Erkrankung  gewesen.  Sind  durch  die 
Magenausspülung  die  gährenden  Massen  aus  demselben  entfernt,  und  eine 
normale  Magenverdauung  wieder  hergestellt,  so  wird  auch  der  Darm,  wenn 
er  nicht  mehr  gezwungen  ist,  immer  wieder  neue  Zersetzungs-  und  Gäh- 
rungsproducte  in  sich  aufzunehmen,  die  schädlichen  Stoffe  zu  eliminiren  im 
Stande  sein.  Dass  freilich  die  Magenausspülung  bei  Kindern,  welche  im  Collaps- 
stadium  der  Cholera  infantum  in  unsere  Behandlung  kommen,  nicht  mehr 
einen  lebensrettenden  Einfluss  auszuüben  vermag,  darf  uns  nicht  Wunder 
nehmen !  Schon  nach  einer  einzigen  Magenausspülung  hört  das  Erbrechen 
auf,  und  oft  genug  sieht  man  bei  der  Gastro-enteritis  acuta  ohne  jede  andere 
medicamentöse  Behandlung  auch  die  Durchfälle  zum  Stillstand  kommen. 

Man  bedarf  zur  Magenausspülung  nur  eines  dünnen  Gummischlauches 
von  etwa  einem  halben  Meter  Länge,  au  dessen  einem  Ende  ein  dicker 
Nelaton-Katheter  als  Schlundrohr,  an  dessen  anderem  ein  Glastrichter  ange- 
bracht ist.  Die  Einführung  des  eingeölten  oder  nur  genügend  angefeuch- 
teten Katheters  in  den  Magen  unterliegt  bei  Säuglingen  keinen  Schwierig- 
keiten. 

Die  Einführung  bei  sitzender  Stellung  des  Kindes  ist  vorzuziehen. 
Bei  hoch  gehobenem  Trichter  fliesst  die  Spülflüssigkeit  in  den  Magen  hinein 
und  bei  nach  unten  gesenktem  in  Folge  der  Heberwirkung  wieder  durch 
den  nach  unten  hängenden  Gummischlauch  und  den  umgestülpten  Trichter 
aus  dem  Magen  heraus.  Die  Ausspülung  wird  solange  fortgesetzt,  bis  das 
Wasser  aus  dem  Magen  wieder  völlig  klar,  ohne  jedes  Gerinsel,  heraus- 
strömt. 

Als  Spülflüssigkeit  kann  reines  Wasser  von  Körpertemperatur  oder 
den  Magen  nicht  irritirende  antiseptische  Lösungen  {2procentige  Borlösung, 
4%  Natron  henzoic.-Lösung  etc.)  benutzt  werden.  Mehrmalige  Ausspülungen 
des  Magens  wird  man  nur  selten  vorzunehmen  gezwungen  sein. 

Niemals  sollte  aber  einem  Säugling  mit  Brechdurchfall  wieder  Nahrung, 
Brust,  stark  verdünnte  sterilisirte  Kuhmilch,  Haferschleim  oder  Graupen- 
schleim, dünne  Abkochungen  von  Kindermehlen  (Rademann),  Voltmee's 
Muttermilch  —  verabreicht  werden  —  ehe  nicht  eine  Ausspülung  des 
Magens  vorgenommen  ist. 

Das  Shocstadium  der  Cholera  infantum  erheischt  eine  Sonder- 
therapie. Hier  kommt  es  darauf  an,  die  gesunkene  Herzthätigkeit  auf  jede 
Weise  zu  heben,  um  das  „Circulationsgieichgewicht"  so  schnell  als  möglich 
wieder  herzustellen.  Die  Haut  stark  reizende  ^Me^  (Senf beider  30— 32^1,^  B: 
mit  kalten  üebergiessungenl)  sind  hier  am  Platze.  Lmerlich  Anale ptica 
(Champagner  1 — 2ständlich  1  Theelöffel.  In  der  Armenpraxis:  Spiritus 
aethereus  und  Liquor  Ammon  anis.  aa  4  g  V4 — ViStündlich  8,  4  Tropfen  in 
Zuckerwasser).  Falls  das  Erbrechen  die  Darreichung  der  Arzneimittel  per  os 
illusorisch  macht,  subcutane  Aether-  oder  Kampheröleinpritzungen,  —  Em- 
pfohlen sind  auch  subcutane  Chlorahinspritznngen  (Hall)  und  Higginson) 
als  Sedativum  (O'OS— Ol  pr.  dosi),  doch  fehlen  mir  eigene  Erfahrungen. 

13* 


196  BRECHDURCHFALL  DER  SÄUGLINGE. 

Einer  Beachtung  werth  sind  die  Transfusionen  von  physiologischen 
Kochsalzlösungen  (0-6:100)  in  die  Venen  und  die  Einspritzungen  derselben 
ins  Unterhautzellgewebe.  Erstere  werden  wohl  der  Spitalsbehandlung  vor- 
behalten bleiben  müssen,  letztere  sind  bei  ambulanter  Behandlung  schon 
seit  Jahr  und  Tag  von  mir  in  Anwendung  gebracht  worden,  und  ich  darf 
behaupten,  mit  zufriedenstellendem  Erfolg.  Jedenfalls  sollte  man  sie  nie 
unversucht  lassen.  Sie  helfen  uns  über  die  Collapszustände  oft  hinweg  und 
ich  hege  die  Ueberzeugung,  dass  mancher  Scäugling  ohne  dieselben  unrett- 
bar verloren  gewesen  wäre.  Epstein,  Hennoch  und  Andere  fällen  ein  gleich 
günstiges  Urtheil!  Man  injicirt  den  Inhalt  einer  40 — SO  g  Kochsalzlösung 
fassenden  Spritze  in-  das  Unterhautzellgewebe  der  Bauchhaut  oder  der 
Oberschenkel.  Die  Canüle  muss  eine  etwas  grössere  Lichtweite  haben,  als 
die  einer  PRAVAz'schen  Spritze;  man  bedarf  eines  ziemlich  starken  Druckes! 
Deutlich,  bis  zur  Grösse  eines  Hühnereis  schwillt  an  der  Injectionsstelle 
die  Haut  auf.  Doch  vertheilt  und  resorbirt  sich  die  Flüssigkeit  bei 
gelinder  Massage  schon  nach  wenigen  Minuten.  Die  subcutane  Injection 
von  Kochsalzlösung  wird  eventuell  an  demselben  oder  am  folgenden  Tage 
wiederholt. 

Die  me  die  amen  tose  Behandlung  verdient  erst  an  dritter  Stelle 
genannt  zu  werden.  Wir  werden  derselben  zwar  nicht  entbeh-'en  können, 
doch  spricht  die  grosse  Zahl  der  versuchten  und  empfohlenen  Mittel  nicht 
gerade  für  die  Wirksamkeit  derselben  in  jedem  Falle.  Es  lag  nahe,  dass 
man  sich  von  der  antiseptischen  Behandlung  der  Magen-  und  Darm- 
erkrankungen der  Säuglinge  grosse  Erfolge  versprach.  Scheitert  aber  schon 
beim  Erwachsenen  die  gründliche  Desinfection  des  Verdauungstractus 
an  der  Giftigkeit  der  antiparasitären  Mittel,  um  wie  viel  grössere  Vorsicht 
erheischt  die  innere  Verwendung  derselben  im  Säuglingsalter.  Versucht 
sind  alle  löslichen  und  alle  schwerlöslichen  Antiseptica  und  schliesslich  auch 
solche  Mittel,  welche  ungelöst  gewisse  Theile  des  Darmcanales  passiren, 
um  erst  an  den  erkrankten  Stellen  angelangt,  in  ihre  wirksamen  Bestand- 
theile  zu  zerfallen.  (Escherich.)  Es  wird  sich  schliesslich  bei  jedem  Arzt, 
gewitzigt  durch  die  eigene  Erfahrung,  eine  gewisse  Vorliebe  für  das 
eine  oder  andere  dieser  Mittel  geltend  machen,  und  diesen  Standpunkt 
halte  ich  im  Interesse  des  Kranken  für  weit  wichtiger,  als  das  planlose 
Herumexperimentiren  mit  den  verschiedensten  Arzneistoffen.  Nichts  schadet 
mehr,  als  dem  Kranken  jeden  Tag  ein  neues  Recept  zu  verschreiben! 

Treten  bei  der  acuten  Gastro-enteritis  die  gastrischen  Erscheinungen 
in  den  Vordergrund,  so  mache  ich  von  dem  Argentumnitricum  (Ärgent. 
nur.  0-05,  Äq.  dest.  60,  Glijcerini  imri  25,  D.  in  vltr.  nigro.  S.  1 — 2ständlkh 
1  Theelöfel)  ausgedehnten  Gebrauch.  Hennoch  rühmt  besonders  die  Salz- 
säure und  das  Kreosot  {Kreosoti  gtt.  II—IV:35aq.desLS.2stündUch  1  Thee- 
löfel). Escherich  und  Demme  das  Natr.  henzoic.  (5%ige  Lösung).  Calomel 
halte  ich  in  solchen  Fälleniür  indicirt,  wo  wir  den  Sitz  der  Gährungsvorgänge 
mehr  in  den  Dünndarm  verlegen.  Bei  lebhafter  Darmperistaltik,  Colik- 
anfällen  etc.  nehme  ich  keinen  Anstand,  das  Calomel  mit  kleinen 
Opiumdosen  zu  verbinden.  (Tinct.  theb.  gtt.  diias,  Calomel  0-05— O'l, 
Calcar.  carbon.  pr.,  P.  gummös,  aa.  5,  2 — Sstündlich  1  Messerspitze  zu 
nehmen !) 

Bei  der  Cholera  infantum  halte  ich  Opium  für  gänzlich  contra- 
indicirt  Ist  der  Dickdarm  in  Mitleidenschaft  gezogen,  sind  mehr  die 
tanninh altigen  Mittel  am  Platze.  (Decoct.  ligni  Campechiayi.  5:120  stündlich 
1  Kinderlöffel  etc.)  Von  den  neueren  Mitteln  sei  nur  noch  das  Bismuth. 
salicyl  erwähnt.  (0- 1—0-5  mehrmals  täglich  in  Pulverform,  oder  als  Schüttel- 
mixtur.) POTT. 


BRONCHIALASTHMA.  197 

Bronchialasthma.  (Asthma  nervosum^  s.  spasmodicum.)  Das  Astlima 
bronchiale  wird  auch  als  Asthma  schlechtweg  bezeichnet  und  ist,  wie  jedes 
Asthma,  durch  plötzlich  auftretende  und  ziemlich  rasch  endigende  Dyspnoe- 
anfälle  gekennzeichnet. 

Es  tritt  sowohl  im  Verlaufe  bestimm.ter  chronischer  Krankheiten  als 
auch  nach  einer  Reihe  acut  einwirkender  Schädlichkeiten  auf;  es  sind  mithin 
in  ätiologischer  Beziehung  für  dasselbe  prädisponirende  Momente  von  Gelegen- 
heitsursachen zu  trennen.  Sehr  häufig  sind  länger  bestehende  Bronchial- 
katarrhe die  Basis,  auf  der  sich  Asthmaanfälle  entwickeln  können,  aber 
wohl  ebenso  häufig  führt  zu  diesen  die  rasche  Einwirkung  feuchter,  besonders 
aber  kalter  Witterung  im  Frühjahre  und  Spätherbste  —  wobei  auch  die 
Windrichtung  eine  Rolle  spielen  mag.  —  Für  Viele  geben  S  taub  ei  n- 
athmungen  (Mineral-  und  Blüthenstaub),  unter  Umständen  auch  bestimmte 
Gerüche  von  der  Pflanzenwelt  angehörenden  Trägern  —  unter  diesen 
die  Ipecacuanha  am  bekanntesten  —  die  Ursache  für  das  Auftreten  des 
Asthma  ab.  Letztere  Art  wird  dann  als  A.  idiosynkrasicum  bezeichnet.  Zu 
den  in  letzterer  Zeit  als  prädisponirendes  Moment  für  Asthma  erkannten  Er- 
krankungen gehören  eine  Reihe  von  Affectionen  der  Nase,  besonders 
die  Hypertrophie  der  Schleimhaut  der  unteren  Nasenmuschel  und  die  atro- 
phische Rhinitis,  seltener,  w^enn  auch  der  Zusammenhang  zwischen  Asthma 
und  localer  Erkrankung  ziemlich  sicher  steht,  Mandelhypertrophie  und  Nasen- 
polypen. Auch  nach  angestrengtem  längerem  Sprechen  wird  Bronchialasthma 
beobachtet,  und  oft  bringt  eine  psychische  Emotion  den  Anfall  zum  Ausbruch. 
Für  einzelne  Fälle  scheinen  erbliche  Verhältnisse  vorzuliegen,  w^obei 
z.  B.  die  Erkrankung  mehrere  Geschwister  bei  Freibleiben  deren  Eltern  be- 
treffen kann.  Die  Erkrankung  kann  in  jedem  Lebensalter  auftreten,  ja  sie 
ist  selbst  bei  Kindern  verhältnismässig  sehr  häufig,  namentlich  bei  scrophulösen 
und  anämischen.  Nach  Masern  und  Keuchhusten  ist  der  Percentsatz  der- 
selben ein  grösserer  als  nach  anderen  Kinderkrankheiten.  Männer  erkranken 
in  dem  Maasse,  als  sie  den  verschiedenen  Schädlichkeiten  mehr  ausgesetzt 
sind,  häufiger  als  das  weibliche  Geschlecht. 

In  neuester  Zeit  wird  noch  angegeben,  dass  Asthmakranke,  die  schon 
in  früher  Jugend  von  Anfällen  heimgesucht  wurden,  in  der  Kindheit  fast 
durchgehends  Hautaffectionen  durchgemacht  haben.  Ebenso  verdient 
die  Beobachtung,  dass  bei  Gichtkranken  alternirend  Hautaffectionen  und 
Asthma  auftreten  können,  besondere  Erwägung.  Ueber  das  Wesen  der  Er- 
krankung ist  trotz  der  ungemein  fleissigen  Bearbeitung  dieses  Themas  eine 
einheitliche  Klärung  noch  nicht  erzielt,  zunächst  wohl  deshalb,  weil  der 
pathologisch -anatomische  Befund  meist  ein  spärlicher  ist  und 
wenig  zur  Erklärung  beizutreten  vermag,  andererseits  weil  das  gesammte 
Krankheitsbild  nur  aus  wenigen  Symptomen  sich  zusammensetzt. 

Von  den  ziemlich  zahlreichen  Theorien  sollen  die  wesentlichsten 
angeführt  werden. 

Während  einzelne  Autoren  das  Wesen  des  Asthma  ausschliesslich  in 
einer  Bronchialaffection  suchen,  wobei  die  Einen  einen  chronischen  Katarrh 
der  kleinen  Bronchien  mit  einem  eigens  beschaffenen  zähen  Sputum  oder 
auch  Steigerung  eines  schon  vorhandenen  Katarrhs  anzunehmen  gewillt  sind, 
die  Anderen  wieder  für  die  Entstehung  des  Asthma  durch  Schwellung  und 
Hyperämie  der  Bronchialschleimhaut  —  eventuell  auch  durch  vasomotorische 
Einflüsse  —  eintreten,  wurde  eine  Reihe  von  Klinikern  durch  den  Umstand 
des  plötzlichen,  unerwarteten  Auftretens  der  Anfälle  und  der  Möglichkeit, 
dieselben  medicamentös  (durch  Morphium  und  Chloral)  zu  beeinflussen,  be- 
stimmt, dem  Auftreten  des  Asthma  einen  Krampf  zu  supponiren. 
Und  dieser  Annahme  neigt  jetzt  die  Mehrzahl  der  neueren  Forscher  zu.  Während 


198  •  BRONCHIALASTHMA. 

jedoch  der  eine  Theil  derselben  an  einer  rein  nervösen  Erklärung  des  Asthma 
festhält,  die  in  einem  Krämpfe  der  Bronchien  und  des  Zwerchfelles  bestehe 
(essentielles^  idiopathisches  Asthma)^  legen  die  Anderen  den  Krampf  als  eine 
secundäre  Erscheinung,  auf  der  Basis  einer  Schwellung  oder  Exsudation  in 
den  kleinsten  Bronchien,  aus.  Von  den  Vertretern  beider  Theorien  wird  den 
Vorgängen  in  den  feinsten  Bronchien  das  Hindernis  für  die  erschwerte  In- 
und  Exspiration  zugeschrieben. 

Die  Vertreter  der  ersten  Richtung  der  Krampftheorie,  des  primären 
Bronchialmuskelkrampfes,  führen  für  die  Stichhältigkeit  ihrer  Annahme 
neben  den  zwei  bereits  früher  genannten  Momenten  (plötzliches  Auftreten 
und  medicamentöse  Beeinflussung)  auch  noch  den  Umstand  ins  Feld, 
dass  in  den  anfallsfreien  Intervallen  Krankheitserscheinungen  zu  fehlen 
pflegen.  Nach  deren  Ansicht  genügen  schon  unbedeutende  Hindernisse 
in  den  Alveolen,  um  die  Ventilation  daselbst  zu  stören,  Hindernisse, 
deren  Ueberwindung  leicht  gelingen  könnte,  wenn  der  gesteigerte  Exspira- 
tionsdruck  nicht  auch  die  dünnwandigen  Bronchien  zur  Compression 
brächte.  Die  exspiratorische  Drucksteigerung  in  der  Lunge,  bei  bestehender 
katarrhalischer  Schwellung,  ruft  reflectorisch  den  Krampf  der  Bronchialmuskeln 
hervor.  Das  Herabtreten  des  Zwerchfelles  ist  der  Ausdruck  der  zunehmenden 
Blähung  der  Lunge  bei  möglicher  Inspiration  und  behindertem  Austritte 
der  Luft  aus  derselben. 

Die  Contractilität  der  Bronchialmusculatur  ist  auf  experimentellem  Wege  erkannt 
und  sowohl  manometrisch  als  auch  durch  die  directe  Beobachtung  der  Zusammenziehung 
der  Lunge  nachgewiesen  worden.  Hingegen  hat  die  (experimentelle)  Reizung  des  Vagus, 
in  dessen  Bahnen  die  Fasern  für  die  contractilen  Bronchialmuskeln  verlaufen,  niemals 
Blähung  der  Lunge  ergeben. 

Nach  der  Ansicht  der  Vertreter  der  zweiten  Richtung  ist  der  Katarrh 
allein  nicht  im  Stande,  die  Erscheinungen  des  A.  hinreichend  zu  erklären,  es 
müsse  noch  ein  nervöses  Element  mitwirken.  So  wird  das  A.  einerseits  als 
Catarrhus  acutissimus  mit  Zwerchfellkrampf  (in  Folge  der  Kohlensäure - 
Anhäufung  in  der  Lunge)  aufgefasst,  andererseits  den  Sputumpfröpfen  die 
Ursache  für  die  in-  und  exspiratorische  Athmungsbehinderung  zugeschrieben, 
die  sympathisch  einen  Broncliialmuskelkrampt  hervorrufe;  auch  einem  anderen 
Bestandtheile  des  Sputums,  den  Krystallen,  wird  direct  ein  Reiz,  der  einen 
Krampf  erzeugt,  zugedacht. 

Am  plausibelsten  unter  den  vermittelnden  Theorien  der  Combination 
von  Bronchialaffection  und  Krampf  erscheint  diejenige,  die  nach  Analogie 
der  von  der  Nasenschleimhaut  auslösbaren  reflectorischen  Wirkungen,  deren 
einige  auch  vasomotorischer  Natur  sind  und  oft  recht  weit  von  der  Local- 
affection  entfernte  Gebiete  treffen,  annimmt,  dass  auch  an  der  Schleimhaut 
der  feinsten  und  mittleren  Bronchien  durch  bestimmte  Schädlichkeiten,  die 
direct  die  Schleimhaut  treffen,  so  Kälte  und  Secretanhäufungen  (namentlich 
bei  Nacht),  Hyperämie  reflectorisch  hervorgerufen  werden  könne,  die  von 
der  Absonderung  eines  besonders  zähen  Sputums  {bronchioUtis  exsudativa) 
gefolgt  ist.  Die  A.- Anfälle  werden  also  direct  durch  die  Vorgänge  auf  der 
Bronchialschleimhaut  hervorgerufen.  Es  handelt  sich  also  um  eine  Reflex- 
neurose. Der  Zwerchfelltiefstand  erklärt  sich  durch  die  respiratorischen 
"Widerstände,  ob  durch  Kohlensäureanhäufung,  oder  Reizung  durch  die  Bron- 
chialschleimhaut muss  allerdings  noch  dahingestellt  bleiben. 

Das  Symptomenbild  des  A.,  dessen  Ablauf  auf  die  Lunge  beschränkt 
ist,  setzt  sich  aus  wenigen  Erscheinungen  zusammen.  Der  Asthmaanfall 
beginnt  stets  plötzlich,  meist  bei  Nacht,  ohne  dass  der  Kranke  an  dessen 
Auftreten  vorher  gemahnt  würde.  Nur  ausnahmsweise  künden  Druckgefühle  im 
Halse,  Kehlkopfkitzel  oder  Beklemmung  den  nahenden  Eintritt  der  A.-Anfälle  an. 
Manchmal  sind  leichte  Katarrherscheinungen,  ein  Schnupfen  mit  Verstopfungs- 


BRONCHIALASTHMA.  199 

gefühl  in  der  Nase,  die  Prodrome  des  Anfalls.  Die  Körpertemperatur  pflegt 
die  Norm  nicht  zu  überschreiten.  Die  Athemnoth  entwickelt  sich  rasch,  bald 
tritt  kalter  Schweiss  am  ganzen  Körper  und  Cyanose  der  Haut  und  sicht- 
baren Schleimhäute  auf.  Der  Kranke  ist  selten  im  Stande  während  des 
Anfalls  zu  liegen,  und  kurze  oberflächliche  Inspirationen  wechseln  mit  mühsam 
langen  Exspirationen. 

Dabei  ist  die  Athmungsfrequenz  eher  verlangsamt.  Die  mühsame 
Exspiration  zwingt  den  Kranken  zur  Inanspruchnahme  der  Auxiliär-Musculatur 
für  diese,  indem  er  sich  auf  die  Hände  stützt,  den  Kopf  etwas  nach  rück- 
wärts neigt.  Die  oberen  Thoraxpartien  sind  mehr  an  der  Athmung  betheiligt 
als  die  unteren,  diese  zeigen  ausgeprägte  Einziehungen,  die  Bauchmuskeln 
sind  straff  gespannt.  Auf  der  Höhe  des  Anfalles  ist  lautes  Pfeifen  selbst  auf 
Distanz  zu  hören.  Die  heftige  Dyspnoe  (Orthopnoe)  während  des  oft  bis  zu 
mehreren  Stunden  währenden,  unter  Umständen  aus  rasch  folgenden  Einzel- 
anfällen zusammengesetzten  Anfalles,  nimmt  ziemlich  rasch  ab,  in  der 
folgenden  Zeit  besteht  meist  noch  etwas  Athmungsfrequenzsteigerung.  Der 
Puls  ist  im  Anfall  meist  klein  und  frequenter.  Die  physikalische  Untersuchung 
der  Lunge  ergibt  im  Anfalle  überall  lauten  Schall  —  über  die  Norm  —  und 
bald  nach  Beginn  des  Anfalles  lässt  sich  der  Tiefstand  des  Zwerchfelles 
constatiren,  Auscultatorisch  ist  bei  dem  lauten  Stöhnen  und  Keuchen  der 
Patienten  oft  wenig  wahrzunehmen  und  nur,  wenn  die  Ruhe  etwas  zurück- 
gekehrt ist,  ist  scharfes  Exspirium  mit  Schnurren  und  Giemen  fast  über 
der  ganzen  Lunge  zu  hören.  Gegen  Ende  des  Anfalls  tritt  auch  kleinblasiges 
Ptassein  auf.  Oefter  sind  die  auscultatorisch en  Phänomene  fast  null,  erst  in 
der  dem  Anfalle  folgenden  Zeit  (oft  durch  Tage  und  Wochen)  sind  Erschei- 
nungen eines  Bronchialkatarrhs  zu  constatiren. 

Das  Sputum  wird  selten  auf  der  Höhe  des  Anfalles  expectorirt,  meist 
kommt  dasselbe  gegen  das  Ende  derselben  und  in  der  folgenden  Zeit  zur 
Erscheinung,  die  Menge  ist  selten  beträchtlich. 

Das  Sputum  ist  sehr  zäh,  glasigschleimig  und  enthält  kleine,  weiss- 
liche  Ballen,  die  bei  näherer  Inspection  aus  zusammengerollten  Fäden  und 
Pfropfen  bestehen.  Sie  sind  meist  spiralig  gedreht  und  zeigen  in  ihrem 
Verlaufe  Abzweigungen,  wie  feine  Bronchial-Yerzweigungsausgüsse  und  sind 
auffallend  zähe.  Mikroskopisch  zeigen  sie  meist  zelligen  Einschluss,  stellen- 
weise körnigen  Zerfall  dieser  Zellen  und  spitze  Octaeder  in  w^echselnder 
Menge  und  verschiedener  Grösse.  Diese  (CHARCOT-LETDEN'sc'hen)  Krystalle 
sind  fast  immer  in  diesen  Fäden,  besonders  reichlich  nach  längerem  Stehen 
des  Sputums  zu  finden.  Dieselben  sind  in  Wasser,  Alkohol.  Alkalien  und 
Säuren,  nicht  aber  in  Aether  löslich.  Untersucht  man  die  Fäden  und  Pfropfe 
genauer,  so  findet  man,  dass  sie  aus  spiralig  angeordneten  fasrigen  Gebilden 
(CuRSCHMANN'sche  Spiralen)  bestehen  und  in  ihrem  Inneren  ein  Lumen 
haben,  durch  das  sich  ein  dünner  stärker  lichtbrechender  Faden  zieht. 
(Vgl.   „Sputum  und  SjnUumuntersuclninii^^) 

Schwierigkeiten  für  die  Differentialdiagno.se  des  A.  bronchiale  bestehen 
zunächst  nur  dort,  wo  die  Anfälle  zum  ersten  Male  auftreten.  Von  dem 
cardialen  Asthma  wird  das  bronchiale  durch  die  eigenthümliche  Art  der  üespira- 
tion  —  namentlich  die  langgedehnte  Exspiration  —  durch  den  Zwerchfell- 
tiefstand, die  Sputumbeschaftenheit  und  das  Fehlen  von  cardialen  Symptomen 
zu  trennen  sein.  Bei  rein  laryngealer  Dyspnoe  (Verengerung  der  Stimmritze) 
ist  nicht  die  Exspiration,  sondern  die  Inspiration  langgezogen  und  auch 
Stridor  vorhanden.  Hysterische  Krampfformen  unter  dem  Bilde  des  A.  bieten 
andere  Erscheinungsweisen  (vide  „Hi/sferie''). 

Die  Prognose  ist  je  nach  der  Häufigkeit  der  Anfälle  und  deren  Folge- 
erscheinungen  verschieden   zu   stellen.    Zahlreiche  Wiederholungen  von  An- 


200  BRONCHIALAFFECTIONEN. 

fällen  führen  schliesslich  zu  Emphysem  und  Herzdilatation  und  geben  dann 
eine  ungünstige  Prognose.  Dort,  wo  Asthma  durch  bestimmte  Gelegenheits- 
ursachen erzeugt  wird,  ist  die  Prognose  günstig  zu  stellen. 

Aufgabe  der  Therapie  ist  es,  die  Anfälle  zu  coupiren  und  die  Wieder- 
holung derselben  zu  verhüten.  Dem  erstgenannten  Zwecke  genügt  meist  die 
hypodermatische  Application  von  Morphium  in  der  Dosis  von  0-015 — 0-02. 
Weniger  wirksam  ist  Chloralhydrat  {per  os2-0—3'0  oder  per  ClijsmaA'O — 6'0). 
Bei  mangelndem  Erfolge  von  Morphium  und  Chloral  können  Chloroform-  und 
Methylenhichlorid-  (letzteres  allein  oder  mit  Chloroform)  Einathmungen  ver- 
sucht werden.  Ebenso  Amyhiitrit  (3 — 6  Tropfen)  oder  Jodäfhijl  (10 — 15 
Tropfen  mehrmals  täglich)  oder  Pyridin  (6 — 12  Tropfen).  Nichtrauchern  ver- 
schafft öfters  das  Rauchen  einer  Cigarette  eine  Erleichterung.  Räucherungen 
mit  Stramonium  und  Belladonnablättern,  die  in  Salpeter  getränkt  oder  mit 
Salpeterpapier  allein,  bewähren  sich  öfter  ganz  gut,  ebenso  kann  auch  Ärsenik- 
papier-Uäncherung  {l'O  arseniksaures  Kali  auf  lo'O  Äqu.  dest.,  in  welcher 
Lösung  Fliesspapier  getränkt  und  nachher  getrocknet  wird)  versucht  werden. 
(Asthma-Cigaretten).  Auch  Hyoscinum  hydroiodicum  subcutan  Vi — ^k  '*^9  W^ 
dosi  soll  manchmal  Dienste  leisten,  während  Ammoniakinhalationen  von 
Asthmatikern  meist  abgelehnt  werden. 

Bei  hartnäckigen  Anfällen  sind  Brechmittel  am  Platze,  doch  muss  auf 
die  Intactheit  des  Gefässapparates  Rücksicht  genommen  werden.  Um  die 
Wiederholung  der  Anfälle  zu  verhüten,  sind  Patienten  der  nördlichen  Ge- 
genden in  ein  mildes  südliches  Klima  zu  bringen,  oft  genügt  schon  Wechsel 
des  Aufenthaltsortes  überhaupt,  dieses  Ziel  zu  erreichen.  Den  Kranken  sind 
Vermeidung  von  Erkältungen,  unter  Umständen  kalte  Abreibungen,  im 
Sommer  See-  auch  Soolenbäder^  sowie  alkalische  Wässer  (Ems,  Selters,  Karls- 
bad), namentlich  bei  chronischem  Bronchialkatarrh,  und  Gebrauch  der  pneu- 
matischen Kammer  mitEinathmung  verdichteter  und  Ausathmung  in  verdünnte 
Luft  zu  empfehlen  (s.  „Pneumatotherajne^'),  hei  n?iSSL\QY  Aetiologie  ent- 
sprechende Behandlung  des  Grundleidens,  im  Anfalle  Pinselung  der  Nasen- 
schleimhaut mit  Cocain  (l'O  auf  20-0)  empfohlen. 

Viel  gerühmt  wird  die  Jod-Therapie,  eventuell  mit  gleichzeitigem  Ge- 
brauche von  Kochsalz- und  kohlensaurem  Natroninhalationen  (aa  1  "0—200,  zweimal 
täglich;  dann  Pillen  von  Ejctr.Belladonnae  u.  Pidv.  r.  Belladonnae  aa  O'OI,  von 
welchen  an  dgn  ersten  3  Tagen  je  1,  am  4.,  5.  und  6,  Tage  je  2,  vom  7. 
bis  10.  Tage  je  3  am  Abend  genommen  werden;  die  folgenden  10  Tage 
3raal  täglich  1  Esslöffel  Syrupus  terebinth,  den  Rest  des  Monates  Arsenik- 
cigaretten  und  überdies  alle  20  Tage  ein  Decoct  von  4-0  Cort.  chin.  calis. 
in  Kaffee  auf  nüchternem  Magen. 

Oder  Kcd.  jodat.  PO — 2-0  pro  die  durch  14  Tage,  dsiun  Fol.  Belladonn., 
Extr.  Belladonn.  aa  0-2,  Pulv.  liqu.  ft.  pil.  Nr.  20  täglich  V2 — 1  Pille,  dazu 
täglich  von  Natr.  arsenicos.  0'05  ad  Aqu.  60-0  1  Esslöffel. 

Gute  Erfolge  wurden  noch  beobachtet  von:  Besorcin  rO  bei  Beginn 
des  Anfalls  und  Antipyrin  1*75  nach  zweimaligem  Gebrauche. 

Schliesslich  wird  noch  der  Gebrauch  von  folgender  Mixtur  empfohlen : 

Rp.     Kai.  jodat. 
Tr.  iobel. 
f  Tr.  polijgal.  '^j^  10-0 

Extr.  opii  0-1 
Äqa.  dest.  900  0. 
MDS.     Mittags  und  Abends  1  Esslöffel  auf  ^/^   Glas  Wasser.  H.  v.  F. 

Bronchialaffectionen.  Unter  dieser  Ueberschrift  sollen  die 
Bronchitis  catarrhalis,  ferner  die  putride  Bronchitis,  sowie  die  BroncM- 
ectasie    und    endlich    auch    die    Broyichopneumonie     gemeinsam     behandelt 


BRONCHIALAFFECTIONEN.  201 

werden,  Affectioiien  der  Bronchialschleimhaut  und  ihres 
Stützgewebes,  welche  sowohl  klinisch  eng  zusammengehören,  als  auch 
ätiologisch  und  anatomisch  genug  Berührungspunkte  bieten. 

Die  Bronchitis  (BronchialkatarrJi),  von  welcher  man  die  Tracheitis  als 
hcäufigste  Begleiterscheinung  kaum  ganz  trennen  kann,  ist  eine  katarrhali- 
sche Entzündung  der  Schleimhaut  der  Luftwege,  welche  wie  alle  Schleim- 
hautkatarrhe aus  mehr  oder  minder  starker  arterieller  oder  venöser  Hyper- 
ämie, oberflächlicher  oder  tiefer  greifender  Schwellung  der  Schleimhaut 
und  abnormer  Secretion  der  Schleimdrüsen  besteht.  Je  nach  dem  raschen 
oder  langsamen  Verlauf  und  je  nachdem  die  entzündlichen  Vorgänge  au 
dei'  Schleimhaut  zu  leichteren,  vorübergehenden  oder  schwereren  an- 
dauernden, zum  Theil  hypertrophischen  Veränderungen  geführt  haben,  unl;er- 
scheidet  man,  wie  bei  den  meisten  entzündlichen  Affectionen,  acute  und 
chronische  Formen,  die  jedoch  vielfach  ineinander  übergehen.  Wichtiger 
ist  die  auf  die  ätiologischen  Momente  Rücksicht  nehmende  Unterscheidung 
einer    primären    und    einer    secundären    Bronchitis. 

Ursachen.  Das  ätiologische  Verhalten  der  primären  Bronchitis 
ist  durchaus  nicht  so  aufgeklärt,  als  man  es  bei  einer  so  häufigen  Krankheit 
erwarten  sollte.  Dieselbe  galt  und  gilt  noch  jetzt  vielfach  als  eine  echte 
Erkältungskrankheit.  Was  man  aber  unter  Erkältung  versteht,  ist 
trotz  vielfacher  Aufklärungsversuche  noch  ziemlich  dunkel.  Dass  die  Kranken 
mit  Bronchialkatarrhen  gewöhnlich  eine  „Erkältung"  als  Ursache  angeben, 
ist  sicher,  aber  ebenso  sicher  ist  meiner  Erfahrung  nach,  dass  gerade  nach 
ausgeprägten  Abkühlungen  oder  Durchnässungen  nur  ganz  ausnahmsweise 
das  Auftreten  einer  Bronchitis  beobachtet  wird.  Es  ist  daher  nicht  ganz 
ausgeschlossen,  dass  die  Empfindung  des  „Sich  erkälten"  vielfach  die 
Folge  der  erhöhten  Empfindlichkeit  bei  schon  beginnender  Erkrankung, 
nicht  die  Ursache  der  letzteren  ist.  Damit  soll  nicht  geleugnet  werden, 
dass  starke  Abkühlungen  zu  Bronchitis  disponiren.  Am  wahrschein- 
lichsten sind  zahlreiche  Fälle  von  acuter,  primärer  Tracheobronchitis 
einschliesslich  der  Coryza,  der  Angina  und  dei  Laryngitis  als  Inf  e  ctions- 
krankheiten  aufzufassen.  Dafür  spricht  das  gehäufte  Auftreten  zu 
gewissen  Zeiten,  besonders  Anfang  und  Ende  des  Winters,  das  gleich- 
zeitige oder  kurz  nacheinander  Erkranken  zahlreicher  Mitglieder  der- 
selben Familie,  sowie  der  cyklische  Verlauf.  Ein  specifischer,  pathogener 
Mikroorganismus  ist  freilich  noch  nicht  nachgewiesen.  Sicher  ist  dagegen 
die  schädliche  Einwirkung  mancher  Gase  und  Dämpfe,  wie  Chlor,  Salz- 
säure^ Brom,  Jod,  rothe  Dämpfe  etc.,  weshalb  Chemiker  und  Arbeiter 
in  chemischen  Fabriken  häufig  an  acuten  und  chronischen  Katarrhen 
erkranken.  Ebenso  unzweifelhaft  ist  die  nachtheilige  Einwirkung  des 
Staub  es  auf  die  Schleimhaut  der  Luftwege,  indem  Arbeiter,  welche  in 
staubiger  Atmosphäre  (mineralischem  und  besonders  vegetabilischem  Staub) 
sich  aufhalten  müssen,  gewöhnlich  an  chronischer  Bronchitis  leiden.  Dass 
gröbere  Fremdkörper  ebenfalls  Katarrhe  erzeugen  können  oder  organische 
Substanzen  (Speisen),  welche  in  grösseren  Partikeln  in  die  Bronchien 
gelangen  und  sich  da  zersetzen,  zu  katarrhalischer,  beziehungsweise  putrider 
Entzündung  Veranlassung  geben  können,  ist  selbstverständlich  (Asplrations- 
bronchitis,  beziehungsweise  P?ieumonie). 

Kaum  minder  gross  als  die  Zahl  der  primären  Katarrhe  ist  die  der 
secundären.  Fast  jede  acute  Erkrankung  (MaserN,  Keuchhusten, 
Influenza,  Darmtgphus,  Miliartuberculose,  Pleuritis,  Pochen  etc)  geht  mehr 
oder  minder  regelmässig  mit  acuten  Bronchialkatarrhen  einher.  Ebenso 
sind  zahlreiche  chronische  Krankheiten  zunächst  der  Lungen  (wie  das 
Emphysem,   welches  Ursache  und  Folge   des  Bronchialkatarrhs   sein  kann), 


202  BRONCHIALAFFECTIONEN. 

dann  des  Herzens,  bei  dem  die  Stauung  im  Lungenkreislauf  die  begün- 
stigende Ursache  ist,  weiter  die  der  Nieren,  ferner  die  Anämie,  Rhachitis, 
Skrophulose  und  viele  andere  häufig  von  chronischen  Bronchialkatarrhen 
begleitet.  Insbesondere  gibt  es  wohl  kaum  eineL  u  n  g  e  n  t  u  b  e  r  c  u  1  o  s  e,  welche 
nicht  mit  katarrhalischen  Erscheinungen  seitens  der  Bronchien  einherginge. 
Unter  die  secundären  Bronchitiden  sind  wohl  auch  die  toxischen  zu 
rechnen,  welche  nach  innerer  Darreichung  von  Jod  und  Brom  beobachtet 
werden. 

Als  disponirend  für  Katarrhe  der  Bronchien  darf  man  schwäch- 
liche Constitution,  ungünstige  hygienische  Verhältnisse,  Verweichlichung 
oder  Mangel  jeder  Schonung  ansehen.  Vielleicht  ist  auch  Vererbung  einer 
gewissen  Disposition  im  Spiel.  Wenigstens  beobachtet  man  zuweilen  die 
Neigung  zu  Katarrhen  in  mehreren  Generationen,  auch  wenn  Tuberculose 
sicher  auszuschliessen  ist.  Kinder  vor  der  Schulpflicht,  sowie  ältere  Leute 
dürften  mehr  disponirt  sein  als  die  zwischenliegenden  Lebensalter. 

Erscheinungen.  Der  Verlauf  ist  je  nach  der  Art  der  Ursache 
und  der  acuten  oder  chronischen  Form  ein  sehr  verschiedener. 

Der  acute  primäre  Katarrh  kann  sehr  plötzlich  beginnen.  Bald 
fängt  er  gleich  mit  trockenem  Husten,  wundem  Gefühl  längs  der  Trachea, 
Fiebererscheinungen  als  echte  Tracheohr onchüis  an,  oder  er  beginnt  als 
Schnupfen  oder  mit  Kratzen  und  Trockenheit  im  Halse,  als  Angina,  oder 
mit  Heiserkeit  und  Kitzeln  im  Kehlkopf  als  Laryngitis  und  schreitet  erst 
nachträglich  auf  die  tieferen  Luftwege  fort  (descendirende  Form).  Das 
Sputum  ist  im  Anfang  spärlich,  glasig,  zellenarm,  zäh,  schwer  zu  expec- 
toriren.  Nach  einigen  Tagen  wird  es  reichlicher,  dünnflüssiger,  zellenreich, 
schleimig  eiterig  und  der  Husten  klingt  trocken.  Die  objectiven 
Erscheinungen  an  der  Brust  richten  sich  nach  der  vorwiegenden  Lo- 
calisation  des  Katarrhs,  sowie  nach  der  Schwere  und  dem  Stadium 
desselben.  Häufig,  wenn  der  Katarrh  nur  die  gröberen  Luftwege  befällt, 
und  gewöhnlich  im  Anfang,  fehlt  jedes  a  u  s  c  u  1 1  a  t  o  r  i  s  c  h  e  Zeichen 
oder  man  hört  vereinzeltes  Schnurren  an  der  Brust  und  dem  geöffneten 
Munde.  In  den  späteren  Stadien,  wenn  das  Secret  flüssiger  wird, 
findet  man  mittel-  und  grossblasige,  feuchte  Rasselgeräusche. 
Sind  dagegen  die  feineren  Bronchien  ergriften  {Bronchiolitis,  Bronchitis 
cajnllaris),  so  nimmt  man  an  der  ganzen  Brust  hohe,  pfeifende,  durch 
Verengerung  der  kleinen  Bronchien  bedingte  S  t  e  n  o  s  e  n  geräusche  (Rhonchi 
sibilantes)  oder  im  späteren  Verlauf  feinblasige,  feuchte  Rasselgeräusche 
wahr.  Fieber  besteht  gewöhnlich  nur  im  Anfange  und  hat  keinen  bestimmten 
Typus.  Beim  Erwachsenen  ist  es  selten  hoch.  Dementsprechend  sind 
auch  die  von  der  Temperaturerhöhung  abhängigen  Erscheinungen  vonseiten 
des  Nervensystems  gering.  Auch  auf  die  Athemthätigkeit  und  die  Circulation 
hat  die  Erkrankung  in  späteren  Jahren  gewöhnlich  nur  massigen  Einfluss. 
Bei  Kindern,  besonders  in  dem  ersten  Lebensjahre,  zeigt  die  Krankheit 
häufig  einen  anderen  Charakter.  Sie  beginnt  mit  beträchtlicher  Temperatur- 
erhöhung, deren  rascher  Anstieg  von  Erbrechen  oder  bei  ganz  kleinen 
Kindern  von  Convulsionen  begleitet  sein  kann.  Auch  sonst  treten  heftige 
Erscheinungen,  quälender  Husten,  Dyspnoe,  Pulsbeschleunigung  auf,  und  das 
Fieber  kann  sich  tagelang  auf  der  Höhe  von  39 — 40  o  C.  halten. 

Die  grösste  Gefahr  kann  hier  die  Bronchitis  bringen,  wenn  sie  die 
kleinsten  Bronchien  von  vorn  herein  befällt  oder  auf  dieselben  übergeht. 
Im  Anfang  unter  reichlichen  sibilirenden  Rasselgeräuschen  und  bei  Ver- 
flüssigung des  Bronchialsecrets  unter  weit  verbreitetem  klein-  und  mittel- 
blasigem, feuchtem  Rasseln  steigert  sich  die  x\.themnotli  immer  mehr, 
inspiratorische    Einziehung     des    Epigastriums    und    des    unteren    Thorax- 


BRONCHIAL  AFFECTIONEN.  203 

abschnittes  tritt  auf,  ganz  ähnlich  wie  bei  Kehlkopfstenosen  und  es  kommt 
zu  starker  Cyanose  und  heftiger  Unruhe.  Unter  Oberflächlicherwerden 
der  Athmung,  Zunehmen  der  Somnolenz,  livider  Färbung  der  Haut  und 
Collapserscheinungeu  kann  der  Tod  erfolgen,  auch  ohne  dass  weitere 
Complicationen  dazu  kommen.  Bei  den  secundären  acuten  Bronchitiden 
können  die  Erscheinungen  in  der  oben  geschilderten  Weise  verlaufen, 
werden  aber  gewöhnlich  durch  die  der  Grundkrankheit  mehr  oder  minder 
zurückgedrängt. 

Die  Erkennung  der  acuten  Bronchitis  ist  in  der  Mehrzahl  der 
Fälle  leicht.  Man  darf  im  Allgemeinen  sagen,  dass,  wenn  ein  Bronchial- 
katarrh besteht,  derselbe  auch  in  der  Regel  erkannt  wird.  Anders  umge- 
kehrt. Besonders  bei  fieberhaften  Krankheiten  der  Kinder  wird  häufig  in 
der  Praxis  darauf  hin,  dass  die  Kinder  etwas  husten  und  sonst  nichts 
nachweisbar  ist,  die  Diagnose  auf  Bronchitis  gestellt,  ohne  sicher  begründet 
zu  sein.  Bronchitis  ist  daher  ein  Sammelbegriff  geworden,  unter  dem 
viele  acute  Störungen  subsummirt  werden,  ohne  eigentlich  dazu  zu  gehören ; 
so  z.  B.  leichte,  ähnlich  den  acuten  Infectionskrankheiten  verlaufende 
Störungen  des  Wohlbefindens  von  Kindern  ohne  nachweisbare  Localisation. 
Ferner  können  die  croupöse  Pneumonie,  eine  beginnende  Pleuritis,  Masern. 
Magen-  und  Darmstörungen  im  Anfang  für  Bronchitis  gehalten  werden, 
bis  der  Verlauf  die  Sache  aufklärt.  Bei  Erwachsenen  wie  Kindern  kann  eine 
acute  Tuberculose  der  Lungen  im  Anfang  oft  für  eine  unschuldige  Bronchitis 
gehalten  werden. 

Der  Verlauf  und  die  Dauer  der  Krankheit  sind  sehr  verschieden. 
Zuweilen  gehen  die  Erscheinungen  schon  nach  wenigen  Tagen  im  Wesent- 
lichen zurück,  während  bei  schwereren  Fällen  die  Krankheit  mehrere 
Wochen  anhält.  Der  gewöhnliche  Ausgang  in  Genesung  kann  bei  Vernach- 
lässigung durch  den  in  chronische  Bronchitis  ersetzt  werden.  Bei  Kindern, 
zumal  im  ersten  Lebensjahre,  ist  die  Prognose  in  schweren  Fällen,  insbe- 
sondere bei  capillärer  Bronchitis,  immer  vorsichtig  zu  stellen.  Die  Gefahr 
des  Ueberganges  in  die  katarrhalische  Pneumonie  droht  kleinen  Kindern 
und  Greisen  vornehmlich. 

Die  chronische  Bronchitis  tritt  in  der  Ptegel  als  secundäre 
Erkrankung  bei  zahllosen  chronischen  Erkrankungen  auf  oder  entwickelt 
sich  aus  der  acuten.  Die  primäre  Form  bildet  sich  infolge  von  mecha- 
nischen und  chemischen  Schädlichkeiten  aus. 

Die  Erscheinungen  der  chronischen  Bronchitis  sind  ausserordent- 
lich verschieden  je  nach  der  Schwere  und  der  LTrsache.  Vom  leichten 
besonders  morgendlichen  Husten  und  massigen  schleimigeiterigen  Auswurf 
bis  zu  den  heftigsten  Hustenparoxysmen  bei  starker  Dyspnoe  oder  asthma- 
tischen Anfällen,  massenhaften,  schnurrenden,  pfeifenden,  rasselnden 
Geräuschen,  besonders  an  den  hinteren  und  unteren  Partien  des  Thorax, 
mit  entweder  sehr  zähem,  spärlichem  Auswurf  (trockenem  Katarrh,  catarrhe 
sec)  oder  reichlichem,  schleimigeiterigem  oder  rein  eitrigen  Sputum  (BroncJw- 
hlenorrhoe)  finden  sich  alle  nur  möglichen  Uebergänge.  Fieber  und  erheb- 
liche Schädigung  in  der  Ernährung  fehlt  in  der  Ptegel.  Eine  eigenthümliche, 
seltene,  in  ihrem  Wesen  noch  nicht  recht  aufgeklärte  Form  ist  die  seröi^e 
BroncJiorrhoe,  der  pituitöse  Katarrh  Laennec's,  bei  der  unter  heftigen  dys- 
pnoetischen  und  Hustenanfällen  eine  ungeheure  Menge  farbloser,  faden- 
ziehender, zellenarmer  Flüssigkeit  selbst  bis  zu  mehreren  Pfunden  im  Tag 
expectorirt  werden  kann. 

Bei  der  Diagnose  des  gewöhnlichen  chronischen  Bronchialkatarrhs 
hat  man  sich  besonders  sorgfältig  vor  Verwechslung  mit  der  Lungen- 
tuberculose    zu    hüten.    Es   gibt  ja   gewiss  Fälle  genug,   in  denen  dem 


204  BRONCHIALAFFECTIOXEN. 

Geübten  die  Unterscheiclimg  bei  der  ersten  Untersuchung  gelingt.  Aber 
trotzdem  muss  die  Regel  gelten,  jeden  Kranken  mit  anhaltenden  bronchi- 
tischen  Erscheinungen  für  tuberculös  zu  halten,  bis  das  Gegentheil  bewiesen 
ist.  Immer  wieder  percutire  man  die  Lungenspitzen,  suche  man  nach  speciell 
auf  die  Spitzen  localisirtem  Rasseln,  lasse  man  regelmässige  Temperatur- 
messungen vornehmen  und  ganz  besonders  fahnde  man  so  oft  als  möglich 
auf  Bacillen  im  Auswurf. 

Wenn  das  Bronchialsecret  durch  das  Eindringen  von  Fäulniserregern 
in  die  Bronchien  sich  zersetzt  und  den  fauligen  Charakter  annimmt,  so 
bezeiclmet  mau  dies  als  fötide  oder  putride  ßroncliitis.  Dieselbe  kann 
sich  an  Lungengangrän  oder  ein  in  die  Lungen  durchgebrochenes  jauchiges 
Empyem  anschliessen  oder  sie  bildet  sich  beim  Stagniren  des  Secrets  in 
Bronchialerweiteruugen  aus  oder  sie  kann  sich  durch  Aspiration  von  Speisen, 
welche  in  Fäulnis  tibergehen,  entwickeln.  In  diesem  letzteren  Fall  kann 
sie  auch  ihrerseits  wieder  zu  Lungengangräu  führen.  Ein  bestimmter  Mikro- 
organismus als  Krankheitserreger  ist  nicht  mit  Sicherheit  nachgewiesen, 
man  darf  aber  wohl  die  Fäulnisbacterien  überhaupt  verantwortlich 
machen.  Die  Schleimhaut  der  Bronchien  befindet  sich  gewöhnlich  im  Zustand 
starker  Entzündung,  zuweilen  mit  brandigen  oder  geschwürigen  Stellen ;  die 
Wandung  ist  gewöhnlich  verdickt,  das  Lumen  erweitert.  Von  den  Erschei- 
nungen ist  die  charakteristischste  der  stinkende  Auswurf,  der  sich  meistens 
allmählich  zu  dem  der  gewöhnlichen  Bronchitis  hinzugesellt.  Nicht  selten 
zeigt  die  Ausathmungsluft  oder  das  eben  entleerte  Sputum  den  üblen  Geruch 
deutlicher  als  der  Auswurf  in  der  Spuckschale.  Die  Ursache  des  Fötors  ist 
in-flüchtigen  Fettsäuren,  zuweilen  Ammoniak  und  Schwefelwasserstoff  gefunden 
worden.  Sammelt  man  den  Auswurf,  so  setzt  er  sich  in  drei  Schichten 
ab,  eine  oberste  schaumige,  undurchsichtige,  schleimigeitrige,  eine  mittlere, 
grünliche,  durchsichtige,  seröse  und  eine  untere  rein  eitrige.  In  letzterer 
befinden  sich  kleine,  bis  hanfkorngrosse  und  grössere,  gelblichweisse  oder 
graue,  stark  riechende  Pfropfe  (DiTTEicn'sche).  welche  entweder  aus 
Eiterzelleu  oder  aus  Eiter,  Körnchenmassen,  sowie  Fettröpfchen-  und  Nadeln 
bestehen.  Fieber  von  verschiedener  Höhe,  zuweilen  mit  Schüttelfrösten, 
Appetitlosigkeit,  quälender  Husten  und  Athemuoth  begleiten  den  Process. 
An  der  Brust  brauchen  keine  anderen  physikalischen  Erscheinungen  als 
die  der  geM'öhnlichen  Bronchitis  aufzutreten,  falls  dieselben  nicht  durch 
die  Grundkrankheit  (Phthisis,  Lungengangrän),  oder  durch  Complicationen 
(Pneumonie,  Pleuritiden)  bedingt  sind. 

Die  Diagnose  ist  im  ganzen  leicht.  Natürlich  muss  man  den  fötiden 
Charakter  stets  an  dem  frisch  ausgehusteten  Sputum  feststellen  und  sich  nicht 
etwa  durch  nachträgliche  Fäulnis  desselben  im  Speiglas  täuschen  lassen. 
Schwierig  ist  nur  die  sichere  Unterscheidung  von  der  Lungengangräu.  welche 
überdies  häufig  als  Ursache  oder  Folge  die  fötide  Bronchitis  begleitet.  Das  Vor- 
handensein von  elastischen  Fasern,  falls  dasselbe  nicht  auf  gleichzeitiger  ulce- 
röser  Luugenphthise  beruht  (Tuberkelbacillen),  spricht  mit  Sicherheit  für  Gan- 
grän und  noch  mehr  der  Nachweis  von  Luugengewebsfetzeu.  Das  Fehlen  der- 
selben beweist  aber  natürlich  nicht  die  Abwesenheit  von  Lungenbraud.  da  erstens 
dieselben  nicht  immer  dem  Auswurf  beigemischt  zu  sein  brauchen,  und  zweitens, 
selbst  wenn  sie  darin  vorkommen,  durch  ein  in  demselben  nachgewiesenes 
trypsinartiges  Ferment  verdaut  werden  können. 

Der  Verlauf  ist  je  nach  Ursache  und  Kräftezustand  ein  schneller 
oder  langsamer,  zuweilen  ein  über  Monate  und  Jahre  protrahirter.  Immer 
ist  die  putride  Bronchitis  als  eine  ernste  Erkrankung  anzusehen,  welche 
zwar  ausheilen,  aber  auch  allein  für  sich  nach  Art  aller  jauchigen  Processe 
durch  Kräfteverfall  den  Tod  herbeifiihren  kann. 


BRONCHIALAFFECTIONEN.  205 

Die  Broiichiektasie  {Broncliialenceiterung)  ist  eine  chronische  Ver- 
änderung, welche  sich  theils  in  Folge  einer  Einbusse  der  ganzen  Bronchial- 
wand an  Widerstandskraft  und  Elasticität  unter  dem  Exspirationsdruck 
ausbildet,  theils  durch  Schrumpfungsprocesse  in  der  Umgebung  der  Bronchien 
herbeigeführt  wird,  vielleicht  auch  innerhalb  des  Bereichs  eines  verstopften 
Bronchus  durch  Anhäufung  reichlichen  Secrets  entstehen  kann.  Bei  der 
ersteren  Entstehungsweise  kommt  es  gewöhnlich  zu  cylindrischen,  in  den 
letzten  beiden  Fällen  zu  sackförmigen  Erweiterungen  der  Luftwege.  Bei 
diesen  verschiedenen  Arten  der  Entwickelung  von  Bronchiektasien  spielen 
hartnäckige  Bronchitiden,  interstitielle  chronische  Pneumonien,  narbige 
Schrumpfungen  des  Lungengewebes  und  der  Pleura  naturgemäss  eine  Rolle. 
Der  Zustand  kommt  übrigens  auch  congenital  vor.  (Grav^itz.) 

Die  Erweiterungen  der  mittleren  und  feineren  Bronchien  können  die 
ganze  Lunge  durchsetzen  oder  nur  an  einzelnen  Stellen  zu  finden  sein. 
Ihre  Form  ist  entweder  die  cylindrische  beziehungsweise  spindelige  oder 
die  sackartige.  Die  Wand  der  cylindrischen  ist  meist  ausgebuchtet  und 
lässt  auf  der  Innenfläche  ringförmig  oder  schräg  verlaufende  Leisten,  die 
erhaltenen  Muskelzüge,  erkennen.  Die  Schleimhaut  ist  häufig  atrophisch, 
zuweilen  erhalten,  seltener  mit  papillären  Wucherungen  besetzt.  An  den 
sackförmigen  Ektasien  sieht  man  dieselben  Veränderungen,  häufig  aber 
Verdickungen  der  Wand  einer-  und  Geschwulstbildung  andererseits.  Schreitet 
der  geschwürige  Zerfall  auf  das  Lungengewebe  fort,  so  bilden  sich  ulceröse 
bronchiektatische  Cavernen.  Der  centripetale  (zuführende)  Theil  des  Bronchus 
mündet  gewöhnlich  ofl'en  in  die  Höhle,  während  der  centrifugale  (abführende) 
meist  verschlossen  ist.  Sind  beide  obliterirt,  so  ensteht  eine  Cyste. 

Die  Erkrankung  entwickelt  sich  allmählich  und  ist  von  sehr  lang- 
wierigem, Jahre  und  Jahrzehnte  dauerndem  Verlauf.  Lange  Zeit  bietet  sie 
nur  die  Erscheinungen  einer  chronischen  Bronchitis.  Die  Zunahme  des 
Auswurfs,  welcher  oft  sehr  massenhaft  wird,  lenkt  zuerst  die  Aufmerksam- 
keit auf  das  Leiden.  Dabei  findet  die  Expectoration  gewöhnlich  nur  ein 
paar  Mal  im  Tage  statt,  es  wird  aber  mit  einem  einzigen  Hustenstoss  ein 
ganzer  Mund  voll  eines  dicken,  meist  eitrigen,  oft  unangenehm  oder 
faulig  riechenden,  rahmartigen,  selten  geballten  Auswurfes  entleert. 
Häufig  tritt  dies  Aushusten  reichlichen  Sputums  nur  in  einer  bestimmten 
Körperstellung  ein,  beispielsweise  bei  hauptsächlichem  Sitz  auf  der  einen 
durch  Lagerung  auf  die  entgegengesetzte  Seite,  bei  Localisation  in  den 
untersten  Partien  durch  Vornüberbeugen.  Die  Schleimhaut  der  erweiterten 
Bronchien  ist  eben  unempfindlich  gegen  das  stagnirende  Secret  geworden ; 
fliesst  dasselbe  aber  in  die  Bronchien  mit  normal  erregbarer  Schleimhaut 
hinein,  so  wird  Husten  und  Expectoration  ausgelöst.  Sammelt  man  das 
Sputum  in  einem  Glas,  so  setzt  es  sich,  wie  bei  der  putriden  Bronchitis 
in  drei  Schichten  ab.  Um  von  denen  der  einfachen  Bronchitis  abweichende 
physikalische  Erscheinungen  zu  machen,  müssen  die  Bronchialerweite- 
rungen schon  ziemlich  gross  oder  reichlich  oder  der  Oberfläche  sehr  nahe 
gelegen  sein,  wenigstens  wenn  sie  die  im  wesentlichen  einzige  Veränderung 
darstellen.  Wir  hören  alsdann  an  bestimmten  Stellen  des  Thorax  besonders 
in  den  unteren  hinteren  Partien  reichliche,  feuchte,  mehr  oder  weniger 
klingende,  grossblasige  Rasselgeräusche.  Das  Spärlicherwerden  oder  V  e  r- 
schwinden  des  Rasseins  nach  einer  reichlichen  Expectoration  und 
die  c  0  n  s  t  a  n  t  e  Wiederkehr  desselben  an  der  n  ä  m  liehen  Stelle 
spricht,  wenn  vorhanden,  sehr  für  Bronchialerweiterungen.  Grosse,  ober- 
flächlich gelegene  oder  von  verdichteten  Geweben  umgebene,  sackartige 
Erweiterungen  (bronchiektatische  Cavernen)  geben  nach  der  Entleerung 
die    bei    den    phthisischen    Cavernen    bekannten    physikalischen    Höhlen- 


206  BROXCHIALAFFECTIOXEX. 

Symptome  (Tumpanitischer  Schall,  'Wi^sTRICR  scher  SchalltrechseJ,  BronchiaJ- 
oder  mefallisches  Athmefi),  doch  nicht  die  für  tuberculöse  Caverueu  charak- 
teristischen Bacillen  und  elastischen  Fasern.  Dass  bei  Complicatiouen  mit 
ausgedehnten  Yerdichtungs-  und  Schrumpfungsprocessen  auch  Dämpfungen 
beziehungsweise  Bronchialathmen  auftreten,  ist  selbstverständlich.  Athem- 
noth  ist  ein  gewöhnlicher  Begleiter  der  Erkrankung,  der  von  der  Ver- 
minderung der  Athmungsoberfläche  durch  das  Grundleiden  oder  die  mit 
Secret  erfüllten  Bronchien  abhängig  ist.  Cyanose  trifft  man  daher  häufig. 
Die  Nagelglieder    der    Finger    sind    kolbig    aufgetrieben  (TromineJschlägel). 

Fieber  fehlt,  wenn  es  nicht  durch  die  Grundkrankheit  oder  Com- 
plicationen  bedingt  wird.  Ueberhaupt  ist  bei  mangelnden  Complicationen 
ein  Einfluss  der  Erkrankung  auf  die  Gesammt  er  nährung  in  der  Regel 
nicht  zu  bemerken.  Nicht  selten  steht  der  abscheuliche,  massenhafte 
Auswurf  im  lebhaften  Contraste  zu  dem  blühenden  Aussehen  der  Krauken, 
Eine  Hypertrophie  des  rechten  Ventrikels  gleicht  oft  für  lange  Zeit  die 
respiratorischen  und  circulatorischen  Störungen  in  der  Lunge  aus.  Schliesslich 
erlahmt  der  Ventrikel  und  unter  Cyanose  und  Ödemen  erliegen  die 
Kranken  der  Herzmuskelinsufficienz.  Auch  zunehmende  Vereiterung  oder 
GangTän  der  Lunge,  complicirende  Pneumonien,  Hirnarterienembolien  etc. 
können  den  tödtlichen  Ausgang  bedingen. 

Die  Diagnose  ist  in  ausgeprägten  Fällen  auf  Grund  der  ;.maul- 
vollen"  Expectoration,  des  dreischichtigen  Sputums,  des  localisirten.  nach 
dem  Aushusten  verschwindenden  Piasseins,  besonders  in  den  unteren  Lungen- 
partien und  der  Höhlensymptome  mit  Sicherheit  zu  stellen.  Am  wichtigsten 
ist  die  Unterscheidung  von  Tuberculöse,  zumal  auch  bei  dieser  Er- 
krankung Bronchialerweiterungen  häufig  genug  vorkommen.  Der  Nachweis 
der  Tuberkelbacillen  oder  elastischer  Fasern  ist  dabei  entscheidend.  Doch 
beweist  das  Fehleu  der  Bacillen  in  dem  bronchiectatischen  Sputum  nicht 
immer  die  Abwesenheit  tuberculöser  Erkrankung.  Denn  in  dem  reichlichen 
Auswurf  des  Bronchiectatikers  fällt  es  oft  schwer,  die  aus  einem  tuber- 
culösen  Herd  etwa  beigemischten  Bacillen  zu  finden.  Dann  ist  man  bei  der 
DiiTerentialdiagnose  auf  die  für  die  Lungenschwindsucht  sprechenden  Mo- 
mente des  hektischen  Fiebers,  der  raschen  Abmagerung  und  der  vorwie- 
genden Lokalisation  in  den  Oberlappen,  eventuell  die  Impfung  eines  Thieres 
mit  dem  Sputum,  angewiesen.  Vor  Verwechslung  mit  Lungen gangr an 
und  Lungena  bscess  schützt  der  schwere,  fieberhafte,  meist  rasche  Ver- 
lauf dieser  Krankheiten  und  eventuell  der  Nachweis  von  Lungen gewebs- 
fetzen.  Von  der  putriden  Bronchitis  ist  die  Bronchialerweiterung 
häufig  schon  deshalb  nicht  zu  unterscheiden,  weil  sie  mit  derselben  nicht 
selten  einhergeht.  Den  etwa  zu  ähnlichen  Erscheinungen  führenden  D  u  r  c  h- 
bruch  einesEmpyems  in  die  Bronchien  muss  man  durch  sorgfältige 
Berücksichtigung  der  dem  reichlichen  Eiterausbruch  vorhergehenden  Er- 
scheinungen und  den  plötzlichen  Beginn  des  letzteren  auszuschliessen 
suchen. 

Die  Bronchopneumonie  (katarrhalische  Pneumonie,  lobuläre  Pneu- 
monie) ist  fast  ausschliesslich  eine  secundäre,  sich  aus  dem  Catarrh  der 
feineren  Bronchien  entwickelnde,  acute  oder  mehr  chronisch  verlaufende 
Entzündung  des  Lungengewebes  und  wird  aus  diesem  Grunde  am  besten 
im  unmittelbaren  Anschlüsse  an  die  Entzündung  der  Brochialschleimhaut 
besprochen. 

Die  Ursachen  fallen  im  Wesentlichen  mit  denen  der  primären  und 
secundären  acuten,  wie  chronischen  Bronchitis  zusammen.  Diejenigen  acuten 
und  chronischen  Krankheiten,  welche  von  Bronchitiden  regelmässig  be- 
gleitet sind  (Masern,  Keuchhusten,  Influenza,  Diphtherie,  Typhus,  Tuberculöse, 


BROXCHIALAFFECTIOXEX.  207 

Emphysem  etc.)  veranlassen  daher  auch  die  Bronchopneumonie  am  häufigsten. 
Es  fragt  sich  nur.  unter  Avelchen  Umständen  ein  Fortschreiten  der  Entzün- 
dung auf  die  Alveolen  besonders  leicht  stattfindet.  Von  hervorragender  Be- 
deutung erscheint  das  Lebensalter.  Kinder  in  den  ersten  drei  Jahren, 
besonders  aber  im  ersten  Lebensjahre  sind  ganz  besonders  zu  der  Erkran- 
kung disponirt.  Sowohl  die  an  die  primäre  Bronchitis  sich  anschliessenden 
als  auch  die  secundären  Bronchopneumonien  nach  Masern.  Keuchhusten, 
Diphtherie  und  Influenza  fordern  da  die  meisten  Opfer.  Von  grosser  Wichtig- 
keit für  die  leichte  Entstehung  catarrhalischer  Pneumonie  im  Kindesalter 
erscheint  auch  die  Weichheit  des  Thoraxsc  elets,  welche  bei  kleinen 
Kindern  entweder  an  und  für  sich  oder  in  Folge  von  Rachitis  besteht.  Wenn 
das  Secret  den  Eintritt  der  Luft  in  die  unteren  Lungenpartien  bei  der  Li- 
spiration  behindert  und  der  äussere  Luftdruck  die  bekannten  inspiratori- 
schen Einziehungen  der  weichen  unteren  Thoraxabschnitte  bewirkt,  so  wird 
auch  der  Exspirationsdruck  an  diesen  Stellen  ungenügend  und  die  Expec- 
toration  des  Bronchialsecrets  nothwendig  behindert  sein  müssen.  In  ähn- 
licher Weise  ist  es  auch  zu  erklären,  dass  Greise  und  an  schweren  Krank- 
heiten Darniederliegende  leichter  von  der  Erkrankung  befallen  werden. 
Bei  alten  Leuten  ist  es  das  Lungenemp  hysem  und  neben  der 
Herz-  die  Muskelschwäche,  welche  durch  die  Erschwerung  der  Ex- 
spiration und  des  Aushustens,  bei  schweren,  fieberhaften  Erkrankungen, 
wie  bei  Typhus,  die  anhaltende  Rückenlage  und  die  dauernde,  durch  die 
Schwere  bedingte  Unthätigkeit  der  hinteren  unteren  Lungenabschnitte,  welche 
ein  Fortschreiten  der  Entzündung  von  den  Bronchien  auf  das  Lungen- 
parenchym begünstigen.  (Hypostatische  Pneumonie  bei  Typhus  etc.)  Man  pflegt 
sich  gewöhnlich  den  Vorgang  so  vorzustellen :  Durch  das  bronchitische  Secret 
werden  die  feineren  Bronchen  eines  kleineren  Lungengebietes  verstopft,  es 
dringt  keine  Luft  mehr  ein  und  dasselbe  wird  allmälig  luftleer  (atelaktatisch). 
In  diesem  Zustand  der  Unthätigkeit  ist  es  weniger  widerstandsfähig, 
gegen  die  eindringenden  Mikroorganismen  des  Bronchialsecrets  und  es  kommt 
zur  Entzündung.  Doch  soll  diese  Schilderung  durchaus  nicht  den  einzigen 
Entstehungsmodus  darstellen. 

Eine  bestimmte  Spaltpilzform  ist  die  Ursache  höchst  wahrscheinlich 
nicht:  vielmehr  sind  Diplococcen,  Staphißococcen  und  Streptococcen  gefunden 
worden.  Im  ersten  Beginn  findet  man  kleinste,  miliare  Entzündungsherde, 
welche  sich  allmälig  vervielfältigen  oder  vergrössern  und ,  in  dem  sie 
confluieren,  allmälig  einen  ganzen  Lungenlappen  durchsetzen  können.  Die 
bronchopneumonischen  Herde  sind  luftleer,  zeigen  je  nach  der  Form  und 
dem  Stadium  der  Entwicklung  dunkelrothe,  graue  bis  graurothe  Farbe,  glatte 
Schnittfläche  und  entleeren  bei  Druck  eine  trübe  Flüssigkeit.  Der  Inhalt 
der  Alveolen  besteht,  im  Gegensatze  zu  dem  festen  Exsudat  bei  der  fibri- 
nösen Pneumonie,  aus  Flüssigkeit  mit  kleineren  und  grösseren  Rundzellen. 
Das  Exsudat  wird  gewöhnlich  resorbirt.  kann  aber  auch  zu  trockener 
Nekrose  oder  zu  Induration  des  Gewebes  führen,  selten  vereitern  oder  ver- 
jauchen. 

Die  Erscheinungen  sind  vielfach,  besonders  im  Anfang,  mit 
denen  der  acuten  oder  subacuten  Form  der  Bronchitis  identisch.  Der  Ueber- 
gang  der  letzteren  in  die  Bronchopneumonie  ist  zuweilen  ein  allmäliger, 
unmerklicher,  oft  aber  zeigt  sich  klinisch  die  Entwicklung  der  catarrhali- 
schen  Pneumonie  als  eine  nach  scheinbarer  Remission  der  catarrhalischen 
Erscheinungen  plötzlich  eintretende  Steigerung  der  Krankheit.  Mitunter 
wird  der  Husten,  weil  er  in  Folge  des  Entzündungsschmerzes  unterdrückt 
wird,  eher  geringer.  Das  Fieber  aber  steigt  in  der  Regel  an,  kann  hohe 
Grade  erreichen,  bleibt  aber  selten  anhaltend  hoch  und  ist  meistens   ganz 


208  BRONCHIALAFFECTIONEN 

unregelmässig.  Wenn  es  eine  gewisse  Regelmassigkelt  einhält,  so  ist  es 
gewöhnlich  remittireud,  fast  nie  eigentlich  continuirlich.  Es  kommen  aber  auch 
Fälle  selbst  von  schwerer  catarrhalischer  Pneumonie  vor,  bei  denen  Fieber 
so  gut  wie  ganz  vermisst  wird.  Auswurf  fehlt  bei  Kindern  gewöhnlich 
ganz  und  hat,  .wenn  vorhanden,  meistens  die  catarrhalische  Beschaffenheit, 
selten  enthält  er  Blut.  Der  physikalische  Befund  an  der  Brust  unter- 
scheidet sich  häufig,  zumal  im  Anfang,  kaum  von  dem  der  Bronchitis.  Es 
können  zahlreiche,  kleine  Herde  die  Lunge  durchsetzen,  sobald  nur  noch 
genügend  lufthaltiges  Gewebe  zwischen  denselben  ist,  findet  man  keine 
deutliche  Dämpfung,  kein  Bronchialathmen  und  der  ausgesprochene  Leichen- 
befund contrastirt  dann  oft  auffallend  mit  dem  geringen  Untersuchungsresultat 
während  des  Lebens.  Bilden  sich  grössere  Herde,  was  nach  einigen  Tagen 
der  Fall  sein  kann,  aber  zuweilen  erst  nach  Wochen  einzutreten  braucht, 
so  findet  man,  besonders  häufig  in  den  unteren,  hinteren  Partien  neben  der 
Wirbelsäule,  nicht  selten  aber  auch  in  der  Scapulargegend  und  in  der 
Fossa  supraspinata  leichtere  oder  intensivere  Dämpfungen  und  Bronchial- 
athmen. Dasselbe  ist  gewöhnlich  von  reichlichem,  feuchtem  Ptasseln  be- 
gleitet, welches  sich  überhaupt  in  verschiedener  Intensität  weit  verbreitet 
am  Brustkorb  findet.  Solange  deutliche  Verdichtungserscheinungen  noch 
fehlen,  kann  man,  meiner  Erfahrung  nach,  aus  reichlichen,  an  bestimmten 
Stellen,  besonders  den  Unterlappen,  constant  localisirten,  lauten,  feuchten 
Rasselgeräuschen  den  Schluss  auf  Entwicklung  von  bronchopneumonischen 
Herden  ziehen.  Das  Allgemeinbefinden  richtet  sich  gewöhnlich  nach 
der  Höhe  des  Fiebers  oder  der  Stärke  des  Hustens  und  der  Athemnoth. 
Bei  mangelndem  Appetit  leidet  unter  dem  Einfluss  der  Krankheit  die  Er- 
nährung gewöhnlich  beträchtlich.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle  geht  bei  gün- 
stigem Verlaufe  die  Temperatur  allmälig  herunter,  der  Abfall  ist  aber  stets 
von  leichteren,  mitunter  sogar  beträchtlichen  Steigerungen  unterbrochen  und 
wird  erst  oft  nach  vielen  Tagen  vollständig.  In  der  gleichen  Weise  bessern 
sich  auch  die  übrigen  Beschwerden  nur  langsam.  Rückfälle  sind  sehr  häufig. 
Bei  einer  Wendung  zum  Schlimmen  nehmen  die  Respirationsstörungen  und 
die  Rasselgeräusche  zu,  es  entwickelt  sich  Cyanose  und  unter  weithin  hör- 
barem Rasseln,  Somolenz  und  Collapserscheinungen,  zuweilen  unter  Convul- 
sionen  tritt  der  Tod  ein. 

Die  Dauer  d€S  Verlaufes  ist  sehr  verschieden  und  kann  zwischen 
einer  und  vielen  Wochen  schwanken.  Von  Complicationen  ist  die 
Pleuritis  eine  der  häufigsten;  doch  können  sich  auch  andere  Entzün- 
dungen, sowie  Lungeng  an  grän  entwickeln.  Letzteres  kann  besonders 
der  Fall  sein,  wenn  Aspiration  von  Speisetheilen  oder  gangränösen  Massen, 
wie  bei  Diphtherie,  die  Ursache  der  Erkrankung  war.  Als  Nachkrank- 
heit kann  sich  Emphysem  anschliessen.  Besonders  gefürchtet  ist  aber 
die  T  u  b  e  r  c  u  1 0  s  e,  welche  sich  zu  der  catarrhalischen  Pneumonie  Masern- 
und  Keuchhustenkranker,'  sowie  rhachitischer  und  scrophulöser  Kinder,  wie 
man  annimmt,  nicht  selten  dazugesellt.  Es  scheint,  als  ob  die  Bronchopneu- 
monien einen  günstigen  Boden  für  die  Ansiedelung  des  Tuberkelbacillus 
abgäben.  Doch  kann  auch  die  Tuberculose  primäre  Ursache  der  Broncho- 
pneumonie sein  (tuberculose  Bronchopneumonie). 

Die  Prognose  ist  nach  dem  Gesagten  immer  vorsichtig  zu 
stellen,  besonders  ernst  ist  sie  bei  ganz  kleinen  Kindern  und  bei  ganz 
alten  Leuten;  auch  richtet  sie  sich  sehr  nach  der  Grundkrankheit  oder 
nach  der  Ursache. 

Die  sichere  Erkennung  der  Krankheit  kann  sehr  leicht,  aber 
auch  ausserordentlich  schwer  oder  unmöglich  sein.  So  ist  der  Uehergang  aus 
der  capillären  Bronchitis  in  die   Bronchopneumonie  oft  nur  zu  vermuthen. 


BROXCHIALAFFECTIOXEN.  209 

Von  der  croupösen  Pneumonie  kann  man  sie  häufig  auf  Grund  des 
allmäligen  an  Bronchitis  oder  andere  Krankheiten  sich  anschliessenden 
Beginnes,  auf  Grund  der  langsamen  Entwicklung  der  Verdichtungserschei- 
nungen, von  reichlichen,  catarrhalischen  Geräuschen,  des  unregelmässigen 
Fiebers,  des  Mangels  von  Herpes  und  des  schliesslichen,  allmäligen  Nach- 
lasses unterscheiden.  Oft  aber,  insbesondere  bei  Kindern  in  den  ersten 
Jahren,  bei  denen  die  croupöse  Form  nicht  selten  auch  unregelmässig  ver- 
läuft, ist  die  Unterscheidung  schwierig  oder  unmöglich,  was  bei  der  Wichtig- 
keit der  Prognose  sehr  zu  bedauern  ist.  Ist  man  doch  oft  auch  bei  der 
Section  ganz  kleiner  Kinder  nicht  im  Stande,  die  croupöse  und  catarrhalische 
Form  makroskopisch  zu  unterscheiden.  Nicht  minder  schwierig  ist  unter 
Umständen  die  Vermeidung  der  Verwechslung  mit  ple  uritis  chen  Ex- 
sudaten, zumal  Empyemen,  wiederum  besonders  bei  Kindern.  Die  Aehn- 
lichkeit  der  allgemeinen  Erscheinungen  und  speciell  die  Kleinheit  der  Ver- 
hältnisse und  die  Unmöglichkeit  unsere  gewöhnlichen  physikalisch-diagnosti- 
schen Hilfsmittel  (Pectoralfremitus)  zur  Unterscheidung  von  Erguss  und 
Verdichtung  sicher  anwenden  zu  können,  trägt  die  Schuld  daran.  Die  Probe- 
punktion, welche  bei  der  nöthigen  Vorsicht  vollkommen  unschädlich  ist, 
auch  wenn  man  in  bronchopneumonisches  Gewebe  einsticht,  ist  das  einzige 
Mittel  zur  sicheren  Differential diagnose. 

Unmöglich  ist  gewöhnlich  die  bestimmte  Abtrennung  von  Tuber- 
culose  im  Kindesalter,  weil  das  wichtige  Hilfsmittel  —  die  Sputumunter- 
suchung,  fehlt.  Wir  können  die  Tuberculose  meistens  erst  nach  längerer 
Beobachtung  aus  der  Heredität,  anderen  tuberculösen  Erscheinungen  (z.  B. 
Drüsenschwellungen)  und  der  rasch  zunehmenden  Abmagerung  vermuthen. 
Diese  prognostisch  so  wichtige  Unterscheidung  bereitet  dem  beschäftigten 
Kinderarzt  fast  täglich  Schwierigkeiten. 

Therapie  der  Bronchialschleimhaiit-Atfectioneu. 

Die  Behandlung  der  acuten  Bronchitis  einschliesslich 
der  Bronchopneumonie.  Bei  Leuten,  welche  durch  ihre  Beschäftigung 
oder  durch  ihre  Disposition  oder  endlich  durch  andere  Krankheiten  zu 
Bronchitiden  neigen,  ist  natürlich  die  Prophylaxe  von  der  grössten  Be- 
deutung. Die  Vermeidung  der  schädlichen  Einwirkung  des  Staubes  und  der 
Gase  in  den  verschiedenen  Gewerben  ist  eine  zwar  schwere,  aber  hoch- 
wichtige Aufgabe  der  privaten  und  staatlichen  Gesundheitspflege.  Ins- 
besondere sollte  für  alle  Staub-  oder  schädliche  Gase  erzeugenden 
Beschäftigungen  bei  Neuanlangen  vor  allem  auf  die  Herstellung  grosser  Piäume 
und  guter  Ventilationsvorrichtungen  gedrungen  werden,  und  zwar  nicht  nur 
bei  grösseren  Fabriken,  sondern  auch  in  kleinen  Betrieben.  Auch  der 
persönliche  Schutz  der  Arbeiter  ist  durch  Belehrung  zu  fördern,  zumal 
die  instrumenteilen  Vorrichtungen  (Ptespirationen)  entweder  unzureichend 
oder  unbequem  sind.  Die  individuelle  Disposition  bekämpft  man  bei 
jugendlichen  Individuen  nicht  durch  Verwöhnung,  sondern  durch  Ab- 
härtung (reichlicher  Aufenthalt  im  Freien,  kühle  Temperatur  und  Lüftung 
in  den  "Zimmern,  kalte  Uebergiessungen  und  Abreibungen  etc.).  Bei  solchen 
Krankheiten,  die  chronische  Katarrhe  zur  Folge  haben,  wie  beim  Emphysem, 
sind  die  Kranken  vor  Staub,  grossen  Temperaturdiiferenzen,  kurz  vor  allen 
Schädhchkeiten  und  Gelegenheitsursachen  zum  Katarrh  zu  bewahren.  Wo- 
möglich schicke  man  sie  im  Winter  in  südliche  Curorte.  Bei  der  acuten 
Bronclitis  kann  man  wohl,  aber  nur  im  ersten  Beginn,  versuchen,  die 
Krankheit  durch  ein  einmaliges,  starkes  Schwitzen  aufzuhalten.  Es 
genügt  das  Trinken  von  heissen  Getränken  und  warmes  Zudecken  im  Bett. 
Zuweilen  scheint  es,  als  ob  diese  Procedur  Erfolg  hat.  Ein  sicheres  Urtheil 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medic'.n  und  Kinderkrankheiten.  i'* 


210  BRONCHIAL  AFFECTIONEN. 

ist  nicht  zu  gewinnen,  weil  im  Anfang  die  Ersclieiniingen  gewöhnlich  noch 
nicht  für  eine  sichere  Diagnose  ausreichen,  bei  deutlicher  Ausbildung  der 
Krankheit  aber  die  Schwitzcur  nicht  mehr  hilft.  Eine  örtliche  Behandlung 
des  Bronchialkatarrhs  ist  schwierig  und  um  so  schwieriger,  je  tiefer  in  die 
Luftwege  der  Katarrh  sich  fortsetzt.  Inhalationen  von  lösenden  Substanzen 
im  ersten,  von  adstringirenden  im  zweiten  Stadium  der  acuten  Bronchitis 
bringen  Linderung,  hauptsächlich  bei  den  von  der  Tracheitis  herrührenden 
Beschwerden,  ohne  jedoch  nach  experimenteller  und  praktischer  Erfahrung 
wesentlichen  Einfluss  auf  den  Katarrh  der  feineren  Bronchien  zu  gewinnen. 
Als  Lösungsmittel  für  den  zähen  Schleim  dürften  sich  Warmwasserdämpfe 
(auch  bei  kleinen  Kindern  anwendbar)  oder  Einathmungen  von  Salzwasser 
(einen  Theelöffel  auf  einen  Schoppen  Wasser),  Salmiak^  kohlensaures  Natrium 
(1 — 2  Perc).  zur  Secretionsverminderung  TannininJialationen  (1 — 2  Perc) 
empfehlen.  Noch  wichtiger  aber  ist  reine,  gieichmässig,  nicht  zu  hoch 
(13°  Pt.)  temperirte,  durch  Wasserverdampfung  feucht  erhaltene  Luft  des 
Krankenzimmers.  Womöglich  soll  man  in  der  milderen  Jahreszeit  voll- 
ständige Freiluftbehandlung  eintreten  lassen.  Ich  habe  Kinder  armer  Leute 
mit  hartnäckigen  Bronchopneumonien  dadurch  genesen  sehen,  nachdem  schon 
alle  Hoffnung  aufgegeben  war.  Die  leider  noch  sehr  verbreitete  Furcht  vor  der 
freien  Luft  wird  vielen  dieser  Kranken  verderblich.  Die  Unterstützung  der  Ex- 
pectoration  durch  Verordnung  der  sogenannten  E  x  p  e  c  t  o  r  a  n  tie  n  {Senega,  Ipe- 
cacuanha,  Liquor  ammonii  anisatAis,  Salmiak  etc.)  ist  althergebracht  und  in  der 
täglichen  Praxis  auch  bequem,  in  ihrer  Wirksamkeit  jedoch  durchaus  nicht 
so  zuverlässig,  wie  man  geneigt  ist  anzunehmen.  Vielmehr  ist  der  Umstand, 
dass  sich  diese  Mittel  so  fest  eingebürgert  haben,  gewiss  zum  grossen 
Theil  darauf  zurückzuführen,  dass  nach  w^enigen  Tagen  an  und  für  sich 
das  flüssiger  werdende  Secret  leichter  ausgehustet  wird  und  man  diese 
Veränderung  nur  allzu  leicht  dem  verordneten  Mittel  zuschreibt.  Ist  die 
Expectoration  eines  sehr  zähen  oder  eines  reichlichen,  in  den  Luftröhren 
auf-  und  niederrasselnden  Secretes  wie  bei  schweren,  capillären  Bron- 
chitiden oder  Bronchopneumonien  wirklich  in  Gefahr  drohender  Weise 
erschwert,  so  lassen  auch  die  meclicamentösen  Expectorantien  im  Stich. 
Am  meisten  Vertrauen  verdient  das  ApomorpMn  (0-01 — O'l)  auf  50 — 100 
Wasser  mit  einigen  Tropfen  Salzsäure,  zweistündlich  einen  Thee- 
bis  Esslöffel  im  schwarzen  Glas  (bei  Kindern  pro  Lebensjahr  etwa  Vn  '^^9''' 
pro  dosi)  und  Acidum  henzoicum  (0-01  pro  Lebensjahr).  Wichtiger  ist 
der  Alkohol,  zugleich  als  Mittel  gegen  den  drohenden  Collaps  in  Form 
starken,  für  Kinder  süssen,  Weines  und  Champagner.  Die  Brechmittel 
sind,  da  sie  nur  vorübergehend  den  Schleim  herausbefördern  und  eine 
wiederholte  Anwendung  wegen  der  schwächenden  Nebenwirkungen  un- 
zweckmässig ist,  auf  Ausnahmsfälle  zu  beschränken.  Das  beste  expecto- 
rirende  Mittel  ist  ein  proti-ahirtes,  lauw^armes,  eventuell  mit  kalten  Ueber- 
giessungen  verbundenes  Bad.  Lauwarme  Bäder  (25^  p.  ebensoviel 
Minuten  lang)  sind  überhaupt  von  ausgezeichneter  Wirkung,  indem  sie 
Athmung  und  Aushusten  verbessern,  das  Fieber  massigen,  das  Nerven- 
system beruhigen  und  Schlaf  herbeiführen.  Man  soll  deshalb  auch  bei  den 
Bronchitiden  und  Katarrhalpneumonien  mit  geringerem  Fieber  ausgedehnten 
Gebrauch  von  denselben  machen.  Erforderen  höheres  Fieber  und  sehr  er- 
schwerte Expectoration  ein  stärkeres  Eingreifen,  so  kühle  man  die  Bäder 
allmälich  von  25"  auf  20«  und  18»  ab.  Bei  hochfieberhaften  Bronchitiden 
und  Bronchopneumonien  mit  gefährlicher  Expectorationsbehinderung  macht 
man  unter  steter  Beobachtung  des  Pulses  und  Darreichung  von  Wein  kalte 
Uebergiessuugen  im  warmen  Bad.  Sonstige  Bekämpfung  des  Fiebers  durch 
medicamentöse  Antipyretica   ist  meistens   überflüssig   oder  nachtheilig. 


BRONCHIALAFFECTIONEN.  211 

Höchstens  dass  kleine  Dosen  Antipyrin  bei  Kindern  (etwa  soviel  Decigramm 
als  Lebensjahre)  eine  nicht  zu  verachtende,  siibjective  Erleichterung 
bringen  können.  Narcotica,  die  man  bei  Kindern  am  besten  ganz  ver- 
meidet, kann  man  bei  Erwachsenen  zur  Milderung  des  starken  Reizhustens 
im  ersten  Stadium  verwenden;  doch  genügen  meist  kleine  Mengen 
{Morphiyi  O-OOo—O  Ol,   Codeinum  phosphoric.  O-Ol — 0-03  jjro  dem). 

Die  Behandlung  des  chro  nis  chen  B  ronchialkatarr  hs  hat 
ebenfalls  in  erster  Linie  die  Ursachen  zu  berücksichtigen.  Dahin  gehört  vor 
allen  Dingen  die  Vermeidung  von  Staub.  Rauch,  schädlichen  Gasen,  ver- 
dorbener Luft.  Aber  auch  bei  den  secundären  Katarrhen,  die  sich  bei  Herz- 
klappenfehlern, Herzmuskelinsufficienz,  Emphysem  etc.  infolge  des  Nachlasses 
der  Thätigkeit  des  rechten  Ventrikels  und  Stauung  des  Blutes  in  der 
Bronchialschleimhaut  entwickeln,  ist  die  Erkennung  und  Beseitigung  der 
Ursache  die  Hauptsache.  Wie  viele  solcher  Bronchi tiker,  meistens  ältere 
Leute  aus  dem  Arbeiterstande,  werden  wochenlang  vergeblich  mit  Expec- 
torantien  behandelt,  während  eine  Digitaliscur  (Pulver  von  Ol,  fünfmal 
täglich,  im  ganzen  circa  ?yO)  in  wenigen  Tagen  erhebliche  Besserung  oder 
Heilung  bewirkt.  Grösserer  Temperaturwechsel,  rauhes,  feuchtes  _  oder 
windiges  Wetter  müssen  vermieden  werden.  Nichtsdestoweniger  ist  frische, 
gute  Luft  von  der  grössten  Bedeutung  und  muss  in  unserem  Klima  viel- 
fach im  Zimmer  hergestellt  werden.  Häufiger  Wechsel,  ausgiebige  Lüftung 
und  gleichmässige  Temperatur  (13»— 15«  R.)  der  Wohnzimmer,  tagsüber 
Lüftung  und  nachts  massige  Temperirung  (circa  10«)  des  Schlafzimmers, 
Tragen  von  Flanellhemden,  Athmen  durch  die  Nase  muss  empfindlichen 
Patienten  ebenso  empfohlen  werden,  wie  anderenfalls  auf  Abhärtung,  kalte 
Waschungen,  regelmässige  Spaziergänge,  Gewicht  zu  legen  ist.  Der  Auf- 
enthalt an  klimatischen  Cur  orten  (vergleiche  Klimatotlmrapie)  er- 
leichtert die  genannten  Vorschriftsmassregelu  in  vieler  Beziehung.  Im  All- 
gemeinen eignen  sich  die  warmen,  südlichen  Klimate  am  besten  für 
den  Winteraufenthalt  der  Bronchitiker.  Bestimmte  Indicationen  für  die 
einzelnen  Formen  sind  sehr  schwer  aufzustellen,  doch  passen  für  die 
südlichsten  Klimate  in  Sicilieu,  Afrika  und  an  der  Riviera  besonders  die 
heruntergekommenen  anämischen  Kranken,  während  man  kräftigere  Patienten 
nach  dem  südlichen  Tirol  (Gries,  Meran,  Area)  schicken  kann.  Dass  man 
Leute  mit  trockenen  Katarrhen  in  feuchtwarme,  solche  mit  reichlicher 
Secretion  in  trocken-warme  Gegenden  schicken  soll,  ist  meiner  Meinung 
nach  eine  mehr  theoretisch  construirte,  als  praktisch  bewährte  Vorschrift. 
Sehr  zu  beachten  ist  nach  dem  Winteraufenthalt  in  den  eigentlichen, 
warmen  südlichen  Curorten  die  Benützung  von  Uebergangsstationen  {oher- 
itallenisclie  Seen,  Genfer  See,  Südtirol)  bei  der  Rückkehr  in  unser  Klima  im 
Frühjahr.  Das  eigentliche  Hochgebirgsklima  (Davos,  1500  m)  ist  im 
Allgemeinen  weniger  geeignet,  obwohl  auch  dort  sehr  günstige  Erfolge  er- 
zielt werden  können.  Eher  passen  in  dieserBeziehung  die  m  i  1  d  e  r  e  n  Winter- 
Höhen  cur  orte  {les  Avants  bei  Montreux,  1000  w).  Im  Sommer  genügt 
gewöhnlich  ein  waldreicher,  staubfreier,  geschützter  Ort,  im  Hügelland 
oder  Mittelgebirge  bis  zu  3000  Fuss,  während  das  Hochgebirge  und  die 
Seebäder  trotz  einzelner  günstiger  Ergebnisse  im  Durchschnitt  nicht  so 
gut  vertragen  werden.  Der  blosse  Aufenthalt  an  Luftcurorten  thut  es 
freilich  nicht  allein.  Die  Kranken  müssen  die  frische  Luft  auch  in  der 
ausgedehntesten  Weise  geniessen.  Liegecuren  im  Freien,  von  kleinen  Spazier- 
gängen unterbrochen,  sind  am  zweckmässigsteu,  während  stärkere  Be- 
wegungen mit  Erhitzungen  nicht  zuträglich  sind.  Es  ist  auch  vielfach  Sitte, 
die  Bronchitiker  in  Badeorte  zu  schicken  (vergleiche  Balneotherapie  interner 
KrankJieiten),   und  besonders   die    alkalisch  -  muriatischen    Quellen    von  Ems^ 

14* 


212  BRONCHIALAFFECTIONEN. 

Gleichmherg  u.  a.,  ebenso  auch  die  Kochsalztrink  quellen  erfreuen 
sich  eines  grossen  Rufes.  Sie  verdanken  denselben  dem  lösenden  Eintiuss 
des  Wassers  auf  das  zähe  Rachensecret,  der  dadurch  geschaffenen  subjectiven 
Erleichterung,  sowie  den  günstigen  Bedingungen  eines  Bade  auf  enthalts  über- 
haupt. Doch  werden  diese  Bedingungen  durch  Milchcuren  in  einer  waldigen 
Gebirgsgegend  womöglich  noch  besser  hergestellt.  Man  hat  deshalb  in  den 
erwähnten  Badeorten  ausser  für  Trink-  und  Badecuren  auch  fürdirecte 
locale  Behandlung  des  Bronchialkatarrhs  gesorgt.  Dahin  gehören  die 
Inhalationskabinete,  in  denen  das  salzhaltige  Wasser  zerstäubt  wird,  ebenso 
die  Gradirwerke,  sowie  die  pneumatischen  Kammern  für  comprimirte  und 
die  Apparate  für  verdünnte  und  verdichtete  Luft.  Einathmung  von  c  o  m- 
primirter  Luft  haben  sich  wiederholt,  besonders  bei  den  Bronchial- 
katarrhen der  Emphysematiker,  günstig  gezeigt  (Yeigleiche Pneumatotherapie). 
Inhalationen  von  warmen  Dämpfen,  Salzlösungen  etc.  können  die  Be- 
schwerden des  trockenen  Katarrhs  mildern.  Bei  reichlicher  Secretion 
(Bronchoblennorrhoe)  empfehlen  sich  Tanninlösungen,  sowie  besonders  das 
Terpentinöl  und  verwandte  Stoffe  zu  Inhalationen  (entweder  mit  der 
Terpentinpfeife  oder  mit  den  Wasserdämpfen  aus  dem  Kessel  der  Dampf- 
inhalationsapparate oder  durch  Aufgiessen  auf  die  Bettdecke  zu  inhaliren). 
Die  innerliche  Darreichung  von  Terpentin,  Peru-,  Copaivahalsam,  Myrrha  etc. 
kann  versucht  werden,  doch  ist  davon  nicht  allzuviel  zu  erwarten.  Die 
Expectorantien  sind  beim  chronischen  Katarrh  wohl  von  noch  zweifel- 
hafterem Nutzen  als  beim  acuten.  Narcotica  sind  häufig  nicht  zu  ent- 
behren, doch  wo  möglich  auf  den  trockenen  Katarrh  zu  beschränken.  Bei 
Leuten  mit  gleichzeitiger  chronischer  Obstipation  sieht  man  zuweilen  von 
Curen  in  Karlsbad  oder  Marienbad  eine  günstige  Beeinflussung  auf  das 
Bronchialleiden.  Jedenfalls  ist,  so  unverständlich  uns  auch  der  Zusammenhang 
scheinen  mag,  die  Regulirung  des  Stuhlgangs  erfahrungsgemäss  stets  zu 
beachten. 

Die  Behandlung  der  Bronchie  ktasieu  fällt  zum  grössten  Theil  mit 
der  des  chronischen  Bronchialkatarrhs,  insbesondere  desjenigen  mit  reich- 
licher Secretion  zusammen.  Inhalationen  von  secretionbeschränkenden 
Mitteln,  wie  Terpentinöl,  sind  auf  das  Consequenteste  zu  versuchen.  Im 
übrigen  kommen  die  oben  aufgezählten,  prophylactischen,  diätetischen  und 
klimatischen  Massregeln  in  Betracht.  In  Ausnahmefällen,  wenn  eine  grosse 
oberflächlich  gelegene  bronchiektatische  Höhle  mit  Sicherheit  zu  dia- 
gnosticiren  ist,  wäre  an  die  operative  Eröffnung  und  directe  locale  Nach- 
behandlung zu  denken,  da  eine  Spontanheilung  nicht  zu  erwarten  ist.  D  i  e 
fötide  Bronchitis  fordert  natürlich  in  erster  Linie  zu  Versuchen  auf, 
die  Fäulnisvorgänge  in  den  Bronchien  zu  bekämpfen.  Zu  diesem  Zwecke 
wird  die  Einathmung  desinficirender  Substanzen,  besonders  solcher, 
welche  bei  gewöhnlicher  Temperatur  oder  mit  den  Wasserdämpfen  flüchtig 
sind,  vielfach  versucht.  Dahin  gehören  die  Carbolsäure,  Creosot  und 
Terpentinöl  entweder  in  der  oben  erwähnten  Anwenduugsweise  oder  als 
permanente  Inhalation  mit  der  CuRSCHMANN'schen  Maske,  welche  einen 
Behälter  für  die  Aufnahme  von  Carbolsäure  und  Alkohol  zu  gleichen 
Theilen  oder  Creosot  etc.  enthält  und  über  Mund  und  Nase  angelegt  wird. 
Auch  das  Pyridin  (in  10  Proc.  Lösung  aus  dem  Dampfkessel  des  In- 
halationsapparates zu  inhaliren)  hat  sich  mir  trotz  des  unangenehmen 
Geruchs,  an  den  sich  die  Kranken  übrigens  gewöhnen,  zuweilen  nützlich 
erwiesen.  Man  erzielt  überhaupt  mit  allen  diesen  Mitteln  in  der  Regel  nur 
langsame  oder  vorübergehende  Besserungen,  zumal  wenn  die  Grundkrank- 
heit eine  Heilung  nicht  zulässt.  Vorsicht  ist  stets  wegen  der  Gefahr  der 
Intoxicationen   (Carbolharn,   Nephritis)  geboten.     Das  Gleiche  gilt  von  der 


RRONCHIALAFFECTIONEN  IM  KINDESALTER.  213 

innerlichen  Darreichung  solcher  Mittel;  empfohlen  sind  Terpentinöl  (bis  zu 
30  Tropfen  im  Tag),  Terpinhydrat  1*0 — 1-5  pro  die  und  Mijrfol  (zwei- 
stündlich 2 — 3  Gelatinkapseln  ä  0-15).  Für  reine  Luft  und  regelmässige 
Entleerung  des  stinkenden  Auswurfs  durch  geeignete  Lagerung  des  Kranken, 
eventuell  durch  rhytraische  Compression  des  Thorax,  ist,  wie  überhaupt 
bei  allen  Bronchialleiden,  stets  Sorge  zu  tragen.  penzoldt. 


Bronchialaffectionen  im  Kindesalter.  BroncJiolmtarrh,  Bronchitis 
Simplex  —  die  Entzündung  der  grrjsseren  Bronchien,  Bronchitis  capillaris  —  die 
Entzündung  der  feineren  und  feinsten  Bronchien,  Bronchitis  suffocativa  der  Neu- 
geborenen, chronische  Bronchitis  mit  Anschwellung  der  ßronchialdrüsen  und 
Compression  der  Bronchien  an  der  Bifurcation. 

Von  den  entzündlichen  Affectionen  der  Bronchien  sind  hier  nicht  einbezogen  : 
die  croiipöse  und  dij^htheritische  Erkrankung  der  Bronchialschleimhaiit  und  die  Pertussis. 
Erstere  stellt  eine  Theilerscheinung  des  croupösen  oder  diphtheritischen  Processes  dar 
und  wird  betreffendenorts  erwähnt  werden,  während  der  Pertussis  ein  specifischer  Katarrh 
der  gesammten  Schleimhaut  von  der  Epiglottis  angefangen  bis  zu  den  feinsten  Bronchien 
zu  Grunde  liegt,  der  in  seinem  Auftreten  eine  gewisse  Aebnlichkeit  mit  den  acuten 
Exanthemen  namentlich  mit  den  Masern  hat  und  auch  dort  abgehandelt  wird.  Aus  gleichen 
Gründen  wird  hier  auch  nicht  auf  die  morbillöse  Bronchitis  Rücksicht  genommen. 

Die  Affectionen  der  Luftwege  im  Kindesalter,  besonders  bei  Säug- 
lingen, sind  von  ungleich  grösserer  Wichtigkeit  und  zeichnen  sich  vielfach  durch 
einen  ganz  verschiedenen  Verlauf  aus,  nicht  nur  in  Bezug  auf  ihre  Gefährlichkeit, 
sondern  die  Unterschiede  im  Auftreten  und  im  Verlaufe  treten  besonders  dann 
zu  Tage,  wenn  die  einzelnen  Erkrankungen  uns  eine  Theilerscheinung  eines 
anderen  allgemeinen  Processes,  nämlich  der  Bronchitis,  darstellen.  Hier  kann  auf 
die  Bedeutung  und  die  Stellung  dieser  Katarrhe  zur  Bronchitis  nicht  näher  ein- 
gegangen werden ;  es  soll  nur  so  viel  auf  sie  Rücksicht  genommen  werden,  als 
es  in  diagnostischer  und  therapeutischer  Beziehung  nöthig   erscheint. 

Die  grössere  Gefährlichkeit  der  Bronchitiden  im  kindlichen  Alter  hat  ihre 
Begründung  in  der  Enge  der  Luftwege,  namentlich  der  feineren  Bronchien, 
ferner  in  dem  Umstände,  dass  bei  fieberhaften  Erkrankungen  meist  die  ganze 
Luftwegeschleimhaut  oder  fast  der  grösste  Theil  derselben  im  entzündlichen  Zu- 
stande sich  befindet ,  daher  namentlich  bei  Säuglingen  die  unverhältnismässig 
grosse  Fläche  die  Bedeutung  der  Erkrankung  zur  Genüge  erklärt. 

W^eiters  kommt  noch  in  Betracht  die  geringere  Kraft  der  Respirations- 
mushein, da  fast  nur  das  Zwerchfell  als  Inspirationsmuskel  wirkt  und  die  Unfähigkeit 
das  Secret  zu  expectoriren.  Die  erschwerte  Ernährung  eines  an  einer  acuten 
Bronchitis  erkrankten  Neugeborenen  verschlimmert  in  hohem  Grade  die  Prognose, 
Gegenüber  den  Parenchymerkrankungen  der  Lungen  muss  auf  die  Häufigkeit  der 
Bronchitiden  aufmerksam  gemacht  werden,  welche,  je  jünger  Kinder  sind,  desto 
gefährlicher  und  desto  häufiger  werden. 

Bronchokatarrh.  Der  fieberlose  Katarrh  der  Bronchialschleimhaut, 
Anatomisch  besteht  der  Bronchialkatarrh  in  einer  vermehrten  Absonderung  eines 
zähflüssigen,  glasig-schaumigen  bis  gelblich-grünlichen,  ziemlich  zellenreichen 
Secrets  in  den  Bronchien  erster  und  zweiter  Ordnung.  Die  Schleimhaut  ist 
hyperämisch,  jedoch  kaum  merklich  geschwellt,  und  nicht  in  einem  blennor- 
rhoischen  Zustande. 

Bei  anscheinend  gutem  Allgemeinbefinden  ist  der  Verlauf  stets  fieberlos.  Er 
tritt  meist  als  primäre  Erkrankung  der  Schleimhaut  auf  oder  aber  wie  mancher  vor- 
handene Nasen-  und  Rachenkatarrh  setzt  er  sich  auf  die  Bronchien  fort  und 
nimmt  einen  ähnlichen  Verlauf.  —  Anatomisch  ist  der  Bronchialkatarrh  der 
rhachitischen  Kinder  hieher  einzubeziehen,  obwohl  demselben  eine  andere  Be- 
deutung in  Bezug  auf  die    Rhachitis  zukommt. 


214  RRONCHIALAFFECTIONEN  IM  KINDESALTER. 

Die  Sj^mptome  sind  gering'  und  man  beobachtet  nie  stürmisclie  Erseliei- 
nungen.  In  den  Bronchien  grösseren  und  mittleren  Calibers  hört  man  g-rossblasige 
und  feuchte  Easselgeräusche,  die  sich  bis  in  die  Trachea  fortsetzen  und  auch 
mit  dem  freien  Ohre  vernommen  werden  können.  Das  Rasseln  in  den  Bronchien 
ist  bei  reichlichem  Secret  insbesondere  bei  Säuglingen  mit  der  aufgelegten  Hand 
leicht  zu  fühlen.  Neben  den  Easselgeräuschen  ist  das  vesiculäre  oder  bei  jüngeren 
Kindern  sogenannte  puerile  Atlimen  deutlich  zu  hören.  AVenn  das  Secret  gegen 
die  feineren  Bronchien  fortschreitet,  kann  durch  das  scharfe  puerile  Athmen 
eine  Pneumonie  vorgetäuscht  werden ;  durch  den  Umstand,  dass  das  puerile 
Athmen  jedoch  einen  schlürfenden  und  nie  einen  hauchenden  Charakter  hat,  kann 
man  sich  leicht  vor  einem  Irrthum  schützen.  Das  Respirationsgeräusch  kann  bei 
reichlicherem  aber  etwas  trockenerem  Secret  eine  Zeit  lang  fehlen,  wenn  ein  zu- 
führender Bronchus  durch  einen  Schleimpropf  verlegt  ist.  Nach  einer  tiefen  Inspira- 
tion oder  nach  einem  Hustenstosse  wird  der  Schleim  entfernt  und  die  Luft  kann 
wieder  ungehindert  zu  den  Alveolen  eindringen. 

Der  Husten  ist  locker  und  schleimig,  mehr  oder  minder  intensiv,  und  es 
geht  die  Expectoration  leicht  vor  sich.  Nie  ist  der  Husten  rauh  oder  bellend. 
Das  expectorirte  Secret  wird  nicht  nach  aussen  befördert,  sondern  von  kleineren 
Kindern  verschlungen.  Der  meist  glasige  Schleim  kann  bei  Säuglingen  im  Stuhle 
nachgewiesen  werden. 

Die  Respiration  ist  weder  beschleunigt  noch  erschwert,  eine  Ver- 
änderung in  dieser  Beziehung  deutet  einen  neuauftretenden  Process  oder  eine 
Complication  an. 

Die  Dauer  eines  fieberlosen  Bronchialkatarrhes  erstreckt  sich  von  8  Tagen 
bis  3  Wochen.  Die  Kinder  leiden  bei  dem  fieberlosen  Verlaufe  in  ihrer  Ernährung 
nnd  in  ihrem  Allgemeinbefi^nden  nicht  sehr,  doch  besteht  eine  gewisse  Geneigtheit 
zu  Rückfällen.  Das  sich  wieder  bildende  Secret  reizt  die  Schleimhaut  und  gibt 
Veranlassung  zu  einer  entzündlichen  Affection  derselben. 

Die  Therapie  ist,  wenn  nicht  eine  rhachitische  Erkrankung  des  Skelettes 
vorliegt  und  eine  allgemeine  Behandlung  erfordert,  eine  möglichst  einfache  und  exspec- 
tative.  Schleimlösende  Mittel,  wie  Bicarb.  Soda  (0-2o)  oder  Sal.  ammoniac.  depur. 
(0-25 — 0-50)  in  einem  leichten  Ipecacuanhainfus.  (0- 20— 0*25  ad  lOO'OO)  gebe 
man  bei  massiger  Absonderung  und  entsprechendem  Husten.  Nie  gebe  man 
Opiate  oder  noch  stärkere  Narcotica,  da  durch  die  Unterdrückung  des  Husten- 
reizes Bich  nur  mehr  Secret  in  den  Bronchien  ansammelt.  Der  Hustenreiz  soll 
—  und  das  gilt  für  alle  Bronchialaffectionen  —  niemals  unterdrückt  werden, 
da  sich  bei  nur  einigermassen  erheblicherer  Schwellung  der  Schleimhaut  und 
reichlicherem  Secrete  bald  die  Erscheinungen  der  Athmungsinsufficienz  ein- 
stellen und  einen  bedrohlichen  Charakter  annehmen  können.  Die  Ernährung 
bei  Säuglingen  und  kleineren  Kindern  sei  den  allgemeinen  hj^gienischen 
Anforderungen  entsprechend;  wenn  kein  Allgemeinleiden  (Rhachitis)  zu  Grunde 
liegt,  so  erfolgt  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  eine  vollständige  Genesung.  Die 
Gefahr  des  Bronchokatarrhes  liegt  nur  in  dem  Acutwerden  des  Processes  —  in 
dem  Beginne  einer  Bronchitis. 

Bronchitis  simplex.  Die  Entzündung  der  Schleimhaut  der  Bronchien 
ist  eine  fieberhafte  nnd  im  kindlichen  Alter  häufige  Erkrankung,  welche  in  ihrem 
Verlaufe  vielfach  der  croupösen  Pneumonie  gleicht. 

Sie  tritt  primär  und  oft  ganz  unvermittelt  auf,  selten  geht  ihr  ein  Schüttel- 
frost oder  Erbrechen,  wie  bei  einer  entzündlichen  Affection  des  Lungenparenchyms 
oder  wie  bei  acuten  Exanthemen,  voraus.  Die  Bronchitis  ist  auch  eine  constante 
Theilerscheinung  des  Ileotyphus  und  der  Morbillen.  Im  Säuglingsalter  und  auch 
bei  grösseren  Kindern  ist  sie  —  selbst  abgesehen  von  den  rhachitischen  Kindern, 
die  fast  ausnahmslos  an  bronchitischen  Zuständen  leiden  —  eine  häufige  Er- 
krankung, deren  Bedeutung  nicht  selten  unterschätzt  wird.  Bei  etwas  stürmischerem 


BRONCHIALAFFECTIONEN  IM  KINDES  ALTER.  215 

Auftreten  sind  die  Sj^mptome  derart,  dass  eine  katanlialisclie  Lungenentzündung 
leicht  vorgetäuscht  werden  kann,  während  gerade  die  leichteren  Fälle  mit  der 
Geneigtheit  zu  Eecidiven  die  Lymphdrüsen  um  die  Bronchien  und  im  hinteren 
Mediastinum  afficiren. 

Das  Fieber,  der  Hustenreiz,  die  Beschleunigung  der  Respi- 
ration und  die  durch  die  Schwellung  der  Bronchialschleimhaut  und  das  spärliche 
Beeret  verursachte  Cyanose  sind  die  bemerkeuswertlien  Symptome  einer  nur  etwas 
ausgebreiteten  Bronchitis. 

Das  Fieber  ist  continuirlich  mit  geringer  Exacerbation  des  Abends  und 
mit  deutlichem  langsamen  aber  continuirlichen  Abfall  bei  Abnahme  der  örtlichen 
Entzündungserscheinungen.  Selten  beobachtet  man  eine  Höhe  von  40"  C.  und 
gewöhnlich  nur  auf  kurze  Zeit,  etwa  1  — 2  Tage.  AVie  lange  das  Fieber  an- 
dauert, lässt  sich  nicht  mit  Bestimmtheit  angeben,  da  die  acuten  Erscheinungen 
bei  intensiveren  Fällen  9 — 11  Tage  fortbestehen,  ehe  sie,  falls  keine  vollständige 
Genesung  eintritt,  in  einen  chronischen  Bronchokatarrh  übergehen. 

Eine  constante  Temperatursteigerung  von  40"  C.  und  darüber  bei  sonst  negativen 
physikalischen  Erscheinungen,  über  die  angegebene  Zeit  hinaus,  gestattet  den  Verdacht 
einer  acuten  Miliartuberculose,  vorausgesetzt,  dass  auch  die  übrigen  Erscheinungen,  ins- 
besondere die  unverhältnismässig  starke  Cyanose  mit  dieser  Annahme  in  Einklang  zu 
bringen  sind. 

Der  eigenthümliche  Hustenreiz  und  die  Art  der  Eespiration  sind 
bei  der  Bronchitis  simplex  nicht  wesentlich  verschieden  von  den  Erscheinungen, 
wie  wir  sie  bei  ausgebreiteten  Processen  und  bei  manchen  acuten  Erkrankungen 
des  Lungenparenchyms  und  der  Pleura  antreffen.  Es  handelt  sich  nur  um  gra- 
duelle Unterschiede. 

Der  Husten  und  die  Inspiration  ist  schmerzhaft,  daher  letztere 
möglichst  kurz  ist,  bei  einer  seufzenden  und  stöhnenden  Exspiration.  Mit  anderen 
Worten :  der  Nachdruck  liegt  auf  der  Exspiration,  wodurch  eben  eine  Unter- 
scheidung von  Larynxcroup,  Laryngospasraus  und  Pertussis  leicht  möglich  wird. 
Bei  Croup  und  Larynxkatarrh  ist  ausserdem  die  Stimme  in  höherem  oder  ge- 
ringerem Grade  alterirt,  während  bei  einer  acuten  Pleuritis  und  Peritonitis  bei 
Zunahme  des  flüssigen  Exsudates  die  Schmerzhaftigkeit  der  Respiration  allmälig 
abnimmt.  Bei  der  Bronchitis  hingegen  ist  die  Schmerzhaftigkeit  so  lange  vorhanden, 
als  die  Schwellung  der  Schleimhaut  rtit  der  Fieberbewegung  andauert  und  es  ist 
dabei  die  Anzahl  der  Athemzüge  vermehrt. 

Die  Beschleunigung  der  Respiration  hängt  von  der  Aus- 
dehnung des  entzündlichen  Processes  und  von  dei-  Intensität  des  Fiebers  ab. 
Besonders  markant  tritt  diese  Erscheinung  bei  Säuglingen  zu  Tage.  Die 
Frequenz  der  Athemzüge  erreicht  die  Höhe  von  20 — 25  in  der  Minute  und 
wohl  auch  darüber,  wenn  die  Cyanose  bei  Vorhandensein  von  klebrigem, 
zähflüssigem  oder  reichlichem  Secret  einen  hohen  Grad  erreicht.  Bei  Zunahme 
der  Cyanose  und  Abnahme  der  peripheren  Empfindlichkeit  wird  die  Respiration 
oberflächlicher  und  allmälig  langsamer,  so  dass  insbesondere  Säuglinge  schwer 
zu  tieferen  Inspirationen  veranlasst  werden  können.  Der  oft  intensive  und 
quälende  Hustenreiz  ist  im  Beginne  eine  constante  Erscheinung  einer  acut- 
fieberhaften  Bronchitis.  Die  Hustenstösse,  bei  denen  wenig  von  dem  zähen  und 
spärlichen  Secrete  entleert  wird,  erfolgen  in  verschiedenen  Intervallen.  Bei  feiner 
Stimme  ist  der  Husten  manchmal  trocken  und  rauh,  aber  nicht  bellend,  wie  bei 
der  Laryngitis  catarrhalis  (Pseudocroup).  Bei  reichlicherem  Secret  wird  der  Husten 
trockener  und  weniger  rauh,  so  wie  auch  die  Schmerzhaftigkeit  allmälig  abnimmt. 

Bei  stärkerer  Betheiligung  der  Bronchialschleimhant  kommt  es  besonders 
bei  Säuglingen  zu  mehr  oder  minder  heftiger  Cyanose.  Je  mehr  der  Zutritt 
der  Luft  zu  den  Alveolen  verhindert  wird,  desto  intensiver  wird  die  Cyanose. 
Je  mehr  die  Kohlensäurevergiftung  des  Blutes  zunimmt,  desto  unempfindlicher 
werden  die    Schleimhäute  gegen  periphere  Reize.      Durch  die  Athemnoth  werden 


216  BRONCHIAL AFFECTIONEN  IM  KINDESALTER. 

die  Kinder  sehr  unruliig  und  sie  werfen  sich,  solange  das  Sensorium  noch  frei 
ist,  wie  bei  der  croupösen  Bronchitis,  hin  nnd  her.  Je  mehr  schliesslich  die 
Kohlensäurevergiftung  des  Blutes  zunimmt,  desto  mehr  hört  der  Husten  auf,  die 
Expectoration  stockt,  die  Temperatur  sinkt  allmälig  und  geht  unter  das  Normale 
herunter  (Collapstemperatur).  Die  Haut  ist  mit  kaltem  und  klebrigem  Schweisse 
bedeckt,  die  Fontanelle  sinkt  ein.  Selten  kommt  es  zu  spastischen  oder  allge- 
meinen Convulsionen ;  unter  den  Erscheinungen  von  hoher  Athmungsinsufficienz  tritt 
der  Tod  ein. 

Die  Dauer  einer  Bronchitis  mittleren  Grades  ist  etwa  auf  7 — 11  Tage 
anzugeben,  vorausgesetzt,  dass  keine  Complication  vorliegt.  Die  grösste  Mehrzahl 
der  Fälle  endigt  mit  Genesung,  doch  darf  man  besonders  bei  Säuglingen  die 
Krankheit  in  keiner  Beziehung  unterschätzen,  da  Neigung  zu  Recidiven  und 
Steigerung  der  bronchitischen  Erkrankung  vorhanden  ist. 

Diagnose.  (Selbstverständlich  muss  eine  genaue  Untersuchung  des  Kindes 
vorgenommen  werden.)  In  Anbetracht  der  mitunter  stürmischen  Erscheinungen 
ist  der  physikalische  Befund  wenig  ergiebig.  Die  Percussion  ergibt  nichts  po- 
sitives, d.  h.   der    Schall  ist  beiderseits  gleich  und  in  keiner  Weise    abgeändert. 

Die  Auscultation  der  Lunge  wird  je  nach  der  Zeit  der  Erkrankung  zwei 
verschiedene  Befunde  ergeben.  Im  Beginne  der  Erkrankung  höi't  man,  da  die 
Schleimhaut  bei  spärlichem  Secret  blos  geschwellt  und  liyperäiniBch  ist,  scharfes, 
rauhes  aber  vesiculäres  Athmen.  Ist  durch  die  Schwellung  der  Schleimhaut 
ein  kleinerer  Bronchus  verstopft,  so  kann  das  Athmungsgeräusch  eine  Zeit  lang 
fehlen,  bis  nach  einem  kräftigen  Hustenstosse  wieder  Luft  eindringt.  Es  ist  zu 
bemerken,  dass  das  vesiculäre  Athmen  besonders  bei  Säuglingen  bei  der  Enge 
der  Luftwege  mitunter  schwer  von  dem  bronchialen  Athmen  zu  unterscheiden  ist, 
doch  kann  man  bei  wiederholtem  Anscultiren  vor  und  nach  dem  Husten  den 
schlürfenden  Charakter  des  vesiculären  Athmens  vom  hauchenden  des  bronchialen 
sicher  unterscheiden.  Bei  spärlichem  Secret  hört  man  ab  und  zu  vereinzelte 
Easselgeräusche,  nimmt  letzteres  zu,  bei  gleichzeitiger  Schwellung  der  Schleim- 
haut, so  werden  die  Rasselgeräusche  zahlreicher,  feuchter  und  sind  bei  kleineren 
Kindern  mit  der  aufgelegten  Hand  durch  die  Thoraxwand  zu  fühlen.  Bei  Ab- 
nahme des  Fiebers  gehen  die  entzündlichen  Erscheinungen  zurück  und  es  bleibt 
durch  einige  Zeit  nur  noch  vermehrte  Schleimabsonderung  der  Bronchialschleimhaut 
(Bronchokatarrh)  zurück,  welche  allmälig  expectorirt  wird.  Solange  noch  Secret 
vorhanden  ist,  besteht  die  Neigung  zu  Rückfällen,  denen  eine  besondere  Be- 
deutung insoferne  zukommt,  als  bei  denselben  gerne  die  Bronchialdrüsen  in  Mit- 
leidenschaft gezogen  werden. 

Die  Bronchitis  befällt  Kinder  jeden  Alters,  zumeist  aber  Säuglinge,  denen 
sie  besonders  dann  gefährlich  Mird,  wenn  Darmaffectioneu  in  Folge  künstlicher 
oder  unzweckmässiger  Ernährung  den  Kräftezustand  der  Kinder  heruntergebracht 
haben.  Der  Aufenthalt  in  überfüllten  Räumen,  wie  in  Findelhäusern  oder  schlecht 
ventilirten  und  feuchten  AVohnungen  ist  mit  eine  der  Ursachen  der  Bronchitis, 
welche  bei  in  ihrer  Ernährung  herabgekomraenen  Kindern  nach  einem  voraus- 
gegangenen Bronchialkatarrh  gewöhnlich  die  Terminalerscheinung  bildet. 

Die  Bronchitis  ist  eine  Theilerscheinung  des  Abdominaltyphus  und  der 
Morbillen,  sowie  der  Pertussis,  welcher  anatomisch  ebenfalls  ein  analoger,  wenn- 
gleich sonst  specifischer  Process  zu  Grunde  liegt. 

Die  Bronchitis  nimmt  selbst  bei  Säuglingen,  wenn  keine  anderweitige  Er- 
krankung zu  Grunde  liegt,  einen  günstigen  Verlauf.  Abgesehen  von  der  Geneigtheit 
zu  Rückfällen,  ertolgt  eine  vollständige  Genesung.  Oft  genug  geht  sie  in  die 
capilläre  Form  oder  aber  in  eine  lobuläre  Pneumonie  über,  die  sofort  physikalisch 
nachgewiesen  werden  kann.  Tritt  bei  herabgekommenen  Kindern  in  Folge  der 
Schwäche  der  Respirationsmuskeln  eine  allmälig  zunehmende  Cyanose  auf,  so 
kommt  es  vor  dem    letalen    Ende    zur  einer    serösen    Durchfeuchtung  der  Lunge, 


BRONCHIALAFFECTIONEX  IM  KINDES  ALTER.  217 

Die  Behandlung  ist  eine  wesentlich  exspectative  und  beschränkt  sich 
auf  Zuführung  von  genügend  sauerstoffreicher  und  reiner,  etwas  feuchter  Luft, 
Beförderung  der  Expectoration    und    eventuell  auf  Minderung  des  Fiebers. 

Den  Hustenreiz  mildert  man  durch  schleimlösende  oder  schleimige  Mitteln 
{Mixt.  gumm.  100*00,  Bicarb.  Sod.  0"25,  Sijr,  simpl.  10-00),  nie  aber  durch 
Narcotica,  besonders  wenn  reichlicheres  Secret  vorhanden  ist. 

Bei  intensiverer  Cyanose  und  Abnahme  der  peripheren  Empfindlichkeit  und 
des  Hustenreizes  sind  stärkere  Expectorantien  am  Platze,  wie  die  Pohjgala 
Senegae,  Pulv,  rad.  Ipecacuanhae,  Ammonium  carh.  siccum  (Inf.  rad.  Pohjgal. 
Senegae,  o'OO  ad  lOO'OO,  Liq.  ammonii  anisati  gtt.  20,  Syr.  simpl.  10-00; 
Inf.  pulv.  rad.  Ipecacuanhae  e  0-20 — 0'25  ad  lOO'OO,  Sal.  ammoniaci  de- 
purati  0'25 — 0'50,  Syr.  simpl.  lO'OO ;  Ammonii  carbonici  sied  O'lö — 0'20, 
Sach.  alhi  2-00  in  dos.  aequ.  Kr.  VI) ;  letzteres  Präparat  nur  bei  starker 
Cyanose  und  Erscheinungen  der  Athmungsinsufficienz. 

Das  begleitende  Fieber  erfordert,  falls  es  nicht  geradezu  excessiv  auftritt, 
keine  Behandlung,  da  es  sich  congruent  dem  Localprocesse  verhält.  Es  unterliegt 
keinem  Zweifel,  dass  durch  Darreichung  der  neueren  Antipyretica  das  Fieber 
heruntergesetzt  wird,  aber  andererseits  ist  es  ebenso  zweifellos,  dass  die  Anti- 
pyrese  auf  den  Localprocess  keinen  Einfluss  ausübt,  und  die  Krankheitsdauer- 
keineswegs  abgekürzt  wird.  Das  mitunter  eintretende  Wohlbefinden  des  Kindes 
wird  durch  eine  eventuelle  Herzschwäche  bei  höherem  Fieber  und  bei  längerem 
Gebrauche  des  Antipi/rins  und  Antifehrins  oft  sehr  übel  ausgeglichen.  —  Chinin 
sulf.  in  mittleren  Dosen  0-25 — 050  pro  die  kann  ohne  Anstand  gegeben  werden, 
weil  es,  falls  keine  antifebrile  AVirkung  eintritt,  als  herzkräftigendes  Mittel  wirkt. 

Da  es  sich  bei  allen  Bronchialaffectionen  darum  handelt,  die  Kinder  jeden 
Alters  zu  häufigen  und  tiefen  Inspirationen  zu  veranlassen,  so  leisten  PEiESSNiTz'sche 
Einwicklungen  und  häufige  Lageveränderungen  gute  Dienste.  Ein  entsprechend 
breites  Leintuch  wird  zur  Hälfte  je  nach  der  Höhe  des  Fiebers  in  20- — 26*^  C. 
Wasser  getaucht,  gut  ausgewunden  und  dem  Kinde  als  Eumpfumschlag  —  nicht 
zu  fest,  um  die  Eespiration  nicht  zu  behindern  —  angelegt,  mit  dem  trockenen 
Theil  der  Binde  umwunden  und  mit  Sicherheitsnadeln  befestigt.  Etwa  nach  6  Stunden 
möge  der  Umschlag  erneuert  werden,  bei  höherem  Fieber  wird  derselbe  rascher 
trocken  und  muss  eher  erneuert  werden. 

Von  Wichtigkeit  für  die  Expectoration  ist  es,  dass  die  Kinder  öfters  die 
Lage  ändern,  namentlich  nicht  lange  am  Rücken  liegen,  da  in  dieser  Stellung 
das  Secret  am  wenigsten  ausgehustet  wird.  Säuglinge  müssen  am  Arme  auch  des 
Nachts  in  verschiedener  und  auch  aufrechter  Stellung  herumgetragen  werden, 
um  sie  zu  tiefen  Inspirationen  zu  zwingen. 

Neigen  die  Kinder  zu  häufigeren  Rückfällen,  ist  eine  zweckmässig  abhär- 
tende Lebensweise  einzuführen  nebst  Darreichung  von  leicht  verdaulichen  Eisen- 
präparaten, nebst  reichlicher  Eiweissnahrung  bei  möglichster  Vermeidung  aller 
Amylacea,  insbesondere  der  Kartoffel. 

Ist  die  Bronchitis  eine  Theilerscheinung  der  Rhachitis,  so  leite  man  sofort, 
wenn  die  acuten  Erscheinungen,  wie  das  Fieber  und  die  Respirationsbeschleunigung 
vorüber  sind,  eine  allgemeine  ant  irhachitis  che  Behandlung  ein,  sei  es 
durch  Leherthran  mit  oder  ohne  Phosphor  oder  durch  eine  consequente  Eisencur, 
Steinsalzbäder  und  Regelung  der  Diät. 

Bronchitis  capillaris.  Die  Entzündung  der  feinsten  Bronchien  (Bronchio- 
litis) schliesst  sich  unmittelbar  au  die  Bronchitis  an  und  ist  eigentlich  nur  eine 
Steigerung  derselben.  Es  handelt  sich  somit  um  eine  Schleimhautentzüudang  der 
feineren  und  feinsten  Bronchien  rait  den  gleiclien  anatomischen  Charakteren  oder  aber 
um  eine  diffuse  Entzündung  des  gesammten  Schleimhauttractes  der  Luftwege  incl. 
der  Luftröhre,  welche  mitunter  an  eine  acute  Laryngitis  catarrhalis  (Pseudocroup) 
unmittelbar  sich  anschliesst. 


218  BRONCHIALAFFECTIONEN  IM  KINDESALTER. 

Die  Capillärbroncliitis  stellt  weiters  den  natürlichen  Uebergang  zu  der  im 
kindlichen  Alter  so  häufigen  lobulären  Pneumonie  dar.  Fast  bei  jeder  etwas 
intensiveren  Bronchitis  cap.  ist  das  den  Bronchien  nahe  gelegene  Lungenparen- 
chym irgendwie  verändert.  Der  betreffende  Lobulus  ist  hyperämisch  und  durch 
seine  Farbe  und  stärkeres  Hervorspringen  auf  der  Schnittfläche  leicht  von  der 
Umgebung  zu  unterscheiden.  Diese  Stellen  sind  jedoch  lufthaltig  und  sinken  heraus- 
geschnitten im  Wasser  nicht  unter. 

In  den  feineren  Bronchien  globulirt  der  Schleim  zu  einer  anscheinend  compacten 
Masse  wodurch  er  einer  Croupmembran  ähnlich  sieht,  sich  aber  jedoch  im  Wasser  voll- 
ständig auflöst. 

Wie  bei  der  Bronchitis  simplex  gleichen  sich  hier  die  Erscheinungen  in 
Bezug  auf  das  Fieber,  den  Hustenreiz,  das  Verhalten  der  Respi- 
ration und  die  Cyanose.  Es  handelt  sich  nur  um  Steigerung  der  einzelnen 
Symptome  in  verschiedenem  Grade,  Ein  Unterschied  besteht  nur  in  dem  auscul- 
tatorischen  Befunde. 

Das  Fieher  ist  viel  intensiver,  steigt  gleich  im  Beginne  rasch  bis  auf 
395 — 40*5"  und  bleibt  bis  zur  Lösung  gleichmässig  auf  dieser  Höhe.  Die  abend- 
lichen Exacerbationen  sind  gering  und  es  gibt  die  Temperaturcurve  keine 
verlässlichen  Anhaltspunkte,  um  eine  Capillärbronchitis  von  einer  Bronchitis  simplex 
zu  unterscheiden.  Durch  die  ganze  Dauer  der  Erkrankung  tritt  im  Verlaufe  des 
Fiebers  keine  auffällige  Veränderung  ein,  nach  Nachlass  des  localen  Processes 
fällt  es  allmälig  oder  aber  auch  rasch  (Collapstemperatur)  ab. 

Die  Eespiration,  d.  h.  der  Husten  ist  schmerzhaft,  Interrupt  (der  Nachdruck 
liegt  auf  der  Exspiration)  und  beschleunigt.  Da  die  feineren  und  feinsten  Bronchien 
von  einem  im  Beginne  dickflüssigen  und  zähen  Secrete  erfüllt  sind,  so  ist  die 
Athmung  auch  erschwert.  Bei  Säuglingen,  bei  denen  die  Inspiration  fast  ganz 
allein  vom  Zwerchfell  besorgt  wird,  und  auch  bei  grösseren  Kindern  findet  man 
in  Folge  der  energischeren  Contractionen  desselben  an  der  unteren  elastischen 
Thoraxapertur  eine  inspiratorische  Einziehung  (Trousseau's  peripneumonische 
Furche).  Sie  zeigt  ein  Athmungshindernis  an,  welches  die  Kinder  mit  mehr 
oder  weniger  Kraft  zu  überwinden  suchen.  Am  deutlichsten  sieht  man  -  sie  am 
rhachitischen  und  paralytischen  Thorax;  sie  ist  für  keine  bestimmte  Form  einer 
Bronchial-  oder  Lungenaffection  charakteristisch,  sondern  wird  sowohl  bei  Pneu- 
monien, Pleuritis,  Bronchitis  und  auch  im  gewissen  Grade  bei  der  acuten  Peritonitis 
beobachtet.  Da  Erscheinungen  einer  inspiratorischen  Einziehung  an  der  oberen 
Thoraxapertur  fehlen  und  die  Stimme  nicht  alterirt  ist,  so  kann  ein  mechanisches 
Hiadernis  im  Kehlkopfe  oder  Trachea  ausgeschlossen  werden. 

Der  Hustenreiz  steht  mit  der  Art  der  Respiration  und  der  Cyanose  in 
unmittelbarem  Zusammenhange.  Obwohl  im  Beginne  der  Husten  schmerzhaft  ist, 
wird  doch  das  Secret  aus  den  Bronchien  entfernt  und  die  Cyanose  erreicht  keinen 
besonderen  hohen  Grad.  Je  mehr  jedoch  der  Hustenreiz  abnimmt  und  sich  in  Folge 
dessen  das  Secret  in  den  Bronchien  ansammelt,  desto  beschleunigter  und  oberflächlicher 
wird  die  Respiration,  Dui-ch  die  UeberfüUung  der  feineren  Bronchien  mit  zähem 
Schleime  steigert  sich  bei  der  energielosen  Respiration  die  Kohlensäurevergiftung 
des  Blutes,  wodurch  wieder  die  periphere  Empfindlichkeit  der  Schleimhaut  herab- 
gesetzt wird.  Das  venöse  Blut  staut  sich  in  der  Peripherie,  womit  der  Abfluss 
nach  dem  rechten  Ventrikel  wegen  des  Hindernisses  im  kleinen  Kreislaufe  ge- 
hemmt ist  und  es  stellt  sich  neben  der  Cyanose  noch  eine  UeberfüUung  der 
subcutanen  Venen  ein,  welche  als  bläuliche  strotzende  Netze  durch  die  Haut 
hindurch  zu  sehen  sind,  ein  Umstand,  der  bei  Erwachsenen  nicht  so  sehr  in  die 
Augen  fällt,  im  Kindesalter  jedoch  von  sehr  ungünstiger  Bedeutung  ist.  Dauert 
dieser  Zustand  lange  an,  so  kömmt  es  bei  manchen  Kindern  in  Folge  von 
seröser  Durchfeuchtung  der  Meningen  und  des  Gehirnes  zu  allgemeinen  Con- 
vulsionen. 


BRONCHI  ALAFFECTIONEN  IM  KINDES  ALTER.  219 

Die  phj^sikalische  Untersuchung-  des  Thorax  ergibt  keine  Ver- 
änderung im  Percussionsschalle,  hingegen  hört  man  bei  tiefen  Ins^pirationen,  je 
nach  der  Menge  des  Secretes,  fein-  und  Jdeinblaslge,  consonirencle  Bassei- 
(/eräiische.  Sie  sind  mitunter  von  dem  knisternden  Geräusche,  welches  man 
im  Beginne  bei  der  lobulären  oder  lobären  Pneumonie  beobachtet,  schwer  zu 
unterscheiden.  Kann  das  reichliche  Secret  nicht  expectorirt  werden,  so  hört  man 
grossblasige  Rasselgeräusche  auch  in  den  grösseren  Bronchien  und  dei-  Trachea. 
Schliesslich  kommt  es  bei  zunehmender  Cyanose  und  Muskelschwäche  zu  Lungen- 
oedem.  Die  Rückkehr  zur  Norm  erfolgt  etwa  in  derselben  Zeit,  wie  bei  der 
Bronchitis  simplex  bei  allmäligem  Nachlass  der  einzelnen  Erscheinungen. 

Die  Capillärbronchitis  geht  weiters  unmittelbar  entweder  nach  längerem 
Bestände  oder  gleich  nach  Beginn  der  Consonanzerscheinungen  in  jene  Form  von 
Lungeninfiltration  über,  die  man  als  katarrhalische  Pneumonie  (s.  diese)  be- 
zeichnet. Hier  sei  nun  bemerkt,  dass  einzelne  kleine  und  zerstreute  Infiltrate 
weder  eine  Dämpfung  noch  bronchiales  Athmen  veranlassen.  Man  kann  nun  aus 
dem  Missverhältnisse  der  einzelnen  Symptome  z.  B.  wenig  Secret  und  bedeutende 
Cyanose  bei  oberflächlicher  Respiration  und  langer  Dauer  der  Erkrankung  mit 
einiger  Wahrscheinlichkeit  annehmen,  es  seien  einzelne  Lobuli  infiltrirt.  Weiters 
kommt  es  insbesonders  bei  Säuglingen  bei  längerer  Dauer  und  reichlichem  oder 
zähem  Secret  zu  jenem  Collapszustand  in  der  Lunge,  den  man  ah  erworbene 
Atelectase  bezeichnet.  In  Folge  des  Katarrhes  in  den  feineren  Bronchien  kann 
die  Lnft  nicht  in  die  Alveolen  eindringen,  daher  bei  längerem  Bestände  dieselben 
luftleer  werden  und  collabiren.  Es  findet  keine  Exsudation  statt,  sondern  die  vor- 
handene Luft  wird  resorbirt  und  es  kehrt  die  betreffende  Lungenpartie  zum 
embryonalen  Zustande  zurück. 

Die  Atelectase  kann  ebenso  wie  die  einzelnen  lobulären  Infiltrate  nur  ver- 
muthet  werden,  da  ein  bestimmtes  physikalisches  Zeichen  für  dieselbe  fehlt.  Man 
kann  ebenfalls  nur  aus  dem  Missverhältnisse  der  einzelnen  Symptome 
und  aus  dem  Abgeschwächtsein  oder  dem  zeitweiligen  Fehlen  des  Athmungs- 
geräusches  an  einzelnen  Stellen  den  Schluss  ziehen,  dass  einige  oder  mehrere 
Partien  luftleer  geworden  sind.  Sind  die  Kinder  noch  muskelkräftig,  so  kann 
bei  einer  kräftigen  Inspiration  wieder  Luft  eindringen  und  das  vesiculäre  Athmen 
oder  Rasseln  ist  wieder  zu  hören. 

Die  Capillärbronchitis  hat  häufig,  ohne  dass  es  gerade  zu  lobulären  Infil- 
traten oder  Atelectasen  kommt,  bei  hohem  Fieber  einen  schleppenden  Verlauf. 
Die  Kinder  kommen  hiebei  sehr  herab,  und  es  ist  im  Beginne  eine  Verw^echslung 
mitunter  auch  im  weiteren  Verlaufe  mit  chronischer  Tuberculose  immerhin  möglich. 

Die  Therapie  der  Bronchitis  cap.  fällt  mit  der  der  einfachen  Bronchitis  zu- 
sammen. Bei  reichlichem  Secret,  stockender  Expectoration,  geringem  Hustenreiz 
und  hochgradiger  sich  allmälig  steigernder  Cyanose  kann,  wenn  die  Kinder  sonst 
noch  muskelkräftig  sind,  ein  Emeticum  {Tartar.  emetici  O'Oo,  Mixt,  gunios.  dq-OO^ 
auf  ztvei  Mal  einzunehmen)  gegeben  werden.  Doch  ist  der  Erfolg  meist  ein 
precärer.  Auch  liier  leisten  die  Ammoniakpräparate  gute  Dienste  und  es  kann 
von  der  Darreichung  derselben  ein  ausgiebiger  Gebrauch  gemacht  werden  (siehe 
„Bronchitis").  Narcotica  incl.  des  Codeins  sind  unter  allen  Umständen  zu  vermeiden. 
Bei  grösseren  Kindern  können  Inhalationen  von  Terpentinöl  (2 — 3  Tropfen  auf 
einem  halben  Liter  heissen  Wassers)  mit  gutem  Erfolge  angewendet  werden.  Die 
übrige  Pflege  ist  wie  bei  der  Bronchitis  anzuordnen. 

A^on  einer  Behandlung  des  Fiebers  durch  Antipyretica  init  Ausnahme 
des  Chinins  ist  abzurathen,  da  das  Fieber  bei  acuten  Fällen  geuau  dem  Local- 
befunde  entspricht  und  lebensgefährliche  Symptome  nur  durch  die  Cyanose  oder 
die  Herzschwäche  veranlasst  werden.  Durch  die  forcirte  Darreichung  von  Anti- 
pyrin  oder  Antifebrin  bis  zur  Herabsetzung  der  Temperatur  zur  Norm,  be- 
fördert man  nur  die  Herzschwäche,   ohne  auf  den  Localprocess  einzuwirken. 


220  BROXCHIALAFFECTIONEN  IM  KIXDESALTER. 

Bronchitis  SufTocativa.  Diese  entzündliche  Affection  der  Sclileimliaut  der 
feinsten  Bronchien,  die  sich  anatomisch  in  nichts  von  den  übrigen  Bronchitiden 
unterscheidet,  darf  nicht  mit  der  angeborenen  Atelectase  der  Lunge  verwechselt 
werden.  Man  beobachtet  sie  nur  bei  Frühgeburten  und  Neugeborenen  oder  ganz 
jungen  Säuglingen ;  zur  Feststellung  der  Diagnose  ist  es  weiter  nothwendig,  dass 
die  Erscheinungen  nicht  durch  eine  entzündliche  Erkrankung  des  Lungenparenchyms 
veranlasst  sind. 

Das  Secret.  welches  die  feinsten  Luftwege  fast  vollständig  verstopft,  ist 
spärlich  und  zähe.  Dabei  ist  die  Schleimhaut  geschwellt  und  die  nächste  Folge 
ist  eine  allmälig  oder  auch  plötzlich  sich  einstellende  Cj^anose. 

Die  meist  oberflächliche  Respiration  wird  von  Erstickungsanfällen,  die  sich 
von  den  beim  Laryuxcroup,  Laryngospasmus  und  der  Pertussis  beobachteten 
leicht  unterscheiden  lassen,  unterbrochen,  und  zwar  dauert  ein  solcher  Anfall 
oft  längere  Zeit. 

Das  plötzliche  Auftreten  eines  solchen  Anfalles,  die  Steigerung  der 
Cyanose  bei  Abnahme  der  Intensität  der  Respiration  —  ist  das  charakteristische 
Merkmal  dieser  dem  ersten  Kindesalter  zukommenden  se])r  gefährlichen  Er- 
krankung. Die  Respiration  wird  oberflächlich,  kaum  nachweisbar  und  schnell, 
oder  aber  sie  setzt  ganz  aus  (Asphyxie^  bei  Fortdauer  des  Herzschlages. 
Zuckungen  oder  Krämpfe  von  Seite  der  willkürlichen  Muskeln  stellen  sich  nicht 
ein.  Die  Anfälle  sind  von  verschieden  langer  Dauer  und  wiederholen  sich  in  der 
Regel  mehrmals.  Da  während  eines  Anfalles  die  Respiration  fast  oder  ganz  stille 
steht,  so  fehlt  auch  die  sogenannte  peripneumonische  Furche. 

Die  Kinder  erliegen  meist  einem  Anfalle;  kommt  hingegen  die  Respiration 
wieder  in  Gang,  so  stellt  sich  etwas  Husten  ein  und  es  geht  die  Cyanose  zurück. 
Wird  das  Secret  dünnflüssiger,  so  entwickelt  sich  eine  gewöhnliche  Bronchitis 
capill.  oder  eine  lobuläre  Pneumonie,  der  die  Kinder  gewöhnlich  ebenfalls  erliegen. 

Die  Stimme  ist  schwach  und  schreien  die  Kinder  selbst  bei  starken  Haut- 
reizen wenig  oder  gar  nicht. 

Die  Kinder  sind  fieberlos,  gegen  das  letale  Ende  sinkt  die  Temperatur 
unter  die  Norm.  In  Folge  der  ungenügenden  Respiration  sind  die  Extremitäten, 
Stirne  und  die  Nasenspitze  kühl  anzufühlen.  Die  Haut  ist  mit  kaltem  Schweisse, 
die  Mundschleimhaut  mit  klebrigem  Secrete  bedeckt,  der  Athem  ist  kühl  und  die 
Kopfknochen  sind  übereinander  geschoben  (Collapsus).  Eine  Verwechslung  mit 
dem  Endstadium  einer  Cholera  nostras  ist  immerhin  möglich,  da  auch  hier  in 
Folge  der  Eindickung  des  Blutes  Cyanose  mit  starker  Beschleunigung  der  Re- 
spiration eintritt.  Durch  die  Anamnese  und  den  Lungenbefund  (scharfes  pueriles 
Athmen)  kann  man  beide  Zustände  ziemlich  sicher  von  einander  trennen. 

Die  Auscultation  und  Percussion  ergibt  wenig  Positives.  Dämpfung 
des  Percussionsschalles  wird  kaum  je  nachzuweisen  sein.  In  den  Bronchien  hört  man 
vermindertes  Athmen  und  nur  bei  wiederholtem  Auscultiren  können  bei  tieferen 
Inspirationen  vereinzelte  Rasselgeräusche  gehört  werden.  Sie  sind  kleinblasig, 
trocken,  auch  knatternd.  Wird  das  Bronchialsecret  reichlicher  und  dünnflüssiger, 
so   bekommt  man  gewöhnliches  feinblasiges    und  consouirendes  Rasseln  zu  hören. 

Die  Bronchitis  suffbcativa  ist  eine  auch  im  Säuglingsalter  seltene  Erkrankung, 
ihr  Verlauf  ist  ein  meist  ungünstiger,  da  bei  weit  vorgeschrittener  Cyanose  die 
Haut  und*  die  Schleimhaut  unempfindlich  wird  und  die  Kinder  unter  den  Er- 
scheinungen der  Asphyxie  zu  Grunde  gehen.  Bei  entsprechendem  therapeutischen 
Einschreiten  zur  richtigen  Zeit  gelingt  es  manchmal,  die  Kinder  am  Leben  zu  erhalten. 

Zunächst  handelt  es  sich  darum,  die  Kinder  zu  tiefen  Inspirationen  zu 
veranlassen ,  da  die  Gefahr  in  der  ungenügenden  Respiration  liegt.  Nebst 
dem  bei  der  Bronchitis  capillaris  angegebenen  medicamentösen  Verfahren  sind 
hier  der  unterbrochene  Strom  und  Senfbäder  in  Anwendung  zu 
bringen.    Beide    wirken    als    starke  Hautreize  und  durch  den  elektrischen  Strom 


BRONCHIALAFFECTIONEN  IM  KINDESALTER.  221 

werden  überdies  die  Inspirationsmuskeln  zu  Contractionen  veranlasst.  Er  wirkt 
aber  wie  die  Senfbäder  {eine  Hand  voll  Farin.  semin.  Sinapis  auf  ein  Bad  mit 
26 — 28^  R.)  auch  in  indiiecter  Weise  günstig  auf  die  Eespiration  ein.  Wird 
die  Haut  auf  das  Senfbad  und  den  Strom  rasch  hellroth,  so  ist  das  ein  günstiges 
Zeichen,  doch  soll  man  die  Bäder  nicht  forciren,  da  sonst  Störungen  in  der 
Haütcirculation  eintreten  können. 

Nebst  dem  Liqu.  atnmonii  anisat.  sind  die  stärkeren  Analeptica,  wie  Äether. 
sulfurici  (gtt.  5  — 10  ad  100-00)  oder  Tinct.  nervino-tonic.  Bestiischefii^  in 
gleicher  Dosis  zu  geben,  Campher  hingegen  wegen  seiner  üblen  Einwirkung  auf 
die  Magenschleimhaut  zu  vermeiden. 

Chronische  Bronchitis  (Anschwellung  der  Bronchialdrüsen  und  Com- 
pression  der  grösseren  Bronchien). 

Wenn  die  Bronchialschleimhaut  der  Sitz  von  lange  andauernden  und  häufig 
recidivirenden  und  exacerbirenden  Entzündungen  ist,  schwellen  ähnlich  wie  bei 
chronischen  Darmaffectionen  die  Mesenterial-,  hier  die  Bronchialdrüsen  in  ver- 
schiedenem Grade  an.  Von  den  innerhalb  des  Thorax  gelegenen  Lymphdrüsen 
kommen  nur  die  Glandulae  pulmonales  und  die  die  Bifurcationsstellen  der  Trachea 
und  ihre  Hauptäste  umlagerndem  Glandulae  bronchiales  in  Betracht.  Sie  sind 
meist  pigmentirt,  normal  schon  von  bedeutender  Grösse  und  stellen  durch  Aggre- 
gation einen  ziemlich  grossen  Knoten  dar.  Wenn  sie  anschwellen,  so  können  sie 
erheblich  die  Trachea  und  die  Bronchien  comprimiren.  Auch  der  Lungenmagen- 
nerv  und  der  links  zwischen  dem  Bronchus  sinister  und  dem  Aortenbogen  durch- 
gehende Nervus  recurrens  kann  gedrückt  werden.  Luschka  sah  bei  einem  solchen 
Falle  die  heftigsten  Erstickungsanfälle  mit  Aphonie. 

Die  Lymphdrüsen  schwellen  in  Folge  der  wiederholten  katarrhalischen  Pro- 
cesse  hyperplastisch  an,  induriren  und  bei  Ablagerung  von  meist  reichlichem 
Pigmente  entwickeln  sich  gelbkäsige  Knoten  (Verkäsung) ;  die  Kapsel  ver- 
dichtet sich  ebenfalls  und  es  kommt  gelegentlich  zur  Vereiterung  und  Durchbruch 
in  die  Trachea  oder  einen  Bronchus.  Bei  Lymphom-  oder  Sarcombildung  in  dem 
vorderen  oder  hinteren  Mediastinum  degeneriren  die  interthoracischen  Drüsen  in 
gleicher  Weise. 

Die  Bronchialdrüsen  können  zu  ganz  erheblichen  Tumoren  entartet  sein, 
ohne  besondere  Erscheinungen  hervorzurufen,  ihre  Intumescenz  kann  aus  Neben- 
umständen vermuthet  werden,  mitunter  auch  nicht.  Anders  verhält  sich  die  Sache, 
wenn  eine  vergrösserte  Drüse  die  Bifurcation  oder  einen  grösseren  Bronchus 
comprimirt.  Selbst  bei  massiger  Compression  erfolgen  markante  Symptome,  die  sich 
aber  bei  der  Natur  der  Erkrankung  allmälig  entwickeln,  abgesehen  von  den 
vorhandenen    oder   vorausgegangenen    bronchitischen  Erscheinungen. 

Da  die  Krankheit  meist  im  zweiten  oder  dritten  Halbjahre  beobachtet 
wird,  so  ist  es  leicht  erklärlich,  dass  an  vielen  Kindern  die  Zeichen  von  recenter 
Ehachitis  vorhanden  sind.  Rhachitische  Kinder  neigen  zu  Bronchialkatarrhen, 
mag  man  auch  letztere  nicht  als  eine  Theilerscheinung  des  rhachitischen  Processes 
gelten  lassen.  Die  rhachitischen  Veränderungen  am  Thorax  veranlassen  ohnedies 
ungünstige  ßespirationsverhältnisse,  wodurch  die  Symptome  noch  deutlicher  zu 
Tage  treten. 

Wenn  nun  eine  Compression  eines  grösseren  Bronchus  durch 
eine  degenerirte  Drüse  stattfindet,  so  entsteht  zunächst  ein  Hindernis  für  das 
Eindringen  der  atmosphärischen  Luft  zu  den  Lungenalveolen,  welches  durch  die 
Inspirationsmuskeln  überwunden  werden  muss.  Die  nächste  Folge  hievon  ist  eine 
Aspirationserscheinung  am  Thorax,  die  sich  aber  von  denen,  wie  man  sie  bei 
der  acuten  Lungenstenose  beobachtet,  in  mehrfacher  Weise  unterscheidet.  Die 
atmosphärische  Luft  kann  ungehindert  durch  den  Pharynx,  Larynx  und  die 
Trachea  eindringen,  stösst  aber  an  der  Compressionsstelle  auf  ein  Hindernis, 
welches     durch     eine     forcirte     Zwerchfellcontraction     meist     leicht    überwunden 


222  BRONCHIALAFFECTIONEN  IM  KINDESALTER. 

wird.  Bei  dem  kindlichen  und  noch  elastischen  Thorax  entsteht  nun  entsprechend 
der  Zvverchfellinsertion  eine  inspiratorische  Einziehung-,  welche  für 
diesen  Zustand  charakteristisch  ist,  da  eine  ähnliche  Erscheinung  an  der  oberen 
Thoraxapertur  naturgemäss  fehlen  muss.  Da  es  sich  um  einen  chronischen  Zu- 
stand handelt,  so  besteht  die  Einziehung  in  verschiedenem  Grade  und  auch  während 
des  Schlafes  fort.  Werden  die  Kinder  erregter  oder  kommt  es  zu  einem  acuten 
Nachschübe  der  Bronchitis,  so  steigern  sich  bei  Beschleunigung  der  ßespiration 
auch  die  Aspirationserscheinungen.  Die  übrigen  Symptome  einer  mehr  oder 
minder  heftigen  chronischen  Bronchitis  entwickeln  sich  allmälig,  aber  in 
mancherlei  Beziehung  in  modificirter  Art, 

Fieber  ist  in  der  Regel,  ausser  bei  Nachschüben,  nicht  vorhanden. 
Der  Husten  ist  trocken,  krampfartig  und  mitunter  einem  Pertussisanfalle 
sehr  ähnlich.  Die  Kinder  husten  durch  längere  Zeit  ganz  erfolglos,  d.  h.  ohne 
von  dem  reichlichen  Secrete  in  den  Bronchien  und  der  Trachea  etwas  entfernen 
zu  können.  Der  Husten  hat  manchmal  einen  bellenden  Beiklang,  wodurch  er  eine 
gewisse  Aehnlichkeit  mit  dem  Crouphusten  bekommt.  Bei  längerer  Dauer  der 
Erkrankung,  bei  sehr  reichlichem  Secrete  in  den  Luftwegen  und  bei  mangelhafter 
Expectoration  werden  die  Kinder  in  verschiedenem  Grade  cyanotisch.  Eine 
Verwechslung  mit  Pertussis  ist  bei  dem  Fehlen  der  schrillen  (erschwerten) 
Inspiration  nicht  leicht  möglich.  Wenn  die  Kinder  nicht  husten,  so  hört  man 
mit  freiem  Ohre  bei  der  In-  und  Exspiration  in  der  Trachea  ein  sägendes  und 
knarrendes  Rasseln  von  verschiedener  Intensität.  Ist  es  einigermassen  stark,  so 
übertönt  es  beim  Auscultiren  das  vesiculäre  Athmen,  das  durch  die  Compression 
des  Bronchus  ohnedies  minder  scharf  und  deutlich  ist.  Wenn  letzteres  bedeutend 
ist,  so  hört  man  bei  der  Aus  cultation  das  in  den  grossen  Bronchien  entstehende 
Athmen  besonders  scharf,  es  gleicht  in  seiner  Art  dem  bronchialen  Athmen, 
d.  h.  in  der  Trachea  und  an  der  Compressionsstelle  hat  es  einen  deutlichen 
hauchenden  Charakter,  es  ist  aber  schärfer  und  wird  leicht  weit  fortgepflanzt 
gehört.  Es  ist  jedoch  nicht  in  dem  Sinne  bronchial  zu  nennen,  als  sei  der 
obere  Lungenlappen  luftleer,  sondern  nur  in  Folge  seiner  Rauhheit,  Schärfe  und 
der  Nähe  der  Bifurcationsstelle  am  auscultirenden  Ohre  kommt  es  als  hauchendes 
Geräusch  zur  Geltung.  Findet  die  Compression  einseitig  statt,  so  kann  ein  Ver- 
gleich zwischen  den  Athmungsgeräuschen  die  Unterschiede  mitunter  feststellen. 
Es  ist  notliwendig,  bei  den  zahlreichen  grossblasigen  und  meist  feuchten 
Rasselgeräuschen  wiederholt  während  des  Schlafes,  in  ruhigem  Zustande  und  auch 
während  des  heftigen  Schreiens  zu  auscultiren,  um  sich  vor  Täuschungen  zu 
bewahren. 

Die  Percussion  ergibt  nichts  Abnormes,  bei  längerem  Bestände  bemerkt 
man  manchmal  ein  Aufgedunsensein  der  Lungenränder  (vicariirendes  Emphysem). 
Da  selbst  bedeutend  vergrösserte  Bronchialdrüsen  vollständig  im  hinteren  Media- 
stinum zu  liegen  kommen,  so  erzeugen  sie  keine  Dämpfung,  letztere  kommt  nur 
über  faustgrossen  Tumoren  (Sarcome  oder  Lymphome)  zu  Stande,  wenn  die 
Geschwulst  in  die  Pleuraräume  hineinwuchert. 

Durch  die  physikalische  Untersuchung  kann  man  somit  gewisse  acute  und 
chronische  Processe  im  Lungenparenchym,  wie  Pneumonie  und  chronische  Lungen- 
infiltrationen, ausschliessen,  mehr  aber  auch  nicht.  Sehr  selten  liegen  vergrösserte 
Lymphdrüsen  im  vorderen  Mediastinum,  etwa  in  der  Gegend  der  zweiten  und 
dritten  Rippe,  dass  hiedurch  der  Percussionsschall  verändert  wird. 

Die  Respiration  ist,  wenn  kein  Fieber  und  keine  Complication  von  Seite 
der  feineren  Bronchien  vorhanden  ist,  in  ihrer  Frequenz  wenig  oder  gar  nicht 
verändert.  Ist  sie  jedoch  beschleunigt,  so  kann  bei  dem  beschriebenen  Typus  in 
Folge  der  Beschleunigung  leicht  eine  Verwechslung  mit  der  Respiration  bei  einer 
acuten  Lungeninfiltration  oder  aber  mit  einer  acuten  Larynxstenose  stattfinden. 
Durch  eine  genaue  physikalische  Untersuchung    kann    erstere  leicht  nachgewiesen 


BRONCHIALAFFECTIONEN  IM  KINDESALTER.  223 

werden,  während  das  Vorhandensein  der  Stimme  und  der  negative  Rachenbefiind 
vor  einer  Täuschung  schützt. 

Da  die  Eespiration  nur  massig  behindert  und  das  Secret  mehr  in  den 
grösseren  Bronchien  angesammelt  ist,  so  ist  auch  die  C  y  a  n  o  s  e  im  Anfange 
gering.  Sie  wird  durch  Hustenanfälle  vorübergehend  stark  vermehrt.  Bei  längerer 
Dauer,  wenn  die  katarrhalischen  Zustände  constant  bleiben,  steigert  sich  die 
Cyanose  allmälig,  indem  das  Blut  in  den  peripheren  subcutanen  Venen  sich  an- 
sammelt, welche  dann  durch  die  blasse  Haut,  besonders  am  Thorax,  als  strotzend 
gefüllte  bläuliche  Netze  hindurchschimmern. 

Die  Anschwellung  mehrerer  Lymphdrüsen  erleichtert  die  Diagnose.  Die 
Drüsen  in  der  Leistengegend  sind  meist  massig  geschwellt  und  verhärtet.  Häufiger 
sind  die  Hals-  und  Axillardrüsen  mehr  oder  minder  afficirt,  welche  wegen  ihrer 
Nähe  und  der  unmittelbaren  Verbindung  mit  den  Pulmonal-  und  Bronchialdrüsen 
durch  die  Lymphgefässe  der  Luftröhre  von  besonderer  Wichtigkeit  sind.  Die 
Anschwellung  der  Traclieal-,  Oesopliageal-  mid  Suhmaxülardrüsen,  sowie  der 
Glandulae  jugulares  kommt  ebenfalls  in  Betracht.  Mitunter  nimmt  ein  Drüsen- 
packet  die  Vena  azygos  oder  hemiazygos  in  sich  auf  und  verhindert  den  Abfluss 
des  Blutes  in  das  rechte  Herz.  Angeschwellte  Drüsen  am  Halse  können  dasselbe 
bei  den  vom  Kopfe  kommenden  Venen  bewirken.  Die  Folge  davon  ist,  dass  je 
nach  Umständen  mehr  rechts  oder  links  am  Thorax  oder  aber  im  Gesichte  einzelne 
ausgedehnte  Venennetze  beobachtet  werden.  Auch  den  Nervus  vagus  findet  man 
in  Drüsenpackete  eingebettet,  doch  scheint  dies  nicht  immer  laryngosp astische 
Zustände  hervorzurufen.  Letztere,  bei  der  Hyperplasie  der  Bronchialdrüsen  be- 
sonders gefährlich,  sind  nicht  so  sehr  auf  eine  directe  Affection  des  Nervus 
vagus,    als  auf  eine  mehr  oder  weniger  floride  ßhachitis  zurückzuführen. 

Die  Diagnose  der  Bronchialdrüsenhyperplasie  mit Compression  der  grösseren 
Bronchien  lässt  sich  bei  Kindern  mit  Y2  —  ^^U  Jaliren  somit  aus  folgenden 
Symptomen  feststellen :  Chronischer  und  meist  fieberloser  Verlauf,  kurzer,  trockener 
Husten,  stridulöses,  sägendes,  mit  freiem  Ohre  laut  hörbares  Athmen  mit  con- 
stantem  grossblasigen  Easseln  in  der  Luftröhre  und  dem  Kehlkopfe,  nebst 
schärferem  Athmen  an  der  comprimirten  Stelle  und  inspiratorischer  Einziehung 
längs  der  Insertion  des  Zwerchfelles,  während  an  der  oberen  Thoraxapertur  keine 
Veränderung  vorhanden  ist. 

Es  gibt  manche  Fälle,  bei  denen  die  Symptome  nicht  in  derselben  Weise 
hervortreten,  daher  die  ziemlich  bedeutend  vergrösserten  Bronchialdrüsen  nur 
vermuthet  werden  können.  Hielier  gehören  jene  Fälle  von  Vergrösserung  der 
Bronchialdrüsen  mit  oder  ohne  Compression  der  Bronchien  bei  grösseren 
Kindern.  Auch  bei  kleineren  Kindern  können  namhaft  vergrösserte  Bronchial- 
drüsen ohne  Compression  der  Luftwege  keine  auffälligen  Erscheinungen  ver- 
anlassen. 

Bei  dem  weiteren  und  geräumigeren  Thorax  der  grösseren  Kinder  genügt 
selbst  die  Compression  eines  grösseren  Bronchus  nicht,  um  eine  inspiratorische 
Einziehung  an  der  unteren  Thoraxapertur  zu  veranlassen.  Ebenso  fehlt  bei  der 
grösseren  Weite  der  Luftröhre  das  stridulöse  Athmen.  An  der  comprimirten  Stelle 
kann  das  schärfere  (bronchiale)  Athmen  gehört  werden,  doch  kann  auch  eine 
umschriebene  Lungeninfiltration  im  überlappen  vorhanden  sein.  Erwähnt  muss 
werden,  dass  ganz  bedeutende  Tumoren,  die  von  den  Bronchialdrüsen  ausgehen, 
auch  bei  kleineren  Kindern  vollständig  latent  bleiben  können. 

Bei  der  Prognose  ist  Vorsicht  am  Platze.  Bei  einer  hinzutretenden 
lobulären  Pneumonie  oder  aber  in  Folge  Durchbruches  einer  vereiternden  Drüse 
in  einen  Bronchus  kann  der  Tod  ganz  plötzlich  einireten.  Dieser  Zufall  kann 
aber  auch  bei  Laryngospasmus,  an  dem  bekanntlich  viele  rhachitische  Kinder 
leiden,  eintreten,  besonders  dann,  wenn  die  Bronchien  mit  reichlichem  Secret 
erfüllt  sind.  Eine  weitere  Gefahr    für  den  Organismus  liegt  nicht  so  sehr  in  den 


224  BRUST-  UND  BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE. 

bronchitischen  und  dyspnoischen  Ersclieinungen,  als  darin,  dass  es  von  den 
tuberciüisirten  Entzündungsproducten  ans  zu  einer  Resorptionstuberkulose  mili- 
arer Form  kommen  kann,  wie  man  sich  bei  jeder  Autopsie  der  an  Meningitis  tuberc. 
verstorbenen  Kinder  überzeugen  kann,  bei  denen  constant  tuberculös  degenerirte 
Bronchialdrüsen  angetroffen  werden. 

Therapie.  Liegt  der  chronischen  Bronchitis  mit  den  Drüsenscliwellungen 
eine  mehr  oder  minder  floride  Ehachitis  zu  Grunde,  so  ist  eine  antirhachitische 
Behandlung  (siehe  oben)  einzuleiten.  Um  den  weiteren  Indicationen  zu  genügen, 
sind  resorbirende  Mittel  in  Anwendung  zu  bringen  und  eine  Abschwellung  der 
vergrösserten  Lymphdrüsen  zu  veranlassen,  wobei  aber  auf  den  Ernährungszustand 
Eücksicht  zu  nehmen  ist.  Sind  die  Kinder  blass,  schlaff  und  abgemagert,  so  sind 
Eisenpräparate  mit  oder  ohne  Arsen  (Tind.  amara,  T.  fern  pomat.  aa.  ö'OO, 
event. :  Tlnd.  arsenic.  Fowlerl  gtt.  6 — 10^  2—3mal  im  Tage  10 — 15  Tropfen 
zu  nehmen)  zu  geben,  stärkere  Jodpräparate  aber  zu  vermeiden. 

Bei  Besserung  des  Ernährungszustandes  kann  als  üebergang  zur  reinen 
Jodbehandlung  Jod  und  Eisen  in  Form  des  leicht  nehmbaren  Jodeisensyrup  (%r. 
ferri  jodati  gtt.  4 — 10  auf  Syr.  simpl.  20,  3mal  im  Tage  einen  halben  Kaffee- 
löffel) gegeben  werden.  Die  Dosirung  von  Jodkali  oder  Jodnatrium  sei  eine  sehr 
massige,  um  einen  Jodismus  zu  vermeiden. 

Die  Jodkalibehandlung  {Kali  jodati  0-20 — 0-25  ad  100  g  Colatur)  wird, 
wie  die  anderen  Medicationen,  durch  methodische  Einreibungen  von  Sapo  viridis 
und  Gl'ijcerin  zu  gleichen  Theilen  wirksam  unterstützt.  Man  lässt  Früh  und 
Abends  den  Eücken  tüchtig  mit  der  Seife  einreiben  und  reinigt  vor  jedem 
weiteren  Einreiben  die  Haut  mit  lauem  Wasser. 

Selbstverständlich  muss  die  Ernährung  eine  zweckmässige  sein  und  man 
beobachtet  nicht  so  sehr  selten,  dass  bei  Hebung  des  Ernährungszustandes  die 
Erscheinungen   wesentlich  nachlassen.  v.  hüttenbeennee. 

Brust-  und  Baucheingeweide-Topographis.  Bei  inspection  der 

vorderen  Brustwaud  gewahrt  man  in  der  Mitte  eine  seichte  Längsfurche, 
zu  deren  beiden  Seiten  sich  die  Wände,  je  nach  Geschlecht  und  physischer 
Entwickelung,  mehr  oder  weniger  wölben.  Beim  Manne  ist  diese  Wölbung 
vom  Grade  der  Entwickelung  der  hier  lagernden  Brustmuskeln  abhängig; 
eine  hoch  gewölbte  Brust  ist  unter  normalen  Verhältnissen  stets  ein  Zeichen 
physischer  Kraft.  Beim  Weibe  sind  es  die  Milchdrüsen  oder  das  hier  an- 
gehäufte Fett,  von  denen  das  stärkere  oder  schwächere  Vorspringen  der 
Brüste  bedingt  ist.  Die  Brustwarze  ist  beim  Weibe  in  den  meisten  Fällen 
der  fünften  Rippe  entsprechend,  ungefähr  11  Centimeter  von  der  Mittel- 
linie entfernt,  gelagert,  beim  Manne  befindet  sie  sich  meistens  im  vierten 
Intercostalraum,  reicht  zuweilen  auf  die  vierte  Rippe  hinauf,  kann  aber 
auch  auf  die  fünfte  Rippe  hinabsinken.  Die  Warze  ist  gewöhnlich  nicht 
symmetrisch  gelagert  und  liegt  dann  auf  der  einen  Seite  niedriger,  als  auf 
der  anderen.  Die  obere  Grenze  der  Brustwand  wird  beiderseits  durch  die, 
besonders  bei  mageren  Subjecten,  vorspringenden  Schlüsselbeine  angedeutet; 
in  der  Mitte  dieser  Grenze  findet  man,  dem  oberen  Rande  des  Brustbein- 
griffes entsprechend,  einen  Ausschnitt.  Ueber  diesem  Rande  befindet  sich 
eine  Grube,  die  Eossa  suprasternalis ;  ausserdem  gewahrt  man  noch  zwei 
Gruben:  die  Fössa  supradavicularis  über  der  Mitte  des  Schlüsselbeins  und 
die  Eossa  infraclavicularis  s.  Mohrenheimi  unter  der  Stelle,  wo. das  äussere 
Drittel  des  Schlüsselbeines  in  das  mittlere  übergeht;  im  äusseren  Theil 
dieser  Grube  stösst  man  auf  den  Rabenschnabelfortsatz  des  Schulterblatts. 
Die  untere  Grenze  der  vorderen  Brustwand  wird  durch  die  beiderseits 
vorspringenden  Knorpel  der  siebenten  wahren  und  der  letzten  falschen 
Rippen   angedeutet;   seitlich   wird   die   vordere  Brustwand  von   den   durch 


Brust-  und  Baucheingeweide  -  Topographie. 


Erklärung  der  Abbildung. 

Bothe  Linien.  —  Grenze  des  Herzens :  a)  Ostium  venosum  dextratn,  b)  03tium  venosum 
ßinistrum,  c)  Ostium  arterioautn  dextrutn,  d)  Ostiura  arterio3um  sinistrutn,  e)  Aorta,  f)  Art. 
pulmonalis,  g)  Truneus  brachio-cephalicus,  h)  Art.  subclavia  dextra  (wird  in  der  Mitte  zwischen 
dem  äusseren  Ende  dea  Schlüsselbeins  und  der  Mitte  des  Mauabrium  sterni  comprimiert), 
i)  Art.  carotis  comm.  dextra  (wird  medianwärts  vom  Tuberculum  des  6.  Halswirbels,  Tuber- 
culum  caroticura  s.  Chasaaignao  comprimiert),  A;)  Art.  iliaoa  externa  (wird  in  der  Mitte  zwi- 
schen dem  oberen  Eande  der  Synchoadrosis  pubis  und  der  Spina  anterior  superior  ilei 
comprimiert). 

Blaue  Linien.  —  Die  Grenzen  der  Pleuralsäcke. 

Blaue  weUenförmige  Linien.  —  Die  Grenzen  der  Lungen:  a)  Oberer  Lappen, 
ß)  Mittlerer  Lappen,  "[)  Unterer  Lappen. 

Gelbe  Linien.  —  Die  Grenzen  der  Leber,  und  dem  ersten  Lumbalwirbel  entsprechend, 
die  Grenzen  des  Pancreas. 

Violetrothe  Linien  links  und  hinter  dem  Magen,  die  Grenzen  der  Milz  (der  Längs- 
durchmesser entspricht  dem  9.  lutercostalraum,  das  obere  Ende  der  Milz  ist  der  Wirbelsäule 
zugekehrt  und  erreicht  auf  zwei  Querfinger  breit  dieselbe  nicht).  Die  Grenzen  der  Nieren  (über 
der  Höhe  des  Nabels). 

Grüne  Linien.  —  Die  Grenzen  der  Speiseröhre,  des  Magens,  der  Theile  des  Dunn- 
und  Dickdarms. 


BRUST-  UND  BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE.  225 

die  Mitte  der  Achselhöhle  gehenden  verticalen  Linien,  den  Ldneae  axillares, 
begrenzt.  —  Zur  Lagebestimmung  der  Brusteingeweide  dient  noch  eine 
durch  die  Mitte  der  Brustwand,  vom  Randausschnitte  des  Brustbein  griff  es 
gezogene  Verticale,  die  Sternallinie  {Linea  sternalis).  Ausserdem  zieht 
man  noch  verticale  Linien  durch  die  Grenze  zwischen  dem  inneren  und 
dem  mittleren  Drittel  des  Schlüsselbeins,  die  Linea  parasternalis,  und  durch 
die  Grenze  zwischen  dem  mittleren  und  dem  äusseren  Drittel  desselben 
Knochens,  die  Linea  jyapillaris  s.  mamillaris.  —  Die  letztere  Linie  geht 
gewöhnlich  durch  die  Mitte  der  Brustwarze,  die  ParaSternallinie  aber  geht 
im  fünften  linken  Rippenzwischenraum  gewöhnlich  durch  die  Stelle,  wo 
sich  die  unter  dem  Namen  des  Herzstosses  bekannte  systolische  Hebung 
der  Brustwand  wahrnehmen  lässt.  Endlich  benutzt  man  noch  eine  linker- 
seits vom  inneren  Ende  des  Schlüsselbeines  zur  Spitze  des  elften  Rippen- 
knorpels gezogene  Linie,  die  als  Linea  costo  -  clavicularis  bezeichnet  wird, 
zur  Bestimmung  der  Verrückung  der  unteren  Grenze  der  Milz ;  bei  normalen 
Verhältnissen  wird  diese  Linie  von  dem  unteren  Ende  der  Milz  nicht 
überschritten. 

Bei  Inspection  der  Briistwand  dürfen  unter  normalen  Verhältnissen  die  oberfläch- 
lichen Venen  nicht  zu  sehen  sein,  das  stärkere  Hervortreten  dieser  Venen  im  oberen 
Theile  der  Brustwand,  besonders  bei  Kindern,  deutet  auf  Hindernisse  in  der  Circulation 
der  Brusthöhle  oder  auf  schwache  Respirationsexcursionen.  Zu  beiden  Seiten  des  Brust- 
knochens verlaufen  vertical,  die  Rippenknorpel  kreuzend,  die  Art.  mammariae  s.  thoracicae 
internae\  sie  entspringen  jederseits  aus  der  Art.  subclavia,  nehmen,  von  zwei  Venen 
begleitet,  längs  dem  Brustbeinrande  abwärts  ihren  Lauf  und  entfernen  sich  im  vierten 
und  fünften  Rippenzwischenraum  von  diesem  Rande,  so  dass  hier  der  Abstand  zwischen 
der  inneren  Vene  und  dem  Brustbeinrande  5 — 7  mm  beträgt.  Die  Function  des 
Herzbeutels  ist  daher  im  vierten  oder  fünften  Int  er  cos  tal  räume,  fast 
am  Rande  des  Brustbeins,  möglich.  Die  Art.  mammaria  interna  versorgt  haupt- 
sächlich die  vordere  Brustwand  und  kann  bei  Obliteration  der  Aorta  desoendens  mit  Hilfe 
der  Art.  diaphragmaticae  superiores  et  inferiores,  der  Epigastricae  superiores  et  inferiores, 
der  Intercostales  anteriores  und  der  Thoracicae  longae  etc.  einen  collateralen  Kreislauf 
bilden. 

Ln  Brustraume  sind  drei  seröse  Säcke  mit  den  von  ihnen  um- 
schlossenen Eingeweiden  und  zwei  Mittelfellräume,  das  Mediastinum  antlcum 
et  postkum,  enthalten.  In  den  beiden  seitlichen  serösen  Pleuralsäcken 
befinden  sich  die  Lungen,  in  dem  mittleren  Pericardialsack  das  Herz. 

Die  beiden  seitlichen  serösen  Säcke  füllen  mit  ihrem  Inhalt  die  Seiten- 
theile  der  Brusthöhle  aus;  zwischen  ihnen  ist  vorn  und  unten,  der  Mitte 
entsprechend,  der  mittlere  seröse  Sack,  welchen  das  Herz  einnimmt,  ein- 
gekeilt. In  jedem  dieser  vollständig  geschlossenen  Säcke  unterscheidet  man 
einen  parietalen,  die  Brust-  und  Nachbarswände  bekleidenden  Theil  und 
einen  visceralen,  der  die  in  den  Säcken  enthaltenen  Organe  bekleidet  imd 
mit  ihnen  verschmilzt.  Die  von  den  lateralen  Säcken  umschlossenen  Lungen 
haben  die  Gestalt  eines  Kegels  mit  stumpfer  Spitze  und  schräg  nach  aussen 
und  unten  abgetragener  concaver  Basis ;  ausserdem  lassen  die  Lungen  eine 
Aussen-  und  eine  Innenfläche  erkennen.  Die  Spitze  {Apex pulmonis)  ragt 
über  den  Rand  der  ersten  Rippe  hinaus,  ist  an  der  rechten  Lunge  höher 
(3 — 3-2  cm  über  dem  Schlüsselbein)  als  an  der  linken  (2—2-2  cm)\  gleich 
über  dem  Schlüsselbeine  gewahrt  man  eine  von  innen  nach  aussen  gehende 
Furche  {Sulcus  subclaviiis),  die  von  der  Schlüsselbeinarterie  herrührt.  Die 
Basis  {Superficies  diaphragmatica)  ist  dem  Zwerchfell  zugekehrt,  sie  wird 
durch  einen  scharfen  Rand  von  der  Aussenfläche  geschieden; 
die  letztere  {Superficies  costalis)  ist  convex,  den  Rippen  und  Rippen- 
zwischenräumen anliegend,  hinten  stösst  sie  an  den  äusseren  Umfang 
der  Wirbelsäule,  vorn  an  die  Innenfläche  des  Brustbeins.  Die  Innen- 
fläche (Superficies  interna  s.  cardiaca)  ist  in  ihrem  mittleren  und 
unteren  Theil   concav   und    umschliesst   hier   das  Herz;    über    und    hinter 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  1" 


226  BRÜST-  UND  BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE. 

dem  Herzen  findet  man  au  dieser  Fläche   eine  Längsfurche  {Hilus  pulmo- 
nalis) ;  sie  entspricht  ihrer  Lage  nach  der  Linea  parasternalis,  da  wo  diese 
Linie  den  zweiten  und  dritten  Rippenzwischenraiim  kreuzt.  Die  Länge  dieser 
Furche   beträgt    7 — 8   cm,     ihre   Breite   5 — 5-5  cm\    durch    diese   Furche 
dringen  Aeste  des  Bronchus,    die  Lungenarterie   und  die  Bronchialarterien 
in  die  Lunge  ein;    aus    der  Lunge  kommen  die  Lungenvenen,  Nervenäste, 
die  Bronchialvenen  und  Lymphgefässe ;  diese  Theile  sind  alle  durch  Binde- 
gewebe  mit   eingeflochtenen   elastischen  Fasern   verbunden.    Am  weitesten 
nach  hinten  liegt  in  diesem  Hilus  der  Bronchus,    darauf  folgen  nach  vorn 
die  Lungenarterie  und  die  Lungenvenen ;  im  rechten  Hilus  folgen  von  oben 
nach  unten  der  kurze   und   dicke  Bronchus,    die   längere  Arterie   und   die 
Venen  aufeinander;  im  linken  in  derselben  Richtung:  die  kürzere  Arterie, 
der  lange  und  schmale  Bronchus  und  die  Venen.  Vor  der  rechten  Lungen- 
arterie ist  die  obere  Hohlvene  und  die  Aorta  ascendens  gelagert;  die  obere 
Hohlvene   liegt   der  Innenfläche   des  rechten  Brustfellsackes  an.    Zwischen 
der  Vene  und  dem  Brustfell  verläuft  der  N.  phrenicus  nach  unten,    rechts 
gleich  vor  dem  Hilus  pulmonalis,    links   mehr  nach  vorn  (15 — 18  mm).   An 
der  linken  Lunge  ist  hinter  dem  Hilus  eine  lange  Furche  bemerkbar,    das 
ist  der  Sukus  aorticus,  wo  die  Aorta  descendens  dem  linken  Brustfellsack 
anliegt.  —  Von   den   drei  Bändern  jeder  Lunge   ist   der  vordere  und  der 
untere  scharf,  der  hintere  stumpf;  unter  der  Längsfurche  der  Lunge  geht, 
dem  hinteren  Rande   parallel,   bis   zur  Basis    die  viscerale   Pleura   in   die 
parietale  über,  es  ist  dies  das  sogenannte  Ligamentum  pulmonale,  ein  drei- 
eckiges, nach  unten  sich  verbreitendes  Mesenterium  der  Lunge.  Jede  Lunge 
ist    durch   Furchen    (Incisurae    interlobulares)    in   Lappen    {Lobi  pulmonales) 
getheilt;  die  rechte  in  drei  —  den  vorderen,  mittleren  und  hinteren,  die 
linke  in  zwei  —  einen  vorderen  und  einen  hinteren.  Die  Theilungsebene 
der  linken  Lunge  kann  man  sich  von  dem  hinteren  Ende  der  zweiten  Rippe 
nach  vorn   und   unten  zum  vorderen  Knochenende  der  sechsten  Rippe  ge- 
legt denken.  Eine  durch  die  Verbindungsstelle  des  vierten  Rippenknorpels 
mit   dem   Brustbein   gelegte   Horizontalebene    theilt    die    rechte   Lunge   in 
einen  vorderen  und  einen  prismatischen  mittleren  Lappen.  Der  Vorderrand 
des   vorderen  Lappens   der  linken   Lunge   zeigt   in   seinem   unteren    Theil 
einen  Ausschnitt,  die  Incisura  carcUaca.  Der  Lappen  endigt  unter  dem  Aus- 
schnitt mit  einem  mehr  oder  weniger  vorspringenden  zungenförmigen  Fort- 
satz, der  die  Herzspitze  bedeckt. 

Die  Grenzen  der  Brustfellsäcke  können  durch  folgende 
Linien  bezeichnet  werden.  Rechts  von  der  Verbindungsstelle  des  inneren 
Drittels  des  Schlüsselbeins  mit  dem  mittleren  in  einer  Entfernung  die  dem 
Querdurchmesser  des  vierten  und  fünften  Fingers  des  gegebenen  Individuums 
entspricht,  über  dem  Schlüsselbeine  befindet  sich  die  Spitze  des  Sackes. 
Von  diesem  Punkt  zieht  man  eine  Linie  zur  Mitte  der  rechten  Articulatio 
stemo-clavicularis,  weiter  durch  das  Manubrium  sterni  zur  Grenze  zwischen 
dem  mittleren  und  dem  linken  Drittel  der  Verschmelzung  des  Manubrium 
mit  dem  Körper  des  Brustbeins,  von  hier  vertical  nach  unten  bis  zur 
Ebene  des  vierten  rechten  Intercostalraumes,  dann  schräg  nach  rechts 
zum  fünften  Intercostalraume,  durch  die  Linea  parasternalis  geht  die 
Begrenzungslinie  längs  dem  Knorpel  der  siebenten  Rippe  durch  die  Linea 
papillaris  längs  der  neunten  Rippe  durch  die  Linea  axillaris  im  zehnten 
Intercostalraum,  oder  sie  geht  längs  dem  oberen  Rande  der  elften  Rippe 
nach  hinten  und  innen,  kreuzt  die  zwölfte  Rippe  und  reicht  bis  zum  Körper 
des  zwölften  Brustwirbels.  Links  beginnt  die  Begrenzungslinie  des  Pleural- 
sackes  10 — 12  Mm.  niedriger  oder  um  ein  Kleinfingerbreit  näher  zum 
Schlüsselbein,  als  rechts.    Von    diesem  Punkt    geht    die  Linie    nach  innen 


BRÜST-  UND  BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE.  227 

micl  unten  zur  Articulatio  sterno-clavicularis,  weiter  zur  Verschmelzuuos- 
stelle  des  Manubrium  sterni  mit  dem  Corpus  sterui,  wo  das  linke  Drittel 
in  das  mittlere  Drittel  übergeht.  Dann  verläuft  die  Linie  bis  zur  Ebene 
der  dritten  Eippe  vertical  nach  unten,  wendet  sich  hier  links  zur  Mitte 
des  vierten  Rippenknorpels  und  dem  vierten  Intercostalraum,  dann  wieder 
zur  Medianebene,  zum  Sternalende  der  fünften  Rippe,  geht  dann  nach 
aussen  und  unten  und  kreuzt  die  Linea  parasternalis  an  der  siebenten 
Rippe  und  verläuft  weiter  ebenso  wie  rechts,  selten  verläuft  sie  rechts 
um  5 — 6  Mm.  höher  als  oben  angegeben. 

Die  Grenzen  d  e  r  L  u  n  g  e  n  fallen  im  oberen  Theil  der  Brusthöhle  mit 
den  eben  angeführten  Grenzen  der  Brustfellsäcke  zusammen.  Bei  der  Lispira- 
tion  legt  sich  der  vordere  Rand  der  linken  Lunge  vor  den  vorderen  Rand  der 
rechten,  wie  überhaupt  alle  paarigen  Organe  der  Brusthöhle,  die  sich  in  der 
Mittelebene  begegnen,  sich  so  lagern,  dass  die  linken  vor  den  rechten  zu  lieo-en 
kommen.  Erst  am  Körper  des  Brustbeins  gehendie  Grenzen  auseinander.  Die 
Grenze  der  rechten  Lunge  geht  früher  nach  rechts  als  die  Grenze  des  Pleural- 
sackes  nämlich    in  der  Ebene   des  vierten  Rippenknorpels;    von    hier   aus 
geht  die  Begrenzungslinie  zum   fünften  Rippenknorpel,     kreuzt    die  Linea 
parasternalis  an  der  sechsten  Rippe,  die  Linea  papillaris  an  der  siebenten 
Rippe  und  die  Linea  axillaris  an  der  achten  Rippe  oder  im  achten  Inter- 
costalraum.   Diese  Grenzen  sind  am  Leichnam   bestimmt  worden,    sie  sind 
hier  gut  zu  sehen,   wenn  Haut  und  Intercostalmuskeln    entfernt    sind   und 
die  Lungen    durch    die  Pleura    durchschimmern.    Die  Grenzen   der  linken 
Lunge  weichen  im  vorderen  unteren  Theil    von  denen    der  rechten  Lunge 
ab.  Von  der  Ebene  der  dritten  Rippe  an  richtet  sich  die  Grenze  der  linken 
Lunge    nach    aussen   zur   Mitte    des    vierten  Rippenknorpels,    wendet  sich 
dann  wieder    nach    innen    zum    Sternalende    des    fünften    Rippenknorpels, 
welches    sie   jedoch    nur  bei  der  Inspiration  erreicht,    verläuft  dann  nach 
aussen    und    unten    und    kreuzt    die  Linea    parasternalis    an   der  sechsten 
Rippe,  die  Linea  papillaris  an  der  siebenten  Rippe  und  die  Linea  axillaris 
an  der  achten  Rippe  oder  im  achten  Intercostalraume,  wie  rechts.  Zwischen  den 
Grenzen  der  Lunge  und  des  Brustfells  bleiben  beiderseits  Zwischenräume  frei 
wo  die  parietalen  Blätter  des  Brustfellsackes  einander  unmittelbar  berühren 
dies  sind  die  Sinus  pleurae,  und  zwar :  der  Sinus  phrenico-costalis,  zwischen 
der  Pleura  phrenica  und  der  Pleura  costalis,  der  Sinus  mediastino-phrenicus, 
zwischen   der  Pleura    pericardiaca    und    phrenica,    welcher    die  Basis    des 
Herzbeutels  umgibt,  und  der  Sinus  mediastino-costaUs,  zwischen  der  Pleura 
pericardiaca  und  costalis,   besonders   stark   im   linken  Brustfellsack  auso-e- 
prägt.  Von  diesen  Sinus  pleurae  kann   der   erste   nie  von   der  Lunge  aus- 
gefüllt werden,    auch    nicht    bei  maximaler  Inspiration,    er    erstreckt   sich 
jederseits  von  der  neunten  oder  achten  Rippe  bis  zum  zehnten  Intercostalraum. 
Zwischen  den  beiden  Lungen  befindet  sich  das  Herz.  Dieser  bleibt  aus 
zwei  Empfangshöhlen,    Vorhöfen  (Atria),    und   zwej  Auswurfshöhlen,    Herz- 
kammern (Ventriculi)   bestehende   Muskelsack   hat   die  Form  eines  Kegels 
mit  nach  rechts  oben  und  hinten  gewandter  Basis  ^j^^\  j^r^^.]^  links,  unten  und 
vorn  gerichteter  Spitze.  Das  Herz  ist  von  eine  ^ gleichfalls  conischen  Sack, 
dessen  Basis  jedoch  nach    unten    gerichtet    ist^    während   die  Spitze   nach 
oben    gewandt    ist,    hermetisch    umschlossen,    i^    dem   Herzen    sind    zwei 
nebeneinander  (horizontal)  und  zwei  übereinander  (vertical)  gelegene  Höhlen 
zu  unterscheiden.   Zwischen   den   beiden  erstehen  befindet  sich  der  grosse 
oder  V  er  ticale  Körperkreislauf,    zwischen    den   beiden  letzten  der 
kleine  oder  horizontale  Lungenkreislauf.  Die  beiden  ersten  Höhlen 
sind    der    rechte   Vorhof    {Atrium    dextrum)    und    die    linke    Herzkammer 
{Ventriad'us  sinister),  die  beiden  letzten  der  linke  Vorhof  (^l^r/n?/i  sinistrum) 

15* 


228  BRÜST-  UND  BAÜCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE. 

und  die  rechte  Kammer  (Venfricidus  dexter).  In  den  ersten  Yorhof  münden: 
Die  in  verticaler  Richtung  verlaufenden  Hohlveuen  (die  obere  und  die 
untere)  und,  unter  rechtem  Winkel  zur  Pachtung  dieser  Venen,  der  von 
links  nach  rechts  gehende  Sinus  communis  venarum  cardiacarum  cordis. 
Von  der  linken  Kammer  aus  wendet  sich  die  Aoria  nach  oben  und  dann 
Yertical  nach  unten,  parallel  den  Hohlvenen.  Aus  der  rechten  Kammer 
kommt  die  Lungenarterk,  die  sich  in  zwei  horizontal  auseinandergehende 
Stämme,  welche  in  die  rechte  und  die  linke  Lunge  eindringen,  theilt ;  aus 
den  Lungen  kommen  die  Lungenvenen,  welche  horizontal  in  den  linken 
Vorhof  münden.  Die  Lage  des  Herzens  ergibt  sich  sehr  genau  aus  den 
hier  angeführten  Verhältnissen.  Die  zur  Volumenvergrösserung  der  Vorhöfe 
dienenden  Herzohren  (Auriculus  cordis  dexter  et  sinister)  liegen  über  der 
Querfurche  des  Herzens  und  umfassen  von  links  und  rechts  den  Stamm  der 
Lungenarterie.  Der  rechte  Rand  der  rechten  Kammer  ist  fast  hori- 
zontal, der  linke  Rand  der  linken  Kammer  fast  vertical.  In  der 
Richtung  der  Horizontalfurche  des  Herzens  befinden  sich  die  beiden  venösen 
und  die  beiden  arteriellen  Oeffnungen;  wo  grössere  Kraftanwendung  erfor- 
derlich ist,  da  muss  der  Widerstand  weniger  getheilt  sein  und  umgekehrt ; 
daher  wird  die  rechte  venöse  Oetfnuug  durch  eine  dreizipfelige  Klappe, 
die  linke  Oetfuung  aber  durch  eine  zweizipfelige  verschlossen.  In  den 
arteriellen  Oeffnungen  dienen  die  halbmondförmigen  Klappen  als  Verschluss. 
Das  Herz  wird  eng  vom  Herzbeutel  umschlossen,  dieser  Beutel  ist  unten 
durch  eine  fibröse  Schicht  mit  der  oberen  Fläche  des  Sehnentheils  des 
Centrum  tendineum  diaphragmatis  verbunden.  Der  conische,  mit  der  Basis 
nach  unten  gerichtete  Beutel  ist  ausserdem  durch  zwei  Bindegewebsstränge 
am  Manubrium  sterni  (Lig.  sterno-pericarcUacum  superius)  und  an  der  Basis 
des  Schwertfortsatzes  {Lkj.  sterno-perkardiacum  inferius)  befestigt,  in  jedem 
dieser  Bündel  sind  Muskelfasern  enthalten:  im  oberen  Fasern  des  M. 
sterno-thyreoideus,  im  unteren  Fasern  des  Sternaltheiles  des  Zwerchfells. 
Das  Herz  hängt  nicht  frei  in  der  Brusthöhle,  sondern  wird,  ebenso  wie  die 
Theile  der  Gelenke  und  wie  die  Baucheingeweide,  durch  .äusseren  Luft- 
druck, durch  Muskelkraft  und  durch  Adhäsion  in  seiner  Lage  erhalten; 
diesen  Kräften  bieten  Widerstand:  das  Gewicht  des  Organs,  seine  Elasti- 
cität  und  die  mit  seiner  Bewegung  verbundene  Reibung.  —  Die  vordere 
obere  Wand  der  Kammern  liegt  der  Brustwand  und  den  Lungen  an,  zwei 
Drittel  derselben  gehören  der  rechten  Kammer,  ein  Drittel  der  linken 
Kammer  an,  die  hintere  untere  Wand  stützt  sich  auf  das  Zwerchfell,  und 
zwar  gehören  hier  zwei  Drittel  der  linken  Kammer,  ein  Drittel  aber  der 
rechten  Kammer  an.  Da  Muskelarbeit  nur  bei  entsprechendem  Widerstände 
geleistet  werden  kann,  so  ist  die  Arbeit  des  Herzens  von  dem  Widerstände 
der  umgebenden  Organe  und  Muskeltheile  abhängig,  da  der  Mechanismus 
des  Zipfelklappenverschlusses  in  der  Gegenwirkung  der  Warzenmuskel,  von 
denen  jeder  auf  zwei  ^benachbarte  Zipfel  wirkt  und  des  Druckes  der 
Kammerblutsäule  besteht,  und  da  der  systolische  Ton  hauptsächlich 
durch  das  Erzittern  der  Valvulae  venosae  im  Zustande  starker  Spannung 
bedingt  wird,  so  ergibt  sich  hieraus  die  Abhängigkeit  dieses  Tones 
von  dem  Grade  der  Kraftentwicklung  der  Kammermuscula- 
turund  der  Brustwandmuskeln.  Ebenso  ist  der  zweite  Ton,  welcher 
der  Schliessung  der  Valvulae  sigmoideae  entspricht,  von  dem  Grade  der 
Elasticität  der  Arterienstämme  und  dem  Widerstände  derjenigen 
Theile,  durch  welche  der  Strom  aus  den  Stämmen  getrieben  wird,  abhängig. 
Die  Coronararterien  des  Herzens  nehmen  meist  auf  der  Grenze  des  Sinus 
Valsalvae  ihren  Anfang,  doch  kann  der  Blutstrom  nur  dann  in  diese  Arterien 
dringen,    wenn    die    austreibende  Kraft  der  Kammerwände  abnimmt,    denn 


BRUST-  UND  BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE.  229 

je  mehr  sich  die  Wände  der  Arterienstämme  ausdehnen,  desto  schräger 
stellen  sich  die  Klappen  und  desto  mehr  werden  ihre  freien  Ränder  wie 
Kreissehnen  gespannt.  Das  Herz  ist  in  der  Läugenrichtung  spiralig  gedehnt 
und  so  gelagert,  dass  eine  durch  die  Mitte  des  Brustknochens  gehende 
Sagittalebene  alle  vier  Höhlen  trifft,  wobei  ein  Drittel  des  Herzens  zur 
Rechten,  zwei  Drittel  aber  zur  Linken  dieser  Ebene  zu  liegen  kommen. 
Auf  die  vordere  Brustwand  projicirt,  kann  die  Lage  des  Herzens  hier  durch 
folgende  Linien  bestimmt  werden :  eine  in  der  Mitte  des  zweiten  rechten 
Intercostalraumes  18  mm  (%'0  vom  rechten  Sternalrande  am  Cadaver  ein- 
gestochene Xadel  triffst  bei  normalen  Verhältnissen  die  obere  rechte  Grenze 
der  rechten  Vorkammer;  eine  durch  die  Verbindungsstelle  des  fünften 
rechten  Rippenknorpels  mit  dem  Brustbein  gehende  Nadel  streift  die 
Grenze  des  rechten  Vorhofs  und  der  rechten  Kammer;  eine  an  der  Kreuzung 
der  linken  Linea  parasternalis  mit  der  Mitte  des  fünften  Intercostalraums 
der  linken  Seite  eingestochene  Nadel  trifft  meist  die  Herzspitze  und  eine 
in  die  Mitte  des  zweiten  linken  Intercostalraums  um  eine  Daumenbreite 
vom  linken  Brustbeinrande  eingestochene  Nadel  muss  der  Grenze  zwischen 
dem  linken  Rande  des  linken  Vorhofs  und  der  linken  Kammer  entsprechend 
durchgehen  ;  eine  Nadel  am  linken  Brustbeinrande,  gleich  über  dem  Knorpel 
der  zAveiten  Rippe,  im  ersten  linken  Intercostalraum  trifft  den  obersten 
Theil  des  linken  Vorhofs.  Die  die  Stichstellen  dieser  Nadeln  verbindenden 
Linien  bezeichnen  die  auf  die  Fläche  projicirten  Grenzen  des  Herzens; 
hierbei  entspricht  die  Linie  von  der  ersten  zur  zweiten  Nadel  dem  Rande 
des  rechten  Vorhofs,  die  die  zweite  mit  der  dritten  Nadel  bogenförmig 
über  die  Basis  des  Schwertfortsatzes  verbindende  Linie  bezeichnet  den 
rechten  Rand  der  rechten  Kammer,  die  von  der  dritten  zur  vierten  Nadel 
gezogene  Linie  fällt  mit  dem  linken  Rande  der  linken  Kammer  zusammen ; 
eine  die  vierte  und  die  letzte  Nadel  verbindende  Linie  bezeichnet  den 
linken  Rand  des  linken  Vorhofs,  endlich  entspricht  eine  die  fünfte  mit  der 
ersten  Nadel  verbindende  Linie  der  oberen  Grenze  der  beiden  Vorhöfe. 
Eine  von  der  zweiten  zur  vierten  Nadel  gezogene  Linie  fällt  mit  dem 
Sulcus  transversus,  also  der  Grenze  zwischen  Vorhöfen  und  Kammern 
zusammen.  Diese  absoluten  Grenzen  des  Herzens  bestimmen  ziemlich 
genau  dessen  Lage :  die  Ränder  und  die  Spitze  desselben  sind  von  den 
Lungen  bedeckt,  dem  Brustbein  liegt  das  rechte  Ohr  und  die  Vorderwand 
der  rechten  Kammer  an,  der  grössere,  untere  Theil  der  Hinterwand  der 
linken  Kammer  ruht  auf  dem  Zwerchfell,  und  zwar  namentlich  auf  dessen 
vorderem,  sehnigen,  am  wenigsten  beweglichen  Theil.  Der  obere  Theil  der 
Hinterwand  der  linken  Kammer  und  die  Hinterwand  des  linken  Vorhofs 
sind  dem  ]\lediastinum  posterius  zugewandt.  —  Trägt  man  auf  den  auf  oben 
beschriebene  Weise  projicirten  Grenzen  des  Herzens  die  vorderen  Grenzen 
der  Lunge  ab,  so  erhält  man  die  Gegend  der  Herzdämpfung,  da 
diese  Gegend  der  von  der  Lunge  entblössten  Vorderwand  des  Herzenz 
entspricht.  Eine  von  der  Herzspitze  zum  linken  Rande  des  Brustbeines  in 
der  Mitte  des  dritten  Intercostalraumes  gezogene  Linie  bezeichnet  die 
Richtung  der  Herzkammerscheidewand.  Das  Ostiiim  venosum  dextrum  liegt 
auf  einer  Linie,  die  das  Stenialende  der  fünften  rechten  Rippe  mit  einem 
,um  eine  Daumenbreite  vom  Stenialende  der  linken  ersten  Rippe  nach  links 
liegenden  Punkte  verbindet.  Die  Mitte  der  Üetfnung  entspricht  der  Kreuzungs- 
stelle dieser  Linie  mit  einer  durch  die  Sternalenden  der  vierten  Rippen- 
knorpel gelegten  Ebene.  Die  Richtung  der  Valvulae  friciispidales  kann  durch 
eine  Linie,  die  das  Sternalende  der  vierten  rechten  Rippe  mit  dem  Stenial- 
ende der  fünften  linken  Rippe  verbindet,  angegeben  werden.  Das  Ostium 
venosum  sinistrum  liegt   in   der  Richtuu";   einer  die  Mitte    des  Sternalendes 


230  BRÜST-  UND  BAUCHEINGFWEIDE-TOPOGRäPHIE. 

der  dritten  rechten  Rippe  mit  dem  von  der  Linea  parasternalis  gekreuzten 
Rande  des  zweiten  linken  Rippenknorpels  verbindenden  Linie ;  der  Mittel- 
punkt der  Oeünung  befindet  sich  im  zweiten  linken  Intercostalraum,  eine 
Querfingerbreite  vom  linken  Rande  des  Brustbeins  entfernt,  eine  von  diesem 
Mittelpunkte  zum  linken  Umfang  der  Herzspitze  gezogene  Linie  entspricht 
der  Richtung  der  Valvulae  mitrales.  Das  Osfiimi  arteriosum  dextrum  befindet 
sich  meist  am  linken  Rande  des  Brustbeins,  der  Mitte  des  Litercostalraumes 
entsprechend,  die  Oeffnung  ist  nach  links  und  oben  gerichtet,  das  Ostium 
arteriosum  sinistrum  schaut  nach  rechts  und  oben,  sein  Centrum  ist  der 
Mitte  des  dritten  linken  Intercostalraumes  entsprechend,  am  linken  Rande 
des  Brustbeins  gelagert.  Die  auf  der  Mitte  der  Ebenen  einer  jeden  arteri- 
ellen Oeifnung  errichteten  Perpendikel  kreuzen  sich  unter  spitzem  Winkel. 

Im  Brustraum  befinden  sich  noch  ein  vorderer  und  ein  hinterer 
M i 1 1  e  1  f  e  1 1  r  a  u  m.  Der  V  0  r  d  e  r  e  Mittelfellraum  (Mediastinum  anterius)  liegt 
hinter  dem  Manubrium  sterni,  er  reicht  nach  hinten  bis  zur  Trachea,  ist 
beiderseits  von  den  lateralen  Brustfellsäcken  begrenzt.  Seine  Form  ist  die 
eines  horizontal  gelagerten  dreieckigen  Prismas  mit  nach  unten  gekehrter 
Kante  und  nach  oben  gekehrter  Fläche,  welche  dem  oberen  Rande  des 
Manubrium  sterni  entspricht.  In  diesem  Räume  liegen  von  vorn  nach  hinten : 
die  Glandula  Thymus  beim  Neugeborenen,  die  beim  Erwachsenen  zu  einem 
Fettlappen  oder  zu  fetthaltigem  Bindegewebe  wird,  die  Venae  brackio- 
cephalicae  (innominatae)  dextra  et  sinistra  nebst  der  aus  ihrer  Verbindung 
entstehenden  oberen  Hohlvene,  der  Arcus  aortae,  dessen  obere  Convexität 
bis  zu  einer  durch  die  Knorpel  des  ersten  Rippenpaares  gelegten  Ebene 
reicht;  dieser  Bogen  geht  von  rechts  vorn  nach  links  hinten  über  den 
linken  Luftröhrenast ;  aus  der  Convexität  dieses  Bogens  entspringen  der 
Mitte  des  Manubriums  entsprechend  der  Truncus  brachio-cephaUcus  (Art. 
mnominata),  der  zum  oberen  Theile  der  Articulatio  sterno-clavicularis  dextra 
seinen  Lauf  nimmt,  und  weiter  nach  links  und  hinten  die  Arteria  carotis 
sinistra  und  subclavia  sinistra.  Hier  befinden  sich  die  N.  ylirenici,  von  denen 
der  rechte  zwischen  der  Vena  brachio-cephalica  dextra  und  dem  rechten 
Pleuralsacke,  der  linke  aber  zwischen  der  Art.  subclavia  sinistra  und  dem 
linken  Pleuralsacke  verläuft.  Vor  dem  Bogen  der  Aorta  befindet  sich  der 
N.  vagus  sinister,  der  am  unteren  Umfang  des  Bogens  den  rücklaufenden 
N.  laryngeus  sinister  inferior  abgibt.  Im  Hintertheil  des  Mittelfellraumes 
bildet  sich  vor  und  rechts  von  der  Trachea  der  Plexus  cardiacus,  der  sich 
nach  unten  in  den  Plexus  coronarius  dexter  et  sinister  fortsetzt.  Endlich 
findet  man  hier  vor  dem  Aortabogen  noch  8 — 10  Glandulae  mediastinae 
anteriores;  sie  erhalten  ihre  Vasa  afferentia  aus  der  Leber,  dem  vorderen 
Theil  des  Zwerchfells,  der  Thymus,  dem  Pericardium  und  dem  Herzen, 
ihre  Vasa  efferentia  münden  in  den  Truncus  lymphaticus  communis  dexter 
et  sinister. 

Der  h  i  n  t  e  r  e  M  i  t  t'e  1  f  e  1 1  r  a  u  m  {Mediastinum posterius)  liegt  hinter  der 
Trachea  und  dem  Pericardium,  seine  Seiteuwände  werden  von  den  Brust- 
fellsäcken gebildet,  hinter  ihm  befindet  sich  die  ganze  Brustwirbelsäule 
vom  ersten  bis  zum  letzten  Wirbel.  In  diesem  Raum  sind  die  Aorta  thoracica 
und  die  Speiseröhre  gelagert,  wobei  die  letztere  den  linken  Bronchus  hinten 
kreuzt  und  in  der  Höhe  des  fünften  Brustwirbels  sich  rechts  von  der 
Brustaorta  lagert,  um  in  der  Höhe  des  siebenten  Brustwirbels  sich  vor  die 
Aorta  zu  begeben  und  in  der  Höhe  des  zehnten  Brustwirbels  durch 
eine  Oeifnung  im  Zwerchfell  in  die  Bauchhöhle  einzutreten.  Die  Länge  der 
Speiseröhre  beträgt  im  Mittel  28  cm,  wovon  24  cm  auf  den  Mittelfellraum 
fallen.  Zu  beiden  Seiten  der  Wirbelsäule  verlaufen  die  Venae  azi/gos  und 
hemiazijgos,  wobei  die  letztere  Vene  gewöhnlich  in  der  Höhe  des  siebenten 


BRÜST-  UND  BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE.  231 

oder  achten  Brustwirbels  in  die  erstere  einmündet.  Die  Vena  azygos  geht 
bogenförmig  über  den  Bronchus  dexter  und  mündet,  6  mm  stark,  von  hinten 
in  die  Vena  cava  superior.  Die  Wurzehi  der  Vena  azygos  beginnen  aus  den 
Venae  iliacae  communes  und  den  Lumbaivenen,  sie  nehmen  die  Venae 
intercostales,  bronchiales,  oesophageae,  mediastinales  posteriores  et  phrenicae 
auf;  es  ist  die  Vena  azygos  ein  Vermittlungsglied  zwischen  den  beiden 
Hohlvenen,  sie  nimmt  hauptsächlich  die  Brustwandvenen  und  die  Venen 
der  Wirbelsäule  auf.  Zwischen  Vena  azygos  und  Aorta  liegt  der  Dnctufi 
thorocicus  major  s.  Pecquefdanus,  dessen  Durchmesser  8  mm  beträgt  und 
der  aus  der  Bauchhöhle  kommt  und  am  Halse  in  den  Winkel  des  Zusammen- 
flusses der  A'ena  subclavia  und  jugularis  communis  sinistra  einmündet. 
Längs  der  Aorta  kann  man  noch  8  — 12  Gl.  mediastinicae  posteriores  beob- 
achten; die  V.  afferentia  dieser  Drüsen  kommen  vom  Oesophagus,  von  der 
hinteren  Wand  des  Pericardiums,  dem  hinteren  Theil  des  Zwerchfelles, 
auch  vom  rechten  Lebertheil;  die  V.  efferentia  verlaufen  direct  zum  Ductus 
thoracicus  und  den  Bronchialdrüsen.  Die  Aorta  thoracica  erstreckt  sich 
vom  dritten  bis  zum  zwölften  Brustwirbel  in  einer  Länge  von  17 — 18  cm, 
sie  liegt  auf  der  linken  Seite  der  Brustwirbelkörper,  aus  ihr  entspringen 
hier  die  Art.  bronchiales,  oesophageae,  mediastinales  posteriores,  phrenicae 
superiores  et  intercostales  aorticae.  Dem  Oesophagus  liegen  die  Nn.  vagi 
an,  im  unteren  lateralen  Theil  des  Mediastinums  kommen  die  Nn  splanchmci 
zu  liegen.  Das  Zellgewebe  des  Mittelfellraumes  geht  beiderseits  in  eine 
Schicht  Bindegewebe  über,  die  zwischen  den  Pleuralsäcken  und  der  Brust- 
wand gelagert  ist:  das  ist  die  Fascia  endothoracica.  Von  der  linken  Lamelle 
des  Mediastinum  aus  gehen  Muskelfasern  gürtelförmig  um  die  Aorta  zum 
linken  Rande  des  Oesophagus  als  M.  phiiro-oesophageiis  (Hyrtl),  sie  setzen 
sich  in  die  Kreisfasern  der  Speiseröhre  fort,  einige  reichen  sogar  bis  zur 
hinteren  Wand  des  Pericardiums.  Die  Längsfaserschicht  der  Speiseröhre 
erhält  ein  schmales  Muskelfaserbündel  aus  der  häutigen  Hinterwand  des 
linken  Bronchus,  den  M.  broncho-oesophageus  (Hyrtl). 

Beim  Studium  der  Topographie  der  Bauchliöhle  muss  man  an 
der  Vorderwand  dieser  Höhle  eine  obere  Regio  epigastrica,  eine  mittlere 
Regio  mesogastrica  und  eine  untere  Regio  hypogastrica  unterscheiden. 

Tn  jeder  dieser  Regionen  werden  noch  ein  mittlerer  und  zwei  Sf^itliche  Theile 
beschrieben.  Die  Grenzen  dieser  Regionen  sind  folgende:  Die  Regio  epigastrica  wird  oben 
von  den  Rippenknorpelenden  und  vom  Zwerchfell  abgeschlossen,  nach  unten  reicht  sie 
bis  zur  Horizontalfläche,  die  die  Knorpelenden  der  elften  Rippe  beiderseits  verbindet; 
von  dieser  Horizontalebene  nach  unten  bis  zu  einer  durch  die  Spinae  ilei  anteriores 
superiores  gelegten  Ebene  erstreckt  sich  die  Regio  mesogastrica,  die  seitlichen  Grenzen 
dieser  Region  werden  durch  Verticallinien,  die  von  der  Spitze  der  elften  Rippe  zum 
Darmbeinrande  jederseits  herabfallen,  bestimmt;  unter  der  letzteren  Region  bis  zur 
Synchondrosis  pubis  in  der  Mitte  und  dem  Arcus  cruralis  auf  beiden  Seiten  befindet 
sich  die  Regio  hypogastrica.  Wenn  man  die  durch  genau  bestimmte  gerade  Linien  be- 
grenzte Regio  mesogastrica  in  drei  gleiche  Theile  zerlegt,  so  erhält  man  zwei  seitliche 
Felder,  die  Regiones  lumbales  anteriores,  dextra  et  sinistra,  und  einen  mittleren  Theil, 
die  Regio  umbilicalis.  Die  Begrenzungslinien  dieser  Regionen,  nach  oben  und  unten  iort- 
gesetzt,  theilen  auch  die  beiden  übrigen  Regionen  in  einen  medialen  und  zwei  Seiten- 
theile.  In  der  Regio  epigastrica  ist  der  mediale  Theil,  die  Regio  gastrica  propria,  von 
den  beiden  Seitenth eilen,  dem  Hypochondrium  dextrum  et  sinistrum,  zu  unterscheiden. 
Die  Regio  hypogastrica  zerfällt  in  die  Regio  hypogastrica  propria  s.  piibis  in  der  Mitte 
und  in  die  lateralen  Regiones  iliacae  dextra  et  sinistra.  Den  Rückentheil  der  Bauchwand 
zwischen  der  letzten  Rippe  und  dem  Darmbeinkamme  bildet,  durch  Verticallinien  in  drei 
Drittel  getheilt,  die  Regio  certebralis  in  der  Mitte  und  die  Regiones  lumbales  posteriores 
dextra  et  sinistra  zu  beiden  Seiten. 

Die  Wände  der  Bauchhöhle  bilden  die  Bauchpresse,  die  durch 
ihre  Contraction  zugleich  mit  dem  Luftdruck  und  der  Adhäsion  die  Bauch- 
eingeweide in  ihrer  Lage  erhält.  Diese  Bauchpresse  wird  gebildet:  oben 
vom  Zwerchfell,    vorn    und   seitlich   von   den  Bauchmuskeln   und   den   von 


232  BRUST-  UND  BAUCHEIXGEWEIDE-TOPOGRAPHIE. 

ihren  Aponeurosen  gebildeten  Scheiden,  hinten  von  der  Wirbelsäule,  den 
langen  Rückenmuskeln  und  den  Lumbalmuskeln,  unten  vom  Kreuz-  und 
Steissbein,  den  beiden  Beckeuknochen  und  den  Muskeln  des  Beckenaus- 
ganges und  des  Dammes.  Die  Arteriae  lumbales  und  die  Kervi  intercostales 
verlaufen  hier  gürtelförmig,  die  letzteren  bis  zur  Mitte  zwischen  dem  Nabel 
und  der  Synchondrosis  pubis.  Unter  dieser  Mitte  verzweigen  sich  nach 
demselben  Typus  die  Xn.  üeo-hi/pogastrici  et  ileo-inguinales  aus  dem  Plexus 
lumbalis.  Zu  den  äusseren  Genitalorganeu  geht  auch  der  A".  spermaMcus 
externys.  In  der  Scheide  der  vorderen  Bauchmuskeln  befindet  sich,  auf  der 
Höhe  des  Nabels,  ausserdem  noch  eine  verticale  Anastomose  zwischen  der 
Art.  epigastrica  superior  (aus  der  Art.  mammaria  interna)  und  der  Art.  epi- 
gastrica  inferior  (aus  der  Art.  iliaca  externa).  Bei  der  Function  der  Bauch- 
höhle ist  am  vortheilhaftesten  die  Mitte  zwischen  der  Spina  anterior  superior 
ilei  und  dem  Nabel  zu  wählen,  da  eine  Daumenbreite  nach  innen  von  der 
Spina  ilei,  ein  Ast  der  Art.  circumflexa  ilei,  die  Art.  epigastrica  inferior 
externa,  dessen  Caliber  oft  dem  der  Art.  epigastrica  inferior  nahe  kommt 
oder  gleich  ist,  aufsteigt. 

In  der  Bauchhöhle  sind  in  der  Begio  epigastrica  rechts  die  Leber, 
in  der  Mitte  und  links  der  Magen,  welcher  rechts  in  das  Duodenum  über- 
geht, gelagert;  hinter  dem  Magen  liegt  links  die  Milz,  zwischen  dieser  und 
dem  Duodenum  ist  das  Pancreas  eingeschaltet.  Die  Form  und  Lage  des 
Magens  ist  sehr  veränderlich,  besonders  an  Leichen,  wo  Magen  und  Darm 
durch  Gase  stark  ausgedehnt  werden,  so  dass  bei  ihren  Bestimmungen 
dieser  Umstand  zu  beachten  ist  und  die  Untersuchungen  immer  an  möglichst 
frischen  Leichen  zu  controliren  sind.  Die  Cardia  und  der  Fundus  des 
Magens  erfahren  wenig  Abwechselung  in  ihrer  Lage,  am  meisten  variirt 
seine  untere  und  linke  Grenze.  —  Ein  massig  umfangreicher  Magen,  in 
einer  möglichst  frischen  Leiche  untersucht,  lagert  sich  meist  so,  dass  die 
Cardia  der  Vereinigung  des  Knorpels  der  sechsten  und  siebenten  linken 
Flippe  mit  dem  Rande  des  Brustbeins  und  dem  linken  Umfange  der 
Zwischenwirbelscheibe  des  neunten  und  zehnten  Brustwirbels  entspricht. 
Der  Fundus  ventriculi  (Saccus  coecus)  liegt  links  vom  Mageneingang,  ist 
immer  nach  oben  gerichtet  und  berührt  die  untere,  concave  Fläche  des 
Zwerchfells,  sein  höchster  Punkt  liegt  in  der  Mamillarlinie,  in  der  Höhe 
der  fünften  Rippe  oder  zuweilen  des  unteren  Theiles  des  vierten  Intercostal- 
raumes.  Vom  Fundus  zieht  sich  die  grosse  Curvatur  noch  etwas  nach  links, 
setzt  sich  im  linken  Hypochondrium  nach  unten  fort  und  wendet  sich  nach 
rechts  zur  Mittellinie  des  Körpers.  In  der  Höhe  der  Cardia  ist  die  grosse 
Curvatur  drei  oder  vier  Finger  breit  vom  linken  Rande  des  Eingangs  ent- 
fernt; in  der  Mittellinie  des  Körpers  ist  die  untere  Greuze  des  Magens 
sehr  veränderlich,  im  mittleren  Drittel  des  Abstandes  zwischen  der  Basis 
des  Schwertfortsatzes  und  dem  Nabel  bald  höher,  bald  tiefer  stehend;  am 
häufigsten  befindet  sie  srch  in  der  Mitte  dieses  Abstandes.  Die  kleine  Cur- 
vatur beginnt  in  der  Höhe  der  Basis  des  Schwertfortsatzes  oder  des  unteren 
Endes  des  Brustbeinkörpers,  wendet  sich  Anfangs  etwas  nach  links  und 
unten,  verläuft  darauf  links  von  der  Wirbelsäule  und  dieser  parallel  nach 
unten  bis  zur  Höhe  des  unteren  Endes  des  achten  linken  Rippenknorpels: 
hier  w^endet  sie  sich  nach  rechts  und  durchschneidet  die  Mittellinie  des 
Körpers  gewöhnlich  2^/^  Finger  breit  über  der  unteren  Grenze  des  Magens. 
Der  Körper  des  Magens  steht  folglich  vertical.  Der  rechts  von  der  Mittel- 
linie gelegene  Theil  des  Magens  ist  das  Antrum  pyloricum;  die  untere 
Grenze  dieses  Theils  setzt  sicli  nach  rechts  oben  bis  zu  einer  Sagittal- 
ebene,  die  durch  den  rechten  Rand  des  Brustbeins  geht,  oder  bis  zu  einer 
Linie,  die  den  Zwischenraum  zwischen  der  Linea  sternalis  und  parasternalis 


[  BRUST-  UND  BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE.  233 

halbirt,  fort;  hier  liegt,  dem  inneren  Ende  des  achten  Rippenknorpels  ent- 
sprechend, die  untere  Grenze  des  Magenausgangs;  seine  obere  Grenze 
befindet  sich  l'S^ — 2*5  cm  höher.  —  Die  Grösse  und  Form  des  Magens 
variirt  stark  nach  den  Gewohnheiten  und  der  Qualität  und  Quantitcät  der 
Nahrung,  zugleich  verändern  sich  die  seine  Lage  bestimmenden  Grenzen. 
Seine  untere  Grenze  steigt  höher  oder  tiefer,  wobei  das  Colon  transversura 
dem  Magen  folgt,  während  der  linke  Magenrand  sich  der  Mittellinie  nähert 
oder  sich  von  derselben  entfernt.  Der  Magen  ist  also  vorzugsweise  vertical 
gestellt,  wobei  sein  Fundus  nach  oben,  die  grosse  Curvatur  nach  links  und 
unten,  die  kleine  Curvatur  nach  rechts  und  in  ihrem  oberen  Abschnitt 
sogar  etwas  nach  unten  gerichtet  ist.  Das  Antrum  pyloricum  durchschneidet 
die  Mittellinie  des  Körpers,  der  Pylorus  ist  nach  rechts,  zuweilen  etwas 
nach  hinten  gerichtet,  er  entspricht  seiner  Lage  nach  dem  rechten  Rande 
des  Brustbeins.  Die  Magenwände  sind  nach  vorn  und  hinten  gerichtet.  — 
Betrachtet  man  die  Befestigung  des  Magens  in  seiner  Lage,  so  ersieht 
man  leicht,  dass  eine  Lageveränderung  beim  Anfüllen  desselben  nicht 
möglich  ist.  Durch  Bauchfellfalten  wird  der  Magen  oben,  rechts,  links, 
hinten  und  unten  befestigt.  Von  oben  heftet  sich  das  Lig.  'phrenico-gastrkum, 
von  rechts  das  kleine  Netz  oder  Lig.  hepato-gastricum,  welches  sich  weiter 
rechts  in  das  Lig.  hepato-duodenale  fortsetzt,  an ;  vom  oberen  Theil  der 
Hinterfläche  des  Magens  und  der  Curvatura  major  geht  das  Lig.  gastro- 
lienale  zur  Milz,  vom  unteren  Ende  der  Milz  und  vom  mittleren  und  unteren 
Theil  der  grossen  Curvatur  kommt  das  Omentum  majus  s.  Lig.  gastro-colicum, 
endlich  gehen  von  der  Curvatura  minor  Falten  nach  hinten  zum  Pancreas, 
das  Lig.  pancreaüco-gasfriciim.  Am  unbeweglichsten  ist  der  Magen  an  der 
Cardia  und  am  Pylorus,  unten  und  links  kann  er  sich  wohl  ausdehnen, 
aber  nicht  wenden. 

Die  Milz  liegt  hinten  und  links  vom  Magen.  Bei  Oeffnung  der  Bauch- 
höhle ist  unter  normalen  Verhältnissen  im  linken  Hypochondrium,  links  von 
der  Mitte  der  Curvatura  major,  nur  das  untere  Ende  der  Milz  zu  sehen. 
An  einer  nicht  ganz  frischen  Leiche,  in  welcher  die  Gedärme  durch  Gase 
ausgedehnt  sind,  kann  ihr  unteres  Ende  vom  Magen  oder  vom  Querdarm 
verdeckt  sein.  Führt  man  die  Axillarlinie  bis  zu  ihrer  Durchkreuzung  mit 
der  zehnten  Eippe  der  linken  Seite,  so  entspricht  gewöhnlich  dieser  Punkt 
dem  unteren  Ende  der  Milz.  Eine  von  diesem  Kreuzungspunkte  längs  der 
zehnten  Rippe  oder  dem  neunten  Intercostalraum  zur  Wirbelsäule  gezogene 
Linie  bestimmt  genau  die  Lage  der  Milz ;  diese  Linie  ist  dem  Längs- 
durchmesser der  Milz  parallel.  Die  Milz  ist  bei  normalen  Verhältnissen  mit 
ihrem  oberen  Ende  eine  Querfingerbreite  (18 — 20  mm)  von  der  Wirbel- 
säule entfernt.  In  das  obere  Ende  der  Milz  geht  das  Lig.  phrenico-lienale 
über;  das  untere  Ende  liegt  mit  dem  hinteren  Theil  seiner  Innenfläche 
dem  linken  Ende  des  Pancreas  auf  und  wird  mit  demselben  durch  die 
Wandung  des  linken  Blindsackes  des  grossen  Netzes  fest  verbunden ; 
zwischen  diesen  beiden  Befestiguugspunkten  verläuft  das  Lig.  gastro-lienale, 
welches  die  Mitte  der  Innenfläche  der  Milz  mit  dem  Magen  in  einer  Linie, 
die  längs  der  hinteren  Fläche  des  Magens  von  der  Mitte  der  Curvatura 
major  in  der  Richtung  zur  Cardia  geht,  verbindet.  An  der  Curvatura  major 
ist  das  Ligament  lang  (2  Querfinger  breit)  und  die  Milz  hier  leicht  ver- 
schiebbar, weiter  nach  oben  aber  wird  dasselbe  immer  kürzer,  die  Milz 
schmiegt  sich  fester  an  den  Magen  und  endigt  am  Magengrund  auf  der 
Höhe  der  Cardia.  Nach  hinten  und  innen  vom  oberen  Abschnitt  des  hin- 
teren unteren  Randes  der  Milz  liegt  die  linke  Niere  nebst  Nebenniere, 
Wenn  die  Milz  sich  vergrössert,  so  geschieht  das  anfangs  nach  oben  in 
der  Richtung   zur  Wirbelsäule,    bis   sie    dieselbe  berührt,   unten  stösst  sie 


234  BRÜST-  UND  BAUCHEIXGEWEIDE-TOPOGRAPHIE. 

bei  ihrer  Yergrösserung  auf  das  Lig.  phrenico-colicuin  und  wendet  sich 
dann  mit  ihrem  unteren  Ende  nach  unten  und  innen.  Bei  geringer  Yer- 
grösserung dieses  Organs  kann  man  dieses  durch  Percussion  nicht  consta- 
tiren,  da  im  hinteren  Theil  ihr  dumpfer  Ton  unmittelbar  in  den  der  Niere 
und  der  Wirbelsäule  übergeht. 

Die  Leber  ist  mit  ihrem  grössten  Theile  (^4  ihrer  Masse)  in  der 
rechten  Hälfte  der  Bauchhöhle  gelagert.  Bechts  liegt  der  Lobus  dexter. 
Lobus  Spigelii  und  Lobus  quadratus,  links  der  Lobus  sinister.  Der  rechte 
Theil  liegt  im  Hypochondrium  dextrum,  der  linke  und  ein  Theil  des  Lobus 
quadratus  liegeu  in  der  Begio  gastrica  propria  der  Innenfläche  der  vor- 
deren, weichen  Bauchwaud  an:  dieser  Theil  liegt  über  der  Pars  pylorica 
des  Magens  und  der  Curvatura  minor.  Die  obere  Fläche  der  Leber  liegt 
dem  Zwerchfelle  an.  Eine  der  Mittellinie  des  Körpers  fast  entsprechende 
Falte  des  Bauchfells,  das  Lig.  Suspensorium  hepatis.  liegt  zwischen  dem 
Zwerchfell  und  der  Leber.  —  Bechts  unter  der  Leber  ist  der  obere  hori- 
zontale Theil  des  Duodenum,  weiter  nach  rechts  die  Curvatura  colica  dextra 
gelagert,  hinter  dem  Colon  liegt  der  unteren  Leberfläche  die  rechte  Niere 
an.  Unter  der  Leber,  zwischen  dem  Bogen  des  Duodenum  und  der  Milz 
befindet  sich  das  Pancreas.  Die  untere  Grenze  der  Leber  entspricht  dem 
Bippenknorpelrande  von  der  Spitze  der  eilften  rechten  Bippe  bis  zur  Mitte 
des  achten  rechten  Bippenknorpels:  von  hier  geht  die  uutere  Grenze  zur 
Mitte  des  siebenten  linken  Bippenknorpels  und  dann  zur  sechsten  linken 
Kippe  und  zum  fünften  Intercostalraum,  der  Mitte  zwischen  dem  linken 
Bande  des  Brustbeins  und  der  Linea  parasternalis  entsprechend  oder  sogar 
bis  zu  dieser  Linie  oder  die  untere  Grenze  geht  durch  die  Fortsetzung 
der  Sternallinie  an  der  Verbindungsstelle  des  oberen  und  mittleren  Drittels 
des  AbStandes  zwischen  dem  Nabel  und  der  Basis  des  Schwertfortsatzes. 
Die  obere  convexe  Fläche  der  Leber  liegt  der  unteren  concaven  Fläche 
des  Zwerchfells  eng  an,  namentlich  der  ganzen  rechten  unteren  Hälfte 
bis  zum  Foramen  oesophageum  und  links  dem  medialen  Abschnitt  des 
Bippentheils.  Die  Convexität  der  Leber  steigt  bis  zur  Höhe  des  vierten 
Intercostalraumes  in  der  Linea  parasternalis,  ist  aber  bis  zur  sechsten 
Bippe  von  der  Lunge  bedeckt,  so  dass  das  Gebiet  der  Leberdämpfung 
zwischen  die  untere  Lungengrenze  und  die  untere  Lebergrenze  fällt.  — 
Dort,  wo  die  Linea  parasternalis  den  Knorpel  der  achten  Bippe  kreuzt, 
befindet  sich  der  Grund  der  Gallenblase:  die  Wölbung  des  Lobus  Spigelii 
kommt  gewöhnlich  in  der  Höhe  des  zwölften  Brustwirbels  zu  liegen,  wo 
sie  mit  dem  inneren  Schenkel  der  Pars  lumbalis  dextra  des  Zwerchfells 
in  Berührung  kommt.  Durch  die  Inspirationsbewegungen  wird  die  Grenze 
der  Leber  1 — 1*5  cm  nach  unten  gedrängt. 

Die  sich  an  die  Leber  heftenden  Bauchfellfalten  sind  in  drei  einander  perpendi- 
culären  Flächen  gelagert:  sagittal  zur  Leber  liegt  das  Lig.  teres  und  Suspensorium  hepatis, 
horizontal  die  Ligg.  coronnria  dextrum  et  sinistrum  mit  den  Ligg.  triangularia  dextrum 
et  sinistrum,  frontal  das  Lig.  iiepato-renale,  liepato-duodenale  und  hepato-gastricum.  Alle 
diese  Falten  erhalten  aber  doch  die  Leber  nicht  in  ihrer  Lage,  da  diese  dieselben  ver- 
lässt,  sobald  man  die  Bauchhöhle  öffnet:  es  ist  der  atmosphärische  Druck,  der  Druck 
der  Bauchpresse  und  die  Adhäsionen,  die  hier  wirken,  wie  überhaupt  in  allen  serösen 
und  synovialen  Höhlen,  welche  hermetisch  geschlossen  sind.  Im  Lig.  hepato-duodenale 
■verlaufen:  rechts  der  Ductus  hepaticus,  cysticus  und  cJioledochus,  links  die  Art.  ci/itica 
und  hepatica,  ausserdem  befinden  sich  hier  Lymphdrüsen  und  -Gefässe,  der  Plexus 
hepaticus,  die  Vena  portae;  hinter  dem  Ligament  ist  das  Foramen  Winslowii,  welches 
links  hinten  in  die  Bursa  omentalis  minor  et  major  führt,  gelagert.  Das  Lig.  hepato- 
renale  bedeckt  die  Vena  cava  inferior. 

Das  Pancreas  ist  in  der  Tiefe,  der  Höhe  des  ersten  Lendenwirbels 
entsprechend,  gelagert:  es  liegt  unmittelbar  vor  der  Aorta  und  der  Vena 
cava  descendens. 


BRUST-  UND  BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE  235 

Hinter  ihm  befindet  sich  die  A)-t.  mesenterica  superior  und  die  Vena  mesenterica 
communis^  die  aus  der  Verbindung  der  V.  mesenterica  superior  et  inferior  entsteht,  nahe 
am  oberen  Rande  des  Pancreas  die  V.  gastro-Uenalis  aufnimmt  und  dann  die  Y.  portae 
bildet.  Am  oberen  Rande  verläuft  die  Art.  Uenalis  (links)  und  hepatica  (rechts),  vor  dem 
rechten  Theil  der  Drüse  die  Art.  gastro-epiploica  äextra  (aus  der  hepatica),  am  rechten 
Rande  die  Art.  diiodenalis  superior  (aus  der  gastro-epiploica  dextra»  und  inferior  (aus 
der  mesenterica  superior  ,  vor  dem  linken  Rande  die  Art.  gastro-epiploica  (aus  der  lienalis). 

Rechts  wird  das  breite  Ende  des  Pancreas  bogenförmig  von  dem 
Duodenum  umgeben  und  reicht  hier  bis  zur  Mitte  des  Abstandes  zwischen 
dem  rechten  Brustbeinrande  und  der  Linea  parasternalis  dextra,  links 
reicht  das  verschmälerte  Ende  bis  zur  Milz,  Vor  der  Drüse  ist  der  Magen, 
mit  dessen  Curvatura  sie  durch  das  Lig.  pancreatico-gastricum  verbunden 
ist,  gelagert.  Die  Falte  begrenzt  eine  Oetfnung,  das  Foramen  pancrmtico- 
gastrlcum,  durch  das  die  Bursa  omentalis  minor  mit  der  Bursa  omentalis 
major  in  Verbindung  steht.  Hinter  dem  linken  Theile  der  Drüse  liegt  die 
obere  Hälfte  der  linken  Mere. 

Der  Darme  anal  besteht  aus  vier  festen  und  drei  beweglichen 
Theilen,  verbindet  somit  in  Hinsicht  seiner  Lage  möglichst  grosse  Festig- 
keit mit  Beweglichkeit.  Fest  sind  (ohne  Mesenterien):  1.  das  Duodenum, 
2.  das  Colon  ascendens,  3.  das  Colon  dexcendens  und  4.  die  zwei  unteren 
Drittel  des  Bedum^s;  beweglich  sind  (hängen  an  Mesenterien):  1.  das 
Jejuno-üeum,  Coecum  und  der  Processus  verm,icularis,  2.  das  Colon  trans- 
versum,  3.  die  Flexura  sigmoidea  und  das  obere  Drittel  des  Rectums.  Die 
festen  Theile  sind  in  ihrer  Lage  beständig,  die  beweglichen  aber  sehr 
verschieden  gelagert.  Das  Duodenum  ist  hufeisenförmig  um  das  breite 
rechte  Ende  des  Pancreas  gelagert;  sein  oberer  horizontaler  Theil  beginnt 
am  Pylorus  des  Magens,  der  Aussenrand  des  absteigenden  Theiles  liegt  in 
der  Fortsetzung  der  Linea  parasternalis,  gewöhnlich  in  einer  Linie  mit  dem 
Grunde  des  Gallensackes.  Der  untere  horizontale  Theil  verläuft  nach  innen, 
um  am  zweiten  Lumbaiwirbel  in  den  Leerdarm  bogenförmig  überzugehen. 
Vor  dem  absteigenden  Theil  befindet  sich  das  Colon  transversum,  seine 
hintere  Fläche  liegt  der  rechten  Niere  an.  Das  Colon  ascendens  beginnt 
in  der  rechten  Fossa  iliaca  über  der  Uebergangsstelle  des  Dünndarms  in 
den  Dickdarm.  Es  geht  in  der  rechten  vorderen  Lumbaigegend  nach  oben 
bis  zur  unteren  Leberfläche,  wo  es  durch  die  Leberbiegung  {Flexura  coli 
hepatica)  in  den  Quergrimmdarm  übergeht.  In  der  Lumbaigegend  ist  das 
Colon  ascendens  von  der  Höhe  des  Nabels  an  vor  der  rechten  Niere 
gelagert.  Das  Colon  descendens  beginnt  mit  der  Milzbiegung  {Flexura  coli 
lienalis),  liegt  tiefer  als  der  aufsteigende  Theil,  von  der  linken  Niere 
lateralwärts,  unten  geht  es  in  die  Hüftbiegung  {Flexura  iliaca)  über;  vorn 
wird  es  vom  Dünndarm  bedeckt.  Das  Ptectum  liegt  in  der  Höhle  des 
kleinen  Beckens,  wo  es  seitlich  und  sagittal  gebogen  ist;  zu  beiden  Seiten 
des  oberen  Theiles  des  Mastdarms  sind  die  Ovarien  nebst  den  Eileitern 
vertical  oder  schräg  gelagert,  vor  dem  Mastdarm  der  Uterus  und  die 
Vagina  beim  Weibe,  seitlich  die  Samenbläschen  und  vor  demselben  die 
Harnblase  beim  Manne.  Medianwärts  vom  Colon  ascendens  und  unter  dem 
Colon  transversum,  in  der  Höhe  des  Nabels,  liegen  der  Leerdarm  und  der 
Krummdarm  (Intestinum  jejuno-ileum),  die  am  Mesenterium  hängen.  Da  die 
Wurzel  des  Mesenteriums  von  der  Höhe  des  ersten  Lendenwirbels  an  nach 
unten  und  rechts  zur  Articulatio  sacro-iliaca  dextra  geht,  so  sind  die  an 
ihm  hängenden  Dünndarmschlingen  nach  links  und  unten  gerichtet,  kommen 
daher  öfter  links  als  rechts  in  den  hier  beobachteten  Brüchen  vor.  Unter 
der  Uebergangsstelle  des  Dünndarms  in  den  Dickdarm  in  der  rechten 
Fossa  iliaca  ist  das  Coecum  mit  dem  Processus  vermicularis,  die  beide 
an   Gekrösen,    dem   Mesocoecum    und    dem  Mesenteriolum    des   Processus 


236  BRUST-  UND  BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE. 

vermicularis  liäEgen,  gelagert.  Zwischen  dem  aufsteigenden  und  dem  ab- 
steigenden Grimmdarm  ist  der  an  einem  Gekröse  hängende  Quergrimm- 
darm gelagert;  er  ist  vorn  vom  Netze  {Omentum  s.  Ei^iploon),  das  sich 
nach  unten  wie  eine  Schürze  über  den  Dünndarm  fortsetzt,  bedeckt.  Der 
Quergrimmdarm  befindet  sich  gewöhnlich  gleich  über  dem  Nabel  und  reicht 
bis  zum  mittleren  Drittel  des  Abstandes  zwischen  der  Basis  des  Schw^ert- 
fortsatzes  und  dem  Nabel.  Er  unterscheidet  sich  vom  Magen  dadurch,  dass 
er  vom  Netze  bedeckt  ward,  vom  Dünndarm  aber  dadurch,  dass  er  Längs- 
streifen (Ligamenta  coli)  führt,  die  an  den  Schlingen  des  Dünndarms  nicht 
vorkommen;  ausserdem  sind  am  Colon  noch  netzförmige  Anhänge  (Appen- 
dices  epiploicae)  vorhanden,  die  weder  am  Dünndarm  noch  am  Magen  zu 
beobachten  sind.  Der  Quergrimmdarm  verläuft  von  rechts  nach  links  unter 
der  Leber  und  dem  Magen,  vor  der  rechten  Niere,  der  Pars  descendens 
duodeni,  vor  der  Flexura  duodeni-jejunalis  und  vor  der  linken  Niere. 
Links  setzt  sich  der  Querdarm  in  einigen  Fällen  nach  oben,  zwischen  dem 
Magen  und  dem  Diaphragma,  vor  und  lateralwärts  von  der  Milz,  fort.  Die 
bewegliche  Flexura  iliaca  mit  ihrem  Gekröse  (Mesocolon  flexiirae  sigmoideae) 
und  der  bewegliche  Mastdarmtheil  mit  seinem  Gekröse  (Mesorectum)  sind 
zwischen  den  Schlingen  des  Dünndarms  in  der  Regio  iliaca  sinistra  oder 
in  der  Regio  hypogastrica  propria  gelagert,  zuweilen  liegen  sie  zwischen 
den  Dünndarmschlingen  in  der  Beckenhöhle.  Ausser  der  Bursa  omentalis 
minor  et  major  kommen  noch  Ausstülpungen  des  Bauchfells  nach  hinten, 
in  w^elche  die  Eingew^eide  als  Hernia  interna  sich  invaginiren  können,  vor. 
Das  sind:  die  Fossa  duodeno-jejunaUs  s.  Betroversio  inesogastrica,  die  Fossa 
ileo-coecalis,  die  Fossa  subcoecalis  s.  Betroversio  liypogastrica  dextra  und  die 
Fossa  intersigmoidea  s.  Betroversio  hypogastrica  sinistra. 

Die  Fossa  duodeno-jejunalis  ist  vor  der  gleichnamigen  Flexur  gelagert,  sie  wird 
links  und  oben  von  der  Vena  niesenterica  inferior  umgeben.  Die  Fossa  ileo-coecalis  liegt 
unter  dem  Uebergange  des  Krummdarms  in  den  Grimmdarm,  sie  wird  auch  theilweise 
unten  von  dem  Mesenteriolum  processus  vermicularis  umgeben.  Die  Fossa  subcoecalis  ist 
unter  dem  Coecum,  an  der  Wurzel  des  Mesocoecum  gelagert.  Die  Fossa  intersigmoidea 
ist  an  dem  unteren  Theile  der  Mitte  der  Wurzel  des  Mesocolon  flexurae  sigmoideae 
gelagert. 

Die  Nieren  befinden  sich  in  der  Tiefe  der  Bauchhöhle  zu  beiden 
Seiten  der  Wirbelsäule,  das  untere  Ende  der  rechten  Niere  liegt  in  der 
Ebene  des  Nabels,  das  untere  Ende  der  linken  Niere  ist  eine  Querfinger- 
breite über  dieser  Ebene  gelagert.  Die  Nieren  nehmen  eine  solche  Lage 
ein,  dass  die  durch  die  Mitte  der  beiden  Nieren  gelegten  Frontalflächen 
sich  vor  der  Wirbelsäule  unter  einem  Winkel  von  60  '^  treffen  würden ;  die 
unteren  Nierenenden  sind  in  sagittaler  Richtung  um  ein  Drittel  weiter  von 
einander  entfernt,  als  die  oberen,  so  dass  die  Längsaxen  beider  Nieren, 
nach  oben  fortgesetzt,  sich  unter  einem  Winkel  von  35  ^  trotten.  Das  obere 
Ende  ist  oben  und  innen  von  der  Nebenniere  bedeckt.  Die  linke  Niere 
reicht  nach  oben  bis  zur  Horizontalebene  des  elften  Brustwirbels,  liegt 
folglich  hinten  dem  Sinus  phrenico-costalis  an,  kann  hier  verwachsen  und 
durch  Perforation  Steine  durch  die  Respirationsorgane  ausführen.  Die  linke 
Niere  liegt  hinten  der  Pars  lumbalis  diaphragmatis  und  weiter  unten  dem 
M.  quadratus  lumborum  an.  Vor  der  Spitze  der  linken  Niere  liegt  der 
Magen,  das  Pancreas,  dann  das  Colon  transversum  und  der  Dünndarm. 
Lateralwärts  schliessen  sich  die  Milz  und  das  Colon  descendens  an.  Die 
rechte  Niere  stösst  oben  auf  den  Lobus  dexter  hepatis,  an  die  Faciecula 
renalis,  hinten  an  die  Pars  lumbalis  diaphragmatis  und  den  M.  quadratus 
lumborum,  medianwärts  liegt  der  M.  psoas  major.  Vor  der  rechten  Niere 
ist  das  Colon  ascendens  und  weiter  nach  oben  und  innen  der  verticale  Theil 
des   Duodenum   gelagert.     Hinter   dem   oberen   Theil   der   Nieren   verläuft 


BRUST-  UND  BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE.  237 

schräg  der  zwölfte  Dorsalnerv  und  niedriger  der  N.  ileo-hypogastricus ; 
diese  Nerven  gehen  in  dem  unteren  Theil  der  Bauchwand  bogenförmig 
nach  vorne  und  endigen  hier  in  der  unteren  Hälfte  des  Abstandes  zwischen 
Nabel  und  Synchondrosis  pubis.  —  Unter  normalen  Verhältnissen  und  bei 
gut  entwickelter  Bauchwand  kann  man  die  Nieren  nicht  durchfühlen,  die 
Inscriptiones  tendineae  musculi  recti  abdominis  oder  fester  Inhalt  des 
Colon  ascendens  können  leicht  täuschen,  was  am  Cadaver  gut  controlirt 
werden  kann.  In  dem  Hilus  der  linken  Niere  liegen  von  unten  nach  oben 
und  von  hinten  nach  vorne  der  Ureter,  die  Vena  renalis  und  die  Arteria 
renalis,  rechts  von  hinten  nach  vorne  die  Vena  renalis,  die  Arteria  renalis 
und  der  Ureter. 

Ausser  den  Gpaarigen  Wandarterien  (5  lumbales  und  1  Art.  phrenica 
inferior),  findet  man  in  der  Bauchhöhle  3  paarige  und  3  unpaarige  Arterien- 
stämme vor.  Die  3  ersten  verlaufen  zu  den  Nebennieren,  den  Nieren  und 
den  Geschlechtsdrüsen  (Testiculi  oder  Ovaria),  die  3  unpaarigen  verlaufen 
zu  den  unpaarigen  Baucheingeweiden,  und  zwar:  Die  Art.  coeUaca  zum 
Magen,  zur  Leber,  zur  Milz,  zum  Pancreas  und  zur  oberen  Hälfte  des 
Duodenums ;  die  Art.  mesenterica  superlor  zur  unteren  Hälfte  des  Duodenums, 
zum  Leer-  und  Krumradarm  und  der  rechten  Hälfte  des  Colon;  die  Art. 
mesenterica  inferior  zur  linken  Hälfte  des  Colon,  zur  Flexura  sigmoidea  und 
dem  beweglichen  Theil  des  Mastdarmes.  Alle  diese  Arterien  sind  von  sym- 
pathischen Nervengeflechten  umgeben,  die  aus  dem  Plexus  abdominalis,  dem 
Plexus  renalis  und  dem  Plexus  aorticus  ihren  Ursprung  nehmen. 

Da  die  Länge  der  Arteria  lienalis  sich  zur  Länge  der  Arteria  hepatica  wie  11:7 
oder  12 : 8  verhält  und  da  diese  Arterien  mit  dichten  Nervengeflechten  bedeckt  sind,  so 
erklären  sich  die  Stiche  und  Schmerzen  im  linken  Hypochondrium  bei  schwach  ent- 
wickelter Bauchpresse  und  daher  beweglicher  Milz  besonders  bei  schwachen,  in  der 
Kinderstube  erzogenen  Mädchen  und  später  bei  Frauen  in  Folge  des  ^orsettragens ;  oft 
können  solche  Mädchen  nicht  mehr  wie  30—40  Secunden  laufen  und  müssen  in  Folge 
von  Stichen  im   linken   oder  auch  im  rechten  Hypochondrium   die  Bewegung   einstellen. 

Aus  den  unpaarigen  Eingeweiden  sammeln  sich  alle  Venen  in  der 
Vena  portae,  von  den  paarigen  Organen  und  den  Bauchwänden  in  der  Vena 
Cava  inferior,  aus  der  Wirbelsäule,  den  Venae  iliacae  communes  und  den 
Lumbaivenen  kommen  die  Wurzeln  der  Vena  azygos  und  hemiazygos.  Die 
Vena  spermatica  interna  sinistra  tritt  gewöhnlich  unter  rechtem  Winkel  in 
die  Vena  renalis  sinistra,  während  die  Vena  spermatica  dextra  unter  spitzem 
Winkel  in  die  Vena  cava  inferior  sich  ergiesst.  Dadurch  erklärt  sich  theil- 
weise  der  grössere  Umfang    des  linken  Testikels  und  des  linken  Ovariums. 

Um  die  Bauchaorta  sind  bis  zu  den  Querfortsätzen  der  Lumbal wirbel 
20  bis  30  Glandulae  lumbales  gelagert,  die  ihre  Vasa  efferentia  aus  den 
Beckendrüsen,  den  Inguinaldrüsen,  den  hinteren  Bauchwänden  und  von  der 
Flexura  sigmoidea  erhalten.  Die  Vasa  efferentia  dieser  Drüsen  vereinigen 
sich  jederseits  zum  Truncus  lymphaticus  lumbalis.  Die  Glandulae  mesen- 
tericae  sind  in  einer  Anzahl  von  100 — 200  für  den  Dünndarm  und  von  20 
bis  30  für  den  Dickdarm  zwischen  den  Blättern  des  Mesenterium  gelagert; 
sie  nehmen  die  Lymphgefässe  aus  dem  Dünn-  und  dem  Dickdarm  bis  zur 
Flexura  sigmoidea  auf  und  versammeln  ihre  Vasa  efferentia  im  Truncus 
intestinalis.  Um  die  Aorta  über  der  Art.  mesenterica  superior  und  den 
Aesten  der  Arteria  coeliaca  sind  die  Glandulae  coeliacae  in  einer  Zahl  von 
16 — 20  gelagert;  sie  erhalten  ihre  Lymphgefässe  aus  dem  Magen,  der 
Leber,  der  Milz,  dem  Pancreas  und  den  oberen  Theil  des  Duodenum  und 
entsenden  ihre  Vasa  efferentia  ebenfalls  zum  Truncus  intestinalis.  Auf  der 
Vorderfläche  des  ersten  Lumbaiwirbels  vereinigen  sich  die  paarigen  Trun- 
ci  lymphatici  lumbales  und  der  unpaarige  Truncus  intestinalis  zum  Ductus 
thoracicus  major  s.  sinister  s.  Pecquetianus.  p-  lesshaft. 


238 


CACHEXIE. 


Cachexi6  (Siechthum).  Progressive  constituHonelle  Hi/potrophien.  Der 
an  den  Signa  ex  habitu  geschulte  „praktische  Blick"  wird  sich  wohl  immer 
rasch  vergewissert  glauben,  ob  für  einen  Kranken  die  Bezeichnung 
„cachedisch"  passt.  Sobald  jedoch  eine  halbwegs  ausreichende  Umschreibung 
des  zu  Grunde  liegenden  Symptomenbildes  gefordert  wird,  dürften  Manche 
in  eine  gewisse  Verlegenheit  kommen,  auch  wenn  pathogenetische  Momente 
ganz  ausser  Betracht  bleiben.  Trotz  der  Mannigfaltigkeit  der  casuistischen 
Bedingungen,  w^elche  erfahrungsgemäss  in  letzter  Instanz  Siechthum  herbei- 
führen, begnügt  man  sich  nicht  selten  mit  der  Feststellung  gewisser 
ursprünglich  localer  Erkrankungen,  vor  Allem  z.  B.  eines  Carcinoms  an 
wichtigen  Abschnitten  des  Gastrointestinaltractes,  um  das  ärztliche  Gewissen 
über  das  schlechte  Aussehen  des  Kranken  zu  beruhigen.  Allerdings  ist  sich 
hiebei  Jedermann  klar,  dass  der  Terminus  Cachexie  mehr  als  „schlechtes 
Aussehen"  bedeuten  sollte.  Aber  so  sehr  auch  prägnante  Beispiele  der 
Abzehrung  in  die  Augen  springen,  bietet  doch  die  Cachexie,  soweit  sie  als 
abnormer  Habitus  durch  Abweichungen  im  Volum  und  der  sonstigen  physi- 
kalischen Beschaffenheit  der  Körpertheile  und  als  Complex  von  Functions- 
anomalien  mit  den  gewöhnlichen  klinischen  Mitteln  feststellbar  ist,  im  All- 
gemeinen nur  wenig  scharf  geprägte  Charaktere,  Und  ein  imaginäres  Modell, 
durch  welches  man  die  mannigfaltigen,  in  verschiedenen  Fällen  beobachteten 
Zeichen  zusammenfassen  und  von  anderen  pathologischen  Typen  abgrenzen 
könnte,  ist  bei  der  vielfachen  Gegensätzlichkeit  der  individuellen  Krank- 
heitsbilder kaum  construirbar. 

Die  symptomatische  Unsicherheit  äussert  sich  denn  auch  schon  in 
der  einschlägigen  Nomen clatur,  obwohl  sich  dieselbe  eines  ehrwürdigen 
Alters  rühmen  darf.  Man  erinnere  sich  nur  an  die  vielen  gebrauchten 
Synonyma,  in  welche  man  schliesslich  doch  immer  etwas  Besonderes  hinein- 
zuinterpretiren  bemüht  war.  So  wurde  die  Macies,  die  Emadaüo,  der  Marcor 
besonders  auf  den  Fettschwund  bezogen.  Die  Bezeichnung  Tabes  reser- 
virten  die  Einen  für  die  Abmagerung  der  Muskeln,  Andere  wollten 
die  Abzehrung  in  Folge  von  schweren  Nervenkrankheiten  so  genannt 
wissen.  Phthisis  wiederum  sollte  die  allgemeine  Abmagerung  nach  ulcerativen 
Processen,  Consumptio  speciell  jene  nach  fieberhaften  Krankheiten  heissen. 
Hedik  bezeichnete  die  Abzehrung  durch  Säfteverluste  u.  s.  w. 

Zu  einem  relativ  klarer  detiniibaren  Krankheitstypus  hat  sich  neben 
diesen  vagen  Syndromen  die  Anämie  in  ihren  verschiedenen  klinischen 
Formen  ausgestaltet.  Es  ist  dies  ausschliesslich  der  gegenwärtig  ausreichend 
gestützten  Aulfassung  des  Blutes  als  Gewebe  zu  danken. 

Die  Aufstellung  eines  besonderen  Symptomenbildes  des  Marasmus 
neben  demjenigen  der  Cachexie  erscheint  kaum  irgendwie  gerechtfertigt. 
Die  Unbefangenheit  des  medicinischen  Sprachgebrauches  hat  jedoch  den 
Nutritionsstörungen  bei  einer  Reihe  bestimmter  Krankheiten  {Cardnom, 
Leukämie,  Scorhut,  gewisse^ dironische  Infede  und  Vergiftungen)  eine  specielle 
Prägung  als  Cachexie,  bei  einer  Reihe  anderer  wiederum  als  Marasmus 
ertheilt.  Wie  schon  einmal  angedeutet,  sind  aber  die  so  bezeichneten 
Nutritionsstörungen  auf  diese  Weise  ein  blosses  Prosdoton  der  genannten 
ursprünglich  oft  sicher  localen  Krankheiten  geworden. 

Die  Abweichungen  im  Volum  und  in  der  sonstigen  physikalischen 
Beschaffenheit  der  Körpertheile,  welche  den  vielfach  wechselnden  Habitus 
cadiedicus  bezeichnen  sollen,  sind  folgende.  An  die  Spitze  gestellt  werden 
muss  das  progressive,  in  fortschreitender  Abnahme  des  Gesammtkörper- 
gewichtes  sich  äussernde  Schwinden  mehrerer  oder  vieler  Körpertheile, 
ohne  dass  dieselben  sonst  direct  erkrankt  scheinen.  Die  Haut  wird  dabei 
zunehmend  bleicher,  bekommt  eine  ins  Fahle  oder  ins  Gelbliche,  bisweilen 


CACHEXIE.  239 

ins  Bläuliche  spielende  Farbe.  Sie  wird  dünn,  an  der  Oberfläche  trocken, 
die  Epidermis  desquamirt  nicht  selten  in  kleinen  Schuppen.  Die  glanzlosen 
Augen  umgeben  sicli  mit  dunkelgrauen  oder  bräunlichen  Ringen.  Das  ganze 
Gesicht  collabirt  und  zeigt  einen  leidenden  Ausdruck.  Die  Haare  verlieren 
ihre  Elasticität  und  fallen  aus,  die  Nägel  verkümmern,  krümmen  sich.  Der 
Panniculus  adiposus  schwindet,  jedoch  sehr  verschieden  rasch  in  ver- 
schiedenen Fällen.  Die  Muskeln  werden  dünnbäuchig  und  schlaff.  Der  durch 
Beklopfen  mit  dem  Percussionshammer  hervorzurufende  sogenannte  idio- 
musculäre  Wulst  stellt  sich  auffallend  deutlich  (gross)  dar  und  bleibt  immer 
lange  stehen.  Der  Puls  verliert  an  Spannung.  Besonders  wichtig  ist  auch 
die  habituelle  Ungleichheit  der  Blutvertheilung  und  die  entsprechende 
Differenz  der  Wärme  der  einzelnen  Körpertheile.  Das  Blut  schwindet 
entweder  einfach  in  demselben  Verhältnis  wie  die  übrigen  Gewebe  oder 
es  zeigt  charakteristische  Veränderungen.  Die  Alkalescenz  sinkt,  die  Blut- 
dichte wird  geringer.  Hämoglobingehalt  und  Blutkörperchenzahl  zeigen  sich 
gleichfalls  in  verschiedenem  Grade  vermindert.  Auch  ohne  dass  eiweiss- 
haltige  Flüssigkeit  aus  den  Gefässen  austritt,  kann  das  Blutserum  einen 
Verlust  an  Gesammteiweiss  darbieten,  indem  das  Serum  an  dem  allge- 
meinen pathologischen  Eiweissverlust  participirt.  Ein  Verhältnis  zwischen 
Blutkörperchenzahl  und  Hydrämie  existirt  dabei  nicht.  Charakteristisch  ist 
ferner,  dass  in  Fällen  vorgeschrittener  Cachexie  trotz  hochgradiger  Anämie 
Regenerationserscheinungen  an  den  Erythrocyten  dauernd  vermisst  werden 
(Fehlen  von  kernhaltigen  rothen  Blutkörperchen  im  Blute),  und  dass  nicht  selten 
auch  die  Zahl  der  Leucocyten  (polymorphkernige,  neutrophile)  sinkt.  Unter 
gegenwärtig  nicht  genügend  klargestellten  Bedingungen  finden  wir  aller- 
dings im  Gegensatz  hiezu  wieder  dauernde  Leucocytose.  Hinsichtlich  der 
oxyphilen  Leucocyten  haben  sich  constante  Verhältnisse  nicht  herausgestellt; 
in  vorgeschrittenen  Krankheitsstadien  schwinden  dieselben.  Von  Bedeutung 
ist  vielleicht  auch  der  allerdings  nicht  regelmässige,  aber  doch  in  vielen 
Fällen  besonders  von  Carcinomcachexie  nachweisbare  vermehrte  Zucker- 
gehalt des  Blutserums.  Auf  den  Schleimhäuten  bleiben  die  Secrete  liegen. 
Die  Abnahme  des  Volums  der  tiefen  Theile  manifestirt  sich  oft  besonders 
deutlich  an  der  Milz,  deren  Dämpfung  in  vorgeschrittenen  Stadien  des 
Siechthums  oft  kaum  nachweisbar  ist. 

Der  einschlägige  Complex  von  Function  sanom  allen  ist  an 
Umfang  und  Intensität  ein  sehr  wechselnder.  Seit  Alters  spricht  man  von 
dem  „Torpor"  der  Functionen  im  Siechthum.  Dies  bezieht  sich  vor  Allem 
auf  die  Muskeln.  Oft  auffallend  frühzeitig,  bei  noch  vorhandenem  Fett- 
polster, stellt  sich  fortschreitende  Verminderung  der  körperlichen  Leistungs- 
fähigkeit ein.  Schon  die  Körperhaltung  ist  eine  schlaffe,  der  Körper  ist 
leicht  vornübergebeugt.  Alle  Bewegungen  werden  matt,  energielos.  Noch 
früher  stellt  sich  leichte  Ermüdlichkeit  bei  den  geringfügigsten  Anstrengungen 
ein.  Als  charakteristisch  gilt  ferner  eine  dauernde  psychische  Verstimmung, 
Schwäche  der  psychischen  Functionen,  Schlaflosigkeit,  Verlust  des 
Appetits.  W^ährend  die  übrigen  Secretionen  meist  verändert  erscheinen, 
besteht  nicht  selten  Neigung  zu  localen  Schweissen.  Wohl  bekannt  war  schon 
den  alten  Aerzten  die  schädliche  Wirkung  bestimmter  Medicamente  in  relativ 
geringen  Dosen  und  der  Verfall,  den  insbesondere  Blutentziehungen  selbst  in 
geringer  Quantität  hervorrufen.  Nicht  minder  charakteristisch  ist  die  geringe 
Geneigtheit  zu  Regeneration  in  localen  entzündlichen  Herden,  das  Ausbleiben 
von  compensatorischen  Hypertrophien,  die  Lentescenz  und  Malignität  aller  ört- 
lichen krankhaften  Processe,  die  schlechte  Heilung  der  Wunden  und  eine  gewisse 
Neigung  zu  Hämorrhagien.  Die  schwerem  Siechthum  verfallenen  Menschen 
acquiriren  endlich  leicht  Tuberkulose,  Pneumonien,  Gangraenen  u.  s.  w. 


240  CACHEXIE. 

Abgesehen  davon  nun,  dass  alle  diese  Abweichungen  in  functioneller  Hin- 
sicht und  die  früher  angeführten  Eigenthümlichkeiten  des  Habitus  in  den  ver- 
schiedensten Combinationen  und  in  äusserst  wechselnder  Intensität  erscheinen 
können,  so  dass  von  den  leichtesten  Fällen  mit  noch  in  die, Breite  der 
Norm  fallender  „Schwächlichkeit"  bis  zu  den  charakteristischen 
Typen  des  Siechthums  eine  fortlaufende  Reihe  sich  herausstellt, 
greift  auch  noch  vielfach  ein  gegensätzliches  Verhalten  innerhalb 
dieser  Reihe  Platz. 

Zunächst  ist  eine  Zahl  von  prägnanten  Fällen  abzusondern,  wo  der 
fortschreitende  Verfall  des  Ernährungszustandes  von  Anfang  an  hauptsäch- 
lich den  Eiweissbestand  (die  Musculatur)  betrifft,  Fälle,  in  welchen  bei  sehr 
gut  erhaltenem  Panniculus  adiposus  das  Muskelvolum  und  die  Muskelkraft 
rasch  abnehmen. 

Ferner  markirt  sich  ein  gegensätzliches  Verhalten  dadurch,  dass  in 
einer  bestimmten  Zahl  von  Fällen,  nachdem  reichliche  Säfteverluste  (Er- 
brechen, Diarrhoeen  u.  s.  w.)  vorausgegangen,  eine  Exsiccation  der  ver- 
schiedenen Gewebe  eintritt.  Dann  wird  die  welke  Haut  gleichsam  zu  weit 
für  die  gleichfalls  stark  geschwundenen  Muskeln.  Die  Haut  legt  sich  in 
Falten,  bildet  Runzeln,  aufgehobene  Falten  der  Haut  bleiben  stehen.  Dass 
dann  auch  die  übrigen  Gewebe  eine  analoge  Veränderung  angenommen  haben, 
beweist  ein  einfacher  Trinkversuch.  Führt  man  derartigen  Kranken,  deren 
Körper  lange  Zeit  hindurch  grosse  Wasserverluste  ertragen,  beispielsweise  zwei 
Liter  Flüssigkeit  per  os  oder  subcutan  zu,  so  erscheint  das  ganze  Flüssigkeits- 
guantum  nach  relativ  kurzer  Zeit  wieder  im  Harn.  Die  Gewebe  halten 
trotz  ihrer  Eintrocknung  nichts  zurück,  sie  haben  das  Vermögen  der 
Quellung  eingebüsst.  In  einer  andern  Gruppe  von  Fällen  erscheint  im 
(Jegentheil  unter  dem  Einflüsse  der  Hydrämie,  der  Paresis  cordis  und 
anderer  Umstände  die  Parenchymflüssigkeit  im  Ganzen  und  auch  in  der 
Haut  vermehrt,  so  dass  das  bekannte  gedunsene  Aussehen  entsteht.  Von 
einem  solchen  Verhalten  bis  zum  hochgradigen  universellen  Hydrops  cachec- 
ticorum  besteht  nun  wiederum  eine  ununterbrochene  Reihe. 

Das  Vage  des  vorstehend  geschilderten  Symptomenbildes  und  die 
angeführten  gegensätzlichen  Typen  gestatten  uns  jedoch  nicht,  die  Objecte 
zu  ignoriren.  Und  da  wir  jetzt  wenigstens  theilweise  darüber  aufgeklärt 
sind,  worauf  im  Wesentlichen  die  mangelhafte  Ernährung  der  an  Siech- 
thum  leidenden  Kranken  beruht,  dürfen  wir  von  den  mannigfaltigen 
entfernteren  Ursachen,  die  früher  in  einer  Darstellung  der  Cachexie 
den  wichtigsten  Platz  einnehmen  mussten,  abstrahiren  und  das  Krank- 
heitsbild hinsichtlich  seiner  Charaktere  und  Pathogenese 
selbstständig  betrachten. 

Wir  können  dabei  von  dem  ausgehen,  w^as  auch  schon  den  älteren  Aerzten 
völlig  klar  war:  der  cachectische  Zustand,  mag  er  in  weiterer  Instanz 
selbst  im  einzelnen  Falle  von  verschiedenen  und  mehrfachen  Ursachen 
abhängen,  ist  eine  bestimmte  Mangelhaftigkeit  der  Nutrition,  die  als  Hypo- 
trophie  bezeichnet  werden  kann.  Man  hat  sich  hier  bisher  weniger  an  den 
zu  Grunde  liegenden  P r o c e s s  als  an  das  Resultat  gehalten.  Für  einzelne 
Körpertheile  läuft  dieses  Resultat  auf  das  hinaus,  was  man  seit  alter  Zeit 
in  der  Pathologie  als  Atrophie  zusammenzufassen  pflegt.  Zur  Erweiterung 
der  einschlägigen  Vorstellungen  darf  man  nun  an  eine  gleichfalls  alte 
Vorstellung,  diejenige  der  „Constitution"  anknüpfen.  Mit  letzterem  Begriffe 
versuchen  wir  die  histioide  und  chemische  Beschaffenheit  und  die  Art 
des  Functionirens  der  Theile  des  Organismus  als  eines  geordnet  zu- 
sammenhängendenSystems  zu  betrachten.  Merkmal  der  Constitutions- 
anomalien,  soweit  dieselben  eine  Reihenfolge  von  pathologischem  Geschehen 


CACHEXIE.  241 

verursachen,  wird  sein,  dass  viele  oder  nur  eine  Zahl  besonders  wichtiger 
Organe  abnorm  functioniren,  sei  es  nun,  dass  dieselben  grob  nachweisliche 
Abweichungen  aufweisen  oder  dass  Läsionen  der  Structur  anscheinend 
fehlen  und  nicht  einmal  ein  bestimmtes  Einzelorgan  als  Krankheitsherd 
sich  erweist.  In  diesem  Sinne  kann  man  nun  auch  von  Constitution  eilen 
Hypotrophien  sprechen. 

Für  die  Entwicklung  des  letzten  Resultates,  der  Verminderung  des 
Umfanges  zahlreicher  Körpertheile,  kommen,  allgemein  betrachtet,  numerische 
Abnahme  der  Elemente  (Hypoplasie),  mangelhafte  Evolution  (z.  B.  Rhachitis) 
und  einfacher  Schwund  der  anatomischen  Theile  in  Frage.  Nur  die  letzt- 
erwähnten Krankheitsformen  interessiren  uns  an  dieser  Stelle. 

Schon  die  Chemiater  haben  die  Atrophie  in  zwei  Unterabtheilungen 
gesondert,  je  nachdem  das  Schwinden  hauptsächlich  das  Fett  (Marcor)  oder 
die  Muskeln,  das  Körpereiweiss  {Tabes)  trifft.  Wenn  man  berücksichtigt, 
was  neueren  chemischen  und  physiologischen  Arbeiten  hinsichtlich  der 
Pathogenese  einschlägiger  Nutritionsstörungen  zu  danken  ist,  kann  man 
diesen   alten   klinischen  Vorstellungen    eine   exacte  Grundlage  verschaffen. 

Man  gelangt  nämlich  dazu,  einschlägige  pathologische  Nutritions- 
störungen richtig  abzuschätzen,  wenn  man  den  heutzutage  auch  hinsichtlich 
des  menschlichen  Organismus  ziemlich  ausreichend  charakterisirten  Zustand 
der  chronischen  Inanition  zum  Vergleich  heranzieht.  Es  ist  dies 
jener  Zustand,  welcher  eintritt,  wenn  dem  Körper  durch  Wochen  und 
Monate  Nahrungsstoffe  nur  in  ungenügender  Menge  einverleibt,  be- 
ziehungsweise zunutze  gemacht  werden. 

Zur  Erhaltung  des  KörperLestandes  bedarf  es  bekanntlich  gewisser 
Mengen  von  Nahriingsstoffen.  Für  die  Berechnung  des  Nahrungsquantums  bedient  man 
sich  als  einheitliches  Mass  der  Wärmemengen  in  Calorien,  welche  bei  der  Zersetzung 
der  verschiedenen  einzelnen  Nahrungsstoffe  entwickelt  werden;  man  spricht  dann  schlecht- 
weg von  einem  täglich enGesammtcalorienbediirfnis.  Dabei  ist  es  aber  erfahrungs- 
gemäss  unbedingt  nothwendig,  zu  beachten,  dass  die  Vertretung  der  verschiedenen 
wichtigsten  Nahrungsstoffe  {Eiweiss,  Fett,  Kohlenhydrate)  unter  einander  ihrem  Calorien- 
werthe  entsprechend  nur  innerhalb  gewisser  Grenzen  möglich  ist.  Eine  bestimmte  minimal? 
Menge  Eiweiss  (Erhaltungseiweiss),  welche  durch  Fett  oder  Kohlenhydrate  unter 
keiner  Bedingung  substituirbar  ist,  muss  dem  Organismus  immer  zugeführt  werden.  Man 
hat  die  untere  Grenze  der  Eiweisszufuhr,  bei  welcher  noch  Stickstoffgleichgewicht  be- 
hauptet werden  kann,  für  den  gesunden  erwachsenen  Menschen  auf  etwa  30  g  pro  die 
geschätzt.  Die  Grösse  der  absolut  nöthigen  Eiweissmenge  ist  übrigens  unter  normalen 
und  pathologischen  Bedingungen  schwankend.  Wird  bei  ausreichender  Gesammtcalorien- 
menge  eben  noch  das  Erhaltungseiweiss  mit  gereicht,  so  wird  nicht  mehr  Stickstoff  im 
Harn  ausgeschieden,  als  in  der  Nahrung  enthalten  ist  (Stickstoffgleic  hgew  icht). 
Wenn  die  Gesammtcalorienmenge  der  Nahrung  nicht  ausreicht  oder  wenn  bei  aus- 
reichender Gesammtcalorienmenge  zu  wenig  Eiweiss  verabreicht  wird,  so  erscheint  mehr 
Stickstoff  im  Harn,  als  die  Nahrung  enthielt. 

Jener  Zustand  von  chronischer  Inanition  nun  kommt  schon  bei  sonst 
gesunden  Individuen  zu  Stande,  wenn  z.B.  durch  längere  Zeit  abso- 
lut zu  wenig  genossen  wird  oder  wenn  bei  sonst  ausreichendem  Kostmass 
unverhältnismässig  starke  Muskelanstrengungen  geleistet  werden.  Unter 
pathologischen  Verhältnissen  stellen  z.  B.  Individuen  mit  narbiger 
Oesophagusstenose  den  Typus  der  chronischen  Inanition  viel  prägnanter  dar. 

Bei  solchen  Kranken  mit  langsam  progredirender  Störung  der  Nutrition 
bis  zu  schliesslicher  voller  Carenz  wollte  man  nun  zunächst  die  Erfahrung 
gemacht  haben,  dass  das  Gesammtcalorienbedürfnis  herunter  regulirt  sei. 
Doch  sind  die  einschlägigen  Angaben  zahlenmässig  nicht  sehr  verlässlich, 
Normalwerthe  der  Sauerstoifzehrung,  welche  ich  selbst  mit  der  Methode 
von  ZuNTz  für  Menschen,  die  an  hier  in  Betracht  kommenden  Krankheiten 
litten,  ermittelt  habe,  sprechen  nicht  dafür,  dass  unter  dem  Einfluss  der 
Krankheit   weniger   Stoff  verbraucht  wird   als   in   der  Norm.    Fest  steht 

BüdI.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  16 


242  CACHEXIE. 

es  dagegen,  dass  der  Organismus  unter  derartigen  patho- 
logischen Bedingungen  mit  seinem  Ei  weiss  ausserordent- 
lich sparen  lernt.  Die  Erhaltungsmenge  des  Eiweiss  wird  sehr  erheblich 
reducirt  (auf  5  gm  N  pro  die).  Bei  Caloriendeficit  schmelzt  der  sonst  gesunde 
Organismus  erfahrungsgemäss  vor  Allem  Körperfett,  nur  zu  einem  relativ 
kleinen  Theil  auch  Eiweiss  ein.  Trotz  der  erwähnten  Verminderung  des  Ei- 
"weissstoffwechsels,  welche  die  chronische  Inanition  begleitet,  kann  aber  bei 
Fortdauer  des  Zj.istandes  das  Deficit  an  Zersetzungsmaterial  nicht  mehr  aus- 
schliesslich durch  Körper  fett  gedeckt  werden,  es  wird  allmälig  auch  Organ- 
eiweiss  abgeschmolzen.  Zum  Marcor  gesellt  sich  also  auch  Muskelschwund 
und  Muskelschwäche.  Allerdings  bleibt  der  Marcor  das  Vorwiegende.  Ver- 
luste des  Körpergewichtes  um  30  Procent  des  ursprünglichen  Bestandes 
und  mehr  sind  unter  solchen  Verhältnissen  beobachtet. 

Von  naheliegendem  Interesse  wäre  es,  noch  den  Einfluss  einfacher  chro- 
nischer Inanition  auf  die  Zusammensetzungdes  Blutes  genauer  festzu- 
stellen. Hinsichtlich  des  Menschen  kann  nach  dieser  Richtung  blos  angeführt 
werden,  dass  die  Blutdichte  sich  in  der  Nähe  der  Norm  hält  und  die  Zahl  der 
rothen  Blutkörperchen,  sowie  der  Hämoglobingehalt  nur  massig  absinken. 
Wahrscheinlich  wird  die  Gesammtblutmenge  in  vergleichbarer  Weise  redu- 
cirt wie  Fett  und  Muskelfleisch,  ohne  dass  Hydraemie  sich  einstellt.  Die 
Zahl  der  Leucocyten  im  Blute  ist  gewöhnlich  absolut  und  relativ  verringert. 
Die  Alkalescenz  des  Blutes  ändert  sich  höchstens  unbedeutend.  Eine  gewisse 
Bedeutung  ist  schliesslich  der  inanitiellen  Acetonurie,  Diaceturie  und  Oxy- 
buttersäureausscheidung  nicht  abzusprechen. 

Je  nachdem  sichnundieprogressivenconstitutionellen 
Hypotrophien  inHin  sieht  der  Pathogenese  und  des  sympto- 
matischen Verhaltens  einfach  dem  Zustande  der  chronischen 
Inanition  an  die  Seite  stellen  lassen  oder  wesentliche  Ab- 
weichungen davon  bieten,  kann  man  dieselben  in  zwei  auch 
klinisch  auseinander  zu  haltende  Gruppen  sondern,  welche 
prognostisch  verschieden  beurtheilt  werden  müssen  und  der  Ernährungs- 
therapie verschiedene  Aufgaben  stellen. 

Bei  beiden  Gruppen  der  Nutritionsstörung  kann  die  Abmagerung  gleich 
erschreckende  Grade  erreichen.  Die  Unterscheidung  beruht  vielmehr  darauf, 
ob  zum  Fettschwunde  nur  der  mangelhaften  Ernährung  correspondirende  also 
eigentlich  physiologische  Eiweissverluste  sich  hinzugesellen,  oder 
ob  noch  andere  Ursachen  mitwirken,  den  Eiweissbestand 
ganz  speciell  herabzusetzen.  In  der  zweitangeführten  Reihe  von 
Fällen  führt  der  Harn  nicht  blos  Stickstoff,  dessen  Menge  abhängig  ist  von 
der  Ernährung,  sondern  auch  iioch  solchen,  welcher  dem  pathologischen 
Gewebszerfall  entspricht. 

Die  Abstinenz  der  psychisch  Kranken,  die  chronischen  Magen-Darm- 
krankheiten, die  Pancreasaffectionen,  der  Icterus,  aber  auch  der  Diabetes 
führen  ein  Siechthum  herbei,  welches  der  ersten  Gruppe  der  constitu- 
tionellen  Hypotrophie  einzureihen  ist. 

Wie  verschieden  auch  die  chronischen  Magendarmkrankheiten  den 
Körperbestand,  einzeln  betrachtet,  gefährden,  ist  es  doch  leicht  begreiflich, 
dass  es  hier  immer  auf  ein  Nichtgedecktsein  des  Calorienbe- 
dürfnisses  durch  die  Nahrung  ankommen  wird!  Am  meisten  ge- 
schädigt wird  auf  diese  Weise  der  Fett-Eiweissbestand  des  Körpers  bei 
nervöser  Dyspepsie^  Gastritis  glandularis  chronica,  Ulcus  ventricidi,  Gastrectasie 
mit  Hypersecretion  und  chronischen  ulcerösen  Enteritiden. 

Complicirter  erscheinen  bei  oberflächlicher  Betrachtung  die  Verhält- 
nisse beim  Diabetes  mellitus.  Bei  den  schweren  Formen  dieser  Erkrankung 


CACHEXIE.  243 

pflegt  die  Eiweisszersetzung  eine  absolut  sehr  hohe  zu  sein :  ein  Stickstoff- 
gehalt von  40  f/  im  Tagesharn  ist  nichts  Ungewöhnliches.  So  hohe  Werthe 
erreicht  nun  die  Stickstoffausscheidung  schon  deswegen,  weil  die  Diabetiker 
mehr  Fleisch  essen  als  Gesunde.  Das  erhebliche  Plus  von  Eiweiss  jedoch, 
welches  ein  derartiger  Kranker  im  Vergleich  mit  einem  gesunden  Menschen 
bei  derselben  Kost  umsetzt,  rührt  nach  Massgabe  genauer  Versuche  fast 
ausschliesslich  von  der  Beschränkung  der  Zuckerverbrennung 
im  diabetischen  Organismus  her.  Der  Diabetiker  scheidet  einen  grossen  Theil 
der  circulirenden  Kohlenhydrate  ungenützt  aus.  Das  ist  gerade  so  viel, 
als  ob  die  mit  dem  Harn  verlorenen  Kohlenhydrate  gleich  von  der  Nahrung 
abgezogen  wären.  Das  Resultat  ist  (chronische)  Inanition.  Die  Eiweissver- 
luste,  welche  der  Zuckerharnruhrkranke  auf  diese  Weise  erfährt,  sind,  wie 
quantitativ  bedeutend  sie  sich  auch  darstellen  mögen,  in  dem  mehrfach 
erwähnten  Sinne  als  physiologische  zu  bezeichnen.  Sie  sind  nur  eine  un- 
mittelbare Consequenz  der  Glykurie  und  des  hievon  abhängigen  Calorien- 
deficites.  Erst  wenn  eine  im  spätem  Verlauf  der  Zuckerharnruhr  häufige 
Complication,  die  Säureautointoxication,  sich  hinzugesellt,  kommt  auch  eine 
eigentlich  pathologische  Eiweisszersetzung  dazu.  Solche  Diabetiker  verlieren 
noch  Stickstoff',  wenn  ihre  Nahrung  abzüglich  des  Harnzuckers  die  normalen 
40  Galerien  per  Kilo  ausmacht. 

Die  Folgen  der  vorstehend  angeführten  Krankheitsprocesse  sind  auch 
sonst  der  chronischen  Inanition  analog. 

Die  verschiedenen  febrilen  Infede,  gewisse  Vergiftungen  (z.  B.  mit 
Phosphor)  und  Äutointoxkationen  (Conia  der  Diabetiker),  die  Anaemia  gravis 
und  die  Leiikaemie,  sowie  insbesondere  der  Krel)s  (ohne  Rücksicht  auf  seine 
Local  sation)  verursachen  dagegen  eine  Aeuderung  der  früher  dargelegten 
Gesetze  des  Stickstoffgleichgewichtes  bei  genügender  Zufuhr  im  directen 
Sinne  stärkeren  Umsatzes.  Es  findet  gegenüber  gesunden  Menschen  unter 
gleichen  Bedingungen  eine  oft  hochgradig  gesteigerte  Eiweiss- 
zersetzung statt. 

Die  Phosphorvergiftung,  welche  bei  hungernden  Hunden  eine 
höchst  bedeutende  Zunahme  des  Eiweisszerfalles  hervorruft  und  ebenso 
die  febrile  Steigerung  des  Stickstoffumsatzes  sind  zum  Paradigma  ein- 
schlägiger Ernährungsstörungen  überhaupt  und  zur  Veranlassung  geworden, 
in  einschlägigen  Fällen  von  einem  t  o  x  o  g  e  n  e  n  Eiweisszerfall  zusprechen. 

Bei  den  febrilen  Infecten  denkt  man  an  lösliche  Gifte,  welche 
durch  Wechselwirkung  der  pathogenen  Mikroorganismen  und  der  Körper- 
substanzen entstehen  und  auf  das  Protoplasma  necrosirend  wirken.  Die 
gesammte  Stoffzersetzung  (Oxydationen)  sind,  wie  ich  selbst  durch  Bestim- 
mung der  Sauerstoffzehrung  bei  zahlreichen  Fieberkranken  nachweisen 
konnte,  hiebei  nicht  wesentlich  erhöht.  Nur  im  Material,  welches  der  infi- 
cirte  Organismus  umsetzt,  sind  Verschiebungen  eingetreten :  die  Kranken 
verbrauchen  über  das  Nahrungs-  auch  eigenes  Muskel-  und  Drüseneiweiss. 
So  einfach,  dass  ein  Fieberkranker,  bei  gleicher  Ernährung  gleichzeitig 
mit  einem  gesunden  Menschen  einer  Stoffwechseluntersuchung  unterzogen, 
am  Schlüsse  relativ  ärmer  an  Eiweiss,  dagegen  reicher  an  Fett  sich  heraus- 
stellen würde,  liegen  die  Verhältnisse  aber  natürlich  nicht.  Es  macht  sich 
leicht  begreiflicher  Weise  auch  hier  gleichzeitig  immer  die  Inanition  geltend, 
mehr  bei  länger  dauernden  als  bei  ganz  acuten  Infecten.  Auf  diese  Weise 
müssen  die  Fieberkranken  schliesslich  auch  fettärmer  werden,  und  die 
febrile  Consumption  läuft  schliesslich  ebenso  auf  Fett-  wie  auf  Eiweiss- 
schwund  hinaus. 

Es  braucht  wohl  kaum  besonders  hervorgehoben  zu  werden,  dass 
auch  bei   der  Krebskrankheit   der  Einfluss   der  chronischen  Inanition 

16* 


244  CACHEXIE. 

sich  wird  geltend  machen  können  oder  müssen.  Wie  aber  schon  aus  der 
Symptomatologie  der  Carcinomcachexie  hervorgeht,  eilt  der  Muskel- 
schwund hier  dem  Mar  cor  oft  voraus.  Mit  noch  reichlichem  Fett- 
polster versehene  Krebskranke  zeigen  sonst  schon  den  Habitus  cachecticus  und 
exquisite  Muskelschwäche.  Schon  in  Frühstadien  des  Krebsleidens,  unabhängig 
vom  Sitze  des  primären  Carcinoms,  stellt  es  sich  dann  heraus,  dass  die  Kranken 
trotz  reichlicher  Nahrung  (ausreichende  Calorienzufuhr),  trotz  annähernd 
normaler  Eesorptionsbedingungen  in  den  ersten  Wegen  und  besonders  trotz 
genügenden  Eiweissgehaltes  der  Nährstoffe  dennoch  Stickstoff  aus  dem 
eigenen  Körper  abgeben.  Auch  die  immer  weitere  Steigerung  der 
Stickstoff zufuhr  ändert  dies  nicht,  die  Stickstoffausfuhr 
überschreitet  die  Zufuhr.  Entgegen  dem  mangelhaft  •  ernährten 
Gesunden,  welcher,  wie  wir  sahen,  vorzugsweise  Fett  abschmilzt,  geht  es 
hier  au  das  Muskel-  (und  Drüsen-)eiweiss. 

Entsprechend  dem  abweichenden  Typus  der  Nutritionsstörung  stellt 
sich  bei  den  progressiven  Hypotrophien  der  zweiten  Gruppe  auch  die 
Blutbe schaff enheit  wesentlich  anders  dar.  Charakteristisch  sind  Hydraemie, 
Anaemie  und  Mangel  an  regenerativen  Bestrebungen.  Das  Sinken  der 
Alkalescenz  und  die  Vermehrung  des  Zuckergehaltes  kommt  vor  allem 
für  diese  Formen  des  Siechthums  zur  Geltung. 

Die  Gründe,  welche  auch  beim  Krebs  die  Annahme  eines  toxischen 
Eiweisszerfalles  nahelegen,  sind  folgende.  Schon  der  Umstand,  dass  der 
Stickstoffumsatz  der  Carcinomkranken  nicht  blos  vom  augenblicklichen 
Körperbestand  und  nicht  von  der  Eiweisszufuhr  allein  abhängt,  zwingt, 
einen  anderweitigen,  speciellen  Factor  in  Erwägung  zu  ziehen.  Die  Analogie 
dieser  Stoffwechselanomalie  mit  bestimmten  Vergiftungsbildern  (Phosphor- 
intoxication)  ist  ferner  eine  in  die  Augen  springende.  Ebenso,  wie  bei  der  Phos- 
phorvergiftung und  bei  den  bacteritischen  Infecten  zum  gesteigerten  Eiweiss- 
zerfall  chronische  oder  paroxysmale  Säureintoxication  sich  hinzugesellt, 
geschieht  dies  auch  hier.  Dieselben  Säuren  stehen  bei  den  Krebskranken 
im  Chemismus  der  Autointoxication,  und  die  Intensität  der  letzteren  erreicht 
nicht  so  selten  Grade,  dass  Coma  und  rascher  Exitus  letalis  den  Beschluss 
bilden.  Und  endlich  hat  sich  bei  directen  Versuchen  das  Blutserum  von 
Krebskranken  insofern  giftig  erwiesen,  als  es  bei  intravenöser  Injection 
den  Eiweisszerfall  der  Versuchsthiere  nicht  unerheblich  mehr  steigert,  als 
normales  Serum  in  denselben  Quantitäten.  Ob  das  fragliche  Gift  (das 
„pathologische  Histozijm")  aus  dem  Carcinom  selbst  stammt,  ist  von  neben- 
sächlicher Bedeutung. 

Da  bei  manchen  Nervenkrankheiten  (Morbus  Basedow)  und 
gewissen,  der  Aetiologie  nach  schwer  zu  deutenden  Affectionen  (M.  Addisonii) 
bisweilen  eine  ähnliche  Nutritionsstörung  beobachtet  werden  konnte,  hat 
man  auch  die  Hypothese  eines  nervösen  Einflusses  auf  den  Eiweissstoff- 
wechsel  heranziehen  wollen,  vorläufig  jedoch  nur  mit  schwacher  Begründung. 

Für  die  dif f er entielle  Diagnose  der  beiden  Hauptgruppen  von 
progressiver  constitutioneller  Hypotrophie  reichen  die  allergewöhulichsten 
klinischen  Mittel  allerdings  nicht  aus.  Entsprechende  Nahrungszufuhr  und 
annähernd  normale  Ausnützung  der  Nahrun gsstoft'e  vorausgesetzt,  wird  wohl 
die  Wage  am  Schluss  einer  längeren  Beobachtung  entscheiden  lassen,  ob 
ein  specieller  pathologischer  Factor  die  Ursache  des  gesteigerten  Eiweiss- 
zerfalles ist.  Aber  ein  ausreichendes  Mass  der  hier  in  Betracht  kommenden 
Nutritionsstörungen  ergibt  sich  aus  systematischen  Körperwägungen  nicht 
unmittelbar.  Die  Diagnose  der  ursächlichen  Erkrankung  reicht  auch  nicht 
.  aus  für  die  Entscheidung,  weil  einerseits  chronische  Inanition  und  patho- 
logischer (toxogener)  Eiweisszerfall  sich  vielfach  combiniren,  und  anderer- 


CACHEXIE.  245 

seits  auch  z.  B.  beim  Carcinom  in  gewissen  Stadien  des  Leidens  und  bei 
bestimmter  Localisation  des  Krankheitsherdes  chronische  Inanition  allein 
vorhanden  sein  kann. 

Entscheidend  ist  hier  blos  der  lege  artis  augestellte 
Stoffwechselv  ersuch. 

Man  wende  nicht  ein,  dass  der  Stoff  wechseLversu  c  h  umständlich  sei  und 
Laboratoriumsmittel  und  endlich  geduldige  Patienten  voraussetze.  Hinsichtlich  der  Kranken 
wird  es  immer  so  sein,  dass  diese  oft  dem  Arzte,  und  nicht  selten,  dass  der  Letztere  den 
Patienten  in  den  Ansprüchen  nicht  genügt  oder  zu  weit  geht !  Die  Umständlichkeit  eines 
Stoffwechselveisucbes  darf  nicht  mit  banalen  Längenmassen  geschätzt  werden.  Es  wird 
soviel  unnütz  untersucht  an  und  hinter  dem  Krankenbett,  dass  man  sich  hier  nicht 
beschweren  sollte.  Wozu  wird  z.  B.  der  Diabetikerharn  fortwährend  quantitativ  auf  seinen 
Zuckergehalt  geprüft?  Was  endlich  die  Laboratoriumsmittel  anlangt,  so  kommt  man  ohne 
dieselben  und  ohne  —  Arbeitstheilung  heutzutage  nicht  weiter. 

Die  Prüfung  der  krankhaften  Erhöhung  des  Eiweissumsatzes  kann 
in  relativ  einfacher  Weise  erfolgen,  wenn  der  Kranke  soweit  der  chronischen 
Inanition  verfallen  ist,  dass  man  ihm  blos  kleine  Mengen  Stickstoff  armer 
Flüssigkeiten  (Thee,  Kaffee,  leere  Suppe)  zuführen  kann,  oder  zuzuführen 
braucht,  um  der  Esslust  zu  genügen.  Es  braucht  dann  bei  solchem  Kost- 
mass  nur  etwa  drei  Tage  lang  die  tägliche  Stickstotfmenge  im  Harn  bestimmt 
zu  werden  (vorausgesetzt,  dass  die  Ausscheidung  der  stickstoffhaltigen 
Eiweissderivate  normal  geschieht).  Liegen  die  gefundenen  Zahlen  höher 
als  die  bekannten  Normalwerthe,  ist  der  Schluss  auf  pathologische  Steigerung 
des  Eiweisszerfalles  schon  gerechtfertigt. 

Nährt  sich  das  fragliche  Individuum  noch  ausgiebiger,  dann  muss  der 
Stoffwechselverlust  anders  (umständlicher)  angestellt  werden.  Es  wird  dann 
dem  Kranken  das  Erhaltungseiweiss  in  leicht  assimilirbarer  Form  und  das 
Calorienbedürfnis  ausreichend  deckende  sonstige  Nahrung  (im  Betrage  von 
35 — 45  Calorien)  zugeführt.  Wird  bei  dieser  Yersuchsanordnung  nicht  blos 
in  den  ersten  beiden  Tagen,  sondern  noch  nach  4,  5,  G  Tagen  mehr 
Stickstoff  ausgeschieden  als  die  Nahrung  enthielt,  so  ist  darauf  zu  schliessen, 
dass  pathologische  Factoren  den  Eiweissumsatz  erhöhen. 

Die  specielle  Technik  solcher  Versuche  ist  gegenwärtig  genau 
ausgearbeitet  und  kann  in  dem  besonderen  Artikel  ^^  Stoff  wechselunter  suchung^ 
dieses  Sammelwerkes  nachgelesen  werden. 

Die  quantitativen  Veränderungen  des  Stoffwechsels 
bei  den  hier  in  Betracht  kommenden  Krankheiten  äussern 
sich  hauptsächlich  im  Eiweissumsatz.  Von  der  Messung  der  Ge- 
sammtoxydationen  durch  den  respiratorischen  Gaswechsel  (Bestimmung  der 
Sauerstoffzehrung),  welche  heutzutage  sehr  einfach  durchgesetzt  werden 
könnte,  ist  nichts  zu  erwarten. 

Die  Bedeutung  dieser  Feststellung  der  Stoffwechselbilanzen  liegt  nicht 
blos  in  der  Unterscheidung  der  beiden  Hauptgruppen  der  progressiven 
Hypotrophien.  Sie  verschaffen  uns  ausserdem  auch  noch  die  Möglichkeit,  die 
Ernährung  des  Kranken  genügend  zu  controliren  und  die  Diät  dem  Um- 
setzungszustande anzupassen.  Dagegen  wird  wohl  Niemand  die 
Diagnostik  des  Eiweissstoffwechsels  etwa  bei  der  Untersuchung  benigner 
Tumoren  und  carcinomatöser  Neubildungen  heranziehen  wollen. 

Es  wurde  schon  früher  hervorgehoben,  dass  die  constitutionellen  Hypo- 
trophien, je  nach  dem  sie  sich  dem  Zustande  der  chronischen  Inanition 
einfach  an  die  Seite  stellen  oder  davon  abweichen,  auch  prognostisch 
sehr  verschieden  zu  beurtheilen  sind.  Mag  die  Ursache  der  Erhöhung  des 
Eiweisszerfalles  bei  der  Krebscachexie  welche  immer  sein,  die  Thatsache, 
dass  das  Vorhandensein  einer  vielleicht  kleinen,  ganz  localen  Neubildung 
den  Ernährungszustand   des  ganzen  Körpers    (Eiweissbestand  von  Muskeln 


246  CACHEXIE. 

und  Drüsen)  bis  zum  Tode  progressiv  herabsetzt,  während  eine  gutartige 
Neubildung  von  solchem  Umfange,  wie  der  schwangere  Uterus  und  sein 
Inhalt  das  Allgemeinbefinden  nicht  zu  berühren  braucht,  rechtfertigt  wohl 
schon  genügend  diese  Behauptung. 

Wenn  dagegen  eine  acute  oder  chronische  Krankheit  es  einfach  kürzere 
oder  auch  längere  Zeit  unmöglich  gemacht,  die  Stoffzersetzung  mit  der 
Nahrung  ins  Gleichgewicht  zu  bringen,  so  dass  der  Körper  zur  Fortdauer 
der  vitalen  Functionen  eigene  Substanz  abschmelzen  musste,  ist  erfahrungs- 
gemäss  der  Organismus  in  der  Reconvalescenz  oft  im  Stande,  selbst  aus 
solchen  zugeführten  Nahrungsmengen,  bei  denen  ein  wohl- 
genährter Körper  Eiweiss  abgeben  müsste,  Stickstoff  an- 
zusetzen und  für  den  Wiederaufbau  von  Geweben  zu  ver- 
werthen.  Hier  machen  die  Zellen  als  Lebensherd  ein  Regenerations- 
bestreben geltend,  welches  die  sonstigen  Gesetze  der  normalen  Ernährung 
durchbricht ;  es  wird  Eiweiss  angesetzt,  ohne  dass  der  Eiweissbestand  vorher 
schon  ein  reicher  gewesen,  und  es  kommt  nicht  sofort,  wie  in  der  Norm 
zur  Herstellung  des  Stickstoffgleichgewichtes!  Dies  gilt  beispielsweise  für 
die  Genesungsperiode  nach  Infectionskrankheiten  und  für  Individuen,  welche 
in  Folge  von  Oesophagusstenose  und  anologen  Affectionen  der  chronischen 
Inanition  verfallen  sind. 

Erfahrungen  wie  diese  ermuthigen  uns  sogar,  den  Eiweissbestand  des 
Diabetikers,  welcher,  wie  wir  sehen,  einer  analogen  Nutritionsstörung  unter- 
liegt, zu  schützen.  Es  wird  auch  hier  eine  Nahrung  zusammen  zu  stellen 
sein,  welche  so  reich  an  Eiweiss  und  insbesonders  an  Fetten  ist,  dass 
der  Kranke  seinen  Ausgaben  Genüge  leistet. 

Die  vorstehenden  Betrachtungen  enthalten  endlich  auch  wichtige 
therapeutische  Gesichtspunkte. 

Bekanntlich  gewinnt  gegenwärtig  die  Anschauung  immer  mehr  Raum, 
dass  die  Therapie  aller  Zehrkrankheiten  eine  Ernährungstherapie  sein 
müsse.  Nur  Stoffwechseluutersuchungen  wie  die  früher  angeführten  können 
solchen  therapeutischen  Bemühungen  eine  exacte  Basis  verschaffen. 

Die  erste  hier  aufzustellende  Frage  lautet:  lässt  sich  ein  Weg  finden, 
wie  den  durch  gesteigerten  Eiweisszerfall  charakterisirten  progressiven 
Hypotrophien  (Krebscachexie)  entgegen  zu  arbeiten  wäre  ?  Die  vorliegenden 
Erfahrungen  sprechen  dafür,  dass  hier  der  fortschreitende  Zerfall  nicht 
aufzuhalten  ist.  Es  ist  in  einzelnen  wenigen  Fällen  gelungen,  bei  Krebs- 
kranken mit  der  charakteristischen  Nutritionsstörung  den  gesteigerten  Eiweiss- 
zerfall durch  hohe  Fettgaben  unter  die  Grenze  der  Norm  herabzudrücken. 
Aber  es  braucht  wohl  kaum  hervorgehoben  zu  werden,  dass  eine  Methode 
einer  derartigen  internen  Behandlung  des  Carcinoms  durchaus  nicht  existirt 
und  kaum  je  Aussicht  auf  zahlreiche  Erfolge  hat. 

Die  praktische  Chirurgie,  die  sich  bisher  um  einschlägige  Fragen 
wenig  kümmerte,  findet  in  den  mitgetheilten  Thatsachen  nur  eine  neue 
Indication  zum  Eingreifen  auch  in  solchen  Fällen  von  Carninom,  in  denen 
Recidiv  und  Metastasen  sicher  bevorstehen.  Denn  mit  der  Entfernung  des 
Krankheitsherdes  ist  doch  wenigstens  vorübergehend  die  Beseitigung  der 
perniciösesten  Ursache  der  progressiven  Abzehrung  zu  erhoffen. 

Die  Aufgaben  einer  rationellen  Ernährungstherapie 
beschränken  sich  also  auf  die  Feststellung  der  Mittel, 
welche  der  chronischen  Inanition  bei  Krankheiten  ent- 
gegenwirken. Schon  mit  dem  Postulat,  der  chronischen  Inanition  ent- 
gegenzuarbeiten, scheint  etwas  gewonnen.  Wenn  z.  B.  die  Nutritionsstörung 
in  einem  Falle  von  Gastritis  glandularis  höhere  Grade  erreicht  hat,  wird 
man    endlich    doch   einmal   aufhören,   sich   an   das   banale  Schlagwort   der 


CARDIALGIE.  247 

„Schonung"  des  kranken  Organs  zu  klammern.  Freilich  bedarf  es  mancher 
Arbeit,  zu  erforschen,  wie  unter  den  mannigfachen  hier  in  Betracht  kom- 
menden pathologischen  Verhältnissen  die  Nahrungsstoffe  passend  bemessen 
und  gemischt  werden  müssen,  um  der  progressiven  Hypotrophie  ein  Ziel  zu 
setzen  und  den  WiederauiT3au  der  geschwundenen  Gewebe  zu  ermöglichen.  Die 
medicinisrhe  Praxis  wird  vor  Allem  bestrebt  sein  müssen,  die  Patienten  dazu 
zu  bringen,  dass  sie  genügende  Mengen  von  Nährstoffen  zuführen,  trotz  der 
meist  bestehenden   Appetitstörung    (vergi.  ^^Ernährungstherapie'-''). 

F.  KRAUS. 

CsrdiäiQie  (Gastralgie,  Gastrospasmus,  Gastrodynie,  Magenkrampf). 
Man  versteht  unter  Cardialgie  anfallsweise  auftretende  heftige 
Schmerzattaquen,  die,  im  Epigastrium  beginnend,  nach  den  Hypochon- 
drien, dem  Kücken,  Brust,  selbst  Armen  ausstrahlen  oder  auch  den  ganzen 
Unterleib  umfassen  und  sich  selbst  bis  in  die  Blase-  und  Genitalorgane  hin 
erstrecken  können.  Die  Anfälle  sind  quantitativ  verschieden  hochgradig: 
zwischen  leichten,  schnell  vorübergehenden,  krampfartigen  Zusammen- 
schnürungen bis  zu  den  intensivsten  mit  tiefem  Collaps  einhergehenden 
Spasmen  finden  sich  zahllose  Uebergänge.  Die  typischen  Anfälle  zeichnen 
sich  aber  durch  ein  ausgeprägtes  Ergriffensein  des  Gesammtorganismus, 
durch  Unfähigkeit  zur  Berufsarbeit,  durch  das  Bedürfnis  nach  absoluter 
körperlicher  Ruhe  aus.  Die  Anfälle  zeigen  bezüglich  der  Wiederholungen 
gleichfalls  die  allergrössten  Variationen. 

Aetiologie.  Unter  den  Ursachen  der  Gastralgieen  sind  zu  er- 
wähnen a)  solche,  welche  vom  Magen  selbst  oder  dessen  Umgebung  aus- 
gehen, b)  centrale  Erkrankungen,  c)  Infectionen,  bezw.  Intoxicationen, 
d)  Reflexe  von  anderen  Organen  aus. 

Unter  den  vom  Magen  und  dessen  Umgebung  ausgehenden  Cardi- 
algieen  sind  zu  erwähnen :  die  bei  Ulcus  ventriculi  chronicum  beobachteten, 
ferner  die  in  Folge  localer  peritonitischer  Adhäsionen  (Perigastritis)  sich 
entwickelnden  Spasmen,  endlich  Schmerzattaquen,  die  durch  directen  Druck 
von  Geschwülsten  der  Nachbarschaft  (Leber,  Pancreas,  Darm)  hervorgerufen 
werden.  Unter  den  centralen  Erkrankungen  ist  in  erster  Reihe  die  Tabes 
dorsalis  zu  nennen,  bei  welcher  schon  in  früheren  Stadien  gastralgische 
Anfälle  beobachtet  werden  (Crises  gastriques).  Aber  auch  bei  anderen  Spinal- 
und  Cerebralleiden  kommen  gelegentlich  Gastrodynieen  vor.  Von  Infec- 
tionen disponirt  am  häufigsten  die  Malaria  zu  Gastralgieen;  von  Intoxi- 
cationen ist  der  Abusus  von  Nicotin  als  nicht  seltene  Veranlassung  gastral- 
gischer  Anfälle  zu  erwähnen.  Reflektorisch  können  Cardialgieen  in  erster 
Linie  durch  Erkrankungen  der  weiblichen  Geschlechtsorgane  und  deren 
Adnexa  ausgelöst  werden,  auch  männliche  Genitalleiden  (Spermatorrhoe, 
Peyer)  geben  bisweilen  die  Ursache  gastrischer  Schmerzparoxysmen  ab. 
Ferner  können  Nieren-Dislocationen,  Hydronephrose,  Descensus  der  Bauch- 
eingeweide, Darmschmarotzer  zu  Schmerzattaquen  in  der  Magengegend  die 
Veranlassung  bieten. 

Symptome.  In  den  ausgeprägten  Anfällen  wird  die  Scene  durch 
gewisse  prodromale  Erscheinungen  eingeleitet:  Gefühl  allgemeinen  Unbe- 
hagens, Stauung,  Völle  im  Leibe  bezw.  in  der  Magengegend,  Uebelkeit, 
Zusammenlaufen  von  Wasser  im  Munde  etc.  Bald  darauf  beginnen  die 
eigentlichen  Schmerzattaquen,  die  gradatim  anwachsen^  sich  über  Brust, 
Bauch  und  Rücken  erstrecken  und  auf  ihrem  Höhepunkte  das  Allgemein- 
befinden des  Kranken  tief  lädiren  (Collaps,  Erbrechen,  kühle  Extremitäten, 
kleiner,  leicht  unterdrückbarer  Puls  u.  A.).  Meist  endigt  der  Anfall  mit 
Erbrechen,  theils  von  Speisen,  theils  von  Schleim  bezw.  Galle.  Gelegentlich 
erfolgt  auch  als  Abschluss  eines  gastralgischen  Anfalles  eine  copiöse  Stuhl- 


248  CARDIALGIE: 

absetzung.  Nach  dem  Anfall  wird  ein  reichlicher,  heller,  dünner  Urin  ab- 
gesondert (Urina  spastica).  Als  Folge  schwerer  Anfälle  beobachtet  man 
eine  mehrtägige  Mattigkeit  sowie  Schmerzhaftigkeit  der  Magen-  und 
Rückengegend. 

Diagnose.  Die  Diagnose  hat  einmal  die  Aufgabe,  den  Anfall  als 
gastrischen  festzustellen,  dann  womöglich  die  Ursache  der  Schmerzparo- 
xysmen  zu  eruiren.  Erst,  wenn  bei  genauester  Untersuchung  eine  sub- 
stantielle Basis  nicht  zu  finden  ist,  hat  man  das  Recht,  von  idiopatischen 
Cardialgieen  zu  sprechen.  Die  Diagnose  des  Anfalls  ergibt  sich  aus  dem 
Symptomencomplex,  dem  plötzlichen  Beginn,  dem  Ausgang  vom  Epigastrium, 
der  strahlenförmigen  Ausbreitung  nach  dem  Rücken,  Brust,  Armen,  Hypo- 
chondrien, Därmen  zu,  der  ausgesprochenen  Alteration  des  Allgemein- 
befindens, dem  Gefühle  der  Vernichtung  u.  A.  Von  objectiven  Symptomen 
wird  dem  gastralgischen  Anfalle  die  Eigenschaft  zugeschrieben,  durch 
manuellen  Druck  vermindert  zu  werden;  sicherlich  ist  dieses  Zeichen  nur 
in  einer  kleinen  Minderzahl  zu  constatiren,  im  positiven  Falle  mag  ihm 
ein  gewisser  diagnostischer  Werth  zukommen.  Dasselbe  gilt  von  der 
günstigen  Beeinflussung  des  Anfalles  durch  Galvanisirung  (Anode  auf  den 
Schmerzpunkt,  Kathode  auf  die  Wirbelsäule). 

D  i  f  f  e  r  e  n  t  i  a  1  d  i  a  g  n  0  s  e.  Es  kommen  im  Wesentlichen  in  Betracht : 
Darmkoliken,  Cholelithiasis,  Nierenkoliken,  Ulcus  ventriculi,  Atrophie  der 
Magenschleimhaut,  Intercostalneuralgieen. 

Bei  Darmkoliken  ist  der  Leib  mehr  oder  weniger  stark  aufge- 
trieben, der  Schmerzanfall  entwickelt  sich  nicht  am  Epigastrium,  sondern 
tiefer,  in  der  Nabelgegend;  es  gehen  dauernde  oder  vorübergehende  Un- 
regelmässigkeiten der  Stuhlentleerungen  voraus. 

Die  Unterscheidung  der  Darmkoliken  von  Cholelithiasis  ist  in 
typischen  Fällen  leicht  und  für  letztere  sprechen:  die  Lebervergrösserung 
und  Schmerzhaftigkeit  besonders  in  der  Gegend  der  vesica  fellea  (ver- 
längerte ParaSternallinie).  Ausser  der  genannten  Schmerzhaftigkeit  besteht 
auch  ein  circumscripter  Schmerzbezirk  an  der  hinteren  Leberfläche,  etwas 
rechts  vom  zwölften  Brustwirbel.  Ist  Icterus  vorhanden  oder  sind  schon  früher 
Concremente  gefunden  und  finden  sich  Temperatursteigerimgen,  so  kann 
ein  Zweifel  überhaupt  nicht  walten.  In  wenigen  typischen  Fällen  kann  die 
Diagnose  lange  Zeit  schwanken.  Hier  muss  nach  jedem  Anfalle  gewissenhaft 
nach  Concrementen  gefahndet  werden.  Für  Cholelithiasis  sprechen  ferner: 
der  Beginn  der  Anfälle  auf  der  rechten  Seite,  das  häufige  Auftreten 
während  der  Nacht,  der  Zusammenhang  der  Anfälle  mit  Diätfehlern,  end- 
lich das  Bestehen  hartnäckiger  Obstipation. 

Die  Unterscheidung  der  Gastralgieen  und  Nierenkoliken  wird  in  der 
Regel  und  in  ausgesprochenen  Fällen  kaum  auf  Schwierigkeiten  stossen, 
dagegen  können  Nierenkoliken  längere  Zeit  aus  unklaren  Symptomen  einher- 
gehen. Vor  Irrthümern  kann  hier  nur  sorgfältige  Analyse  des  Urins,  be- 
sonders das  Fahnden  auf  Blut-  oder  Harn-Concremente  nach  den  An- 
fällen schützen. 

Die  Diö'erentialdiagnoso  zwischen  Cardialgieen  und  Ulcus  ventri- 
culi ist  in  typischen  Fällen  leicht.  Der  Eintritt  der  Schmerzparoxysmen 
im  Anschluss  an  die  Speiseaufnahme,  die  Abhängigkeit  der  ersteren  von 
der  Qualität  und  Quantität  der  Ingesta,  endlich  der  charakteristische 
Druckschmerz  im  Epigastrium  oder  Dorsum  entscheiden  die  Diagnose 
Ulcus  ventriculi.  Ist  gar  eine  Magenblutung  oder  Meläna  vorausgegangen, 
so  ist  jede  Verwechslung  ausgeschlossen.  In  typischen  Fällen  kann  die 
Differentialdiagnose  grossen  Schwierigkeiten  begegnen,  namentlich  wenn 
epigastrische   und  dorsale  Druckpunkte   fehlen.     In   solchen  Anfällen   wird 


CATARRHÜS  AESTIVUS.  249 

man  nach  v.  Leube's  Rath  gut  thiin,  den  Fall  so  wie  ein  chronisches 
Magengeschwür  (s.  dieses)  zu  behandeln.  Der  günstige  Effect  würde  a  priori 
für  die  Richtigkeit  der  Prämisse  sprechen.  Ebenso  ist  nach  meiner  Er- 
fahrung die  günstige  Wirkung  einer  probeweise  gegebenen  Argenticum 
nitricum-Lösung  (0-3:  l20 — 150,  3  Mal  täglich  1  Esslölfel)  für  Ulcus  und 
gegen  Cardialgie. 

Die  Difterentialdiagnose  zwischen  idiopathischen  Cardialgieeu 
und  Schmerzparoxysmen  bei  Atrophie  der  Magenschleimhaut 
(Änadenie,  Phthisis  mucosae  ventriculi)  kann  nur  auf  Grund  einer  sorgfältigen 
Mageninhaltsanalyse  entschieden  werden.  Bei  letzterer  findet  sich  ausser 
den  bekannten  Symptomen  der  chronischen  Dyspepsie  absoluter  HCl-  und 
Enzymmangel,  während  bei  Neurosen  in  der  Regel  der  Chemismus  dem 
normalen  Verhalten  entspricht. 

Gelegentlich  können  auch  Intercostalneuralgien,  cardialgische  Anfälle 
vortäuschen.  Die  Entscheidung  beruht  einmal  auf  der  regionären  Be- 
grenzung des  Schmerzanfalls,  sodann  auf  der  Druckempfindlichkeit  der 
betreffenden  Nerven  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung  oder  wenigstens  ein- 
zelner Punkte. 

Therapie:  Die  erste  Bedingung  einer  rationellen  Behandlung  der 
Cardialgieeu  besteht  in  der  Erforschung  eines  etwa  zu  Grunde  liegenden 
Leidens,  namentlich  verdienen  bei  Frauen,  wie  erwähnt,  der  Genital- 
apparat und  die  Nieren,  bei  Männern  besonders  die  Centralorgane  ein- 
gehende Untersuchung.  Findet  man  eine  palpable  Grundlage  nicht,  so  hat 
man  trotzdem  noch  kein  Recht,  die  Anfälle  als  rein  „nervöse"  anzusprechen, 
eine  gewisse  Reserve  des  Urtheils  ist  hier  ausserordentlich  angebracht. 
Inzwischen  begnüge  man  sich  mit  einer  symptomatischen  Behandlung.  Von 
äusseren  Mitteln  kommen  in  Betracht:  heisse  Aufschläge  (Filzschwamm, 
Hafer,  Leinsamenmehl)  oder  Sinapismen,  auch  Einreibungen  mit  Chloro- 
formöl  {Chloroformü,  Ol.  Hyosciiami  aa.  25*0)  pflegen  fast  immer  sedativ 
zu  wirken.  Hat  man  einen  constanten  Apparat  zur  Ha,nd,  so  kann  man  die 
Anwendung  des  galvanischen  Stromes  nach  v.  Leube's  Rath  ver- 
suchen. V.  Leube  applicirt  einen  Strom  von  10 — 50  Elementen  5  — 10  Min. 
lang  und  setzt  die  Anode  auf  die  schmerzhafte  Stelle  im  Epigastrium,  die 
Kathode  in  die  linke  Axillarlinie  oder  in  die  Nähe  der  Wirbelsäule.  Bei 
heftigem  und  schweren  Ergriff'ensein  des  Allgemeinbefindens,  einhergehenden 
Schmerzparoxysmen  ist  die  subcutane  Anwendung  von  Morphium  oder 
Codein  jeder  anderen  Behandlung  vorzuziehen.  In  leichteren  Fällen  kann 
man  auch  Morphium  oder  Codein  innerlich  oder  in  Form  von  Suppositorien 
darreichen.  In  einzelnen  Fällen,  speciell  solchen  auf  nervöser  Basis,  sind 
die  eigentlichen  Nervina:  AnUpijrin,  Plienacetin,  Exalgin,  am  besten  in 
Verbindung  mit  kleinen  Dosen  Morphium'  oder  Codein,  am  geeignetsten. 
Bei  Malaria-Card ialgieen  ist  das  Chinin  in  dreisten  Gaben  (2  Mal 
täglich  1-0)  zu  reichen.  Von  leichter  einwirkenden  Mitteln  sind  die  Tina. 
Valerian.  aether.,  der  Spirit.  aethereus  oder  Aether  sulfiur.  in  Tropfenform  vor 
der  Anwendung  von  Opiaten  immerhin  eines  Versuches  werth.         boas. 

CatarrhuS  aeStiVUS  {Sommerkatarrh,  Frilhsommerhatarrh,  Heufieber, 
Heuasthma)  ist  eine  am  europäischen  Continent  ziemlich  seltene  Krankheits- 
form, welche  aber  in  England  und  Amerika  viel  häufiger  vorkommt  und  daher 
gewöhnlich  mit  seinem  englischen  l^&meii  Haijfever  oder  Hayasthma  in  der  Lite- 
ratur bezeichnet  wird.  Dieses  Leiden  befällt  meistens  jüngere  Individuen, 
und  zwar  besonders  Männer  bis  zum  30.  Lebensjahre,  später  entwickelt 
sich  die  Krankheit  nicht  mehr.  Bei  Kindern  kommt  der  Sommerkatarrh 
selten  vor.   Stadtbewohner  und  besser  situirte  Leute  disponiren  bei  Weitem 


250  CATARRHUS  AESTIVüS. 

mehr  zu  dieser  Krankheit,  und  oft  lässt  sich  eine  persönliche  oder  heredi- 
täre Disposition  zu  nervösen  Affectionen  oder  asthmatischen  Zuständen  bei 
solchen  Kranken  nachweisen.  Die  Sommermonate  von  Mai  bis  Juli  bilden 
ihre  Hauptsaison;  in  den  meisten  Fällen  lässt  sich  eine  unmittelbar  dem 
Ausbruch  des  Anfalles  vorausgegangene  Einathmung  der  Ausdünstungen  der 
Getreidefelder  nachweisen.  Viele  Beobachtungen  weisen  darauf  hin,  dass 
die  eingeathmeten  Pollenkörner  den  Sommerkatarrh  hervorrufen,  man  hat 
die  Pollen  direct  im  Secret  der  Nase  und  der  Luftwege  nachgewiesen,  auch 
hat  Blakley  durch  experimentelle  Einbringung  dieser  Körner  auf  die 
Nasenschleimhaut  den  Anfall  erzeugt.  Dieser  Versuch  gelingt  aber  nur  bei 
solchen,  die  überhaupt  zu  dieser  Atfection  disponiren. 

Man  beschuldigt  am  meisten  die  Gramineen,  und  thatsächlich  fällt  die  Mehrzahl 
der  Erkrankungen  auf  ihre  Blüthezeit.  In  Amerika  blüht  die  Ambrosia  artemisiaefolia^ 
welche  in  Europa  nicht  einheimisch  ist,  im  August  und  September  und  verursacht  dort 
in  diesen  Monaten  viele  Beschwerden  den  von  Natur  aus  disponirten  Amerikanern.  Ausser 
diesen  Pflanzen  hat  man  in  einzelnen  Fällen  auch  andere  beobachtet,  so  bekam  Bkottssais 
den  Sommerkatarrh  nach  der  Einathmung  des  Rosenduftes,  während  v.  Helmholtz  in 
seinem  Nasensecrete  Micrococcen  aufzufinden  glaubte.  Symptomatologisch  differirt  aber 
diese  Krankheitsform  gar  nicht  von  jenen  Asthmaformen,  welche  durch  Einathmung  von 
Ipecacuanha  und  Lycopodiumiyulver  bei  gerade  dazu  Disponirten  auftreten,  noch  von  den 
Fällen,  wo  der  asthmatische  Anfall  durch  Einathmung  der  Ausdünstungen  von  Gruben, 
neuen  Mauern,  nassem  Gyps  (bei  den  betreffenden  Professionisten)  oder  von  der  schwefligen 
Säure,  der  nehligen  Luft  erzeugt  wird.  Nachdem  aber  alle  diese  Stoffe  diesen  Effect  nur 
bei  vereinzelten  Individuen  haben,  und  selbst  bei  diesen  nicht  alle,  sondern  nur  einzelne 
wirksam  sind,  so  muss  man  diese  Wirkung  als  eine  Art  von  Idiosynkrasie  der 
Athmungsorgane  auffassen,  ebenso  wie  im  Wege  der  Verdauungsorgane  Krebse,  Erd- 
beeren etc.  bei  einzelnen  Menschen  Urticaria  hervorrufen. 

Die  Symptome  des  Sommerkatarrhs  erscheinen  in  zwei  Arten,  welche 
von  MoEREL  Mackenzie  als  katarrhalischer  und  asthmatischer  Typus  ge- 
sondert worden  sind.  Die  erstere  (Haijfever)  entspricht  dem  Bilde  eines 
äusserst  heftigen  Schnupfens :  häufiges  Niesen,  Schwellung  der  Nasenschleim- 
haut, vermehrte  Secretion.  Dabei  können  selbst  leichtere  Fiebererschei- 
nungen auftreten,  bald  breitet  sich  der  katarrhalische  Zustand  auf  die  Con- 
junctiva  der  Augen  aus,  es  zeigt  sich  eine  starke  Conjunctivitis  mit  Oedem 
der  Augenlider.  Oft  wandern  diese  Zustände  in  den  Schlund  und  selbst  in 
den  Larynx,  die  Trachea  und  grösseren  Bronchien  hinunter.  Als  Compli- 
cation  zeigen  sich  manchmal  Erytheme  und  Urticaria.  Der  Verlauf  dieser 
Form  zieht  sich  oft  auf  längere  Zeit  hinaus,  die  Krankheit  kann  selbst 
mehrere  Wochen  und  Monate  dauern,  obzwar  sie  in  vielen  Fällen  binnen 
einigen  Tagen  endet.  Recidive  treten,  sobald  sich  die  Ursache  erneuert, 
prompt  ein.  Die  asthmatische  Form  {Hayasthma)  entspricht  vollkommen 
einem  Anfalle  von  sogenanntem  Asthma  bronchiale  seu  nervosum  und  com- 
plicirt  sich  häufig  oder  wechselt  ab  mit  Herpes  labialis,  Urticaria  cutis. 
Diese  Anfälle  können  auch  entweder  kurzdauernde  sein,  oder  sie  verlängern 
sich  in  variabler  Intensität  durch  mehrere  Wochen. 

Diese  scheinbar  sehr  differenteu  Typen  des  Sommerkatarrhs  zeigen  oft  Uebergangs- 
formen,  was  umso  leichter  zu  verstehen  ist,  als  man  eigentlich  den  Asthmaanfall  auch 
als  eine  acute  Anschwellung  der  Schleimhaut  der  feineren  und  feinsten  Bronchien  auf- 
fassen muss  (trotz  der  sehr  geistreich  ausgedachten  Bronchialmuskelkrampftheorien)  und 
somit  kein  principieller  Unterschied  zwischen  den  katarrhalischen  Erscheinungen  der 
oberen  Luftwege  und  denen  der  vielleicht  weniger  secernirenden  tieferen  besteht.  Alles, 
was  ich  über  diesen  Zustand  beobachtet  habe,  und  ich  habe  zufällig  eine  ziemlich  reiche 
Erfahrung  sammeln  können,  scheint  mir  zu  beweisen,  dass  diese  Schwellung  der  Schleim- 
häute em  Analogon  zur  Urticaria  der  Haut  bildet,  wie  das  schon  von  älteren  Autoren 
ermittelt  wurde.  So  kann  man  das  häufige  Auftreten  von  Nesselsucht  bei  Asthmakranken 
verstehen,  umso  mehr,  da  beide  Affectionen  durch  gewisse  idiosynkrasische  Ursachen  her- 
vorgebracht werden. 

Die  0  b  j  e  c  t  i  V  e  U  n  t  e  r  s  u  c  h  u  n  g  ergibt  entweder  die  Symptome  des 
Katarrhs  der  oberen  Luftwege  oder  die  Zeichen  der  erschwerten  Athmung 


CEREBROSPINALMENINGITIS.  251 

nebst  schnurrenden  und  pfeifenden  Geräuschen  über  den  Lungen.  Im  ersteren 
Fall  kann  man  im  Secrete  der  Nase,  in  der  Thränenflüssigkeit  nach  Pfuhl 
die  Pollen  theils  unversehrt,  theils  gequollen  und  zerplatzt,  in  ganz  kleine, 
oft  lebhafte  Bewegungen  zeigende  Körnchen  zerfallen  nachweisen ;  in 
letzterem  Fall  hat  man  im  Sputum  die  CHARCOT-LEYDEN'sche  Asthma- 
krystalle  nachgewiesen.  Die  Diagnose  ergibt  sich  neben  den  erwähnten 
Symptomen  aus  dem  Nachweise  der  Ursachen,  sie  wird  besonders  bei  Re- 
cidiven  dadurch  sehr  erleichtert.  Die  Prognose  ist  quoad  vitam  gut,  in- 
sofern aber,  dass  Recidiven  sehr  leicht  auftreten,  ziemlich  ungünstig,  da 
die  betreffende  Disposition  gewöhnlich  sehr  lange  besteht. 

Die  Therapie  sollte  in  erster  Pteihe  gegen  die  Wiederkehr  der 
Anfälle  gerichtet  werden,  was  man  durch  Fernbleiben  von  Getreidefeldern 
nur  sehr  schwer  erreichen  kann,  da  die  Pollen  während  der  Blüthenzeit 
in  der  Luft  sehr  verbreitet  sind.  Das  beste  Ptesultat  ergibt  ein  Aufenthalt 
an  der  Seeküste  oder  in  nicht  bebauten,  höheren  Gebirgsorten,  obzwar 
diese  letzteren  oft  von  Asthmatikern  nicht  gut  vertragen  werden.  Kann  der 
Patient  seinen  "Wohnort  nicht  verlassen,  so  könnte  man  einen  Versuch  mit 
dem  Respirator  von  Blackley  anstellen  oder  probeweise  Jodkalium  oder 
Belladonna  nehmen  lassen,  welche  manchen  Kranken  grosse  Erleichterung 
verschaffen.  Bei  der  mehr  katarrhalischen  Form  rühmt  v.  Helmholtz  die 
an  sich  selbst  erprobte  Lösuog  von  Chininum  sulf.  (1  :  740),  mit  welcher 
täglich  öfters  die  Nasenhöhle  ausgespritzt  werden  soll.  Eichhorst  empfiehlt 
folgendes  Schnupfpulver:  Calomel.  Almnin.  aa  3  0,  Morph.  hydrocMor. 
0'3 ;  täglich  dreimal  einen  linsengrossen  Theil  auf  zuschnupf en.  Ich  möchte 
noch  die  Arsenwässer  (und  besonders  Roncegno)  anempfehlen.  Natürlich 
wird  man,  wo  es  nöthig,  allgemein  tonisirende  Curen  einleiten;  in  den 
Fällen  endlich,  wo  man  ausgesprochene  (!)  krankhafte  Zustände  im 
Nasenrachenraum  constatirt,  eine  angemessene  locale  Behandlung  eintreten 
lassen.  e.  jendrässik. 

CerebrOSpinalmeningitiS  {Epidemische  Genickstarre)  ist  eine  Infec- 
tionskrankheit,  über  welche  nur  aus  unserem  Jahrhundert  Berichte  existiren. 
Die  Epidemien  treten  gewöhnlich  blos  in  einzelnen  Orten,  nicht  über 
grössere  Territorien  (grosse  Länder  oder  Welttheile)  ausgedehnt  auf,  oft 
haben  sie  einen  endemischen  Charakter  und  localisiren  sich  in  einigen 
Strassen,  Häusern.  Besonders  häufig  wurden  in  Kasernen  solche  Endemien 
gesehen,  welche  allerdings  bei  Dislocation  der  Truppen  dieselben  weiter 
begleiteten;  somit  muss  angenommen  werden,  dass  das  Virus  nicht  so  sehr 
an  der  Kaserne  als  an  deren  Bewohnern  haftet.  Die  Jahreszeit  scheint 
auch  einigen  Einfluss  auf  das  Auftreten  dieser  Krankheit  zu  haben,  die 
meisten  Fälle  kommen  in  den  kälteren  Monaten,  besonders  im  März, 
April  vor,  während  die  heissen  Sommermonate  gewöhnlich  die  Epidemien 
beenden,  indessen  hat  diese  Regel  auch  ihre  Ausnahmen.  Die  Anzahl  der 
Erkrankungen  in  den  einzelnen  Epidemien  ist  sehr  verschieden,  gewöhn- 
lich sind  die  Fälle  nicht  sehr  zahlreich,  und  die  Epidemie  zieht  sich  in 
sporadischen  Fällen  oft  über  längere  Zeit  hinaus.  Die  Erfahrung  scheint 
ganz  entschieden  gegen  einen  direct  von  Menscheii  auf  Menschen  über- 
tragbaren Ansteckungsstoff  zu  sprechen,  und  so  könnte  man  von  einem  mias- 
matischen Ursprung  dieser  Krankheit  reden,  wenn  man  nur  durch  diese 
Benennung  etwas  Thatsächliches  angeben  könnte.  Am  meisten  werden  von 
dieser  Epidemie  Kinder  betroffen,  und  zwar  liefern  das  grösste  Contingeut 
Kinder  bis  zum  ersten  Lebensjahre,  dann  kommen  die  Kinder  von  1 — 4  Jahren, 
von  diesem  Alter  an  wird  die  Empfänglichkeit  immer  geringer;  über  dem 
30. — 40.  Jahre    ist   sie   so   gut  wie  erloschen.  Wie  die  meisten  Epidemien 


252  CEREBROSPINALMENINGITIS. 

nistet  sich  auch  diese  in  die  unhygienischen  Stätten  der  Armut  hein,  wählt 
aber  ihre  Opfer  unter  den  blühendsten,  scheinbar  gesündesten  Kindern 
und  jungen  Leuten.  Was  die  eigentliche  Art  der  Infection  betrifft,  so 
sind  unsere  diesbezüglichen  Kenntnisse  noch  äusserst  lückenhaft,  wir  wissen 
nicht,  wo  sich  das  Virus  ausser  dem  Körper  aufhält,  und  nicht  wie  es  in  den 
Körper  gelangt.  Für  die  erstere  Frage  ist  es  von  Bedeutung,  dass  sich  die 
Epidemie  auf  einzelne  Häuser  und  Stadttheile  beschränkt;  diese  sind  jedoch 
nicht  immer  die  am  schlechtesten  gelegenen,  es  scheint  vielmehr,  dass, 
wenn  einzelne  Stellen  inficirt  werden,  diese  Infection  nicht  von  der  Be- 
schaffenheit des  Bodens,  des  Wassers  etc.  abhängt,  sondern  blos  dem  Zufall 
zugeschrieben  werden  muss. 

Ebenso  kennen  wir  keine  persönlichen  prädisponirenden  Momente, 
und  jene  einzelnen  Fälle,  wo  Traumen  oder  Erkältung  dem  Ausbruch  der 
Krankheit  vorangegangen  sind,  kann  man  nicht  für  einen  causalen  Zu- 
sammenhang verwerthen.  Während  einer  Cerebrospinalmeningitis-Epidemie 
herrschen  auch  häufig  andere  Infectiouskrankheiten,  namentlich  die  Pneu- 
monie, Abdomiualtyphus,  Eecurrens,  Parotitis,  acute  Exantheme,  was  also 
nur  einen  starken  Genius  epidemicus  —  der  Entwicklung  infectiöser 
Krankheiten  günstige  äussere  Verhältnisse  —  bedeutet.  Unter  diesen  Um- 
ständen ist  die  Zeit  der  Incubation  auch  schwer  bestimmbar,  sie  scheint 
aber  ziemlich  kurz  zu  sein,  es  gibt  Beobachtungen,  nach  welchen  die  Incu- 
bation nicht  über  6  Tage  dauern  kann.  Ein  einmaliges  Ueberstehen  der 
Krankheit  schützt  nicht  vor  neuerer  Infection,  wenigstens  nicht  für  lange  Zeit. 

Die  eigentliche  Aetiologie  dieser  Erkrankung  ist  noch  nicht  mit 
aller  Bestimmtheit  festgestellt,  Bordoki-Uffreduzzi  u.  A.  haben  im 
Meningealexsudate  Coccen  nachgewiesen,  welche  sie  Meningococcen  nannten, 
diese  werden  heute  als  DipJococcus  lanceoJafus  bezeichnet.  Bei  den  meisten 
Sectionen  hat  man  den  FEÄNKEL'schen  Biplococcus  nachgewiesen,  den 
Erreger  der  croupösen  Pneumonie,  und  einzelne  Forscher  sind  geneigt 
diese  klinisch  so  verschiedenen  Krankheitsformen  von  demselben  Mikro- 
organismus verursacht  anzunehmen,  welche  Ansicht  jedoch  von  mehreren 
Autoren,  weil  sie  ganz  specifische  Erreger  besser  mit  dem  epidemischen 
Auftreten  der  Krankheit  vereinigen  können  —  nicht  angenommen  wird; 
doch  sind  uns  noch  die  gewiss  nicht  zu  unterschätzenden  Einflüsse  der 
äusseren  Verhältnisse  auf  die  Virulenz  und  andere  noch  weniger  erforschte 
Eigenschaften  der  Bakterien  so  gut  wie  unbekannt,  so  dass  man  in  Anbe- 
tracht der  übereinstimmenden  Befunde  die  Möglichkeit  dieser  Annahme 
nicht  ohneweiters  abweisen  kann. 

Die  Symptome  entwickeln  sich  bei  dieser  Krankheit  ziem- 
lich rasch.  Wenn  auch  in  manchen  Fällen  ein  leichteres  Unwohlsein 
einige  Stunden  oder  Tage  dem  eigentlichen  Ausbruch  des  Leidens  voraus- 
geht, so  tritt  doch  gewöhnlich  der  erste  Schüttelfrost  im  besten  Wohlsein 
auf;  Kopfschmerzen,  Kackenstarre  und  häufig  Erbrechen  erscheinen  zugleich 
mit  der  Temperaturerhöhung.  Bei  ganz  kleinen  Kindern  ist  neben  den  all- 
gemeinen Krankheitserscheinungen  die  Genickstarre,  welche  am  meisten  in 
die  Augen  fällt;  diese  geht  oft  schon  am  2. — 3.  Tage  in  eine  tonische 
Contraction  sämmtlicher  Rückenmuskeln  über,  so  dass  die  Kinder  nicht 
am  Piücken  liegen  können.  Die  Kopfschmerzen  werden  meist  im  Hinter- 
haupt localisirt,  doch  nicht  immer,  ihre  Intensität  wechselt,  im  Allgemeinen 
sind  sie  aber  sehr  heftig.  Viele  Patienten  klagen  auch  über  Schmerzen  in 
den  Contrahirten  Muskeln,  und  selbst  in  der  Wirbelsäule.  —  Das  Fieber 
ist  gewöhnlich  intensiv  (40 — 410)  hat  aber  keinen  regelmässigen  Gang,  ist 
oft  remittirend,  manchmal  auch  intermittirend,  häufig  lässt  es  nach  einigen 
Tagen  bedeutend  nach    und  verliert  sich  allmälig.    Der  Puls  ist  oft,    doch 


CEREBROSPINALMENINGITIS.  253 

nicht  regelmässig  weniger  frequent,  als  es  der  Temperatur  entspräche.  In 
anderen  Fällen  ist  die  Frequenz  erhöht,  es  treten  auch  häufig  im  weiteren 
Verlaufe  aus  unbekannter  Ursache  schnelle  Aenderungen  in  der  Puls- 
frequenz ein. 

Die  weiteren  Symptome  sind  theils  Reizungs-,  theils  Lähmungserschei- 
nungen des  Nervensystems.  Als  erstere  zeigen  sich  namentlich  bei  kleinen 
Kindern  Convulsionen,  Eclampsieanfälle,  besonders  zu  Beginn  der  Erkran- 
kung; zu  diesen  müssen  wir  die  oben  schon  besprochene  Nackenstarre 
auch  zählen,  ferner  treten  in  manchen  Fällen  Contractionen  im  Facialis- 
gebiet,  oder  in  den  Kaumuskeln  (als  Trismus)  ein.  Oft  gewahrt  man  bei 
der  Untersuchung,  dass  die  Glieder,  besonders  die  unteren  bei  passiven 
Bewegungen  in  Beugecontractur  verfallen :  KERNiG'sches  Phänomen.  In  der 
Sensibilitätssphäre  findet  man  eine  weit  ausgebreitete  Hauthyper- 
ästhesie,  so  dass  die  leichtesten  Berührungen  Schmerzen  verursachen.  Die 
bekannten  TROUSSEAu'schen  Taches  cerebrales  beweisen  den  labilen  Zustand 
der  Vasomotoren.  Eine  allgemeine  Reizbarkeit  zeigt  sich  in  der  Unruhe  und 
wechselnden  Stimmung  der  Kranken.  Zu  den  Lähmungserscheinungen  müssen 
wir  in  erster  Pteihe  die  Bewusstseinsstörung  zählen,  die  in  vielen  Fällen 
sehr  hochgradig  ist,  doch  nicht  in  allen  beobachtet  wird,  namentlich  be- 
halten Kinder  oft  ihr  Bewusstsein  bis  nahe  zum  Tode.  Delirien  und  coma- 
töse  Zustände  werden  auch  beobachtet.  Als  specielle  Symptome  sind  be- 
sonders Gehör-  und  Seh  Störungen  wichtig.  Die  ersteren  hängen  zwar 
oft  mit  Erkrankungen  des  Mittelohres  zusammen,  doch  bildet  in  der  Mehr- 
zahl der  Fälle  das  Uebergreifen  der  Entzündung  auf  den  Stamm  des  Hör- 
nerven die  Ursache  der  Taubheit.  Im  N.  opticus  kann  derselbe  Process 
stattfinden,  die  Neuritis  optica  ist  aber  oft  nur  der  Ausdruck  der  allgemeinen 
Circulationsstörung  im  Gehirn  und  bedeutet  nicht  immer  eine  directe 
Erkrankung  des  Sehnerven.  Die  Pupillen  zeigen  oft  Unregelmässigkeiten ; 
sie  sind  bald  auffallend  eng,  bald  weit,  oft  von  verschiedener  Grösse,  ihre 
Reactionsfähigkeit  herabgesetzt  oder  fehlend.  In  einzelnen  Fällen  zeigen 
sich  Augenmuskellähmungen  (besonders  Ptosis),  Paresen  der  Zunge,  sehr 
selten  der  Extremitäten.  —  Die  Pieflexe  zeigen  kein  einheitliches  Vej- 
halten,  sie  scheinen  manchmal  herabgesetzt  zu  sein,  oft  aber  eher  erhöht. 
Von  den  übrigen  Organen  ist  wenig  zu  berichten,  das  Abdomen  ist  ein- 
gezogen, der  Stuhl  träge,  in  schwereren  Fällen  kann  aber  Meteorismus 
auftreten.  Die  Milz  ist  gewöhnlich  etwas  vergrössert.  Der  Urin  enthält 
manchmal  Eiweiss,  selbst  Zucker,  seine  Menge  ist  bald  verringert,  bald 
nicht  unbedeutend  erhöht,  bei  getrübtem  Bewusstsein  kann  es  zu  Harn- 
retention  kommen. 

Der  Verlauf  der  Krankheit  ist  je  nach  der  Epidemie  und  den 
einzelnen  Fällen  ein  sehr  verschiedener,  ihre  Dauer  beträgt  2 — 6  Wochen, 
es  wurden  aber  auch  Fälle  beobachtet,  welche  binnen  wenigen  Stunden 
zum  Tode  geführt  haben  {Meningitis  epidemica  acutissima  seu  siderans).  In 
grösseren  Epidemien  scheint  die  Mortalität  geringer  zu  sein  als  bei  den 
sporadischen  Fällen,  doch  werden  die  ganz  leichten  Fälle  nur  w^ährend 
der  Epidemien  richtig  diagnosticirt  und  in  der  Statistik  mitgerechnet.  Es 
scheint,  dass  im  Allgemeinen  die  Mortalität  zwischen  20 — 50o/o  beträgt. 
Die  Intensität  der  einzelnen  Symptome  wechselt  oft,  und  obgleich  der 
letale  Ausgang  besonders  in  den  mehr  acuten  Fällen  in  den  ersten  Tagen 
vorkommt,  so  kann  doch  auch  nach  längerer  Dauer,  nach  einer  scheinbaren 
Besserung  die  tödtliche  Wendung  eintreten.  Es  kommen  aber  auch  in 
grösserer  Zahl  ganz  leichte  abortive  Fälle  vor,  welche  nur  den  Kopf- 
schmerz, die  Halssteifigkeit  und  die  allgemeinen  Symptome  aufweisen,  in 
wenigen  Tagen  ablaufen,  manchmal  aber  doch  in  die  schwere  Form  übergehen. 


254  CEREBROSPIXALMEXmGITIS. 

Während  des  Verlaufes  zeigen  sich  manche  Complicationen, 
deren  häufiges  Auftreten  auf  einen  causalen  Nexus  hinweist.  Von  gerin- 
gerer Bedeutung  ist  unter  diesen  der  Herpes  labialis  (wie  er  auch 
bei  der  Pneumonie  vorkommt),  ferner  beobachtet  man  besonders  in 
einzelnen  Epidemien  acute  Anschwellungen  der  Gelenke,  hauptsächlich 
der  Knie-  und  Handgelenke,  bald  zu  Beginn  der  Erkrankung,  bald  zu  Ende 
derselben,  in  einigen  Fällen  mit  Endocarditis  verbunden.  Die  häufigste 
Complication  ist  die  Pneumonie,  welche  oft  als  katarrhalische,  doch  auch 
als  croupöse  auftritt.  Ich  erinnere  mich  zweier  Fälle,  welche  unter 
dem  Bilde  schwerer  Pneumonie  in  einigen  Tagen  letal  verliefen  und  wo 
nur  die  Section  und  die  eben  herrschende  Epidemie  die  infectiöse  Meningitis 
nachwies.  Die  betreft'enden  Patienten  wurden  während  ihrer  Krankheit 
öfter  über  Kopfschmerzen  befragt,  doch  immer  mit  negativem  Ptesultat. 
Mehr  dem  Zufall  oder  der  erhöhten  Disposition  muss  man  zuschreiben  die 
hie  und  da  gesehene  Complication  mit  Typhus  abd.,  verschiedenen  Haut- 
afecfiomn  (Erytheme,  Exantheme,  Erysipel,  Furunkulose  etc.). 

Tritt  Besserung  ein,  so  schwinden  die  Symptome  allmälig,  doch  bleiben 
in  manchen  Fällen  dauernde  Störungen  zurück;  unter  diesen  müssen 
wir  in  erster  Keihe  der  Taubheit  gedenken,  welche  bei  noch  nicht  oder 
kaum  sprechenden  Kindern  Taubstummheit  nach  sich  zieht.  Weiterhin  kann 
ein  Defect  im  Sehen  oder  völlige  Blindheit  zurückbleiben;  manchmal 
entwickelt  sich  ein  Hydro cephalus  und  verdunkelt  auf  ewig  die  Hirnthätig- 
keit  der  Betroffenen.  Ein  Theil  der  Lähmungserscheinungen  kann  auch 
persistiren,  der  Kopfschmerz,  besonders  bei  geistiger  Thätigkeit  erscheinend, 
quält  gewöhnlich  noch  lange  Zeit  die  Genesenen. 

Die  Diagnose  stützt  sich  auf  die  aufgezählten  Symptome  und  be- 
sonders auf  die  sich  allmälig  ausbildenden  Lähmungserscheinungen,  während 
Kopfschmerz,  Benommenheit  und  andere  nervöse  Symptome  bei  allen  fieber- 
haften Krankheiten  vorkommen  können.  Freilich  ist  die  Unterscheidung 
von  der  einfachen  Meningitis  oft  sehr  schwer.  In  dieser  Hinsicht  muss 
man  in  jedem  Falle  eifrig  nach  primären  Herden  suchen,  welche  eine  so- 
genannte Meningitis  cerebro-spinalis  simplex  hervorgerufen  haben  könnten 
(chronische  Ohrleiden,  Ekzeme  der  Kopfhaut,  Coryza,  allerhand  Infections- 
krankheiten,  so  auch  die  Pneumonie).  Von  der  tuberculösen  Meningitis  ist 
sie  zu  unterscheiden  durch  die  Verschiedenheit  des  Verlaufes,  welcher 
langsamer,  chronischer  ist  und  durch  den  Nachweis  der  Tuberkulose  über- 
haupt. Immerhin  bleibt  der  epidemische  Charakter  das  wichtigste  Merkmal. 
Unter  den  verschiedenen  Meningitisformen  hat  aber  die  epidemische  die 
beste  Prognose. 

Der  pathologisch-anatomische  Befund  ergibt  ausser  den 
Veränderungen,  welche  dieses  Leiden  mit  den  übrigen  Infectionskrankheiten 
theilt,  eine  höchst  entwickelte  eitrige  Leptomeningitis.  Die  weichen  Hirn- 
und  Ptückenmarkshäute  sind  stark  hyperämisch,  entzündet  und  in  den 
Furchen  findet  sich,  besonders  in  der  Fossa  Sylvii,  dann  an  der  Gehirn- 
basis, am  Kleinhirn,  ferner  im  Lumbaltheil  des  Rückenmarkes  das  eitrige 
Exsudat.  Die  Entzündung  greift  aber  auch  in  die  Hirnsubstanz  hinein, 
begleitet  oft  die  eintretenden  Gefässe  und  verursacht  manchmal  Abscesse. 
Die  Hirnventrikel  sind  ausgedehnt,  ihr  Inhalt  ist  auch  oft  getrübt.  Der 
Cervicaltheil  des  Rückenmarks  ist  gewöhnlich  am  wenigsten  ergriffen,  im 
Rückenmark  bedeckt  das  Exsudat  besonders  die  hintere  Fläche  desselben. 
Was  die  Therapie  anbelangt,  so  sind  die  allgemeinen  Massregeln 
der  Behandlung  infectiöser  Krankheiten  auch  hier  geltend.  Die  allgemeinen 
Symptome,  selbst  die  so  quälenden  Kopfschmerzen  werden  in  der  Regel 
durch   die  Antipyretica   sehr   gut  beeinflusst,    das   salicylsaure  Natron   und 


CHOLERA  —  CHOREA.  255 

dsiS  Antipyrin  haben  ihre  Vertreter  gefunden.  Man  trachte  eine  vollständige 
Intermission  des  Fiebers  zu  erreichen  und  wiederhole,  wenn  nöthig,  die 
Gabe  nach  den  Principien  der  Antipyrese,  besonders  wenn  das  Fieber 
höhere  Grade  erreicht.  Kalte  Bäder  sind  bei  diesem  Leiden  kaum  durch- 
führbar, die  Patienten  leiden  ungemein  bei  den  hier  nothw.endigen  Mani- 
pulationen. Oertlich*  thun  kalte  Umschläge  oder  die  Eisblase  am  Kopfe 
gute  Dienste,  auch  lobt  man  die  lindernde  Wirkung  der  CnAPMAN'schen 
Eisbeutel,  der  Wirbelsäule  entlang  befestigt,  selbst  Blutentziehungen,  be- 
sonders durch  Blutegel  hinter  dem  Kopfe  können  Erleichterung  verschaffen. 
Sollten  sich  die  Schmerzen  trotz  der  eben  aufgezählten  Eingriffe  nicht 
lindern,  so  muss  man  natürlich  zu  den  narkotischen  Mitteln  greifen,  Opium, 
oder  MorpUneins'prdzungen  (O'Ol)  geben.  Gegen  Aufregungszustände  ver- 
schreibt man  Bromkali  oder  Chloral,  letzteres  in  Klystieren.  Tritt  Heilung 
ein,  so  resorbirt  sich  das  Exsudat  prompt  (ebenso  wie  die  eiterigen  Pleura- 
exsudate bei  Pneumonie),  trotzdem  pflegt  man  Jodkalium  oder  selbst 
Ungii.  cinereum  zur  Beförderung  der  Resorption  zu  geben.  Mehr  Gewicht 
sollte  man  auf  Ernährung,  regelmässigen  Stuhlgang  (wenn  nöthig  durch 
Calomel,  Jalappa  oder  R'winusöl)  legen.  Sollte  Harnverhaltung  die  Anwen- 
dung des  Katheters  erheischen,  dann  sterilisire  man  denselbea  sorgfältig 
direct  vor  der  Application.  In  der  Pieconvalescenz  kann  man  von  den 
Tonicis  Gebrauch  machen  und  lasse  die  Kranken  warme  Bäder  nehmen, 
auch  thun  dann  PEiESNiTz'sche  Umschläge,  während  der  Nacht  applicirt, 
gut  gegen  die  zurückbleibenden  Kopfschmerzen.  e.  jendeassik. 

Cholera,  Brechruhr,  Brechdurchfall.  Wie  der  Name  „Typhus"  für 
klinisch  und  ätiologisch  vollkommen  "getrennte  Krankheitsbilder  Geltung 
fand,  so  hat  der  medicinische  Sprachgebrauch  auch  die  Bezeichnung 
„Cholera"  für  eine  Reihe  von  Krankheiten  eingeführt,  bei  denen  Brechen, 
profuse  Durchfälle  und  die  Symptome  eines  rasch  eintretenden  Collapses 
die  wichtigsten  Erscheinungen  der  klinischen  Bilder  darstellen. 

Gebräuchlich  ist  heutzutage  noch  folgende  Eintheilung:  1.  Cholera 
asiatica,  die  unter  dem  Stichworte  „Indische  Cholera"  Darstellung  finden 
wird.  2.  Cholera  nostras,  als  „Einheimische  Cholera"  beschrieben. 
3.  Cholera  infantum,  welche  im  vorliegenden  Sammelwerke  Professor 
Pott  als  eine  besondere  Form  des  „Brechdurchfalls  der  Säuglinge"  (ver- 
gleiche pag.  189  u.  ff.)  beschrieben  hat. 

Chorea,  wir  wollen  im  Nachfolgenden  blos  von  der  Chorea 
minor,  einer  im  Kindesalter  nicht  selten  auftretenden  Krankheit,  sprechen. 
Das  was  man  im  Mittelalter  vornehmlich  V  e  i  t  s  t  a  n  z  genannt  hat,  welcher 
Name  als  volksthümliche  Bezeichnung  auch  heute  noch  für  diese  Krankheit 
gang  und  gebe  ist,  gehört  nach  den  vorliegenden  Beschreibungen  nicht 
hieher,  sondern  in  das  Gebiet  der  Hysterie. 

Die  Chorea  ist  eine  Neurose,  d.  h.  eine  derjenigen  Krankheiten 
des  Nervensystems,  bei  denen  wir  pathologische  Veränderungen  dieser 
oder  jener  Art  zum  Verständnisse  supponiren  müssen,  welche  Veränderungen 
jedoch  derartige  sind,  dass  wir  sie  mit  den  uns  zur  Verfügung  stehenden 
Mitteln  bisher  nicht  haben  auffinden  können,  respective  nicht  aufge- 
funden haben. 

Die  Chorea  befällt  vor  Allem  Kinder  einer  gewissen  Altersperiode, 
Tom  Alter  der  zweiten  Dentition  bis  zum  Eintritte  der  Pubertät  also  m 
der  Zeit  zwischen  dem  6.— 15.  Lebensjahre.  Doch  ist  es  wohl  zweifellos, 
•dass  auch  jüngere  Individuen  von  ihr  ergriffen  werden  können,  sowie  sie 
das    spätere  Alter    nicht    ausnahmslos    verschont.    Unter    den    Erkrankten 


256  CHOREA. 

überwiegt  die  Zahl  der  weiblichen  Individuen  bei  Weitem  die  der 
männlichen.  So  hatte  beispielsweise  Steiner  unter  202  Patienten  155 
Mädchen  und  nur  47  Knaben.  Aehnliche  Verhältnisse  gibt  jeder  Autor   an. 

Die  von  der  Krankheit  befallenen  Kinder  sind  meist  gracil,  wenig 
gut  genährt  und  von  blassem  Aussehen.  Ich  hatte  Gelegenheit  in  einigen 
Fällen  Hb  -bestimmungen  zu  machen  und  fand  den  Haemoglobingehalt 
schwankend  zwischen  60 — 85o/o  (Fleischl's  Apparat).  In  einem  Falle  fand 
ich  auch  die  Zahl  der  Erythrocyten  reducirt  auf  3,800.000,  doch  ist  die 
Anaemie  auch  als  Folge  der  Chorea  denkbar. 

Wir  haben  es  bei  der  Chorea  hauptsächlich  mit  einer  Störung  der 
Coordinirten  und  combinirten  Muskelbewegungen  zu  thun.  Den 
Patienten  gehen  die  Muskeln  durch,  ihnen  ist  die  feine  Abwägung  und  Ab- 
schätzung der  coordinirten  Bewegungen  sowie  die  Controle  über  dieselben 
verloren  gegangen,  ohne  dass  die  Fähigkeit,  diese  Bewegungen  auszu- 
führen, eine  Einbusse  erlitten  hätte.  (Folie  musculaire.)  Durch  jeden  Willens- 
impuls wird  eine  Steigerung  dieser  Störung  herbeigeführt.  Diese  Störung 
ist  gleichzeitig  das  vorstechendste  Zeichen  der  Krankheit. 

Bei  leichten  Graden  der  Krankheit  machen  die  Kinder  den 
Eindruck  ungewöhnlicher  Lebhaftigkeit  gepaart  mit  Zerstreutheit,  was 
schon  ungerechtfertigter  Weise  manchmal  zur  Bestrafung  derselben  daheim 
und  in  der  Schule  geführt  haben  mag.  Ist  das  Leiden  ausgeprägt,  dann 
sind  die  Kinder  absolut  nicht  im  Stande,  auch  nur  kurze  Zeit  sich  ruhig 
zu  verhalten.  Arm-,  Bein-  und  Gesichtsmus culatur  sind  in  unaufhörlicher 
Bewegung  begriffen.  Bald  zuckt  es  hier,  bald  dort.  Die  Kinder  grimmassiren, 
lachen  und  lächeln  ununterbrochen. 

Die  Störungen  werden  deutlich,  sobald  die  Kinder  aufgefordert 
werden,  eine  ihnen  recht  geläufige  Handlung  auszuführen.  Bei  solchen 
Gelegenheiten  sieht  man  die  Unzweckmässigkeit  aller  intendirten  Bewe- 
gungen. Sie  schiessen  über  das  Ziel  hinaus,  werden  mit  dem  Gewollten 
nicht  fertig.  Dies  äussert  sich  vornehmlich  dort,  wo  eine  feinere  Abwägung 
der  vorzunehmenden  Muskelthätigkeit  gefordert  wird.  Man  kann  sich  am 
besten  von  der  Art  der  Störungen  überzeugen,  wenn  man  die  Kranken 
einen  Knoten  schlingen,  einen  Knopf  zumachen,  oder  überhaupt  die  Kleider 
in  Ordnung  bringen  lässt.  Je  mehr  die  Kinder  sich  abmühen,  das  Gewollte 
zu  vollbringen,  um  so  markanter  ist  die  Störung.  In  der  Regel  ist  die 
gesammte  Musculatur  des  Körpers  in  gleicher  Weise  afficirt.  Selten  ist 
die  eine  Körperhälfte  allein  oder  vorwiegend  betheiligt.  Wir  sprechen  dann 
von  Hemichorea. 

Die  Intensität  der  Muskelunruhe  ist  eine  sehr  verschiedene,  je 
nach  dem  Grade  der  Krankheit.  In  hochgradigen  Fällen  schleudern  die 
Kinder  die  Extremitäten  hin  und  her,  kommen  nicht  einmal  im  Bette  zur 
Ruhe.  Suggillationen  an_  den  vorspringenden  Theilen  des  Körpers,  den 
Ellbogen,  Tibien,  Knöcheln  etc.  sprechen  für  die  Heftigkeit  der  Muskel- 
action.  In  solchen  Fällen  sind  die  Kinder  nicht  im  Stande,  zu  stehen  und 
zu  gehen.  Sie  knicken  im  Knie  ein  oder  fallen  hin,  wenn  sie  es  versuchen. 
Auch  ihre  Sprache  ist  alterirt.  Sie  sind  zeitweise  unfähig  zu  reden.  Sie 
mühen  sich  ab,  die  Worte  hervorzubringen,  doch  machen  Lippen-,  Zungen- 
und  Larynxmusculatur  andere  als  die  gewollten  Bewegungen ;  die  Sprache 
wird  undeutlich  und  unverständlich  und  schliesslich  brechen  die  Kinder 
bei  derartigen  Versuchen  in  Weinen  aus.  Ebenso  ist  das  Schlucken  der 
Speisen  sehr  erschwert  In  leichteren  Fällen  wird  regelmässig  nur  ein 
Theil  des  zu  Geniessenden  verschüttet.  In  schweren  sind  die  Kinder  nicht 
im  Stande  die  Speisen  in  den  Mund  zu  bringen,  müssen  gefüttert  werden, 


CHOREA.  257 

weil  schon  in  Folge  dieser  mechanischen  Gründe  die  Ernährung  derselben 
leidet.  Wegen  möglicher  Verletzungen  soll  man  Choreatische  nicht  mit 
Messern  und  Gabeln  hantiren  lassen. 

Charakteristisch  ist  die  Schrift  solcher  Kranker.  Da  es  sich  zumeist 
um  bereits  die  Schule  besuchende  Kinder  handelt,  ist  fast  stets  Gelegenheit 
geboten,  dieselbe  zu  studireu.  Die  Kinder  sind  nicht  im  Stande,  in  einer 
geraden  Linie  zu  schreiben.  Haar-  und  Schattenstriche  zeigen  in  Folge  des 
Ungehorsams  der  Musculatur  eine  ungewohnte  Vertheilung.  Meist  geht  es 
noch  mit  den  ersten  Buchstaben  eventuell  Worten  halbwegs  leidlich,  während 
undefinirbare  Hieroglyphen  den  Schluss  des  verlangten  Pensums  bilden, 
falls  selbes  in  Folge  Ermattung  nicht  früher  noch  unterbrochen  wird.  In 
schwereren  Fällen  wird  kaum  ein  erkennbares  Zeichen  producirt.  Bei 
Ziffern  bietet  8  die  grössten  Schwierigkeiten.  Die  Schrift  ist  ein  sehr 
brauchbares  Mittel,  den  Verlauf  des  Leidens  zu  verfolgen.  An  ihr  lässt 
sich  die  Besserung  des  Zustandes  am  leichtesten  coutroliren. 

Ueber  das  elektrische  Verhalten  der  Muskeln  bei  Chorea  existiren 
widersprechende  Angaben.  Die  elektrische  Erregbarkeit  wird  von  einigen 
als  erhöht  angegeben.  Erb  konnte  sich  davon  weder  dem  faradischen  noch 
dem  galvanischen  Strom  gegenüber  überzeugen.  In  mehreren  Fällen  konnten 
wir  das  Vorhandensein  mechanischer  erhöhter  Erregbarkeit  constatiren  und 
fanden  einige  Male,  nicht  immer,  als  Ausdruck  derselben  die  Anwesenheit 
des  Facialis-Phaenomenes. 

Während  des  Schlafes,  der  jedoch  bei  den  Choreatischen  oft  ein 
unruhiger,  häufig  unterbrochener  ist,  sistiren  die  Bewegungen  in  der  Regel, 
die  Fälle  ausgenommen,  welche  so  heftig  sind,  dass  es  bei  ihnen  ausser 
durch  Hypnotica  überhaupt  nicht  zum  Schlafe  kommt.  Merkwürdiger  Weise 
klagen  clie  Patienten  trotz  der  heftigsten  Muskelactionen  nicht  über  Er- 
müdung und  treten  auch  keine  Temperatursteigerungen  in  Folge  der- 
selben auf. 

Als  Störungen  in  der  sensiblen  Sphäre  werden  Hyper-  und  An- 
aesthesien  angegeben.  Wir  können  diese  daher  zur  Diagnosenstellung  nicht 
verwerthen  und  müssen  daher  stets  auf  die  charakteristischen  motorischen 
recurriren. 

Bei  den  von  uns  untersuchten  Fällen  fanden  wir  keine  Erhöhung  der 
Patellarreflexe. 

Die  Psyche  der  Kinder  bietet  fast  ausnahmslos  Abweichungen  von 
der  Norm.  Die  Kinder  sind  sehr  leicht  erregbar  und  einem  sehr  raschen 
und  leichten  Wechsel  der  Gemüthsstimmung  unterworfen.  Man  könnte 
ebenso  von  einer  Chorea  des  Gemüthes  reden  wie  von  einer  Chorea  der 
Musculatur.  Die  Kinder  sind  sehr  leicht  zum  Lachen  und  Weinen  zu 
bringen.  Sie  sind  zerstreut,  flüchtig  oder  ängstlich.  Dies  ist  die  Regel. 
Daneben  wurden  alle  Stufen  geistiger  Störung  beschrieben,  bis  zum  Ein- 
tritte von  Blödsinn,  bis  zum  Eintritte  von  tödtlich  verlaufenden  maniakali- 
schen  Delirien.  Wir  können  uns  nicht  enthalten,  anzunehmen,  dass  hier 
wohl  mancherlei  zusammengefasst  worden  sein  mag,  was  nicht  in  den 
Rahmen  der  Krankheit  hineingebort.  Mit  dem  Schwinden  der  Krankheit 
bessern  sich  auch  die  Störungen  des  Gemüth-  und  Seelenlebens. 

Dass  es  sich  bei  der  Chorea  meist  um  an ae mische  Individuen 
handelt,  haben  wir  bereits  erwähnt.  Von  sonstigen  somatischen  Ver- 
änderungen möchten  wir  hier  der  häufiger  vorkommenden  Herzgeräusche 
Erwähnung  thun.  Es  finden  sich  meist  systolische  Geräusche  über  der  Mitralis, 
noch  deutlicher  vernehmbar  über  der  Pulmonalis.  Da  dieselben  in  den 
weitaus  meisten  Fällen  ohne  sonstige  Störungen  im  Circulationsapparate 
vorkommen,    auch    im  Verlaufe    der  Krankheit    derartige    Störungen    nicht 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  1 ' 


258  CHOREA. 

eintreten,  so  haben  wir  allen  Grund,  diese  Geräusche  für  ac  cidentell  e, 
für  anae mische  Geräusche  zu  halten,  wozu  sie  auch  ihr  Charakter 
stempeh.  Zweifellos  verhält  es  sich  in  einigen  Fällen  nicht  so,  zweifellos 
liegen  in  einigen  Fällen  organische  Veränderungen  am  Klappenapparate 
des  Herzens  vor.  Dies  ist  jedoch  das  seltenere.  Davon  noch  später.  — 
Arhythmischer  Puls  kommt  bei  Chorea  öfter  vor.  Derselbe  ist  dann  in 
der  Regel  sehr  langsam. 

Andere  Organe  und  Functionen  des  Körpers  sind  meist  intact  oder 
weisen  nicht  mit  der  Krankheit  direct  zusammenhängende  Störungen  auf. 
Oefter  findet  man,  wie  nicht  selten  bei  nervösen  Affectionen,  in  den 
Stühlen  grössere  Mengen  von  Schleimflocken  und  Schleimmembranen. 

Die  Dauer  der  Krankheit  ist  immer  eine  Wochen  lange,  beträgt 
durchschnittlich  6  Wochen  bis  21/3  Monate.  Ablauf  in  14  Tagen  ist  eine 
Seltenheit.  Der  Verlauf  ist  als  ein  chronischer  zu  bezeichnen.  Recidive 
kommen  vor.  Der  Beginn  ist  in  vielen  Fällen  ein  plötzlicher,  und  zwar 
plötzlich  eintretend  mit  aller  Heftigkeit.  So  sah  ich  einmal  die  Krankheit 
bei  einem  Knaben  plötzlich  auftreten  an  dem  ersten  Tage  seines  Schul- 
besuches in  einer  ihm  fremdsprachigen  Schule.  Auch  sonst  wird  angegeben, 
dass  sich  die  Krankheit  nach  heftigem  Schreck  oder  einer  anderen 
psychischen  Emotion  plötzlich  eingestellt  hätte. 

Aetiologie.  Nach  dem  heutigen  Stande  der  Dinge  können  wir  uns 
zu  einem  einheitlichen  Standpunkte  betreffs  der  Ursache  der  Chorea  nicht 
bekennen.  Es  ist  kaum  zu  bezweifeln,  dass  es  eine  Reihe  von  Individuen 
gibt,  die,  von  Natur  aus  schwächlich  beanlagt,  eine  Disposition,  wenn  wir 
wollen,  hereditäre  Belastung  für  Störungen  im  Bereiche  des  Nervensystems 
mitbringen,  die  vielleicht  durch  mangelhafte  Pflege,  eventuell  durch  directe 
Schädigungen  vermehrt  wird,  so  dass  Stürme,  die  an  einem  sonst  gesunden 
Individuum  spurlos  vorübergehen,  hier  mit  schweren  Störungen  beantwortet 
werden.  Nur  in  diesem  Sinne  können  wir  Schreck  und  andere  psychische 
Erregungszustände  als  Ursachen  der  Chorea  gelten  lassen.  Sie  sind  die 
auslösenden  Momente,  die  veranlassende  Ursache,  nicht  die  Ursache 
der  Krankheit. 

Von  französischen  und  englischen  Autoren  wird  dem  Bheiitnatismus 
eine  wichtige  Rolle  in  der  Aetiologie  der  Chorea  zugeschrieben.  Viele 
deutsche  Autoren  haben  sich  dieser  Ansicht  angeschlossen.  Meist  tritt  die 
Chorea  nach  Ablauf  des  Rheumatismus  auf.  sehr  selten  während  desselben 
und  höchst  selten  vor  Beginn  eines  solchen.  Es  lässt  sich  die  Thatsache 
nicht  leugnen,  dass  eine  grössere  Reihe  von  Kindern,  welche  die  Chorea 
acquiriren,  mehr  oder  weniger  lange  Zeit  vorher  Rheumatismus  durch- 
gemacht haben.  Aber  der  causale  Zusammenhang  beider  Krankheiten 
kann  durchaus  nicht  als  erwiesen  betrachtet  werden  und  die  Versuche,  die 
Chorea  als  eine  rheumatoide  Erkrankung  des  Rückenmarks  aufzufassen, 
sind  heute  noch  nicht  als  geglückt  zu  bezeichnen.  Jedenfalls  sind  wir  ver- 
pflichtet, auf  das  Mit-  und  Nebeneinandervorkommen  beider  Krankheiten 
unser  Augenmerk  zu  richten.  Viele  Beobachtungen  können  die  Frage 
klären.  Dabei  ist  auf  Eines  zu  achten.  Bei  Kindern  verläuft  der  Rheuma- 
tismus öfter  mit  äusserst  geringen  allgemeinen  und  localen  Symptomen 
und  in  vielen  Fällen  gibt  erst  eine  später  eintretende  Endocarditis  mit 
ihren  schweren  Symptomen  Aufschluss  über  die  Natur  eines  nur  allzu  leicht 
übersehenen  Leidens. 

W^eiter  wurde  acuten  Erkrankungen  anderer  Art,  z.  B.  der  Diphtherie, 
Scarlatina,  den  MorbiUis,  ferner  Helminthen,  Digestionsstörungen,  der  Mastur- 
bation  etc.  in  der  Aetiologie  der  Krankheit  eine  Rolle  zugetheilt.  Vorläufig 


CHOREA.  259 

halten  wir  an  der  Neurosennatur  des  Leidens  und  der  anfangs  gegebenen 
Definition  fest. 

Mit  wenigen  Ausnahmen  endet  die  Krankheit  mit  Genesung  nach 
der  schon  früher  erwähnten  Zeit.  Manche  chronische  Fälle  überdauern  die 
oben  erwähnte  Zeitperiode  um  ein  Bedeutendes.  Exitus  ist  sehr  selten, 
und  zwar  erliegen  die  Fälle  dem  Leiden,  bei  denen  die  Heftigkeit  der 
Bewegungen  eine  excessive  ist,  bei  denen  auch  Nachts  Schlaf  und  Ruhe 
nicht  eintritt  und  beides  nicht  durch  Hypnotica  zu  erzwingen  ist.  Vielleicht 
handelt  es  sich  bei  einigen  mitgetheilten  Fällen  dieser  Art  um  eine  andere 
cerebrale  Erkrankung,  denn  nicht  immer  sind  Autopsien  solcher  mitgetheilt. 
Man  nimmt  27^  Mortalität  an.  Ursache  des  Todes  ist  Erschöpfung,  Apo- 
plexia cerebri,  eventuell  andere  complicirende  Leiden.  So  z.  B.  sah 
Strümpell  einen  Fall  tödtlich  enden  in  Folge  der  zahlreichen  Hautver- 
letzungen, die  durch  nichts  hintanzuhalten  waren. 

Intercurrente  fieberhafte  Erkrankungen,  z.  B.  Pneumonie,  MorhilU, 
Scarlafina  wirken  während  des  Verlaufes  des  fieberhaften  Stadiums  öfter 
verschlechternd  auf  die  choreatischen  Bewegungen,  nach  Ablauf  desselben 
meist  günstig,  wenigstens  werden  mehrere  solche  Beobachtungen  mitgetheilt 
(Soltma]s;n).  Bokai  hat  mehrfach  Complication  mit  Herpes  zooster  ge- 
sehen, vielleicht  in  Folge  der  Arsencur.  Escherich  beschrieb  einen  Fall 
mit  Canities  ccipttJitü,  die  als  trophische  Störung  aufgefasst  wurde. 

Ueber  die  Frage  nach  dem  Sitze  der  Krankheit  hätten  uns  vor 
Allem  diejenigen  Fälle  Aufschluss  geben  müssen,  bei  denen  es  zum  Exitus 
und  zur  Autopsie  gekommen  war.  Allein  hier  stehen  den  mitgetheilten 
positiven  Fällen  eine  noch  grössere  Reihe  negativer  entgegen  und  die 
positiven  selbst  sind  durchaus  nicht  gleichartig  und  gleichwerthig.  Nebst 
verschiedenen  accidentellen  Befunden,  die  nichts  zur  Klärung  der  Frage 
beitragen,  fand  Klebs  neben  endocarditischen  Veränderungen  Embolien  in 
den  feinsten  Arterien  des  Gehirns  und  des  Rückenmarks,  Flechsig  u.  A. 
Veränderungen  im  Corpus  striatum  und  im  Linsenkern.  Skoda  glaubt,  dass 
es  sich  um  einen  Exsudationsprocess  im  Rückenmarke  oder  im  Gehirne 
handle,  Steiner  hält  die  Chorea  für  eine  Spinalreizung,  die,  durch  mannig- 
faltige Störungen  acuter  und  chronischer  Art  unterhalten,  gelegentlich  zum 
Ausbruch  kommen  kann  u.  s.  w.  Wir  schliessen  uns  denen  an,  welche  die 
Betheiligung  des  Gehirns  und  Rückenmarks  an  dem  Leiden  annehmen. 
Für  die  Betheiliguug  des  ersteren  sprechen  die  fast  nie  fehlenden 
psychischen  Alterationen  der  Kinder,  sowie  das  Auftreten  der  Hemichorea. 
Bei  dem  Umstände,  dass  die  Krankheit  in  der  Regel  vollständig  heilt, 
dürfte  es  sich  schwerlich  um  ernste  anatomische  Läsionen  bei  derselben 
handeln. 

Die  Chorea  electrica  und  die  Chorea  hysterica  sind  zwei 
Krankheitsbilder,  welche  von  dem  beschriebenen  durchaus  abweichen  und 
die  besser  in  das  Capitel  der  Hysterie  im  Kindesalter  einzureihen  wären. 
Desgleichen  möchten  wir  die  choreaähnlichen  Bewegungen,  welche  vielleicht 
im  Gefolge  von  Hirnprocessen ,  Hirntuberkeln  etc.  vorkommen  können, 
nicht  hieher  rechnen  und  keine  eigene  Abart  der  Krankheit  unter  dem 
Titel  symptomatische  Chorea  im  Gegensatze  zu  der  idiopathis  eben 
aufstellen. 

Die  Prognose  der  Krankheit  ist  eine  gute. 

Therapie.  Wichtig  ist  es,  die  Kranken  ihrer  gewohnten  Umgebung 
möglichst  zu  entziehen  und  ihnen  vollkommene  geistige  und  körperliche  Ruhe 
angedeihen  zu  lassen.  Sie  müssen  daher  unbedingt  im  Bette  liegen,  sollen 
dasselbe  nicht  allzu  früh  verlassen.  In  Fällen  mit  excessiver  Bewegung  ist 
für  gute  Polsterung  der  Betten  Sorge  zu  tragen,  um  die  Kranken  vor  Ver- 

17* 


2G0  CHOREA  HEREDITARIA  DER  ERWACHSENEN. 

letzuDgen  zu  schützen.  Die  Ernährung  sei  eine  möglichst  gute  und  sollen 
die  Kinder,  so  lange  sie  die  Speisen  verschütten,  gefüttert  werden.  Tritt 
spontan  kein  Schlaf  ein,  dann  muss  man  denselben  durch  Chloralhydrat, 
TJrethan,  Sulfonal  erzielen.  Mit  Eecht  erfreut  sich  unter  den  gegen  die 
Krankheit  angewendeten  Medicamenten  das  Arsen  eines  allgemein  ver- 
breiteten guten  Eufes.  Man  gibt  dasselbe  entweder  als  Tinct.  Foideri, 
beginnend  mit  2  gtts.,  steigend  bis  zu  15  Tropfen  pro  die,  unmittelbar  nach 
dem  Essen  oder  während  des  Essens.  Man  steigt  täglich  um  einen  Tropfen 
und  kehrt  ebenso  fallend  bis  zur  Anfangsdosis  zurück.  Es  ist  zweckmässig, 
den  Patienten  eine  Tabelle  mit  der  einzunehmenden  Tropfenzahl  für  die 
einzelnen  Tage  mitzugeben.  Aussetzen  des  Medicamentes  ist  bei  stark 
belegter  Zunge  und  Diarrhoeen  geboten.  Oder  man  gibt  das  Arsen  in  Pillen, 
und  zwar :  Äcid.  arsenic.  ^/2  mg  pro  Pille,  1 — 2  Pillen  fäglich. 

In  angenehmer  Form  wird  dieses  Medicament  verabreicht  bei  Gebrauch 
des  Levico-  und  JRoncegnoirassers  oder  der  Guberqiielle.  Bei  schweren  Fällen 
von  Chorea  ist  der  Gebrauch  kalter  Bäder  und  kalter  Uebergiessungen  wegen 
deren  excitirender  Wirkung  nicht  angezeigt.  Gegen  protrahirte  ivarme  Bäder 
ist  nichts  einzuwenden.  Manche  Autoren  verwenden  mit  Vorliebe  Kai. 
bromat.,  manche  den  faradischen  Strom  gegen  die  Krankheit.  Manche  ver- 
suchen durch  gymnastische  Uehungen  und  durch  Concentrirung  der  Auf- 
merksamkeit auf  einen  Punkt,  der  Krankheit  Herr  zu  werden  und  erzielen 
günstige  Resultate.  In  neuester  Zeit  wurde  auch  Antipyrin^  durch  längere 
Zeit  genommen,  gegen  die  Krankheit  angewendet. 

Man  muss  sich  vor  Augen  halten,  dass  die  Krankheit  in  sehr  vielen 
Fällen  gewiss  bei  allgemeinen  hygienischen  Massregeln  ohne 
jede  specielle  Therapie  in  längerer  Zeit  heilt,  dass  verschiedene  Wege  zur 
Heilung  führen  können  und  dass  wir  mit  keinem  Medicamente  im  Stande 
sind,  der  Krankheit  in  diesem  oder  jenem  Stadium  Halt  zu  gebieten  oder 
auch  nur  deren  Dauer  sehr  wesentlich  mit  Sicherheit  abzukürzen. 

LOGS. 

Chorea  hereditaria   der   Erwachsenen.   (Huntington.)  Die 

hereditäre  Chorea,  schon  von  Water  (1863)  erwähnt,  zum  ersten  Mal 
von  Huntington  (1872)  genau  studirt  und  beschrieben,  ist  im  Allgemeinen 
in  ihrem  klinischen  Bilde  mit  dem  der  juvenilen  sog,  S  YDENHAM'schen 
Chorea  identisch,  es  bestehen  dieselben  irregulären,  spasmodischen,  momen- 
tanen Muskelcontractionen  und  dieselbe  Incoordination  bei  willkürlichen  Be- 
wegungen, in  den  schweren  Fällen  mit  ausgesprochener  Muskelschwäche 
verbunden.  Die  Bewegungen  sind  ziemlich  irregulär,  sowohl  der  Zeit  wie 
dem  Charakter,  und  der  Intensität  nach.  Die  Affection  der  Gesichts-  und 
Sprachmuskeln  leitet  die  Krankheit  ein,  allmälig  werden  jedoch  die  Muskeln 
des  Ptumpfes  und  der  Extremitäten  von  den  Zuckungen  befallen.  Anfangs 
treten  die  Bewegungen  nur  gelegentlich  auf,  ihre  Häufigkeit  nimmt  jedoch 
mit  ihrer  Heftigkeit  zu,"^  bis  sie  schliesslich  so  andauernd  und  heftig  sind, 
dass  sich  die  Extremitäten  permanent  in  Bewegung  befinden.  Die  moto- 
rischen Erscheinungen  betreffen  gewöhnlich  von  Anfang  an  beide  Seiten 
in  gleicher  Weise.  Die  Athmungsmuskeln,  speciell  das  Diaphragma,  haben 
häufig  an  der  Irregularität  einen  sehr  wichtigen  Antheil:  die  Athmung 
wird  unregelmässig,  tiefe  Athembewegungen  wechseln  mit  oberflächlichen 
ab;  das  Schlingen  und  Kauen  wird  mangelhaft,  die  Sprache  monoton, 
singend  und  kaum  verständlich.  Die  Sprachstörung  tritt  ziemlich  früh  auf. 
Der  halbtanzende,  stolpernde  Gang  ist  ebenfalls  seiner  Unregelmässigkeit 
Avegen  charakteristisch ;  auf  kurze,  langsame,  schleppende  Schritte  folgt 
eine  Pause ,  die  von  ausserordentlich  heftigen ,  an  die  Propulsion  er- 
innernden Schritten   begleitet  ist.     Die  Patienten    sind   gewohnt,    in    eigen- 


CHOREA  HEREDITARIA  DER  ERWACHSENEN.  261 

thümlichen  Stellungen  lange  Zeit  zu  verweilen.     Die    Augen   bleiben  in  der 
Regel  bei  der  hereditären  Form  verschont. 

Die  Sehnenreflexe  sind  gewöhnlich  erhöht,  die  Sensibilität  gelegentlich 
afiicirt  (Schlesinger,  Huber).  Die  elektrische  Erregbarkeit  der  Muskeln 
und  Nerven  bleibt  unverändert.  Der  Spasmus  wird  in  der  Regel  durch 
Erregungen  verstärkt,  und  ein  Kranker,  der  sich  selbst  überlassen,  ver- 
hältnismässig ruhig  ist,  wird  etwa  durch  den  Besuch  eines  Fremden  in  die 
heftigste  physische  Unruhe  versetzt.  Freilich  ist  auch  eine  gewisse  Beein- 
flussung der  Bewegung  durch  einen  energischen  Willensact  oder  durch 
intendirte  Bewegung  möglich.  Im  Schlafe  hören  die  choreatischen  Be- 
wegungen meist  auf,  man  hat  aber  auch  zuweilen  beobachtet,  dass  sie 
während  desselben  fortbestanden  (West). 

In  den  meisten  Fällen  ist  Abnahme  der  Intelligenz  und  des  Gedächt- 
nisses bis  zur  progressiven  chronischen  Demenz,  in  manchen  maniakalische, 
eventuell  melancholische  Anfälle  zu  beobachten.  Seltener  sind  diejenigen 
Fälle,  wo  der  geistige  Stumpfsinn  dem  Ausbruch  der  Chorea  vorausgeht 
oder  die  psychischen  Anomalien  ganz  fehlen. 

Eine  directe  Ursache  des  Leidens  lässt  sich  selten  auffinden,  zu- 
weilen scheint  eine  deprimirende  Gemüthsbewegung  der  Agent  provo- 
cateur zu  sein.  Rheumatismus  und  Herzfehler  werden  seltener  als  bei  der 
juvenilen  Form  in  der  Anamnese  erwähnt,  ein  allgemein  neuropathischer 
Boden  fehlt  dagegen  fast  nie.  Epilepsie,  Idiotie,  Hysterie  und  Psychosen 
sind  in  solchen  Familien  ausnahmslos  zu  finden.  Die  HuNTiNGTON'sche  Chorea 
ist  hereditär,  kommt  gewöhnlich  bei  zahlreichen  Mitgliedern  derselben 
Familie  vor  (in  mehreren  Generationen);  ausnahmsweise  kann  eine  Gene- 
ration völlig  übersprungen  werden,  die  Chorea  wird  dann  durch  eine  andere 
Neurose  oder  Neuropsychose  ersetzt.  Die  neuropathische  Belastung  muss 
hier  deshalb  in  etwas  weiterem  Sinne  als  es  von  Huntington  und  Hoff- 
mann geschah,  aufgefasst  werden,  als  sogenannte  „gemischte  Heredität". 

Bei  der  gewöhnlichen  Chorea  werden  Mädclien  entschieden  häufiger 
befallen,  als  Knaben  (3 : 1),  bei  der  chronischen  verhält  sich  die  Sache  eher 
umgekehrt.  Die  Krankheit  entwickelt  sich  am  meisten  zwischen  dem  30.  und 
40.  Jahre,  mithin  in  einem  Alter,  wo  die  juvenile  Chorea  nur  ausnahms- 
weise auftritt.  Man  kann  mit  Recht  sagen,  dass  die  SYDENHAM'sche  Chorea 
kaum  in  5%  der  Fälle  nach  dem  20.  Lebensjahre,  die  HuNTiNGTON'sche 
ebenso  selten  vor  dem  20.  Jahre  beginnt.  Jedoch  sind  Fälle  bekannt,  wo 
die  ersten  Zeichen  der  chronischen  Chorea  vor  dem  6.,  resp.  nach  dem 
60.  Lebensjahre  sich  einstellten i).  Die  Dauer  der  persistirenden  Form  ist 
sehr  lang  (20—40  Jahre),  das  Leiden  hat  nämlich  wenig  Tendenz,  das 
Leben  zu  verkürzen.  Eine  intercurrente  Krankheit  oder  seniler  Marasmus 
machen  gewöhnlich  dem  Leben  ein  Ende.  Das  progressive  Leiden  zeigt 
keinerlei  Tendenz  zur  Heilung  und  wird  durch  Arsenbehandlung  durchaus 
nicht  beeinflusst. 

Verwechslungen  mit  der  Maladie  des  tks  sind  durch  den  typisch 
choreatischen  Charakter  der  Bewegungen  ausgeschlossen.  Doppelseitige 
Aihetose  verläuft  mit  spastischen  Erscheinungen  bei  Bewegungen,  die  auch 
im  Schlafe  anhalten,  und  ist  fast  nie  eine  Familienerkrankung. 

Die  pathologische  Anatomie  und  Pathogenese  der  Chorea 
hereditaria  sind  zur  Zeit  eine  ziemlich  streitige  Frage.  Weder  über  den 
primären  Sitz  der  Erkrankung,  noch  über  die  Natur  und  die  Ursache  der 
Veränderung  in  den  Nerveneleraenten  lässt  sich  eine  definitive  Meinung  aussagen. 


')  Unlängst  beobachtete  ich  einen  75  jährigen  Greis,    bei  dem  eine  allgemeine,  pro- 
gressive Chorea  nach  dem  72.  Lebensjahre  sich  zu  entwickeln  begann. 


262  CHYLÖSER  ASCITES. 

Veränderungen  wurden  im  Nervensystem  sehr  mannigfache  constatirt:  Entzündung 
der  Hirnhäute,  chronische  Encephalitis,  diffuse  Endarteriitis,  Hyperämie  der  motorischen 
Rindenregion,  kleinzellige  Infiltration  und  Degeneration  der  Nervenzellen,  circumscripte 
Herde  in  den  ver schieden sten  Äbtheilungen  des  Centralnervensystems.  Die  Meinungen 
einzelner  Autoren  bezüglich  der  anatomischen  Localisation  des  Leidens  gehen  deshalb 
so  sehr  auseinander.  In  der  Hirnrinde,  dem  Thalamus,  dem  Streifenhügel,  dem  Linsen- 
kern, dem  hinteren  Theile  der  inneren  Kapsel,  den  Hirnschenkeln,  der  ^rücke,  der 
Oblongata  und  den  Pyramidenbahnen  des  Rückenmarkes  suchte  man  den  Krankheits- 
process  zu  localisiren.  Jakoweiv-ko  betrachtet  die  hyalinen  Körperchen  in  den  subcorti- 
calen  Ganglien  {Globus  pallidus)  als  charakteristisch  für  die  Chorea,  Tuckwell  und  A. 
beschuldigen  in  der  Entstehung  des  Leidens  Embolien  der  Art.  basilaris,  vertebralis, 
die  von  einem  Herzfehler  herstammen  sollen.  Nach  Lattpenatjer  ist  die  Chorea  eine 
Infectionskrankheit,  deren  Mikroben  sowohl  chronische  Encephalitis,  wie  Polyarthritis 
und  Endocarditis  verursachen  können,  nach  Lextbe  ist  es  ein  toxischer  Bkitbestandtheil, 
der  die  motorische  Hirnregion  einer  permanenten  Reizung  aussetzt. 

BerückFichtigt  man  jedoch  die  Thatsache,  dass  man  einerseits  sog.  hyaline 
Körperchen,  Embolien  und  Mikroorganismen  in  den  Hirnarterien  nur  in  Ausnahmsfällen 
bei  Chorea  findet,  andererseits  häufig  denselben  bei  Sectionen  begegnet,  wo  keine  ana- 
logen Motilitätsstörungen  intra  vitam  bestanden,  so  dürfte  der  factische  Boden  der  er- 
wähnten Hypothesen  ziemlich  schwankend  erscheinen.  Für  die  acute  Chorea  ist  der 
infectiös-toxische  Boden  ziemlich  wahrscheinlich.  Dasselbe  gilt  von  allen  Herdlocalisa- 
tionen,  zu  denen  übrigens  weder  die  hereditäre  Natur  des  Leidens,  noch  die  constant 
auftretenden  psychischen  Alterationen,  noch  endlich  die  unwiderlegbare  Analogie  mit 
der  acuten  juvenilen  Chorea  gut  passen  würden. 

Am  nächsten  liegt  es  als  anatomisches  Substrat  der  Chorea 
angeborene  diffuse  Alteration  an  der  Hirnrinde  zu  betrachten,  die  zunächst 
vielleicht  rein  functioneller,  später  organischer  Natur  ist.  Analogien  solcher 
hereditären  Degeneration  finden  wir  in  der  sog.  FRiEDREicn'schen  Krankheit, 
ERB'schen  Dystrophie  und  der  progressiven  Muskelatrophie.  Die  latente 
congenitale  Tendenz  zur  diffusen  Degeneration  wird  vielleicht  hie  und  da 
durch  ein  toxisches  Virus  in  Activität  gesetzt.  Ob  den  Ausgangspunkt  der 
histologischen  Veränderungen  das  Gefässsystem,  das  Nervenparenchym,  das 
interstitielle  Gewebe  darstellt,   ist  eine  zur  Zeit  kaum  entscheidbare  Frage. 

H.  HIGIEE. 

ChylÖSdr  Ascites,  Ascites  ckylosus  ist  eine  ziemlich  seltene  Er- 
krankung; die  erste  von  Poncy  herrührende  Beobachtung  fällt  bereits  in 
das  Jahr  1699;  seitdem  sind  nach  einer  in  letzter  Zeit  erschienenen  Zu- 
sammenstellung (von  Bahrgebuhr)  im  ganzen  nur  noch  47  Fälle  ver- 
öffentlicht. 

Das  charakteristische  Zeichen ''der  Affection  ist  die  Ansamm- 
lung einer  weissen,  wie  Milch  aussehenden,  mitunter  einen  leichten  Stich 
ins  gelbe  oder  bläuliche  darbietenden  Flüssigkeit  in  der  Bauchhöhle.  Das 
specifische  Gewicht  derselben  schwankt  zwischen  1007  und  1026,  die 
Reaction  ist  meistens  deutlich  alkalisch,  bei  längerem  Stehen  setzt  sich  an 
der  Oberfläche  eine  dünne,  weisse  Rahmschicht  ab.  Die  Flüssigkeit  ist  reich 
an  Eiweiss  und  an  Fett,  der  Fettgehalt  zeigt  jedoch  sehr  erhebliche 
Schwankungen  und  ist  in  hohem  Grade  von  der  Nahrungsaufnahme  abhängig; 
in  einigen  Fällen  konnte  der  Uebergang  des  mit  den  Speisen  verabreichten 
Fettes  in  die  ascitische  Flüssigkeit  direct  nachgewiesen  werden.  Mitunter 
ist  Zucker  in  derselben  gefunden  worden.  Schüttelt  man  nach  Zusatz  von 
etwas  Natronlauge  mit  Aether  aus,  so  bleibt  ein  mehr  weniger  klares,  einem 
gewöhnlichen  Transsudat  gleichendes  Fluidum  zurück. 

Bei  Betrachtung  unter  dem  Mikroskop  sieht  man  kleinste  punkt-  bis 
staubförmige  Körperchen  (Fettkörnchen)    neben    spärlichen  Lymphocyten. 

Die  Flüssigkeit  ist,  wie  aus  ihrer  Zusammensetzung  hervorgeht,  ent- 
weder reiner  Chylus  oder  eine  Mischung  desselben  mit  Transsudat. 

Als  Ursache  für  den  Erguss  von  Chylus  in  die  Abdominalhöhle  sind 
Behinderungen    des  Abflusses    der  Lymphe    anzusehen.    Mehrfach 


GHYLÖSER  ASCITES.  263 

sind  durch  äussere  Gewalteinwirkuug  bedingte  Zerreissungen  des  Milchbrust- 
ganges in  der  Höhe  der  mittleren  und  unteren  Brustwirbel  durch  die  Section 
nachgewiesen.  Verschluss  der  Mündung  desselben  durch  Thrombose  und 
durch  Obliteration  der  linken  Vena  subclavia  ist  in  je  einem  Falle  berichtet, 
ebenso  Verstopfung  des  Receptaculum  chyli  durch  einen  Stein.  In  einer 
Anzahl  von  Fällen  ist  Compresslon  des  ductus  thoracicus  durch  vergrösserte, 
tuberculös  oder  carcinomatös  entartete  Lymphdrüsen  und  durch  Tumoren, 
welche  in  der  Nachbarschaft  sich  entwickelt  hatten,  so  Aneurysmen,  Carci- 
nome  des  Pancreas,  Darm,  Peritoneum  beobachtet.  Quincke  beschreibt  eine 
Compression  der  feineren  Chylusgefässe  durch  entzündliche  Verdickung  des 
Mesenteriums  an  der  Insertionslinie  des  Darms  und  macht  auf  die  bei  der- 
selben Patientin  und  bei  mehreren  Mitgliedern  ihrer  Familie  bestehende 
Elephantiasis  einzelner  Extremitäten  aufmerksam,  welche  wohl  auf  eine  aus- 
gebreitete Erkrankung  des  Lymphgefässsystems  schliessen  lässt.  Der  von 
WiNCKEL  beschriebene  Fall  endlich  beweist,  dass  auch  Parasiten  die  Ursache 
eines  chylösen  Ascites  sein  können,  welche  durchaus  der  Filarla  sanguinis 
hominis,  der  Urheberin  der  Chijlurie,  gleichen.  Die  Patientin  hatte  längere 
Zeit  in  den  Tropen  (Surinam)  gelebt,  ihr  Urin  war  stets  von  normaler 
Beschaffenheit  gewesen. 

Die  Krankheit  tritt  in  jedem  Lebensalter  auf  und  ist  bei  beiden  Ge- 
schlechtern in  gleicher  Häufigkeit  beobachtet.  Die  Symptome  unterscheiden 
sich  nicht  von  denen  eines  gewöhnlichen  Ascites.  Die  Diagnose  dürfte  daher 
kaum  vor  der  Punction  zu  stellen  sein.  Nur  wenn  im  Anschluss  an  ein 
Trauma  Ascites  sich  entwickelt  und  gleichzeitig  durch  die  Wunde  nach 
aussen  chylusartige  Flüssigkeit  abfliesst,  wäre  eine  Möglichkeit  für  die 
unmittelbare  Diagnose  gegeben. 

Die  Prognose  ist  im  Allgemeinen  ungünstig;  die  Mehrzahl  der 
Kranken  erlag  ihrem  Leiden.  In  einigen  Fällen  ist  Genesung  constatirt. 
Wahrscheinlich  haben  sich  bei  diesen  collaterale  Lymphbahnen  entwickelt, 
welche  den  Zufluss  des  für  die  Ernährung  so  wichtigen  Chylussaftes  zum 
Blute  ermöglichten. 

Die  Therapie  ist  im  Wesentlichen  eine  symptomatische  und  unter- 
scheidet sich  nicht  erheblich  von  der  der  einfachen  Bauchwassersucht. 
Jedoch  sind  Functionen  auf  das  äusserste  Mass  einzuschränken  und  nur  bei 
dringendster  Indication  auszuführen. 

Eine  äussere  Aehnlichkeit  mit  dem  Ascites  chylosus  hat  der  A.  chyli- 
formiS;  treffender  A.  adiposus  genannt,  welcher  aber  eine  durchaus  andere 
Entstehung  und  Bedeutung  hat.  Auch  bei  diesem  ebenfalls  sehr  seltenen 
Zustande  finden  wir  ein  Exsudat  von  milchiger  Beschaffenheit  und  grossem 
Eiweiss-  und  Fettgehalt  in  der  Bauchhöhle,  welches  bei  längerem  Stehen 
eine  Rahmschicht  absetzt.  Der  Fettgehalt  ist  aber  nicht  durch  Beimengung 
von  Chylus,  sondern  von  abgestossenen,  fettig  degenerirten  Endothelien  oder 
Geschwulstzellen  zu  einem  ascitischen  Exsudat  bedingt.  A.  adiposus  s.  chyli- 
formis  ist  bei  Tuberculose,  Carcinom  und  Sarcom  des  Peritoneum  und  der 
drüsigen  Organe  des  Unterleibs  zuweilen  beobachtet.  Die  Unterscheidung 
von  dem  chylösen  Ascites  wird  hauptsächlich  durch  die  mikroskopische 
Untersuchung  ermöglicht,  welche  neben  freien  Fetttröpfchen  fettig  degenerirte 
Zellen  nachweist.  Bei  der  chemischen  Untersuchung  ist  besonders  auf  die 
Anwesenheit  von  Zucker  zu  ächten.  Positiver  Ausfall  der  TROMMER'schen 
Probe  spricht  unbedingt  für  chylösen  Ascites  (da  normale  Lymphe  und 
Chylus  stets  Zucker  enthält,  Senator),  während  allerdings  ein  negatives 
Ergebnis  nicht  gegen  denselben  verwerthet  werden  kann. 


264  CIRCULÄRES  IRRESEIN. 

Ansammlung  von  Cliylus  in  der  Pleurahöhle,  Chylothorax,  ist  noch 
viel  seltener  beobachtet  als  chylöser  Ascites.  Im  ganzen  sind  bisher  10  Fälle 
dieser  Affection  beschrieben.  Nach  schweren  Verletzungen  des  Brustkorbes 
hatte  sich  zumeist  in  kurzer  Zeit  ein  pleuritischer  Erguss  entwickelt,  welcher 
bei  der  Function  seinen  chylösen  Charakter  offenbarte.  Der  Verlauf  war 
ungünstig,  das  Exsudat  stieg  nach  der  Entleerung  rasch  wieder  an,  der  Tod 
erfolgte  theils  durch  den  Druck  desselben,  theils  durch  allgemeine  Ent- 
kräftigung. Bei  der  Section  ist  mehrmals  Zerreissung  des  Ductus  thoracicus 
gefunden,  in  einigen  Fällen  konnte  die  Ruptur  eines  Lymphgefässes  zwar 
nicht  nachgewiesen  werden,  war  aber  aus  dem  Verlaufe  der  Erkrankung 
als  das  Wahrscheinlichste  anzunehmen.  hilbert. 

CirCUläreS  Irresein  (FoUe  drculaire,  FoUe  ä  double  forme,  ctjMiscJie 
Psycliose,  Melancholie  mit  Mcmie),  eine  Unterform  der  periodischen  Psychosen, 
gehört  zu  den  best  charakterisirten  Krankheitsformen  der  klinischen  Psy- 
chiatrie. Es  kennzeichnet  sich  durch  die  periodische  Wiederkehr  von  An- 
fällen, in  welchen,  in  der  Regel  bei  nur  massig  gestörtem  Bewusstsein,  die 
Zustandsbilder  der  Melancholie  und  Manie  oder  umgekehrt,  von  annähernd 
gleicher  Dauer,  regelmässig  auf  einander  folgen,  von  längeren  oder  kürzeren 
relativ  freien  Zeiten  unterbrochen. 

Aetiologie.  Es  beruht  in  erster  Linie  auf  erblicher  Belastung  und 
tritt  dann  häufig  schon  zur  Zeit  der  Pupertäts-Entwicklung,  mitunter  aber 
erst  im  Klimacterium  auf.  Viel  seltener  wird  es  durch  tiefe  Gemüths- 
bewegungen  bei  anaemischer  Blutbeschafifenheit  erworben.  Bei  Belasteten 
besteht  nicht  selten  schon  lange  vor  dem  Ausbruche  der  ausgesprochenen 
Erkrankung  ein  habituelles  Schwanken  zwischen  gesteigerter  Thätigkeit 
und  abnormer  Erschöpfung  des  Nervensystems,  dem  Vorbilde  des  späteren 
Wechsels  zwischen  Exaltation  und  Depression.  Bei  nicht  wenig  Menschen 
bleibt  das  Krankheitsbild  während  des  ganzen  Lebens  auf  so  niedriger 
Entwicklungsstufe  stehen,  dass  dasselbe  nur  für  Launenhaftigkeit  gehalten 
und  nicht  als  Geistesstörung  erkannt  wird. 

Pathogenese.  L.  Meyer  machte  die  interessante  Beobachtung, 
dass  die  Patienten  im  maniakalischen  Stadium  nicht  allein  blühend  und 
jünger  aussehen,  sondern  auch  (im  Gegensatze  zu  der  gew^öhnlichen  Manie) 
an  Körpergewicht,  manchmal  sogar  sehr  beträchtlich  (bis  35  und  54  Pfund 
in  drei  Monaten!),  zunehmen.  Er  hält  deshalb  die  circuläre  Störung  für 
eine  Trophoneurose  des  gesammten  Organismus.  Meynert  sucht  die  patho- 
logische Grundlage  des  eigenthümlichen  Wechsels  in  periodischen 
Störungen  der  vasomotorischen  Innervation.  In  Folge  von  ge- 
steigerter Reizbarkeit  des  Gefässcentrums  soll  sich  ein  verstärkter  Con- 
tractionszustand  im  gesammten  Arteriengebiete  mit  gleichzeitiger  Him- 
anämie  als  Ursache  der  depressiven  Verstimmung  entwickeln.  Gerade  die 
so  entstandene  mangelhafte  Ernährung  des  vasomotorischen  Centrums  soll 
dann  weiter  eine  Lähmung  desselben,  Erweiterung  der  Gefässe  und  Hyper- 
aemie  des  Gehirns  herbeiführen,  welche  dann  die  Erscheinungen  des  mania- 
kalischen Stadiums  auslöst. 

Die  auf  einander  folgenden  Zustände,  von  welchen  bald  die  Melan- 
cholie, bald  die  Manie  zuerst  auftritt,  gehören  zusammen,  sie  bilden  nur 
zwei  Phasen  eines  Anfalls,  deren  Dauer  und  Intensität  entweder 
annähernd  gleich  ist  oder  wenigstens  in  einem  bestimmten  proportionalen 
Verhältnisse  steht,  der  Art,  dass  mit  Zu-  und  Abnehmen  des  einen  auch 
das  andere  Stadium  zu-  und  abzunehmen  pflegt.  Auf  die  abklingende 
folgt  alsbald  die  andere  Phase,  ohne  dass  wirklich,  wenn  auch  mitunter 
scheinbar,  eine  freie  Zeit  zwischen  beiden  liegt.     Die    mittlere  Dauer  des 


CIRCÜLÄRES  IRRESEIN.  265 

Gesammtanfalles  belauft  sich  auf  eine  grössere  Reihe  von  Monaten  bis 
auf  ein  Jahr.  Doch  gibt  es  auch  Fälle  von  mehrjährigem  und  solche  von 
nur  1 — 2  monatlichem  Typus.  Erst  nach  Ablauf  beider  Phasen  stellt  sich 
das  anfallsfreie  Intervall  ein,  das  zumeist  von  längerer  Dauer  ist,  aber 
nach  kurzen  Anfällen  auch  nur  wenig  hervortreten  kann. 

Das  klinische  Bild  ist  in  der  Mehrzahl  der  Fälle,  nachdem  es 
sich  nach  mehrfachen  vorausgegangenen  Schwankungen  einmal  fixirt  hat, 
ein  vollkommen  typisches. 

Die  depressive  Phase  verläuft  zumeist  als  einfache  Ver- 
stimmung ohne  Hallucinationen  und  ausgeprägte  Wahnideen.  Der  Kranke 
ist  still,  einsilbig,  gedrückt,  energielos.  Alles  erscheint  ihm  in  so  trübem 
Lichte,  dass  er  sich  namenlos  unglücklich  fühlt.  Er  wähnt,  durch  eigenes 
Verschulden  sein  Verhängnis  heraufbeschworen  zu  haben.  Interesse-  und 
freudlos  steht  er  Dem  gegenüber,  was  ihm  früher  das  Liebste  war.  Für 
Trost  vollkommen  unzugänglich,  schleppt  er  mühselig  seine  Tage  dahin. 
Er  fühlt  selbst,  dass  er  leistungsunfähig  geworden  ist  und  den  geringsten 
Anforderungen  nicht  mehr  genügen  kann.  Oft  sitzt  er  Tage  lang,  stumpf 
vor  sich  hinbrütend,  umher,  unfähig,  sich  zu  irgend  einer  That  aufzuraffen, 
oder  er  kann  Tage  bis  Wochen  lang  zu  Bett  liegen  bleiben.  Seine  Energie- 
losigkeit schützt  ihn  in  der  Regel  vor  dem  Triebe  zum  Selbstmord,  der 
hier  seltener  als  bei  der  einfachen  Melancholie  beobachtet  wird.  Da- 
gegen verweigert  er  nicht  selten  die  Nahrung. 

In  einzelnen  Fällen  kann  die  Verstimmung  bis  zur  Hemmung  aller 
geistigen  Functionen,  bis  zum  Stupor,  fortschreiten. 

Seltener  wird  eine  ausgesprochene  Angst -Melancholie  oder  eine 
agitirte  Melancholie  mit  ruhelosen  motorischen  Entäusserungen,  mit  an- 
haltend und  laut  wiederholten  Selbstvorwürfen  u.  dgl.  mehr  beobachtet. 
Diese  Form  zeigt  oft  Züge  der  Moral-Insanity,  indem  sich  das  innere 
Wehegefühl  in  ausgesuchten  Kränkungen  und  Anklagen  der  Umgebung  mit 
gelegentlichen  Wuthattaquen  reflectirt.  Mitunter  kann  auch  ganz  acut  das 
Bild  des  depressiven  Wahnsinns  in  Scene  treten. 

Zumeist  besteht  in  dieser  melancholischen  Phase  ein  ausge- 
sprochenes Krankheitsgefühl,  ja  nicht  selten  sogar  eine  gewisse 
Krankheitseinsicht.  Die  Patienten  bedauern  dann  die  in  ihrer  Aufregung 
begangenen  Excesse  und  Verkehrtheiten  und  fürchten,  solche  in  Bälde 
von  Neuem  begehen  zu  müssen. 

Mancherlei  somatische  Störungen  pflegen  nicht  zu  fehlen.  Zu- 
nächst finden  wir  solche  der  Sensibilität,  wie  Brennen,  Druck  und  Schmerz 
im  Epigastrium,  Intercostal-,  Quintus-  etc.  Neuralgien,  Cephalalgien,  Glieder- 
schmerzen. Die  Circulation  ist  (mit  Ausnahme  der  activen  Form)  zumeist 
verlangsamt,  die  Extremitäten  blau,  kalt,  der  Gefässtonus  herabgesetzt, 
die  Herztöne  abgeschwächt,  die  Athmung  oberflächlich,  die  Haut  trocken, 
fahl  und  runzelig.  Es  besteht  Mattigkeit  und  Abgeschlagenheit,  Appetit- 
losigkeit, belegte  Zunge,  gestörte  Verdauung.  Der  Schlaf  ist  stets  unge- 
nügend. Das  Körpergewicht  pflegt  zu  sinken. 

Mit  dem  Eintritte  der  Phase  der  Exaltation,  welche  sich  in  der 
Regel  allmälig  vollzieht,  ändert  sich  das  Krankheitsbild  völlig. 
Mit  gleichzeitiger  grösserer  Blutfülle  des  Kopfes  und  ansteigender  Thätig- 
keit  des  Herzens  wird  das  Aussehen  ein  völlig  anderes,  es  stellen  sich 
lebhafter  Turgor  vitalis,  belebte  Miene,  ausdrucksvolle  Gesichtszüge  ein. 
Die  Bewegungen  werden  frei  und  elastisch.  Ess-  und  Trinklust  werden 
gesteigert,  die  Verdauung  gefördert. 

Die  Exaltation  stellt  sich  in  der  überwiegenden  Majorität  der  Fälle 
in  geradezu  charakteristischer  Weise  als  einfache  Aufregung  dar  mit 


26&  CIRCULÄRES  IRRESEIN. 

Erhaltung  derBesonnenheit,  als  Mauia  mitis,  Hypomanie,  Mania  sine 
delirio.  Der  Kranke  fühlt  sich  heiter  und  gehoben,  frisch  und  wohl.  Er  sucht 
sich  zu  beschäftigen  und  zeigt  lebhaftes  Interesse  für  die  Umgebung.  Bald 
wird  er  massig  erregt.  Die  Auffassung  äusserer  Eindrücke  und  der  Verlauf 
der  Vorstellungen  vollzieht  sich  bei  ihm  mit  grösserer  Leichtigkeit,  sein 
Interesse  steigt  nach  den  verschiedensten  Richtungen  hin.  Er  erscheint 
deshalb  aufgeweckter,  scharfsinniger,  leistungsfähiger  als  in  gesunden  Tagen. 
Er  spricht  gern  und  viel  und  ergeht  sich  oft  in  witzigen,  auch  ironischen 
Wendungen  und  Wortspielen.-  Alles,  was  er  unternimmt,  scheint  ihm  leicht. 
Er  kennt  keine  Ermüdung  und  bekundet  eine  ihn  selbst  überraschende 
körperliche  und  geistige  Regsamkeit.  Dabei  ist  aber  doch  stets  ein  gewisser 
Mangel  an  innerer  Einheit  des  Vorstellungsverlaufes,  eine  Unfähigkeit  zu 
consequenter  Verfolgung  einer  bestimmten  Gedankenreihe,  zur  logischen 
Durcharbeitung  gegebener  Ideen,  eine  Unbeständigkeit  der  Interessen,  ferner 
Abspringen  von  einem  auf  den  anderen  Gegenstand  nicht  zu  verkennen. 

Neben  der  gehobenen  Stimmung  besteht  nicht  selten  eine  geringere 
oder  grössere  gemüt bliche  Reizbarkeit.  Erfahren  dann  die  un- 
gezügelten Strebungen  einen  Widerstand,  so  kann  es  zu  heftigen  Zorn- 
ausbrüchen, selbst  bis  zu  gewaltthätigem  Gebahren  kommen.  In  Folge  der 
Bestimmbarkeit  durch  momentane  Eindrücke  und  unbeherrschte  Affecte 
erscheinen  die  Handlungen  oft  triebartig  und  bei  der  geringen  Störung  der 
Intelligenz  mitunter  unmoralisch. 

Einen  hervorstechenden  Krankheitszug  bildet  die  ruhelose  Viel- 
geschäftigkeit. Der  Kranke  sucht  Gesellschaften  auf  und  knüpft  viele 
Verbindungen  an.  Er  geht  auf  Reisen  und  strebt  die  verschiedenartigsten 
Unternehmungen  an.  Er  macht  eine  Menge  zweckloser  Einkäufe,  weil  jedes 
neue  Object  seine  Begierde  reizt,  scheut  auch  gelegentlich  nicht  vor  einem 
Diebstahl  oder  einer  Uebervortheilung  zurück,  um  einen  momentan  auf- 
getauchten Wunsch  zu  befriedigen. 

Er  kleidet  sich  auffällig,  vielleicht  phantastisch,  aber  doch  ungeordnet. 
Er  schreibt  viel  in  auffälliger  Form,  verfasst  wohl  auch  Gedichte.  Er 
führt  überall  das  grosse  Wort,  hält  Reden  und  Declamationen  und  äussert 
die  grössten  Renommagen.  Geschlechtlich  erregt  und  zugleich  rücksichtslos 
macht  er  obscöne  Witze  in  Frauengesellschaft  oder  treibt  sich  Tage  lang 
in  Bordellen  umher.  Die  bis  dahin  sittsame  Frau  erscheint  in  kokettem 
Anzüge  in  zweideutigen  Tanzlocalen  oder  unterhält  ganz  offen  Liebesver- 
hältnisse. Der  früher  einsame  Stubenmensch  sitzt  jetzt  den  ganzen  Tag 
im  Wirthshause,  woselbst  er  beständig  essend,  trinkend  und  rauchend,  mit 
jedem  hergelaufenen  Menschen  Freundschaft  schliesst. 

Es  ist  charakteristisch,  dass  der  Kranke  trotz  seiner  Aufregung 
und  seines  unsinnigen  Benehmens  eine  den  Fremden  leicht  täuschende 
Besonnenheit  zeigt.  Freilich  fehlt  ihm  vollständig  jede  Einsicht  in 
seine  Krankheit;  fühlt  er  sich  doch  gesünder  als  je  und  lässt  er  sich 
niemals  durch  Hinweis  auf  seine  Verkehrtheiten  von  seinem  pathologischen 
Zustande  überzeugen;  vielmehr  weiss  er  seine  absurden  Handlungen  mit 
ausserordentlicher  dialektischer  Gewandtheit  zu  motiviren.  Gerade  durch 
diese  Congruenz  zwischen  der  Besonnenheit  und  dem  maniakalischen 
Handeln  kann  der  Kranke  eine  grosse  Plage  für  seine  Umgebung  werden, 
indem  ihn  seine  Intelligenz  in  Stand  setzt,  seinen  Neigungen  und  Gelüsten 
mit  einem  gewissen  Scharfsinn  nachzugehen.  Er  ist  dann  erfinderisch  in 
Mitteln,  seine  Umgebung  zu  hintergehen,  sich  der  Ueberwachung  zu  ent- 
ziehen und  alle  möglichen  tollen  und  zwecklosen  Streiche  zu  verüben. 

In  seltenen  Fällen  kann  sich  auf  der  Anfallshöhe  —  für  kurze 
Zeit  —  eine  tiefere  Störung   des  Bewusstseins  einstellen   mit  Zeichen  von 


COLITIS  UND  PERICOLITIS  STERCORALIS.  267 

directem  Hirnreiz  (Kopfcongestion  und  Gefässaufregung),  in  welchem  Zustande 
flüchtige  Wahnbildungen   und   Hallucinationen   beobachtet   werden  können. 

Die  Esslust  ist  zumeist  ausserordentlich  gesteigert,  der  Schlaf  un- 
gestört, das  Körpergewicht  zeigt  in  der  Regel  eine  erhebliche  Zunahme. 

Das  Schwinden  der  Phase  der  Exaltation  vollzieht  sich  selten  plötz- 
lich  und   unvermittelt,   zumeist   langsam   unter  mancherlei   Schwankungen. 

Kurz  sei  hier  erwähnt,  dass  in  seltenern  aber  klinisch  beglaubigten 
Fällen  anstatt  der  Phase  der  Melancholie  eine  solche  des  Stupors,  sowie 
anstatt  derjenigen  der  Manie  eine  solche  des  Wahnsinns  treten  kann, 
die  bei  den  betreffenden  Individuen  in  stets  gleicher  typischer  Weise 
wiederkehren. 

Das  zwischen  den  Gesammtanfällen  liegende  Intervall  ist  kein 
absolut  freies,  bekundet  vielmehr  durch  verschiedenartige  Symptomenreihen 
die  Fortdauer  der  Erkrankung.  Es  kann  die  vorausgegangene  Phase  in 
nachklingender  melancholischer  oder  maniescher  Färbung,  aber  mit  zu- 
nehmender Lucidität,  fortsetzen,  oder  es  stellt  ein  einfaches  geistiges 
Erschlaffungsstadium  dar.  Das  ganze  psychische  Wesen  ist  dann  träge  und 
müde,  ohne  Initiative,  die  Stimmung  muth-  und  theilnamslos,  die  Haltung 
schüchtern  und  verzagt,  das  Handeln  mühsam,  energielos  und  rasch  er- 
schöpft. Im  Verlaufe  von  Monaten  kann  sich  die  alte  Persönlichkeit  wieder 
einigermassen  herausarbeiten,  ohne  aber  je  die  frühere  Kraft  und  Frische 
zu  erreichen.  In  anderen  Fällen  endlich  tritt  im  Intervall  ein  mehr  oder 
minder  hoher  Grad  von  Gemüthsreizbarkeit  oder  von  reizbarer  Schwäche  hervor. 

Der  Verlauf  des  echten  circulären  Irreseins  ist  ein  durchaus 
typischer.  Jahre  und  Jahrzehnte  lang  können  sich  die  Anfälle  in  regel- 
mässiger Weise  wiederholen  mit  ihren  beiden  Phasen,  deren  Erscheinungen 
immer  und  immer  eine  ganz  erstaunliche,  oft  bis  in  die  kleinsten  Züge  aus- 
gebildete Gleichartigkeit  zeigen.  In  anderen  Fällen  aber  (namentlich  in  der  Ruhe 
des  Anstaltslebens)  werden  die  Intervalle  successive  länger  und  länger  mit 
dem  Charakter  einer  langsam  zunehmenden  geistigen  Schwäche.  Endlich 
kann  sich  aber  auch  der  Typus  allmälig  verwischen  und  ein  dauernder 
maniescher  oder  melancholischer  Zustand  darstellen  mit  schliesslicher 
Verblödung. 

Hiernach  ist  die  Prognose  im  Allgemeinen  sehr  übel  zu  stellen. 
Immerhin  ist  in  einigen  wenigen  Fällen  der  Ausgang  in  Genesung  beob- 
achtet worden. 

Ein  irgendwie  charakteristischer  pathologisch -anatomischer 
Befund  für  das  circuläre  Irresein  ist  nicht  bekannt. 

Die  Behandlung  hat  hier  keine  anderen  als  symptomatische  Auf- 
gaben zu  erfüllen.  Zunächst  kommt  hier  der  schützende  und  beruhigende 
Aufenthalt  in  der  Irrenanstalt  in  Betracht.  Bei  Durchführung  der  Bettruhe 
während  der  Melancholie  soll  sich  das  expansive  Stadium  weniger  stürmisch 
gestalten.  Zur  Bekämpfung  der  Erregungszustände  hat  man  Bromkalium, 
Opium  und  Morphium  in  systematischer  Anwendung  empfohlen.        kirn. 

Colitis  und  PeriCOlitls  SterCOraliS.  Unter  dieser  Bezeichnung 
verstehen  wir  einen  Process,  der  im  Wesentlichen  ein  Analogon  der 
Typh litis  darstellt,  sich  von  dieser  jedoch  durch  die  L  o  calisation 
unterscheidet.  Es  ist  somit  eine  diffuse  oder  circumscripte  entzündliche 
Infiltration  der  Dickdarmwand. 

Die  Aetiologie  der  Colitis  deckt  sich  zum  Theile  mit  der  der 
Typhlitis.  Wir  sehen  sie  bei  Individuen  auftreten,  welche  an  chronischen 
Darmstörungen  leiden,  insbesondere  wenn  Kothstauungen  bestehen,  welche 
gelegentlich  durch  diarrhoische  Entleerungen  unterbrochen  werden.    Meist 


268  COLITIS  UND  PERICOLITIS  STEßCOKALIS. 

handelt  es  sich  um  alte  motorische  Störungen  des  Dickdarmes  allgemeiner 
oder  partieller  Natur,  deren  Sitz  gewöhnlich  die  Flexuren  sind.  Mit  einiger 
Wahrscheinlichkeit  ist  aber  die  unmittelbare  Ursache  der  Erkrankung  nicht 
in  der  Stauung  der  Fäcalmassen  allein  zu  suchen,  sondern  in  der  Qualität 
der  letzteren.  Zum  Mindesten  scheinen  die  fast  typisch  eigenartig,  penetrant 
stechend  riechenden  Entleerungen  für  das  Vorhandensein  von  ganz  abnormen 
Zersetzungsprocessen  im  Darminhalt  zu  sprechen. 

In  vereinzelten  Fällen  begegnen  wir  ihnen,  ohne  dass  nachweisbar 
namhafte  Stuhlverstopfung  vorausgegangen  wäre. 

Zu  den  weiteren  ätiologischen  Momenten  wären  zu  zählen  Infections- 
krankheiten,  welche  localisirte  Dickdarmerscheinungen  hervorrufen,  wie 
Dysenterie,  Typhus  oder  Intoxicationen  (z.  B,  Quecksilber).  Hier  haben  wir 
jedoch  vorwiegend  die  Colitis  stercoralis  im  Auge  und  verweisen 
bezüglich  der  übrigen  Formen  der  Colitis  auf  die  entsprechenden  Artikel. 

Die  Krankheitserscheinungen  entwickeln  sich,  soweit  unsere 
Beobachtungen  zeigten,  nach  mehr  oder  minder  ausgesprochenen  Störungen 
der  Defäcation  unter  leichter  Fieberbewegung,  nicht  selten  mit  Ueblich- 
keiten  und  Erbrechen.  Gleichzeitig  stellt  sich  an  einer  Stelle  des  Dick- 
darmes Auftreibung,  bedeutende  Druckempfindlichkeit  ein,  neben  vermehrter 
Kesistenz  und  Dämpfung  des  Percussionsschalles.  An  der  Configuration  des 
sich  entwickelnden  Tumors  erkennt  man  bei  halbwegs  entspannten  Bauch- 
decken mit  Leichtigkeit,  dass  es  sich  um  ein  Darmstück  handelt.  In  unseren 
Beobachtungen  waren  es  Flexurerkrankuugen.  In  solchen  kann  auch  die 
Zuhörigkeit  der  erkrankten  Partie  zum  Colon  unzweifelhaft  festgestellt  werden. 

Zu  den  ersten  Symptomen  gehört  daher  die  Geschwulst  und  der 
Schmerz.  Im  weiteren  Verlaufe  treten  je  nach  der  In-  und  Extensität  der 
Erkrankung  jene  functionellen  Störungen  in  den  Vordergrund,  welche  durch 
die  Atonisirung  der  erkrankten  Darmpartie  herbeigeführt  werden  —  Stenosen- 
erscheinungen (Meteorismus,  Koliken  etc.),  welche  sich  zuweilen  bis  zur 
Occlusion  steigern,  wobei  die  eingangs  erwähnten  diarrhoischen  Entleerungen 
fortbestehen  können. 

Diese  letzteren  sind  nicht  rein  wässerige,  sondern  mit  bröckligen 
Massen  untermengte,  reichlich  schleimhältige  Stühle  von  dem  erwähnten 
penetranten  Gerüche  und  geringer  Quantität. 

Ebenso  wie  die  Typhlitis  führt  auch  die  Colitis  gelegentlich  zu  circum- 
scripten  peritonealen  Erkrankungen  (Pericolitis,  Peritonitis  circumscripta), 
welche  gewiss  auch  zur  allgemeinen  Peritonitis  Veranlassung  geben  können. 

Dass  die  Erscheinungen  der  Pericolitis  mit  intensiveren  Fiebererschei- 
nungen und  schwereren  Allgemeinerscheinungen  einhergehen,  bedarf  nur 
Frösten  weises.  Kommt  es  zur  Abscedirung.  so  kündigt  sich  diese  mit 
des   Hinan, 

Angesichts  der  intensiven  Störung  der  Verdauungsorgane  kommen  an 
Colitis  Leidende  rapid  herunter,  und  namentlich  bei  älteren  Individuen  wird 
sehr  rasch  der  Verdacht  rege,  dass  es  sich  um  eine  maligne  Neubildung 
handle,  welche  Annahme  bei  einer  ungenauen  Kenntnis  der  Entwicklungs- 
geschichte des  Processes  erst  durch  den  Verlauf  widerlegt  wird. 

Differentialdiagnostisch  kommen  bei  dem  fast  regulären  Sitz 
der  Aifection  an  den  Flexuren  alle  Processe  in  Betracht,  welche  sich  in 
dieser  Gegend  entwickeln,  so  Peri-  und  Paranephritis,  Nierentumoreu, 
Perihepatitis,  Abscessus  hypophrenicus  (von  anderen  Organen  ausgehend), 
Intussusception,  Carcinom  des  Colon  und  einfache  Coprostase  wegen  Atonie 
eines  unteren  Darmabschnittes  (Kothtumor). 

In  letzterem  Falle  ist  die  Entscheidung  durch  eine  vollkommene  Ent- 
leerung des  Darmes  am  leichtesten  herbeizuführen. 


CONVULSIONEN.  269 

Pathologisch- an atomi  s  ch  handelt  es  sich  offenbar  um  den  Vor- 
gängen bei  der  Blinddarmentzündung  ganz  analoge  Processe,  Eine  gesonderte 
Darstellung  derselben  liegt  unseres  Wissens  nicht  vor  und  es  bleibt  deshalb 
dahingestellt,  ob  die  Fälle  von  Perforation  des  Colon,  deren  in  der  Literatur 
mehrere  beschrieben  sind,  Ausgänge  dieser  Atfection  darstellen.  In  den  drei 
Fällen  von  Windscheid,  welche  in  der  Literatur  bisher  vorliegen,  sowie  in 
den  Fällen  unserer  eigenen  Beobachtung  trat  Heilung  ein. 

Die  Prognose  ist  somit  wie  bei  der  Typhlitis,  wenn  rechtzeitig  ein 
correctes  Regime  eingeleitet  wird,  zwar  eine  relativ  günstige,  doch  wird  selbst- 
verständlich durch  die  Ausbreitung  des  Processes,  durch  den  Zutritt  irgend 
einer  Complication  (Peritonitis,  Perforation,  Sepsis  etc.)  das  Leben  gefährdet. 

Tritt  Heilung  ein,  so  bleibt  die  erkrankt  gewesene  Darmpartie  ein 
punctum  minoris  resistentiae.  Recidiven  scheinen  sehr  leicht  aufzutreten. 

Die  Therapie  stützt  sich  auf  die  Principien  der  Behandlung  der 
Blinddarmerkrankungen.  In  erster  Linie  steht  die  prompte  Entleerung  des 
Darmes  durch  Eingiessungen  von  20 — 22°  Pi.  unter  niedrigem  Druck,  im  ent- 
zündlichen Stadium  keine  Abführmittel,  örtlich  die  Eisblase.  Opium  soll  ico- 
möglich  vermieden  werden  und  nur  bei  starken  Schmerzen  oder  stürmischer 
Peristaltik  gereicht  werden.  Kommt  es  zur  circumscripten  Peritonitis,  so 
tritt  unter  Umständen  die  Indication  zum  chirurgischen  Eingriff  ein.  Zur 
Resorption  des  Exsudats:  Eifireibung  mit  grauer  Salbe.  Später  Elektricität 
und  Massage  zur  Hebung  der  Darmfunction.  pal. 

Convulsionen.  Convulsio  bedeutet  als  Substantiv  zu  convellere, 
das  den  allgemeinen  Sinn  hat:  „aus  der  Lage  reissen",  eigentlich  ganz 
allgemein  jede  plötzliche  „Zuckung"  —  im  speciellen  Sinne  —  eines  Muskels. 
Der  Begriff  ist  jedoch  schon  in  der  alten  Sprache  —  z.  B.  convulso  latere, 
faiices  convulsae  etc.  —  auf  diejenigen  Muskelcontractionen  eingeschränkt 
worden,  welche  gegen  den  bewussten  Willen  eines  Menschen  vor 
sich  gehen.  Die  Abwesenheit  dieses  psychischen  Momentes  muss  also 
in  jedem  Fall  in  der  Praxis  besonders  geprüft  und  festgestellt  werden,  bevor 
die  betreffende  Muskelcontraction  als  Convulsion  bezeichnet  werden  darf. 
Das  Festhalten  einer  solchen  scharfen  Scheidung  ist  durchaus  nothwendig, 
wenn  im  einzelnen  Fall  z.  B.  bei  Gutachten  die  Beschreibung  von  Krampf- 
erscheinungen in  eindeutiger  Weise  geliefert  werden  soll.  Es  handelt  sich 
dabei  also  nicht  um  eine  begriffliche  Spielerei,  sondern  um  eine  Grund- 
unterscheidung der  praktischen  Diagnostik.  Allerdings  darf  dabei  „bewusster 
Wille"  und  „Bewusstsein"  nicht  verwechselt  werden.  Z.  B.  kommen  bei 
Epileptischen  auch  bei  erhaltenem  Bewusstsein  oft  „Convulsionen"  d.  h.  also 
nicht  willkürlich  bewirkte  Muskelcontractionen  vor.  Natürlich  gibt  es  zwischen 
diesen  beiden  Extremen  der  willkürlichen  und  der  unwillkürlichen  Muskel- 
contraction eine  Reihe  von  Bindegliedern,  wie  es  im  geistigen  Leben  zwischen 
dem  bewussten  und  dem  rein  mechanischen  Gehirnvorgang  Bindeglieder 
gibt.  Diese  Ueberlegung  ist  besonders  bei  den  „hj/sterischen  Krämpfen^, 
ferner  bei  den  Krampferscheinungen  der  unter  dem  Namen  Katatonie  (s.  d.) 
zusammengefassten  Psychosen  der  Fall.  Trotzdem  darf  jene  Unterscheidung 
als  erstes  Mittel  zur  Orientirung  über  die  Natur  des  als  Krampf  erscheinenden 
Phaenomens  nie  ausseracht  gelassen  werden.  Convulsion  ist  also  ein  etwas 
engerer  Begriff  als  „Krampf",  womit  man  auch  solche  Muskelzustände 
bezeichnen  kann,  zu  deren  Zustandekommen  das  Psychische  mitwirkt,  wie 
z.  B.  die  „Schnauzkrärapfe"   bei  den  Katatonischen. 

Zweitens  müssen  aus  der  grossen  Gruppe  der  unwillkürlichen  Muskel- 
contractionen diejenigen  abgelöst  werden,  welche  nach  Reizung  eines  sensiblen 
Nerven  refl  ectorisch  von  Statten  gehen.  Es  ist  also  passend  den  Ausdruck 


270  CONVULSIONEN. 

Convulsion  auf  diejenigen  unwillkürlichen  Muskelcontractionen  einzu- 
schränken, welche  durch  Reizzustände  im  motorischen  Apparat  bedingt 
sind:  Muskel,  motorischer  Nerv,  motorische  Bahnen  im  Rückenmark,  Medulla 
oblongata,  Rons,  Hirnschenkel,  innere  Kapsel,  Stabkranz  und  motorische 
Regionen  des  Gross-Hirns. 

Natürlich  gibt  es  Uebergangszustände  zwischen  den  reflectorisch -ange- 
regten plötzlichen  Muskelcontractionen  und  den  „Convulsionen"  im 
engeren  Sinne  besonders  in  den  Fällen,  wo  ein  minimaler  Reiz  genügt,  um 
die  stärksten  Krämpfe  hervorzurufen  (cfr.  z.  B.  Strychninintoxication,  Quer- 
schnittsmyelitis etc.),  wo  also  der  Reiz  in  gar  keinem  Verhältnis  mehr  zu  der 
enormen  motorischen  Wirkung  steht.  Immerhin  ist  es  auch  praktisch  wichtig, 
die  Unterscheidung  von  Convulsionen  und  reflectorisch  ausgelöstem  Krampf 
im  genannten  Sinne  festzuhalten  und  besonders  zu  untersuchen,  ob  nicht 
die  vorhandenen  „Convulsionen"  in  Wirklichkeit  reflectorisch  ausgelöste 
Krampferscheinungen  sind.  Auch  hier  bietet  die  begriffliche  Unterscheidung 
einen  wichtigen  Gesichtspunkt  für  die  Untersuchung. 

Der  klinischenErscheinung  nach  müssen  die  Convulsionen  in  klonische  und 
tonische  eingetheilt  werden,  je  nachdem  mehrfache  Zuckungen  hintereinander 
zu  Stande  kommen  oder  eine  einmalige  länger  dauernde  Contraction  auftritt. 

In  erster  Reihe  kommen  nun  in  Betracht  die  isolirten  Convulsionen 
einzelner  Muskeln,  bei  denen  eine  Verwechslung  mit  psychisch  bedingten  Con- 
tractionen  wohl  kaum  in  Frage  kommen  kann.  Das  ist  z.  B.  der  Fall  bei  den 
isolirten  schmerzhaften  Krämpfen  in  der  Wade,  die  ganz  gut  ihrer  klinischen 
Erscheinung  nach  willkürlich  nachgeahmt  werden  könnten. 

Ferner  sind  zu  nennen  :  Convulsionen  im  Sternocleidomastoideus,  wodurch 
Caput  obstipura  zu  Stande  kommen  kann,  ferner  die  Tics  convulsifs  im  Facialis- 
gebiet,  wenn  sie  nur  einen  Muskel,  z.  B.  Frontalis  oder  Orbicularis  palpeb- 
rarum, betreffen,  ferner  die  krampfhaften  Zusammenziehungen  des  Zwerch- 
fells, welche  das  „Schluchzen"   bewirken  {Singiütus). 

Zweitens  gehören  hierher  die  gleichzeitigen  Convulsionen  in  mehreren 
Muskeln,  welche  einem  bestimmten  peripheren  Nerven  angehören. 
Wenn  zum  Beispiel  gleichzeitig  Sternocleidomastoideus  und  Cucullaris  zucken, 
so  lassen  sich  diese  beiden  Krampfphänomene  aus  Reizung  eines  bestimmten 
Nerven  {N.  accessorius)  leicht  erklären.  Hierher  gehören  ferner  die  Tics 
convulsifs,  bei  denen  mehrere  Muskeln  des  Facialisgebietes  betheiligt  sind. 

Drittens  könnten  diejenigen  Convulsionen  in  Betracht  kommen, 
welche  durch  Reizung  von  Nervenplexus,  aus  denen  eine  Reihe  verschiedener 
peripherer  Nerven  entspringen,  zu  Stande  kommen.  Diese  werden  im  Ein- 
zelnen nur  durch  das  sorgfältigste  Studium  derjenigen  Muskeln,  welche 
sich  an  der  unwillkürlichen  Contraction  betheiligen,  durch  Unterordnung 
dieser  unter  die  bekannten  Nervenbahnen  und  Verfolgung  letzterer  bis  zu 
demjenigen  Punkt,  von  dem  aus  sich  der  Complex  von  Reizungen  erklärt, 
erkannt  werden  können.  Es  sind  hier  natürlich  die  mannigfaltigsten  klini- 
schen Erscheinungen  denkbar  je  nach  dem  Angriffspunkt  der  Reizung.  In 
der  Praxis  wird  hier  nur  die  sorgfältigste  anatomisch-physiologische 
Analyse  des  einzelnen  Falles  helfen. 

Viertens  kommen  Convulsionen  in  functionell  zusammengehörigen 
Muskel-,  beziehungsweise  Nervengebieten  in  Betracht,  wie  z.  B.  Krämpfe  in 
der  Beugemusculatur  einer  Extremität, 

Fünftens  sind  zu  nennen  die  Convulsionen,  welche  durch  Reizung 
der  motorischen  Bahn  von  den  Vorderhörnern  des  Rückenmarkes  an  bis 
zum  Grosshirn  entstehen  können. 

Sechstens  kommen  die  allgemeinen  Convulsionen  in  Betracht,  wie 
sie  z.  B.  bei  der  Epilepsie  vorkommen  (cfr.  Artikel  „Krämpfe"),    sommee. 


COORDINATIONSSTÖRUNGEN.  271 

CoordinationSStÖrungen.  Unter  Coordination  versteht  man 
jene  Function  des  Nervensystems,  durch  welche  die  zur  präcisen  Ausführung 
einer  willkürlichen  Bewegung  nöthigen  Muskelcontractionen  in  den  ent- 
sprechenden Muskeln  in  der  eben  nothwendigen  Reihenfolge  und  mit  der 
angemessenen  Kraft  ausgelöst  werden.  Es  ist  bekannt,  dass  bei  einer  jeden, 
scheinbar  noch  so  einfachen  Bewegung  eine  grosse  Anzahl  von  Muskeln  thätig 
ist,  und  zwar  ebenso  die  der  intendirten  Richtung  direct  entsprechenden, 
als  ihre  Antagonisten;  durch  dieses  allseitige  Mitwirken  sämmtlicher  im 
Bereich  der  zu  bewegenden  Körpertheile  liegenden  Muskeln  gewinnt  die 
Bewegung  ihre  Sicherheit,  Präcision,  d.  h.  ihre  Coordination.  Ist  diese 
Harmonie  der  Innervation  fehlerhaft  geworden,  so  spricht  man  von  Coor- 
dinationsstörungen.  Diese  Störungen  können  nun  entweder  aus  mangelhafter 
Ausbildung  oder  vollständigem  Fehlen  resultiren :  physiologische  In- 
coordination,  oder  aus  theilweisem  oder  gänzlichem  Verlust  eintreten: 
pathologische  In  coordination. 

Was  zunächst  die  erstere  anbelangt,  so  sehen  wir  sie  theils  bei  kleinen 
Kindern,  die  eben  die  einzelnen  Bewegungen  auszuführen  beginnen,  theils 
im  späteren  Alter  bei  Erlernung  von  complicirteren  Bewegungsacten,  wie 
z.  B.  des  Schreibens,  Ciavier-  und  Violinspielens  etc.  Der  Hauptcharakter- 
zug dieses  Mangels  an  Coordination  ist  die  Unzulänglichkeit  der  Bewegungen 
in  Folge  der  nicht  genügend  präcisen  Bestimmung  des  Zieles  oder  der  Un- 
kenntnis der  zur  richtigen  Ausführung  nöthigen  Muskelactionen.  Die  be- 
treffenden Bewegungen  fallen  zu  kurz,  zu  langsam  aus,  sind  dabei 
unsicher.  Die  Kinder  greifen  ohne  die  Finger  gehörig  auszustrecken  oder 
sie  schliessen  sogar  ihre  Hand,  noch  bevor  sie  ihr  Ziel  erreicht  hätten;  die 
Finger  des  Anfängers  am  Ciavier  wollen  nicht  gut  auseinander. 

Die  pathologische  Incoordination  hingegen  betrifft  ein  Nerven- 
system, welches  schon,  wenigstens  für  gewisse  Bewegungen,  eine  vollkom- 
mene Coordination  besass ;  dieser  Umstand  erklärt  die  Verschiedenheit  des 
Symptomenbildes.  Diese  Bewegungsstörung  kann  in  zweierlei  Weise  auf- 
treten :  entweder  stellt  sie  sich  nur  bei  gewissen,  meist  complicirten  Be- 
wegungsformen ein,  oder  aber  sie  begleitet  jede  Innervation  der  betroffenen 
Muskelgebiete.  Die  erstere  beobachten  wir  besonders  an  der  oberen  Extre- 
mität bei  den  sogenannten  Beschäftigungsneurosen  (Schreibe-,  Violin- 
spielerkrampf etc.)  Diese  Art  der  Coordinationsstörung  ist  durch  einen  der 
normalen  Coordination  sich  anreihenden  tonischen  Krampf  bedingt,  welcher 
oft  von  schmerzhaften  Empfindungen  begleitet  ist,  welcher  aber  sofort  nach- 
lässt,  wenn  der  Kranke  die  betreffende  Beschäftigung  aufgibt.  Andere  Be- 
wegungen bleiben  hiebei  ganz  intact  und  die  rohe  Kraft  ist  nicht  herab- 
gesetzt. (Vergleiche  den  Artikel  „Beschäftigiingsneuroi^en'',  pag.  161,  „Interne 
Mediän  und  Kinderkrankheiten^^.)  Eine  ganz  ähnliche  Coordinationsstörung 
ist  das  Stottern.  Strümpell  sah  einen  Beschäftigungskrampf  bei  einem 
Clarinettenbläser  an  der  Zunge.  An  den  unteren  Extremitäten  kommen 
auch  manchmal  derartige  Zustände  vor,  und  die  als  Astasie  und  Abasie 
neuerdings  benannten  Störungen  wären  hieher  zu  rechnen. 

Die  Bezeichnung  Astasie  —  Abasie  wurde  von  P.  Blocü  im  Jahre  1838  ein- 
geführt. Die  mit  diesem  Terminus  bezeichneten  Erscheinungen  werden  gewöhnlich  bei 
der  Hysteri"  beobachtet  und  bilden  dann  oft  die  einzige  Krankheitserscheinung;  daher 
nennt  W.  Mitchell  diesen  Zustand  hystei-ische  Ataxie.  Die  betroftenen  Patienten  können 
kaum  oder  gar  nicht  gehen  noch  stehen,  obzwar  ihre  Muskelkraft  und  bei  anderen  Be- 
wegungen auch  ihre  Coordination  ganz  normal  ist;  so  vermögen  die  Kranken  sich  auf 
allen  Vieren  oder  selbst  hüpfend  weiterzubewegen  und  andere  Bewegungen  auszuführen, 
sobald  sie  aber  die  gewöhnlichen  Gehbewegungeu  oder  einfach  nur  aufrecht  zu  stehen 
versuchen,  fallen  sie  hilflos  zusammen,  wobei  sie  gewöhnlich  über  Schmerzen  in  den 
Beinen  und  im  Rücken  klagen.  Chakcot  unterschied  eine  choreaartige  (chon'iforme)  und 
eine  zitternde  (trqndente)  Form  der  Astasie-Abasie,  je  nachdem  bei  Gehversuchen  grössere 


272  COORDINATIONSSTÖRUNGEN. 

oder    kleinere    incoordinirte ,    die  normalen  Bewegungen   verhindernde  Zuckungen  dabei 
eintreten. 

Eine  wenigstens  symptomatologisch  nahe  verwandte  Bewegungsstörung  wird  bei 
der  Tabes  beobachtet,  welche  die  Engländer  mit  der  Bezeichnung  „giring  way  of  the 
legs"  (Durchgehen  der  Füsse)  charakterisiren,  und  welche  darin  besteht,  dass  die  Kranken 
fast  momentan  die  Herrschaft  über  ihre  unteren  Extremitäten  verlieren  und  zusammen- 
fallen. Hiebei  ist  keine  Lähmung  eingetreten,  denn  im  nächsten  Augenblick  erheben  sie 
sich  wieder  und  gehen  weiter. 

Die  zweite  Form  der  pathologischen  Incoordination  nennt  man 
Ataxie,  ihr  klinisches  Bild  besteht  darin,  dass  die  betreffenden  Bewegungen 
zu  lang  oder  zu  brüsk  ausfallen,  dadurch  auch  unregelmässig  werden. 
Freilich  erscheint  diese  Störung  in  ihrem  ersten  Beginnen  noch  wenig 
charakteristisch ;  der  Gang,  die  Bewegungen  der  Hände  sind  einfach  unge- 
schickt, steigert  sich  aber  das  Uebel,  dann  werden  die  Bewegungen  immer 
schlechter  und  bekommen  einen  eigenartigen  Charakter,  welcher  haupt- 
sächlich in  einem  brüsken  Hinausschiessen  über  das  gewünschte  Ziel  besteht ; 
demgemäss  macht  der  Tabeskranke  bei  ausgebildeter  Ataxie  grössere  Schritte, 
seine  Beine  werfen  sich  stossweise,  oft  in  falsche  Richtung  und  über  das 
richtige  Mass  nach  vorne  zuckend  und  fallen  dann  stampfend  auf  den  Boden 
(schleudernder  Gang,  locomotorisclte  Ataxie).  Es  ist  natürlich,  dass  der  Kranke 
seine  incoordinirten  Bewegungen  sicherer  zu  machen  trachtet,  dies  zeigt  sich 
am  meisten  beim  Gehen:  er  hält  deswegen  seine  Beine  weit  auseinander 
(hiedurch  gewinnt  er  eine  breitere  Basis),  ferner  überwacht  er  sorgfältig 
mit  den  Augen  seinen  Gang  (Compensation  der  Ataxie),  ja  sogar  beim  Stehen 
kommt  ihm  die  Controle  der  Augen  zu  Gute;  es  ist  dies  leicht  begreiflich, 
da  das  (erlernte)  aufrechte  Stehen  auch  fortwährende  Muskelthätigkeit  er- 
fordert, welche  in  Folge  der  Incoordination  nicht  gleichmässig  bleibt  [statische 
Ataxie) ;  die  leichteren  Grade  dieses  Zustandes  erscheinen  besonders  beim 
Stehen  auf  einem  Fuss.  Aehnlich  sind  die  Störungen,  welche  bei  Bewegungs- 
versuchen in  der  Rückenlage  sich  zeigen.  Fordert  man  den  Kranken  auf, 
sein  Bein  auf  eine  gewisse  Höhe  zu  heben,  oder  mit  der  Ferse  die  Fuss- 
spitze  des  anderen  Fusses  zu  berühren,  somit  etwas  complicirtere  Bewegungen 
zu  machen,  dann  laufen  allerhand  Zick-zackstösse  der  intendirten  Bewegungs- 
richtung unter.  Bei  der  Ataxie  der  oberen  Extremitäten  ist  die  Störung 
auch  sehr  ausgesprochen ;  will  der  Patient  ein  Glas  fassen,  so  spreizt  er 
schon  bei  Beginn  der  Bewegung  seine  Finger  und  trachtet  dann  unter 
ängstlicher  Controle  der  Augen  den  Gegenstand  ja  im  geeignetsten  Moment 
zu  erhaschen,  sonst  würden  die  zwischenlaufenden,  hier  und  dort  aufblitzenden 
Zuckungen  allen  Versuch  vereiteln.  —  Die  grobe  motorische  Kraft  scheint 
selbst  bei  ziemlich  hochgradigen  Bewegungsstörungen  noch  intact  oder  doch 
kaum  geschwächt  zu  sein,  eigentlich  ist  aber  ein  vollständiger  Verlust  der 
Coordination  gleichbedeutend  mit  dem  Aufhören  der  willkürlichen  Bewegungs- 
fähigkeit, da  wir  bei  der-Erlernung  der  einzelnen  Bewegungen  eben  ihren 
Coordinationsmechanismus  —  und  nichts  anderes  —  einüben.  Somit  be- 
deutet ein  vollkommener  Verlust  der  Coordination  bei  Erwachsenen  einen 
noch  grösseren  Defect,  wie  ihr  Mangel  bei  Neugeborenen,  da  nach  der  Er- 
lernung der  coordinirten  Bewegungen  jene  mehr  automatischen  des  ersten 
Kindesalters  verloren  gehen.  Dies  sehen  wir  bei  der  Tabes,  wo  sicli  die 
fortschreitende  Coordinationsstörung  allmälig  zu  vollkommener  Bewegungs- 
unfähigkeit steigert,  ohne  dass  wir  im  strengsten  Sinne  des  Wortes  von 
Lähmung  sprechen  könnten. 

In  ihrer  klinischen  Erscheinung  tritt  die  Ataxie  besonders  an  den 
Extremitäten  hervor,  weil  hier  die  Unregelmässigkeiten  der  Miiskelcontrac- 
tionen  in  Folge  der  Hebelwirkung  der  langen  Knoclien  mehr  evident  werden, 
doch  kann  man  dieselben  Störunaen  manchmal  bei  sehr  ausgebildeter  Ataxie 


COORDINATIONSSTÖRUNGEN.  273 

auch  in  den  Sprachwerkzeugen  und  im  Facialisgebiet  beobachten.  Sie  ist  an  den 
unteren  Extremitäten  eine  der  classischen  Erscheinungen  der  Tabes  dorsalis. 

Ataxie  kommt  bei  folgenden  Krankheiten  vor:  1,  bei  circum- 
scripten  Herden  im  motorischen  Gebiet  der  Hirnrinde,  und  zwar  in  einer  Form, 
welche  ganz  der  tabischen  entspricht;  2.  als  Spätsymptom  oder  Nachkrank- 
heit bei  gewissen  Intoxicationen  (bes.  Ergotismus)  und  schweren  Infections- 
krankheiten  (Diphtherie,  Rothlauf  etc.) ;  3.  bei  der  Tabes  dorsalis ;  4.  end- 
lich hat  man  die  Ataxie  in  einigen  Fällen  von  umschriebener,  meist  trau- 
matischer Affectionen  des  Rückenmarkes  und  der  Oblongata  beobachtet.  Diese 
Fälle  verdienen  ein  ganz  specielles  Interesse,  weil  durch  sie  allein  die  Mög- 
lichkeit des  Entstehens  der  Ataxie  aus  einer  Rückenmarksaffection  gesichert 
wäre;  leider  ist  aber  bei  einem  Theile  der  hieher  gerechneten  Fälle  der 
Krankheitsprocess  so  complicirt  oder  die  Diagnose  so  zweifelhaft  (Landet, 
VuLPiAN,  Gaeeod,  Kahlee  Und  Pick,  Letden  etc.),  dass  sie  zu  einer 
sicheren  Folgerung  nicht  brauchbar  scheinen.  Der  andere  Theil  der  Fälle 
betrifft  solche,  in  welchen  die  Ataxie  nach  einer  Lähmung,  mit  der  Wieder- 
kehr der  Motilität  auftrat  (Joffeoy  et  Solmon,  Gilbeet,  Neumann,  Käst, 
Stieglitz  u.  A.)  und  sich  dann  allmälig  wieder  verlor.  Wir  kommen  auf 
die  Bedeutung  dieser  Fälle  noch  zurück. 

Unter  dem  Namen  sensorische  Ataxie  bezeichnet  man  noch  hie  und 
da  eine  Bewegungsstörung,  die  als  Folge  von  Sensibilitätsdefecten  vor- 
kommt, ferner  als  cerebellare  Ataxie  einen,  theils  bei  Rückenmarks-,  haupt- 
sächlich aber  bei  Cerebellarleiden  beobachteten  Zustand,  welche  beide  von 
der  Störung  des  Lage-  und  Gleichgewichtsgefühles  herstammen  und  keine 
eigentliche  Coordinationsstörungen  sind ;  auch  sind  ihre  klinischen  Symptome 
ganz  verschieden,  bei  der  cerebellaren  Ataxie  ist  der  Gang  taumelnd,  ähn- 
lich dem  eines  Betrunkenen. 

Was  nun  die  Localisation  der  Coordinationsstörungen 
im  Nervensystem  anbelangt,  so  sind  unsere  diesbezüglichen  Kenntnisse  noch 
ziemlich  verworren;  auch  ist  es  noch  keine  vollkommen  gelöste  Frage,  wo 
und  wie  im  Nervensystem  die  normale  Coordination  zu  Stande  kommt.  Da- 
rüber kann  aber  kein  Zweifel  obwalten,  dass  ihre  Entstehung  im  Central- 
nervensystem  zu  suchen  sei.  Nachdem  aber  Coordination  eine  zielbewusste 
Thätigkeit,  also  eine  Abwägung  der  speciellen  Umstände  bedeutet,  so  müssen 
wir  beim  decapitirten  Frosch  —  der  ganz  zielgemäss  sich  noch  gegen 
äussere  Reize  wehrt  —  die  Coordinationsthätigkeit  wenigstens  zu  ihrem 
grossen  Theile  ins  Rückenmark  localisiren.  Diese  Fähigkeit  des  Rückenmarkes 
verliert  sich  aber  umso  mehr,  eine  je  höhere  Stufe  in  der  Entwickelung 
das  Thier  einnimmt;  beim  Menschen  hat  dieser  Theil  des  Centralnerven- 
apparates  gar  keine  bewusste  Thätigkeit,  sämmtliche  willkürlichen  Be- 
wegungen des  Menschen  stammen  von  seiner  Hirnrinde  her,  es  ist  nicht 
möglich,  eine  zielbewusste  Bewegung  (also  nicht  eine  einfache  Muskel- 
contraction  ohne  besondere  Coordination)  von  einem  anderen  Theile  des 
Nervensystems  hervorzurufen,  weder  auf  experimentellem  Wege  (bei  Hin- 
gerichteten), noch  in  pathologischen  Beobachtungen.  Und  das  muss  uns  als 
höchst  natürlich  erscheinen,  sobald  wir  bedenken,  dass  der  Mensch  mit  sehr 
wenigen  Fähigkeiten  zur  Welt  kommt,  im  Gegentheil  fast  sämmtliche  Be- 
wegungen nach  der  Geburt  selbst  erlernen  muss.  Das  Thier  entwickelt  sich 
vor  seiner  Geburt  bedeutend  weiter  als  der  Mensch,  es  hat  ererbte  Er- 
innerungen, der  Mensch  fast  nur  erworbene.  Diese  Verschiedenheit  macht 
aus  unserem  Rückenmark  ein  Organ  von  viel  niedrigerer  Bedeutung,  als  das 
der  Thiere,  welches  Verhalten  auch  einig'ermassen  in  der  anatomischen  Ge- 
staltung Ausdruck  findet.  Beim  Erlernen  der  einzelnen  Bewegungen  sammeln 
wir   die  Erfahrungen   in  unserer  Gehirnrinde,  und  so    oft  wir   das  Erlernte 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  1° 


274  COORDINATIONSSTÖRUNGEK 

wiederholen,  muss  die  betreffende  Rindenpartie  in  Action  treten.  Es  ist  eine 
oft  gemachte  Angabe,  dass  der  geübte  Clavierspieler  etc.  diese  Fähigkeit 
in  seinem  Rückenmark  besitzt  und  von  der  Rinde  aus  nur  den  ersten  Anstoss 
zur  Ausführung  sendet,  wie  wir  etwa  ein  Uhrwerk  in  Gang  setzen.  Niemand 
wird  es  bezweifeln  können ,  dass  wir  beim  Erlernen  einer  technischen 
Fertigkeit  die  Erinnerungsbilder  in  unserer  Rinde  sammeln  und  aufbewahren ; 
wieso  dann  die  Wiedergabe  einer  Kenntnis,  welche  im  Gehirn  aufgespeichert 
ist,  durch  das  Rückenmark  erfolgen  könnte,  ist  mir  nie  klar  geworden.  Im 
Gegentheil  lehren  sämmtliche  Beobachtungen,  dass  alle  unsere  erlernten 
Fähigkeiten,  vom  Gehen  an  begonnen,  ausschliesslich  in  ganz  specielle  Ge- 
biete der  Hirnrinde  localisirt  sind,  und  Zerstörung  dieser  Theile  beim  Menschen 
definitive  Verluste,  der  betreffenden  Fähigkeiten  nach  sich  zieht.  Der  Weg 
von  diesen  speciellen  Gebieten  führt  dann  in  die  eigentliche  motorische  Zone, 
in  welcher  diese  Bewegungsimpulse  den  Pyramidenbahnen  übermittelt  werden. 
Die  Thätigkeit  jener  Centren,  sowie  aller  Centren  im  Grosshirn,  ist  eine 
associative,  das  Resultat  derselben  ist  die  zielbewusste  Bewegung,  welche 
ohne  Zweifel  schon  von  ihrem  ersten  Entstehen  an  coordinirt  ist,  umsomehr, 
da  wir  ja  eben  die  Coordination  bei  den  Bewegungsübungen  erlernen.  Aus 
all'  diesem  folgt,  dass  wir  keine  besondere  Coordinationscentren  annehmen 
brauchen,  da  diese  mit  den  eigentlichen  psychomotorischen  zusammenfallen. 
Eine  weitere  Folgerung  dieser  Betrachtungen  ist,  dass  der  Weg  der  coor- 
dinirten  Bewegungsimpulse  von  der  Rinde  durch  die  einzigen  motorischen 
Bahnen,  die  Pyramidenbahnen,  gebildet  wird.  Die  Annahme  (welche  man 
der  tabischen  Ataxie  zu  .  lieb  herbeizog),  dass  die  Coordinationsbahnen  in 
den  Hintersträngen  verlaufen,  entbehrt  jedweder  Grundlage,  denn  erstens 
würde  ein  solches  Verhalten  soviel  bedeuten,  dass  die  Pyramidenbahnen 
atactische  Bewegungserregungen  leiten,  welche  noch  vor  ihrem  Austritt  aus 
dem  Rückenmark  geordnet  werden  müssten,  u.  zw. :  angepasst  an  die  momen- 
tanen Gesichts-,  Gehörs-  und  Tasteindrücke  —  was  fast  undenkbar  ist; 
zweitens  aber  widersprechen  einer  solchen  Annahme  ebenso  die  experimen- 
tellen, als  die  klinischen  Erfahrungen.  Es  ist  namentlich  noch  trotz  viel- 
facher Versuche  nicht  gelungen,  bei  Thieren  durch  Durchschneidung  der 
Hinterstränge  des  Rückenmarkes  Ataxie  hervorzubringen,  und  es  sind  schon 
mehrere  Fälle  beobachtet,  in  welchen  trotz  der  postmortal  nachgewiesenen, 
ausgedehnten  Entartungen  der  Hinterstränge  beim  Menschen  die  klinische 
Beobachtung  keine  Coordinationsstörungen  nachweisen  konnte.  Es  ist  aber 
auch  noch  als  eine  offene  Frage  zu  betrachten,  ob  überhaupt  Coordinations- 
störungen in  Folge  einer  Läsion  der  motorischen  Leitungsbahnen  entstehen 
können.  Dieser  nur  zu  leichtfertig  gemachten  Annahme  gegenüber  stehen 
in  überaus  grosser  Anzahl  die  Fälle  von  engbegrenzter  und  langsam  fort- 
schreitender Myelitis,  bezw.  Compressionsmyelitis,  in  welchen  Ataxie  so  gut 
wie  gar  nicht  vorkommt,  und  was  die  schon  oben  erwähnten  Fälle  von  Ataxie 
bei  der  wiederkehrenden  Motilität  anbetrifft,  so  ist  ihre  Deutung  noch  nicht 
ganz  klar.  Es  ist  auffallend,  dass  in  diesen  Fällen  die  Ataxie  parallel  mit 
der  Besserung  zunahm,  u.  zw.  nicht  in  der  Weise,  dass  man  glauben  könnte, 
die  wiederkehrende  Motilität  lasse  die  Coordinationsstörung  erkennen,  viel- 
mehr zeigten  sich  die  ersten  Anfänge  der  Bewegung  noch  ganz  normal  und 
nur  dann  entwickelte  sich  ziemlich  rasch  und  sehr  intensiv  die  Ataxie.  Die 
Deutung  dieser  Beobachtungen  scheint  uns  nicht  leicht  zu  sein,  immerhin 
glauben  wir,  dass  durch  sie  die  Annahme  von  Coordinationsfasern  nicht 
gestützt  wird,  da  es  unverständlich  wäre,  wieso  bei  einem  Heilungsprocesse, 
welcher  ziemlich  rasch  zu  einer  vollständigen  Herstellung  führt,  die  moto- 
rischen Leitungselemente  in  demselben  Maasse  wieder  gangbar  würden,  als 
die  Coordinationsbahnen  ihre  Leitungsfähigkeit  einbüssten. 


CROUP.  275 

Wo  die  Entstehungsursache  der  tabischenAtaxie  sitzt,  ist  heute  noch 
eine  ungelöste  Frage.  Es  scheint  uns  aus  den  oben  angegebenen  Gründen  nicht 
im  mindesten  wahrscheinlich  zu  sein,  dass  sie  mit  der  bekannten  Riickenmarks- 
afFection  in  ursächlicher  Beziehung  wäre,  und  da  man  bei  der  Tabes  neuerlich 
auch  in  den  peripheren  Nerven  und  besonders  im  Gehirn  anatomische 
Veränderungen  nachgewiesen  hat,  so  kann  man  einstweilen  über  die  Locali- 
sation  dieses  Symptoms  nicht  bestimmt  urtheilen.  Erb  äusserte  sich  dahin, 
dass  die  Ursache  der  Coordinationsstörung  nur  zwischen  dem  Willensorgan 
und  den  Vorderhörnern  sein  kann,  aber  ausserhalb  der  eigentlichen  Pyra- 
midenbahnen. Unsere  anatomischen  Kenntnisse  zeigen  aber,  dass  zwischen 
der  Hirnrinde  und  den  motorischen  Rückenmarkszellen  nur  die  Pyramiden- 
bahnen liegen,  somit  würde  diese  Annahme  die  betreffende  Läsion  in  die 
motorische  Rindenzone  (Willensorgan)  localisiren,  was  uns  aus  anderen  Ur- 
sachen auch  wahrscheinlich  scheint.  —  Wir  wollen  uns  hier  nicht  länger 
mit  den  sensorischen  Ataxietheorien  (von  Axenfeld,  Landky,  Leyden,  Rühle 
u.  A.),  noch  mit  den  Reflextheorien  dieser  Stö;:ung  (Browx-Seqüaed  ,  Topi- 
NAED,  Jaccoud,  Cton)  beschäftigen,  da  sie  heute  schon  genügend  wider- 
legt sind.  Man  hat  neuerdings  durch  periphere  Nervenläsionen  (Neuritis) 
entstandene  Ataxien  beschrieben  (Strümpell,  Leyden),  doch  genügen  diese 
Fälle  den  Anforderungen  der  Lehre  von  den  Localisationen  nicht,  sie  ent- 
sprechen vielmehr  diffusen,  noch  wenig  gekannten  Affectionen. 

Die  als  „Beschäftigungsneurosen"  benannten  Coordinationsstörungen 
müssen  ganz  bestimmt  in  specielle  Rindentheile  localisirt  werden,  unsere 
Kenntnisse  über  die  Localisation  der  betreffenden  Bewegungen  würden  keine 
andere  Deutung  zulassen. 

Die  Prognose  der  Coordinationsstörungen  fällt  mit  ihrem  Grundleiden 
zusammen,  die  Therapie  desgleichen,  doch  hat  man  einige  Mittel  direct 
gegen  die  Coordinationsstörungen  und  namentlich  gegen  die  Ataxie  anem- 
pfohlen. Früher  wollte  man  diese  Störungen  durch  die  Bettruhe  vermindern, 
heute  ist  man  mehr  für  methodische  Gehübungen  eingenommen.  Bei  dieser 
letzteren  sollen  die  Patienten  jjeführt  werden  und  sie  müssen  trachten,  die 
Coordination  von  Neuem  zu  erlernen.  Einigen  Kranken  hilft  die  Suspension 
nach  Motschutkowski-Charcot,  Andere  werden  mit  mehr  —  weniger  Er- 
folg elektrisirt,  massirt  und  hydropathisch  behandelt.  Brown-Sequard  und 
seine  Anhänger  beschreiben  Wundercuren  mit  der  Hodenflüssigkeit.  Schade, 
dass  alle  diese  und  viele  andere  meistens  ohne  jeden  Erfolg  versucht  werden, 
und  glücklich  Der,  der  in  einem  Moment  der  nicht  so  seltenen  spontanen 
Remissionen  bei  der  tabischen  Ataxie  eine  neue  Cur  beginnt !       jendrassik. 

Croup  {Laryngotracheitis  ßbrinosa,  Croup  cVemhUe,  häutige  Bräune). 
Das  aus  dem  Schottischen  stammende  Wort  bezeichnet  nach  Cooke  den 
Pips,  eine  weisse  Auflagerung  auf  der  Zunge  junger  Hühner,  nach  Wilson 
ist  es  auf  einen  altdeutschen  Stamm  zurückzuführen,  der  gleichbedeutend 
ist  mit  Schrei.  In  die  medicinische  Literatur  wurde  es  eingeführt  durch 
das  bekannte  Werk  von  Francis  Home  :  Inquing  info  the  natiire,  cause  and 
eure  of  the  croup.  Edinh.  1765.  Er  schildert  darin  sowohl  die  durch  katar- 
rhalische Schwellung  als  die  durch  fibrinöse  Auflagerungen  im  Kehlkopf  hervor- 
gerufenen Krankheitserscheinungen,  die  er  als  verschiedene  Stadien  einer  und 
derselben  Krankheit,  der  Suffocatio  stridula,  betrachtet. 

Erst  später  lernte  man  den  durch  acute  katarrhalische  Schwellung 
hervorgebrachten  Zustand,  den  sogenannten  Pseudocroup,  von  dem  mit 
Membranbildung  einhergehenden  trennen,  für  welch  letzteren  die  Bezeichnung 
Croup  oder  echter  Croup  reservirt  wurde.  Leider  wurde  das  rasch  einge- 
bürger;e  Wort   alsbald   noch   in   anderem  Sinne  gebraucht,   so   gebrauchten 

18* 


276  CROUP. 

und  gebrauchen  heute  noch  viele  Autoren  das  Wort  für  jene  Fälle  von 
Laryngotracheitis  librinosa,  welche  nicht  durch  diphtherische  Infection 
hervorgebracht  sind,  also  in  einem  ätiologischen  Sinne,  und  Virchov^  hat 
die  Bildung  fester,  fibrinöser,  der  Schleimhaut  nur  locker  aufgelagerter. 
Membranen  als  Croup  (croupöse  Entzündung)  der  Schleimhaut  bezeichnet. 
Indem  er  diese  croupöse  der  sogenannten  diphtheritischen  Schleimhaut- 
entzündung, bei  welcher  das  fibrinöse  Exsudat  in  die  obersten  nekrotisirten 
Schichten  der  Schleimhaut  abgesetzt  wird,  gegenüberstellte,  gab  er  Veran- 
lassung zu  einer  heillosen  Verwirrung  des  Croupbegriffes,  welche  selbst 
dadurch  noch  nicht  genügend  beseitigt  ist,  dass  man  in  jedem  Fall  aus- 
drücklich hinzusetzt,  ob  man  das  Wort  in  ätiologischem,  anatomischem  oder 
klinischem  Sinne  gebrauche.  Zur  Beseitigung  derselben  scheint  es  am  zweck- 
mässigsten,  das  Wort  croupös  als  Bezeichnung  eines  anatomischen  Verhaltens 
gänzlich  fallen  zu  lassen  und,  wie  dies  bereits  vielfach  geschieht,  durch 
fibrinös  zu  ersetzen,  das  W^ort  Croup  aber  auf  die  Bezeichnung  des 
durch  die  Bildung  häutiger  Auflagerungen  im  Kehlkopf  ent- 
stehenden Symptombildes,  gleichviel  aus  welcher  Ursache  dasselbe 
entstanden,  zu  beschränken.  Die  Natur  des  Krankheitsprocesses  müsste  dann 
in  jedem  Falle  erst  durch  die  wissenschaftlich  richtige  Bezeichnung : 
Laryngo-tracheitis  diphtherica,  non  diphtherica  etc.  angegeben  werden.  Es 
empfiehlt  sich  diese  auch  historisch  gerechtfertigte  Beschränkung  speciell  aus 
praktischen  Gründen,  einmal,  weil  das  Publicum  das  Wort  Croup  gerade  in 
diesem  Sinne  gebraucht  und  sicherlich  noch  weiterhin  gebrauchen  wird, 
dann  aber,  weil  damit  dem  Arzte  die  wichtigste  und  nothwendigste  Directive 
für  sein  Handeln :  die  Beseitigung  der  drohenden  Erstickungsgefahr,  gegeben 
ist,  neben  welcher  die  Erforschung  des  ätiologischen  Momentes  zunächst 
wenigstens  an  Wichtigkeit  zurücktritt. 

Die  beim  Croup  auftretenden  Symptome  setzen  sich  zusammen  aus 
solchen,  die  durch  ungenügenden  Luftzutritt  zu  den  Lungen  und  solchen, 
welche  durch  die  Anwesenheit  der  fibrinösen  Entzündung  hervorgerufen 
sind.  Die  ersteren  sind  die  weitaus  wichtigeren,  jedoch  für  Croup  keines- 
wegs charakteristisch,  da  sie  in  gleicher  Weise  durch  katarrhalische 
Schwellungszustände ,  Oedema  glottidis,  Tumoren  etc.  veranlasst  werden 
können.  Sie  bestehen  zunächst  in  einer  Veränderung  des  Athemtypus  in  der 
Art,  dass  bei  kräftigen  Kindern  die  Inspiration  angestrengt,  von  hörbarem 
Stridor  oder  krähenden  Geräuschen  begleitet  und  verlängert  wird,  die  Ex- 
spiration zwar  lautlos  oder  mit  viel  schwächerem  Stridor  aber  gleichfalls 
unter  starker  Betheiligung  der  Bauchmusculatur  activ  und  noch  mehr  ver- 
längert vor  sich  geht.  Die  normale  Athempause  kommt  dadurch  in  Wegfall, 
die  Zahl  der  Respirationen  in  der  Minute  wird,  wenngleich  nicht  constant, 
verringert  (gemischte  Dyspnoe).  Gleichzeitig  stellen  sich  während  der  mit 
Anstrengung  aller  Hilfsmuskeln  ausgeführten  Einathmung  Aspirationserschei- 
nungen am  Thorax  ein,  welche  dadurch  bedingt  sind,  dass  in  Folge  des 
ungenügenden  Zutrittes  von  Luft  durch  die  verengte  Glottis  der  Luftdruck 
im  Innern  beträchtlich  vermindert  wird,  und  die  nachgiebigen  Thoraxpartien 
nach  innen  einsinken.  Solche  sind  die  Supraclavicular-  und  die  Jugulargrube, 
bei  Kindern  die  Ansatzstellen  des  Diaphragma  an  der  vorderen  Thorax- 
apertur, bei.  rhachitischen  mehr  die  seitlichen,  bei  älteren  mehr  die  mitt- 
leren mit  dem  Processus  xiphoideus,  welch'  letzterer  manchmal  bis  fast 
zur  Wirbelsäule  hin  eingezogen  wird.  Auch  das  Abwärtssteigen  des  Kehl- 
kopfs während  der  Inspiration  auf  das  Gerhardt  aufmerksam  gemacht, 
gehört  hierher.  Die  gleichen  Verhältnisse  führen  an  den  Lungen  zu  einer 
abnormen  Ausdehnung  (Blähung)  der  oberen  dem  Zug  der  kräftigen  inspira-' 
torischen  Hilfsmuskeln  ausgesetzten  Lungenpartien,   nicht  selten  auch  durchs 


CROUP.  277 

Platzen  einzelner  Lungenbläschen  zu  subpleuralem  und  interstitiellem  Em- 
physem, während  es  in  den  unteren  zu  einer  Anschoppung  des  Blutes,  zur 
Bildung  von  Atelectasen  und  lobulär-pneumonischen  Herden  kommt.  Trotz- 
dem kommt  es,  so  lange  die  Bronchien  frei  bleiben,  in  Folge  der  ungenü- 
genden Exspiration  zu  einer  Ansammlung  von  Residualluft  und  damit  zu 
einer  wachsenden  Ausdehnung  und  Inspirationsstellung  der  Lunge,  wobei 
der  untere  Lungenrand  mehr  und  mehr  schliesslich  bis  zur  Ijmschlagstelle 
der  Pleura  hinabgedrängt  wird.  Die  Rückwirkung  dieser  Verhältnisse  auf 
den  Gaswechsel  ist  eine  trotz  der  angestrengten  Athmung  ungenügende 
Zufuhr  von  Sauerstoff  und  eine  zunehmende  Ueberladung  des  Blutes  mit 
Kohlensäure.  Die  weitere  Folge  ist  dann  eine  allmälig  sich  ausbildende 
Kohlensäurevergiftung,  die  sich  in  der  hochgradigen  Cyanose,  Sinken  des 
Blutdruckes,  Benommenheit  und  schliesslich  Lähmung  des  Respirations-  und 
Circulationscentrums  äussert.  Die  Circulation  wird  aber  schon  früher  direct 
geschädigt,  indem  die  forcirten  Inspirationen  ein  Sinken  des  Blutdrucks  bis 
zum  Unfühlbarwerden  des  Radialpulses  bewirken,  die  gedehnten  Exspira- 
tionen und  der  häufige  Husten  den  Abfluss  des  venösen  Blutes  nach  dem 
Thorax  erschweren,  und  so  zur  Entwicklung  der  Cyanose  beitragen. 

Die  physikalischen  Erscheinungen,  welche  auf  die  membra- 
nöse  Natur  des  Athmungshindernisses  schliessen  lassen,  sind:  allmälige 
Steigerung  der  Athemnoth  mit  intercurrenten  Stfckanfällen,  totale  Aphonie 
der  Stimme  und  des  Hustens,  klappende  und  schnarrende  Geräusche  im 
Kehlkopf,  insbesondere  nach  der  Tracheotomie.  Den  sicheren  Nachweis 
liefert  die  laryngoskopische  Untersuchung  oder  die  Expectoration  von 
röhrenförmigen  Membranstücken,  die,  wenn  sie  aus  der  Trachea  stammen 
nicht  selten  ein  eigenthümlich  gesticheltes  Aussehen  zeigen. 

Noch  ein  Wort  über  die  eigentliche  Ursache  der  Laryngostenose!  Man 
könnte  versucht  sein  zu  glauben,  dass  die  Verengerung,  welche  die  ohnehin  schmale 
kindliche  Glottis  durch  die  Auflagerung  der  Membranen  auf  den  schmalen  Rand  der 
Stimmbänder  erleidet,  allein  eine  hinreichende  Erslärung  für  die  Entstehung  derselben 
und  ihr  Vorkommen  gerade  im  kindlichen  Alter  liefern.  Die  laryngoskopische 
Untersuchung  croupkranker  Kinder  sowie  die  Sectionsbefunde  haben  diese  Auffassung 
nicht  bestätigt;  dieselbe  ist  vielmehr  wie  wir  aus  den  Untersuchungen  von  Rauchfuss, 
PiENAZEK  u.  A.  wissen,  zum  grösseren  Theile  durch  die  Behinderung  der  Abductions- 
bewegung  der  Stimmbänder  veranlasst.  Man  sieht  ich  kann  dies  aus  eigener  Unter- 
suchung bestätigen  —  die  Stimmbänder  der  Medianlinie  genähert,  unbeweglich  fixirt,  so 
dass  die  Glottis  einen  schmalen  fast  linearen  Spalt  bildet,  der  bei  tiefen  Inspirationen 
sich  sogar  noch  weiter  verengert.  Die  Adduction  beim  Phoniren  ist  unbehindert.  Als 
Grund  dieser  behinderten  Bewegung  nach  aussen  betrachtet  Piexazek  die  in  dem  Inter- 
arytänoidalraum  befindlichen  fibrinösen  Membranen,  welche  die  Aryknorpel  mechanisch 
einander  nähern,  ohne  dass  die  schwachen  Glottiserweiterer  des  Kindes  diesen  Zug  zu 
überwinden  vermögen. 

In  der  weitaus  grössten  Zahl  der  Fälle  wird  die  Diagnose  des 
fibrinösen  Croup  dadurch  erleichtert,  dass  schon  vor  Beginn  der  croupösen 
Erscheinungen  oder  gleichzeitig  mit  denselben  Membranen  im  Rachen  er- 
scheinen, die  mit  Sicherheit  als  diphtherische  bezeichnet  werden  können.  Man 
spricht  dann  von  einem  absteigenden  Croup.  Sehr  viel  seltener  und  schwieriger 
sind  diejenigen  Fälle  zu  beurtheilen,  in  welchen  sich  die  Croupsymptome 
an  eine  membranöse  Erkrankung  der  tieferen  Bronchien  anschliessen ;  doch 
glaube  ich  solche  zweimal  im  Anschluss  an  Pneumonie  und  Bronchitis  beob- 
achtet zu  haben  (aufsteigender  Croup).  Auch  nach  anderen  Infectionskrank- 
heiten  wird  Croup  beobachtet,  so  besonders  häufig  nach  Masern,  nach 
Scharlach,  Pertussis,  Erysipel,  Pneumonie.  Die  Besprechung  dieser  Formen 
gehört  in  das  die  betreffenden  Erkrankungen  behandelnde  Capitel,  jedoch  sei 
hier  erwähnt,  dass  es  sich  dabei  um  ätiologisch  ganz  verschiedenartige  Dinge 
und  nicht  immer  um  Complicationen  mit  Diphtherie  handelt. 

Im  Gegensatze  zu  diesem  im  Gefolge  anderer  Erkrankungen  auftretenden 


278  CROUP. 

secundären  Croup  bezeichnet  man  diejenigen  Fälle,  in  welchen  die  fibrinösen 
Auflagerungen  im  Kehlkopf  und  Trachea  beginnen,  als  primäre  Croupfälle, 
auch  Croup  im  engeren  Sinne  des  Wortes,  Croup  d'emblee  der  Franzosen. 
Nur  von   diesem  soll  im  Folgenden  die  Rede  sein. 

Die  weitaus  häufigste  Ursache  des  primären  wie  des  secundären 
Croup  ist  die  Diphtherie.  Das  Verdienst,  diese  Zugehörigkeit  erkannt 
zu  haben,  gebührt  Bretonneau,  dem  genialen  Begründer  der  Lehre  von 
der  Diphtherie.  Seine  Anschauung  fand  vielfach  Widerspruch,  allein  die 
neuesten  bakteriologischen  Untersuchungen  ergaben  in  der  That,  dass  auch 
in  den  klassischen  Croupfällen  die  LöFFLER'schen  Bacillen  gefunden  wurden 
(Kolisko-Paltaup,  Concetti,  E.  Feaenkel).  Sie  können  selbst  dann  vor- 
handen gewesen  sein,  wenn  sie  zur  Zeit  der  Untersuchung  vermisst  werden. 
Jedenfalls  kann  ein  Zweifel  darüber  nicht  bestehen,  dass  die  Mehrzahl  der 
Croupfälle  ätiologisch  als  primäre  Diphtherien  des  Kehlkopfes  und  der 
Trachea  betrachtet  werden  müssen,  und  verweise  ich  betreffs  des  anatomischen 
Befundes  auf  das  diese  Erkrankung  behandelnde  Capitel. 

Mit  dieser  Annahme  steht  auch  das  in  Uebereinstimmung,  was  wir 
über  das  Vorkommen  und  die  Verbreitung  der  Krankheit  wissen. 
Zunächst  entspricht  die  ganz  vorwiegende  Betheiligung  der  jüngsten  Alters- 
classen  zwischen  2 — 7  Jahren  durchaus  dem  bei  der  Diphtherie  im  Allge- 
meinen beobachteten  Verhalten.  Aus  der  Säuglingsperiode  wie  aus  dem 
höheren  Alter  werden  nur  vereinzelte  Fälle  berichtet.  Auch  das  örtliche 
und  zeitliche  Auftreten  des  Croup  zeigt  die  gleiche  Uebereinstimmung. 
Nach  Hirsch  sind  besonders  die  höheren  Breitegrade  und  die  kalten,  feuchten 
Winden  ausgesetzten  Gegenden  von  demselben  heimgesucht,  und  nimmt  die 
Häufigkeit  desselben  gegen  die  Tropen  zu  ab.  Die  Zeit  der  jähen  Temperatur- 
wechsel, somit  die  kalten  Monate  November  bis  Mai,  sind  dem  Auftreten 
der  Croupfälle  am  günstigsten.  Eine  individuelle  Disposition  könnte  höchstens 
in  der  leichten  Verletzlichkeit  oder  in  schon  bestehenden  katarrhalischen  Ver- 
änderungen des  Epithels  der  Luftwege  gefunden  werden.  Nach  der  Angabe 
der  Autoren  kommt  der  Croup  sowohl  in  epidemischer  und  endemischer 
Ausbreitung  als  sporadisch  vor.  Auch  diese  sporadischen  Fälle  stehen  zu 
Diphtherieepidemien  insofeme  in  einem  gewissen  Zusammenhang,  als  sie 
denselben  vorauszugehen  oder  nachzufolgen  pflegen.  So  berichtet  Bartels, 
dass  dem  Ausbruch  der  Diphtherie  in  Kiel  im  Jahre  1862  durch  eine  Reihe 
von  Jahren  sporadische  Croupfälle  vorausgegangen.  Dasselbe  erzählt  Minnich 
von  Salzburg.  Die  wenigen  Fälle,  welche  ich  zu  beobachten  Gelegenheit  hatte, 
fallen  gleichfalls  in  eine  sonst  von  Diphtherie  freie  Periode.  Im  Uebrigen 
bin  ich  der  Meinung,  dass  sicher  constatirte  Fälle  von  primärer  Kehlkopf- 
diphtherie heutzutage  überaus  selten  sind.  Wenn  man  die  Möglichkeit  in 
Betracht  zieht,  dass  Membranen  an  nicht  sichtbaren  Theilen  der  Nasen- 
oder Rachenhöhle  vorhanden  oder  dass  dieselben  zur  Zeit  der  Untersuchung 
bereits  wieder  geschwunden  sind,  so  bleiben  unter  den  Hunderten  von  mir 
beobachteten  Diphtheriefällen  kaum  2  oder  3,  welche  ich  in  diesem  Sinne 
als  reine  Croupfälle  ansprechen  möchte.  Auch  die  anderen  Autoren  geben  an, 
dass  in  dem  Maasse,  in  dem  die  Diphtherie  endemisch  geworden,  die  primären 
Croupfälle  immer  seltener  beobachtet  werden. 

Gleichwohl  wird  von  klinischer  Seite  noch  immer  sm  der  Existenz 
eines  nicht  diphtherischen,  fibrinösen  Croup  festgehalten,  der  sich  durch  das 
sporadische  Auftreten,  die  Begrenzung  auf  die  oberen  Partien  des  Bronchial- 
baumes und  die  günstigen  Heilresultate  der  Tracheotomie  von  dem  diphthe- 
rischen unterscheiden  soll.  Ausgehend  von  der  schon  Bretonneau  bekannten 
Thatsaehe,  dass  es  gelingt,  durch  Einathmung  von  Ammoniakdämpfen  in 
der  Trachea  von  Kaninchen  fibrinöse  Membranen  zu  erzeugen,  glaubte  man 


CROUP.  279 

als  Ursache  derselben  einen  durch  athmosphärische  Einflüsse  besonders 
gesteigerten  Entzündungsprocess  annehmen  zu  können.  Dies  dürfte  aber  nur 
für  die  seltenen  Fälle  zutreffen,  in  welchen  evidente  schädliche  Stoffe  wie 
Verbrennungsgase,  Salzsäuredämpfe  etc.  eingeathmet  wurden.  Für  die  gewöhn- 
lichen Fälle  muss  auch  hier  auf  Bacterien  als  Erreger  zurückgegriffen 
werden,  und  die  bacteriologischen  Untersuchungen  haben  allerdings  gezeigt, 
dass  ausser  dem  LÖFFLEE'schen  Bacillus  auch  noch  andere  Mikroorganismen 
im  Stande  sind,  durch  ihre  Ansiedlung  auf  der  Schleimhaut  membranöse 
Entzündungen  hervorzurufen.  Auf  der  der  Untersuchung  leichter  zugäng- 
lichen Rachenschleimhaut  kennen  wir  bereits  eine  Reihe  von  sogenannten 
diphtheroiden  d.  h,  klinisch  der  Diphtherie  durchaus  ähnlichen  Krankheits- 
processen.  Es  ist  mehr  als  wahrscheinlich,  dass  die  Kehlkopfschleimhaut 
sich  ähnlich  verhält.  In  der  That  sind  von  Martin  Croupfälle,  und  zwar 
sowohl  primär  im  Kehlkopf  localisirte  als  secundäre,  mit  Belägen  im  Rachen 
beginnende  beschrieben  worden,  bei  welchen  der  Diphtheriebacillus  während 
der  ganzen  Dauer  der  Erkrankung  vermisst  und  statt  dessen  ein  kleiner 
Coccus  gefunden  wurde.  Jedoch  geht  aus  der  Schilderung  nicht  hervor,  ob 
bei  den  Croupfällen  wirklich  Membranen  vorhanden  waren  Ich  selbst  verfüge 
über  zwei  Beobachtungen,  einen  vom  Rachen  absteigenden  und  einen  primären 
fibrinösen  Croup,  in  denen  es  mir  trotz  zahlreicher  Untersuchungen  nicht 
gelang  LöFPLEE'sche  Bacillen  nachzuweisen.  Die  Zahl  dieser  nicht  diphtheri- 
schen Croupfälle  ist  noch  zu  gering,  als  dass  es  möglich  wäre  Näheres  über 
ihr  Vorkommen  und  die  ihnen  eigenthümlichen  pathologischen  Veränderungen 
zu  sagen.  Ihr  klinischer  Verlauf  ist  in  der  Regel  ein  günstiger. 

Die  vielbesprochene  Frage  der  Contagiosität  beantwortet  sich 
nach  dem  Vorstehenden  dahin,  dass  die  Möglichkeit  der  Ansteckung  ent- 
schieden vorhanden  ist,  wenn  auch  die  primäre  Localisation  des  infectiösen 
Krankheitsprocesses  im  Kehlkopf  auf  einen  mehr  gutartigen  Charakter  und 
geringere  Neigung  des  Infectionsstoffes  zur  Ausbreitung  nach  den  Bronchien 
hinweist. 

Man  kann  bei  der  Erkrankung  nach  dem  Vorgange  von  Rauchfüss 
zweckmässig  3,  übrigens  nicht  scharfgeschiedene  Stadien  unterscheiden. 

1.  Prodromale  Erscheinungen  im  Wesentlichen  den  Symptomen 
einer  acuten  Larijngo-tracheitis  entsprechend  bis  zu  den  Erscheinungen  der 
Stenose. 

2.  Stetige  oder  progressive  Erscheinungen  der  Larijngo-stenose  mit 
sufficirten  Compensationen. 

3.  Wachsende  Stenose  mit  Compensationsstörung  und  Asphyxie. 
Das  erste  Stadium    kann  sehr  kurz  sein,    so  dass  es  ganz  zu  fehlen 

scheint,  und  die  Krankheit  sofort  mit  stenotischen  Erscheinungen  beginnt. 
Da,  wo  es  vorhanden,  findet  man  Heiserkeit,  trockenen,  bellenden  Reizhusten 
ohne  Expectoration,  Kitzel  im  Halse,  Krankheitsgefühl  entsprechend  der 
Höhe  des  in  der  Regel  vorhandenen  Fiebers.  Bei  der  laryngoskopischen 
Untersuchung  erscheint  die  Schleimhaut  des  Kehlkopfes  dunkel  geröthet, 
gesehwellt,  stellenweise  mit  reifähnlichen  Auflagerungen  versehen.  In  den 
acutesten  Fällen  werden  die  ersten  Beläge  frühestens  12  Stunden  nach 
Beginn  der  Erkrankung  gefunden;  in  anderen  Fällen  treten  die  genannten 
Symptome  viel  allmäliger  im  Laufe  von  Tagen  in  Erscheinung,  ehe  es 
zur  Entwicklung  des  zweiten  Stadiums  kommt. 

Klinisch  ist|  dieses  ausgezeichnet  durch  die  eingangs  erläuterten 
Erscheinungen  der  Laryngostenose.  Kleinere  Kinder  liegen  in  Seitenlage  mit 
nach  rückwärts  gebeugtem  Kopfe,  grössere  sitzen  zumeist  mit  angestemmten 
Händen  und  ängstlichem  Gesichtsausdruck  aufrecht  im  Bette.  Die  angestrengte 
Athemthätigkeit  wird  unterbrochen  durch  Husten,  der  klanglos  fast  unhörbar 


280  CROUP. 

erfolgt  und  manchmal  unter  Würgbewegungen  von  den  Expectorationen  von 
Membranen  gefolgt  ist,  oder  durch  Stickanfälle,  die  durch  vorübergehende 
Verlegung  der  Stimmritze  durch  Secret  oder  abgelöste  Membranen  veranlasst 
sind.  In  diesen  steigert  sich  die  Athemnoth  aufs  höchste,  die  Kinder  ver- 
langen stürmisch  auf  den  Arm  der  AVärterin,  die  sie  mit  den  Händchen 
umklammern. 

Laryngoskopisch  findet  man  Auflagerungen,  zunächst  noch  nicht 
confluirend  als  weisse  Inseln  der  Schleimhaut  des  Kehlkopfeinganges  auf- 
gelagert. Alsbald  jedoch  sieht  man  eine  einzige  weiss  bis  weiss-gelbliche 
zusammenhängende  Membran,  die  sich  von  dem  Rande  der  Epiglottis,  die 
hintere  Fläche  desselben  überziehend,  über  die  Taschen-  und  Stimmbänder 
hinweg  in  die  Tiefe  der  Glottis  senkt.  Die  Bima  selbst  erscheint  zu  einem 
schmalen,  unveränderlichen  Spalte  verengt,  bisweilen  kommen  darunter  noch 
die  geschwellten  und  mit  Belag  bedeckten  Schleimhautwülste  der  Regio  sub- 
glottica  zum  Vorschein. 

Die  Inspiration  während  des  Stickanfalles  erfolgt  unter  Anstrengung 
aller  Hilfsmuskeln  langgezogen  mit  krähenden  Geräuschen  und  tiefen  Ein- 
ziehungen unvollständig  oder  in  mehreren  Absätzen,  dabei  wird  das  Gesicht  dunkel- 
blau, cyanotisch,  die  Augen  treten  hervor.  Mund  und  Nasenflügel  sind  erweitert, 
die  Züge  gleich  denen  eines  Erstickenden  verzerrt.  Nach  der  gewaltigen  An- 
strengung der  Inspirationsbewegung  sinkt  das  Kind  erschöpft  zurück,  es  folgen 
eine  Reihe  oberflächlicher  kurzer  Athemzüge,  dann  erholt  sich  das  Kind  und 
kehrt  scheinbar  zu  dem  früheren  Zustande  zurück.  Scheinbar,  denn  in  Wirk- 
lichkeit markiren  diese  Stickanfälle  die  fortschreitende  Verschlimmerung 
und  beschleunigenden  Verfall  der  Kräfte.  Es  drückt  sich  dies  auch  alsbald 
durch  den  Nachlass  der  compensirenden  Muskelthätigkeit,  durch  die  raschere 
und  oberflächlichere  Athmung,  sowie  das  Sinken  der  Herzkraft  aus.  Damit 
tritt  der  Kranke  in  das  dritte,  das  asphyktische  Stadium. 

Die  Kinder  liegen  nunmehr  in  passiver  Rückenlage,  an  Stelle  des  auf- 
regenden Kampfes  um  Luft  ist  eine  Ruhe  getreten,  welche  die  Angehörigen 
oft  über  die  Gefahr  dieser  Aenderung  hinwegtäuscht.  Allein  die  tief 
halonirten  Augen,  die  Kühle  der  Extremitäten,  die  rasch  zunehmende 
Cyanose,  der  ungemein  frequente  kaum  fühlbare  Puls,  endlich  ein  gewisser 
Grad  von  Apathie,  ja  Benommenheit  gestatten  keinen  Zweifel,  dass  es  sich 
hier  um  eine  beginnende  Kohlensäureintoxication  handelt.  In  rascher  Folge 
kommt  es  dann  zu  Tracheairasseln,  und  nach  einer  mehr  weniger  protrahirten 
Agonie  zum  Tode.  Das  Ganze  kann  sich  in  Zeit  weniger  Stunden  oder  Tage 
abspielen  oder  aber  durch  einen  Zeitraum  von  8 — 14  Tagen  hinziehen. 

Nicht  in  allen  Fällen  durchläuft  die  Krankheit  all  diese  Stadien.  Es 
gibt  leichte  Fälle  insbesondere  bei  älteren  Kindern,  bei  denen  nur  Aphonie 
und  Andeutung  von  Athemnoth  durch  kürzere  oder  längere  Zeit  bestehen 
und  erst  das  Erscheinen  der  Membranen  im  Rachen  oder  im  Auswurf  die 
Diagnose  sichert.  Auch  schwere  Erkrankungen  mit  ausgesprochen  stenotischen 
Erscheinungen  und  Stickanfällen  können  sich  noch  unter  Ausstossen  von 
Gerinnseln  und  Auftreten  reichlichen  schleimigeitrigen  Secretes  zurückbilden. 
Am  häufigsten  wird  das  Bild  durch  die  später  zu  erwähnenden  operativen 
Eingrifi'e,  sowie  durch  Complicationen  verändert. 

Auch  die  begleitenden  Erscheinungen  können  sehr  verschieden  sein. 
Schwere  Fälle  zeigen  meist  hohes,  remittirendes  Fieber,  wenigstens  solange 
die  Membranbildung  im  Fortschreiten  ist  und  die  der  diphtherischen 
Intoxication  zukommenden  Allgemeinerscheinungen ;  bei  leichten  kann  das 
Fieber  bis  auf  eine  initiale  Temperatursteigerung  völlig  fehlen;  ebenso 
Albuminurie,  Milztumor,  Drüsenschwellung,  überhaupt  jede  beträchtliche 
Störung  des  Allgemeinbefindens.    Trotzdem   kann  es  sich,    wie  die  bakterio- 


CROUP.  281 

logische  Untersuchung  zeigt,  auch  bei  diesen  um  einen  echten  diphtheriti- 
schen,  freilich  auf  die  örtliche  Wirkung  beschränkten  Process  handeln. 

Unter  den  Complicationen  ist  das  Absteigen  der  fibrinösen  Aus- 
schwitzung, die  Bronchitis  ßbrinosa,  die  weitaus  häufigste  und  gefährlichste. 
Sie  tritt  zu  dem  primären  Croup  zwar  seltener  als  zu  dem  von  den  Rachen- 
organen absteigenden,  aber  immerhin  noch  in  Vs  ^^^  Va  der  Fälle  hinzu.  Der 
nach  den  Bronchien  absteigende  Croup  zeigt  sich  meist  in  den  ersten 
Tagen  nach  Eintritt  der  Laryngostenose  und  wird  daher  meist  bei  Tracheoto- 
mirten  beobachtet.  Er  setzt  ein  mit  mehr  minder  bedeutender  Temperatur- 
steigerung. Die  Respirationsfrequenz  steigt  trotz  Tracheotomie  auf  40  bis 
80  Athemzüge  in  der  Minute,  über  der  Lunge  hört  man  trockenes  Rasseln, 
in  den  unteren  Partien  abgeschwächtes  Athmen,  die  nach  der  Operation 
geschwundenen  Einziehungen  am  Zwerchfellansatz  werden  von  Neuem  bemerk- 
bar, zugleich  die  Erscheinungen  einer  allmälig  fortschreitenden  Kohlensäure- 
vergiftung :  fahle  Blässe  der  Haut,  livide  Färbung  der  Schleimhäute,  Sinken 
des  Blutdruckes,  Apathie  und  Benommenheit  des  Sensoriums,  unter  denen 
dann  auch  unaufhaltsam  der  Tod  eintritt. 

Heubnee  bemerkt,  dass  an  der  Schwere  und  Raschheit  des  Eintrittes 
dieser  Erscheinungen  auch  die  directe  schwächende  Einwirkung  des  diplithe- 
ritischen  Toxines  auf  das  Herz  betheiligt  ist.  Nach  Bartels  breitet  sich 
die  fibrinöse  Bronchitis  mit  Vorliebe  nach  den  blut-  und  saftreicheren  unteren 
Partien  der  Lunge  aus. 

An  Stelle  des  bis  in  die  feinsten  Bronchien  absteigenden  Croup  trifft 
man  namentlich  bei  Kindern  der  ersten  Lebensjahre  eine  diffuse  katarrhali- 
sche Bronchitis  und  Bronchiolitis,  die  man  als  unmittelbare  Fortsetzung 
des  Krankheitsprocesses  oder  als  Ausdruck  der  durch  die  Stenose  behinderten 
Expectoration  auffassen  kann.  Man  hört  über  den  Lungen,  besonders  den 
unteren  Partien  zahlreiche  feuchte  Rasselgeräusche,  stellenweise  klingend, 
und  schwach  bronchiales  Athemgeräusch.  Die  Erscheinungen  der  Broncho- 
stenose  und  Kohlensäureintoxication  entwickeln  sich  in  ähnlicher  Weise  wie 
bei  dem  absteigenden  Croup  und  führen  bei  dem  zarten  Alter  der  Patienten 
meist  rasch  zu  dem  tödtlichen  Ende. 

In  Begleitung  und  im  Gefolge  der  genannten  Complicationen  stellt 
sich  fast  regelmässig  eine  mehr  oder  weniger  ausgebreitete  Katarrhal- 
pneumonie ein,  welche  durch  Aspiration  des  Bronchialsecretes  hervorgerufen 
wird  und  je  nach  der  Art  der  darin  enthaltenen  Infectionserreger  die 
lobuläre  (Streptococcen)  oder  die  pseudolobäre  (Pneumococcus)  Form  an- 
nimmt. Ihr  Erscheinen  wird  aus  den  bekannten  auscultatorischen  Erschei- 
nungen erschlossen,  doch  darf  auf  das  Vorhandensein  kleiner  Herde  auch 
bei  einfach  bronchitischen  Symptomen  geschlossen  werden,  wenn  ein  durch 
andere  Erscheinungen  nicht  erklärbares,  hohes,  leicht  remittirendes  Fieber 
vorhanden  ist.  Die  pneumonischen  Erscheinungen  können  die  fibrinöse 
Exsudation  noch  lange  überdauern  und  gefährden  noch  nach  Ablauf  der 
letzteren  das  Leben  des  Patienten  in  hohem  Grade.  Monti  hat  den  Ueber- 
gang  in  die  chronische  Form  der  Pneumonie  beobachtet. 

Die  bei  den  Sectionen  fast  stets  vorhandene  Lungenblähung  und  das 
interstitielle  Emphysem  machen,  abgesehen  von  dem  Tiefstande  der  unteren 
Lungenränder,  keine  besonderen  klinischen  Erscheinungen.  Nur  in  den 
seltensten  Fällen  kommt  es  durch  Platzen  eines  Alveolus  zu  Emphysem 
des  Mediastinums  und  des  Unterhautzellgewebes  oder  Pneumothorax  (Cnopf). 

Als  Na chk rankheit  können,  wie  bei  allen  diphtherischen  Erkran- 
kungen, Lähmungszustände  auftreten.  Der  einzige  Fall  von  sensibler  Kehl- 
kopflähmung,  den  ich  zu  beobachten  Gelegenheit  hatte,  trat  nach  Ablauf 
eines  durch  Tracheotomie  geheilten  Croupfalles  auf. 


282  CROUP. 

Die  Dauer  der  Erkrankung  bis  zur  entschiedenen  Abnahme  der 
stenotischen  Erscheinungen  oder  dem  Eintritt  des  Todes  beträgt  nach 
Rauchfuss  6 — 8  Tage.  Die  Laryngostenose  erreicht  durchschnittlich  am 
dritten  Tage  so  hohe  Grade,  dass  die  Operation  nothwendig  wird.  "  An- 
dauerndes hohes  Fieber  ist,  wenn  andere  Ursachen  dafür  nicht  erkennbar, 
ein  Zeichen  der  fortschreitenden  Ausbreitung  der  Exsudationen.  Albuminurie 
ist  ein  prognostisch  ungünstiges  Symptom  der  diphtherischen  Allgemein- 
intoxication.  Weitere  prognostische  Anhaltspunkte  gibt  das  Verhalten  der 
Kinder  nach  der  Tracheotomie  (siehe  oben),  sowie  das  Aussehen  der  die 
Trachea  auskleidenden  Membranen.  Locker  aufliegende,  röhrenförmige, 
zusammenhängende  Fibrinauflagerungen  gestatten,  selbst  wenn  sie  eine 
beträchtliche  Dicke  (bis  zu  3  mm)  aufweisen,  eine  günstigere  Vorhersage, 
als  dünne,  festhaftende,  der  Schleimhaut  eingelagerte,  im  anatomischen 
Sinne  diphtheri tische.  Die  günstigere  Prognose,  welche  der  primäre  Kehl- 
kopfcroup  gegenüber  dem  vom  Rachen  absteigenden  darbietet,  beruht  im 
Wesentlichen  darauf,  dass  die  Häufigkeit  der  sogenannten  croupösen,  respec- 
tive  fibrinösen  Form  der  Exsudationen  über  die  diphtheritische  überwiegt. 

Von  Einfluss  ist  ferner  das  Alter.  Kinder  unter  2  Jahren  sind  viel 
mehr  gefährdet  als  ältere;  doch  soll  auch  bei  diesen  die  Tracheotomie 
versucht  werden.  Die  Mortalität  schwankt  sehr,  ist  auch  von  dem  recht- 
zeitigen Eingreifen  des  Arztes  abhängig,  beträgt  65  (Monti)  bis  85  Proc. 
(Rauchfuss).  Martin  hat  von  seinen  nicht  diphtherischen  Croupfällen  nur 
einen  an  Pneumonie  verloren. 

Der  Heilungvorgang  der  schweren  Fälle  leitet  sich  ein  durch  Absinken 
der  Temperatur,  Auftreten  lockerer  Rasselgeräusche  und  Expectoration  von 
Membranen,  welche  nicht  selten  an  der  Unterfläche  Blutspuren  tragen. 
Dieselben  zeigen  jetzt  eine  morsche,  bröcklige  Consistenz,  enthalten  viele 
Rundzellen  und  Coccen.  Gleichzeitig  damit  erscheint  eine  Tracheitis  mit 
reichlichem  schleimigeitrigen  Sputum,  die  sich  noch  lange  in  die  Recon- 
valescenz  hinziehen  kann.  Dabei  werden,  insbesondere  wenn  die  Kinder 
durch  die  Canüle  athmen,  von  Zeit  zu  Zeit  aus  den  Bronchien  stammende 
geballte  Pfropfe  ausgeworfen,  die  man  nicht  mit  Membranen  verwechseln  darf. 

Die  Entwicklung  und  das  Bild  des  Croup  sind  so  charakteristisch, 
dass  die  Diagnose  kaum  auf  Schwierigkeiten  stösst.  Immerhin  wird  man 
gut  thun,  in  zweifelhaften  Fällen  die  laryngoskopische  oder  doch  die  Digital- 
untersuchung des  Schlundes  vorzunehmen,  um  sich  vor  unliebsamen  Ver- 
wechslungen mit  Retropharyngealabscess,  Wirbelcaries,  Fremdkörper,  Oedema 
glottidis  etc.  zu  schützen.  Schwierig,  ja  unmöglich  mag  in  manchen  Fällen 
die  Unterscheidung  von  dem  Pseudocroup,  der  acuten  katarrhalischen  und 
der  im  Beginne  und  nach  Ablauf  der  Morbillen  auftretenden  Laryngitiden 
werden.  Entscheidend  sind  hier  die  früher  angeführten,  für  die  Existenz 
von  Membranen  charakteristischen  Symptome,  sowie  die  laryngoskopische 
Untersuchung,  die  namentlich  bei  dem  ersten  Versuche  auch  bei  wider- 
spänstigen  Kindern  leichter  gelingt  als  man  erwartet.  Wiederholtes  Befallen- 
werden, Auftreten  der  Erkrankung  bei  Nacht  und  rascher  Nachlass  der 
stenotischen  Erscheinungen,  bellender  Husten  und  mehr  heisere,  nicht 
aphonische  Stimme  spricht  für  katarrhalische  Laryngitis.  Die  Natur  der  den 
Exsudationsprocess  veranlassenden  Erkrankung  muss  in  jedem  Einzelfall 
aus  der  Untersuchung  der  Membranen :  Nachweis,  respective  Fehlen  der 
Diphtheriebacillen,  festgestellt  werden.  In  vielen,  jedoch  nicht  allen  Fällen 
von  diphtherischem  Croup  werden  auch  in  dem  von  den  Tonsillen  abge- 
kratzten Schleime  Bacillen  gefunden  und  ermöglichen  so  die  Diagnose. 

Die  Behandlung  der  Laryngotracheitis  fibrinosa  gehört  nur  soweit 
hieher,    als   sie   eine   symptomatische,    auf   die  Einschränkung   des  localen 


CROUP.  283 

Entzimdungsprocesses  und  die  Beseitigung  des  Athemhindernisses  gerichtete 
ist.  Die  Anwendung  ableitender  Mittel,  wie  Senfteig,  Blutegel,  reizende 
Salben  am  Halse,  sind  schon  mit  Rücksicht  auf  die  nachfolgende  Tracheotomie 
in  neuerer  Zeit  fast  ganz  verlassen  worden.  Von  all'  diesen  Mitteln  ist  nur 
noch  die  Kcälte  in  Form  von  Eiscravatte  und  Eispillen  in  Gebrauch  und  auch 
diese  sollte,  nachdem  man  in  allen  Fällen  eine  Infection  als  Ursache  der 
Erkrankung  annehmen  muss,  auf  jene  Fälle  eingeschränkt  bleiben,  in 
welchen  es  zu  einer  stärkeren  Entzündung  der  Gewebe,  zur  Bildung 
diphtheritischer  Schleimhautinfiltrate  und  Lymphdrüsenschwellimgen  ge- 
kommen ist. 

Sehr  viel  wichtiger  und  mannigfaltiger  sind  die  Mittel,  welche  der 
zweiten  Indication,  der  Beseitigung  der  Athemnoth,  dienen  sollen.  Es  muss 
dies  geschehen  durch  Beseitigung  der  Membranen  aus  den  Luftwegen, 
Dieser  Process  kann  einmal  durch  Anregung  von  Hust-  und  Würg- 
bewegungen, dann  aber  durch  Anfeuchtung,  auflösende  Mittel,  Ver- 
mehrung der  Secretion  und  Transsudation  auf  der  Schleimhautober- 
fiäche  begünstigt  werden.  Aus  diesem  Grunde  werden  in  den  leichteren 
Fällen  Expectorantien,  unter  denen  ich  das  die  Secretion  befördernde 
Ayornorplnyi  0-006— 0-01  :  150.  7mt  einigen  Tropfen  Salzsäure  bevorzuge, 
sowie  brechenerregende  Mittel  empfohlen.  Die  Verwendung  der  letzteren 
{Ipecaciianh.  mit  Tart.  stib.,Apomorphin  subcutan)  sollte  man  jedoch  wegen  der 
länger  dauernden  nausealen  Wirkung  und  der  Schwächung  der  Herzkraft  nur 
als  ultimum  refugium  auf  jene  Fälle  beschränken,  in  denen  eine  operative 
Beseitigung  der  Erstickungsgefahr  nicht  in  Frage  kommen  kann.  Der  leider 
so  vielfach  verbreitete  Usus,  die  Kinder  erst  durch  Brechmittel  zu  erschöpfen 
und  dann  zur  Tracheotomie  zu  schreiten,  ist  ganz  verwerflich.  Als  ein 
weniger  zweischneidiges,  namentlich  bei  ausgebreiteter  Bronchitis  oder  be- 
ginnender [Betäubung  verwendbares  Mittel  sind  die  HARDEß'schen  Be- 
giessungen  von  Kopf  und  Nacken  mit  10 — 12"  Wasser.  Dieselben  werden 
in  leichteren  Fällen  im  lauen  Bade,  in  schweren  in  der  leeren  Badewanne 
mit  nachfolgendem  Frottiren  ausgeführt,  so  oft  die  Respiration  oberflächlich 
wird.  Die  weitaus  wirksamste  Methode,  die  Membranen  aus  den  Luftwegen 
zu  entfernen,  ist  die  Tracheotomie  und  die  mechanische  Ausräumung  der 
Trachea.  Gute  Dienste  hat  mir  auch  die  rhythmische  Compression  synchron  mit 
der  Exspiration  ^insbesondere  zur  Herausbeförderung  der  in  den  tieferen 
Luftwegen  befindlichen  Membranen  geleistet. 

Eine  zweite  Gruppe  von  Mitteln  zielt  auf  die  Lockerung  und  Abhebung 
der  fibrinösen  Exsudate  von  der  Schleimhaut  ab,  welche  der  Expectoration 
vorausgehen  muss.  Dahin  gehört  die  möglichste  Anfeuchtung  der  einzu- 
athmenden  Luft  durch  Zerstäuben  oder  Verdampfen  von  Flüssigkeit.  Wir 
verwenden  dazu  meist  denselben  Apparat  wie  bei  der  Nachbehandlung  der 
Tracheotomirten  (siehe  unten).  Wo  dieser  fehlt,  kann  ein  gewöhnlicher 
Theekessel  benutzt  werden,  jedoch  soll  dabei  die  Sorge  für  frische  Luft 
nicht  verabsäumt  werden.  Die  Application  der  die  Membranen  lösenden 
Mittel  im  Kehlkopf  stösst  auf  Schwierigkeiten.  Am  besten  ist  noch  die 
Verwendung  des  SiEGLE'schen  Zerstäubers.  Als  Inhalationsflüssigkeit  empfiehlt 
sich  Natron  hicarhonicum  (2 procentige  Lösung)  oder  statt  dessen  entsprechende 
Mineralwässer  (Emser  Krähnchen,  Viclnj,  Preblauer,  Gleichenherger,  Emma- 
quelle) oder  Kalkwasser,  dem  Küchenmeister  als  „Kohlensäureverschlucker" 
noch  etwas  Liquor  natrli  caustici  (1  :  3  Aqua  calcis)  hinzufügen  lässt.  Diese 
Inhalationen  werden  so  oft  als  möglich  (2stündlich)  durchgeführt,  jedoch 
ohne  dass  die  Kräfte  der  Patienten  zu  sehr  in  Anspruch  genommen  werden. 
Bei  Kindern  unter  4  Jahren  wird  der  Spray  zweckmässiger  durch  Wasser- 
dampfinhalationen ersetzt. 


284  CROUP. 

Mit  den  genannten  Mitteln  mag  es  gelingen,  die  sich  der  Expectoration 
durch  Zusammenballen  und  Antrocknen  der  Schleimmassen  entgegenstellenden 
Hindernisse  zu  beseitigen.  Die  Hauptsache  bleibt  aber  die  Ablösung  der 
Auflagerung  von  der  Schleimhaut.  Es  ist  eine  alte  klinische  Erfahrung, 
dass  derselbe  durch  die  Anregung  der  Drüsenthätigkeit  und  eines  Trans- 
sudationsstromes  gegen  die  Schleimhautoberfläche  begünstigt  wird,  sei  es, 
dass  derselbe  die  in  den  Drüsen  haftenden  Verbindungsfäden  herausschwemmt 
oder  durch  den  Druck  der  angesammelten  Flüssigkeit  die  Membranen  mecha- 
nisch abhebt.  In  die  Reihe  dieser  Mittel  gehört  nach  Rauchfuss  das  Queck- 
silber, das  sich  bei  Croupbehandluug  schon  der  warmen  Empfehlung 
Bretonneau's  erfreut.  Es  wird  innerlich  in  Form  von  Calomel  (0*05 — 0*2  g 
2 stündlich)  oder  als  Sublimat,  zweckmässiger  in  Form  der  Inunction  mit 
grauer  Salbe  gegeben,  je  1  g  2stündlich  an  Brust,  Rücken  und  Extremitäten 
einzureiben.  Jedoch  ist  diese  Behandlung  nicht  über  1—2  Tage  fortzusetzen. 

Eine  andere  Behandlung,  welche  den  Vorzug  hat,  keine  diflferenten 
Mittel  in  den  Körper  einzuführen,  ist  die  Anwendung  von  SchiHtzciiren 
(WACHSMUTH'sche  Methode).  Die  Kinder  erhalten  unter  gleichzeitiger  Verab- 
reichung grösserer  Flüssigkeitsmengen  eine  Volleinpackung  in  Tücher,  die 
in  heissem  Wasser  ausgerungen  sind;  darüber  ein  trockenes  Leintuch  und 
eine  Wolldecke.  Kach  3  Stunden  werden  sie  abgetrocknet,  Kachschwitzen 
durch  1  Stunde,  hierauf  2  Stunden  lang  Priessnitzumschläge  auf  den  Leib. 
Dieser  östündige  Turnus  wird  3mal  am  Tage  wiederholt.  Nachts  Ruhe. 
Die  Packungen  scheinen  nur  bei  beginnender  Stenose  entschieden  günstig 
auf  die  Abstossung  der  Membranen  zu  wirken;  jedoch  ist  bei  zarten,  erreg- 
baren Kindern  und  schwachem  Pulse  davor  zu  warnen.  Dasselbe  gilt  von 
den  neuerdings  wieder  warm  empfohlenen  PiJocarpinwjecfionen.  Ich  gebe 
1/4  bis  V25  bei  älteren  Kindern  1  Spritze  der  Iprocentigen  Lösung  eines 
von  E.  Merk  bezogenen  Präparates  und  habe  seitdem  viel  weniger  oder 
eigentlich  gar  keine  üblen  Nachwirkungen  des  Mittels  gesehen. 
Die  Kinder  erhalten  zumeist  erst  nach  Vornahme  der  Tracheotomie,  wenn 
Auswurf  fehlt,  1 — 2  Injectionen  pro  die  und  ich  hatte  den  bestimmten 
Eindruck,  dass  in  den  ciafür  geeigneten  Fällen  thatsächlich  eine  Lockerung 
und  Abstossung  der  vorher  festhaftenden  Membranen  bewirkt  wird.  Freilieh 
müssen  solche  mit  diphtheritischen  Exsudaten,  mit  septischen  Complicationen 
oder  Erkrankungen  der  Respirations-  und  Circulationsorgane  ausgeschlossen 
werden.  Da,  wo  diese  Massnahmen  im  Stiche  lassen  oder  die  Zeit  zu  ihrer 
Anwendung  fehlt,  bleibt  nur  die  operative  Beseitigung  mittelst  Tracheotomie. 

Bezüglich  der  Wahl  des  Zeitpunktes  bekenne  ich  mich  als  Anhänger 
der  Frühoperation  und  glaube,  dass  die  Operation  vorgenommen  werden 
sollte,  sobald  bei  unzweifelhafter  und  allmälig  wachsender  Stenose  ein  oder 
mehrere  ausgesprochene  Erstickungsaufälle  vorhanden  waren.  Es  werden 
dadurch  die  Kräfte  des  Patienten  geschont  und  die  Aussichten  für  die 
Genesung  entschieden  günstigere,  als  wenn  bis  zum  Eintritt  des  asphyk- 
tischen  Stadiums  und  der  Kohlensäureintoxication  gewartet  wird.  Auch  kann 
ich  mich  der  Vorstellung  nicht  erwehren,  dass  die  langgezogenen  angestrengten 
Inspirationen  des  stenotischen  Stadiums  das  in  den  oberen  Luftwegen  vor- 
handene Infectionsmaterial  nach  den  tieferen  Partien  aspiriren  und  so  zur 
Verbreitung  des  diptherischen  Processes  und  zur  Entstehung  von  Lobulär- 
pneumonien beitragen  können.  Als  einen  weiteren  wichtigen  Indicator  be- 
trachte ich  den  Stand  des  unteren  Lungenrandes.  Je  weiter  derselbe  in 
der  rechten  Mamillarlinie  von  dem  unteren  Rande  der  sechsten  Rippe, 
seinem  normalen  Stande,  gegen  den  Rippenbogen  in  den  Complementär- 
raum  hinabrückt,  um  so  ungenügender  wird  die  Respiration,  um  so  drin- 
gender die  Operation.  Ausnahmen  von  dieser  Regel  sind  selten  und  durch 


CROUP.  285 

besondere,  leicht  zu  erkennende  Verhältnisse  (Verstopfung  grösserer  Bronchien 
durch  Gerinnsel)  bedingt.  Da,  wo  eine  unmittelbar  das  Leben  bedrohende 
Laryngostenose  besteht,  gibt  es  eigentlich  keine  Contraindication,  wenn 
auch  zugegeben  werden  muss,  dass  sehr  zartes  Alter  des  Patienten,  Cöm- 
plication  mit  ausgedehnter  Bronchitis,  Pneumonie,  absteigendem  Croup, 
Sepsis,  sehr  weit  vorgeschrittene  Asphyxie  und  Kohlensäureintoxication  die 
Prognose  zu  einer  sehr  ungünstigen  gestalten,  so  dass  man  in  der  Privat- 
praxis unter  Umständen  von  der  Operation  absehen  wird.  Andererseits 
erzielt  man  aber  doch  bisweilen  bei  einem  schon  aufgegebenen  Falle 
mittelst  der  Operation  einen  unerwarteten  Erfolg. 

Man  hat  die  Frühoperation  noch  von  einem  anderen  und  sehr  be- 
achtenswerthen  Gesichtspunkte  aus  empfohlen.  Man  versuchte  nämlich, 
durch  gleichzeitige  Application  antiseptischer  Mittel  in  der  eröffneten  Luft- 
röhre das  Fortschreiten  des  Processes  aufzuhalten  und  die  tiefer  gelegenen 
Theile  vor  der  Infection  zu  schützen.  Roser  umwickelte  die  Canüle  mit 
einem  Jodoformläppchen,  das  der  Wandung  der  Luftröhre  fest  anlag, 
Andere  führten  vor  Einlegung  der  Canüle  einen  Tampon  oder  einen  langen 
Jodoformgazestreifen  nach  oben  zu  in  die  Trachea  ein.  Mir  selbst  haben 
diese  Methoden  trotz  mannigfacher  Variationen  noch  keine  befriedigenden 
Resultate  ergeben.  Auch  ist  die  Zahl  der  Fälle,  in  welchen  die  nothwendige 
Voraussetzung  zur  Anwendung  derselben  gegeben,  d.  h.  die  Trachea  noch 
frei  von  Membranen  und  diphtherischer  Infection  ist,  nur  eine  sehr  geringe. 
Ich  habe  in  Fällen,  wo  ich  bei  dem  ersten  Auftreten  stärkerer  laryngealer 
Dyspnoe  operirte,  wiederholt  schon  ausgedehnte  Membranbildung  in  der 
Luftröhre  gefunden. 

Nachdem  die  Tracheotomie  in  einem  anderen  Theile  dieses  Sammel- 
werkes noch  eine  ausführliche  Darstellung  findet,  beschränke  ich  mich  hier 
auf  die  Mittheilung  der  speciellen  Erfahrungen,  welche  ich  bei  der 
Ausführung  dieser  Operation  an  Kindern  zu  sammeln  Gelegenheit 
hatte.  Ich  habe  dabei  stets  den  Standpunkt  vertreten,  dass  der  Kinderarzt 
sich  dasjenige  Mass  chirurgischer  Fertigkeiten  aneignen  kann  und  soll,  um, 
besonders  schwierige  Fälle  ausgenommen,  diese  Operation  auch  ohne  Da- 
zwischentreten des  Chirurgen  ausführen  zu  können.  Es  ist  dies  wichtig, 
weil  der  Zeitpunkt  für  die  Vornahme  der  Operation  nur  bei  einem  Ueber- 
blick  über  den  gesammten  Verlauf,  also  nur  von  dem  behandelnden  Arzte 
richtig  gewählt  werden  kann  und  dann  meist  auch  sofortiges  Handeln  ver- 
langt; ferner  weil  bei  der  dem  Kinderarzte  obliegenden  Nachbehandlung 
jederzeit  noch  Zufälle  eintreten  können,  welche  eine  genaue  Kenntnis  des 
Ganges  der  Operation  und  eine  ebenso  gründliche  chirurgische  Schulung 
verlangen,  als  die  Vornahme  der  Operation  selbst.  Mir  selbst  ist  unter  fast 
300  Tracheotomien  kein  Fall  vorgekommen,  in  welchem  trotz  der  oft  un- 
zulänglichen Assistenz  die  Durchführung  der  Operation  misslang ;  und  seitdem 
ich  mich  ausschliesslich  des  stumpfen  Vorgehens  bediene,  gehört  selbst  eine 
stärkere,  die  Unterbindung  erfordernde  Blutung  zu  den  Seltenheiten. 

Der  Kranke  liegt  in  leichter  Chloroform-  oder  Pentalnarkose  mit 
nach  hinten  gebeugtem  Kopfe  über  einem  Rollkissen  oder  einer  mit  Tüchern 
umwickelten  Flasche.  Nach  entsprechender  Reinigung  des  Operationsfeldes 
führe  ich  einen  medianen,  die  Haut  und  Unterhautbindegewebe  durch- 
trennenden Schnitt,  welcher  sich  vom  unteren  Rande  der  Cartilago  cricoidea 
bis  fast  zum  Jugulum  herab  erstreckt;  blutende  Hautvenen  werden  mit  Quetsch- 
zangen comprimirt.  Alsdann  trenne  ich  mittelst  einer  starken  Hohlsonde  in 
langen  Zügen  das  lockere  Bindegewebe,  das  die  Muskeln  in  der  Median- 
linie verbindet;  das  Messer  wird  nur  zur  Durchtrennung  der  auf  die 
Hohlsonde  aufgeladenen  Fascien  benutzt.  Dilatirt  man  alsdann  die  Wunde 


286  CROUP. 

durch  Auseinanderziehen  der  in  den  oberen  und  unteren  Wundwinkel  ein- 
geführten, hakenförmig  gekrümmten  Finger,  so  erscheinen  bei  der  Tracheo- 
tomia  inferior  alsbald  in  der  Tiefe  die  weisslich  schimmernden  Tracheai- 
ringe. Nur  bei  stärkerer  Struma  sind  sie  von  Venengeflechten  bedeckt, 
die  sich  jedoch  mit  Haken  seitlich  auseinanderziehen  lassen.  Ist  die  Trachea 
blossgelegt,  so  wird  sie  angehakt  und  zwischen  den  Haken  in  der  Mittellinie 
möglichst  nahe  der  Struma  senkrecht  mit  spitzem  Messer  angeschnitten. 
Der  Rücken  des  Messers  ist  dabei  stets  der  Struma  zugewandt.  Nach  der 
Eröffnung  der  Luftröhre  werden,  wo  es  angeht,  die  locker  haftenden  und 
flottirenden  Membranen  mittelst  Feder  und  Pincette  entfernt,  hierauf  die 
Canüle  eingeführt. 

Betreifs  der  Stelle,  an  welcher  die  Eröffnung  der  Luftwege  am  zweck- 
mässigsten  geschieht,  ist  noch  immer  keine  Einigung  erzielt.  Zwar  ist  die 
von  HtJTER  empfohlene  Cricotracheotomie  wegen  der  schweren  Schcädigung, 
welche  der  an  der  Stimmbildung  betheiligte  Ringknorpel  erleidet,  ziemlich 
allgemein  verlassen;  aliein  bezüglich  der  Frage,  ob  oberhalb  oder  unter- 
halb der  Schilddrüse  eingeschnitten  werden  soll,  sind  heute  noch  die 
Meinungen  getheilt.  Zumeist  wird  angenommen,  dass  die  Tracheotomia 
superior  wegen  der  oberflächlicheren  Lage  und  des  Mangels  grosser  Gefässe 
an  dieser  Stelle  leichter  auszuführen  und  deshalb  insbesondere  weniger 
gewandten  Operateuren  zu  empfehlen  sei.  Trendelenburg  legt  jedoch  in 
seiner  vorzüglichen  Abhandlung  über  Tracheotomie  (Gerhardt's  Handbuch, 
Bd.  6)  dar,  dass  die  anatomischen  Verhältnisse  gerade  bei  Kindern  für 
die  inferior  günstiger  liegen. 

Ich  selbst  habe  Anfangs  die  Tracheotomia  superior  geübt.  Man  ist 
dann  genöthigt,  den  meist  den  Ringknorpel  und  die  obersten  Tracheairinge 
bedeckenden  Isthmus  und  Processus  pyramidalis  der  Schilddrüse  von  der 
Trachea  abzulösen.  Auch  bei  Anwendung  des  von  Rose  angegebenen  queren 
Schnittes  gelingt  dies  nur  selten  ohne  leichte  Blutung  und  Zeitverlust. 
Weitere  Nachtheile  sind  die  hohe  Lage  des  Schnittes  und  die  Neigung  zur 
Bildung  von  Granulationen,  die  um  so  grösser  ist,  je  näher  die  Fistel  an 
den  Schildknorpel  heranrückt. 

Jetzt  übe  ich  seit  Langem  ausschliesslich  die  untere  Tracheotomie, 
bei  welcher  man  nach  Durchtrennung  der  Muskelschichte  auf  die  in  ge- 
nügender Ausdehnung  freiliegende  oder  höchstens  von  Venengeflechten 
bedeckte  Trachea  stösst.  Es  wird  dadurch  die  Operation  wesentlich  leichter 
und  kürzer  dauernd,  ich  rechne  vom  Einschnitt  in  die  Haut  bis  zur  Be- 
endigung der  Operation,  trotz  langsamen,  stumpfen  Präparirens,  nicht  mehr 
als  4 — 6  Minuten.  Bei  ganz  kleinen  Kindern  und  stark  entwickelter  Struma 
kann  die  Wunde  so  tief  und  schwer  zugänglich  werden,  dass,  namentlich 
wenn  die  genügende  Assistenz  zum  Fassen  und  Hervorziehen  der  Trachea 
mangelt,  die  superior  den  Vorzug  verdient.  Die  viel  besprochene  Nähe  der 
grossen  Gefässe  kann  bei  vorsichtigem  Präpariren  nur  den  Furchtsamen 
erschrecken.  Die  tiefere  Lage  des  Schnittes  ermöglicht  locale  Mittel  zur 
Verhinderung  des  Absteigens  der  Membranen,  sowie  zur  mechanischen 
Entfernung  derselben  in  Anwendung  zu  ziehen ;  Granulationen  und  Druck- 
geschwüre werden  entschieden  seltener,  als  nach  der  superior  beobachtet. 
Als  Nachtheile  der  Methode  ist  die  im  Ganzen  etwas  grössere  und  tiefere 
Wunde,  das  schwierigere  Einführen  und  Wechseln  der  Canüle,  die  Nähe 
des  Mediastinums  und  die  in  einigen  Fällen  durch  Druck  der  Canüle  her- 
vorgerufenen Blutungen  aus  der  Art.  anonyma  anzuführen.  Die  Entstehung 
von  Emphysem  und  Mediastinitis  lässt  sich  dadurch  vermeiden,  dass  man 
sieh  bei  der  Operation  möglichst  nahe  dem  unteren  Rande  der  Schild- 
drüse hält. 


CROUP.  287 

Als  Canüle  benützen  wir  die  gewöhnliche,  in  Form  eines  Kreissegmentes 
gebogene  Doppelcanüle  mit  Hagedorn 'schem  Schild.  Bei  Kindern  mit 
Struma  verdient  die  von  Foltanek  angegebene  Modification  mit  verstell- 
barem Schild  den  Vorzug.  Grosses  Gewicht  ist  darauf  zu  legen,  dass  das 
Lumen  derselben  ein  möglichst  weites  und  der  Schnitt  in  der  Trachea 
nicht  zu  gross  sei.  Die  Einführung  geschieht  am  besten  so,  dass  das  Schild 
seitwärts  gehalten  und  der  untere  Rand  der  Canüle  senkrecht  gegen  den 
Schnittrand  in  der  Trachea  angedrückt  wird.  Es  wird  dadurch  die  Wunde 
klaffend  gemacht  und  mittelst  einer  Drehung  um  90^  gleitet  die  Canüle 
ohne  Schwierigkeit  in  das  Lumen  der  Trachea.  Besondere  Diktatoren  sind 
überflüssig.  Wiederholt  sind  mir  Fälle  begegnet,  in  denen  in  der  Trachea 
so  dicke  und  festhaftende  röhrenförmige  Ausgüsse  vorhanden  waren,  dass 
sie  erst  besonders  eröffnet  und  theilweise  entfernt  werden  mussten,  ehe 
die  Canüle  eingeführt  werden  konnte.  Ernste  Schwierigkeiten  können  auch 
dadurch  entstehen,  dass  der  Schnitt  in  Folge  seitlicher  Drehung  der  Trachea 
durch  unrichtig  eingesetzte  Haken  zwar  median  geführt,  aber  bei  Ruhelage 
der  Trachea  seitlich  gelagert  ist.  Es  steht  dabei  das  leichte  Hinausgleiten 
der  Canüle  aus  der  Trachealwunde  und  die  Entstehung  von  Emphysem  zu 
befürchten.  Bei  ganz  jungen  Kindern  kann  das  Ueberwiegen  des  äusseren 
Luftdruckes  nach  Blosslegung  der  Trachea  sogar  ein  säbelscheidenförmiges 
Einsinken  des  Tracheairohres  bewirken.  Man  vermeidet  dies  am  besten 
durch  Einlegen  der  Tube  vor  Beginn  der  Operation. 

Der  Effect  der  Operation  tritt  sofort  ein  und  ändert  mit  einem 
Schlage  das  ganze  Krankheitsbild.  Nach  Eröffnung  der  Trachea  und  dem 
ersten  freien  Athemzuge  werden  mit  der  nächsten  Exspiration  Membranen 
und  Secret  oft  weit  emporgeschleudert.  Es  folgt  eine  tiefe  Inspiration  und 
hierauf  ein  Athemstillstand,  Apnoe,  welche  den  Anfänger  durch  die  todten- 
äbnliche  Ruhe  des  Operirten  erschrecken  kann.  Allein  der  ruhige,  befriedigte 
Gesichtsausdruck,  die  pulsirenden  Carotiden,  die  allmälig  sich  einstellende 
Röthe  der  Wangen  und  Schwinden  der  Cyanose  belehren  ihn,  dass  es  sich 
hier  im  Gegentheil  um  eine  Uebersättigung  des  erschöpften  Athemcentrums 
mit  Sauerstoff  handelt.  Die  Einziehungen  schwinden,  die  Athmung  erfolgt  ruhig 
20 — 30mal  in  der  Minute,  höchstens  durch  Hustbewegungen  unterbrochen.  Der 
Thorax  sinkt  aus  seiner  Lispirationsstellung  zurück  und  verkleinert,  in  der 
Mamilla  gemessen,  seinen  Umfang  um  2 — 3  cm.  Der  untere  Lungenrand, 
der  tief  in  den  Complementärraum  hinabgetreten  war,  geht,  wenn  die  Luft 
nunmehr  unbehinderten  Zutritt  zu  den  tieferen  Theilen  des  Respirations- 
tractes  hat,  auf  den  normalen  Stand  zurück.  Der  Puls  bleibt  noch  be- 
schleunigt, ist  jedoch  beträchtlich  voller  und  gieichmässig  in  Zahl  und  Stärke. 

Nicht  immer  tritt  dieser  Wechsel  des  Bildes  sofort  ein.  Es  bedarf 
manchmal  erst  der  Entfernung  vorliegender  Membranstücke  oder  Secret- 
massen  mittelst  Pincette,  Feder,  Ansaugen  durch  den  Katheter,  um  dies 
zu  erreichen.  Auch  die  manuelle  Compression  des  Thorax  im  Momente 
der  Exspiration  und  zur  Verstärkung  derselben  befördert  die  Expectoration 
insbesondere  aus  den  tieferen  Theilen  des  Bronchialbaumes. 

Leider  tritt  dieser  Erfolg  der  Operation  nicht  in  allen  Fällen  ein. 
Da,  wo  die  Membranen  und]  das  Secret  zu  reichlich,  die  ersteren  noch 
nicht  bis  zur  Abstossung  vorgeschritten  sind,  kommt  es  nur  zu  einer  kurz- 
dauernden Apnoe,  die  Athmung  bleibt  frequent,  der  Tiefstand  des  Lungen- 
yandes  und  die  Einziehungen  am  Zwerchfellansatz  bleiben,  wenn  gleich  in 
geringerem  Grade,  bestehen.  Prognostisch  noch  ungünstiger  ist  der  Fall, 
wenn  es  sich  nicht  um  die  gewöhnliche  Art  der  derben,  der  Schleimhaut 
aufgelagerten  fibrinösen,  sondern  um  die  dem  Gewebe  eingelagerten,  im 
anatomischen  Sinne  diphtheritischen  Membranen  handelt.  Es  kommt  alsdann 


288 


CROUP. 


nur    zur  Expectoration    eines    spärlichen    blutigschleimigen   Secretes   und 
kleiner  zarter  Membranfetzen,  die  leicht  übersehen  werden  können. 

Die  weitere  Behandlung  üben  wir  in  der  Weise,  dass  die  Wunde 
reichlich  mit  Sublimat  ausgegossen  und  dann  mit  Jodoform  bestäubt  wird. 
Teendelenburg  lässt  eine  leichte  Aetzung  der  Wundflächen  mit  in  ver- 
dünnten Liq.  ferri  getauchter  Watte  vorangehen.  Alsdann  wird  ein  Jodoform- 
streif um  die  Canüle  gewickelt,  um  das  Austreten  von  Secret  aus  der 
Trachealwunde  nach  Möglichkeit  zu  vermeiden,  und  die  Wunde  bis  zum 
Niveau  der  Haut  mit  Jodoformgaze  tamponirt.  Nur  da,  wo  der  Hautschnitt 
besonders  weit  nach  unten  gegangen,  wird  derselbe  durch  einige  Knopf- 
näthe  vereinigt.  Um  die  Canüle  wird  alsdann  ein  eingeschnittenes  Lint- 
läppchen  und  zum  Schutze  des  Verbandes  ein  ebensolches  Stück  Billroth- 
battist  gelegt,  die  Wunde  direct  mit  in  Sublimat  getauchten  Jodoformgaze- 
streifen bedeckt,  die  nach  Bedarf  gewechselt  werden  können.  Die  An- 
feuchtung der  durch  die  Canüle  zugeführten  Luft  geschieht  am  zweck- 
mässigsten  durch  grössere  1 — 2  Liter  fassende  Dampfkessel,  welche  die 
Wasserdampfwolken  durch  eine  horizontal  gestellte  Röhre  austreten  lassen. 
Die  vielfach  gebrauchten  SiEGLE'schen  Zerstäuber  verursachen  ungleich 
mehr  Arbeit  und  durchnässen  die  Kinder  und  die  Betten.  Wo  dies  fehlt 
genügt  auch  ein  in  Sprocentige  Carbolsäure  getauchter  poröser  Schwamm 
vor  die  Canülenöffnung  gebunden  und  ausgiebige  Anfeuchtung  der  Zimmer- 
luft. In  manchen  Spitälern  sind  Vorrichtungen  vorhanden,  durch  welche  das 
ganze  Zimmer  mit  Wasserdampf  erfüllt  werden  kann.  Ausserdem  muss  die 
innere  Röhre  mindestens  zweistündlich  herausgenommen  und  gereinigt  und 
halbstündlich  das  Secret  aus  der  Trachea  mechanisch  entfernt  werden.  Da 
wo  reichlich  flüssige  Massen  mit  oder  ohne  beigemengte  Membranen  vor- 
handen sind,  verwende  ich  Taubenfedern  in  schwacher  Kalilösung  gut 
ausgekocht  und  mit  P/oo  Sublimat  benetzt,  eventuell  Aspiration  durch  einen 
dünnen,  durch  die  Canüle  eingeführten  Katheder;  bei  trockenem  Husten 
und  festhaftenden  Membranen  Einträufelungen  von  Kalkwasser  oder 
1/2  :  1000  Sublimat  mit  nachfolgender  Ausräumung  mittelst  Feder.  Die 
Canüle  bleibt  unter  normalen  Verhältnissen  3 — 4  Tage  liegen ;  alsdann  hat 
sich  bereits  durch  Infiltration  der  Wundränder  ein  starrer  Canal  gebildet, 
so  dass  die  Wiedereinführung  keinen  Schwierigkeiten  begegnet.  Selbstver- 
ständlich wird  mit  diesem  Wechsel  eine  Desinfection  der  Wundränder, 
Erneuerung  der  Jodoformstreifen  etc.  verbunden.  Von  da  an  bis  zur 
definitiven  Entfernung  der  Canüle  wird  dieser  Wechsel  je  nach  dem  Zustand 
der  Wunde  1— 3tägig  wiederholt. 

Das  Decanülement  kann  in  günstigen  Fällen  zwischen  dem  3. — 8.  Tage 
vorgenommen  werden,  wenn  die  Neubildung  von  Pseudomembranen  in 
Rachen  und  Trachea  aufgehört  hat.  Man  lässt  demselben  gewöhnlich  das 
Einlegen  einer  gefensterten,  sogenannten  Sprechcanüle  vorausgehen  und 
schreitet  erst  dazu,  wenn  das  Kind  die  Verkorkung  derselben  einen  halben 
oder  ganzen  Tag  ertragen  hat.  Der  Schluss  der  Wunde,  die  nach  den  all- 
gemeinen chirurgischen  Grundsätzen  behandelt  wird,  erfolgt  meist  rasch 
und  nimmt  weitere  8 — 14  Tage  in  Anspruch.  Am  spätesten  schliesst  sich 
die  Wunde  in  der  Trachea,  wo  es  meist  zu  einer  Necrose  der  an  die 
Canüle  anstossenden  Knorpeltheile  und  einer  meist  nur  geringgradigen 
Verengerung  der  Luftröhre  kommt.  (Wyss.) 

Auf  die  Prognose  ist  das  Stadium,  in  welchem  die  Operation  vor- 
genommen wird,  das  Alter  und  der  Kräftezustand  des  Patienten,  endlich 
auch  die  Geschicklichkeit  des  Operateurs  und  die  mehr  weniger  sorgfältige 
Nachbehandlung  von  Einfluss.  Bei  Kindern  im  ersten  Lebensjahre  ist  die 
Zahl    der  Heilungen    eine    so  geringe  (5  Proc),  dass  manche  Autoren  die 


CROUP.  •  289 

Ausführung  der  Operationen  in  diesem  Alter  principiell  verwerfen.  Als 
Todesursache  findet  man  zumeist  absteigenden  Croup  und  eitrige  Bronchitis, 
die  in  Folge  der  geringen  Expectorationsfähigkeit  dieser  Kinder  frühzeitig 
zur  Bildung  von  Atelectasen  und  lobulär-pneumonischen  Herden  Veran- 
lassung gegeben.  Auch  die  Ernährung  bietet  grosse  Schwierigkeiten.  Der 
ungünstige  Einfluss  des  Alters  lässt  sich  bis  zum  4.  und  6.  Lebens- 
jahre hinauf  statistisch  verfolgen.  Unter  sonst  gleichen  Verhältnissen  hängt 
aber  der  Erfolg  der  Operation  in  erster  Linie  von  der  Natur  und  dem 
Charakter  der  Grundkrankheit  ab.  Trennt  man  jene  Fälle,  welche  mit 
vorwiegenden  örtlichen  Symptomen  primär  im  Kehlkopf  beginnen  und  die 
Bildung  derber,  leicht  ablösbarer  fibrinöser  Membranen  aufweisen  von  den- 
jenigen, die  mit  ausgesprochen  diphtherischen  oder  septischen  Allge- 
meinerscheinungen einhergehen,  so  ergibt  sich  für  die  ersteren  eine  sehr 
günstige  Mortalitätsziffer.  Henoch  hatte  bei  diesen  von  ihm  als  „idiopathi- 
scher Croup"  bezeichneten  Fällen  60  Proc.  Heilungen,  gegenüber  15  Proc. 
bei  der  anderen  Gruppe.  Jedoch  scheint  mir  die  Berechtigung  einer 
Scheidung  dieser  Gruppen  vom  ätiologischen  Standpunkte  aus  noch  fraglich. 
Diejenigen  Statistiken,  welche  sich  auf  alle  Fälle  ohne  Auswahl  beziehen, 
wie  die  von  Krönlein  weisen  ca.  30  Proc.  Heilungen,  einzelne  allerdings 
bis  zu  42  und  45  Proc.  auf. 

Sieht  man  von  dem  infectiösen  Moment  ab,  so  gestattet  das  oben 
erwähnte  Verhalten  der  Membranen,  und  des  unteren  Lungenrandes,  das 
mehr  oder  weniger  vollständige  Schwinden  der  Stenosenerscheinungen, 
Dauer  der  Apnoe  etc.  Wahrscheinlichkeitsschlüsse  auf  den  Ausgang  der 
Krankheit.  Martin  hat  in  neuester  Zeit  die  Bedeutung  der  Temperatur- 
curve  für  die  Prognose  hervorgehoben.  Die  Operation  selbst  verursacht  fast 
stets  einen  einige  Stunden  später  eintretenden  Anstieg  der  Temperatur. 
Sinkt  dieselbe  alsdann  rasch  oder  in  langsamem  Abfall  wieder  auf  Normal 
zurück,  so  ist  dies  von  günstiger,  staffeiförmiges  Ansteigen  oder  Stehen- 
bleiben auf  bedeutender  Höhe  von  ungünstiger  Vorbedeutung.  Es  handelt 
sich  in  den  letzteren  Fällen  stets  um  Complicationen  des  Krankheits- 
verlaufes ;  am  häufigsten  um  Fortschreiten  der  Membranbildung  nach  den 
kleinen  Bronchien  zu.  Man  erkennt  das  Eintreten  dieses  Zustandes  bei 
Tracheotomirten  an  der  continuirlich  steigenden  Frequenz  der  Piespiration, 
höherem  Fieber,  Auswerfen  verzweigter  Gerinnsel.  Da,  wo  die  ganze 
Trachea  mit  Membranen  ausgekleidet  ist,  gelingt  es  selbst  bei  tiefem  Ein- 
führen der  Feder  nicht,  Hustenstösse  hervorzurufen.  In  ungefähr  zwei- 
drittel bis  einhalb  der  tödtlich  endenden  Fälle  findet  sich  absteigender 
Croup  als  eigentliche  Todesursache;  ein  weiteres  Drittel  oder  Viertel  der 
Fälle  erliegt  der  Complication  mit  Pneumonie,  zu  deren  Entstehung  die 
den  Bronchialcroup  begleitende  Bronchitis  reichlich  Gelegenheit  bietet. 
Dieselbe  befällt  vorwiegend  die  Unterlappen  und  kann  noch,  bevor  die 
bekannten  physikalischen  Anzeichen  deutlich  erkennbar  sind,  aus  der  hohen 
Febris  continua  sowie  der  begleitenden  Leukocytose  vermuthet  werden. 
In  diesen  Fällen  ist  die  Krankheitsdauer  bis  zum  Tod  eine  sehr  wechselnde, 
im  Ganzen  jedenfalls  länger  als  in  den  vorigen.  Relativ  gering  ist  der 
Procentsatz  der  Operirten,  welche  unmittelbar  an  den  Folgen  der  diphthe- 
rischen Intoxication,  Herzlähmung,  Nephritis,  Neuritis,  manchmal  erst  nach 
völligem  Ablauf  des  örtlichen  Processes  zu  Grunde  gehen;  jedoch  macht 
sich  der  Einfluss  der  Infection  insbesondere  der  das  Herz  schwächenden 
und  den  Blutdruck  herabsetzenden  Wirkung  in  der  geringen  Widerstands- 
fähigkeit gegen  die  eintretenden  Complicationen  bemerkbar  (Heubner). 

Schliesslich  kann  auch  in  der  Operation  und  ihren  Folgezuständen 
die  Ursache    für   Complicationen    und    selbst    tödtlicheu    Ausgang    gelegen 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  1^ 


290        '  CROUP. 

sein.  Ein  fast  regelmässiges  Vorkommnis  ist  ein  weisslicher  Belag  und  ent- 
zündliche Infiltration  der  Tracheotomiewuude,  der  in  der  Regel  wohl  einer 
Infection  von  der  Trachea  aus  seinen  Ursprung  verdankt.  Es  handelt  sich 
hier  nicht  um  echte  Wunddiphtherie  —  wenigstens  ergab  mir  die  bacterio- 
logische  Untersuchung  keine  Diphtheriebacillen  —  sondern  um  eine  ober- 
flächliche Gewebsnecrose  hervorgerufen  durch  eine  Mischinfection  mit 
pyogenen  Coccen  insbesondere  Streptococcen,  wie  sie  ja  auch  in  den 
diphtherischen  Membranen  vorhanden  sind.  Trotz  der  an  diesem  Orte  nur 
mangelhaft  durchführbaren  Antisepsis  habe  ich  nur  ganz  ausnahmsweise 
schwerere  progredinale  Formen  dieser  Gewebsnecrose  gesehen,  die  dann  zu 
ausgedehnten  Zerstörungen  der  Weichtheile,  Infection  des  Mediastinum  und 
der  Pleuren,  Arrosion  von  Gefässen  und  Blutungen  aus  der  Wunde  führen 
können.  Jodoform,  Aetzungen  mit  Chlorzink,  Verschorfung  mit  Paquelin  sind 
dagegen  anzuwenden  und  helfen  noch  in  verzweifelten  Fällen. 

In  Ausnahmsfällen  kommt  es  auch  zu  einer  echten  Wunddiphtherie, 
die  auch  auf  die  Epidermis  der  äusseren  Wundränder  übergreifen  kann. 
Speonk  hat  auf  das  Vorkommen  von  hämorrhagischen  Oedemen  aufmerksam 
gemacht,  die  sich  von  der  Wunde  auf  die  Vorderfläche  des  Thorax  hinab 
erstrecken  können  und  durch  das  Eindringen  der  Diphtheriebacillen  in  das 
Gewebe  hervorgerufen  werden.  Ich  kann  dies  aus  eigener  Erfahrung 
bestätigen. 

In  der  Trachea  verursacht  das  Einführen  und  das  längere  Liegen 
der  Canüle  eine  weitere  Reihe  von  Complicationen :  Granulationswucherungen, 
welche  die  Entfernung  der  Canüle  erschweren  oder  unmöglich  machen, 
Decubitusgeschwüre,  die  zu  Wucherungen,  Stricturen,  tödtlichen  Blutungen 
Veranlassung  geben  können ;  Knickungen  und  Verengerungen  der  Tracheal- 
knorpel,  die  durch  partielle  Necrosen  oder  unrichtige  Schnittführung  ent- 
stehen. Die  lange  fortgesetzte  Athmuug  durch  die  Canüle  kann  Parese  der 
Glottisöffner  oder  reflectorischen  Glottiskrampf  bei  dem  Versuche  des 
Decanulements  hervorrufen.  Bezüglich  der  Art  und  der  Therapie  dieser 
Complicationen  sei  auf  den  Artikel  „Tracheotomie"  verwiesen. 

Immerhin  kann  man  sagen,  dass  ernstere  Störungen  oder  gar  Todes- 
fälle als  Folgen  des  operativen  Eingriffes  zu  den  seltenen  Vorkommnissen 
gehören  und  mit  der  Uebung  des  Operateurs,  mit  einer  sorgfältigen  Nach- 
behandlung und  der  Herstellung  günstiger  hygienischer.  Bedingungen  sich 
mehr  und  mehr  vermindern.  Gleichwohl  war  man  seit  langer  Zeit  bestrebt, 
auch  diese  Gefahren  zu  vermeiden  und  die  mechanische  Beseitigung  der 
Laryngostenose  auf  unblutigem  Wege  durch  den  Katheterismus  des 
Larynx  zu  erreichen.  Indess  wurden  erst  in  der  von  O'Dwtee  angegebenen 
Intubation  die  grossen  technischen  Schwierigkeiten  soweit  überwunden, 
dass  sie  ernstlich  mit  der  Tracheotomie  in  Wettbewerb  treten  konnte.  Auch 
bezüglich  dieses  in  neuester  Zeit  viel  besprochenen  Eingriffes  beschränke 
ich  mich  auf  die,  Darlegung  der  von  mir  geübten  Technik  und  der  Indi- 
cationen  ihrer  Anwendung. 

Ich  bediene  mich  zur  Vornahme  der  Intubation  ausschliesslich  des 
von  O'DwTER  angegebenen,  von  George  Ermold  in  New-York  gefertigten 
Besteckes  und  kann  vor  Modificationen  desselben  wie  der  von  Stovs^e  nur 
warnen.  Dagegen  scheinen  mir  einige  kleine  Aenderungen  wie  sie  von 
Baer  in  Zürich  an  den  O'Dv^YER'schen  Instrumenten  angebracht  worden, 
recht  zweckmässig  zu  sein.  Bei  Einführung  der  Tube  soll  der  Operateur 
vor  dem  Kinde  stehen  (nicht  sitzen),  das  Kind,  dessen  Kopf  von  einem 
Assistenten  fixirt  wird,  auf  dem  Schosse  der  Wärterin  festgehalten  werden. 
Ist  die  an  einen  Faden  angeschlungene  Tube  unter  Führung  des  linken  Zeige- 
fingers bis  über  den  Kehlkopfeingang  gebracht,    so  gelingt  es  unter  Nach- 


CROUP.  291 

hilfe  mit  der  Fingerspitze  leicht  durch  starke  Hebung  des  Grilfes  dieselbe 
in  den  Spalt  zwischen  die  Stimmbänder  einzuführen.  An  diesem  Punkte 
angelaugt  pflege  ich  die  Tube  vom  Introductor  abzustossen  und  letzteren 
zurückzuziehen.  Die  Tube  gleitet  dann  ohne  Anwendung  von  Gewalt  höchstens 
unterstützt  durch  einen  leichten  Druck  des  linken  Zeigefingers  in  die 
Trachea.  Liegt  die  Tube  richtig,  was  man  durch  das  Gefühl  und  den  hohlen 
Klang  des  Hustens  leicht  erkennt,  so  lasse  ich  den  Faden  in  der  Regel 
liegen  und  befestige  mittelst  Heftpiaster  an  der  Wange,  nur  bei  sehr  un- 
bändigen Kindern  muss  der  Faden  entfernt  werden.  Ueble  Zufälle  während 
der  Intubation  sind  nicht  häufig;  der  schlimmste  zum  Glück  nur  selten 
vorkommende  ist  das  Hinabstossen  der  im  Kehlkopf  liegenden  Membranen 
in  die  Trachea,  wodurch  plötzliche  hochgradige  Erstickungsnoth  hervor- 
gerufen und  die  sofortige  Tracheotomie  nothwendig  wird. 

Der  Effect  der  gelungenen  Intubation  bei  einem  laryngo- 
stenotischen  Kinde  ist  ähnlich,  jedoch  nicht  ganz  gleich  günstig  wie  bei 
der  freien  Eröffnung  der  Trachea.  Niemals  kommt  es  zu  einer  so  ausge- 
sprochenen Apnoe,  die  Rückbildung  der  durch  die  Stenose  bedingten  Ver- 
änderungen geht  langsamer  vor  sich  und  wird  häufig  durch  einen  quälenden 
lange  dauernden  Husten  gestört.  Es  folgt  dann  in  den  günstig  verlaufenden 
Fällen  ein  Zustand,  wobei  die  Kinder  sich  ganz  wohl  fühlen,  im  Bette 
aufsitzen,  spielen  und  keinerlei  Beschwerden  von  der  im  Kehlkopf  liegenden 
Tube  zeigen.  Auch  die  Pflege  ist  eine  einfachere,  insoferne  die  Vorrich- 
tungen zur  Anfeuchtung  der  Athmungsluft,  das  Reinigen  und  Wechseln  der 
Canüle,  die  Behandlung  der  Wunde  etc.  entfällt.  Selbst  im  Falle,  dass  die 
Tube  bei  noch  bestehender  Stenose  ausgehustet  wird,  bleibt  die  Athmung 
meist  durch  eine  halbe  bis  eine  Stunde  frei,  so  dass  Zeit  bleibt,  den  Arzt 
zu  rufen  und  die  Tube  von  Neuem  einzuführen.  Man  kann  übrigens  diesen 
Zufall  fast  mit  Sicherheit  vermeiden,  wenn  man  von  Anfang  an  grössere 
Tuben,  eventuell  die  nächst  höhere  Nummer  einführt.  Da  wo  der  Faden 
liegen  bleibt,  ist  auch  die  Wärterin  im  Stande,  im  Falle  der  Verstopfung 
der  Tube  dieselbe  sofort  zu  entfernen.  Sobald  die  Ursache  der  Stenose 
behoben,  kann  die  Tube  entfernt  werden,  falls  sie  nicht  von  selbst  aus- 
gehustet wird  und  der  Kranke  ist  alsdann  bis  auf  eine  leichte,  rasch  vor- 
übergehende Aphonie  genesen.  Die  Behandlungsdauer  ist  somit  eine  kürzere 
als  bei  der  Tracheotomie  und  Schwierigkeiten  bei  der  Entfernung  seltener 
als  bei  dem  Decanülement,  doch  sind  von  Widerhoper  und  Ranke  solche 
Fälle  beobachtet  worden. 

Nimmt  man  dazu,  dass  der  Eingriff  ohne  äussere  Wunde  und  ihre 
Complicationen  in  Zeit  weniger  Secunden  ohne  geschulte  Assistenz  und 
selbst  bei  ganz  ungenügender  Beleuchtung  ausgeführt  werden  kann,  so 
sind  dies  Vorzüge,  welche  die  Intubation  als  einen  der  glänzenden  Fort- 
schritte in  der  Crouptherapie  und  auf  den  ersten  Blick  vielleicht  sogar  der 
Tracheotomie  überlegen  erscheinen  lassen. 

Allein  diesen  Vorzügen  stehen  Na  cht  heile  gegenüber,  welche  ihre 
Anwendung  auf  bestimmte  Fälle  und  Verhältnisse  einschränkt.  Zunächst  ist 
es  doch  nur  cum  grano  salis  zu  verstehen,  wenn  man  sagt,  dass  die  Intu- 
bation keinerlei  Verletzungen  setzt.  Das  Einlegen  der  Mundsperre  zwischen 
die  Kiefer,  das  Einführen  des  linken  Zeigefingers  und  der  Tube  w^erden 
denn  doch  in  den  seltensten  Fällen  ohne  jede  Verletzung  abgehen. 

Wichtiger  als  dies  sind  aber  gewisse  mechanische  Momente,  welche 
durch  das  Liegen  der  Tube  im  Kehlkopf  hervorgerufen  werden  und 
ganz  vorwiegend  bei  den  schweren  die  Bronchien  und  Lungen  in  Mitleiden- 
schaft ziehenden  Fällen  zum  Ausdrucke  kommen.  Als  eine  der  unangenehmsten 
und    fast    constanten    Begleiterscheinungen    der   Intubation    ist    das    Ver- 

19* 


292  CROUP. 

schlucken  anzuführen,  das  beim  Genüsse  von  Flüssigkeiten  beobachtet 
Avird.  Alle  dagegen  vorgeschlagenen  Mittel  wie :  Trinken  bei  hängendem 
Kopf,  Verabreichung  von  festweicher  Nahrung,  von  Milch-  oder  Wein- 
gallerte helfen  wenig,  und  kleinere  Kinder  verweigern  trotz  lebhaften 
Durstgefühles  jede  flüssige  Nahrung  oder  werden  durch  die  fortwährenden" 
Hustenanfälle  in  hohem  Grad«  erschöpft.  An  denjenigen  Stellen,  wo  der 
freie  Rand  der  unteren  Tubenmündung  die  Trachealwand  berührt,  seltener 
an  und  unter  den  Stimmbändern,  werden  Schleimhauterrosionen  und 
Decubitusgeschwüre  angetroffen.  Sie  können  schon  24  Standen  nach  der 
Intubation  vorhanden  sein  und  führen  bei  längerem  Liegen  der  Tuben  und 
bei  geschwächten  Kranken  zu  ausgedehnten  Substanzverlusten  und  Necro- 
tisirung  der  Knorpel.  In  zwei  Fällen  habe  ich  ausgehend  von  einem 
Decubitalgeschwüre  der  vorderen  Trachealwand  das  oben  beschriebene 
echt  diphtherische  Oedem  auf  der  Vorderfläche  des  Halses  entstehen 
sehen.  Heilen  die  Substanzverluste  aus,  so  kann  es  zu  Stricturen  der 
Trachea  kommen.  Die  Häufigkeit  und  Schwere  des  Decubitus  wechselt 
übrigens  sehr  nach  den  Beobachtern  und  wird  sich  mit  der  zunehmenden 
Vertrautheit  mit  der  Methode  vermindern.  Zur  Vermeidung  derselben 
empfiehlt  sich  die  Intubation  nicht  über  5  Tage  hinaus  fortzusetzen,  sondern 
wenn  alsdann  die  Entfernung  der  Tube  noch  nicht  ertragen  wird,  die 
Tracheotomie  nachfolgen  zu  lassen.  Der  wichtigste  Einwand  gegen  die 
Intubation  scheint  mir  aber  die  gegenüber  der  Tracheotomie  zweifellos 
erschwerte  und  mühsam  ere  Exp  ectoration  der  Membranen 
und  des  Secretes  aus  den  tiefer  gelegenen  Partien  zu  sein. 
Es  ergibt  sich  dies  aus  der  einfachen  Betrachtung  der  mechanischen  Ver- 
hältnisse, sowie  aus  der  directen  klinischen  Beobachtung.  Ist  es  aber 
einmal  durch  Verstopfung  der  Bronchien  zu  Atelectasen  und  lobulären 
Pneumonien  gekommen,  so  macht  sich  weiterhin  noch  der  für  solche 
gesteigerte  Anforderungen  ungenügende  Luftwechsel  durch  das  enge  Lumen 
der  Tube  geltend. 

Den  besten  Beweis  für  das  Zutreffende  dieser  Ausführungen  liefert 
die  Vornahme  und  der  Erfolg  der  secundären  Tracheotomie.  Wenn  es 
bei  liegender  und  frei  durchgängiger  Tube  durch  Fortschreiten  des  Pro- 
cesses  auf  die  tieferen  Theile  des  Bronchialbaumes  neuerlich  zu  frequenter, 
dyspnoischer  Athmung,  Einziehungen,  Cyanose  und  reichlichem  Rasseln  in 
der  Trachea  und  den  grossen  Bronchien  kommt,  wird  selbst  von  den 
begeistertsten  Anhängern  der  Intubation  der  Luftröhrenschnitt  als  letztes 
Hilfsmittel  empfohlen.  In  der  That  kommt  mit  der  Einführung  der  Canüle 
eine  sichtliche  Erleichterung  der  Athemnoth  und  zumeist  eine  reichliche 
Expectoration  des  zurückgehaltenen  Secretes  zu  Stande,  Die  Beobachtung 
eines  solchen  durch  die  anstrengende  Tubenathmung  und  durch  fortwährende 
Hustbewegungen  erschöpften,  dyspnoischen  Kranken  nach  Vornahme  der 
Tracheotomie,  me  Athemnoth  und  Cyanose  schwindet  und  Membranen  und 
Secret  durch  die  Canüle  ausgeworfen  und  mittels  der  Feder  entfernt 
werden,  wie  er  gierig  nach  der  dargebotenen  Flüssigkeit  greift  und  —  seit 
Langem  zum  ersten  Male  —  seinen  Durst  nach  Behagen  stillen  kann,  wie 
er  dann  mit  dem  Ausdrucke  der  Befriedigung  auf  den  Zügen  in  einen 
erquickenden  Schlaf  versinkt,  spricht  meines  Erachtens  deutlicher  und 
unzweideutiger  als  alle  Statistiken,  dass  für  solche  Fälle  die  Intubation 
nicht  die  Tracheotomie  zu  ersetzen  vermag.  Freilich  ist  der  Erfolg  der 
letzteren  nur  ein  vorübergehender.  Fast  alle  Kranken  erliegen  dem 
Fortschreiten  des  Processes.  Die  jüngste  Statistik  ergibt  unter  75  nach- 
träglich Tracheotomirten  nur  5—6 — 7  Proc.  Heilungen.  Der  weitere  Vor- 
wurf,    den    man    der    Intubation    macht,     dass    sie    die    Entstehung    von 


CROUP.  293 

Pneumonien  begünstige,  erscheint  nur  insoweit  berechtigt,  als  es  unter 
den  erwähnten  Verhältnissen  leichter  zur  Bildung  von  Atelectasen,  der 
Vorstufe  der  lobulären  Herde  kommt.  Dagegen  ist  bis  jetzt  noch  kein  Fall 
bekannt,  in  welchem  durch  Eindringen  von  Speisetheilchen  durch  die  Tube 
eine  Schluckpneumonie  veranlasst  worden  iväre. 

Zu  dem  gleichen  Resultate  führt  das  Ergebnis  der  Statistik.  Während 
die  Tracheotomie  im  Durchschnitt  30 — 35  Proc.  Heilungen  angibt,  zählt 
die  auf  20ÜU  Fälle  gestützte  Intubationsstatistik  von  Brown  11  Proc. 
Heilungen.  Das  Plus  an  Todesfällen,  das  die  Intubation  gegenüber  der 
Tracheotomie  aufzuweisen  hat.  entspricht  den  weniger  günstigen  Bedin- 
gungen, welche  sie  bei  den  mittelschweren  und  schweren  Fällen  durch 
die  erschwerte  Expectoration  der  Membranen  und  des  Secretes,  sowie  durch 
die  geringere  Lungenventilation  setzt. 

Die  neuerdings  von  Pianke  mitgetheilten  Zahlen  sind  allerdings  für 
die  Intubation  wesentlich  günstiger  bis  42*6  Proc.  Heilungen,  und  es 
ist  nicht  ausgeschlossen,  dass  das  genauere  Studium  und  die  fortwährenden 
Verbesserungen  des  Verfahrens  die  vorderhand  noch  bestehenden  Bedenken 
gegen  die  allgemeine  Einführung  derselben  verscheuchen.  So  ist  es  O'Dwyer 
neuerdings  gelungen,  durch  Abrundung  des  unteren  Tubenrandes  die 
Häufigkeit  und  Schwere  des  Decubitus  zu  vermindern  und  in  jüngster 
Zeit  hat  er  kreisrunde,  kurze  Tuben  mit  sehr  weiter  Lichtung  construirt, 
durch  welche  das  Aushusten  von  Membranen  leichter  vor  sich  gehen  soll. 
Dieselben  können  jedoch  nicht  länger  als  24  Stunden  im  Kehlkopf  liegen 
bleiben.  Eigene  Erfahrungen  über  die  Anwendung  derselben  besitze  ich  nicht. 

Bis  zu  diesem  Zeitpunkte  betrachte  ich,  da  wo  man  zwischen  den 
beiden  Operationen  frei  wählen  kann,  nach  wie  vor  die  Tracheotomie 
als  die  normale  Operation  zur  Beseitigung  der  den  Croup  begleitenden 
Athemnoth.  Nur  in  einer  geringen  Zahl  von  Fällen,  wobei  es  sich  um 
primäre  auf  Pbachen  und  Kehlkopf  beschränkte  Membranbildung  bei  gutem 
Kräftezustand  und  nicht  septischem  Charakter  handelt,  kann  sie  ohne 
Xachtheil  vielleicht  sogar  mit  Vortheil  für  den  Patienten  durch  die  Intu- 
bation ersetzt  Averden,  Sobald  jedoch  Lunge  und  Bronchien  ergriffen  sind 
oder  deren  Erkrankung  aus  dem  raschen  Fortschreiten  des  Processes  ver- 
muthet  werden  muss,  ferner  bei  sehr  jungen  Kindern  sowie  Kranken  mit 
geschwächtem  Kräftezustand  ist  von  vorneherein  die  Intubation  auszu- 
schliessen.  Stellen  sich  bei  einem  wegen  Laryngostenose  intubirten  Kranken 
Symptome  ein,  die  auf  ein  Fortschreiten  der  Erkrankung  auf  die  Bronchien 
oder  Lungen  schliessen  lassen,  so  sollte  gleichfalls  sofort  die  Tracheotomie 
nachfolgen :  desgleichen  wenn  die  Tube  durch  5  oder  mehr  Tage  nicht 
entfernt  werden  kann,  da  in  diesen  Fällen  die  Gefahr  des  Decubitus  droht. 

Dagegen  bleibt  der  Intubation  ein  unbestrittenes  weites  Feld  da,  wo 
aus  äusseren  Gründen  die  Tracheotomie  unausführbar,  wo  es  sich  um 
erschwertes  Decanülement  oder  chronische  Kehlkopfstenose  handelt.  Wenn 
der  Arzt  zu  einem  schon  asphyktischen  Kranken  gerufen  wird,  wenn  während 
der  Vornahme  der  Tracheotomie  die  Athmung  sistirt,  wenn  die  nöthige 
Assistenz  zur  Vornahme  der  Operation  fehlt,  so  kann  die  rasch  und  ohne 
geschultes  Personal  vorzunehmende  Intubation  zu  einem  lebensrettenden 
Eingriff  sich  gestalten.  Es  sind  dies  Zufälle,  die  sich  in  der  Privatpraxis 
viel  häufiger  als  im  Spital  erreignen  und  es  ist  zu  bedauern,  dass  die 
Intubation  den  praktischen  Aerzten  bisher  so  gut  wie  unbekannt  geblieben. 
Entgegen  der  Anschauung  der  meisten  deutschen  Autoren  bin  ich  der 
Meinung,  dass  der  Intubation  gerade  in  der  privaten  Praxis  Bedeutung  gebührt 
und  zwar  nicht  nur  zur  vorübergehenden  Beseitigung  drohender  Erstickungs- 
fälle, sondern  auch  für  die  Behandlung  des  Croup  überhaupt,    da   es   sich 


294  CUR  UND  CUREN. 

hier  viel  häufiger  ereignet,  class  die  Tracheotomie  und  die  complicirtere 
Nachbehandlung  derselben  unausführbar  oder  die  Vornahme  der  Operation 
seitens  der  Angehörigen  verweigert  wird.  Ich  kann  mich  dabei  nicht  nur 
auf  eigene  Erfahrungen,  sondern  vor  allem  auf  die  Angaben  der  amerika- 
nischen Aerzte  stützen,  welche  die  Aveitaus  grösste  Zahl  der  intubirten 
Patienten  in  den  Wohnungen  behandeln.  Freilich  muss  bei  einer  länger 
dauernden  Intubationsbehandlung  der  Arzt  leicht  erreichbar  sein  und  eine 
nicht  zu  kleine  Tube  eingelegt  werden. 

Die  Intubation  kann  ferner  bei  allen  Schwierigkeiten,  die  sich  beim 
Entfernen  der  Canüle  ergeben,  unschätzbare  Dienste  leisten,  gleichviel  ob 
es  sich  um  psychische  oder  mechanische  Momente  handelt.  Sie  wirkt  dabei 
nicht  nur  dadurch,  dass  sie  die  Heilung  der  Wunde  und  die  Athmung  auf 
natürlichem  Wege  gestattet,  sondern  auch  direct  heilend,  indem  sie  den 
Druck  auf  andere  Stellen  verlegt  und  auf  die  die  Glottis  obstruirenden  Hinder- 
nisse einen  mechanischen  Druck  ausübt.  Wir  dürfen  hoffen,  dass  durch 
richtige  Anwendung  dieses  Hilfsmittels  die  Zahl  derjenigen  Fälle,  welche 
zu  einem  längeren  oder  dauernden  Tragen  der  Canüle  nach  Tracheotomie 
verurtheilt  sind,  sich  erheblich  vermindern  werde  (Ranke).  In  diesem 
Sinne  sollten  beide  an  sich  so  verschiedene  Operationen  je  nach  dem 
individuellen  Falle  einander  ergänzend  und  unterstützend  in  Anwendung 
gezogen  werden.  Mit  der  Aufstellung  bestimmter  Indicationen  wird  auch 
der  Streit  enden,  der  jetzt  noch  zwischen  den  unbedingten  Anhängern  und 
Gegnern  der  Intubation  besteht  und  der  die  volle  Entfaltung  und  Ver- 
werthung  der  jeder  einzelnen  eigenthümlichen  Vorzüge  hindert. 

ESCHERICH. 

Cur  und  Curen.  „Cur"  bedeutet  ursprünglich  die  Fürsorge  für 
einen  Menschen,  seine  Wartung  und  Pflege.  Es  ist  an  und  für  sich  ein 
einheitlicher  Begriff.  Man  muss  eigentlich  von  „der  Cur"  sprechen.  Aber 
schon  die  Scheidung  in  Curen  für  Gesunde  und  Kranke,  in  vorbeugende 
und  heilende,  hat  die  alte  Bedeutung,  die  ganz  allgemein  war,  specialisirt 
und  aus  der  „Cur"  sind  die  „Curen"  geworden.  Im  Laufe  der  Zeiten 
sind  dann  je  nach  den  wechselnden  Systemen  und  Anschauungen,  nach  den 
Namen  der  Autoren  und  der  Mittel  etc.  zahllose  „Curen"  entstanden.  Man 
hat  die  Cur  wie  ein  Glas  zerschlagen  und  jeden  Splitter  als  ein  Ganzes 
hingestellt.  Sie  wieder  zusammenzufügen  und  zu  kitten  zu  der  einzigen 
Cur,  die  es  geben  sollte,  ist  das  Ziel  unserer  Entwicklung.  Und  diese 
„Cur",  xaT  £;o/Yiv,  ist  die  individualisirende.  Alle  Curen  haben  nur  inso- 
weit Berechtigung,  als  sie  uns  Mittel  an  die  Hand  geben,  um  die  indivi- 
dualisirende  Cur  mannigfach  und  zweckmässig  auszubauen.  Die  wesentlichen 
unter  ihnen  einer  kurzen  Besprechung  zu  unterziehen,  ist  die  Aufgabe 
dieses  Artikels.  Alles  Ausführliche  muss  den  Specialabhandlungen  überlassen 
bleiben. ') 

Im  Vordergrunde  des  Interesses  stehen  die  diätetischen  Curen. 
Man  kann  sie  im  Wesentlichen  in  Mast-,  Hunger-,  Durstcuren  und  Curen 
durch  ausschliessliche  oder  doch  vorherrschende  Entziehung  oder  Zufuhr 
eines  bestimmten  Nahrungsmittels  eintheilen.  Allerdings  gibt  es  zwischen 
den  Gruppen  zahlreiche  Uebergänge. 

Die  Mastcuren  haben  ihr  typisches  Beispiel  in  neuester  Zeit  in 
der   WEiR-MiTCHELL-PLAYFAiR'schen    Methode    gefunden;    ihr    Zweck    ist. 


')  „Cur"  wird  häufig  als  Bezeichnung  für  eine  auf  3  Wochen  angesetzte  Beliand- 
lung  gebraucht,  z.B.  in  Badeorten ;  „doppelte  Cur"  ist  danach  ein  Ausdruck  für  eine 
5  —  6  Wochen  dauernde  badeärztliclie  Bemisshandlung.  Eine  Nachcur  schliesst  sich 
einer  meist  eingreifenderen  Cur  an,  z.  B.  Karhbader  Cur  mit  Nachcur  in  Kissingen 
Seebadeciir  mit  Nachcur  im  Harz  u.  s.  w. 


CUR  UND  CUREN.  295 

durch  rasche  Herstellung  eines  sogenannten  guten  Ernährungszustandes, 
soweit  dieser  in  einer  Zunahme  des  Körperumfanges  und  Gewichtes  sich 
kennzeichnet,  gewisse  Störungen  zu  beseitigen.  Sie  findet  daher  bei  ver- 
schiedeneu SchAvächezuständen  des  menschlichen  Körpers,  bei  Blutarmuth, 
Bleichsucht,  Abzehrung,  Abmagerung,  Reconvalescenz,  frühem  und  spätem 
Marasmus,  Neurasthenie  etc.  Anwendung.  Ihre  Principien  sind:  Entfernung 
der  Kranken  aus  ihrer  gewohnten  Umgebung,  Bettruhe,  überreiche  Zufuhr 
von  Nahrungsmitteln,  Elektricität,  Massage  des  Körpers.  Die  Cur  wird  mit 
der  consequenten  Durchführung  einer  Milchdiät  eingeleitet.  Mit  kleinen 
Quantitäten  beginnend,  steigt  man  allraälig  bis  zu  einer  Menge  von  2 — 3  / 
täglich.  Von  Tag  zu  Tag  werden  dann  neue  Nahrungsmittel  zugeführt, 
Eier,  Fleisch,  Brod,  Kartoffeln,  Mehlspeisen  etc.,  deren  Menge  gleichfalls 
immer  mehr  gesteigert  wird.  Die  Resultate  sind  in  vielen  Fällen,  nament- 
lich momentan,  günstig.  Die  Kranken  nehmen  häufig  an  Gewicht,  nicht 
immer  an  wirklichen  Kräften  zu.  Mannigfaltige  Krankheitssymptome  können 
dabei  schwinden.  In  dem  ganzen  Verfahren  liegen  jedoch  Gefahren.  Die 
starke  Zufuhr  von  Nahrungsmitteln  führt  bei  vielen  Kranken  zu  Verdauungs- 
störungen. Bei  Anderen,  welche  die  Cur  scheinbar  gut  vertragen  oder  bei 
ihrer  Anwendung  nicht  kränker  werden,  schlägt  sie  ab  und  zu  nicht  im 
gewünschten  Sinne  an,  und  wieder  Andere  fallen,  wenn  sie  die  Cur  scheinbar 
geheilt  abbrechen  und  in  ihre  alten  Verhältnisse  zurückkehren,  rasch  in 
das  alte  Elend  zurück.  Man  hat  Fälle  erlebt,  w^o  eine  derartige  Mastcur 
in  2  Monaten  eine  Zunahme  des  Körpergewichtes  um  12  Pfund  hervor- 
gerufen hatte  und  nach  Aufhören  der  Cur  einige  Tage  genügten,  den  Status 
quo  ante  ganz  wiederherzustellen.  Der  Darmcanal  wird  überladen,  Magen- 
erweiterungen sind  nicht  selten  Folge  der  Mästung;  dadurch  und  durch 
den  Mangel  an  Bewegung  treten  Muskelatrophien,  Inactivitätsstörungen, 
Blutstauungen  in  den  Bauchorganen  etc.  auf,  die  unter  Umständen  den 
Nutzen  der  Cur  völlig  vernichten.  Gar  oft  ist  eine  erfolgreiche  Mastcur  von 
dieser  Art  eine  ancurirte  Krankheit,  d.  h.  eine  durch  Unterdrückung 
des  schon  elenden  Stoffwechsels  erzeugte  anämische  Fettleibigkeit.  Abgesehen 
davon  sind  die  Kosten  der  Cur  so  beträchtlich,  dass  man  sie  nur  bei  wohl- 
habenden Kranken  oder  im  Spitale  anwenden  kann.  Dass  die  Weir- 
MiTCHELL-PLAYFAiß'sche  Cur  Zahlreiche  Modificationen  erlebt  hat,  ist  er- 
klärlich. Eine  Reihe  von  Behandlungsarten  hat  sich  aus  ihr  entwickelt;  alle 
haben  als  gemeinsamen  Zug  überreiche  Nahrungszufuhr.  Sie  sämmtlich  auf- 
zuzählen, würde  hier  zu  weit  führen. 

Die  absoluteHungercur  wird  verhältnissmässig  selten  angewendet . 
Was  der  menschliche  Körper  in  dieser  Beziehung  ertragen  kann,  wissen  wir 
unter  Anderem  aus  den  Versuchen  der  Berufshungerer  Tanner,  Succi  etc., 
wobei  allerdings  Uebung  und  Trainirung  eine  Rolle  spielten.  Die  relative 
Hunger  cur  hat  oft  eine  gewisse  Berechtigung.  Durch  völlige  Nahrungs- 
entziehung, die  beschränkt  in  der  Zeit  oder  wiederholt  geschehen  kann, 
wird  im  Stoffwechsel  des  Körpers  eine  solche  Umwälzung  hervorgebracht, 
wie  kaum  durch  eine  andere  Einwirkung.  Dadurch  wird  unter  Umständen 
ein  günstiger  Einfluss  auf  manche  krankhafte  Zustände  ausgeübt.  Empfehlens- 
werth  ist  zeitweiliges  Hungern  bei  acuten  Störungen  der  Verdauung,  so  beim 
Brechdurchfall  der  Kinder,  bei  bestimmten  Diarrhöen  Erwachsener  etc. 
Dass  die  Hungercur  auch  bei  chronischen  Leiden  oft  Vortheil  bringt,  be- 
weist ein  Blick  in  die  Literatur  der  Zeiten,  als  das  Hungernlassen  modern 
war.  Der  Italiener  sagt :  Dieta  tutti  i  mali  acquieta,  d.  h.  Hungern  beruhigt 
alle  Leiden.  Der  Ausdruck  rührt  wohl  daher,  dass  viele  Menschen  davon 
krank  werden,  dass  sie  zu  viel  oder  nicht  richtig  essen  und  namentlich  in 
wärmeren  Ländern  die  Verdauungsstörungen  vorherrschen,  auch  mehr  ein- 


296  CUR  UND  CUREN. 

gestanden  werden  als  bei  uns,  wo  der  Patient  sie  auf  „Erkältung"  (Ueber- 
hitzung)  zu  schieben  liebt. 

In  gewisser  Beziehung  gehören  in  die  eben  behandelte  Gruppe  auch 
andere  Curen,  bei  welchen  den  Kranken  bestimmte  Nahrungsmittel  völlig 
oder  theilweise  entzogen  werden.  So  sind  hier  die  Banting-,  Oertel-  und 
EssTEm-Cur  zu  erwähnen.  Sie  werden  in  den  Artikeln  über  Fettsucht, 
Gicht  etc.  weitere  Besprechung  finden.  Im  Wesentlichen  beruhen  sie  auf 
Entziehung  der  Fette  oder  der  Kohlehydrate  etc. ;  letzteres,  das  Verbot 
der  Kohlehydrate,  findet  seinen  schroffsten  Ausdruck  in  der  heute  üblichen 
Diabetes  cur.  Es  ist  keinem  Zweifel  unterworfen,  dass  man  in  den 
meisten  Fällen  die  Zuckerausscheidung  durch  eine  strenge  Diät  zum 
Schwinden  oder  wenigstens  zur  Abnahme  bringen  kann.  Ob  das  aber  jedes- 
mal ein  Vortheil  für  den  Kranken  bedeutet,  ist  durchaus  nicht  entschieden. 
Viele  Kranke  befinden  sich  bei  derselben  subjectiv  schlechter  und  durch 
ausschliessliche  Eiweissnahrung  entsteht  leicht  Acetonurie  und  Coma  diabe- 
ticum.  So  kann  also  die  schablonenmässige  Entziehung  der  Amylacea  in  hohem 
Grade  schädigend  wirken.  Die  Zufuhr  der  Zuckerbildner  ist  eben  mehr 
oder  weniger  Lebensbedingung. 

Auch  die  Eiweissentziehung  hat  ihren  Ausdruck  in  einer  „Cur"  ge- 
funden. Die  BENEKE'sche  Carcinomcur  beruht  darauf,  eine  Stickstoff-  und 
phosphorarme  Nahrung  zu  geben.  Sie  verdankt  ihre  Entstehung  wohl  dem 
statistischen  Umstände,  dass  in  Ländern,  wo  viel  Fleisch  gegessen  wird 
(England),  das  Carcinom  häufiger  vorkommt,  sowie  der  Beobachtung,  dass 
unter  den  Thieren  die  Fleischfresser  davon  befallen  werden,  die  Herbivoren 
(Grasfresser)  dagegen  nicht.  Dass  man  durch  obige  Cur  wirklich  Carcinome 
heilt,  wird  Niemand  erwarten.  *Die  zeitweise  günstigen  Resultate  sind  wohl 
auf  dieselben  Ursachen  zurückzuführen,  denen  die  vegetarischen  Curen  ihre 
Erfolge  verdanken. 

Parallel  mit  den  Hungercuren  gehen  die  Dur  st  curen.  Auch  von 
ihnen  gilt,  was  oben  gesagt  wurde,  dass  eine  mächtige  Umwälzung  des 
Stoffwechsels  durch  sie  gesetzt  wird,  die  sich  unter  Umständen  durch 
Gewichtsabnahme,  sogar  durch  Fiebertemperaturen  und  deletäre  Con- 
sumptionszustände  deutlich  zeigt.  Ein  typisches  Beispiel  der  Durstcur  ist 
die  ScHROTH'sche  oder  sogenannte  Semmel  cur.  Ihr  Princip  ist  thuulichste 
Flüssigkeitsentziehung.  Die  Kranken  werden  auf  eine  Diät  gesetzt,  bei  der 
ihnen  nur  ganz  minimale  Mengen  Flüssigkeit  zugeführt  werden,  und  die 
Speisen  werden  so  gewählt,  dass  ihr  Wassergehalt  gering  ist.  Die  Nahrung 
besteht  im  Wesentlichen  aus  alter,  ausgebackener  Semmel  und  einigen 
Vegetabilien,  die  in  Breiform  zubereitet  werden.  Verbunden  ist  die  Schroth- 
Cur  mit  feuchten  Einwicklungen.  Dass  man  mit  ihr  einen  grossen  und  viel- 
fach auch  wohlthätigen  Einfluss  auf  acute  und  chronische  Leiden,  nament- 
lich gewisse  Dyscrasien,  ausüben  kann,  unterliegt  keinem  Zweifel.  Ihre 
Gefahren  liegen  in  der  Schädigung  des  Ernährungszustandes  und  der  Kräfte, 
sowie  in  der  schablonenhaften  Durchführung  längere  Zeit  hindurch.  Bei 
ihrer  Anwendung  ist  Vorsicht  geboten,  die  durch  Individualisirung  und 
tägliche  Modification  nach  vorliegenden  Bedürfnissen  etc.  ihre  Bestätigung 
findet. 

Nahe  Beziehungen  zur  ScHROTH-Cur  hat  die  Oertel- Cur.  Sie  be- 
zweckt eine  Entlastung  der  Herzthätigkeit  durch  Verminderung  der  Wasser- 
menge im  Körper  und  sucht  das  durch  eine  starke  Einschränkung  der 
Flüssigkeitszufuhr  zu  erreichen.  Nicht  allein  die  Menge  des  Getränkes  wird 
dabei  herabgesetzt,  sondern  auch  Speisen  gewählt,  die  einen  geringen 
W^assergehalt  haben  und,  ähnlich  wie  bei  der  BANTiNG-Cur,  eiweissreieh 
sind.  Dazu  kommt  eine  methodische  Uebung  des  Herzmuskels  durch  Berg- 


CUR  UND  CUREN.  297 

steigen,  Oertel  hat  seine  Cur  ursprünglich  für  Leute  mit  Fettherz  auf- 
gestellt ;  später  sind  auch  Kranke  mit  Herzklappenfehlern  nach  der 
Methode  behandelt  worden.  Es  steht  ausser  Frage,  dass  die  OERTEL'schen 
Vorschriften  einen  guten  Kern  haben  und  für  die  OERTEL'schen  Krauken 
passen.  Die  Erfolge  sprechen  manchmal  überzeugend.  Namentlich  ist  es 
sicher,  dass  die  Diurese  durch  die  zur  Zeit  geringe,  aber  eventuell  desto 
häufigere  Zufuhr  von  Flüssigkeit  sich  oft  hebt.  Andererseits  ist  aber  die 
Cur  so  einschneidend  und  schwierig,  dass  durch  ihre  Verbreitung  und 
kritiklose,  nicht  individualisirende  Anwendung  mehr  Unheil  als  Segen  ge- 
bracht wird.  Herzkranke  dürfen  nicht  nach  der  Schablone  behandelt  werden. 
Für  sie  ist  jedes  Zuviel  in  der  Behandlung  eine  Verschlimmerung.  Die 
Vorschriften  der  ÜERTEL-Cur  sind  alle  drei  scharfe  Waffen  und  es  ist  oft 
schwer,  manchmal  unmöglich,  bei  ihrem  Gebrauche  dem  ersten  und  vor- 
nehmsten Grundsatze  der  Medicin,  dem  „nil  nocere"  Rechnung  zu  tragen. 
Selbst  der  vorsichtigste  Arzt  wird  ab  und  zu  schlimme  Erfahrungen  mit 
der  genannten  Behandlungsart  machen.  Für  die  grosse  Masse  der  Herz- 
kranken, die  nicht  in  der  Lage  sind,  sich  ständig  vom  Arzte  überwachen 
zu  lassen,  ist  die  Methode  im  höchsten  Grade  gefährlich. 

Die  Oertel- Cur  hat  mannigfache  Veränderungen  erfahren,  indem  bald 
das,  bald  jenes  hinzugefügt  oder  modificirt  worden  ist.  Alle  davon  abge- 
leiteten Behandlungsmethoden  lassen  sich  mehr  oder  weniger  unter  den 
von  Oertel  selbst  so  genannten  Begriff  T  errain  cur  an  bringen,  die 
augenblicklich  in  der  Praxis  einen  grossen  Ruf  haben.  Sie  verdienen  ihn 
nur  sehr  bedingt. 

Von  den  Curen,  die  in  der  Darreichung  bestimmter  Nahrungsmittel 
bestehen,  sind  zusammenfassend  zu  nennen  die  Fleisch-,  Ve  geterianer-, 
M  i  1  c  h-,  M  0 1  k  e  n-,  K  e  f  i  r-,  Kumys-  und  die  0  b  s  t  c  u  r  e  n  verschiedener  Art. 

Die  Fleischen ren  fallen  in  der  Hauptsache  mit  den  Diabetes-  und 
Entfettungscuren  zusammen,  wir  verweisen  auf  diese  beiden  Artikel.  Die 
Vegeterianarcur  führt  dem  Körper  nur  vegetabilische  Nahrung  zu, 
von  thierischer  höchstens  Eier,  Milch,  Butter  und  Käse.  Die  Hartnäckigkeit, 
mit  der  die  Vegeterianer  den  Kampf  gegen  die  Anhänger  der  gemischten 
Nahrung  führen,  ist  bekannt  und  die  Gründe  für  und  gegen  genug  be- 
sprochen worden.  Dass  beide  Ernährungsarten  die  Möglichkeit  gesunden 
Lebens  geben,  ist  bewiesen.  Je  nach  Ort,  Zeit  und  Entwicklung  des  Volkes 
oder  des  einzelnen  Menschen  wird  die  eine  oder  andere  Methode  ange- 
bracht sein.  Dass  die  vegetarische  Kost  als  die  allein  seligmachende  hin- 
gestellt wird,  ist  unbegründet.  Blinder  Fanatismus  hat  nirgends  Berech- 
tigung, am  allerwenigsten  in  der  ärztlichen  Praxis,  und  es  ist  unstatthaft, 
einer  Theorie  zu  Liebe  die  Ergebnisse  der  menschlichen  Entwicklung  und 
Erfahrung  über  den  Haufen  werfen  zu  wollen.  Dass  unter  Umständen  eine 
vegetarische  Cur  vortheilhaft  sein  kann,  leugnet  Niemand;  ja  ab  und  zu 
ist  sie  ein  werthvolles  Mittel  in  der  Behandlung,  so  bei  gewissen  Formen 
chronischer  Verdauungsstörungen  und  der  Gicht. 

Die  Milch  cur  im  strengen  Sinne  des  Wortes  besteht  in  der  Dar- 
reichung der  Milch  als  einzigen  Nahrungsmittels.  Sie  findet  Verwendung 
in  Schwächezuständen,  Hydrops,  Typhus,  Magengeschwür,  Morbus  Brightii, 
Cirrhosis  hepatis  etc.  Dass  sie  eine  Berechtigung  hat,  geht  aus  der  Ver- 
wendung der  Milch  als  Kindernahrung  hervor.  Doch  liegen  die  Verhältnisse 
bei  Erwachsenen  und  Kranken  meist  etwas  anders.  Die  zur  Erhaltung  und 
Hebung  der  Kräfte  nöthigen  Quantitäten  sind  so  gross  —  bei  ausschliess- 
licher Milchnahrung  durchschnittlich  4—5  /  pro  Tag  —  dass  es  schwer 
hält,  sie  dem  Kranken  beizubringen.  Dabei  ist  noch  die  Gefahr  der  Ueber- 
ladung  des  Darmcanals  zu  berücksichtigen.     Freilich   sind   die  Erfolge  in 


298  CUR  UND  CUREN. 

vielen  Fällen  glänzend,  namentlich  wenn  die  Vorsicht  gebraucht  ist,  nur 
kleine  Mengen  auf  einmal,  diese  aber  um  so  häufiger,  zu  geben.  Eine  Zahl 
von  Kranken  bleibt  aber  übrig,  denen  die  Milchcur  keinen  Nutzen  bringt, 
obwohl  sie  aus  wissenschaftlichen  Gründen  indicirt  erschien.  Bei  ihnen 
stellt  sich  völlige  Appetitlosigkeit  ein,  die  Kräfte  fallen  immer  mehr  und 
man  hat  nun  Mühe,  durch  einen  Wechsel  der  Diät  den  Schaden  gut  zu 
machen.  Nicht  zum  kleinen  Theile  sind  die  geschilderten  Unannehmlich- 
keiten übrigens  durch  die  hartnäckige  Verstopfung  bedingt,  welche  häufig 
Folge  der  Milchdiät  ist.  Combinationen  der  Milchcur  mit  anderen  Behand- 
lungsarten und  Diätformen  sind  vielfach  ausgeführt  worden,  so  namentlich 
in  der  Behandlung  der  Lungenschwindsucht,  mit  ungleichen  Resultaten. 

Weniger  gebräuchlich,  aber  in  vieler  Beziehung  empfehlenswerth  ist 
die  Anwendung  der  sauren  und  Buttermilch.  Letztere  wird  von  Vielen 
lieber  getrunken  ;  nicht  zu  unterschätzen  ist  ihre  leicht  abführende  Wirkung. 

Die  Molkencuren  sind  in  den  letzten  Jahren  etwas  in  den  Hinter- 
grund getreten,  namentlich  verdrängt  durch  die  typischen  Milchcuren.  Die 
Molken  sind  die  Bückstände,  welche  nach  erfolgter  Butter-  und  Käse- 
abscheidung  aus  der  Milch  bleiben.  Je  nach  Art  des  Verfahrens  bei  der 
Käsegewinnung  unterscheidet  man  süsse  und  saure  Molken.  Verwendung 
finden  sie  bei  Aifectionen  der  Athmungsorgane  und  Stockungen  im  LFnterleib. 

Kumys-  und  Kefir  euren  gehören  zusammen.  Bei  ihnen  wird  dem 
Körper  Stuten-,  beziehungsweise  Kuhmilch  zugeführt,  die  durch  eine  besondere 
Gährung  verändert  worden  ist.  Bei  manchen  Kranken  erzielt  man  damit  Erfolge, 
andere  zeigen  unüberwindlichen  Widerwillen  gegen  diese  Nahrungsmittel. 
Für  alle  diese  Curen  gilt,  was  oben  von  den  Milchcuren  gesagt  wurde. 
Sie  führen  leicht  zu  einer  Ueberladung  des  Darmcanals,  deren  schädliche 
Folgen  zur  Vorsicht  mahnen.  Auch  die  Monotonie  der  Nahrung  ist  vielfach 
vom  Uebel. 

Die  Trauben-  und  Obst  curen  lassen  sich  ebenfalls  unter  einem 
Gesichtspunkte  betrachten.  Sie  sind  gekennzeichnet  durch  die  mehr  oder 
weniger  grosse  Zufuhr  von  Trauben  oder  bestimmten  Obstsorten.  Beim 
Gebrauche  grösserer  Mengen,  von  2 — 6  kg,  tritt  dabei  die  abführende 
Wirkung  des  Obstes  in  den  Vordergrund  und  Curen  dieser  Art  fallen  mit 
einem  gewissen  Eechte  unter  den  Begriff  der  sogenannten  Blutreinigungs- 
Guren,  die  noch  betrachtet  werden  sollen.  Die  massig  durchgeführten  Obst- 
curen,  bei  denen  bis  2  kg  täglich  aufgenommen  werden,  sind  gewöhnlich  mit 
anderen  kräftigenden  Diätformen  verbunden.  Ihre  Wirksamkeit  ist  nicht 
zu  unterschätzen,  sie  haben  einen  grossen  Einfluss  auf  den  Stoffumsatz  des 
menschlichen  Körpers. 

Die  physikalischen  Curen  haben  in  neuester  Zeit  vielleicht  noch 
eine  weitere  Verbreitung  gefunden  als  die  diätetischen.  Namentlich  wird 
die  Bedeutung  der  W  a  s  s  e  r  c  u  r  e  n  aller  Art  immer  mehr  anerkannt. 
Leider  sind  aber  dabei  verderbhche  Ansichten  geschaffen  worden.  Man  hat 
aus  dem  W^asser  ein  Allheilmittel  gemacht,  das  überall  und  jedesmal  ge- 
braucht werden  muss  und  angeblich  auch  hilft.  Wie  viel  Unheil  durch 
diese  kritiklose  Anwendung  der  Wassercuren  angerichtet  worden  ist,  entzieht 
sich  jeder  Schätzung.  Doch  fragt  sich,  ob  der  Nutzen  fanatischer  Wasser- 
behandlung ihren  Schaden  aufwiegt,  und  es  ist  möglich,  dass  bei  einer 
Reaction,  die  früher  oder  später  der  jetzigen  Begeisterung  folgen  wird,  uns 
auf  lange  Zeit  der  richtige  Gebrauch  des  Wassers,  eines  unserer  kostbarsten 
Heilmittel,  verloren  geht.  Die  Ansichten  der  ärztlichen  Praxis  ändern  sich 
sprungweise  und  man  hat  bereits  manches  Gute  aus  unserer  Kunst  als 
„obsolet"  ausgewiesen,  weil  es  die  hochgespannten  Erwartungen  nicht  erfüllte. 

Die  mannigfaltigen  Formen  der  Behandlung  mit  Wasser,  als  Getränk, 


CUR  UND  CUREN.  299 

Bäder,  Douchen,  Abreibung,  Umschlag,  Einwickluiig,  finden  eingehendere 
Besprechung  in  dem  Artikel  „Hydrotherapie".  Hier  sei  nur  darauf  hin- 
gewiesen, dass  einige  Gebiete  derselben  vernachlässigt  sind.  So  ist  die 
Bedeutung  der  localen  heissen  und  kalten  Applicirungeu  neben  den  Voll-, 
Halb-  und  Theilbädern  zur  Hebung  von  Ernährungs-  und  Kreislaufstörungen 
localer  oder  allgemeiner  Natur,  Beeinflussung  reflectorischer  Vorgänge, 
nervöser  Zustände,  functioneller  und  materieller  Veränderungen  noch  lange 
nicht  genügend  anerkannt.  Hierher  gehören  auch  die  fast  unentbehrlichen, 
wohlthätigen  Einwirkungen,  wie  sie  durch  Guttaperchapapierumschläge  mit 
oder  ohne  feuchte  Applicationen  in  den  mannigfachsten  Variationen  und 
Combinationen  und  bei  den  verschiedensten  Kranken  und  Leiden  mit  mehr 
oder  minder  Erfolg  angewendet  werden. 

Aehnlich  steht  es  mit  den  Massage  euren.  Auch  der  Glaube  an 
ihre  Wirkung  und  demzufolge  ihre  Anwendung  ist  in  erschreckender  Weise 
übertrieben  worden;  gerade  deshalb  steht  auch  hier  der  wirkliche  Nutzen 
oft  sehr  in  Frage.  Die  kritiklose,  systematische,  nicht  genug  individuali- 
sirende  Anwendung  der  Massage  —  und  sie  wird  fast  nur  kritiklos  und 
schablonenhaft  verwendet,  in  uncontrolirten  Instituten  und  von  ungebildeten 
Laien,  die  dort  machen  können,  was  sie  wollen  —  ist  eine  dauernde  Gefahr 
für  den  Ruf  unseres  Standes.  Die  Wissenschaft  hat  sich  leider  der  Wasser- 
und  Massagebehandlung  nur  zaghaft,  spät  und  ungenügend  angenommen  und 
sich  später  die  Praxis  wieder  aus  den  Händen  reissen  lassen-  Das  rächt 
sich  jetzt  sowohl  an  uns  Aerzten,  deren  Ansehen  sinkt,  als  an  den  Kranken, 
die  vielfach  durch  den  blinden  Eifer  dauernd  geschädigt  werden.  Auch  bei 
der  Massage  könnte  es  in  Zukunft  leicht  dahin  kommen,  dass  sie  durch 
übertriebene  Anwendung  völlig  in  Verruf  geräth. 

Als  besondere  Abarten  der  Massagecuren,  die  in  einem  eigenen 
Artikel  eingehendere  W^ürdigung  finden,  sind  die  s  e  h  w  e  d  i  s  c  h  e  G  y  m  n  a- 
stik,  Curen  an  besonderen  Apparaten,  Reitcuren  etc.  zu  erwähnen,  die  bei 
Unterleibsstockungen  und  Störungen  im  Bewegungsapparate  viel  gebraucht 
werden  (vergl.  „Mechanotherapie"). 

Hand  in  Hand  mit  der  Massage  gehen  die  elektrischen  und  hydro- 
elektrischen Curen,  die  wie  alle  anderen  Curen  vielfach  combinirt  und 
variirt  werden.  Das  Nothwendigste  darüber  wird  in  dem  Artikel  ,,Electro- 
therapie"  abgehandelt. 

Die  pneumatischen  Curen  haben  als  Princip  die  Anwendung 
comprimirter  oder  verdünnter  Luft.  Je  nachdem  man  mehr  auf  den  ge- 
sammten  Stoffwechsel  oder  mehr  auf  die  Lungenthätigkeit  Einfluss  üben 
will,  werden  entweder  der  ganze  Körper  oder  blos  die  Lungen  der  Ein- 
wirkung der  veränderten  Luftdichtigkeit  ausgesetzt.  Neben  allgemeinen 
Ernährungsstörungen  sind  es  hauptsächlich  Affectionen  des  Respirations- 
apparates, gegen  welche  die  Methode  empfohlen  wird.  Vorsicht  ist  dabei 
wie  bei  jeder  Cur  geboten.  Namentlich  ist  der  starke  Einfluss  der  Cur  auf 
die  Blutcirculation  —  Hämorrhagien  ex  vacuo  —  im  Auge  zu  behalten. 
Eng  an  diese  Behandlungsart  schliesst  sich  die  Expre  ssions  cur  an,  die 
Gerhardt  bei  bronchitischem  Emphysem  und  Bronchiectasien  anwendet 
und  die  namentlich  auch  mutatis  mutandis  bei  Unterleibsstörungeu  ver- 
schiedener Art,  Blähungen,  Atonie  des  Darmes,  Obstipation,  Fettanhäufuug, 
Zwerchfellverschiebung  etc.  zweckmässige  Verwendung  findet.  Durch  Druck 
auf  die  Brust-  und  Bauchwand  wird  dabei  die  Kraft  der  Exspiration  wesent- 
lich verstärkt.  Auch  hier  lassen  sich  üble  Zufälle  nicht  immer  ganz  vermeiden. 

Es  gibt  dann  noch  eine  grosse  Zahl  von  A  t  h  m  u  n  g  s  c  u  r  e  n,  bei 
denen  theils  durch  Gymnastik,  theils  durch  bestimmte  Apparate  eine 
Regelung  der  Respirationsthätigkeit  bezweckt  wird.  Auch  die  verschiedenen 


300  CUR  UND  CUREN. 

Stottercuren  wollen  mehr  oder  weniger  eine  Uebereinstimmung  zwischen 
Sprechen  und  Athmen  herbeiführen  und  gehören  so  in  gewissem  Sinne 
hierher.  Als  Curiosität  sei  schliesslich  der  Gähn  cur  Erwähnung  gethan, 
die  sich  zur  Zeit  einer  sonderbaren  Beliebtheit  erfreut. 

Die  Inhal  ations  euren,  die  sich  hier  passend  anreihen,  habenden 
Zweck,  dem  Respirationstractus  mit  der  Athmungsluft  bestimmte  Medica- 
mente zuzuführen.  Dazu  lassen  sich  gasförmige,  flüssige  und  pulverförmige 
feste  Körper  verwenden.  Je  nach  dem  Mittel,  dem  Individuum  und  dem 
zu  Grunde  liegenden  Uebel  ist  die  Wirkung  verschieden  und  bei  einzelnen 
Massnahmen,  so  bei  der  Inhalation  von  Sauerstoff  und  Stickstoff,  lassen 
sich  Beeinflussungen  des  Stoffwechsels  erzielen.  Eine  Rolle  haben  in  dieser 
Beziehung  zeitweilig  die  Ozoncuren  gespielt;  man  hat  sich  allmälig  von 
ihrer  Nutzlosigkeit  überzeugt.  Im  Wesentlichen  bezwecken  die  Inhalations- 
curen  locale  Einwirkung  auf  die  Respirationsorgane. 

Die  früher  üblichen  Räuchercure n  stehen  auch  jetzt  noch  nament- 
lich bei  den  Curpfuschern  in  Gunst ;  sie  beruhen  im  Ganzen  auf  denselben 
Grundlagen,  wie  die  eben  genannten.  Ebenso  ist  die  Insuf flations- 
Methode,  das  Einblasen  bestimmter  Arzneimittel,  in  Indication  und 
Wirkung  mehr  oder  weniger  übereinstimmend  mit  der  Inhalationscur. 

Die  klimatischen  und  Luft  euren,  zu  denen  die  grosse  Zahl 
der  Gebirgs-  und  Wintercuren,  unter  Anderem  auch  die  Seebäder  gehören, 
suchen  die  Verschiedenheiten  der  Klimate  im  weitesten  Sinne  des  Wortes 
zu  therapeutischen  Zwecken  zu  benutzen.  Ihre  Wirkung  ist  eingehend  studirt 
und  sie  bilden  ebenso  wie  die  Badecuren  einen  umfangreichen  Zweig 
der  Praxis.  Wichtig  ist  es,  auf  den  Unfug  hinzuweisen,  der  mit  den  Bade-  und 
Luftcuren  getrieben  wird.  Leicht  ist  es,  einem  Kranken  zu  sagen:  „Gehen 
Sie  in  den  und  den  Curort  oder  brauchen  Sie  das  und  das  Bad",  aber  es 
ist  ein  niedriger  Standpunkt,  womöglich  nach  einer  einzigen  Untersuchung 
den  Kranken  mit  einem,  solchen  billigen  Rathschlage  zu  entlassen  und  die 
Sorge  für  ihn  einem  Badeort  mit  oder  ohne  ganz  unbekanntem  Badearzt 
anzuvertrauen.  Eine  Garantie,  was  aus  dem  Patienten  wird,  hat  man  dabei 
nicht,  und  doch  ist  es  Pflicht  jedes  Arztes,  für  einen  Kranken,  der  ihn 
consultirt  und  dessen  Behandlung  er  übernommen  hat,  die  thunlichstp 
Verantwortung  zu  tragen.  Die  meisten  Badeorte  kennt  der  sie  empfehlende 
Arzt  nur  aus  Büchern  und  in  Büchern  steht  viel. 

Aehnlich  verhält  es  sich  mit  den  Trink-  und  Brunn encuren. 
Auch  sie  werden  vielfach  ohne  die  nöthige  Kritik  und  nähere  Details  ge- 
braucht und  ohne  genügendes  Bewusstsein,  dass  eine  Brunnencur  ein 
differenter  therapeutischer  Eingriff  ist.  Abgesehen  von  den  socialen  Schädi- 
gungen, die  der  Kranke  unter  Umständen  durch  ein  solches  Verfahren 
erleidet,  sind  Verschlimmerungen  seines  Leidens  durchaus  nicht  aus- 
geschlossen. Gerade  die  Trinkcuren  sind  für  gewisse  Kranke  durch  die 
mehr  minder  differenten  Flüssigkeiten,  ihre  Menge,  die  Art  uüd  Weise 
ihrer  Zufuhr  in  hohem  Masse  gefährlich  und  von  ihnen  gilt  das,  was  oben 
über  die  Milchcuren  gesagt  wurde,  umsomehr,  als  es  sich  hier  nicht  um 
ein  Nahrungsmittel,  sondern  um  ein  Arzneimittel  handelt.  Es  will  überlegt 
sein,  ehe  man  dem  Magen  und  Darme  eine  solche  Anstrengung,  wie  der 
Gebrauch   der  Brunnen   für  diese  Organe  mit  sich   bringt,    zumuthen  darf. 

Eine  ganze  Reihe  von  Curen  trägt  ihren  Namen  nach  bestimmten  thera- 
peutischen Manipulationen,  welche  dabei  vorgenommen  werden,  so  die  Schmier-, 
Injections-,  Sonden-  und  Intubationscuren.  Auf  sie  einzugehen 
muss  den  Specialartikeln  überlassen  bleiben.  Hier  sei  nur  kurz  auf  einige 
Nachtheile  hingewiesen,  die  bei  ihrer  Anwendung  hervortreten.  So  ist  es 
beispielsweise  üblich  geworden,  beim  Tripper  ohne  weiters  Ein  spritz  un- 


CUR  UND  CUREN.  301 

gen  ZU  gebrauchen.  Man  sollte  stets  daran  denken,  wie  leicht  auf  einer 
entzündeten  Schleimhaut  durch  Einspritzung  chemisch  und  physikalisch 
differenter  Mittel  Schädigungen  veranlasst  und  Geschwüre  gebildet  werden, 
die  mit  den  nachfolgenden  Narben  und  Stricturen  recht  unangenehm 
werden  können.  Das  trifft  selbst  oft  für  Injectionen  zu,  die  von  geschickter 
und  berufener  Hand  gemacht  werden.  Bei  der  Gewohnheit,  solche  Eingriffe 
pfuschenden  Laienhänden  zu  überlassen,  liegt  die  Gefahr  noch  viel  näher. 
Auch  das  Sondiren  wird  vielfach  zu  weit  getrieben.  Ganz  abgesehen 
davon,  dass  durch  ungeschicktes  Bougiren  jede  Verengerung  verschlimmert 
wird,  wird  auch  oft  fälschlich  eine  Strictur  diagnosticirt,  wo  nur  eine 
Schwellung    der  Schleimhaut    oder    ein  Krampf  der  Muskelfasern  besteht. 

Als  Inje  ctionscur  ist  weiterhin  die  Tuberculinb  ehandlung 
aufzufassen.  Auch  die  Methylenblau- Injectionen,  wie  sie  in  der 
Behandlung  der  verschiedensten  Nervenaffectionen  und  des  Carcinoms 
üblich  geworden  sind,  müssen  hier  erwähnt  werden,  wenn  ihr  Werth  auch 
nur  sehr  zweifelhaft  genannt  werden  kann.  Das  Merkwürdigste  auf  diesem 
Gebiete  ist  die  BgöwN-SiiiQuÄRD'sche  Spermin  cur.  Sie  versetzt  uns  in 
mittelalterliche  Zustände  zurück  und  bei  ihr  darf  man  wohl  sagen:  der 
Glaube  macht  selig. 

Die  Impfcuren  haben  in  der  Tollwuthimpfung  und  der  Erysipelas- 
Impfung  ihre  Repräsentanten,  an  die  wir  noch  die  Blutserum-Injectionen 
bei  Pneumonie,  Tetanus,  Diphtherie  und  die  alkoholischer  Thiosinaminlösungen 
gegen  Narbenbildungen  etc.  anreihen  wollen. 

Was  die  mit  Ausspülungen  des  Magens  oder  Darmes  ver- 
bundenen Curen  angeht,  so  steht  fest,  dass  durch  methodische  Ausspülungen 
Erweiterungen  und  functionelle  Störungen  des  Magens  oft  eher  hervor- 
gerufen als  geheilt  werden. 

Eine  Analogie  hiezu  bilden  die  Curen,  bei  denen  bestimmte  Medi- 
camente in  Anwendung  gezogen  werden,  und  deren  Zahl  Legion  ist. 
Nur  einige  sollen  kurz  angedeutet  werden:  die  Eisen-,  Schwefel-,  Jod-, 
Quecksilber-,  Opium-  und  Morphiumcuren.  Sie  tragen  fast  alle  den  Stempel 
der  Schablone.  Durch  Jahrhunderte  hindurch  haben  sie  sich  vererbt,  ohne 
dass  eine  gesunde  Kritik  ihren  Werth  geprüft  hat.  Sie  sind  in  vieler 
Beziehung  ein  Hemmschuh  für  die  Entwicklung  unserer  Kunst.  Vor  Allem 
in  der  Psychiatrie,  die  doch  am  meisten  das  Individuum  berücksichtigen 
sollte,  sind  die  Opium-  und  Morphiumcuren  noch  gang  und  gäbe.  Bequemer 
ist  es  ja  jedenfalls,  den  Geisteskranken  mit  Narcoticis  den  Mund  zu 
stopfen.  Aber  die  Palliativwirkung  ist  schliesslich  nicht  der  Hauptzweck 
der  Heilkunst. 

Auch  die  Curen  gegen  bestimmte  Affectionen  finden  ihre  Besprechung 
besser  in  den  einzelnen  Abhandlungen.  Diese  Anti-Curen  haben  aber, 
das  muss  gesagt  werden,  insgesammt  den  Fehler,  dass  sie  den  alten,  von 
der  Theorie  längst  begrabenen  Satz:  „Hie  Krankheit,  hie  Mittel"  praktisch 
am  Leben  erhalten. 

Die  Entwöhnungscure n  von  Alkohol,  Tabak,  Morphium,  Opium, 
Cocain  etc.  sind  mannigfach  ausgestaltet  worden.  Meist  beruhen  sie  auf 
einer  allmäligen  Entziehung  des  Giftes.  Ob  das  unter  allen  Umständen 
das  Richtige  ist,  bleibt  zweifelhaft.  Es  gibt  sicher  eine  Reihe  von  Säufern 
und  Morphinisten,  denen  nur  durch  plötzliche  absolute  Entziehung  zu  helfen 
ist,  freilich  meist  nur  in  Verbindung  mit  einer  Menge  anderer  individuell 
gewählter  und  dann  sehr  wirksamer  Massnahmen. 

Eine  hervorragende  Stelle  in  der  Therapie  nehmen  die  sogenannten 
Blutreinig ungscuren  ein.  Sie  zerfallen  im  Wesentlichen  in  Schwitz-, 
Abführ-  und  Kräutercuren. 


302  CUR  UND  CUREN. 

Dass  die  methodischen  Schwitzcureu,  wie  sie  durch  prolongirte 
Bäder,  Einwicklungen,  Dampfbäder  oder  Arzneimittel  herbeigeführt  werden, 
einen  grossen  Einfluss  auf  Ernährungs-  und  Circulationsstörungen  aller  Art 
haben,  steht  fest.  Sie  bringen  eine  gewaltige  Revolution  im  Körper  hervor 
und  sind  eines  unserer  brauchbarsten  Hilfsmittel.  Ihre  Uebelstände  sind 
freilich  nicht  zu  unterschätzen,  um  so  mehr,  je  ausschliesslicher  und 
kritikloser  sie  Verwendung  finden. 

Gefährlicher  und  auch  weniger  nutzbringend  sind  die  Abführ  euren. 
Sie  setzen  vielfach  so  ungünstige  Verhältnisse  und  verfehlen  ihr  Ziel  so 
häufig,  dass  sie  nur  mit  der  grössten  Vorsicht  benutzt  werden  sollten.  Ihre 
weite  Anwendung  bei  Ernährungsstörungen  ist  jedenfalls  nicht  zu  recht- 
fertigen. 

Parallel  mit  ihr  gehen  die  B  r  e  c  h  c  u  r  e  n  und  die  E  k  e  1  c  u  r  e  n. 
Heutzutage  hat  man  freilich  von  deren  Verwendung  fast  ganz  Abstand 
genommen. 

Die  Kräuter  euren  sind  neuerdings  mehr  verlassen  worden.  Doch 
werden  sie  noch  ab  und  zu  in  Gebrauch  gezogen,  bald  mit  Theeaufgüssen, 
die  innerlich  zu  nehmen  sind,  bald  äusserlich  als  Einpackungen  oder  Dunst- 
bäder. Ihre  seltene  Anwendung  lässt  schon  ihren  Werth  sehr  bedingt 
erscheinen. 

In  mancher  Beziehung  gehören  auch  die  Blutentziehungs  euren 
hierher.  Der  Aderlass  stand  früher  neben  Brechen  und  Abführen  im  Mittel- 
punkt der  Therapie  und  Curen  und  wurde  dann  fast  ganz  aufgegeben.  Er 
ist  in  der  neuesten  Zeit  wieder  bei  der  Chlorose  empfohlen  worden,  und 
dass  er  ein  wirksames  Agens  bildet,  ist  sicher.  Ein  unfehlbares  Heilmittel 
gegen  die  Chlorose  stellt  er  aber  nicht  dar.  Ebenso  wie  bei  der  Eisen- 
behaudlung  werden  wieder  hartnäckige  Kranke  bleiben,  denen  der  Aderlass 
auch  gar  nichts  hilft,  vielleicht  schadet.  —  Die  Blutegelcuren  und  Scarifi- 
cationen  haben  in  gleicher  Weise  ihre  Berechtigung  (vergl.  „Blutentziehungen"). 

Einen  scheinbaren  Gegensatz  hierzu  bilden  die  Transfusions curen, 
wie  sie  ab  und  zu  bei  Störungen  der  Blutbildung,  Verblutung,  und  neuerdings 
bei  der  Cholera  gebraucht  wurden.  Der  Zweck  ist  jedoch  auch  hier,  eine 
Anregung  der  Blutregeneration,  wenn  ihr  Werth  auch  ziemlich  illusorisch 
ist,  und  unsere  Vorstellungen  über  Blutbildung  und  ihre  Veranlassung  zum 
Theil  noch  sehr  mangelhaft,  ja  gewiss  geradezu  fehlerhaft  sind. 

Anzuschliessen  sind  hier  die  Derivations  curen,  die  freilich 
immer  mehr  in  Vergessenheit  gerathen.  Das  verdienen  sie  eigentlich  nicht. 
Die  Fontanellen,  Vesicatore,  das  Ferrum  candens  etc.  sind  immerhin  unter 
Umständen  ganz  brauchbare  Mittel. 

Eine  eigenartige  und  bedeutsame  Rolle  spielen  die  psychischen 
Curen.  Immer  mehr  bricht  sich  die  Ueberzeugung  Bahn,  dass  der  psychi- 
sche Einfluss  des  Arztes  ein  Hauptpfeiler  seines  Könnens  ist  und  vielfach 
ausschlaggebend  für  die  Behandlung  und  ihren  Erfolg  bleibt.  Die  grosse 
Verbreitung,  welche  die  methodische  Suggestionstherapie,  namentlich  bei 
verschiedenen  functionellen  Störungen  allenthalben  gefunden  hat,  ist  ein 
bedeutender  Fortschritt.  Ihr  curmässiger  Ausbau  ist  zwar  noch  gering,  aber 
die  Principien  stehen  im  Grossen  und  Ganzen  fest,  und  auch  der  Gefahren 
ist  man  sich  dabei  wohl  bewusst.  Eine  so  grosse  Zukunft  dieser  Methode 
zu  prophezeien,  Mäe  ihre  Anhänger  hoffen,  ist  immerhin  gewagt.  Neben  der 
methodischen  Suggestion  und  Hypnose  gehören  hierher  die  sogenannten 
magnetischen  Curen  und  die  Metallother apie.  Ihr  Erfolg  beruht 
meist  ebenso,  wie  bei  den  zahllosen  Wundercuren  katholischer  Länder,  auf 
psychischer  Einwirkung. 

In  einen  unberechtigten  Gegensatz  zu  einander   werden  immer  noch 


CUR  UND  CUREN.  3O3 

die  allopathischen  und  homöopathischen  —  besser  alle  thera- 
peutischen und  homöotherapeutischen  —  Curen  gebracht.  Von 
Allopathie  zu  reden,  ist  bei  unseren  veränderten  Anschauungen  gar  nicht 
mehr  gut  möglich,  und  auch  die  früher  geltenden  Theorien  der  Homöopathie 
sind  überwunden.  Daran  ändert  die  Thatsache  nichts,  dass  es  noch  unzählige 
gläubige  Homöopathen  gibt.  Jedenfalls  hat  uns  die  homöopathische  Lehre 
neben  dem  Fortschreiten  unserer  Kenntnisse  von  dem  fanatischen  Arznei- 
glauben befreit  und  sie  wird  deshalb  stets  in  der  Geschichte  der  Medicin 
ihre  Bedeutung  behalten.  Eine  Erweiterung  haben  die  homöopathischen 
Methoden  in  der  homöopathisch-elektrischen  MATTEi-Cur  gefunden,  die  an 
den  Glauben  der  Menschen  wunderbare  Anforderungen  stellt  und  auch 
erfüllt  findet. 

Auch  gewisse  Bekleidungs-Curen  hat  man  aufgestellt.  Das 
JÄGER'sche  Wollregime  und  im  Gegensatz  dazu  die  Verwendung  der  Baum- 
wolle (Lahmann  u.  A.)  als  Heilmittel  haben  weit  und  breit  Anhänger 
gefunden.  Dass  in  beiden  Theorien  ein  guter  Kern  steckt,  ist  klar,  aber 
ebenso  sicher  ist,  dass  wohl  selten  etwas  so  völlig  kritiklos  gehandhabt 
worden  ist  wie  das  Wollregime,  und  dass  die  Bedeutung  dieser  Dinge 
unverantwortlich  übertrieben  worden  ist. 

Wohl  die  weiteste  Ausbreitung  und  die  höchste  Begeisterung  haben 
in  letzter  Zeit  die  Naturheil -Metho  den  und  -Curen  gefunden,  denen 
im  gewissen  Sinne  auch  die  bekannte  KNEipp-Cur  anzureihen  ist.  Das 
Streben  ihrer  Jünger  hat  Berechtigung;  dass  jetzt  mehr  denn  früher  die 
Heilkraft  der  Natur  betont  wird,  ist  ein  Glück  für  unsere  Kunst,  und  dass 
mit  den  letzten  Resten  des  mittelalterlichen  Wunderglaubens  unserer 
Wissenschaft  gründlich  aufgeräumt  wird,  bedauern  nur  die,  denen  das  „Ut 
aliquid  fiat"  als  die  höchste  Weisheit  erscheint.  Aber  Anmassung  sonder 
gleichen  muss  es  genannt  werden,  wenn  sich  Leute,  die  keine  Ahnung  vom 
W^esen  und  Leben  des  menschlichen  Körpers  haben,  als  Bringer  einer 
neuen  Gesundheitslehre  hinstellen.  Von  der  Natur,  nach  der  sie  sich 
benannt  haben,  wissen  sie  nichts,  und  bei  jedem  Versuche,  ihr  Verständnis 
für  die  Naturvorgänge  darzuthun,  machen  sie  sich  lächerlich,  Ihre  W^eisheit 
reicht  nicht  soweit,  um  zu  merken,  dass  die  Anwendung  des  Wassers 
principiell  dasselbe  ist  wie  die  des  Quecksilbers,  und  dass  der  Peiessnitz- 
sche  Umschlag  nicht  mehr  Natur  in  sich  trägt  als  die  Amputation  eines 
Beins.  Ihre  Dogmen  sind  der  Ausdruck  einer  Reaction  gegen  die  Aus- 
wüchse der  Wissenschaft,  aber  sie  sind  genau  so  kurzsichtig  und  weit 
oft  gefährlicher  als  die  Irrthümer  der  Schulmedicin,  Gerade  die  Natur  ist 
diesen  Afterkünstlern  völlig  verschlossen,  während  es  hinter  den  Bergen 
der  Wissenschaft  immer  noch  Leute  gibt,  die  sich  die  Welt  und  ihr  Werden 
und  Sein  angesehen  haben,  neben  und  frei  von  schädlichen,  engbegrenzten 
Doctrinen  und  die  so  aufgeklärt  oder  so  „einfältig"  im  besten  Sinne  sind, 
dass  sie  die  ganze  Natur  als  ihre  Apotheke  betrachten, 

Dass  es  neben  der  Naturheilkunst  noch  andere  wunderbare  Erschei- 
nungsarten der  Laienphantasie  gibt,  beweisen  der  B  a  u  u  s  c  h  e  i  d  t  i  s  m  u  s  , 
die  KuHNE'sche  Cur  etc.  Die  Verbreitung  der  letzteren  lehrt,  dass  die 
Gunst  des  Publicums  am  bequemsten  durch  das  Auftischen  einer  grossen 
Albernheit  gewonnen  wird.  Auf  diese  Leute  passt  wirklich  der  Ausdruck 
„Curpfuscher." 

Eine  Merkwürdigkeit  unter  den  Curen  bleibt  die  sogenannte 
ScHWENiNGEE-C  u  r,  Sie  ist  in  jeder  Beziehung  ein  raffinirter  Betrug.  Man 
hat  eben  hier  nur  läuten  aber  nicht  schlagen  gehört;  die  „Entdecker" 
dieser  „Cur"  haben  aus  einigen  individuell  gegebenen  Verordnungen  gewisse 
Lehren,  Schablonen,  Principien  erdichtet,  diese  dann  zusammengestellt  und 


304  CUR  UND  CUREN. 

dem  erzielten  Gebräu  den  Namen  der  ScHWENiNGER-Cur  gegeben.  Diese 
Lehre  oder  ihre  Identificirung  mit  der  OEKTEL-Cur  wurde  des  Weiteren 
sogar  in  wissenschaftlich  medicinischen  Werken  vorgetragen.  Schweninger 
selbst  hat  mit  dieser  „Cur"  nicht  das  Geringste  zu  thun.  Er  ist  ein  solcher 
Feind  jeder  Schablone,  dass  er  während  seiner  ganzen  ärztlichen  Thätigkeit 
niemals  eine  sogenannte  „Cur"  verordnet  hat,  am  wenigsten  aber  seinen 
vornehmsten  Kranken,  über  welche  die  haarsträubendsten  Curfabeln  ver- 
breitet worden  sind,  während  darüber  thatsächlich  keine  authentischen 
Aeusserungen  bis  jetzt  vorliegen,  ausser  dem  was  Schweninger  selbst  in 
der  Vorrede  zu  seinen  gesammelten  Arbeiten  gesagt  hat. 


Aus  der  vorstehenden  Zusammenstellung  ersieht  man,  wie  mannigfach 
ärztliche  und  Laien-Phantasie  gespielt  hat,  neue  Behandlungsarten  zu 
erfinden,  und  schon  das  blosse  Aufzählen  so  vieler  methodischer  Curen 
genügt  zu  beweisen,  wie  diese  im  Grunde  genommen  sämmtlich  nur  relativen 
Werth  besitzen  —  noch  mehr,  wenn  man  in  Bäderalmanachen  u.  a.  0. 
sieht,  gegen  wie  viele  Leiden  es  Curen  gibt,  und  dass  jede  Cur  wie  die 
modernen  Arzneimittel  mehr  minder  ein  Allheilmittel  sein  soll.  Jede  Cur 
trägt  in  höherem  oder  geringerem  Grade  den  Stempel  der  Schablone. 
Darum  ist  jede  „methodische  Cur"  ein  Verstoss  gegen 
den  wichtigsten  Grundsatz  des  ärztlichen  Handelns: 
gegen  das  Individualisiren.  Während  die  Theorie  längst 
erkannt  hat,  dass  der  Begriff  der  Krankheit  als  des  Feindes  der 
Gesundheit  falsch  ist,  dass  vielmehr  Gesundheit  und  Krankheit  nicht 
absolute  Gegensätze  sind,  sondern  verschiedene  Gradformen  des  Lebens, 
wie  Wärme  und  Kälte  verschiedene  Gradformen  der  Temperatur  sind, 
während  also  die  Theorie  die  Schablone  nach  langem  Kampfe  überwunden 
hat,  rechnet  die  Praxis  noch  immer  mit  diesen  irrigen  Anschauungen  und  stellt 
der  feindlichen  Kraokheit  die  methodische  und  ausschliessende  Cur  gegenüber. 

Der  Fortschritt  unserer  Kunst  wird  dadurch  sehr  gehemmt,  denn 
unser  Können  nimmt  nur  zu,  wenn  es  mit  unserem  Denken  und  Wissen 
übereinstimmt.  Und  wenn  es  theoretisch  richtig  ist,  dass  Aerzte  nicht 
Krankheiten,  sondern  Kranke  behandeln,  so  muss  dieser  Satz  in  die  Praxis 
übertragen  werden.  Die  Behandlung  mittelst  einer  sogenannten  „Cur" 
richtet  sich  aber  stets  gegen  eine  Krankheit.  Sie  ist  die  schablouenhafte 
Anwendung  eines  Mittels  gegen  einen  Feind,  der  nicht  existirt.  Deshalb 
sind  alle  nicht  individuellen  Behandlungsmethoden  von  Grund  aus  und  ohne 
Ausnahme  zu  verwerfen. 

Allen  „Curen"  gegenüber  ist  eine  Einheit  herzustellen,  die  indivi- 
dualisirende  Cur.  Sie  ist  die  einzige,  die  allgemeine Giltigkeit  hat.  Bei 
jedem  Kranken  unterzieht  sie  alle  zugänglichen  äusseren  und  inneren  Punkte 
des  Lebens  einer  eingehenden  Würdigung.  Auf  die  Regelung  aller  Einwirkungen 
auf  den  menschlichen  Körper  muss  für  jeden  Fall  in  umsichtiger,  streng 
individualisirender  Weise  Rücksicht  genommen  werden.  Dabei  ist  die  Idee 
stets  vorherrschend,  unter  der  Leistungsfähigkeit  des  Individuums,  der 
Organe  und  Functionen  zu  bleiben,  während  man  dieselbe  gleichzeitig 
steigert.  Die  Leistungsfähigkeit  bis  zum  mehr  oder  minder  Gesunden  in 
einfachster  Weise  zu  erhöhen,  ohne  sie  zu  erschöpfen,  ist  das  Ziel  unserer 
Kunst.  Die  mannigfachen  Modificationen  und  Variationen,  die  sich  dabei 
durch  weitere  Beobachtung  und  Controle  ergeben,  lassen  es  sehr  wohl  zu, 
alle  die  Hilfsmittel,  die  uns  Kunst,  Wissenschaft,  Erfahrung  und  Humanität  etc. 
an  die  Hand  geben  anzuwenden,  und  so  lange  als  erforderlich  beizubehalten, 
wenn  sie  auch  nur  ein  nothweudiges  Uebel  darstellt. 


CUR  UND  CUREN.  305 

Wenn  Wissenschaft  und  Staat  ihre  Aufgabe  erfüllt  hätten  und  nicht 
überall  die  Schablone  und  den  Mangel  an  Denken  begünstigten,  würden 
diese  Forderungen  längst  erfüllt  sein,  was  sie  jetzt  nicht  sind.  Wissenschaft 
und  Staat,  ja  die  Menschheit  im  Ganzen  auf  den  individualisirenden 
Standpunkt  zu  stellen,  wo  es  nicht  Krankheiten,  sondern  Kranke  gibt,  ist 
unser  Ziel.  Wenn  es  erreicht  wird,  fallen  die  „Curen",  und  es  bleibt  nur 
die  „Cur". 

Trotzdem  erreicht  die  Behandlung  der  Kranken  durch  Curen  Erfolge. 
Allein  es  sind  bei  jeder  Cur  Dinge  zu  berücksichtigen,  die  Anleitung 
geben,  wie  das  Problem  zwischen  der  sich  scheinbar  widersprechenden 
Theorie  und  Praxis  gelöst  werden  kann. 

Zunächst  wird  eine  grosse  Anzahl  von  Kranken  von  selbst 
gesund.  Schon  das  Kranksein  an  und  für  sich  mit  den  grossen 
Veränderungen,  denen  es  den  Menschen  unterwirft,  bringt  oft  die 
Genesung,  die  Natur  hilft  sich  eben  oft  von  selbst.  Erklärlich  ist, 
dass  diese  Heilungen  der  Cur  zugeschrieben  werden,  die  zufällig 
gebraucht  wurde.  Sodann  gewinnt  der  Arzt  durch  das  Einleiten  einer  Cur 
ein  grosses  psychisches  Uebergewicht  über  den  Kranken,  und  schon  der 
moralische  Einfluss  allein  genügt  oft  zur  Herbeiführung  der  Besserung  und 
Heilung.  Der  Glaube  macht  eben  nicht  allein  selig,  sondern  auch  unter 
Umständen  gesund.  Ferner  wird  durch  jede  Cur  eine  solche  Umwälzung 
im  menschlichen  Leben,  namentlich  in  Stoffwechsel  und  Circulation  herbei- 
geführt, dass  daraus  sehr  wohl  günstige  Ergebnisse  hergeleitet  werden 
können.  Endlich  sind  alle  Curen  so  construirt,  dass  sie  die  vorherrschenden 
Symptome,  welche  der  Kranke  bietet,  mit  einer  gewissen  Sicherheit 
beseitigen.  Dass  oft  mit  der  Wegschaffung  des  Hauptsymptomes  ein  Kranker 
gesund  wird,  ist  ebenso  verständlich,  wie  dass  dies  unter  Umständen  nach 
Beseitigung  gewisser  Einflüsse  und  Ursachen  vorkommt. 

Bei  alledem  bleibt  eine  nicht  geringe  Anzahl  Kranker  übrig,  die 
durch  keine  Cur  genesen.  Sie  zu  heilen  ist  mit  schablonenhafter  Behandlung 
nicht  möglich.  Sie  sind  keine  „Schulfälle"  (die  ja  so  selten  sind),  sondern 
stellen  Individualitäten  dar;  sie  sind  die  zahlreichen  Uebergangsglieder 
zwischen  den  einzelnen  Gruppen,  zu  welch'  letzteren  man  Kranke  nach 
ihren  Affectionen  zusammenfasst,  um  sie  dann  mit  einem  griechischen  oder 
lateinischen  Namen  gestempelt  als  Krankheiten  aufzuführen.  Will  man  Alle 
heilen,  die  zwar  keine  Krankheit  haben  aber  krank  sind,  dann  ist  es  nöthig, 
für  Jeden  von  ihnen  eine  eigene  Behandlungsweise  aufzustellen.  Das  wäre 
dann  eine  Cura  im  wahren  Sinne. 

Man  müsste  diese  Patienten  nach  Berücksichtigung  und  Würdigung 
aller  einschlägigen  Verhältnisse  und  Momente  in  die  denkbar  einfachsten 
Verhältnisse  bringen,  um  alle  störenden  Factoren  auszusondern  und  einen 
thunlichst  klaren  unzweideutigen  Einblick  und  Einfluss  in  die  Thätigkeit  und 
Leistungsfähigkeit  des  Organismus  und  seiner  Theilezu  gewinnen.  Denn  schliess- 
lich sind  alle  Menschen,  seien  sie  gesund  oder  krank,  das  Product  ihrer 
gesammten  Lebensweise,  Verhältnisse  und  Einflüsse.  Ein  einziger  Factor 
in  diesem  Product  vortheilhaft  verändert,  muss  das  Resultat  anders  gestalten, 
um  so  günstiger  und  nützlicher,  je  wichtiger  der  betreffende  Factor  ist. 
Hat  man  die  Kranken  unter  Bedingungen  gestellt,  die  nicht  mehr  schädigend 
einwirken,  und  vor  Allem  die  in  ihrer  Wirkung  zu  controlliren  sind,  hat 
nianEssen,Trinken,  Bewegen,  Ruhen,  Schlafen,  Arbeiten,  zweckmässig  etc.  mit 
Mass  und  Ziel  und  in  gehöriger  Abwechslung  zu  beeinflussen  und  ihre 
Wirkung  anstandslos  zu  überblicken  vermocht,  so  kann  man  leicht  aus  der 
Masse  der  zugängigen  Hilfen  und  Mittel  (im  weitesten  Sinne  des  Wortes) 
noch   diejenigen   Variationen   und   Abänderungen   treffen,    die   nothwendig, 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  20 


306  CYANOSE. 

wünschenswerth  oder  nützlich  sind,  ausserdem  dabei  die  Leistungsfähigkeit 
des  Körpers  und  seiner  Theile  zur  thunlichsten  Höhe  zu  bringen  suchen. 
So  kann  man  stufenweise  sie  in  den  Sturm  der  Welt  wieder  zurückführen 
bis  zu  dem  Punkte,  wo  ihre  Kraft  und  Leistungsfähigkeit  noch  ausreicht. 
Sie  bis  dahin  zu  leiten  und  ihnen  ein  Leben  zu  schaffen,  das  sie  nach 
Möglichkeit  gesunden  lässt,  wo  möglich  gesund  erhält,  nicht  krank  macht 
und  vor  weiterer  Erkrankung  schützt,  das  ist  die  Kunst  des  Arztes,  das 
heisst  Individualisiren  und  das  ist  Schweninger's  Cur. 

SCHWENINGER-GEODDECK. 

CyanOSe  ^).  Cyanose,  als  klinisches  Symptom,  ist  jene  bläuliche  Ver- 
färbung der  Haut  und  der  Schleimhäute,  welche  dieselben  in  Folge  venöser 
Beschaffenheit  des  in  ihren  Capillaren  enthaltenen  Blutes  annehmen.  Die 
Anhäufung  eines  solchen  venösen,  d.  h.  C02-reichen  und  im  Gegensatze 
zum  hellrothen  0-reichen  arteriellen  Blute  dunkelblaurothen  Blutes  wird  sich 
vorwiegend  und  zunächst  an  den  gefässreichen  und  durchscheinenden 
Körperstellen,  welche  bereits  für  gewöhnlich  lebhafter  gefärbt  sind,  wie 
die  Ohren,  Wangen,  Lippen  und  Zunge,  als  cyanotische  Färbung  derselben 
äussern. 

Als  nächste  Ursache  der  Cyanose  müssen  sämmtliche  Momente 
gelten,  welche  entweder  den  Uebergang  des  venösen  Blutes  in  arterielles 
hindern  oder  die  Umwandlung  des  arteriellen  in  venöses  fördern.  Ersteres 
kommt  in  den  Capillaren  des  kleinen  Kreislaufes  durch  herabgesetzte 
0-Aufnahme  und  herabgesetzte  C02-Abgabe  in  Folge  Beschränkung  des 
respiratorischen  Gaswechsels,  daher  vorwiegend  bei  Athmungshindernissen 
vor;  letzteres  in  den  Capillaren  des  grossen  Kreislaufes  durch  gesteigerte 
0-Abgabe  und  gesteigerte  COg-Aufnahme  in  Folge  Verlangsamung  des 
Blutstromes,  daher  vorwiegend  bei  Circulationshindernissen.  Die  Arteria- 
lisirung  des  venösen  Blutes  durch  Oxydation  und  Decarbonisation  der 
rothen  Blutkörperchen  erfolgt  bekanntlich  in  der  Lunge  vermöge  des 
.respiratorischen  Gaswechsels  und  ist  daher  von  folgenden  Umständen  ab- 
hängig: 1.  von  dem  Querschnitte  und  der  Geschwindigkeit  des  in-  und 
exspiratorischen  Gasstromes,  sowie  der  chemischen  Beschaffenheit  der 
inspirirten  Luft ;  2.  von  dem  Querschnitte  und  der  Geschwindigkeit  des  in 
den  Aesten  der  Pulmonalarterie  fliessenden  Blutstromes  und  der  Anzahl, 
Grösse  und  Beschaffenheit  der  oxydationsfähigen,  corpus culären  Elemente 
im  Blute.  Was  die  chemische  Beschaffenheit  der  inhalirten  Luft  anlangt, 
so  muss  vor  Allem  0  in  genügender  Quantität  und  hinreichender  Spannung 
in  dieser  vorhanden  und  andererseits  nicht  mit  relativ  grösseren  Mengen 
CO2  gemischt  sein.  Die  tödtlichen  Asphyxien  der  Luftschiffer  in  einer  Höhe 
von  8000  m  sind  wohl  in  erster  Linie  durch  geringe  Spannung  des  0  in 
so  hohen  Luftschichten  und  durch  die  Unfähigkeit  des  Hämoglobins,  bei 
niedrigem  Drucke  0  zu  absorbiren,  bedingt,  der  trotz  beschleunigter 
Athmung  dem  Organismus  nicht  mehr  in  genügender  Menge  zugeführt 
werden  kann.  Auf  der  anderen  Seite  sind  die  seltenen  Fälle  von  Erstickung 
in  Gährkellern,  in  welchen  CO^  in  reichlicher  Menge  sich  entwickelt,  sowie 
die  berüchtigten  Asphyxien  in  der  Hundsgrotte  Beispiele  für  die  Irrespira- 
bilität  einer  mit  CO.2  geschwängerten  Luft. 

Eine  Beschränkung  des  Gasaustausches  in  der  Lunge 
zwischen  Blut  und   der   atmosphärischen  Luft  wird  durch  Erkrankung  der 


*)  Auf  der  Basis  dieses  Stichwortes  hat  der  Autor  ein  differential- diagnostisches 
Bild  sämmtlicher  Lungen-  und  Herzkrankheiten  entworfen.  —  Durch  an  entsprechender 
Stelle  angebrachten  Wechsel  des  Druckes  erscheinen  die  wichtigsten  Schlagworte  genügend 
hervorgehoben  und  Averden  dieselben  auch  in's  General-Register  mit  den  nöthigen 
Hinweisen  eingefügt  werden.  D-  Red. 


CYANOSE.  307 

Respirationsorgane  veranlasst.  Hier  kann  wiederum  durch  Stenosen  im 
Larynx  oder  in  der  Trachea  oder  durch  Verkleinerung  der  Respirations- 
fläche in  Folge  von  Verstopfung,  sei  es  der  Bronchien  oder  der  Alveolen, 
mit  flüssigen  oder  festen  Stoö"en  oder  in  Folge  Schwund  des  Parenchyms 
eine  Verminderung  des  Querschnittes  der  inspirirten  Luft,  andererseits 
durch  verminderte  Elasticität  der  Lunge  oder  Insufficienz  des  neuro- 
musculären  Respirationsapparates  eine  Herabsetzung  der  Geschwindigkeit 
der  ein-  und  ausströmenden  Gase  herbeigeführt  werden.  Schliesslich  wird 
der  Gaswechsel  dadurch  ungenügend,  dass  trotz  unbehinderten  Luftzutrittes 
zu  den  Lungen  eine  zu  geringe  Menge  Blutes  mit  der  Luft  in  der  Zeit- 
einheit in  Berührung  tritt,  wie  bei  Verkleinerung  des  Strombettes  der 
Arteria  pulmonalis  oder  durch  Verlangsamung  des  Blutstromes  in  den 
Lungengefässen.  In  diesen  letztgenannten  Fällen  kommt  es  secundär  zum 
behinderten  Abflüsse  des  venösen  Blutes  in  das  rechte  Herz  und  so  zu 
einer  Ueberfüllung  des  venösen  und  capillaren  Gefässsystems.  Indem  so 
zu  dem  chemischen  Momente  der  verhinderten  Oxydation  des  Lungenblutes 
noch  das  mechanische  der  Stauung  im  Körpervenensystem  hinzutritt,  erreicht 
die  Cyanose  in  dieser  letzten  Reihe  von  Fällen  die  beträchtlichsten  Grade. 

Wiewohl  demnach  sowohl  bei  Respir  ati  ons-  als  auch  bei  Circu- 
lationsstörungen  der  letzte  Grund  der  Cyanose  eine  unvollkommene 
Arterialisirung  des  Gesammtblutes  ist,  so  ist  dennoch  die  effective  Wirkung 
der  besprochenen  Factoren  auf  das  Zustandekommen  jenes  Phänomens  eine 
ungleichmässige.  Bei  Erkrankungen  der  Respirationsorgane  wird  zwar  die 
Cyanose  häufig  beobachtet,  doch  steht  sie  nicht  immer  im  geraden  Ver- 
hältnisse zur  Verkleinerung  der  Respirationsoberfläche  und  Erschwerung 
des  Luftzutrittes  zu  den  Lungen.  Hochgradige  pleuritische  Exsudate  mit 
Ausschaltung  einer  ganzen  Lunge,  hochgradige  Destructionsprocesse  des 
Lungenparenchyms  weisen  entweder  überhaupt  keine  oder  nur  geringe 
Grade  der  Cyanose  auf,  wenn  der  Patient  sich  ruhig  im  Bette  verhält. 
Bei  diesen  Erkrankungen,  soweit  sie  ausschliesslich  nur  den  Respirations- 
tract  betreffen,  wird  durch  Zunahme  der  Respirationsfrequenz  und  Ver- 
tiefung der  Athemzüge  die  dem  vielleicht  herabgesetzten  Sauerstoffbedarf 
der  Gewebe  entsprechende  Sättigung  des  Blutes  mit  0  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  erreicht,  und  die  Cyanose  entsteht  nur  dann,  wenn  jene 
regulatorischen  Momente  nicht  hinreichen,  sei  es,  dass  ein  aussergewöhn- 
liches  und  in  acuter  Weise  entstandenes  Athmungshindernis  vorliegt  oder 
die  Respirationsmuskeln  und  ihre  Innervationsapparate  in  ihrer  Thätigkeit 
erlahmen.  Auf  der  anderen  Seite  sind  es  die  Klappenfehler  des  Herzens, 
insbesondere  die  angeborenen  Herzanomalien,  welche  mit  hochgradiger 
Cyanose,  manchmal  ohne  auffällige  Athmungsstörungen  einhergehen  können. 

Als  allgemeine  Regel  muss  demnach  der  Satz  aufgestellt  werden,  dass 
bei  Respirationskrankheiten  die  Dyspnoe,  bei  Erkrankungen 
des  Circulationsapparates  hingegen  die  Cyanose  in  den  Vorder- 
grund tritt,  ferner  dass  bei  uncomplicirten  Erkrankungen  des  Respirations- 
apparates, welche  mit  Dyspnoe  einhergehen,  vorwiegend  nur  dann  aus- 
gesprochene Cyanose  sich  bemerkbar  macht,  wenn  der  Rückfluss  des  venösen 
Blutes  in  die  Brusthöhle  behindert  ist,  wie  dies  z.  B.  in  vorübergehender 
Weise  bei  Keuchhusten  durch  Steigerung  des  Exspirationsdruckes  der  Fall 
sein  kann,  oder  wenn  die  Respirationskräfte  nicht  ausreichen,  um  durch 
ausgiebige  Lungenventilation  die  Arterialisirung  des  Blutes  zu  besorgen, 
sei  es,  dass  das  Respirationshindernis  im  vorhinein  zu  gross  ist,  oder  dass 
der  musculös-nervöse  Athmungapparat  vom  Hause  aus  zu  schwach  ist  oder 
erst  im  Kampfe  mit  dem  Respirationshiudernis  insutficient  wird.  Aus  diesem 
Grunde  ist   die  Abnahme    einer    früher    vorhandenen  Dyspnoe,    wenn    die 

20* 


CYANOSE. 


Cyanose  gleichzeitig  als  neues  Symptom  hinzutritt  oder,  sobald  sie  früher 
vorhanden  gewesen,  sich  steigert,  ein  Zeichen  der  respiratorischen  Incom- 
pensation,  daher  in  der  Regel  ein  prognostisch  ominöses  Symptom  bei 
Krankheiten  des  Respirationsapparates. 


Wenn  wir  nun  die  Affectionen  des  Respirationstractus  der  Reihe 
nach  durchgehen,  welche,  wie  oben  betont,  zu  Dyspnoe  und  Cyanose  führen, 
so  sind  es  zunächst  diejenigen,  welche  Verengerung  des  Einganges 
der  Luftwege  bewirken,  die  wir  hervorzuheben  haben. 

Im  Isthmus  faucium  bleiben  oft  Fremdkörper,  namentlich  grosse 
Bissen  nicht  gut  gekauter  Nahrung,  stecken  und  führen  so  zu  Cyanose  und 
Erstickungsgefahr.  In  solchen  Fällen  wird  uns  die  Diagnose  keine  Schwie- 
rigkeiten bereiten. 

Casuistisch  interessant  ist  ein  von  mir  beobachteter  Fall,  der  unter  dem  Bilde 
einer  hochgradigen,  transitorischen  Dyspnoe  und  Cyanose  auftrat,  und  bei  dem  es  sich 
um  Bildung  einer  mit  blutig  serösem  Inhalte  gefüllten  Blase  an  der  Uvula  handelte, 
welche  bis  zu  Pflaumengrösse  herangewachsen  war  und  dabei  den  Isthmus  faucium  ver- 
engerte. (Angina  herpetica.) 

Cyanose  mit  Athemnoth  kommt  als  häufiges  Symptom  bei  den  ver- 
schiedenen Kehlkopfaffectionen  vor,  hier  stets  verursacht  durch  acute 
oder  chronische  Verengerung  oder  Verschluss  des  Athmungscanals.  Während 
bei  Kindern  schon  massige  Anhäufung  zähen  Schleims  (Pseudocroup), 
der  einfache,  rein  nervöse  Glottiskrampf  namentlich  bei  rhachitischen  Kin- 
dern zu  den  bekannten  Suffocationserscheinungen  mit  Cyanose  führen  kann, 
ist  bei  Erwachsenen  das  Symptomeubild  des  Laryngospasmus,  wie  er  bei 
Epilepsie,  Paramyoclonus,  Tetanie,  Tetanus,  Chorea  und  Lyssa,  auch  Tabes 
(crises  laryngees),  schliesslich  bei  Gehirntumoren  und  Hydrocephalus 
vorkommt,  in  der  Regel  weniger  stürmisch,  ausgenommen  bei  Hysterischen, 
bei  welchen  in  Folge  des  Stillstandes  der  Respiration  durch  den  Glottis- 
verschluss  selbst  allgemeine  Krämpfe  auftreten  können.  Auch  ein  fieberhafter 
Laryngotrachealkatarrh  kann  bei  Hysterie  und  Tetanie  dadurch,  dass  bei 
jedem  Hustenanfalle  die  Respirationsmuskehi  und  Glottisverschliesser  in 
tetanische  Contraction  gerathen  und  dass  die  durch  Sauerstoffarmuth  aus- 
gelöste tiefe  Inspiration  noch  bei  verschlossener  oder  verengerter  Stimm- 
ritze erfolgt,  zur  hochgradigen  Cyanose  mit  intermittir ender  Athemnoth  und 
Brustbeklemmung  führen. 

Dyspnoe  mit  Cyanose  durch  Lähmung  der  Glottis  kommen  bei  ver- 
schiedeneu Cerebr  OS pinalerk rankungen  und  Aflectionen  des  Vagus 
vor,  wie  bei  Gehirnhämorrhagien,  Embolien  der  Art.  vertebralis,  Affectionen 
der  Gehirnrinde  bei  progressiver  Paralyse,  nuclearer  Lähmung  des  Vago- 
accessorius  und  narbiger  Constriction  desselben  oder  Druckatrophie  durch 
Keubildungen  und  metastatische  Geschwülste  am  Halse  und  im  Foramen 
jugulare,  Aneurysmen  und  Abscesse,  ferner  im  Gefolge  von  Tabes,  amyo- 
trophischer Lateralsklerose  und  Degeneration  des  Vagus  bei  chronischer 
Bleivergiftung.  Die  Lähmung  der  Glottismusculatur  kann  ferner  durch  myo- 
pathische  Processe  bedingt  sein,  me  in  Folge  von  Rheumatismus,  Lues, 
Diphtheritis  und  Trichinen. 

Cyanose  zählt  weiterhin  zu  den  geläufigsten  und  wichtigsten  Symp- 
tomen der  Rachendiphtheritis  und  des  Kehlkopf  Croups. 

Die  Dyspnoe  und  Cyanose  diirch  Larj/nxödem  vfir  Ah  ei  },lorhusBrightii, 
bei  Herzkranken,  Strumen,  Amyloiddegeueration  der  Organe,  bei  acuter 
Laryngitis,  Perichondritis,  insbesondere  der  Aryknorpel,  Ülcerationeu 
im  Kehlkopfe,  bei  Syphilis  und  Lepra,  ferner  bei  entzündlichen  Vorgängen 


CYANOSE. 


309 


der  Zunge  und  des  Gaumens,  seltener  der  Parotis,  Glandula  submaxillaris, 
der  Lymphdrüsen  am  Halse  und  der  Schilddrüse  beobachtet. 

In  ähnlicher  Weise  können  Oesophaguscarcinome,  Aneurysmen  der  Aorta,  Narben 
am  Halse  Glottisödem  erzeugen  ;  ferner  ist  das  angioneiirotische  Larijnxödem  zu  erwähnen 
und  schliesslich  jene  seltenen  Fälle,  die  vielleicht  als  Urticaria  der  Schleimhäute  (der 
Zunge  und  des  Larynx)  aufgefasst  werden  können.  Das  Larynxödem  kann  auch  nach 
Jodkaliumgebrauch  entstehen,  selbst  bei  verhältnismässig  kleinen  Dosen,  als  eine  seltene 
Erscheinung  des  Jodismus.  Auch  die  Vergiftungen  mit  corrosiven  Giften  und  Verbrü- 
hungen erzeugen  Cyanose  und  Dyspnoe,  meistens  durch  Larynxödem. 

Typhus,  Variola,  Scarlatina,  Erysipel  und  Pyämie,  Rotz  und  Endocarditis  ulcerosa 
haben  ebenfalls  durch  Bildung  von  Glottisödem,  Larynxgeschwüren,  metastatischen  Ent- 
zündungen des  submucösen  Zellgewebes  und  Perichondritis  laryngea  Cyanose  und  Dys- 
pnoe im  Gefolge,  wie  sie  in  ähnlicher  Weise  Tuberculose  begleiten  können. 

Anderweitige  Larynxstenosen,  sei  es  in  Folge  Narbenschrumpfung  oder 
intralaryngealer  Tumoren,  veranlassen,  je  nach  dem  Grade  der  Verengerung 
geringere  oder  höhere  Grade  der  Cyanose. 

Selten  entsteht  Dyspnoe  und  Cyanose  durch  So  orwuch  erung  im 
Kehlkopfe. 

Traumen  bilden  bisweilen  die  Ursache  von  Blutsuff  usi  onen, 
welche  den  Kehlkopf  stenosiren.  Fremdkörper  rufen  entweder  an  sich  oder 
durch  secundäre  Veränderungen  am  Larynx  Stenosenerscheinungen  hervor. 
Namentlich  oft  ist  in  diesen  Fällen  das  Fehlschlingen  die  Ursache  der  in 
der  acutesten  Weise  auftretenden  Cyanose,  wie  es  bei  Anästhesie  der 
Kehlkopf  Schleimhaut  nach  Diphtheritis,  seltener  Bulbärparalyse,  Syringo- 
myelie,  Vagusaffectionen,  Syphilis  und  Hysterie  beobachtet  wird. 

Durch  Einwandern  von  Ascariden  in  den  Kehlkopf  können 
Suffocationsanfälle,  in  sehr  seltenen  Fällen  auch  der  Tod  durch  Ersticken 
erfolgen. 

Im  Allgemeinen  ist  Cyanose  mit  dem  Gefühle  grosser  Athemnoth  und 
Brustbeklemmung,  wobei  sich  die  Kranken  bemühen,  jeden  Exspirationsact, 
insbesondere  den  Husten,  zu  unterdrücken,  und  bei  welchem  die  Athem- 
noth hauptsächlich  während  des  Lispiriums  auftritt,  charakteristisch  für  die 
Stenosen  der  Ptespirationswege.  Angestrengte  Muskelthätigkeit  zur  Ueber- 
windung  des  Athmungshindernisses,  Verlängerung  der  Inspirationsphase,  Ab- 
wärtsbewegung des  Larynx,  inspiratorische  Einziehung  der  Intercostalräume, 
der  Fossa  jugularis,  der  Supraclaviculargruben  und  der  Magengrube,  ste- 
notische Athmungsgeräusche,  Pfeifen,  Schnurren  und  Rasseln  mit  Abschwä- 
chung  oder  gänzlichem  Fehlen  des  vesiculären  Athmens  charakterisiren  das 
klinische  Bild  derLarynxstenose.  Die  Abweichungen  hievon  hängen 
vom  Sitze  und  den  sonstigen  Verhältnissen  der  steuosirenden  Ursache  ab. 
Larynxstenosen  durch  Narben  und  Neubildungen  im  Kehlkopfe  erzeugen  je 
nach  ihrem  Sitze  gewöhnlich  die  schwersten  Inspirationsstörungen,  welche 
bald  die  Inspiration,  bald  die  Exspiration,  bald  beide  Respirationsphaseu 
betreffen.  Bewegliche  Geschwülste,  z.  B.  Polypen  unterhalb  der  Glottis, 
können  letztere  bei  der  Exspiration  ventilartig  verlegen  und  demzufolge 
exspiratorische  Dyspnoe  bei  normaler  und  leichter  Inspiration  erzeugen. 
Polypen  oberhalb  der  Glottis  erzeugen  in  der  Regel  inspiratorische  Dys- 
pnoe, welche  in  seltenen  Fällen,  nur  dann,  wenn  die  Kranken  die  dem  Sitze 
des  Polypen  entgegengesetzte  Lage  annehmen,  auftritt,  und  zwar  dadurch, 
•dass  der  gestielte  und  bewegliche  Tumor  vermöge  seines  Gewichtes  die 
Glottis  verlegt  und  beim  Inspirium  weiter  aspirirt  wird,  so  dass  er  den 
Verschluss  noch  vollständiger  macht.  Auch  in  den  meisten  übrigen  Fällen 
der  Larynxstenosen  prävalirt  der  inspiratorische  Typus  der  Dyspnoe.  Als 
Prototyp  desselben,  namentlich  bei  stärkeren  Muskelanstrengungen,  mit 
laut  tönendem  Stridor  bei  ungehinderter  Exspiration  und  normaler  Phonation 
gibt  doppelseitige  Lähmung  der  Glottisöffner,    d.  i.  der  Musculi   crico-ary- 


310  CYANOSE. 

taenoidei  postici,  wie  sie  lange  Zeit  das  einzige  initiale  Symptom  der  Tabes 
darstellen  kann. 

Eetropharyngeala  bscesse  können  durch  Stenose  des  Larynx  eben- 
falls Dyspnoe,  Cyanose,  Stridor  und  Veränderung  der  Stimme,  welche  näselnd 
und  gurgelnd,  doch  nicht  klanglos  wird,  aber  nicht  den  charakteristischen 
Crouphusten  bewirken.  Die  Schlingbeschwerden,  sowie  die  Steifheit  des 
Halses,  mit  Neigung  nach  der  gesunden  Seite,  müssen  in  einem  solchen 
Falle  stets  die  Aufmerksamkeit  des  Arztes  auf  die  Möglichkeit  eines  der- 
artigen Processes  lenken  und  ihn  zur  Untersuchung  der  hinteren  Pharynx- 
wand  auffordern. 

In  gleicher  Weise,  wie  bei  Larynxstenosen,  kommt  selbstverständlich 
Dyspnoe  und  Cyanose  bei  Stenosen  der  Trachea  vor.  Charakteristisch 
für  Trachealstenosen  ist  die  inspiratorische  Dyspnoe,  doch  tritt  dieselbe 
nicht  so  deutlich  hervor,  wie  bei  Larynxstenosen:  auch  fehlen  bei  Tracheal- 
stenosen die  respiratorischen  Abwärtsbewegungen  des  Larynx  und  die  nach 
hinten  geneigte  Stellung  des  Kopfes,  ebenso  Phonationsstörungen.  Letztere 
können  nur  in  manchen  Fällen  von  Stenosen  der  Trachea,  me  sie  bei  Stru- 
men, Mediastinalgeschwülsten  und  Aneurysmen  vorkommen,  durch  Recur- 
rens-Lähmungen  entstehen. 

Auch  bei  BronchiaFstenosen  prävalirt  der  Typus  der  inspira- 
torischen Dyspnoe,  diesfalls  mit  den  Folgen  der  Luftverdünnung  nur  im 
betreffenden  Thoraxabschnitte,  daher  nebst  Unbeweglichkeit  der  Lungen- 
ränder einseitige  Retraction  des  Thorax  mit  inspiratorischen  Einziehungen 
oder,  bei  hohen  Graden  der  Stenose,  Unbeweglichkeit  der  Intercostalräume 
der  Supraclaviculargegend  und  der  Magengrube.  Die  Auscultation  ergibt 
manchmal  an  der  Seite,  wo  die  Stenose  ihren  Sitz  hat,  abgeschwächtes 
Athmen  oder  lautes  Stenosengeräusch.  Die  stenosirende  Ursache  besteht 
am  häufigsten  im  Druck  durch  Tumoren  der  Schilddrüse,  Thymus,  Speise- 
röhre, des  Mediastinums,  der  Lymphdrüsen  und  der  Lunge,  durch  Senkungs- 
abscesse  bei  Wirbelcaries,  ferner  durch  Aneurysmen  der  Aorta,  Dilatation 
des  linken  Yorhofs,  grosse  pericardiale  Exsudate,  ferner  in  entzündlichen, 
geschwürigen   und  narbigen    (Syphilis)   Veränderungen    der  Brouchialwand. 

Von  besonderem  Interesse  ist  der  sogenannte  wandernde  Kropf.  Es  handelt  sich 
hier  um  ausserordentlich  bewegliche  Kröpfe,  welche  bald  an  ihrer  normalen  Stelle,  z.  B. 
im  Bereiche  der  ersten  Tracheairinge  liegen,  bald  hinter  das  Sternum  oder  hinter  die 
rechte  Clavicula  in  das  rechte  oder  linke  Mediastinum  aspirirt  werden  und  dann  durch 
Druck  auf  die  Trachea  und  die  grossen  Gefässe  Erstickungsanfälle  und  Circulations- 
störungen  hervorrufen.  In  solchen  Fällen  handelt  es  sich  zuweilen  gleichzeitig  um  eine 
auffallende  Verschieblichkeit  der  Luftröhre  und  des  Kehlkopfes  in  der  Richtung  von  oben 
nach  unten.  Diesen  Wanderkropf  trennt  Wölpler  vom  sogenannten  goitre  plongeant,  wel- 
cher, retrostemal  oder  retroclavicular  liegend,  in  Folge  seiner  eigenen  Beweglichkeit  durch 
die  Inspiration  tiefer  herabgezogen  wird  und  bei  der  lixspiration  wieder  hervortritt.  (Till- 
MAKXs.)  Andererseits  erzeugt  der  endothoracale  Kropf  bei  gewissen  Bewegungen  des 
Kopfes,  z.  B.  nach  vorne  oder  hinten,  plötzliche,  unter  Cyanose  einhergehende  Erstickungs- 
anfälle, sei  es,  dass  diese,  wie  beim  Wanderkropf,  durch  Verschiebung  der  Geschwulst  selbst, 
sei  es,  dass  sie  durch  Compression  oder  durch  Abknickung  der  Trachea  ausgelöst  werden. 
Man  erkennt  eine  endothoracale  Struma  an  der  Unbeweglichkeit  des  Kehlkopfes  beim 
Schlucken  und  an  der  Mitbetheiligung  der  ev.  in  jugulo  palpablen  Geschwulst  bei  seit- 
lichen Bewegungen  der  Schilddrüse. 

Bilden  Fremdkörper  die  stenosirende  Ursache,  so  ist  unter  Umstän- 
den das  Wechseln  der  Stenosenerscheinungen  und  der  Athemnoth  mit  den 
manchmal  vorkommenden  Lageveränderungen  der  Fremdkörper  diagnostisch 
wichti-g.  Fremdkörper,  wenn  sie  im  Larynx  eingeklemmt  werden,  pflegen  gewöhn- 
lich im  ersten  Momente  die  heftigsten  Erscheinungen  der  Larynxstenose  zu 
erzeugen,  während  in  der  Folgezeit  trotz  ihres  Verweilens  im  Kehlkopfe 
eine  Abnahme  der  jeweilig  vorhandenen  Beschwerden  und  sogar  eine  merk- 
würdige Toleranz  der  Schleimhaut  dem  Fremdkörper  gegenüber   eintreten 


CYANOSE.  311 

kann.  Fremdkörper  können  aber  auch  durch  die  Glottis  in  die  Trachea 
fallen,  aus  welcher  sie  wieder  in  die  Höhe  gestossen  werden,  um  auf  kurze 
Zeit  im  Larynx  zu  verweilen  und  dann  wieder  in  die  Trachea  und  die 
Bronchien  zurückzufallen.  So  kann  man  in  der  ersten  Periode,  bevor  Ent- 
zündung der  Schleimhaut  und  Fieber  sich  einstellt,  durch  diese  Wanderung 
auffallenden  Wechsel  der  Symptome  beobachten,  indem  die  heftigsten  Anfälle 
von  Husten  und  Erstickung  mit  einem  Zustande  relativer  Erleichterung  abwech- 
seln. Auch  ist  ein  quälender  Hustenreiz,  mit  eitrigem,  zeitweise  blutigem 
Auswurfe,  der  sich  durch  kein  Narcoticum  unterdrücken  lässt,  und  der  häufig 
von  den  Erscheinungen  einer  circumscripten  Lungengangrän  und  Pleuritis  ge- 
folgt ist,  für  die  Diagnose  von  Fremdkörpern,  welche  in  die  kleineren  Bron- 
chien eingedrungen  sind,  verwerthbar,  wofern  die  Anamnese  keine  sicheren 
Anhaltspunkte   hiefür   gibt,   wie   dies   z.  B.  bei  Kindern    oft    der  Fall   ist. 

Bei  intensiver  capillarer  Bronchitis  kann  sich  allmälig  ein 
asphyktisch-cyanotischer  Zustand  entwickeln.  Bei  bestehender  Thoraxrhachitis 
und  Deformität  des  Thorax  tritt  im  Verlaufe  dieser  Erkrankung  auch  bei 
Erwachsenen  Cyanose  schon  frühzeitig  in  den  Vordergrund.  In  gleicher 
Weise  findet  man  bei  acuten,  schweren,  fieberhaften  Bronchitiden  der 
Säuglinge,  sowie  Bronchiolitis  der  Greise  cyanotische  Verfärbung  des  Ge- 
sichtes auftreten. 

Cyanose  mit  einer  langgezogenen,  krampfhaften,  pfeifenden  Inspiration, 
der  eine  Reihe  von  kurz  dauernden,  explosiven,  stossweise  sich  wieder- 
holenden Exspirationsbewegungen  folgt,  bis  endlich,  nicht  selten  unter 
Würgen  und  Erbrechen,  ein  glasartiger,  zäher  Schleim  herausbefördert  wird, 
charakterisirt  den  Hustenparoxysmus  der  Pertussis  in  ihrem  convulsiven 
Stadium.  Durch  die  ungenügende  Glottisöffnung  bei  den  Exspirationsstössen 
und  dadurch  bedingte  Drucksteigerung  im  Innern  des  Thorax  entsteht  eine 
Stauung  in  den  Hohlvenen,  welche  sowohl  die  Cyanose,  als  auch  die  in 
heftigen  Anfällen  vorkommenden  Blutungen  der  Schleimhäute  und  manch- 
mal tödtlichen  Hämorrhagien  der  Meningen  und  des  Gehirnes  erklärt. 

In  den  besprochenen  Fällen  ist  das  Vorkommen  der  Cyanose  an  die  Hustenanfälle 
geknüpft.  Durch  Gomplicationen,  wie  hochgradige  Lungenblähung  oder  interlobuläres 
Emphysem,  Pneumothorax  in  Folge  Zerreissiing  von  Alveolen,  oder,  wie  seltene  Fälle 
beweisen,  durch  ein  consecutives  Glottisödera  kann  Cyanose  mit  Dyspnoe  die  Anfälle 
überdauern.  Wenn  im  Verlaufe  des  Keuchhustens  ein  fieberhaftes  Leiden  entsteht,  wie 
z.  B.  acute  Exantheme,  so  pflegen  die  Keuchhustenanfälle  in  den  Hintergrund  zu  treten, 
in  gleicher  "Weise  bemerkt  man  diesen  Einfluss  beim  Hinzutreten  von  Bronchopneumonie, 
und  ist  auch  hier  das  Auftreten  einer  bleibenden  Cyanose  bei  Abnahme  der  Keuchhusten- 
paroxysmen,  sowohl  was  die  Intensität  derselben  als  die  Häufigkeit  anlangt,  nebst  Tem- 
peratursteigerung ein  wichtiger  Symptomencomplex  für  die  Diagnose  einer  Bronchopneu- 
monie, deren  Constatirung,  bei  der  Gefahr  dieser  Complication  mit  Pertussis,  dem  Arzte 
in  prognostischer  Hinsicht  eine  vorsichtige  Haltung  auferlegen  muss. 

Cyanose  kann  ferner  im  Verlaufe  oder  nach  dem  Ablaufe  des  Keuch- 
hustens durch  selbstständige  Nachkrankheiten  der  Pertussis,  und  zwar  durch 
Tuber  culose  der  Bronchialdrüsenin  Folge  Compressionder 
Bronchien,  der  Venen  und  der  Nerven  entstehen.  Die  Pieihenfolge 
der  klinischen  Symptome  wird  von  der  Zahl  und  Grösse  der  tuberculösen 
Drüsen,  sowie  davon  abhängig  sein,  welche  Organe  und  in  welchem  Grade 
dieselben  dem  Drucke  ausgesetzt  sind.  Fälle,  bei  welchen  die  betroffenen 
Nerven,  und  zwar  in  erster  Linie  der  Recurrens  gegen  den  Druck  mit 
Reizphänomenen  reagiren,  können  dadurch,  dass  sie  dem  Keuchhusten  ähn- 
liche Hustenparoxysmen  erzeugen,  zu  der  falschen  Diagnose  einer  „Per- 
tussisrecidive"  führen.  Eine  in  solchen  Fällen  nach  derartigen  Pseudoper- 
tussisparoxysmen  zurückbleibende  Cyanose  mit  Schwellung  der  Halsvenen 
muss  zur  genauen  Untersuchung  der  Thoraxorgane,  insbesondere  des  Larynx 
auffordern. 


312  CYANOSE. 

Cyanose  mit  hochgradiger  Dyspnoe  wird  auch  bei  jenen  stürmisch 
beginnenden  Formen  der  Bronchitis  beobachtet,  welche  die  katarrhalische 
Form  des  Athma  nervös  um  vorstellen,  die  mit  zahlreichen,  feinen 
Rasselgeräuschen  einhergehen,  insbesondere  bei  Kindern  anfangs  die  beun- 
ruhigendsten Symptome  machen,  doch  nach  kurzem  Verlaufe  in  Heilung 
übergehen.  In  solchen  Fällen  kann  der  Arzt  leicht  zu  der  prognostisch  be- 
deutungsvollen Diagnose  einer  Bronchitis  capillaris  verleitet  werden. 

Das  Auftreten  der  Cyanose  mit  hoher  Athemfrequenz  und  hohem 
Fieber,  verbunden  mit  schmerzhaftem  Husten,  im  Verlaufe  einer  einfachen, 
anscheinend  harmlosen  und  nicht  ausgebreiteten  Bronchitis  ist  nicht  selten 
ein  diagnostisch  und  prognostisch  wichtiger  Symptomeucomplex,  darauf  hin- 
weisend, dass  zur  einfachen  Bronchitis  sich  eine  Bronchopneumonie 
hinzugesellt  hat.  Denn  die  Bronchopneumonie  in  allen  Lebensperioden 
charakterisirt  sich  durch  die  frühzeitige  Neigung  zur  Cyanose  und  erinnert 
in  dieser  Beziehung  an  das  Bild  der  Miliartuberculose,  im  Gegensatze  zur 
croupösen  Pneumonie,  bei  welcher  das  Gesicht  der  Kranken  im  Anfange 
geröthet,  turgescirend  und,  abgesehen  von  etwa  hinzutretenden  Compli- 
cationen,  in  der  Regel  erst  im  weiteren  Verlaufe,  mit  zunehmender  Dys- 
pnoe cyanotisch  wird. 

Cyanosen  mit  grosser  Athemnoth,  Fieber,  schaumigem,  mitunter  blu- 
tigem Auswurfe  und  zahlreichen  pfeifenden  Rasselgeräuschen  gelangen  ferner 
bei  der  acuten  fibrinösen  Bronchitis  zur  Beobachtung.  Dasselbe  gilt 
von  der  fieberlosen,  chronischen  Bronchitis  fibrinosa,  für 
welche  Cyanose,  gepaart  mit  Erstickungsanfällen,  heftigen  Hustenparoxysmen, 
manchmal  auch  Hämoptoe  vor  der  Expectoration  der  Gerinnsel,  geradezu 
als  charakteristisch  angesehen  werden  muss  und  eine  diiferentialdiagno- 
stische  Bedeutung  haben  kann,  wenn  einfacher  chronischer  oder  subacuter 
Bronchialkatarrh  in  eine  fibrinöse  Bronchitis  übergeht.  Da  die  chronisch- 
fibrinöse  Bronchitis  einen  intermittirenden  Verlauf  hat  und  keine  habituelle 
Dyspnoe  zu  erzeugen  braucht,  sondern  manchmal  nur  bei  körperlichen  An- 
strengungen Athemnoth  mit  Cyanose  hervorruft,  so  können  derartige  Fälle, 
allerdings  nur  bei  oberflächlicher  Beobachtung,  zur  Verwechslung  mit  Asthma 
nervosum  führen.  Für  die  Bronchitis  fibrinosa,  wie  überhaupt  für  die  Bron- 
chialstenosen, ist  der  inspiratorische  Charakter  der  Dyspnoe  wesentlich; 
während  gerade  das  Asthma  nervosum  als  Paradigma  der  exspiratorischen 
Dyspnoe  hingestellt  werden  kann.  Ausserdem  wird  auch  die  Untersuchung 
des  Sputums  durch  den  Nachweis  von  expectorirten  Bronchialgerinnseln  einer- 
seits, durch  das  Auffinden  eosinophiler  Zellen,  eventuell  der  CnARCOT'schen 
Krystalle  und  CüESCMANN'schen  Spiralen  andererseits,  die  Differential- 
Diagnose  zwischen  Bronchitis  fibrinosa  chronica  und  Asthma  nervosum 
entscheiden. 

Nicht  zu  verwechseln  sind  die  primären,  fibrinösen  Bronchitiden  mit 
den  symptomatischen,  fibrinösen  Pseudobron  chitiden,  die 
bei  geschwürigen  Processen  der  Trachea  und  der  Bronchien  vorkommen, 
insbesondere  bei  Syphilis.  Die  Bronchialgerinnsel  der  echten  Bronchitis 
fibrinosa  sind  Ausscheidungsproducte  bei  unversehrter  Schleimhaut,  während 
sie  im  anderen  Falle  den  abgestosseneu  speckigen  Belag  des  Geschwüres 
bilden.  Auch  bei  tuberculösen  Bronchialgeschwüren  kommt  es  in  den  sel- 
tensten Fällen  zur  Bildung  membranöser  Massen,  welche  unter  Cyanose 
und  Dyspnoe  mitunter  zum  Tode  führen  können. 

Bronchitis  fibrinosa  kommt  manchmal  im  Verlaufe  acuter  Pneumonien  vor  als 
Weiterverbreitung  der  alveolären,  fibrinösen  Gerinnselbildungen  auf  die  grösseren  Bron- 
chien und  ist  in  solchen  Phallen  die  Cyanose  mit  Dyspnoe  eines  der  hervorstechendsten 
Symptome.  In  anderen  Fällen  schliesst  sich  die  Bronchitis  fibrinosa  an  Croup  des  Larynx 
und  der  Trachea  an  und  ist  das  Vorausgegangensein  dieser  beiden  Erkrankungen  (Pneu- 


CYANOSE.  313 

monie,  Croup)  als  ätiologisches  Moment  bei    der  Feststellung    der  Diagnose   einer  Bron- 
chitis fibrinosa  von  Wichtigkeit. 

Bei  chronischen  Bronchialkatarrhen  entwickelt  sich  die 
Cyanose  erst  bei  längerer  Dauer  der  Erkrankung,  und  zwar  in  Folge  fettiger 
Degeneration  des  rechten  Ventrikels  selbst  in  solchen  Fällen,  bei  welchen 
das  secundäre  Emphysem  von  geringer  Ausdehnung  ist. 

Bei  Bronchiektasien,  wenn  sie  ausgebreitet  sind  und  längere  Zeit 
andauern,  wird  das  Aussehen  der  Patienten  cyanotisch.  Sind  jedoch  die 
Bronchiektatiker  hochgradig  cyanotisch,  so  ist  der  Verdacht  auf  eine  Com- 
plication  mit  einer  Herzkrankheit  oder  Lungenemphysem  begründet. 

Die  Cyanose  bei  essentiellem  Asthma  bronchiale  tritt  erst 
im  Verlaufe  des  Anfalles  auf.  Das  gewöhnlich  Plötzliche,  Unerwartete  des 
Anfalles,  wo  dies  nicht  der  Fall  ist,  die  ihm  vorausgegangenen  nervösen 
Symptome,  wie  das  Constrictionsgefühl  auf  der  Brust,  unangenehme  Sen- 
sationen im  Darme,  zuweilen  Erscheinungen  von  Seite  der  Nase,  wie  Niesen 
mit  Verstopfung  der  Nase,  die  rasch  sich  darauf  entwickelnde  Dyspnoe  mit 
geräuschvoller  und  pfeifender  Inspiration,  mit  verlängerter  pfeifender  Ex- 
spiration unter  Zuhilfenahme  aller  exspiratorischen  Muskeln,  besonders  der 
Bauchpresse  mit  mühsamem  Husten  und  spärlichem  Auswurfe,  der  durch 
die  Gegenwart  reichlicher  eosinophiler  Zellen  ausgezeichnet  ist,  gehören  zu 
dem  Bilde  eines  derartigen  Anfalles. 

Sowohl  alle  diese  Erscheinungen  als  insbesondere  das  Fehlen  der  heftigen  neural- 
gischen Schmerzen  in  der  Brust  mit  Irradiation  in  die  Schulter  und  den  Arm  unterscheiden 
das  idiopathische  Bronchialasthma  von  jenen  seltenen  Fällen  von  paroxysmaler 
Dyspnoe  im  Gefolge  eines  stenölcardischen  Anfalles,  bei  denen  Cyanose  vorkommt.  Der 
ausgesprochene  Charakter  der  exspiratorischen  Dyspnoe  bringt  das  Asthma  nervosum 
in  Gegensatz  zum  Laryngospasnius,  der  ebenfalls  nur  durch  das  paroxystische  Auftreten 
eine  oberflächliche  Aehnlichkeit  mit  Bronchialasthma  darbieten  könnte.  Ueberdies  kommen 
noch  die  kurze  Dauer  des  Anfalles  und  neben  inspiratorischer  Dyspnoe  (durch  Behinderung 
der  Inspiration  in  Folge  krampfhaften  Glottisverschlusses)  auch  die  übrigen  Erschei- 
nungen einer  acuten  Larijnxstenose  bei  Glottiskrampf  für  die  Unterscheidung  beider  Affec- 
tionen  in  Betracht.  Den  beiden  letztgenannten  Leiden  stehen  hinwiederum  gegenüber.: 
der  idiopathische,  tonische  Zwerchfellkrampf  und  jene  in  Folge  von  Tetanie  und  chroniiicher 
Strychninvergiftung  vorkommenden  Respirationslcrämpfe,  bei  welchen  die  krampfhafte, 
protrahirte  Inspiration  in  die  unbehinderte  Exspiration  plötzlich  übergeht. 

Cyanose  mit  oberflächlicher  beschleunigter  Athmung  und  inspirato- 
rischem Einsinken  des  Thorax  kommt  auch  in  Folge  mangelhafter  Venti- 
lation der  Lunge  bei  ausgedehnter  Lungenatelektase  zur  Beob- 
achtung. Durch  mangelhafte  inspiratorische  Ausdehnung  der  Lunge  und 
durch  die  in  Folge  der  herabgesetzten  Wirkung  des  elastischen  Zuges  der 
Lunge  bewirkte  Verminderung  der  Thoraxaspiration  entsteht  eine  Stauung 
im  kleinen  Kreislaufe  und  im  weiteren  Verlaufe  eine  Dilatation  des  rechten 
Herzeus. 

Cyanose  und  Dyspnoe  mit  gesteigerter  Athemfrequenz,  welche  in  der 
Regel  der  Verminderung  der  Athmungsfläche  entspricht  und  daher  bei  bila- 
teraler Pneumonie  am  häufigsten  ausgeprägt  ist,  begleitet  die  acute,  croupöse 
Pneumonie.  Cyanose  mit  beschleunigter  Respiration  und  Anstrengung  der 
accessorischen  Respirationsmuskeln  kann  ohne  subjective  Dyspnoe  auch  bei 
geringem  Hustenreize  bei  schweren  Pneumonien  im  Greisenalter 
und  bei  delirirenden  und  soporösen  Potatoren,  ferner  auch  bei  der  cepha- 
lischen  Form  der  K  in  derp  neu  monie  vorkommen.  Cyanose,  combinirt 
mit  hochgradiger  Dyspnoe,  Kleinheit  und  ausserordentlicher  Frequenz  des 
Pulses  auch  bei  geringer  Ausbreitung  des  pneumonischen  Processes,  findet 
sich  bei  Pneumonien  vor,  welche  nicht  typisch,  mit  einmaligem  Schüttel- 
froste, sondern  mit  mehrmaligem  Frösteln  und  Hitzegefühl  beginnen,  wie 
z.  B.  die  Influenzapneumonien.  Eine  eigenthümliche  Mischung  von 
Cyanose  mit  Icterus  gelangt  bei  septischen  Pneumonien  zur  Beobach- 


214  CYANOSE. 

tung,  bei  welchen  hohe  Temperatur,  Benommenheit  des  Sensoriums,  Delirien, 
Coma,  beschleunigte  Respiration  als  ein  häufiger,  prämortaler  Symptomen- 
complex  anzusehen  sind.  Hochgradige  Cyanose  kann  ferner  bei  Pneu- 
monie durch  Complicationen,  z.  B.  mit  Thyreoiditis,  Mediastinitis, 
Endocarditis,  Pericarditis  und  Malaria  bei  raschem  Temperaturanstieg  ent- 
stehen, ferner  bei  secundären  Pneumonien  in  Folge  von  CO-Vergiftungen, 
bei  Schluckpneumonien,  z.  B.  bei  den  dem  Ertrinkungstode  Entrissenen. 
Cyanose  kann  bei  Pneumonie  auch  dann  einen  hohen  Grad  erreichen, 
wenn  sie  Individuen  befällt,  derenHerz  schon  vor  dem  Auftreten 
der  Pneumonie  degenerirt  war. 

DerartigePneumonien  zeichnen  sich  nicht  selten  durch  abnorm  hohe  Pulsfrequenz, 
schwache  Herztöne,  Arhythmie  und  niedrigen  Druck  im  Aortensysteme  aus,  der  in  ver- 
schiedener Weise  sich  klinisch  documentiren  kann:  durch  kleinen,  weichen  oder  grossen, 
paralytisch  aufgeblasenen,  leicht  unterdrückbaren,  in  beiden  Fällen  häufig  dicroten  Puls, 
Schwäche  des  ersten  Herztones  und  Abschwächung  des  zweiten  Aortentones,  schwachen 
oder  fehlenden  Herzstoss,  Stauung  im  Venensystem.  Für  die  Prognose  ist  insbesondere  das 
Verhalten  der  Herztöne  von  Wichtigkeit.  Bekanntlich  hängt  die  Stärke  des  ersten  Herz- 
tones von  der  Energie  der  systolischen  Contraction  ab,  der  zweite  Ton  entspricht  der 
Höhe  des  Blutdruckes.  Die  Abschwächung  des  ersten  Tones  bedeutet  die  herabgesetzte 
Contractionskraft  des  Herzens,  die  Abschwächung  des  zweiten,  die  Verminderung  des 
Blutdruckes.  Das  Verschwinden  des  zweiten  Tones  ist  bei  Infectionskrankheiten  in  den 
meisten  Fällen  ein  präagonales  Symptom,  welches,  gerade  so  wie  bei  Cholera  algida,  auch 
bei  den  besprochenen  Pneumonien,  Herzkranken  den  Tod  verkündet. 

Manchmal  hat  jedoch  die  Abschwächung  und  sogar  das  Verschwinden  des  zweiten 
Tones  nicht  jene  ominöse  Bedeutung,  und  zwar  bei  bestehenden  Klappenfehlern,  nament- 
lich bei  Mitralstenosen,  wenn  eine  Pneumonie  zu  dieser  hinzutritt.  Bei  Mitralstenose  ist 
dieses  Symptom  durch  die  mangelhafte  Füllung  und  den  mangelhaften  Druck  des  Aorten- 
systems auch  ohne  bestehende  Herzmuskelschwäche  hinlänglich  erklärt,  daher  ist  zur 
richtigen  diagnostischen  und  prognostischen  Deutung  dieses  Phänomens  die  Berücksichti- 
gung des  gesammten  Complexes  der  Erscheinungen  nothwendig.  Auch  bei  diesen  Pneu- 
monien, die  zu  einer  präexistirenden  Mitralstenose  hinzutreten,  können  wir 
Arhythmie  mit  unregelmässiger  Herzaction,  kleinem  schwachen  Puls,  Abschwächung  des 
zweiten  Tones  über  der  Aorta  und  Carotis  finden  und  uns  zur  falschen  Diagnose  einer 
idiopathischen  oder  myokarditischen  Herzaffection  um  so  leichter  verleiten  lassen,  wenn 
die  gedachte  Klappenafi'ection,  wie  dies  manchmal  vorkommt,  ohne  typische  Geräusche 
einhergeht.  Dieser  Irrthum.  der  jedoch  durch  Berücksichtigung  des  Missverhältuisses 
zwischen  dem  starken  Herzschlage  insbesondere  am  unteren  Theile  des  Sternums.  dem 
hypertrophischen  rechten  Ventrikel  entsprechend,  und  dem  schwachen,  kleinen,  unregel- 
mässigen Puls,  ferner  zwischen  dem  kaum  hörbaren  oder  fehlenden  zweiten  Aortenton 
und  dem  lauten  zweiten  Pulmonalton  vermieden  werden  kann,  ist  sowohl  wegen  der  auf 
ihn  gegründeten  falschen  Prognose  als  der  daraufhin  eingeleiteten  excitirenden  Therapie, 
die  in  solchen  Fällen  ganz  zwecklos  ist,  um  so  verhängnissvoller,  als  der  Patient  oft  nur 
durch  die  Anwendung  dreister  Digitalisdosen  zu  retten  gewesen  wäre. 

In  gleicher  Weise  wie  bei  den  Pneumonien  mit  Herzmuskelafifectionen 
gestaltet  sich  das  klinische  Bild  bei  den  sogenannten  asthenischen 
Pneumonien,  bei  welchen  Cyanose,  Dyspnoe,  abnorm  gesteigerte  Puls- 
frequenz bei  nicht  excessiver  Temperaturhöhe,  Schwellung  der  Milz  und 
Leber,  Icterus,  Meteorismus,  nephritische  Erscheinungen,  typhöse  Prostration 
den  bösartigen  Charakter  der  Krankheit  bekunden,  als  Zeichen  allgemeiner 
Infection  oder  Intoxication  mit  den  giftigen  Producten  des  jeweiligen  Pneu- 
monieerregers.  Die  Cyanose  ist  in  diesen  Fällen  durch  parenchymatöse 
Degeneration  des  Herzens  und  vielleicht  auch  der  Ganglienzellen  desselben 
bedingt.  Aus  diesen  Gründen  muss  unter  allen  Umständen  eine  bei  der 
Pneumonie  frühzeitig  auftretende  Cyanose  bei  übermässiger  und  von  Tag 
zu  Tag  zunehmender  Pulsfrequenz  ohne  entsprechende  Temperatursteigerung 
und  ohne  complicirende  Pericarditis,  insbesondere  bei  geringer  Ausbreitung 
des  pneumonischen  Processes,  als  prognostisch  ungünstiges  Zeichen  be- 
trachtet werden. 

Bei  alten  und  decrepiden  Individuen  kommt  der  eben  genannte  Symptomencomplex 
manchmal  im  Beginne  solcher  Pneumonien  vor,  welche  in  Lungenbrand  übergehen, 
doch    auch   bei  jugendlichen  Individuen   muss   eine  derartige  starke  Cyanose    mit  grosser 


CYANOSE.  315 

Athemnoth  und  hoher  Pulsfrequenz  die  Befürchtung  einer  Gangränescenz  der  Pneumonie 
erwecken,  die  diesmal  durch  secundäre  Infection  von  einem  präexistenten,  vielleicht  sehr 
verborgenen  Erkrankungsherde,  z    B    einem  Ulcus  duodeni.  veranlasst  sein  kann. 

Cyanose  bei  Pneumonien,  welche  vor  der  Krise  auftritt,  ist  wegen 
ihres  kurzen  Bestandes,  wenn  sie  nach  der  Krise  zurückgeht,  von  geringerer 
Bedeutung.  Immerhin  weist  sie  auf  asthenische  Beschaffenheit  des  Herzens 
oder,  bei  beträchtlicher  Ausbreitung  der  pneumonischen  Infiltration,  auf 
eine  Rückstauung  des  Blutes  zum  rechten  Herzventrikel,  daher  entspre- 
chende, mangelhafte  Füllung  des  Aortensystems  hin,  welche  beide  Momente 
auch  in  diesem  Stadium  die  Gefahr  eines  Lungenödems  involviren.  Freilich  sind 
auch  Fälle  von  peracutem  transitorischem  Lungenödem  während  der  Pneumonie- 
krise  beschrieben,  das  trotz  ausgeprägter  Herzschwäche  nach  kürzester 
Zeit  (wenigen  Secunden)  wieder  verschwindet  und,  da  die  Herzschwäche 
nur  vorübergehend  war,  den  Kranken  nicht  ernst  gefährdet.  Nicht  selten 
ist  die  Cyanose  Folge  plötzlicher  Temperaturherabsetzung  durch  Antipyre- 
tica,  z.  B.  Antipyrin  und  selbst  Chinin,  insbesondere  bei  den  Kindern  in 
den  ersten  Lebensjahren,  und  ist  in  gleicher  Weise,  wie  die  nach  der  Krise 
auftretende  Cyanose  ein  Eutfieberungssymptom,  das  dann  auftritt,  wenn  der 
durch  hohe  Temperaturen  gereizte  Herzmuskel  des  abnormen  Reizes  auf 
einmal  nicht  entbehren  kann. 

Plötzlich  eintretende  Cyanose  und  tödtlicher  Collaps  durch  Herzläh- 
mung oder  Lungenödem  kann  nach  regelrecht  abgelaufenen  Pneumonien  in 
der  Reconvalescenz  auftreten  bei  Patienten,  welche  das  Bett  frühzeitig 
verlassen,  ein  Moment,  das  nach  überstandener  Pneumonie  dieselbe  ver- 
hängnissvolle Rolle  spielen  kann  wie  ein  Diätfehler  im  Verlaufe  der  Typhus- 
reconvalescenz. 

Pneumonie  der  Diabetiker  kann  gleich  im  Beginne  zu  Cyanose, 
Coma  und  zum  Tode  führen.  Da  es  nun  Pneumonien  bei  Diabetes  gibt,  die 
fieberlos  und  nicht  immer  letal  verlaufen,  andererseits  auch  bei  dem  stets 
tödtlichen  Coma  diabeticum  Temperatursteigerungen  vorkommen  können, 
und  schliesslich  auch  Fettembolien  der  Lungenarterien  bei  Diabetes  beob- 
achtet wurden,  so  sind  diagnostische  und  prognostische  Irrthümer  nach  allen 
drei  Richtungen  möglich.  Bei  echtem  Coma  diabeticum  habe  ich  trotz  hoch- 
gradiger, charakteristischer  Dyspnoe  Cyanose  nie  gesehen,  so  dass  ich 
nach  meinen  Erfahrungen  gerade  das  Fehlen  der  Cyanose  bei  bestehender 
inspiratorischer  Dyspnoe  ohne  Orthopnoe  als  eine  Aufforderung  ansehen 
muss,  den  Urin  eines  solchen  Kranken  auf  Zucker  zu  untersuchen. 

In  ähnlicher  Weise  wie  die  Dyspnoe,  welche  das  Coma  diabeticum  einleitet,  zeichnet 
sich  ebenfalls  durch  den  Mangel  der  initialen  Cyanose  jene  Dyspnoe  aus,  welche  durch 
Inspirationskrämpfe  erzeugt,  mit  Erstickungsgefühl  und  furchtbarer  Angst  verbunden  im 
Beginne  des  hydrophobischen  Stadiums  der  Lyssa  auftritt.  In  allen  von  mir  beobachteten 
Fällen  war  gleichzeitig  mit  jenen  Erscheinungen  intensive  Acetonurie  vorhanden,  und  ist 
nach  meiner  Ansicht  letzteres  Symptomi  bei  einer  Krankheit  wie  Lyssa,  welche  sich  klinisch 
gerade  durch  das  Fehlen  der  comatösen  Erscheinungen  auszeichnet,  geeignet,  die  Auffassung 
des  Coma  diabeticum  als  Acetonvergiftung  stark  zu  erschüttern.  Im  weiteren  Verlaufe  der 
Lyssa  kann  durch  klonische  und  tonische  Krämpfe  der  Gesammtmusculatur,  welche  manch- 
mal dem  asphyktischen  Tode  vorangehen,  Cyanose  in  ähnlicher  Weise  auftreten  wie  bei 
Epilepsie  und  Tetanus. 

Cyanose  mit  Dyspnoe,  geräuschvollem  Athmen  und  zahlreichen  feuchten 
Rasselgeräuschen,  kleinem  Pulse  und  zunehmendem  Collapse  ist  charak- 
teristisch für  Lungenödem  als  häufiges,  terminales  Zeichen  bei  Er- 
krankungen des  Respirations-  und  Circulationsapparates. 

Von  Krankheiten  der  Respirationsorgane  kommen  hiebei  in  Betracht:  Bronchitis 
capillaris,  Bronchopneumonie,  Embolie  der  Pulmonalarterie,  croupöse  Pneumonie,  Pleu- 
ritis, Lungentuberculose.  Weiterhin  fuhren  acute  Exantheme,  Typhus,  Recurrens,  Influenza, 
acuter  Gelenksrheumatismus  und  Malaria,  in  seltenen  Fällen  acute  Alkoholvergiftung, 
CO-Vergiftung,  Schlangenbiss,  Erfrierungen  und  Insolationen,  schliesslich  auch  Affectionen 
des  Gehirns  (Gehirnerschütterungen)  zu  Lungenödem.  Von  besonderem  Interesse  sind  die 


316  CYANOSE. 

manchmal  tödtliclien  Lungenödeme,  welche  bei  incarcerirten  Herniea  durch  Infection  der 
Lunge  mit  Bacterium  coli  bedingt  sind,  und  schliesslich  die  Lungenödeme  ex  vacuo  mit 
albuminöser  Expectoration  nach  Thoraxpunctionen,  sowie  die  Lungenödeme  der  Luft- 
schiifer.  Als  einen  der  wichtigsten  ätiologischen  Momente  des  acuten  Lungenödems  ist 
schliesslich  der  Morbus  Brightii  zu  erwähnen. 

Bei  Embolien  eines  Hauptastes  oder  des  Stammes  der  Pul- 
monalarterie  geht  Dyspnoe  und  Cyanose  mit  Bewusstlosigkeit  dem 
plötzlichen  synkopalen  Tode  oder  der  protrahirten,  suffocatorisch  asphyk- 
tischen  Agonie  voran.  Bei  Embolie  kleiner  oder  mittelgrosser  Aeste  der 
Pulmonalarterie,  deren  Eintritt  nicht  selten  von  einem  Schüttelfroste  be- 
gleitet wird,  kann  plötzlich  aufgetretene  Cyanose  und  Dyspnoe  nach  kurzer 
Zeit  abnehmen,  um  sich  entweder  zu  wiederholen,  oder  nach  wiederholten 
derartigen  Anfällen  in  tödtliches  Lungenödem  oder  in  eine  Pneumonie  und 
manchmal  in  Heilung  überzugehen.  Der  Verlauf  einer  solchen  Lungenem- 
bolie, falls  sie  nicht  zu  einer  Pneumonie  führt  und  falls  sie  vorher  fieber- 
freie Individuen  befällt,  ist  fieberlos  und  ist  gerade  das  Fehlen  des  Fiebers 
nach  vorausgegangenem  initialen  Schüttelfroste  ein  diagnostisch  wichtiges 
Zeichen  zur  Unterscheidung  von  der  Pneumonie. 

Der  Grad  der  Cyanose  und  Athemnoth  in  diesen  Fällen  ist  abhängig 
von  der  Grösse  des  durch  die  eingewanderten  Pfropfe  respirationsunfähig 
gewordenen  Lungenabschnittes.  Bei  Embolien  der  kleinen  Aeste  kommt  es 
nicht  selten  nach  vorausgegangenen  Ohnmachtsanfällen  zur  Bildung  eines 
hämorrhagischen  Infarctes  und  Hämoptoe  ohne  Cyanose,  manchmal  jedoch 
durch  mehrfache  Embolien  zu  andauernder  Dyspnoe  und  Cyanose,  ohne  dass 
sich  der  Beginn  durch  heftige  Anfälle  markirt.  Embolien  der  kleinsten 
Aeste  der  Art.  pulmon.  rufen  manchmal  keine  wesentlichen  Symptome  her- 
vor, doch  kommt  es  auch  hier  durch  secundäre  disseminirte  Bronchopneu- 
monien zu  Cyanose,  welche  z.  B.  bei  Trichinose  einen  hohen  Grad  er- 
reichen kann. 

Die  Aetiologie  aller  dieser  Embolien  ist  eine  verschiedene.  Lungenembolien 
kommen  vor  nach  Kopfverletzungen  durch  Auswanderung  oder  Ablösung  von  Thromben- 
massen aus  den  Venen  der  Diplöe,  bei  Fracturen  der  Röhrenknochen,  indem  theils  die 
in  den  Venen  derselben  gebildeten  Thromben,  theils  das  Fett  des  Knochenmarkes,  das 
in  die  eröffneten  Venen  hineingelangt,  das  Material  für  die  Embolien  liefern,  bei  Um- 
bilicalphlebitis,  am  häutigsten  jedoch  bei  Thrombose  der  Vena  cruralis  und  saphena,  wie 
sie  so  häufig  im  Puerperium,  bei  Kachexien  (Tuberculose,  Carcinom),  auch  bei  Chlorose 
und  Infectionskrankheiten  während  der  Reconvalescenz  beobachtet  wird.  Tödtliche 
Lungen-Embolien  können  durch  Massage  eines  von  varicösen  Venen  durchzogenen  Unter- 
schenkels, durch  unvorsichtige  Manipulation  mit  den  Extremitäten  eines  mit  Phlegmasia 
alba  dolens  behafteten  Patienten  hervorgerufen  werden. 

Embolien  der  Pulmonalarterien  wurden  ferner  bei  Repositionen  eingeklemmter 
Hernien  beobachtet,  entstanden  durch  Loslösung  der  Thromben  in  den  eingeklemmten 
Darmvenen  und  Auswanderung  derselben  in  die  venösen  Anastomosen  zwischen  der 
Pfortader  und  der  Vena  cava  inferior.  Das  embolische  Material  liefern  schliesslich  au- 
tochthone  Gerinnungen  im  rechten  Herzen,  und  zwar  am  häufigsten  im  er\veiterten 
rechten  Herzohr  sowie  an  der  Tricuspidalklappe  und  im  Bereiche  des  nicht  geschlossenen 
Ductus  Botalli.  Endlich  gehören  hieher  auch  jene  Lungenembolien,  wie  sie  durch  Ein- 
tritt von  Luft  in  die  Körpervenen  zu  Stande  kommen. 

In  der  Mehrzahl  der  Fälle  bildet  hochgradige  Cyanose  mit  Suffocations- 
anfällen  und  Angstgefühl,  nicht  selten  mit  allgemeinen  Convulsionen  und 
Bewusstlosigkeit  das  klinische  Bild  der  tödtlichen  Lungenem- 
bolien. Doch  gibt  es  auch  foudroyante  Fälle,  bei  welchen  der  Tod  nicht 
unter  Asphyxie  und  Cyanose,  sondern,  indem  die  Kranken  blass  zusammen- 
stürzen, durch  Synkope  erfolgt.  Derartige  synkopale  Todesfälle  unter 
extremer  Blässe  der  Haut  und  der  Schleimhäute,  Präcordialangst  erinnern 
an  die  plötzlichen  Todesarten  während  der  stenokardischen  Anfälle  durch 
Verstopfung  der  Kranzarterien,  unterscheiden  sich  jedoch  von  diesen,  ab- 
gesehen von  etwa  vorausgegangenen  Symptomen,  welche  auf  Thrombose  des 


CYANOSE.  317 

Herzens  und  der  Körpervenen  hinweisen,  gerade  durch  das  Fehlen  des 
durch  ausstrahlenden  Herzschmerz  charakterisirten  Symptomencomijlexes 
einer  Angina  pectoris. 

Autochthone  Thrombosen  der  Lungenarterie,  wie  sie  in  der 
Reconvalescenz  nach  schweren  Krankheiten  in  Folge  von  Herzschwäche, 
sowie  unter  dem  Einflüsse  von  Marasmus  und  von  Krankheiten,  die  zu 
Kachexien  führen  (Tuberculose,  Carcinom)  oder  bei  Compression  der  Art. 
pulmonalis  durch  Mediastinalgeschwülste  vorkommen,  sind  nicht  selten  Ur- 
sache intensiver  Cyanose  und  Dyspnoe.  Doch  können  manchmal  Thrombosen 
mehrerer  Aeste  der  Pulmonalarterie,  wenn  sie  sich  langsam  bilden,  ohne 
die  erwähnten  Symptome  latent  bleiben  und  können  sich  solche  auch  im 
Verlaufe  von  Krankheiten,  bei  welchen  in  Folge  des  Grundleidens  Cyanose 
und  Dyspnoe  besteht,  entwickeln,  ohne  die  genannten  Symptome  zu 
steigern. 

Cyanose  mit  hochgradiger  Dyspnoe  und  auffallend  beschleunigter  Re- 
spirationsfrequenz kommt  bei  L un g e n b r a n d  vor  und  ist  weniger  von  der 
Ausdehnung  des  Brandes,  als  von  der  ursächlichen  Krankheit  und  von 
häufigen  Complicationen  mit  Pleuritis,  Pneumothorax  und  Pneumonie  abhängig. 

Cyanose,  wie  sie  sich  bei  länger  dauernden  Lunge nemphyse  men 
in  Folge  des  erschwerten  Athmens  und  des  häufigen,  durch  gleichzeitige 
Bronchitis  veranlassten  Hustens  entwickelt,  gehört  bekanntlich  zu  den  häu- 
figen Symptomen  des  Lungenemphysems.  Trotz  der  ausgesprochenen  Dys- 
pnoe ist  die  Respirationsfrequenz  bei  Emphysematikern  nicht  wesentlich 
erhöht,  wenn  nicht  entzündliche  Complicationen  von  Seite  der  Lunge,  der 
Bronchien  und  des  Herzens  die  Steigerung  derselben  herbeiführen.  Die 
Dyspnoe  ist  vorwiegend  exspiratorisch,  also  das  Exspirium  deutlich  ver- 
längert unter  Betheiligung  der  Bauchpresse,  insbesondere  bei  körperlichen 
Anstrengungen  in  Folge  verminderter  Elasticität  der  Lungen.  Die  Behin- 
derung des  Inspiriums,  welches  den  hochthoracischen  Athmungstypus  unter 
Zuhilfenahme  der  inspiratorischen  Hilfsmuskeln  des  Schultergürtels  zeigt, 
ist  auf  mangelhafte  exspiratorische  Entgasung  der  Lungenalveolen,  auf 
Tiefstand,  daher  inspiratorische  Unbeweglichkeit  des  Zwerchfells,  auf  Be- 
hinderung der  Sauerstoffaufnahme  in  Folge  Obliteration  der  Lungengefässe 
zurückzuführen.  Indem  so  sämmtliche  Momente  zusammenwirken,  kommt 
es  schliesslich  zu  Hypertrophie  und  Dilatation  des  rechten  Ventrikels  mit 
ihren  Folgeerscheinungen.  Bronchialkatarrhe  begünstigen  die  Entwicklung 
des  Emphysems  und  steigern  die  Arbeitsleistung  des  Herzens. 

Es  kommen  daher  bei  dem  Entstehen  der  Cyanose  bei  Em- 
physem mehrere  Momente  in  Betracht.  Vor  allem  die  primäre  Erkran- 
kung der  Lunge  selbst,  dann  die  begleitenden  Bronchialkatarrhe,  welche 
nicht  selten  einen  asthmatischen  Charakter  annehmen,  und  schliesslich  die 
secundären  Degenerationen  des  Herzmuskels;  davon  hängt  es  auch  ab,  ob 
die  Cyanose  vorübergehend  oder  dauernd  auftritt.  Auch  die  Prognose  wird 
sowohl  von  dem  Grade  und  der  Ausbreitung  der  anatomischen  Veränderung 
in  der  Lunge,  als  von  der  Intensität  und  der  Häufigkeit  der  begleitenden 
Bronchialkatarrhe,  sowie  auch  von  dem  Zustande  des  Herzens,  dessen  Be- 
schaffenheit vor  allem  anderen  den  Verlauf  der  Krankheit  bestimmt,  be- 
stimmt sein,  und  es  ist  daher  wichtig  zu  erkennen,  inwieweit  die  bestehende 
Dyspnoe  und  Cyanose  auf  Rechnung  des  einen  oder  des  anderen  Factors 
zu  setzen  ist. 

Zeigt  z.  B.  ein  Emphysematiker  bei  Muskelanstrengungen,  wie  beim  Treppensteigen, 
keine  auffallende  Pulsbeschleunigung  und  Arterienleere,  so  muss  man 
daraus  schliessen,  dass  trotz  aufgetretener  Athemstörung  der  rechte  Ventrikel  hinreichend 
im  Stande  ist,  durch  erhöhte  Leistung  den  erhöhten  Anforderungen  zu  genügen,  um  so- 
wohl die  Arterienleere,  als  auch  die  Venenstauung    zu    verhüten.     Im    entgegengesetzten 


318  CYANOSE. 

Falle  ist  eine  unter  solchen  Verhältnissen  auftretende  Dyspnoe  und  Cyanose  im  Vereine 
mit  beschleunigtem  und  kleinem  Arterienpuls  ein  Zeichen  von  insufficienter  Herzthätigkeit. 
Gleichzeitiges  Auftreten  von  G  lobulin  ur  ie,  Albuminurie  und  Urobi- 
linurie  bestätigt  weiterhin  den  Bestand  von  verminderter  Zufuhr  des  arteriellen  und 
Stauung  des  venösen  Blutes.  Doch  nicht  nur  für  Emphysematiker,  sondern  ebenso  in 
allen  Fällen,  bei  welchen  die  Leistungsfähigkeit  des  Herzens  beurtheilt  und  sein  Antheil 
an  Affectionen  anderer  Organe  abgeschätzt  werden  soll,  sind  obige  Symptome,  welche 
z.  B.  nach  einem  forcirten  Probespaziergange  auftreten,  von  grosser  diagnostischer  und 
prognostischer  Bedeutung,  und  ich  bediene  mich  dieses  Experimentes  jedes  Mal,  bevor 
ich  mich  entschliesse,  einen  Leberkranken,  dessen  Herz  mir  verdächtig  erscheint,  nach 
Karlsbad  zu  entsenden. 

Dem  Verhalten  der  Halsvenen  bei  Lungenemphysem  muss  eine  beson- 
dere Aufmerksamkeit  geschenkt  werden.  Unter  normalen  Verhältnissen  findet  eine  in- 
spiratorische Abschwellung  und  eine  exspiratorische  Anschwellung  der  Venen  statt,  be- 
dingt durch  den  elastischen  Zug  der  Lungen,  der  während  des  Inspiriums  zunimmt. 
Findet  bei  vorhandener  Anschwellung  der  Venen  eine  inspiratorische  Abschwellung  nicht 
oder  nicht  immer  statt,  so  dass  die  Venenfüllung  während  der  beiden  Respirationsphasen 
die  gleiche  bleibt,  so  muss  man  daraus  auf  verminderte  Elasticität  der  Lunge  schliessen, 
Verhältnisse  wie  sie  bei  Emphysem  und  bei  Lungentrophie  vorkommen.  Die  Berück- 
sichtigung dieses  Verhaltens  der  Halsvenen  ist  insbesondere  in  solchen  Fällen  wichtig, 
wo  das  Emphysem  durch  das  Auftreten  hydropischer  Ergüsse  in  die  serösen  Höhlen,  z.  B. 
durch  beiderseitigen  Hydrothorax  oder  beiderseitige  Pleuritis,  resp.  durch  secundären 
Hochstand  des  Zwerchfells  in  Folge  von  Ascites  maskirt  ist,  sich  also  dem  percutorischen 
Nachweise  entzieht.  In  solchen  Fällen  empfiehlt  es  sich,  die  Untersuchung  des  Patienten 
in  der  Bauchlage  vorzunehmen.  Durch  das  Abfliessen  der  freibeweglichen  Flüssigkeit 
in  den  vorderen  Pleuraraum  kann  die  Lungenbasis  frei  gemacht  werden  und  nach  wieder- 
holten Inspirien  das  ursprüngliche  Volumen  erlangen.  Diese  Untersuchungsmethode,  das 
maskirte  Emphysem  zu  entlarven,  wird  man  immer  dann  vorzunehmen  sich  veranlasst 
fühlen,  wenn  das  früher  erwähnte  Verhalten  der  Venen,  das  Fehlen  des  inspiratorischen 
Abschwellens  derselben  den  Verdacht  auf  Bestehen  eines  Emphysems  erweckt  hat. 

Bei  Untersuchung  der  Verhältnisse  des  Herzens  bei  Emphysem  spielt  neben  Be- 
rücksichtigung der  anderen  für  die  Diagnostik  der  Hypertrophie  des  rechten  Herzens  gil- 
tigen Regeln  namentlich  die  Berücksichtigung  der  Herzdämpfung  eine  hervor- 
ragende Rolle.  Nach  Geehaedt  ist  für  die  Percussionsdämpfung  des  Herzens  die  Füllung 
des  linken  Vorhofes  von  wesentlichem  Einflüsse.  Dilatation  des  linken  Vorhofes  kann  die 
Herzdämpfung  wesentlich  vergrössern  und  mangelhafte  Füllung  dieselbe  wesentlich  ver- 
kleinern. Bei  hochgradigen  Emphysemen  kommt  es  durch  Obliteration  der  Lungencapil- 
laren  und  Verkleinerung  des  pulmonalen  Strombettes  zu  einer  mangelhaften  Füllung  der 
Pulmonalvenen  des  linken  Vorhofes  und  somit  auch  der  linken  Kammer  und  der  Arterien. 
Durch  mangelhafte  Füllung  des  linken  Herzens  können  systolische  Geräusche  im  linken 
Ventrikel  entstehen,  welche  bei  der  bestehenden  Hypertrophie  des  rechten  Ventrikels 
zur  falschen  Annahme  einer  das  Emphysem  complicirenden  Mitralinsufficienz  führen. 
Gerade  für  solche  Fälle  ist  die  Grösse  der  Herzdämpfung  von  Bedeutung.  In  Folge  der 
mangelhaften  Füllung  des  linken  Vorhofes  erscheint  die  ohnehin  durch  das  Emphysem 
verkleinerte  Herzdämpfung  noch  kleiner  im  Gegensatz  zu  solchen  Fällen  von  Emphysem, 
wo  eine  Mitralinsufficienz  vorliegt.  Bei  Mitralaffectionen  erweitert  sich  der  linke  Vorhof 
und  vergrössert  die  Herzdämpfung  derart,  dass  sie  auch  bei  einem  Emphysematiker 
deutlich  zu  Tage  tritt  und  so  durch  ihr  Verhalten  auch  einen  Anhaltspunkt  dafür  gibt, 
in  welchem  Sinne  ein  etwaiges  Geräusch  über  der  Mitralis  aufzufassen  ist. 

Eine  mit  Berücksichtigung  sämmtlicher  angegebener  Punkte  gestellte  Diagnose 
wird  natürlich  nicht  nur  für  die  Prognose,  sondern  auch  für  die  Therapie  von  bestim- 
mendem Einfluss  sein,  welch'  letztere  vor  allem  zu  berücksichtigen  hat,  ob  im  gegebenen 
Falle  das  rein  pulmonale,  das  nervös-asthmatische,  das  bronchiale  oder  das  cardiale  Ele- 
ment in  den  Vordergrund  tritt. 

Cyanose  mit  Dyspnoe  kommt  ferner  bei  Lii  ngenatrophie,  insbe- 
sondere bei  gleichzeitiger  Complication  mit  Bronchialkatarrhen,  Bronchiek- 
tasien  und  Degenerationen  des  Herzfleisches  vor.  Nur  bei  ausgesprochenen 
Lungenatrophien,  welche  mit  hochgradigem  Schwund  der  Alveolen  und 
Verödung  der  Capillareu  einhergehen,  ist  das  Volumen  der  Lunge  klein 
und  die  Herzdämpfung  durch  Pietraction  der  Lungenränder  vergrössert. 
Die  Cyanose  erklärt  sich  durch  Verödung  eines  grossen  Theiles  der  Lungen- 
capillaren.  Je  nach  dem  Grade  der  Atrophie  und  des  durch  die  Atrophie 
bedingten  Elasticitätsverlustes  des  Parenchyms  werden  die  beim  Emphysem 
vorkommenden  Erscheinungen,  wie  die  inspiratorische  Unbeweglichkeit  der 


CYANOSE.  319 

Lungengrenzen,  sowie  das  Fehlen  der  inspiratorischen  Abschwellung  der 
Halsvenen  ausgeprägt  sein.  Ein  für  die  Diagnose  der  Lungenatrophie  ziemlich 
wichtiges  auscultatorisches  Phänomen  ist  schliesslich  ein  eigenthümliches, 
zischendes,  dem  puerilen  Athmen  ähnliches  und  doch  nicht  vesiculäres 
Athemgeräusch,  welches  nur  bei  Uebung  von  dem  scharf  vesiculären 
inspiratorischen  Geräusch  unterschieden  werden  kann.  Dieses  scharfe,  unrein 
vesiculäre  Athmen  entsteht  wahrscheinlich  als  vicariirendes  Athmen  in  den 
noch  nicht  atrophisch  gewordenen  Lungenpartien  und  ist  in  solchen  Fällen, 
wo  kein  Katarrh  vorliegt,  wo  daher  das  verschärfte  Athmen  nicht  als  Zeichen 
von  Schwellung  der  Schleimhaut  der  feinsten  Bronchien  aufgefasst  werden 
kann,  ein  für  die  Diagnose  dieses  Leidens  wichtiger  Befund.  In  der  Regel 
fehlt  bei  der  Lungenatrophie  die  secundäre  Dilatation  und  Hypertrophie 
des  rechten  Ventrikels  als  ein  der  Lungenatrophie  gleichwerthiges  Zeichen 
des  senilen  Marasmus.  Doch  gibt  es  Fälle,  in  welchen  die  senile 
Lungenatrophie  nicht  gleichmässig  die  ganze  Lunge  befällt,  so  dass 
nebst  partieller  Verkleinerung  des  Lungenvolums  partielle  Erweiterung 
der  Lungenalveolen  mit  tiefem  Zwerchfellsstande  und  den  percutorischen 
Zeichen  eines  Emphysems  vorliegt  und  bei  denen  manchmal  das  pseudo- 
puerile marantische  Athmungsgeräusch  beobachtet  wird.  Derartige  Fälle 
bereiten  diagnostische  Schwierigkeiten,  und  ist  die  Constatirung  der  Atrophie 
in  anderen  Organen,  als  Begleiterscheinung  des  senilen  Marasmus,  unter 
Umständen  für  die  Diagnose  einer  derartigen  mit  Emphysem  einherge- 
henden Atrophie  der  Lungen  von  Wichtigkeit,  insbesondere  aber  die  gleich- 
zeitig   bestehende  Atrophie    des  Herzens,    speciell  des  rechten  Ventrikels. 

Zum  klinischen  Bilde  eines  ausgesprochenen  Emphysems  mit  Tiefstand 
des  Herzens  gehört  eine  Pulsatio  epigastrica,  und  zwar  nicht  von  der  Aorta 
ausgehend,  sondern  vom  Herzen,  was  man  durch  die  Auscultation  der  pul- 
sirenden  Stelle  sehr  leicht  feststellen  kann,  indem  der  Nachweis  von  einem 
Tone  im  ersteren,  von  zwei  Tönen  im  letzteren  Falle  entscheidet.  Vormisst 
man  bei  einem  Emphysematiker  eine  Pulsatio  epigastrica  als  Aus- 
druck derTieflage  des  Herzens  und  seiner  rechtsseitigen  Hypertro- 
phie, so  kann  dies  durch  verschiedene  Ursachen  hervorgerufen  werden :  vor 
allem  durch  hochgradige  Verfettung  und  Dilatation  des  Herzens,  oder  durch 
Fixation  desselben  in  Folge  vonVerwachsung  mit  der  Umgebung,  oderVerkalkung 
der  Aorta,  oder  aber  durch  abnorme  Beweglichkeit  des  Herzens,  welches  in  dem 
geräumigen  Mediastinum  nach  rückwärts  sinkt  und  daher  verborgen  bleibt.  Findet 
man  in  der  unteren  Sternalgegend  keine  Dämpfung,  ist  man  daher  berechtigt, 
eine  Dilatation  des  tiefliegenden  Herzens  auszuschliessen,  vermisst  man 
ferner  die  Symptome  einer  intra-  oder  extrapericardialen  Herzverwachsung, 
lässt  sich  ein  hochgradiges  Atherom  der  Aorta  palpatorisch  und  ausculta- 
torisch  nicht  nachweisen  und  tritt  auch  im  Sitzen,  Stehen  oder  in  der 
Bauchlage  des  Patienten  keine  Pulsatio  epigastrica  auf,  so  dass  ein  hyper- 
trophisches Wanderherz  ausser  Betracht  kommt,  so  kann  in  solchen  Fällen 
die  Diagnose  auf  Atrophie  des  Herzens  gestellt  werden,  eine  Diagnose, 
die  bei  gleichzeitig  kleiner  Leber  mit  gallenarmen  Stühlen  ohne  Icterus 
und  Vorhandensein  der  vorhin  für  Lungenantrophie  angegebenen  Zeichen 
zur  Auffassung  dieser  Erscheinungen  von  dem  gemeinschaftlichen  Stand- 
punkte der  Senescenz  der  Organe  berechtigt.  Dieser  diagnostische  Gedan- 
kengang hat  mich  in  zwei  Fällen,  die  durch  die  Section  bestätigt  wurden, 
nicht  im  Stiche  gelassen. 

Cyanose  als  Stauungssymtom  in  Folge  von  Lungenschrumpfung 
ist  eine  häufige  Folgeerscheinung  der  interstitiellen  Pneumonie,  wie  sie 
sich  nach  pleuritischen  Exsudaten  und  gewissen  Formen  von  subacuten 
Bronchopneumonien,  ferner  bei  den  ßbrösen  Formen  der  Phthise  und  Lungen- 


320  CYANOSE. 

Syphilis,  Antlirahosis,  Chalikosis  und  Siderosis  mit  atrophischer  Induration 
der  Lunge  und  Dilatation  der  Bronchien  entwickelt.  Sowohl  der  Grad 
der  bestehenden  Cyanose,  als  auch  die  richtige  Deutung  des  Befundes 
am  Herzen,  welch'  letzteres  durch  Lungenschrumpfung  freigelegt  werden 
und  dessen  Dämpfungsfigur  daher  eine  Dilatation  vortäuschen  kann,  ist  für 
die  correcte  Auffassung  des  concreten  Falles  von  Werth. 

Das  Auftreten  von  Cyanose  und  Dyspnoe  bei  Lungen  aktin  o  my- 
kose hängt  weniger  von  der  localen  Ausdehnung  des  einzelnen  Krank- 
heitsherdes in  der  Lunge,  als  vielmehr  von  der  Eigenthümlichkeit  des 
Pilzes  ab,  sprungweise  von  einer  Stelle  zu  verschiedenen  anderen  Stellen 
des  befallenen  Organs  zu  wandern  und  auf  diese  Weise  multiple  Krankheits- 
herde zu  erzeugen.  Gerade  durch  diese  durch  den  Pilz  gesetzten  Infiltrate 
und  deren  fibröse  Umwandlungsproducte  und  ebenso  durch  die  Propagation 
auf  die  umgebenden  serösen  Häute,  insbesondere  die  Pleura  und  das  Pericard 
ist  sowohl  der  Grad  als  der  Charakter  der  Dyspnoe  und  Cyanose  bedingt. 

Cyanose  mit  Dysnoe  wird  ferner  bei  dem  sogenannten  intersti- 
tiellen oder  interlobulären  Emphysem  beobachtet,  bei  welchem 
durch  Zerreissung  von  Lungenalveolen  Luft  in  das  interlobuläre  und  in 
weiterer  Folge  in  das  intermediastinale  Gewebe  eindringt.  Dieses  Emphysem, 
welches  an  häufigsten  bei  der  Bronchitis  der  Kinder,  manchmal  beim  ab- 
steigenden Croup  und  Keuchhusten,  zuweilen  auch  bei  Erwachsenen  in 
Folge  stärkerer  Anstrengung,  z.  B,  bei  schweren  Entbindungen,  bei  Ein- 
dringen von  Fremdkörpern  in  die  Luftwege  beobachtet  wird,  kann,  wenn 
es  interlobulär  ist,  durch  Compression  der  Lungenalveolen,  wenn  es  im 
Mediastinum  auftritt,  durch  Compression  der  grossen  Gefässe  zu  Dyspnoe 
und  Cyanose  führen.  Ein  interlobuläres  Emphysem  mit  hochgradiger  Cyanose 
habe  ich  bei  einem  jungen  Mädchen  im  Gefolge  einer  Chorditis  siibvocalis 
beobachtet.  In  diagnostischer  Beziehung  kommt  bei  ausgeschlossener  Per- 
foration des  Oesophagus  und  des  Larynx  das  gleichzeitige  Auftreten  von 
Hautemphysem  in  Betracht,  welches,  wie  dies  bereits  Traube  hervorgehoben 
hat,  auch  im  Gefolge  eines  interlobulären  Lungenemphysems  stets  zuerst 
in  der  Fossa  jugularis  entsteht. 

Auch  Lungensyphilis,  die  unter  dem  Bilde  einer  acuten  oder 
chronischen  Phthise,  oft  bei  vorhandenen  Erscheinungen  einer  interstitiellen 
Pneumonie,  auftritt,  kann  Cyanose  und  Dyspnoe  zur  Folge  haben.  Die  richtige 
Diagnose  dieser  Erkrankung  begegnet,  insbesondere  der  Lungentuberculose 
gegenüber,  grossen  Schwierigkeiten. 

Sprechen  weder  die  anamnestischen  Daten,  noch  das  Vorhandensein  gleichzeitiger 
Aeusserungen  desselben  Grundleidens  an  anderen  Körpertheilen,  für  die  Annahme  der 
einen  oder  der  anderen  Aifection,  so  sind  noch  folgende  Umstände  für  Syphilis 
diagnostisch  zu  verwerthen:  Fehlen  der  Tuberkelbacillen  im  Sputum,  Erscheinungen 
einer  Dilatation  der  Bronchien  mit  münzenförmigen,  eitrigen  Sputis,  Seltenheit  der  Hä- 
moptoe, Fehlen  der  paralytisch-phthisischen  Thoraxdeformation,  die  Localisation  der 
syphilitischen  Herde,  deren  Lieblingssitz  die  Centralpartien  der  Lunge,  daher  der  rechte 
Mittellappen  oder  die  untere  Partie  des  Ober-  oder  die  obere  Partie  des  Unterlappens 
ist.  das  häufige  Mitergriffensein  des  Larynx.  Beachtung  verdient  auch  der  Gegensatz 
zwischen  der  Ausbreitung  der  Destructionsprocesse  und  dem  Allgemeinbefinden  und  den 
Ernährungsverhältnissen  der  Kranken,  die  gewöhnlich  erst  dann  kachektisch  werden, 
wenn  die  Ausbreitung  des  Processes  oder  Degenerationen  in  anderen  Organen,  Leber, 
Niere  (Lebersyphilis,  amyloide  Degenerationen)  platzgreifen.  Im  Gegensatze  zu  Lungen- 
carcinom  wäre  das  Fehlen  der  Compressionserscheinungen  und  das  Fehlen  der  steinharten 
Infiltrationen  der  Supraclavicular-  und  Halsdrüsen  bei  Lungensyphilis  zu  erwähnen. 

Ich  kann  nicht  umhin,  bei  dieser  Gelegenheit  auf  einen  Umstand  hinzuweisen, 
welcher  geeignet  ist,  die  Diagnose  der  Syphilis  in  complicirten  Fällen  wesentlich 
zu  unterstützen,  Syphilis  zeichnet  sich  unter  Anderem  dadurch  aus,  dass  sie  frühzeitig 
Erkrankungen  sowohl  der  Gefässe,  als  auch  ihrer  Aduexa,  unter  die  ich  auch  insbeson- 
dere die  blutbildenden  Organe  einbeziehen  möchte  (Knochenmark),  hervorruft.  Diese 
krankhafte    Gefässreizuug   findet    ihren    anatomischen    Ausdruck  in  der  bei  der  Syphilis 


CYANOSE.  321 

so  häufig  vorkommenden  Endar^eritis,  die  Läsion  der  blutbildenden  Organe  in  der  bei 
Syphilis  vorkommenden  Anämie,  welch  letztere  im  Gegensatze  zu  Tuberculose  die  Charak- 
tere einer  qualitativen  Veränderung  der  P'ormelemente  des  Blutes  bietet.  Aus  diesem 
Grunde  ist  der  klinische  Nachweis  von  Ge  fäs  s  ver  an  derun  gen,  insbesondere 
bei  jugendlichen  Individuen,  andererseits  der  mikroskopische  B  lutbe  fnn  d,  welcher 
eine  krankhafte  Proliferationsthätigkeit  der  blutbildenden  Organe  durch  qualitative  Ver- 
änderung der  Erythrocyten,  Vermehrung  der  Knochenmarkselemente  (eosinophile  Zellen), 
schliesslich  Vermehrung  der  Hämatoblasten  .  (deren  endothelialer  Ursprung  für 
mich  immer  wahrscheinlicher  wird),  bekundet,  gleichsam  als  Leitfaden  zu  benützen  bei 
der  Dilferentialdiagnose  gegenüber  jenen  Erkrankungen,  welche  für  gewöhnlich  eine 
wesentliche  Mitbetheiligung  der  Gefässe  und  der  Blutbildungsorgane  nicht  erkennen  lassen 
(Tuberculose). 

Luiigencarcinome,  am  häufigsten  im  Gefolge  von  Mammacarci- 
nomen  oder  Oesophaguscarcinomen,  seltener  als  Metastasen  von  primären 
Carcinomen  der  Bauchorgane  können  durch  Compresslon  der  oberen  Hohl- 
vene und  ihrer  Aeste  zu  hochgradigen  Cyanosen  führen.  Die  Dyspnoe 
resultirt  weniger  aus  der  Localisation  der  Aftermasse  in  der  Lunge,  viel 
häufiger  ist  sie  Folge  der  Compression  der  Trachea  und  der  Bronchien. 
Durch  den  Druck  auf  den  Vagus,  Kecurrens,  Phrenicus  und  Sympathicus 
kann  das  klinische  Bild  vielgestaltig  werden.  Die  jeweiligen  Compressions- 
symptome,  wie  Glottiskrampf,  Erbrechen,  Tachykardie,  Singultus,  hoch- 
thoracische  Dyspnoe,  Dysphagie,  asthmatische  Anfälle,  besonders  in  der 
Nacht,  daneben  die  Neigung  zu  Hämoptoe  und  die  Expectoration  von  him- 
beerartigem Auswurf,  in  dem  mitunter  sich  Carcinommassen  mikroskopisch 
nachweisen  lassen,  charakterisiren  das  klinische  Bild.  Wiegen  die  Com- 
pressionserscheinungen  der  Vena  cava  vor,  so  tritt  bei  fieberlosem  Verlaufe 
das  Lungencarcinom  in  differential-diagnostische  Beziehung  zum  Aneurysma 
der  Aorta,  bei  miliarer  Carcinose  der  Lunge  und  febrilem  Verlaufe  hin- 
gegen zur  Miliartuberculose. 

Sowohl  die  Cyanose  als  auch  die  Dyspnoe  können  noch  durch  andere 
Momente  als  die  erwähnten  der  Compression  bedingt  sein,  so  letztere  d-urch 
das  Coma  carcinomatosum  {Acetoncoma,  Jaoksch),  erstere  durch  nicht  car- 
cinomatöse  Erkrankung  des  Respirationsapparates  (Pneumonie,  Pleuritis)  oder 
der  Oirculationsorgane  (Pericarditis),  sowie  insbesondere  durch  Embolien 
der  Arteria  pulmonalis  und  Thrombose  der  Pulmonalvenen.  Eine  solche 
Cyanose  in  Folge  multipel  auftretender  Thrombenbildung  in  denPulmonal- 
venenästen  beobachtete  ich  an  einem  bewusstlosen  18jährigen  Mädchen,  in 
dessen  Urin  geringe  Mengen  von  Zucker  und  Aceton  nachweisbar  waren. 
Die  Section  ergab  Carcinom  des  linken  Bronchus,  Thrombose  des  Sinus 
transversus  und  der  Pulmonalvenen.  Auch  in  solchen  nach  allen  Piich- 
tungen  diagnostisch  complicirten  Fällen  ist  das  plötzliche  Auftreten  von 
hochgradiger  Cyanose  neben  Dyspnoe  und  Acetonurie  ein  Wink,  dass  dem 
Zustande  ein  mechanisches  Circulationshindernis  und  nicht  ausschliesslich 
ein  toxisches  Element  zu  Grunde  liegt. 

In  ähnlicher  Weise  wie  Lungencarcinome  können  andere  guta  rtige 
und  bösartige  Lungengeschwülste,  wie  Sarkome,  Melanome, 
Enchondrome,  Lipome.  Fibrome,  Osteome,  Derraoidcysten  und  Lungenechino- 
coccen  durch  Compression  der  Luftwege  und  der  grossen  Gefässe,  sowie 
durch  Complicationen  Cyanose  und  Dyspnoe  erzeugen.  Bei  Lungen- 
echinococcen  kann,  falls  die  Colonien  umfangreich  und  zahlreich  sind, 
insbesondere  durch  Compression  der  Lungenarterien  Cyanose,  Dyspnoe  und 
Hydrops  entstehen,  ebenso  wenn  die  Echinococcen  in  den  Lungenvenen  oder 
in  der  Lungenarterie  sitzen.  In  letzterer  können  sie  sich  entweder  primär 
ansiedeln  oder  in  dieselbe  secundär  aus  der  Leber  durch  die  Aeste  der 
Vena  hepatica,  oder,  wie  Fälle  in  der  Literatur  lehren,  durch  Durchbruch 
einer  endocardialen  Colonie  in  das  Innere  des  rechten  Ventrikels  auf  em- 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kindei-kranklieiten.  21 


322  CYANOSE. 

bolischem  Wege  gelangen.  Namentlich  kommt  starke  Cyanose,  mit  Erstickungs- 
gefahr und  andauernden  Hustenstürmen  bei  Echinococcen  vor,  welche  in 
die  Lunge  durchbrechen.  Die  Untersuchung  des  Kranken,  sowie  der  ex- 
pectorirten  Massen  wird  uns  bald  auf  den  richtigen  Weg  leiten.  Perforation 
in  die  Pleura  wird  unter  ähnlichen  Symptomen  die  Zeichen  eines  in 
acutester  Weise  entstandenen  Pleura-Exsudates  darbieten  und  nicht  zu 
unterschätzen  ist  in  beiden  Fällen  das  Auftreten  einer  Urticaria,  wie  sie 
auch  bei  Probepunctionen  der  Leberechinococcen  manchmal  beobachtet  wird. 


Bei  subacut  verlaufender  Lungentuberculos  e,  wenn  sie  nicht 
sehr  ausgebreitet  ist,  ist  Cyanose  ein  im  Allgemeinen  nicht  häufiges 
Symptom.  Bei  hochgradig  anämischen  und  herabgekommenen  Phthisikern 
wird  sogar  bei  ausgedehnter  Infiltration  der  Lunge  und  Hinzutreten  grosser 
Ptespirationshindernisse,  wie  z.  B.  Pneumothorax,  gewöhnlich  Dyspnoe  und 
Cyanose  vermisst.  Das  Ausbleiben  der  Cyanose  erklärt  sich  durch  die 
quantitative  Verarmung  des  Blutes  an  rothen  Blutkörperchen,  desjenigen 
Materiales,  welches  durch  0-Abgabe  in  den  Capillaren  venöse  Eigenschaften 
annimmt. 

Heftige  Dyspnoe  und  Cyanose  im  Verlaufe  der  Lungentuberculose 
muss  demnach  stets  den  Verdacht  erwecken,  dass  zu  dem  Grundleiden  ein 
ho  chgradiges  Respirations-  und  Circulationshin  dernis  hin- 
zugetreten ist.  Abgesehen  von  den  manchmal  acut  auftretenden  Larynxstenosen 
bei  Perichondritis  oder  Glottisödem  kann  der  Sitz  des  Hindernisses  auch  tiefer 
liegen,  und  das  Auftreten  sowie  der  Grad  der  Cyanose  hängt  dann  manch- 
mal davon  ab,  ob  das  pneumonische  oder  bronchitische  Element  prävalirt. 
Die  erstere  Form  wird  gegenwärtig  auf  Grund  bakteriologischer  Untersuchungen 
als  Mischinfection  mit  dem  Tuberkelbacillus  und  Diplococcus  pneumoniae  ange- 
sehen. Hier  treten  die  fieberhaften  und  die  physikalisch  nachweisbaren  Er- 
scheinungen in  den  Vordergrund.  In  dem  manchmal  rostfarbenen  Sputum 
sind  in  solchen  Fällen  nebst  dem  Tuberkelbacillus  im  Beginne  der  Er- 
krankung auch  Pneumoniediplococcen  nachweisbar,  welche  sich  nicht  selten 
unter  dem  Mikroskope  als  Kapselcoccen  präsentiren  und  auch  in  solchen 
Fällen,  wo  die  Kapsel  fehlt,  in  der  ersten  aus  dem  Sputum  gezüchteten 
Pteincultur  hochgradige  Virulenz  für  Versuchsthiere  erkennen  lassen.  Sowohl 
die  mikroskopische  Untersuchung  als  auch  das  letzterwähnte  Thierexperi- 
ment  haben  nicht  nur  einen  diagnostischen,  sondern  auch  einen  prognosti- 
schen W^erth,  da  eine  zur  Tuberculose  hinzugetretene  Pneumonie  zweifellos 
eine  ernste  Gefahr  für  den  Kranken  bedeutet. 

Derartige  tuberculose  Pneumonien  zeichnen  sich  ferner  nach 
unseren  bisherigen  Beobachtungen  durch  das  Fehlen  eines  ausgesprochenen 
Fibrinnetzes  im  Blute,  sowie  durch  das  Fehlen  der  für  die  genuine  Pneu- 
monie charakteristischen  hochgradigen  Verminderung  der  Chloride  im  Harne 
aus.  Dieser  negative  Befund  im  Blute  und  im  Harne  soll  namentlich  in 
jenen  Fällen,  in  welchen  unter  dem  Eindrucke  der  in  den  Vordergrund 
tretenden  pneumonischen  Erscheinungen  und  bei  der  Mangelhaftigkeit  der 
anamnestischen  Aufschlüsse  bei  einem  in'  halb  soporösem  Zustande  zur 
Beobachtung  gelangten  Individuum  die  Möglichkeit  einer  Tuberculose  als 
latenten  Grundleidens  ausser  Acht  gelassen  worden  wäre,  den  Arzt  ge- 
mahnen, das  rostfarbene  Sputum  nicht  nur  auf  Pneumoniecoccen,  sondern 
auch  auf  Tuberkelbacillen  zu  untersuchen. 

Bei  der  bronchitischen  und  peribronchitis  chen  Form  der 
Lungentuberculose  kann  bei  nicht  hochgradig  heruntergekommenen 
und  anämischen  Individuen  grosse  Athemnoth  und  Cyanose  dann  entstehen, 


CYANOSE.  323 

wenn  durch  VerengeruDg  der  Bronchiallumina  der  Lungengaswechsel  be- 
hindert wird,  was  physikalisch  durch  den  Befund  ausgesprochener,  doppel- 
seitiger, nicht  selten  über  den  ganzen  Brustkorb  ausgebreiteter  Bronchitis 
und  bisweilen  den  eines  Lungenemphysems  zum  Ausdrucke  gelangt.  Dies 
beobachtet  man  nicht  selten  bei  jenen  Formen  der  Capillarbronchitis, 
welche  bei  Kindern  zu  bestehender  Phthise  hinzutritt  und  ausnahmslos  zu 
asphyktischem  Tode  führt.  Tritt  jedoch  im  Verlaufe  von  Tuberculose  bei 
verhältnismässig  geringer  Ausbreitung  der  bronchitischen  Phänomene  hoch- 
gradige Cyanose,  auffallende  Steigerung  der  Athmungs-  und  Pulsfrequenz 
neben  fehlender  subjectiver  Dyspnoe,  jedoch  hohem  Fieber,  ausserdem  Be- 
nommenheit des  Sensoriums  mit  zunehmendem  Verfall  der  Kräfte  auf,  so 
spricht  dieser  Symptomencomplex  für  Miliartuberculose,  insbesondere 
dann,  wenn  meningeale  Hirnerscheinungen  hinzutreten. 

Tritt  jedoch  die  Miliartuberculose  ohne  tuberculose  Antecedentien  unter 
einer  Typhusmaske  auf,  so  haben  die  erwähnten  S}'mptome  zwar  auch  gegenüber 
dem  Typhus  eine  grosse  differentialdiagnostische  Bedeutung,  doch  bewegt  sich  die  Diagnose 
in  den  meisten  derartigen  Fällen,  wenn  der  Augenspiegelbefund  keine  Chorioidealtuberkel 
aufweist  und  die  bakteriologische  Untersuchung  des  Urins  und  des  Stuhles  zu  keinem 
positiven  Ergebnisse  führt,  auf  einem  sehr  unsicheren  Boden.  In  solchen  dilferential- 
diagnostisch  schwierigen  Fällen  ist  allerdings  bei  längerer  Beobachtung  ein  Irrthum  durch 
genaue  Aufzeichnung  des  Verhältnisses  der  Temperatur,  Athem-  und  Pulsfrequenz  zu 
vermeiden,  wenn  man  bedenkt,  dass  Typhus,  abgesehen  von  therapeutischen  Eingriffen, 
sich  durch  den  Parallelismus  der  Körpertemperatur,  Respirations-  und  Pulsfrequenz  cha- 
rakterisirt,  während  die  Miliartuberculose  gerade  in  dieser  Hinsicht  vielfache  Dishar- 
monien zeigt. 

Cyanose  kommt  endlich  bei  jenen  seltenen ,  afebril  verlaufenden 
chronischen  Formen  der  Phthise  vor,  welche  zu  Hypertrophie  und  Dilatation 
des  rechten  Ventrikels,  manchmal  sogar  zu  relativer  Tricuspidalinsufficienz 
führen.  Es  sind  dies  insbesondere  jene  Formen,  die  als  Phthisis  fibrosa 
bezeichnet  werden,  und  bei  welchen  durch  die  häufigen  Complicationen, 
wie  Emphysem,  Lungenschrumpfung,  Verwachsung  der  Pleurablätter,  ins- 
besondere Verwachsung  des  Herzens  mit  dem  Herzbeutel  veranlasste 
Circulationsstörungen  derart  in  den  Vordergrund  treten,  dass  der  Verlauf 
weniger  dem  einer  Phthise  als  vielmehr  dem  einer  Herzkrankheit  ähnlich 
wird.  Manchmal  treten  diese  Formen  der  Lungentuberculose  unter  der 
Maske  eines  Lungenemphysems  oder  Asthma  nervosum  auf,  insbesondere 
bei  arthritisch-uratischen  Individuen.  Durch  Uebersehen  des  Grundleidens 
kann  die  Therapie  in  ganz  falsche  Bahnen  gerathen,  und  daher  erscheint 
mir  nicht  überflüssig,  darauf  hinzuweisen,  dass  bei  nicht  ganz  durchsichtigen 
Fällen  von  Emphysem  oder  Asthma  nur  die  minutiöse  Untersuchung  des 
Sputums,  und  zwar  des  aus  einer  grossen  Menge  desselben  durch  Centri- 
fugirung  gewonnenen  Sedimentes  auf  Tuberkelbacillen  für  die  Diagnose 
entscheidend  werden  kann. 

Doch  auch  im  Verlaufe  der  gewöhnlichen,  infiltrirten  Lungen- 
tuberculose kann  in  Folge  Circulationsstörungen,  insbesondere  durch 
Pericarditis  oder  auch  durch  Veränderung  des  Herzens  selbst,  wie  durch 
fettige  Degeneration  des  Myokards,  Cyanose  in  verschiedenem  Grade  auf- 
treten. Namentlich  die  bei  Tuberculosen  so  häufigePericardial- 
verwachsung  verdient  eine  besondere  Beachtung  und  soll  selbst  schon 
leichte  Cyanose  der  Lippen,  welche  in  einem  Missverhältnis  zum  Umfange 
der  örtlichen  Veränderungen  in  den  Lungenspitzen  steht,  bei  nicht  fiebernden 
Phthisikern  den  Gedanken  an  jene  Complication  wachrufen. 

Bei  einem  solchen  tuberculösen  Kranken,  welcher  an  der  Herzspitze  deutliche 
systolische  Einziehung  zeigte,  beobachtete  ich  Verschlimmerung  des  Zustandes  während 
des  Aufenthaltes  im  Hochgebirge,  unter  Zunahme  der  Dyspnoe  und  der  Herzbeschwerden. 

Nicht  selten  ist  eine  bestehende  Pericardialverwachsung  verbunden  mit  Degeneration 
des  Herzmuskels  Ursache  eines  tödtlichen  Lungenödems  im  Verlaufe  von  Lungentuberculose. 

21* 


324  CYANOSE. 

Eine  der  häufigsten  Ursachen  hochgradiger  und  plötzlich  entstehender 
Cyanose  bei  Tuberculosen  sind  Embolien  der  Lungenarterie,  ent- 
standen durch  Verschleppung  marantischer  oder  infolge  Compression  der 
Venen  durch  Lymphdrüsen  verursachter  Venenthromben  aus  dem  Bereiche 
der  Hohlvene,  am  häufigsten  aus  den  grossen  Schenkelvenen  (Vena  cruralis, 
profunda  und  saphena),  seltener  aus  dem  Gebiete  der  Vena  jugularis.  Cya- 
nose kommt  ferner  bei  denjenigen  Formen  der  Lungen  tu  berculose  vor, 
diesichsecundärbei  AffectionenderPulmonalklappenundAneu- 
rysmen  der  Brustaorta  entwickeln.  Dies  gilt  in  gleicher  Weise  für  Fälle 
von  Tuberculose  bei  bestehenden  Verkrümmungen  des  Thorax,  sowie  jene 
seltenen,  welche  zu  einem  bestehenden  Klappenfehler  des  linken  Herzens  hin- 
zutreten. Bei  der  Tub  erculose  der  Bronchial  drüsen,  wenn  letztere 
grössere  und  zusammenliegende  Convolute  bilden  und  zu  Compression  der 
Gefässe  führen,  findet  man  nebst  Ausdehnung  der  Halsvenen  Cyanose  des^ 
Gesichtes,  der  Lippen  und  der  Zunge,  welche  jedoch  zeitweise  auftreten 
und  verschwinden,  gleichwie  sich  die  habituelle  Atheninoth  auch  paroxystisch 
zu  heftigen  Anfällen  steigern  kann.  Cyanose  mit  hochgradiger  Dyspnoe  und 
wiederholter  Pneumorrhagie  kann  ferner  durch  Ver  ei  terung  tubercu- 
löser  Drüsen  ins  Perikard  oder  in  die  Aorta  entstehen,  wie  ich 
erst  vor  kurzem  einen  derartigen  Fall  beobachtet  habe. 

Ferner  kommt  imVerlaufe  der  Tuberculose  Cyanose  mit  den  hef- 
tigsten Suffocationsanfällen  bei  Pneumorrhagien  vor.  Es  ist  vielleicht  ein 
statistischer  Zufall,  dass  ich  gerade  die  tödtlichen  Pneumorrhagien  in 
solchen  Fällen  beobachtet  hatte,  bei  welchen  weder  die  örtlichen  noch  die 
allgemeinen  Symptome  ausgesprochen  waren  und  bei  welchen  ausser  Re- 
traction  der  Lungenspitzen  und  schmerzhaften  Sensationen  in  dem  afficirten 
Lungentheile  keine  Symptome  vorlagen,  welche  zu  einer  ernsten  Prognose 
berechtigt  hätten.  Diese  Fälle  gingen,  zur  Behebung  ihrer  Beschwerden 
ins  Hochgebirge  gesendet,  gleich  nach  ihrer  Ankunft,  vielleicht  durch  den 
raschen  Wechsel  des  Luftdruckes,  plötzlich  an  einer  tödtlichen  Pneumorrhagie 
zu  Grunde.  Prognostisch  ist  die  Möglichkeit  derartiger  Eventualitäten  im 
Auge  zu  behalten  und  diagnostisch  den  Geräuschen,  welche  in  den 
aneurysmatisch  erweiterten  Aesten  der  Lungenarterie  über  den  infiltrirten 
Lungenpartien  wahrnehmbar  sind,  ein  besonderes  Augenmerk  zu  schenken. 

Cyanose  mit  Dyspnoe  in  Folge  von  chronischem  Lungenödem  beob- 
achtet man  bei  Combinationen  von  Tuberculose  mit  Nephritis. 

Leichte  Cyanose  der  Lippen,  der  Ohren  und  des  Gesichtes  bei 
afebriler  Phthise  habe  ich  imVerlaufe  des  Diabetes  mellitus 
beobachtet.  Es  soll  demnach  eine  im  Verlaufe  des  Diabetes  mellitus  auf- 
tretende Cyanose  einerseits  zur  genauen  Untersuchung  der  Lunge  auifordern, 
andererseits  die  Cyanose  bei  fieberlosen  Phthisikern  ein  veranlassendes 
Moment  auch  für  die  Untersuchung  des  Urins  auf  Zucker  sein,  um  das 
Grundleiden  nicht  zu  übersehen. 

Gerade  letztere  Erscheinungen  und  das  Fehlen  von  Nachtschweissen  hat  mich  ein- 
mal bei  einem  ambulanten  Phthisiker,  der  von  einem  Arzte  zu  einer  Traubencur  nach 
Meran  geschickt  wurde,  auf  die  Diagnose  des  Grundleidens,  des  Diabetes  mellitus,  gebracht. 


Bei  Pleuraexsudation  kommt  Cyanose  gepaart  mit  Dyspnoe  vor 
und  hängt  weniger  von  der  Menge  des  Exsudates  als  vielmehr  von  der 
Raschheit  ab,  mit  welcher  sich  dieses  entwickelt.  Es  gibt  Fälle  von  exsuda- 
tiver Pleuritis,  welche  dadurch,  dass  sie  mit  wiederholten  Schüttelfrösten 
und  hohem  Fieber  einsetzen  und  manchmal  mit  Expectoration  eines  blu- 
tigen Sputums   einhergehen,   zu   der  Diagnose  einer  Pleuropneumonie  ver- 


CYANOSE.  325 

leiten.  Das  Exsudat  entwickelt  sich  mit  einer  solchen  Raschheit,  dass  schon 
nach  wenigen  Tagen  die  Entleerung  desselben  vorgenommen  werden  muss. 
Bei  diesen  unter  dem  Bilde  der  Pleuropneumonie  einsetzenden  Pleuritiden, 
deren  Unterscheidung  von  der  Pneumonie,  namentlich  in  solchen  Fällen, 
wo  eine  Probepunction  vom  Patienten  nicht  zugelassen  wird,  im  Beginne 
der  Erkrankung  manchmal  auf  grosse  Schwierigkeiten  stösst,  kommt  gerade 
der  Cyanose  eine  hohe  Bedeutung  zu,  welche,  wie  bereits  erwähnt,  bei 
genuinen,  nicht  complicirten  Pneumonien  für  gewöhnlich  ein  tardives  Symptom 
ist.  Die  Cyanose  ist  hier  directe  Folge  der  durch  Raumbeschränkung  im 
Thorax  behinderten  Herzdiastole ;  daraus  resultirt  im  Weiteren  mangel- 
hafte Füllung  des  Arteriensystems,  daher  Kleinheit  der  Pulse  und  Ver- 
minderung der  Diurese,  Symptome,  welche  unter  Umständen  eine  unver- 
zügliche Vornahme  der  Thorakocentese  indiciren  können. 

Ebenso  kommen  als  Ursache  der  Cyanose  bei  Pleuraexsudaten  die  begleitenden  und 
ursächlichen  Krankheiten  in  Betracht.  Das  gilt  insbesondere  für  intrathorakale  Car- 
cinome  und  S a r  k o  m e,- welche  zu  Ergüssen  in  den  Pleuraraum  führen.  Carcinomatöse 
Schwellung  der  Lymphdrüsen  kann  im  ersteren  Falle  durch  Compression  der  Veneii  etwa 
schon  bestehende  Cyanose  erhöhen.  Es  können  auch  durch  Druck  solcher  Drüsen  auf  die 
Piilmonalarterien  und  die  Pulmonalvenen  oder  durch  directes  Uebergreifen  des  carcinoma- 
tösen  Processes  auf  die  Gefässwände  sowohl  in  Folge  von  Thrombosirung,  als  auch  von 
Embolien  Cyanose  und  Dyspnoe  in  acuter  Weise  auftreten.  Auch  durch  directe  Gefäss- 
infection  bei  genuinen  Pleuritiden  können  derartige  Thromben  in  den  Aesten  der  Pulrao- 
nalarterie  und  Pulraonalvene  sich  bilden  und  namentlich  bei  Entleerung  des  Exsudates 
aus  den  letzteren  in  den  grossen  Kreislauf  getrieben  werden. 

Cyanose  und  Dyspnoe  können  übrigens  bei  Pleuritis,  abgesehen  von  der 
Menge  des  Exsudates,  auch  durch  begleitende  Lähmung  des  Zwerch- 
fells einen  hohen  Grad  erreichen,  sei  es  in  Folge  von  entzündlichen 
Atfectionen  desselben  bei  Pleuritis  diaphragmatica  oder  in  ähnlicher  Weise 
wie  bei  grossen,  in  den  Brustraum  hineinreichenden  Echinococcen,  diesfalls 
durch  Druck  von  unten  infolge  consecutiver  Atrophie  des  Zwerchfells.  Die 
Faradisation  des  Nervus  phrenicus  kann  in  solclien  Fällen  nach  Gerhardt 
Vorwölbungen  des  Hypochondriums,  resp.  Einziehungen  desselben,  abhängig 
vom  jeweiligen  Stande  des  Zwerchfells,  insbesondere  je  nachdem  es  nach 
oben  oder  unten  coiivex  ist,  ergeben. 

Nicht  nur  bei  massigen,  sondern  auch  bei  grossen  Exsudaten  der 
Pleura  kann  die  Cyanose  fehlen,  wenn  die  Kranken  nicht  fiebern  und 
ruhig  im  Bette  liegen,  doch  bei  der  geringsten  Körper  au  strengung, 
beim  Aufstehen  oderAufsetzen  solcher  Kranken  kann  hochgradige 
Athemnoth  mit  Cyanose  auftreten.  Dies  kann  durch  verschiedene  Ursachen 
bedingt  sein.  Durch  Knickung  der  Luftröhre,  Knickung  der  Vena  cava, 
Herzschwäche  und  Thrombose  des  Herzens,  Lungenödem,  Durchbruch  des 
Exsudates,  Diese  Anfälle  von  Athemnoth  mit  Cyanose  können  bisweilen 
zum  Tode  führen ;  einige  derartige  Fälle  habe  ich  bei  pleuritischen  Ex- 
sudaten und  gleichzeitiger  Verwachsung  des  Herzens  mit  dem  Herzbeutel 
gesehen,  insbesondere  nach  Thoraxpunctionen,  wo  trotz  regelrechter  Ent- 
leerung des  Exsudates  rascher  Tod  erfolgte,  ohne  dass  dafür  eine  andere 
Erklärung  als  nur  die  Verwachsung  des  Herzens  mit  dem  Herzbeutel  und 
schwielige  Mediastinitis  gefunden  werden  konnte.  Aus  diesem  Grunde  ist 
es  geboten,  vor  jeder  Thorakocenthese  das  Herz  in  der  erwähnten  Richtung 
bei  verschiedenen  Lagen  des  Patienten  genau  zu  untersuchen  und  eine 
echte  systolische  Einziehung  der  Herzspitze,  unter  Berücksiclitigung  sämmt- 
licher  für  die  Diagnose  der  Pericardialverwachsung  bestehender  Cautelen, 
nicht  zu  übersehen, 

Athemnoth  und  Cyanose  können  schliesslich  bei  geringer  Exsudat- 
menge dann  auftreten,  wenn  sich  die  Pleuritis  in,  durch  frühere  Ver- 
wachsung  der  Pleura  entstandenen,   abgesackten  Räumen   entwickelt, 


326  CYAXOSE. 

indem  zu  dem  durch  die  Verwachsung  bedingten  Athmungs-  und  Circu- 
lationshindernisse  sich  noch  das  raumbeschränkende  Moment  des  pleuritischen 
Ergusses  hinzugesellt.  In  solchen  Fällen  können  folgende  Momente  für  die 
Diagnose  verwerthet  werden:  1.  die  anamnestischen  Daten  des  Patienten, 
welche  auf  vorausgegangene  Pleuritis  hinweisen;  2.  das  Missverhältnis 
zwischen  der  Dislocation  der  Thoraxorgane  insbesondere  des  Herzens  und 
der  nachweisbaren  geringen  Menge  des  Exsudates;  man  findet  z.  B.  bei 
kleinem  linksseitigen  Exsudate  ausgesprochene  Dextrokardie ;  3.  das  Miss- 
verhältnis  zwischen  dem  geringen  Exsudate  und  den  subjectiven  Beschwerden 
des  Kranken,  welche  manchmal  in  Athemnoth  und  nicht  selten  in  hoch- 
gradigen Schmerzen  in  der  afficirten  Thoraxhälfte  bestehen:  letztere 
bezeichnen  die  Kranken  nicht  selten  als  schmerzhafte  Empfindung,  wie 
wenn  ihnen  in  der  Brust  etwas  zerreissen  möchte,  was  wohl  dem  that- 
sächlichen  Zerreissen  der  bindegewebigen  Adhäsionen  der  Pleura  entspre- 
chen dürfte ;  4.  die  unregelmässige  Form  der  pleuritischen  Dämpfung,  indem 
z.  B.  das  Dämpfungsniveau  vorne  weiter  hinaufreicht  als  hinten,  obgleich 
der  Patient  bei  Bildung  des  Exsudates  die  Piückenlage  eingenommen  hat ; 
5.  die  absolute  Unbeweglichkeit  der  Därapfungsgrenze,  trotz  längerer  Lage- 
veränderung des  Patienten,  welch'  letzterer  Befund  jedoch  nur  im  Vereine 
mit  den  früheren  diagnostisch  verwerthbar  ist. 

Auch  totale  Verwachsungen  der  Pleurablätter  als  Ausdruck  einer  a  d- 
häsiven  Pleuritis  können  zu  Cyanose  und  Dyspnoe  führen,  und  zwar 
insbesondere  bei  stärkeren  Körperanstrengungen.  Die  Ursache  hievon  liegt 
in  der  Insufficienz  der  Eespiration,  welche  hauptsächlich  dadurch  bedingt 
ist,  dass  die  verwachsene  Lunge  sich  im  verticalen  Durchmesser  nicht  er- 
weitern kann,  was  eine  mangelhafte  Abwärtsbewegung  des  Zwerchfells  zur 
Folge  hat.  Es  muss  demnach  der  Thorax  sich  im  frontalen  und  sagittalen 
Durchmesser  stärker  ausdehnen  als  normal  und  in  Folge  dessen  der  costale 
Athmungstypus  prävaliren.  Das  Fehlen  der  respiratorischen  Verschiebung 
der  die  normalen  Grenzen  nicht  überschreitenden  Lungenränder  und  die 
Schwäche  des  vesiculären  Athmungsgeräusches  an  der  Thoraxbasis  sind  die 
weiteren  Folgen  der  Pleuraverwachsung.  Mit  der  Zeit  kommt  es  theils  durch 
die  mangelhafte  inspiratorische  Entfaltung  der  Lunge,  theils  durch  secundäre 
Bronchialkatarrhe  in  ähnlicher  Weise  wie  bei  Emphysem  zu  Hypertrophie 
und  Dilatation  des  rechten  Ventrikels,  welch'  letztere  so  beträchtlich  werden 
kann,  dass  eine  relative  Tricuspidalinsufficienz  entsteht.  Das  Auftreten  und 
der  Grad  der  Cyanose  bei  Verwachsung  der  Pleurablätter  wird  demnach  von 
ähnlichen  Momenten  abhängig  sein  wie  bei  Lungenemphysem,  nämlich  insbe- 
sondere von  den  begleitenden  Bronchialkatarrhen  und  von  den  Veränderungen 
des  rechten  Herzventrikels. 

Derartige  Verwachsungen  der  Pleurablätter  kommen  in  Folge  von  Pleuritis  im 
Verlaufe  der  chronischen  Tuberculose  vor,  und  zwar  insbesondere  bei  jener  Form,  welche 
mit  Bindegewebsneubildung  einhergeht  (Phthisis  fihrosa).  Nicht  selten  findet  man  diese 
adhäsive  Form  der  Entzündung  auch  an  anderen  serösen  Membranen,  z  B.  Perikard  und 
Peritoneum,  ohne  gleichzeitige  Tuberculose,  und  Baubeeger  hat  derartige  Fälle  als  primäre, 
degenerative  Entzündungen  des  subserösen  Zellstoffes  beschrieben.  Das  klinische  Bild 
kann  durch  diese  multiplen  Localisationen  der  adhäsiven  Entzündung  an  verschiedenen 
serösen  Membranen,  bei  welchen  sowohl  der  Umfang  als  auch  der  Grad  der  consecutiven 
Verwachsung  der  Pleurablätter,  der  Pericardialblätter,  der  Leber  mit  der  Bauchwand  und 
mit  dem  Zwerchfell  verschieden  sein  kann,  soM'ie  durch  das  Fortschreiten  des  entzünd- 
lichen Processes  ins  interstitielle  Bindegewebe  der  verwachsenen  Organe  eine  grosse  Viel- 
gestaltigkeit gewinnen.  Die  in  Bede  stehende  adhäsive  Pleuritis  pflanzt  sich  mit  Vorliebe 
auf  das  Pericard  und  die  grossen  Gefässe  fort,  wobei  auch  mitunter  der  Nervus  phreni- 
cus  und  Vagus  in  Mitleidenschaft  ge;'.ogen  wird. 

Die  meisten  Schwierigkeiten  bereitet  die  Differentialdiagnose  zwischen 
Lungenemphj'sem  und  dieser  Verwaclisung  der  Pleurablätter.  Die 
Dilatation    des    Thorax    bei    Pleuraverwachsung    erinnert    an    die    des   Emphysems,    der 


CYANOSE.  327 

costale,  eventuell  hochtlioracische  Respirationstypns  kommt  beiden  Krankheiten  zu,  und 
die  Verlängerung  der  Exspiration  kann  in  beiden  Fällen  vorlianden  sein.  Auch  die  Aus- 
cnltationserscheinungen,  insbesondere  die  Abschwächung  der  Respirationsgeräusche  an  der 
Thoraxbasis,  können  einen  übereinstimmenden  Befund  ergeben  und  andererseits  die  für 
das  Emphysem  charakteristische  Erweiterung  der  respiratorisch  unbeweglichen  Lun?en- 
partien  an  der  Thoraxbasis  durch  Complication  des  Emphysems  mit  beiderseitigem  Ergüsse 
m  die  Pleura  oder  durch  Hochstand  des  Zwerchfells  (Ascites),  wie  bereits  früher  erwähnt, 
dem  percutorischen  Nachweise  entzogen  und  somit  dieser  Unterschied  für  die  Differential- 
diagnose nicht  nutzbar  gemacht  werden.  Fügen  wir  noch  hinzu,  dass  nicht  selten  das 
Emjihysem  nur  in  den  vorderen  und  oberen  Lungenpartien  eine  bedeutende  Intensität 
erreichen,  dass  andererseits  bei  der  Verwachsuug  der  Pleurablätter  sich  sowohl  wie  oben 
erwähnt,  Hypertrophie  des  rechten  Ventrikels,  als  auch  secundäres  Lungenemphysem  ent- 
wickeln kann,  so  lässt  sich  ermessen,  welche  t?chwierigkeiten  einer  Differentialdiagnose 
beider  Erkrankungen  entgegenstehen.  Von  Wichtigkeit  ist  die  Untersuchung  der  Patienten 
während  eines  etwaigen  asthmatischen  Anfalles,  wobei  die  Erweiterung  der  Lungengrenzen 
beim  Emphysematiker  zunehmen  und  percutorisch  nachweisbar  werden  kann.  Das  Haupt- 
gewicht für  die  Dift'ereutialdiagnose  liegt  in  der  normalen  Beschaffenheit  des  Percussions- 
schalles  und  des  Stimmfremitus  bei  Pleuraverwachsung,  wählend  bei  Emphysem  der  Per- 
cussionsschall  hypersonor  und  der  Stimmfremitus  abgeschwächt  zu  sein  pflegt  (Graxchee). 
Für  die  Differentialdiagnose  nicht  zu  unterschätzen  ist  ferner  das  fast  constante  Vor- 
kommen der  eosinophilen  Zellen  in  vermehrter  Menge  im  Sputum  bei  Emphysem,  während 
dieselben  bei  Verwachsung  der  Pleurablätter,  insbesondere  auf  tuberculöser  Basis  in  der 
Kegel  fehlen.  Auch  dem  Fehlen  der  Pulsatio  epigastrica  (die,  abgesehen  von  den 
früher  angegebenen  Ausnahmen,  als  charakteristisch  für  das  Emphysem  angesehen 
werden  muss)  muss  bei  der  Differentialdiagnose  Rechnung  getragen  werden.  Manchmal 
gelingt  es  mit  einem  Schlage,  die  Diagnose  auf  Emphysem  zu  stellen,  wenn  sich  eine 
zu  diesem  hinzugetretene  Pleuritis  sicca  durch  Reiben  documentirt.  Die  Fortpflanzung 
der  adhäsiven  Entzündung  auf  das  Zellgewebe  des  Mediastinums  kann  durch  Ver- 
wachsung der  grossen  Gefässstämme  mit  der  vorderen  Thoraxwand  jene  Symptome  er- 
zeugen, welche  Ki'ssmai'l  als  für  Mediastinitis  chronica  ührosa  charakteristisch  beschrieben 
hat  :  inspiratorisches  Anschwellen  und  exspiratorisches  Abschwellen  der  Halsvenen 
und  Pulsus  paradoxus.  Von  diesen  Symptomen  könnte  letzteres  ebenfalls  bei  Emphysem, 
in  Complication  mit  Pericarditis,  sowie  bei  anderen  Erkrankungen  durch  inspiratorische 
Abschwächung  der  Triebkraft  des  linken  Ventrikels,  oder  durch  Corapression  der  Arteria 
subclavia  durch  inspiratorische  Hebung  der  ersten  Rippe  zu  Stande  kommen,  während 
die  ersteren,  wie  schon  früher  erwähnt,  gerade  bei  Emphysem  das  entgegengesetzte  Ver- 
halten bieten. 

Pneumothorax  führt  nur  danu  zu  Cyanose  und  Athemnoth,  wenn 
er  plethorische  Individuen  befällt,  wie  dies  z.  B.  bei  Stichverletzungen  und 
bei  Emphysem  der  Fall  sein  kann.  Bei  Phthisikern  hingegen  sind  diese 
Erscheinungen  entweder  gar  nicht  oder  nur  schwach  angedeutet  vorhanden, 
insbesondere  dort,  wo  der  Pneumothorax  entweder  circumscript  oder  durch 
Perforation  einer  hochgradig  erkrankten,  daher  ohnehin  respirationsunfähigen 
Lunge  entstanden  ist.  Ist  aber  die  Cyanose  in  auffälliger  Weise  vorhanden, 
so  ist  sie  unter  allen  Umständen  ein  prognostisch  ungünstiges  Symptom 
und  entsteht  dadurch,  dass  der  Pneumothorax  an  der  weniger  erkrankten 
Lunge  bei  hochgradig  afficirter  Gegenseite  aufgetreten  ist.  Unter  solchen 
Umständen  kann  der  Pneumothorax  nicht  nur  zu  hochgradiger  Dyspnoe  und 
Cyanose,  sondern  sogar  bei  seiner  Entwicklung  zu  asphyktischem  Tode  führen. 

Während  wir  nach  dem  früher  Gesagten  bei  den  uncomplicirten  Er- 
krankungen des  Ptespirationsapparates  nur  geringeren  Graden  der  Cyanose 
begegnen,  so  gelangt  diese  bei  Herzfehlern  von  den  leichtesten  bis  zu  den 
höchsten  Graden  zur  Beobachtung,  derart,  dass  die  Haut  rein  blau  oder 
auch  blauschwarz  gefärbt  sein  kann. 


Die  Cyanose  bei  erworbenen  Klappenfehlern  des  Herzens  er- 
reicht niemals  einen  so  hohen  Grad,  wie  bei  angeborenen  Herzano- 
nialien,  auch  läuft  bei  erworbenen  Herzfehlern  der  Grad  der  Cyanose  mit 
der  Intensität  der  subjectiven  Beschwerden  mehr  oder  weniger  parallel, 
während   bei    den    angeborenen    Herzfehlern    oft  ein  autfallender  Contrast 


328  CYAKOSE. 

zwischen  ersterer  und  letzteren  bestehen  kann,  der  bisweilen  auch  dann 
noch  sich  geltend  macht,  wenn  unter  dem  Einflüsse  der  Anomalie  die  Er- 
nährung gelitten  hat.  Auch  wenn  bei  angeborenen  Klappenfehlern,  bei 
welchen  die  Cyanose  fehlte,  letztere  durch  complicirende,  die  Circulatiou 
schädigende  Krankheiten  hervorgerufen  wird,  kann  die  aufgetretene  Cya- 
nose mit  der  Intensität  der  sie  unmittelbar  veranlassenden  Krankheit,  wie 
z.  B.  Bronchitis,  ein  auffallendes  Missverhältnis  zeigen.  Daher  muss  vom 
diagnostischen  Standpunkte  das  Auftreten  der  Cyanose  im  Verlaufe  leichter 
Erkrankungen  des  frühesten  Kindesalters,  bei  Mangel  sonstiger  subjectiver 
Beschwerden,  wie  z.  B.  Dyspnoe,  den  Gedanken  wachrufen,  dass  ein  con- 
genitaler Fehler  des  Herzens,  respective  der  grossen  Gefässe  vorliegt. 

Selbst  grosse  Defecte  der  Kammersc  beide  wand  können  ohne 
Cyanose  verlaufen.  In  der  Regel  führen  jedoch  derartige  Defecte  im  ex- 
trauterinen Leben  durch  Ueberströmen  des  Blutes  aus  der  linken  in  die 
rechte  Kammer  zu  Dilatation  und  Hypertrophie  der  letzteren.  Die  Cyanose 
entsteht  in  solchen  Fällen  transitorisch  durch  Schreien,  Husten,  oder  an- 
dauernd durch  Insufficieuz  des  Herzmuskels.  Die  Mischung  des  venösen 
Blutes  mit  dem  arteriellen  infolge  des  Ueberströmens  desselben  aus  der 
einen  Kammer  in  die  andere,  wurde  früher  zur  Erklärung  der  angeborenen 
Cyanose  herangezogen.  Wiederholte  Beobachtungen  ergaben  jedoch,  dass 
in  mehreren  Fällen,  bei  welchen  hochgradige  Defecte  des  Kammerseptums 
gefunden  wurden,  Cyanose  in  den  ersten  Lebensjahren  gefehlt  hat. 

Da  nach  dem  zuvor  Gesagten  bei  Kammerscheidewand-Defecten  der  rechte  Ven- 
trikel hypertrophirt,  um  dem  Drucke  vom  linken  Ventrikel  her  durch  gleichen  Gegen- 
druck Stand  zu  halten,  so  kann  im  späteren  Verlaufe  bei  herabgesetzter  Arbeitsleistung 
des  linken  Ventrikels  das  Blut  aus  der  rechten  Kammer  in  die  linke  hineingetrieben 
werden  und  auf  diese  Weise  durch  Blutwirbel  ein  Geräusch  in  letzterer  entstehen.  Bei 
Perforationen  der  Kammerscheidewand,  welche  im  späteren  Alter  durch  mj^okarditische 
Processe  verursacht  werden,  kann  bei  sonst  normaler  Beschaffenheit  des  Herzens  und 
seiner  Klappen  das  Blut  vom  linken  Ventrikel  in  den  rechten  hinüberströmen,  insolange 
der  Druck  im  linken  Ventrikel  überwiegr.  Bei  gleichzeitig  bestehenden  Herzfehlern  aber, 
welche  mit  mangelhafter  P'üllung  der  linken  Kammer  einhergehen,  wie  z.  B.  bei  Mitral- 
stenose oder  hochgradigem  Lungenemphysem  einerseits,  andererseits  bei  Hypertrophien 
des  rechten  Ventrikels  im  Gefolge  von  Mitralaffectionen.  Emphysem  und  Affectionen  der 
Tricuspidalklappen  ist  ein  Ueberströmen  des  Blutes  aus  der  rechten  in  die  linke  Kammer 
durch  die  Perforationsöffnung  möglich.  Das  Entstehen  der  < Geräusche  bei  Durchbohrung 
des  Ventrikülseptums  wird  hai;ptsächlich  von  der  Grösse  der  Oeffnung  abhängen.  Bei 
sehr  grosser  Comraunicationsöffnung  wurde  von  Hexoch  kein  systolisches  Geräusch  be- 
obachtet; auch  bei  sehr  kleinen  Löchern,  die  währe  d  der  herzsystobschen  Contraction 
geschlossen  werden,  so  dass  ein  Ueberströmen  des  Blutes  nicht  stattfinde'i  kann,  werden 
gleichfalls  keine  Geräusche  entstellen  können.  Bei  mitte  grossen  Oeffnungen  wird  ein 
systolisches  Geräusch  liurch  Blutwirbel  in  jener  Herzhälftn  entstehen,  in  welche  das  Blut 
hineingetrieben  wird,  dal>ef  bei  Ueberkraft  des  rechten  Ventrikels  im  linken  und  umge- 
kehrt, demgemä^s  im  eisten  Falle  an  der  Ausoultationsstelle  der  Mitralis,  im  zweiten  Falle 
an  der  Tricuspidalis  wahrnehmbar  sein.  Im  ersten  Falle  kann  daher  die  Differential- 
diagnose einer  Mitralinsufticienz,  im  letzteren  die  einer  Insufficienz  der  Tricuspidalis  in 
Frage  kommen.  Im  ersten  Fallo  wird  das  Fehlen  der  Verstärkung-  des  zweiten  Pulmonal- 
tones  und  insbesondere,  wenn  es  sich  um  ein  mit  angeborener  Cyanose  behaftetes  Kind 
handelt,  zu  Gunsten  einer  Communication  der  Ventrikel  sprechen,  im  zweiten  Falle  wird 
das  Verhalten  der  Venenpulse  um  Halse  entscheiden.  Selbstverständlich  gilt  diese  dia- 
gnostische Ueberlegung  nur  für  jene  Fälle,  in  denen  keine  Complicationen  mit  anderen 
Herzfehlern  bestehen. 

Die  angeborenen  Herzfehler.  M-elche  von  Geburt  an  mit  Cya- 
nose und  gestörter  Herzfunction  einhergehen,  sind  meist  mit  Stenose  der 
Pulmonalis  und  Insufficienz  der  Tricuspidalis  complicirt  und  die  Cyanose 
«rklärt  sich  durch  einfache  Stauung  des  venösen  I31utes. 

Offenes  Foramen  ovale  wird  häufig  bei  den  Sectionen  gefunden, 
ohne  dass  intra  vitam  irgend  welche  Symptome,  namentlich  Geräusche,  vor- 
handen gewesen  wären.  Es  erklärt  sich  dies  durch  die  Druckverhältnisse  in 
den  Yorhöfen;  der  Druck  im  linken  Vorhofe  ist  unter  normalen  Verhältnissen 


CYANOSE.  329 

höher  als  der  innerhalb  des  rechten  Vorhofes.  Es  könnte  daher  bei  offenem 
Foramen  ovale  das  Blut  nur  von  dem  linken  in  den  rechten  Vorhof,  nicht 
aber  umgekehrt  hinüberströmen.  Doch  findet  dieses  Ueberströmen  auch 
im  ersteren  Falle  deshalb  nicht  statt,  weil  die  das  Foramen  ovale  begren- 
zenden Falten  ein  gegen  den  linken  Vorhof  offenes  Ventil  bilden,  das  durch 
Ueberdruck  im  letzteren  geschlossen  wird.  Anders  verhalten  sich  die 
Dinge,  sobald  im  rechten  Vorhofe  Drucksteigerung  entsteht,  wie  dies  bei 
Insufficienz  der  Tricuspidalis  und  bei  Stenose  des  Tricuspidalostiums  der 
Fall  ist.  Unter  diesen  Verhältnissen  kann  das  durch  die  Beschaffenheit 
des  Foramen  ovale  ermöglichte  Ueberströmen  des  Blutes  vom  rechten  in 
den  linken  Vorhof  thatsächlich  erfolgen. 

Durch  Etidocarditis  an  den  Spa'trände'n  oder  an  den  Klappen  können  nebst  Cya- 
nose  auch  anderweitige  Symptome,  als  Herzklopfen  u  s.  w.  entstehen.  Auch  Herzschwäche 
in  Folge  von  Momenten,  welche  den  Organismus  und  den  Herzmuskel  schwächen,  z.  B. 
chronische  Diarrhöen,  kann  in  eben  derselben  Weise  wirken. 

Andererseits  sind  Fälle  von  Persistenz  des  Foramen  ovale 
und  des  Ductus  Botalli  bekannt,  in  welchen  sogar  bei  Complicationen 
mit  später  erworbenen  Herzkrankheiten,  z.  B.  mit  Verwachsung  des  Herzens 
mit  dem  Herzbeutel,  Cyanose  gefehlt  hat. 

Persistenz  des  Ductus  art.  Botalli  kommt  fast  nie  allein  vor, 
sondern  in  Combination  mit  anderen  Entwicklungshemmungen  am  Herzen,  wie 
z.  B,  mit  Puhnonalstenose  und  Stenosen  der  Aorta.  Die  Circulationsstörungen 
hängen  demnach  zum  Theile  von  diesen  Complicationen,  zum  Theile  auch 
von  der  Lichtung  des  Ductus  ab.  Das  Ueberströmen  des  Blutes  aus  dem 
rechten  Ventrikel  durch  die  Pulmonalarterie  in  die  Aorta  kann  nur  in  den 
ersten  Tagen  nach  der  Geburt  stattfinden,  und  zwar  wegen  der  Stärke  der 
rechten  Kammer  und  des  höheren  Druckes  in  der  Pulmonalis  zu  jener 
Zeit.  Mit  zunehmender  Entwicklung  des  linken  Herzens  und  Druckstei- 
gerung in  der  Aorta  strömt  das  Blut  von  der  Aorta  in  die  Pulmonalarterie. 
Auch  hier  gibt  es  wiederum  Fälle,  wo  seit  Geburt  Cyanose,  Herzklopfen 
und  Athembeschwerden  bestanden,  neben  anderen,  wo  die  Cyanose  gefehlt 
hat.  Ist  sie  vorhanden,  so  erklärt  sie  sich  durch  die  in  Folge  Druck- 
steigerung in  der  Pulmonalarterie  bewirkte  Mehrbelastung  und  Dilatation 
des  rechten  Ventrikels.  Doch  selbst  Combinationen  von  Persistenz  des 
Ductus  Botalli  mit  Stenose  der  Pulmonalarterie  können  jahrelang  ohne 
Cyanose  verlaufen. 

Bei  der  angeborenen  Verengerung  der  Pulmonalarterie 
besteht  jedoch  in  der  Piegel  Cyanose  von  der  Geburt  an  und  gilt  dies  nach 
Rauchfuss  ausnahmslos  für  Fälle  hochgradiger  Stenose  bei  geschlos- 
sener Kammerscheidewand.  Nicht  selten  erfolgt  der  Tod  unter  hochgradiger 
Cyanose,  Erstickungsanfällen,  CuEYNE-STOKEs'schem  Athmen  und  Con- 
vulsionen.  Bei  Stenosen  geringen  Grades  kann  die  Cyanose  entweder  fehlen 
oder  nur  massig  sein  und  temporäre  Steigerungen  zeigen,  im  weiteren  Ver- 
laufe kann  die  Cyanose  einerseits  durch  Besserung  der  Compensation, 
andererseits  bei  zunehmender  Compensationsstörung  in  Folge  relativer  Blut- 
verarmung, bisweilen  auch  dadurch,  dass  durch  das  geöffnete  Foramen  ovale 
Blut  aus  dem  rechten  Vorhofe  in  den  linken  abfliesst,  abnehmen.  Umge- 
kehrt kann  die  wegen  Anämie  und  Inanition  anfangs  geringe  Cyanose  mit 
Besserung  der  Verhältnisse  der  Blutbildung  zunehmen.  Mehrere  Fälle  in 
der  Literatur  sind  bekannt,  in  welchen  Cyanose  erst  in  reiferen  Jahren 
nach  Erkältung,  psychischen  Aufregungen  oder  auch  nach  schweren  Ent- 
bindungen eingetreten  ist.  Nicht  selten  sind  neben  Endocarditis  die  acuten 
Infectionskrankheiten,  insbesondere  die  acuten  Exantheme,  und  andere 
intercurrente  Erkrankungen,  wie  Keuchhusten,  im  Stande,   acute    Compeu- 


330  CYANOSE. 

sationsstörungen  hervorzurufen  und  das  letale  Ende  zu  beschleunigen.  Sitzt 
die  Stenose  an  dem  Klappenring  der  Palmonalis,  so  wird  theils  durch  die 
Erkrankung  der  Klappe,  theils  durch  die  mangelhafte  Füllung  des  Pul- 
monalarteriengebietes  der  zweite  Pulmonalton  entweder  fehlen  oder  auf- 
fallend schwach  sein.  Eine  neben  den  Symptomen  der  Stenose  des  Pul- 
monalostiums  bestehende  Verstärkung  des  zweiten  Pulmonaltones  spricht 
für  angeborene  Verengerung  des  Conus  arteriosus  dexter  meist  mit  gleich- 
zeitigem Offensein  des  Duct.  art.  Botalli.  Auch  bei  Stenosen  der  Pulmonal- 
arterie  jenseits  der  Klappen  wie  sie  in  Folge  Compression  durch  Neubildungen 
in  den  Lungen  seitens  Mediastinaltumoren  und  Aneurysmen  entstehen,  findet 
man  Verstärkung  des  zweiten  Pulmonaltones. 

Im  Gegensatze  zu  den  bisher  erwähnten  Entwicklungsfehlern,  bei 
welchen  die  Cyanose  kein  constantes  Symptom  bildet,  zeichnen  sich  fast 
alle  Fälle  von  angeborener  Stenose  und  Insufficienz  der 
Tricuspidalis  durch  das  Vorhandensein  von  Cyanose,  welche  allerdings 
verschiedene  Grade  haben  kann,  aus.  Die  Zeichen  von  Hypertrophie  und 
Dilatation  des  rechten  Vorhofes,  welche  sowohl  in  Vergrösserung  der  Herz- 
dämpfung nach  rechts  in  der  Vorhofsgegend  als  in  ausgesprochenen  Venen- 
pulsen ihren  Ausdruck  finden,  und  die  Abschwächung  des  zweiten  Pulmonal- 
tones, sowie  die  rasch  folgende  Herzinsufficienz  sind  für  die  Diagnose  von 
Wichtigkeit.  Die  Stärke  der  negativen  Venenpulse  nimmt  im  Stadium 
mangelhafter  Compensation  durch  fettige  Degeneration  des  rechten  Vorhofes 
und  Erlahmung  der  Thätigkeit  des  rechten  Ventrikels  ab  und  in  eben  dem- 
selben Maasse  die  Cyanose  zu. 

Hochgradige  Cyanose  von  Geburt  an,  die  das  ganze  Leben  hindurch 
gleichmässig  andauert,  ist  eines  der  constantesten  Symptome  der  Traus- 
position  der  grossen  Arterienstämme..  Diese  Cyanose  kann  ohne 
anderweitige  Krankheitsstörungen  zur  Beobachtung  gelangen.  Rauchfuss 
betont  bei  diesem  Entwicklungsfehler  den  Mangel  jener  Erstickungsanfälle, 
welche  bei  Stenose  der  Lungenarterie  neben  Steigerung  der  Cyanose  so 
häufig  auftreten.  Die  Cyanose  ist  bei  der  Transposition  der  grossen 
Arterienstämme  nicht  allein  durch  Stauung  zu  erklären,  sondern  auch  durch 
veränderte  Blutmischung,  nämlich  durch  venöse  Beschaffenheit  des  in  den 
Körperarterien  circulirenden  Blutes,  welches  die  aus  dem  rechten  Ventrikel 
entspringende  Aorta  von  letzterem  bezieht.  Daher  auch  wahrscheinlich  die 
Neigung  zu  Convulsionen,  durch  mangelhafte  Versorgung  des  Gehirnes  mit 
arteriellem  Blute.  Diagnostisch  ist  das  Fehlen  von  Herzgeräu- 
schen,  sowie  das  Fehlen  von  Herzhypertrophien  bei  hoch- 
gradiger Cyanose  wichtig;  allerdings  gibt  es  auch  hier  Ausnahmen. 

Bei  angeborener  Verengerung  des  Aortenostiums  ist 
Cyanose  ebenfalls  ein  constantes  Symptom  und  entsteht  durch  Stauung  in 
dem  linken  Vorhofe,  welche  sich  durch  Rückstauung  auf  das  rechte  Herz 
fortpflanzt.  Sowohl  Erstickungsanfälle  als  auch  Convulsionen  kommen  bei 
diesem  Entwicklungsfehler  vor. 

Bei  den  Isthmusstenosen,  d.  h.  Stenosen  der  Aorta  an  der  Ein- 
mündungsstelle  des  Duct:  art.  Botalli,  wurde  Cyanose  bei  Kindern  nebst 
Athembeschwerden.  Laryngospasmus  und  Convulsionen  beobachtet,  doch 
gibt  es  auch  Fälle  ohne  Cyanose.  Mit  Isthmusstenosen  behaftete  Individuen 
können  sogar  ein  höheres  Alter  erreichen  und  gehen  unter  den  gewöhn- 
lichen secundären  Veränderungen  am  Herzen,  oder  an  intercurrenten 
Erkrankungen  oder  an  Ruptur  der  Aorta,  wie  ich  einen  solchen  Fall  beob- 
achtet habe,  zu  Grunde. 

Bei  der  angeborenen  Enge  des  Aortensystems  tritt  die 
Cyanose  mit  den  übrigen  Erscheinungen  der  Compensationsstörung,  Dyspnoe, 


CYANOSE.  331 

Hydrops  nur  in  Folge  secundärer  Veränderungen  am  Herzen,  manchmal 
nach  Körperanstrengungen,  oder  durch  Erkrankungen  des  Klappenapparates 
und  Pericards  veranlasst,  auf.  Sonst  sind  für  die  Hypoplasie  des 
Aortensystems  mangelhafte  Körperentwicklung,  kindlicher  Habitus,  herab- 
gesetzte Blutbildung  mit  Anämie  charakteristisch.  Bei  unveränderter  Blut- 
mischung, wie  solche  Fälle  ebenfalls  bekannt  sind,  entwickelt  sich  Hyper- 
trophie des  linken  Ventrikels  und  die  Cyanose  entsteht  dann  nur  durch 
secundäre  Veränderungen  desselben. 

Wie  aus  diesen  Ausführungen  hervorgeht,  entziehen  sich  die  ange- 
borenen Herzanomalien  meist  einer  genauen  Diagnose. 

Die  Prognose  ist  im  Allgemeinen  ungünstig,  und  meist  tödten  die  verschiedenen 
Bildungsfehler  durch  Insufficienz  des  Herzens  schon  in  den  ersten  Tagen  nach  der 
Geburt.  Erreichen  die  Kinder  die  Pubertätsperiode  oder  ein  noch  höheres  Alter,  so  ent- 
wickelt sich  eine  kolbenartige  Verdickung  der  Finger  (Trommelschlägelfinger).  Meistens 
ist  die  "Wärmebildung  herabgesetzt,  die  Hände  und  Füsse  sind  kalt,  es  besteht  beschränkte 
Arbeitsfähigkeit,  grosse  Neigung  zu  Blutungen,  schlechte  Verdauung  und  nicht  selten 
herabgesetzte  Intelligenz,  mitunter  Idiotismus  und  Blödsinn. 

Auffallend  ist  es,  wie  dies  bereits  Gerhardt  betont  hat,  dass  manche 
angeborene  und  auch  sonstige  Formen  von  Blausucht,  welche  die  kleinen 
Venen  der  Haut  auf  das  äusserste  ausdehnen,  auf  grosse  Venen  fast  gar 
keinen  Einfluss  ausüben.  Ueberdies  verfallen,  wie  Gerhardt  weiter  aus- 
führt, diese  Kranken  z.  B.  mit  angeborenen  Pulmonalstenosen  weniger 
leicht  in  Wassersucht  und  weisen  geringere  Stauungen  in  den  inneren 
Organen  auf.  Man  könnte  sich  diese  Thatsache  des  mangelnden  Hydrops 
trotz  hochgradigster  Cyanose  vielleicht  derart  erklären,  dass  bei  angeborenen 
oder  auch  in  der  frühesten  Kindheit  erworbenen  Herzfehlern  die  Venen- 
capillaren  und  die  grösseren  Venen  hypertrophiren  und  daher  impermeabler 
für  das  Blutserum  werden,  während  für  die  Mchterweiterung  der  grossen 
Venen  eine  Ursache  sich  kaum  auffinden  lässt. 

Diesen  Erscheinungen,  insbesondere  dem  Missverhältnisse  zwischen  der 
Cyanose  und  den  Stauungen  in  den  inneren  Organen  könnte  die  Beobachtung 
an  die  Seite  gestellt  werden,  die  man  bei  vielen  Herzkranken  bestätigt  findet,  dass  trotz 
centraler,  vom  Herzen  ausgehender  Circulationsstörung  sowohl  die  Vertheilung  der  cyano- 
tischen  Bezirke,  als  auch  die  Reihenfolge  ihres  Auftretens  eine  ungleichmässige  ist, 
während  man  a  priori  bei  einer  Ursache,  die  für  alle  Bezirke  in  gleicher  Weise  besteht, 
auch  einen  in  allen  diesen  in  gleicher  Weise  sich  äussernden  Effect  anzunehmen  sich 
berechtigt  fühlen  würde.  Die  Thatsachen  scheinen  jedoch  darauf  hinzuweisen,  dass 
gewisse  Prädilectionsstellen  für  das  Auftreten  der  Stauungserscheinungen  angenommen 
werden  müssen,  so  dass  dasselbe  Circulationshindernis  bei  verschiedenen  Individuen  in 
verschiedener  Weise  zur  Geltung  gelangt.  Beginnende  Compensationsstörung  kündigt  sich 
daher  in  einem  Falle  mit  Cyanose  des  Gesichtes,  in  einem  anderen  mit  Leberschwellung 
oder  Albuminurie  u.  s.  w.  als  erstem  Symptome  an.  Aus  diesem  Grunde  muss  auch  der 
allgemein  aufgestellte  Satz,  dass  eine  Stauung  in  der  Pfortader  ohne  Stauung  an  den 
peripheren  Theileu,  also  ohne  Schwellung  der  Extremitäten,  ein  Herzleiden  ausschliesst, 
insoferne  eine  Einschränkung  erfahren,  als  es  seltene  Fälle  gibt,  in  welchen  die  Stauung 
in  der  Pfortader  als  erste  Manifestation  einer  eintretenden  Herzinsufficienz  erscheint.  So 
z.  B.  beobachtete  ich  einen  Fall  von  Concretio  pericardii  c.  corde,  wo  der  Ascites  dem 
Anasarca  voranging,  ein  Umstand,  der  zur  falschen  Annahme  einer  Lebercirrhose  Ver- 
anlassung gab.  Es  genügt  unter  Umständen  eine  minimale  Reizung  des  Peritoneums,  um 
dasselbe  zum  Locus  minimae  resistentiae  für  die  centrale  Stauungsursache  zu  gestalten. 
In  einem  anderen  Falle  beobachtete  ich  bei  einem  an  Fettherz  leidenden  Individuum  das 
plötzliche  Auftreten  von  multiplen  marantischen  Thromben  im  Wurzelgebiete  der  Pfort- 
ader, vorwiegend  in  den  Mesenterialvenen.  In  diesem  Falle  hat  die  Herzschwäche  durch 
Verlangsamung  der  Circulation  im  Pfortadersysteme  gerade  hier  die  Veranlassung  zur 
Bildung  von  Thromben  gegeben. 

*  * 

Ist  schon  die  früher  erwähnte  Mchterweiterung  der  grossen  neben 
hochgradiger  Ausdehnung  der  kleinen  Venen  bei  angeborener  Cyanose  kein 
constantes  Vorkommnis,  so  gehört  gerade  das  entgegengesetzte  Verhalten, 
Ausd.ehnung   der  grossen  Venen,   zu  den  Begleiterscheinungen  der 


332  CYANOSE. 

incompensirteii  Herzfehler  Erwachsener.  Entwickelt  sich  bei  diesen 
die  Stauung  in  acuter  Weise,  so  kommt  es  allerdings  zunächst  zu  einer 
Blutanhäufung  in  den  Yenencapillaren.  Bei  länger  dauernder  Behinderung 
des  Rückflusses  des  Blutes  jedoch  erweitern  sich  die  grösseren  Venen  und 
es  kann  sogar  die  Cyanose  dadurch  in  den  Hintergrund  treten,  weil  die 
ausgedehnten  Venen  gleichsam  als  Reservoir  für  das  angestaute  Blut 
dienen. 

Die  genaue  Berücksichtigung  des  Verhaltens  der  ge- 
schwellten Venen  am  Halae  ist  für  die  Beurtheilung  der  Cyanose 
hei  Klappenfehlern  des  Herzens,  und  zwar  namentlich  bei  Klappenfehlern 
an  den  venösen  Ostien  desselben  von  grossem  Werthe.  Sie  wirft  bei  vielen 
derselben  nicht  nur  ein  Licht  auf  die  Art  und  den  Grad  des  Klappen- 
fehlers selbst,  sondern  auch  auf  die  Beschaffenheit  der  zur  Compensation 
desselben  berufenen  musculösen  Plerzabschnitte. 

Bei  Fehlern  der  Tricuspidalis  ist  es  der  reciite  Vorhof,  dem  diese  Aufgabe  der 
Compensation  zunächst  zufällt,  bei  denen  der  Mitralis,  der  linke  Vorhof  und  erst  in 
zweiter  Linie  der  rechte  Ventrikel.  Wollen  wir  uns  daher  bei  einem  der  genannten  Herz- 
fehler das  Auftreten  der  Cyanose,  als  ersten  Zeichens  gestörter  Compensation  recht 
erklären,  so  dürfen  wir  uns  nicht  allein  mit  der  Constatirung  der  Art  und  des  Grades 
des  Herzfehlers  begnügen,  sondern  müssen  uns  auch  über  die  Muskelbeschaffenheit  der 
die  Compensation  besorgenden  Herzabschnitte,  und  hier  wieder  der  in  erster  Linie  dabei 
betheiligten  Vorhöfe  Klarheit  zu  verschaffen  suchen. 

Finden  wir  hochgradig  geschwellte  Venen  am  Halse,  mit  deutlicher 
inspiratorischer  Ab  Schwellung  und  exspiratorischer  An- 
schwellung, so  müssen  wir  eine  Stauung  in  den  Venen  annehmen,  bei 
welcher  jedoch  die  Lunge  ihre  Elasticität  bewahrt  hat  und  in  ihrem  vollen 
Umfange  ausdehnungsfähig  geblieben  ist.  Ebenso  können  hochgradige  Ver- 
wachsungen der  Pleura,  Emphysem,  ausgedehnte  Bronchiolitiden  mit 
Schwellung  der  Schleimhaut  oder  Verstopfungen  der  Bronchien  durch 
katarrhalisches  Secret  unter  solchen  Umständen  ausgeschlossen  werden. 
Sind  die  respiratorischen  Venenbewegungen  schwach  oder  fehlen  sie,  und 
zeigen  die  Venen  deutliche  pulsatorische  Phänomene,  welche  mit  der 
Herzcontraction  im  Zusammenhange  stehen,  so  kann  man  daraus  schliessen. 
dass  bei  vorhandenem  Circulationshindemisse  die  Compensationsthätigkeit 
der  rechten  Kammer  und  insbesondere  die  des  rechten  Vorhofes  eine 
genügende  ist.  Sind  die  respiratorischen  Schwankungen  in  den  Venen 
deutlich  ausgeprägt,  demnach  die  Elasticität  der  Lunge  hinreichend,  anderer- 
seits die  circulatorischen  Venenphänomene  schwach,  so  kann  die  Aufmerk- 
samkeit entweder  auf  eine  hochgradige  Dilatation  des  rechten  Vorhofes, 
eventuell  der  rechten  Kammer,  oder  Atrophie,  respective  Verfettung  des 
Myokardes  des  rechten  Vorhofes,  gelenkt  werden.  Bei  der  Dfferential- 
diagnose  kommt  nebst  dem  Verhalten  der  Venenpulse  noch  ihre  Recipro- 
cität  zur  Contraction  der  rechten  Kammer  und  zum  Verhalten  des  zweiten 
Pulmonaltones  in  Betracht. 

Folgender  Gedankengang  einer  Diagnose  auf  Atrophie  der 
Vorhofmu  s  culatur.  welche  durch  die  Section  bestätigt  wurde,  möge 
dies  beleuchten :  Wir  finden  bei  stark  geschwellten  Venen  einen  schwachen 
Puls  derselben,  der  sich  durch  den  Vergleich  mit  der  Carotis  als  prä- 
systolisch, d.  i.  negativ  erweist.  Der  Gegensatz  zwischen  dem  schwachen 
Pulse  und  der  stark  geschwellten  Vene  legt  uns  den  Gedanken  nahe,  dass 
der  Vorhof  sein  Blut  in  nicht  genügender  Weise  in  den  Ventrikel  entleert. 
Dies  kann  auf  zweierlei  Weise  veranlasst  sein :  Entweder  besteht  eine 
Insufficienz  des  rechten  Ventrikels  mit  Hyperdilatation  desselben,  so  dass 
wegen  der  in  diesem  eingetretenen  Stauung  der  Vorhof  nicht  alles  Blut 
in  den  Ventrikel   befördern  kann,    oder   die  Kraft   des  Vorhofs  ist  an  und 


CYANOSE.  333 

für  sich  unter  der  Korm.  Welcher  von  beiden  Umständen  vorliegt,  darüber 
entscheidet  die  Ausciiltation  des  zweiten  Pulmonaltones.  Weist  eine  vor- 
handene Verstärkung  des  zweiten  Pulmonaltones  auf  eine  hinreichende 
Arbeitsleistung  des  rechten  Ventrikels  hin  und  bewirkt  die  Darreichung 
der  Digitalis  trotz  Erhöhung  der  Contractionen  des  rechten  Ventrikels 
nicht  eine  Verstärkung  der  Venenpulse,  so  können  wir  eine  Insufficienz 
des  rechten  Ventrikels  als  Ursache  jenes  Phänomens  ausschliessen  und 
diagnosticiren  eine  herabgesetzte  Arbeitsleistung  des  rechten  Vorhofes. 
Dies  kann  nun  durch  Atrophie  seiner  Musculatur,  durch  Compression  von 
Seiten  eines  pericardialen  Exsudates,  beziehungsweise  entzündliche  Mit- 
betheiligung  der  Musculatur  hervorgerufen  sein.  Lassen  sich  die  beiden 
letzteren  Verhältnisse  ausschliessen,  dann  stellen  wir  die  Diagnose  auf 
Atrophie  des  rechten  Vorhofes.  Diese  isolirte  Atrophie  der  Vorhöfe  bei 
bestehenden  Dilatationen  und  Hypertrophien  der  Ventrikel  ist  kein  häufiger 
Zustand,  da  es  bekannt  ist,  dass  bei  Degenerationszuständen  des  Myokardes 
die  Vorhöfe  in  der  Regel  am  spätesten  degeneriren  und  dass  sie  auch 
viel  später  absterben  als  die  Ventrikel.  Werden  die  Kranzarterien  abge- 
klemmt, so  beobachtet  man  nach  vorausgegangenen  frustranen  Contractionen 
der  Ventrikel  Stillstand  in  der  Systole,  und,  obwohl  die  Kammern  sich 
nicht  mehr  contrahiren,  pulsiren  noch  die  Vorhöfe.  Es  geht  daraus  hervor, 
dass  die  rhythmische  Contraction  der  Vorhofsmusculatur  diejenige  der 
Kammern  überdauert,  vorausgesetzt,  dass  die  Vorhofsmusculatur  in  ihrer 
Textur  intact  ist. 

Ich  wurde  einmal  als  Assistent  Bambeeger's  in  der  Nacht  von  einer  Wärterin 
gerufen,  um  bei  einem  plötzlich  verstorbenen  Herzkranken  den  Todtenschein  zu  unter- 
schreiben. Ich  hatte  diesen  Fall  einige  .Stunden  vorher,  in  der  Nachmittagsvisite,  als 
Atherom  der  Aorta  mit  Insufficienz  der  Klappen  vorgestellt.  Da  der  Patient  überdies 
Stenokardische  Erscheinungen  darbot,  so  stellte  ich  auch  die  muthmassliche  Diagnose  auf 
Atherom  der  Kranzarterien.  Bei  der  Todtenbeschau  fand  ich  den  Patienten  pulslos,  todten- 
blass,  keine  Herztöne,  also  Stillstand  der  Herzaction.  Zu  meiner  Ueberraschung  fand  ich 
aber  pulsatorische  Bewegungen  an  den  Halsvenen  als  Zeichen  der  bestehenden  Contraction 
der  Vorhöfe.  Es  folgte  dann  noch  ein  Athemzug,  darauf  verschwanden  auch  die  Venen- 
pulse und  dann  war  alles  ruhig.  Dieser  Fall  ist  die  Bestätigung  der  Thierversuche  Cohx- 
heim's  für  den  Menschen,  nach  welchen  bei  Unterbindung  der  Kranzarterien  die  Pulsationen 
der  Vorhöfe  die  der  Ventrikel  um  ein  Bedeutendes  überdauern.  Deshalb  stellte  ich  auch 
auf  Grund  der  agonalen  Erscheinungen  im  vorerwähnten  Falle  mit  Berücksichtigung  der 
im  Krankheitsverlaufe  gewonnenen  Anhaltspunkte  die  Diagnose  auf  Verschluss  der  Coro- 
nararterien,  welche  auch  bei  der  Autopsie  bestätigt  wurde. 

Im  Gegensatze  hiezu  beobachtet  man  aber  auch,  dass  die  hypertro- 
phischen Ventrikel  manchmal  ante  mortem  sehr  kräftig  pulsiren,  während 
die  muskelschwachen  Vorhöfe  früher  erlahmen  und  unter  Um- 
ständen ihre  Reactionslosigkeit  auf  Digitalis  früher  bekunden,  als  die 
muskelstarken  Ventrikel.  Dieses  Verhalten  der  Vorhöfe,  welches  im 
Verschwinden  der  Venenpulse  seinen  Ausdruck  findet,  kann  unter  Umständen 
für  die  jeweilige  Prognose  schwerer  Herzfehler  ein  wichtiges  Zeichen  ab- 
geben und  manchmal,  insbesondere  in  Fällen,  wo  Digitalis  verwendet  wurde, 
trotz  guter  Kammercontraction,  trotz  hinreichender  Diurese.  trotz  lauter 
Herztöne  und  kräftiger  Pulse  den  Tod  verkünden,  weil  jede  Herzhälfte 
eine  Doppelpumpe  ist  und  der  Vorhof  jeder  Seite  einen  wesentlichen  An- 
theil  an  der  Arbeitsleistung  des  Herzens  hat. 

Positive  Venenpulse  bedeuten  Insufficienz  der  Tricuspidalklappen 
und  entstehen  dadurch,  dass  bei  der  Systole  des  rechten  Ventrikels  eine 
Blutwelle  in  die  Vena  cava  zurückgeworfen  wird. 

Dieser  Puls  ist  für  die  Tr  i  c  uspidalinsuf  f  icienz  pat  h  ognomon  ischund 
hängt  sowohl  von  der  Intensität  der  Systole  des  rechten  Ventrikels  als  auch  von  der 
Capacität  des  rechten  Vorhofes  ab,  welcher,  wenn  er  abnorm  erweitert  ist,  die  Regurgitation 
abschwächen  kann.  In  noch  höherem  Grade  kann  die  enorme  Erweiterung  des  Vorhofes 
und   der   grossen   intrathoracischen   Venenstämme   bei   der   Tricuspidalstenose   den 


334  CYANOSE. 

Füllungsgrad  und  die  präsystolischen  Venenphänomene  beeinflussen.  Der  Vorhof  und  die 
grossen  intrathoracischenVenenstämme  können  durch  hochgradige  Dilatation  gewissermassen 
ein  Reservoir  für  die  angestauten  Blutmassen  bilden  und  dadurch  die  Jugularvenen  ent- 
lasten, d.  h.  deren  Anschwellung  vermindern.  Von  der  Kraft  der  Vorhofssystole  wird  die 
Intensität  der  negativen  präsystolischen  Pulse  abhängen. 

Ist  gleichzeitig  neben  der  Tricuspidalstenose  auch  Insuf- 
ficienz  vorhanden,  so  hängt  sowohl  die  Art  als  auch  die  Inten- 
sität der  Venenpulse  von  derPrävalenz  des  einen  oder  des 
anderen  Klappenfehlers  ab. 

Dieses  Verhalten  der  Venen  am  Halse  kann  für  die  Diagnose  jener  mit  Tricuspi- 
dalinsufficienz  complicirten  Tricuspidalstenosen  verwerthet  werden,  welche  wie  bei  reiner 
Tricuspidalinsufficienz  nur  ein  systolisches  und  kein  diastolisches  Geräusch  am  rechten 
unteren  Sternalrande  zeigen.  In  solchen  Fällen  kann  das  Missverhältnis  zwischen  dem 
langgezogenen  systolischen  Geräusche  an  der  Auscultationsstelle  der  Tricuspidalis  und 
der  Schwäche  des  positiven  Jugularvenenpulses  für  die  Diagnose  einer  Tricuspidal- 
stenose neben  einer  Tricuspidalinsufficienz,  daher  einer  anatomischen  Veränderung  des 
Klappenringes,  verwerthet  werden.  Bei  relativer  Tricuspidalinsufficienz  werden  wir  selbst- 
verständlich   dieses    Missverhältnis  niemals  antreffen  können. 

Neben  jener  letztgenannten  Erscheinung  und  den  Zeichen  der  Dilatation  des  rechten 
Ventrikels  bei  relativer  Insufficienz  entscheidet  bisweilen  die  Digitalis  die  Diffe- 
rentialdiagnose zwischen  organischer  und  functioneller  Tricuspidal- 
insufficienz. Gelingt  es  durch  Digitalis  die  Dilatation  der  Kammer  und  mit  ihr  auch 
die  relative  Tricuspidalinsufficienz  rückgängig  zu  machen,  so  verschwindet  auch  das  sy- 
stolische Geräusch  und  die  positiven  Venenpulse;  wird  jedoch  ersteres  nach  Digitalis - 
gebrauch  lauter  und  werden  letztere  deutlicher,  so  spricht  die  Thatsache  für  organische 
Veränderung  der  Klappe. 

Positive  Venenpulse  können  auch  ohne  Tricuspidalinsufficienz 
dann  zu  Stande  kommen,  wenn  beiMitralinsufficienz  gleichzeitig- 
offenes  Foramen  ovale  besteht,  indem  bei  der  Contraction  des  linken 
Ventrikels  die  Regurgitationswelle  aus  dem  linken  Vorhofe  in  den  rechten 
und  aus  diesem  sich  in  die  grossen  Venen  fortpflanzt.  Das  Fehlen  der  Ab- 
schwächung  des  zweiten  Pulmonaltones  und  namentlich  das  Fehlen  eines  sy- 
stolischen Geräusches  am  rechten  unteren  Sternalrande  unterscheiden  diese 
complicirte   Mitralinsufficienz   von   der   organischen   Tricuspidalinsufficienz. 

Anders  verhält  es  sich  jedoch,  wenn  eine  relative  Tricuspidalinsufficienz 
in  Betracht  kommt,  bei  welcher  oft,  trotz  vorhandener  positiver  Venenpulse  am  Halse, 
ein  systolisches  Geräusch  fehlt,  da  das  erweiterte  Kiappenostium  anatomisch  intact,  also 
nicht  mit  Excrescenzen  versehen  ist,  andererseits  die  Contractionen  des  rechten  Ventrikels 
zu  schwach  sind,  um  ein  Regurgitationsgeräusch  zu  erzeugen.  In  solchen  Fällen  ist  so- 
wohl das  Verhalten  des  zweiten  Pulmonaltones,  der  bei  Tricuspidalinsufficienz  abge- 
schwächt ist,  sowie  der  Herzbefund  nach  Digitalisgebrauch  von  diagnostischer  Bedeutung. 
Geht  nach  Digitalis  die  Dilatation  der  rechten  Kammer  und  mit  ihr  auch  die  relative 
Tricuspidalinsufficienz  zurück  und  verschwinden  dabei  die  positiven  Venenpulse,  so  ist 
die  Vermuthung  eines  offenen  Foramen  ovale  aus  dem  Bereiche  des  diagnostischen  Cal- 
culs  zu  verweisen.  Werden  jedoch  bei  diesem  therapeutischen  Experimente  die  positiven 
Venenpulse  deutlicher  und  tritt  trotzdem  kein  Geräusch  an  der  Auscultationsstelle  der 
Tricuspidalis  auf,  so  wird  die  Vermuthung,  dass  das  Foramen  ovale  offen  ist,  mehr  Wahr- 
scheinlichkeit gewinnen. 

Bevor  wir  die  Betrachtung  der  Erscheinungen  an  den  Halsvenen  und 
ihrer  diagnostischen  Bedeutung  verlassen,  wollen  wir  noch  den  diasto- 
lischen Venencollaps  erwähnen,  welchen  Friedreich  bei  Ver- 
wachsungen de  s  Herzens  und  bei  schwieliger  Mediastinitis 
beobachtet  hat.  Dieser  entsteht  durch  das  diastolische  Zurückschnellen  der 
Brustwand  nach  vorausgegangener  systolischer  Einziehung. 

Diese  Einziehung  ist  höchst  selten  zu  beobachten,  weil  zu  ihrem  Zustandekommen 
das  gleichzeitige  Bestehen  mehrerer  Factoren  nothwendig  ist,  vor  Allem  eine  extraperi- 
cardiale  Verwachsung  des  Herzens  mit  den  Thoraxwandungen,  eine  kräftige  Contraction 
des  Herzens  und  Nachgiebigkeit  des  Thorax,  Verhältnisse,  die  man  in  dioeer  Vereinigung 
selten  vielleicht  nur  bei  Kindern  beobachten  kann.  Auch  bei  offenem  Foramen  ovale 
kann  'durch  plötzliche  Entleerung  der  Halsvenen  in  den  linken  Vorhof  und  in  den  linken 
Ventrikel  diastolischer  Venencollaps  entstehen. 


CYANOSE.  335 


Für  die  Diagnose  der  Tricuspidalinsufficienz  wäre  noch  ein 
Phänomen  zu  erwähnen,  welches  Popoff  erst  vor  kurzem  als  ein  für  letztere 
charakteristisches  Symptom  bezeichnet  hat,  es  ist  dies  die  relative  Kleinheit 
des  Pulses  in  der  rechten  Radialis.  Die  üeberfüllung  und  Dilatation 
des  rechten  Vorhofes  der  oberen  Hohlvene  und  der  Venae  anonyraae  kann  nach 
Popoff  einen  Druck  auf  die  grossen  arteriellen  Gefässstämme  ausüben.  Diesem 
Drucke  werden  die  Aorta,  die  Anonyma  und  am  meisten  die  von  denselben  ab- 
gehenden Arterien  ausgesetzt,  und  zwar  letztere  an  ihrer  Abgangsstelle,  während 
dieselben  in  ihrem  weiteren  Verlaufe  noch  von  Seiten  der  Vena  jugularis  interna 
einerseits  und  der  Vena  subclavia  andererseits  comprimirt  werden.  Gerade  die 
Compression  der  Arteria  subclavia  dextia  wird  sich  durch  Kleinheit  des  Pulses 
an  der  rechten  Radialis  documentiren. 

In  ähnlicher  Weise  wie  die  Kleinheit  des  Pulses  an  der  rechten  Radialis 
für  die  Diagnose  der  Tricuspidalinsufficienz  ist  die  relative  Kleinheit  des 
Pulses  in  der  linken  Radialis  nach  PoPOFF  eine  charakteristische  Er- 
scheinung bei  der  Mitralstenose,  bedingt  durch  Beeinflussung  desjenigen 
Theiles  des  Aortenbogens,  aus  dem  die  linke  Art.  subclavia  und  Carotis  com- 
munis entspringen.  Besteht  dabei  gleichzeitige  Insufficienz  der  Tricuspidalklappe, 
so  werden  die  Pulse  auf  beiden  Seiten  durch  beiderseitigen  Druck  gleich  ab- 
geschwächt. 

Bei  dem  häufigsten  Herzfehler  des  linken  Herzens  der  Mitral- 
insufficienz,  sowie  der  Mitralstenose  wird  die  Compensation  zuerst  durch 
vermehrte  Arbeitsleistung  und  Hypertrophie  des  linken  Vorhofes  besorgt.  Der 
steigende  Druck  in  den  Lungenvenen  und  den  Lungenarterien  veranlasst  in  der 
Folge  Hypertrophie  des  rechten  Ventrikels.  So  lange  der  rechte  Ventrikel  im 
Stande  ist,  die  Widerstände  zu  überwinden,  wird  Cyanose  nicht  auftreten,  mit 
dar  beginnenden  Entartung  seiner  Musculatur  fangen  auch  die  Compensations- 
störungen  an. 

Da  das  Verhalten  der  Venae  pulmonales  als  Anhaltspunkt  für  die  Beur- 
theilung  der  Thätigkeit  des  linken  Vorhofes  der  Inspection  nicht  in  der  Weise 
zugänglich  ist,  wie  das  der  Venae  jugulares  in  Bezug  auf  den  rechten  Vorhof 
und  das  ürtheil  über  seine  Contractionskraft  nur  in  den  allerseltensten,  bespro- 
chenen Fällen  des  offenen  Foramen  ovale  bei  bestehenden  Mitralfehlern  möglich 
ist,  so  ist  der  Einblick  in  die  jeweiligen  Functionen  des  linken  Vorhofes  un- 
gemein erschwert  und  stösst  auch  die  Beurtheilung,  in  welchem  Grade  derselbe 
erweitert  oder  hypertrophisch  ist,  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  auf  grosse  Schwie- 
rigkeiten. Eine  bestehende  Dilatation  des  linken  Vorhofes  kann  man 
mit  Wahrscheinlichkeit  dort  diagnosticiren,  wo  das  systolische  Geräusch 
bei  einer  Mitralinsufficienz  nicht  am  lautesten  an  der  Herzspitze,  sondern  ander 
Auscultationsstelle  der  Pulmo nalis  deshalb  am  lautesten  gehört 
wird,  weil  dasselbe  durch  das  erweiterte  und  der  Thoraxwand  genäherte  linke 
Herzohr  daselbst  direct  auf  die  Thoraxwand  fortgepflanzt  wird. 

In  noch  höherem  Grade  wird  die  Dilatation  des  linken  Vorhofes 
bei  Stenosen  des  Mitralostiums  auftreten  müssen.  Auch  da  wird  es  von 
der  Hochgradigkeit  der  Stenose,  sowie  von  der  Muskelbeschaffenheit  und  Ernäh- 
rung des  Vorhofes  abhängen,  ob  derselbe  dilatirt,  hypertroplürt,  frühzeitig  fettig 
degenerirt,  oder  atrophisch  wird.  Durch  die  ausgiebige  Contraction  eines  hyper- 
trophischen linken  Vorhofes,  welche  eben  am  Ende  der  Kammerdiastole  präsy- 
stolisch erfolgt,  kann  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  mangelhafte  diastolische 
Füllung  der  linken  Kammer  ausgeglichen  werden,  dadurch,  dass  er  durch  eine 
kräftige  präsystolische  Contraction  das  in  ihm  enthaltene  angestaute  Blut  activ 
in  die  Kammer  hineintreibt.  Ist  unter  solchen  Verhältnissen  das    verengerte  Mi- 


336  CYANOSE. 

tralostium  rauh,  so  ist  es  klar,    dass  diese    kräftigen    Contractionen    des    liaken 
Vorhofes  sich  durch  ein  lautes  präsystolisches  Greräusch  kundgeben  werden. 

Das  Auftreten  und  die  Intensität  des  diastolischen  Ge- 
räusches hängt  von  der  Stromgeschwindigkeit  des  Blutes  bei  dem  Durchtritte 
durch  das  verengerte  Klappenostium,  daher  von  dem  jeweiligen  Druckunterschiede 
zwischen  dem  kleinen  und  grossen  Kreislaufe  resp.  zwischen  dem  linken  Vorhofe 
und  linken  Ventrikel  ab.  Das  verengerte  Ostinm  bildet  gleichsam  ein  zwischen 
beide  Systeme  eingeschaltetes  Diaphragma,  durch  welches  das  Blut  durchgepresst 
wird.  Es  kommen  daher  bei  Entstehung  des  diastolischen  Geräusches  die  Kraft, 
mit  welcher  der  rechte  Ventrikel  das  Blut  in  die  Lungenarterien  hineintreibt, 
die  Elasticität  der  Wandungen  dieser,  die  Aspirationskraft  der  Lungen  und  die 
Beschaffenheit  der  Thoraxmuskeln  als  druckbefördernde  Momente,  andererseits  die 
Aspirationskraft  des  linken  Ventrikels  während  der  Diastole  in  Betracht.  Wenn 
nach  wiederholten  frustranen  Herzcontractionen,  bei  welchen  der  Ventrikel  seinen 
Inhalt  nur  sehr  unvollkommen  in  die  Aorta  entleert  und  der  Druck  in  demselben 
derart  steigt,  dass  das  Blut  in  geringer  Menge  und  mit  minimaler  Geschwindig- 
keit aus  dem  Vorhof  in  den  Ventrikel  einströmen  karn,  so  wird  am  Klappen- 
ostium kein  diastolisches  Geräusch  entstehen,  oder  es  wird  ein  solches,  wenn 
früher  vorhanden  gewesen,  verschwinden.  Erfolgt  nun  nach  einer  Eeihe  derartiger 
schwacher  Kammercontractionen  einmal  eine  ausgiebige  Systole,  so  tritt  nicht 
selten  in  der  darauffolgenden  Diastole  ein  langgezogenes  Geräusch  auf,  welches 
die  Diastole  überdauert  und  die  Herzpause  ausfüllt.  Letzteres  ist  demgemäss  der 
Ausdruck  des  Unterschiedes  zwischen  dem  Druck  im  vollständig  entleerten  linken 
Ventrikel  einerseits  und  dem  während  der  vorhergegangenen  unvollkommenen 
Kammercontractionen  von  angestautem  Blute  überdehnten  linken  Vorhofe  an- 
dererseits. 

Ist  die  Geschwindigkeit  des  Blutes,  das  die  stenosirte  Stelle  passirt,  genü- 
gend gross,  um  Blutwirbel  zu  erzeugen,  und  entsteht  dennoch  kein  Geräusch, 
so  muss  man  annehmen,  dass  das  Ostium  glatt,  ohne  Excrescenzen,  ist.  In  solchen 
Fällen  kann,  trotz  gleichzeitig  bestehender  Schlussunfähigkeit  der  Mitral- 
klappe, ein  systolisches  Geräusch  fehlen,  wenn  der  Spalt  sehr  eng 
und  die  Contraction  der  schwach  gefüllten  linken  Kammer  zu  wenig  ausgiebig 
ist,  um  ein  Regurgitationsgeräusch  zu  erzeugen. 

In  anderen  Fällen,  in  welchen  der  Klappentrichter  anatomisch  nicht  hoch- 
gradig verändert  ist,  daher  tonfähig  bleibt,  hört  man  am  linken  Ventrikel 
blos  einen  laut  accentuirten,  systolischen  Ton,  dem  in  der  Diastole  ein 
gespaltener  Ton  folgt,  wodurch  ein  dem  Dactylus  ähnlicher  Ehythmus  der  Herz- 
töne entsteht.  Dieser  Dactylusrhythmus  ist,  nebst  Verstärkung  des 
zweiten  Pulmonaltones,  manchmal  das  einzige  auscultatorische  Phänomen  jener 
seltenen  Formen  der  Mitralstenose,  die  ohne  Geräusche  verlaufen,  und  bei 
welchen  nur  bei  stärkeren  körperlichen  Bewegungen  ein  präsystolisches  Geräusch 
an  der  Herzspitze  auftritt,  das  gleichsam  einen  kurzen  Vorschlag  zu  dem  nächst- 
folgenden Tone  bildet.  Der  laute  nnd  accentuirte  erste  Ton  wird  durch  die  Zu- 
nahme der  Differenz  der  Spannung  erklärt,  in  der  sich  die  Mitralklappe  am  Ende 
der  Diastole  und  zu  Beginn  der  Systole  befindet. 

Dem  entgegen  möchte  ich  glauben,  dass  dieser  als  „systolisch"  allgemein 
erkannte  Ton  dadurch  entsteht,  dass  unter  dem  Einflüsse  einer  kräftigen 
Vorhofscontraction  die  Klappensegel  bereits  während  der  Präsystole  in  tönende 
Schwingungen  versetzt,  auch  in  der  nachfolgenden  Kammersystole  weiter  fort- 
tönen. Nach  dieser  Auffassung  wäre  demnach  der  laute  erste  Mitralton 
eigentlich  ein  präsystolisch -systolisch  er  Ton  und  seine  Intensität 
weniger  von  der  Zunahme  der  Spannungsdifferenz  der  Klappen,  als  vielmehr  von  der 
Energie  der  Vorhofscontraction  abhängig  und  daher  ein  Zeichen  bestehender 
HypertropMe  des  Vorhofes. 


CYANOSE.  337 

Oft  verschwindet  ein  früher  bestandenes  präsystolisches  Geräusch  deswegen, 
weil  der  rechte  Ventrikel  die  bisherige  Compensationsthätigkeit  des  linken  Yorhofes 
als  muskelkräftigeres  Organ  vollständig  übernimmt.  Auch  ein  zweiter  Umstand  kann 
dieses  Verschwinden  des  präsystolischen  Geräusches  bewirken.  Bei  Bett- 
ruhe nämlich,  wo  an  das  Herz  geringe  Anforderungen  gestellt  werden,  kann  der  das 
Compensationsgeschäft  allein  besorgende  rechte  Ventrikel  der  Hilfeleistung  des  linken 
Vorhofes  entbehren.  Demnach  wird  das  präsystolische  Geräusch,  als  Ausdruck  der 
kräftigen  Action  des  letzteren  verschwinden,  kann  jedoch  dadurch  wieder  hervor- 
gerufen werden,  dass  man  die  Patienten  körperlichen  Anstrengungen  unterwirft,  oder, 
dass  durch  Digitalis  das  Herz  zu  kräftigerer  Bethätigung  gebracht  wird. 

Wenn  jedoch  ein  präsystolisches  Geräusch,  welches  in  einer  früheren  Periode 
der  Mitralstenose  vorhanden  war,  mit  zunehmender  Drucksteigerung  im  Pulmonal- 
system  imd  Hypertrophie  des  rechten  Herzens  schwindet  und  sich  clieses  Geräusch 
durch  die  früher  erwähnten  Proceduren  nicht  hervorrufen  lässt,  so  ist  man  berechtigt, 
dieses  andauernde  Verschwinden  bei  beginnenden  Erscheinungen  gestörter  Compen- 
sation  durch  eine  fettige  Degeneration  des  linken  Vor  ho  f  es  zu  erklären 
und  dahin  die  Diagnose  zu  stellen. 

Im  Anschlüsse  an  diese  Betrachtungen  sei  noch  erwähnt,  dass  die  Unter- 
suchungen von  Keehx  und  Komibeeg,  sowie  His  und  Fako  ein  neues  Licht  in  die 
Erkenntnis  der  Thätigkeit  und  Bedeutung  der  Vorhöfe  zu  bringen  scheinen, 
indem  dieselben  dem  Vorhofe  die  Rolle  eines  automatischen  Apparates 
zutheilen,  von  welchem  der  Antrieb  zur  normalen,  rhythmischen  Contraction  auf  den 
Ventrikel  fortgeleitet  wird.  Es  wird  weiteren  klinischen  Beobachtungen  überlassen 
bleiben,  zu  entscheiden,  inwieweit  die  Degeneration  der  Vorhöfe  bei  Klappenfehlern 
auf  die  rhythmische  Herzthätigkeit  einen  Einfluss  ausübt,  insbesondere  dort,  wo  das 
Herz  mit  noch  kräftiger,  wenig  veränderter  Kammermusculatur  seine  Arbeit  plötzlich 
einstellt. 


Für  das  Zustandekomnieu  der  Cyanose  bei  Mitralstenosen  ist 
ferner  nebst  dem  Grade  derselben  auch  deren  rasche  Entwicklung  massgebend. 
Bei  Mitralstenosen,  welche  nicht  hochgradig  sind  und  bei  w^elchen  durch  ver- 
mehrte Arbeitsleistung  des  linken  Vorhofes  und  des  rechten  Ventrikels  die 
Widerstände  derart  überAvunden  w^urden,  dass  die  Füllung  der  Aorta  und  der 
Kranzarterien  unverändert  bleibt,  kann  die  Hypertrophie  des  rechten 
Ventrikels  einen  hohen  Grad  erreichen  und  durch  lange  Zeit  den  Klappen- 
fehler compensiren.  Erst  im  weiteren  Verlaufe,  wenn  die  Leistungsfähigkeit 
des  hypertrophischen  rechten  Ventrikels  abnimmt,  wird  eine  mangelhafte 
Füllung  der  Aorta  sich  ergeben,  die  ihrerseits  wieder  insofern  auf  den  rechten 
V^entrikel  zurückwirkt,  als  derselbe  von  der  Arteria  coronaria  dextra  unge- 
nügend ernährt  wird  und  seine  Kraft  umsomehr  herabsinkt.  Kur  w^nn  die 
Stenose  im  vornherein  so  hochgradig  ist  und  sich  so  rasch  entw'ickelt  hat, 
dass  die  Füllung  der  Kranzarterien  schon  im  Beginn  der  Erkrankung  insuf- 
ficient  ist,  so  kann  sich  eine  compensirende  Hypertrophie  des  rechten 
Ventrikels  überhaupt  nicht  entwickeln,  vorausgesetzt,  dass  nicht  etwa 
bestehende  oder  anomal  sich  bildende  accessorische  Gefässe,  wie  solche  z.  B. 
bei  angeborenen  Pulmonalstenosen  in  einzelnen  Fällen  nachgewiesen  worden 
sind,  auch  in  diesem  Falle  vicariirend  das  Herz  mit  Blut  versehen.  Es  wäre 
Aufgabe  der  Anatomen,  diesen  Verhältnissen  Aufmerksamkeit  zu  schenken, 
insbesondere  w^ären  die  kleinen  Aeste  der  Kranzarterien,  welche  zu  den  Yor- 
höfen,  zur  Aorta  und  zur  Lungenarterie  gehen,  zu  berücksichtigen. 

Im  Gegensatze  zu  den  Erkrankungen  der  Mitralklappe,  bei  welchen  durch 
Stauung  in  den  Körpervenen  Cyanose  zu  den  frühen  oder  späten  S}inptomen 
gehört,  zeichnen  sich  die  Affectionen  der  Aortaklappen  gerade 
durch  dasFehlen  der  Cyanose  aus,  weil  diese  Klappenfehler  vorwiegend 

Bibl.  med.  Wissenschaften    I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  -^^ 


'338  CYANOSE. 

das  Arteriensystem  betreffen  und  die  Hypertrophie  des  linken  Ventrikels  durch 
lange  Zeit  imstande  ist,  die  Compensation  zu  besorgen.  Es  ist  demnach  in 
einem  gewissen  Grade  berechtigt,  von  einer  blauen  Facies  mitralis  und  einer 
blassen  Facies  aortica  zu  sprechen.  Cyanosen  kommen  jedoch  auch  bei  In- 
sufiicienzen  der  Aortaklappen  vor,  sei  es  durch  complicirende  Erkrankungen 
der  Mitralis,  sei  es  durch  Vorbauchung  des  Kammerseptums  infolge  hoch- 
gradiger excentrischer  Hypertrophie  des  linken  Ventrikels  und  daclurch  be- 
dingte Raumbeschränkung  des  rechten,  sei  es  durch  fettige  Degeneration  des 
Myokards  des  linken  Ventrikels  oder  schliesslich  durch  complicirende  Erkran- 
kungen des  Respirationsapparates  und  der  serösen  Membranen.  Dasselbe  gilt 
auch  von  den  Aortenstenosen. 

Auch  bei  Erkrankungen  der  Semilunarklappen  der  Pulmonal- 
arterie  ist  die  Cyanose  keineswegs  ein  constantes  Symptom.  Bei  erworbener 
Insufficienz  der  Pulmonalklappen  ohne  gleichzeitige  Stenose,  wie  sie  in  den 
allerseltensten  Fällen  durch  Endocarditis  bei  Gelenksrheumatismus,  häufiger 
noch  als  Folge  von  Traumen,  wie  Schlag  auf  die  Brust,  veranlasst  wird,  tritt 
im  Beginne  der  Affection  weniger  die  Cyanose,  als  die  Dyspnoe  in  den  Vor- 
dergrund. Im  weiteren  Verlaufe  entsteht  die  Cyanose  entweder  bei  beginnen- 
der Insufficienz  des  rechten  Ventrikels  in  derselben  Weise  wie  bei  anderen 
incompensirten  Herzfehlern,  oder  am  häufigsten  durch  Embolie  der  Pulmonal- 
arterie. 

Während  bei  den  angeborenen  Stenosen  der  Pulmonalarterie  die 
Cyanose,  wie  früher  erwähnt  wurde,  die  Regel  bildet,  zeigt  sie  bei  den  im 
Extrauterinleben  erworbenen  Stenosen  ein  wenig  constantes  Auftreten 
und  ist  in  der  Regel  ein  tardives  Symptom.  Nach  Constantin  Paul  ist  gerade 
das  Fehlen  der  Cyanose  und  der  Oedeme  selbst  in  vorgeschrittenen  Stadien 
der  Krankheit,  sowie  die  Geringfügigkeit  der  Dyspnoe  bei  körperlichen  An- 
strengungen charakteristisch  für  diese  Klappenerkrankung,  ebenso  wie  die 
Häufigkeit  der  Hämoptoen,  deren  Ursache  weniger  im  Klappenfehler  selbst, 
als  vielmehr  in  der  häufigen  Combination  mit  Tuberculose  zu  suchen  ist.  Bei 
Klappenring-Stenosen  Erwachsener  findet  man  gegen  alle  Voraussicht,  nach 
CoNSTANTiN  Paul,  eine  Dilatation  der  Pulmonalarterie  mit  Verdünnung  der 
Wände. 

Das  Auftreten  der  Cyanose  bei  Thrombosen  des  Herzens  hängt  von 
der  Localisation  der  Thromben  und  ihren  weiteren  Schicksalen  ab.  Thromben, 
welche  im  linken  Vorhofe  sitzen  und  das  Mitralostium  stenosiren,  oder  rechts- 
seitige Herzthromben,  welche  in  die  Pulmonalarterie  auswandern,  werden 
selbstverständlich  in  der  Regel  mit  Cyanose  einhergehen.  Möglicherweise 
kann  auch  das  Auftreten  der  Cyanose  davon  abhängen,  ob  ausgedehnte  Thromben 
im  linken  oder  rechten  Herzohre  sich  bilden.  Im  ersteren  Falle  kann  durch 
das  thrombosirte  linke  Herzohr  das  Lumen  der  Art.  pulmonalis,  im  zweiten 
Falle  das  Lumen  der  Aorta  durch  das  thrombosirte  rechte  Herzohr  beein- 
trächtigt werden  und  nicht  nur  zu  systolischen  Stenosengeräuschen,  sondern 
auch  zur  mangelhaften  Füllung  der  entsprechenden  Gefässsysteme  führen. 

Im  Gegensatze  zu  den  Fällen,  welche  mit  Dyspnoe  und  Cyanose  einhergehen,  gibt  es 
auch  Fälle  Yon  Herzthrombose  ohne  Cyanose  und  ohne  Dyspnoe,  bei  welchen 
die  Erscheinungen  der  mangelhaften  Füllung  des  Arteriensystems:  frequente,  kleine  und 
unregelmässige  ßadialpulse,  grosse  Blässe  und  Ohnmachtsantalle  sich  geltend  machen.  In 
anderen  Fällen  beherrschen  fremdartige  Symptome  seitens  entfernter  Organe  das  klinische 
Bild.  Es  sei  hier  ein  von  mir  beobachteter  Fall  erwähnt,  wo  im  Verlaufe  eines  Magen- 
carcinoms  Thrombose  im  linken  Herzen,  und  zwar  an  einer  atheromatösen  Mitralklappe 
auftrat,  welche  die  auscultatorischen  Symptome  einer  Mitralinsufficienz  darbot  und  zur 
tödtlichen  Embolie  der  Arteria  fossae  Sylvii  führte. 

Die  Cyanose  im  Verlaufe  einer  acuten,  u  1  c  e  r  ö  s  e  n  Endocarditis 
ist  weniger  von  dem  Grundleiden  als  von  den  vielfachen  Complicationen,  wie 
z.  B.  von  der  Bildung  von  Klappenaneurysmen,  Aneurysmen  des  Herzens,  von 


CYANOSE.  339 

der  Localisation  an  den  jeweiligen  Klappen  und  ihren  Ostien,  von  dem  Grade 
der  Herzdilatation  und  mehr  oder  minder  rasch  sich  entwickelnden  Herz- 
insufficienz,  von  der  gleichzeitigen  Betheiligung  des  Myokards  und  Perikards, 
sowie  schliesslich  von  der  Localisation  der  Metastasen  in  anderen  Organen, 
insbesondere  multiplen  Embolien  der  Lungenarterie,  bei  Affectionen  des  rechten 
Herzens,  abhängig.  Differentialdiagnostisch  ist  demnach  weder  ihr  Fehlen 
gegenüber  der  Miliartuberculose,  noch  ihr  Vorhandensein  gegenüber  dem 
Typhus  von  besonderer  Bedeutung.  Dasselbe  gilt  auch  von  jenen  Formen 
der  Aortitis  purulenta,  wo  die  Abscesse,  die  Aortenintima  perforirend,  in  den 
Blutstrom  sich  ergiessen.  Bei  diesen  Formen  der  Aortitis  sind  retrosternale 
Schmerzen,  Gürtelgefühl  am  Thorax,  Pulsationen  der  erweiterten  Aorta,  ins- 
besondere paroxysmale  Athemnoth  mit  langgezogener  Inspiration  und  relativ 
weniger  erschwerter  Exspiration,  wie  bei  Aortenaneurysma,  beobachtet  worden. 

Hochgradige  Cyanose  mit  Todesangst,  heftigen  Palpitationen,  in  einem 
der  Fälle  sogar  mit  Convulsionen,  habe  ich  bei  zwei  Patienten  mit  Endo- 
carditis  der  Aortaklappen  beobachtet.  Beide  Fälle  betrafen  junge, 
kräftige  Bursche,  bei  welchen  im  Verlaufe  eines  acuten  Gelenksrheumatismus 
sich  Endocarditis  mit  consecutiver  Insufficienz  der  Aortaklappen  entwickelt 
hatte.  Ab  und  zu  im  weiteren  Verlaufe  auftretende  Fieberbewegungen  deu- 
teten darauf  hin,  dass  der  endocarditische  Process  trotz  Besserung  des  All- 
gemeinbefindens noch  nicht  erloschen  war.  Gleichzeitig  nahm  die  schnellende 
Beschaffenheit  der  Pulse  ab,  welche  härter  und  kleiner  wurden.  Das  neben 
dem  diastolischen  hörbare  systolische  Geräusch  über  der  Aorta  wurde  immer 
länger  und  deutlicher  als  Zeichen  einer  progressiv  sich  entwickelnden  Stenose. 
Die  Kleinheit  der  Pulse  nahm  zu  und  plötzlich,  unter  stürmisch  auftretenden 
Erscheinungen  von  Asphyxie  gingen  die  Patienten  durch  Verschluss  des  Aorten- 
ostiums  zu  Grunde.  Eine  solche  productive  Endocarditis,  welche  die  anfangs 
entstandene  Aorten-Insufficienz  im  weiteren  Verlaufe  durch  Bildung  von  Ve- 
getationen bis  zum  normalen  Verhalten  der  Arterienpulse  corrigirt,  ist  dem- 
nach, wenn  sie  dabei  nicht  stillsteht,  sondern  das  Ostium  progressiv  stenosirt, 
ein  heimtückisches  Leiden,  auf  dessen  ernste  Gefahr  nebst  den  unregelmässigen 
Fieberbewegungen  die  übrigen  besprochenen  Zeichen  des  Fortbestandes  der 
Endocarditis  hinweisen  sollen. 

Die  Cyanose  beiPericarditis  hängt  vor  allem  Anderen  von  der  Menge 
des  Exsudates,  von  der  Ptaschheit  seiner  Bildung,  sowie  von  dem  Zustande 
des  Herzmuskels  und  der  Klappen  ab.  Sie  entsteht  bei  grösseren  Exsudaten 
durch  mechanische  Behinderung  des  Blutzuflusses  in  die  Vorhöfe  und  conse- 
cutiv  mangelhafter  Füllung  der  Ventrikel.  Bei  hochgradiger  Cyanose  kommt 
auch  die  directe  Compression  der  Gefässstämme,  insbesondere  der  oberen 
Hohlvene  in  Betracht,  namentlich  dann,  wenn  der  Herzbeutel  durch  einen 
rasch  entstehenden  Erguss    plötzlich  ausgedehnt  wird. 

Entsprechend  der  Menge  des  Exsudates  nimmt  auch  die  für  pericardiale  Exsudate 
charakteristische  dreieckige  Dämpfung  zu..  Doch  darf  man  nicht  vergessen,  dass  die  Grösse 
der  Dämpfung  von  verschiedenen  Factoren  abhängig  ist.  Vor  allem  wird  durch 
eine  gleichzeitige  Pericarditis  externa  adhaesiva,  in  Folge  Verwachsung  der  Lamina  me- 
diastini  mit  der  gegenüberliegenden  Pleura  costalis,  der  Herzbeutel  an  der  vorderen 
Thoraxwand  fixirt  und  jede  auch  nur  geringe  Zunahme  des  Exsudates  wird  demnach  eine 
Eetraction  der  Ltingenränder  und  daher  Zunahme  der  Dämpfung  bedingen.  Gesellt  sich 
dazu  noch  eine  Dilatation  des  Herzens  durch  Theilnahme  des  Herzmuskels  an  dem  ent- 
zündlichen Processe,  so  wird  die  Därnj^fung  auch  bei  verhältnismässig  geringer  Menge  des 
Exsudates  noch  grösser  erscheinen,  und,  da  letzteres  Moment  auch  allein,  ohne  Compression 
der  Vorhöfe,  zu  Stauungserscheinungen  führen  kann,  so  ist  es  begreiflich,  dass  die  Grösse 
der  Herzdämpfung,  der  Grad  der  Cyanose  und  der  Grad  der  Arterienleere  für  die  eventuelle 
Indication  einer  I'aracentese  des  Herzbeutels  allein  nicht  genügen  können.  In  solchen 
Fällen  ist  manchmal  das  Kleinerwerden  und  Verschwinden  der  früher  vorhandenen  negativen 
Venenpulse  als  ein  wichtiges  diagnostisches  Zeichen  der  zunehmenden  Compression  der 
Vorhöfe  zu  betrachten.  Zunahme  der  Dyspnoe  und  Cyanose  in  der  Pdickenlage  durch 
stärkere  Belastung   der  Lungen  und  der  in  dieser  Lage  von  dem  specifisch  leichteren  peri- 

22* 


340  CYANOSE. 

cardialen  Exsudate  überlagerten  und  comprimirten  Herzabschnitte  führt  instinctiv  zur  Ver- 
meidung der  Rückenlage  und  gewöhnlich  zur  Einnahme  einer  aufrechten,  oder  nach  vorne 
iTnd  links  gebeugten  Stellung,  wahrscheinlich,  um  hauptsächlich  die  Cava  superior  und  den 
rechten  Vorhof  sowie  auch  den  linken  Bronchus  dem  Drucke  zu  entziehen.  Dies  setzt 
allerdings  eine  gewisse  Beweglichkeit  des  Exsudates  voraus,  welche  bei  pericardialen  Exsu- 
daten, die  zu  partiellen  Verwachsungen  führen,  nicht  immer  vorhanden  ist.  —  Im  Gegen- 
satze dazu  wird  bei  dem  stets  beweglichen,  hydropischen  Ergüsse  ins  Pericardium  bei 
Lagewechsel  die  Stauung,  abhängig  von  der  bald  stärkeren,  bald  schwächeren  Compression 
der  Vorhöfe,  immer  bald  zu-,  bald  abnehmen  und  damit  werden  auch  die  Dyspnoe,  Cyanose 
und  etwa  vorhandene  negative  Venenpulse  in  ihrem  Auftreten  und  ihrer  Intensität  wechseln. 
Im  Endstadium  findet  man  daher  bei  hochgradigsten  Flüssigkeitsansammlungen  im  Pericar- 
dium die  Patienten  bei  hochgradiger  Cyanose,  kaum  fühlbaren  Pulsen  und  Anfällen  hoch- 
gradiger Athemnoth  eine  vornübergebeugte  Stellung  einnehmen. 

Diese  erwähnte  Stellung,  welche  die  Patienten  zur  Erleichterung  ihrer  Beschwerden 
einhalten,  trifft  man  jedoch  nicht  nur  bei  pericardialen  Flüssigkeitsansammlungen,  sondern 
auch  bei  Mediastinaltumoren  an,  wie  ein  Fall  auf  der  Klinik  Bamberger  lehrte. 
Dieser  betraf  eine  Patientin,  welche,  ausser  dreieckiger  Herzdämpfung,  dumpfe  Herztöne, 
ausgesprochene  Cyanose  und  Stauungserscheinungen  in  den  Unterleibsorganen  zeigte.  Zur 
Erleichterung  ihrer  Dyspnoe  kniete  sie  vor  dem  Bette  iind  presste  ihren  Kopf  gegen  die 
verschränkten,  auf  dem  Bette  aufgestützten  Arme.  In  der  Tiefe  der  Fossa  jugularis  war 
eine  Resistenz  fühlbar,  die  Bamberger  für  ein  pericardiales  Exsudat  als  „zu  hart"  erkannte. 
Auf  Grundlage  dieser  alleinigen  Wahrnehmung  stellte  er  die  Diagnose  auf  Carcinoma 
mediastini,  welche  auch  durch  die  Section  bestätigt  wurde. 

Bei  acuten  Exanthemen,  insbesondere  bei  Variola  und  Scarlatina, 
kann  eine  mit  auffallender  Pulsbeschleunigung  auftretende  Cyanose  unsere 
Aufmerksamkeit  auf  eine  bestehende  Pericarditis  lenken.  Das  Gleiche  gilt  für 
Pericarditis  im  Verlaufe  einer  Pneumonie,  insbesondere  bei  Potatoren. 

Cyanose  im  Verlaufe  chronischer  Erkrankungen,  z.  B.  Morb. 
Brightii,  Scrobut,  Carcinom  ist  bei  Hinzutritt  pericardialer  Ergüsse  nicht  selten. 

Die  Symptome  des  Hy droper icardiums,  eines  bei  Morbus  Brightii 
sowie  bei  Herzfehlern  häufigen  Zustandes,  sind  bereits  früher  betont  worden. 
Gleichzeitiges  Emphysem  kann  die  Diagnose  häufig  erscliM^eren.  Hat  das  Hydro- 
pericardium  einen  höheren  Grad  erreicht,  so  ist  darin  die  Aufforderung  zu 
einer  unverzüglich  einzuleitenden  diuretischen  Therapie  gegeben,  welche  kein 
Mittel  der  Pharmakopoe  unversucht  lassen  soll.  Es  sei  nämlich  erwähnt,  dass 
die  Wirkungsweise  der  Diuretica  individuell  ungemein  verschieden  ist,  so  dass 
man  bei  einem  Individuum,  nach  fruchtloser  Anwendung  einer  ganzen  Keihe 
von  Diureticis,  plötzlich  mit  einem  anderen,  versuchsweise  dargereichten  einen 
überraschenden  Erfolg  erzielt. 

Ein  nicht  geringeres  therapeutisches  Interesse  beanspruchen  jene  Fälle  von  exsudativer 
Pericarditis,  wo  die  Differentialdiagnose  zwischen  tuberculöser  und  rheu- 
matischer Pericarditis  Schwierigkeiten  bereitet,  sei  es,  dass  die  Pericarditis  vor  der 
articulären  Affection  erscheint,  Fälle,  die  selten  sind,  immerhin  aber  vorkonanien,  oder,  dass 
sich  Miliartuberculose  vorwiegend  im  Pericard  und  in  den  Gelenken  localisirt.  In  acuten 
Fällen  entscheiden  oft  die  Erfolge  der  Salicvlbehandlung,  in  chronischen  mitunter  die  der 
Digitalis.  Dass  in  ähnlichen  Fällen  ein  Herzklappenfehler  auch  nicht  vergessen  w^erden 
darf,  illustrirt  folgender  Fall :  Ein  Taglöhner,  der  nebst  Zeichen  von  Kachexie  auch  deutlich 
ausgesprochene  Cyanose  der  Wangen  und  Lippen  darbot,  zeigte  bei  seiner  Aufnahme  einen 
massig  beweglichen  Erguss  ins  Perikard  und  in  beide  Pleurasäcke,  dumpfe  Herztöne, 
kleinen  Puls  und  Ascites,  gleichzeitig  remittirendes  Fieber  nach  vorausgegangenen  Geleuks- 
schmerzen,  gegen  die  Natr.  salicylicum  ohne  Erfolg  angewendet  wurde.  Die  ursprüngliche 
Diagnose  lautete:  Tuberculosis  serosarum,  musste  aber  aufgegeben  werden,  als  nach  Ge- 
brauch der  Digitalis,  unter  colossaler  Diurese  von  A—bl  per  Tag,  die  Ergüsse  in  die  se- 
rösen Höhlen  in  der  kürzesten  Zeit  schwanden  und,  nebst  Accentuirung  des  zweiten  Pul- 
monaltones,  an  der  Herzspitze  ein  schwaches  systolisches  Geräusch  hörbar  wurde,  worauf 
die  Diagnose:  Insufficienz  der  Mitralis  mit  Staiiungserscheinungen  und  Hydrops  gestellt 
wurde.  In  solchen  Fällen  ist  die  Digitalis  ein  diagnostisch  werthvoUes  Reagens,  weil  die 
Ergüsse  bei  Tuberculosis  serosarum  entweder  gar  nicht,  oder  zum  mindesten  in  nicht  so 
prompter  Weise  zur  Resorption  gelangen  können. 

Blutergüsse  in  den  Pericardialsack  (Haemopericardium), 
entstanden  durch  Rupturen  eines  Herzaneurysmas,  Zerreissung  des  Herz- 
muskels an  verfetteten  oder  nekrotisirten  Stellen  desselben,  durch  Verwun- 
dungen, durch  Ruptur  von  Aortenaneurysmen,  führen  unter  acuter  Cyanose, 


CYANOSE.  341 

Schmerzen  in  der  Herzgegend,  Collaps  und  Convulsionen  zum  Tode.  Bei  pro- 
trahirtem  Verlaufe  ist  die  Cyanose,  neben  zunehmender  Vergrösserung  der 
Herzdämpfung  infolge  Ansammlung  des  Blutes  im  Pericardialsacke,  für  die 
Diagnose  zu  berücksichtigen. 

Bei  Pneumopericardium,  welches  bekanntlich  durch  die  ver- 
schiedensten Ursachen,  insbesondere  durch  Perforation  tuberculöser  Cavernen, 
bei  perforirendem  Pyothorax,  seltener  bei  exulcerirendem  Carcinom  des  Oeso- 
phagus und  Exulceration  des  Magens  in  den  Herzbeutel  auftritt,  sind  hoch- 
gradige Cyanose,  mit  schmerzhaften  Empfindungen  in  der  Herzgegend,  Dyspnoe, 
Beklemmungsgefühl  und  Collaps  fast  constante  Erscheinungen.  Die  charak- 
teristischen metallischen  Auscultations-  und  Percussionsphänomene  sichern  die 
Diagnose. 

Cyanose  ist  ein  häufiges  Symptom  von  Fettherz,  ähnlicherweise  wie 
bei  Klappenfehlern  als  Ausdruck  mangelhafter  Triebkraft  des  Herzens.  Sie 
kann  bei  körperlichen  Anstrengungen,  unter  ungewöhnlicher  Zunahme  der 
Pulsfrequenz,  und  im  Verlaufe  von  febrilen  Erkrankungen  zunehmen.  In 
diesen  Fällen  nimmt  die  Spannung  des  Pulses  bei  zunehmender  Frequenz  des- 
selben ab. 

Andererseits  gibt  es  Fälle  von  Hypertrophie  und  Dilatation  des 
Herzens,  entweder  in  Folge  von  Arteriosklerose  oder  chronischer  Nephritis, 
wo  im  Stadium  der  Compensationsstörung  Cyanose  neben  Hydrops,  sparsamer 
Harnsecretion,  bei  übermässig  gespannten  Ptadialarterien,  als  Zeichen  abnorm 
gesteigerten  Aortendruckes  sich  finden.  In  solchen  Fällen  kann  die  zur  Be- 
hebung der  Beschwerden  verabreichte  Digitalis  die  Kranken  der  Gefahr  einer 
Hirnblutung  aussetzen. 

Degenerationen  des  Myokardes,  sowohl  primäre  als  auch  die- 
jenigen, welche  im  Anschlüsse  an  eine  vom  Perikard  übergreifende  Ent- 
zündung zu  Stande  kommen  und  Verwachsungen  des  Herzens  mit  dem  Herz- 
beutel begleiten,  führen  in  solchen  Fällen,  wo  die  Circulationsstörung  durch 
Hypertrophie  nicht  ausgeglichen  ist,  zu  Cyanose. 

Bei  dem  Symptomencomplexe :  Vergrösserung  der  Herzdämpfung,  schwacher  Herzstoss, 
dumpfe  Beschaffenheit  und  Arhythmie  der  Herztöne,  stellen  wir  die  Diagnose:  Entartung 
der  Herzmusculatur,  ohne  aber  in  diesen  Symptomen  ein  sicheres  Mass  für  deii  Grad 
der  anatomischen  Veränderungen  im  Herzen  zu  besitzen;  denn  in  vielen  Fällen  sind  erstere 
sehr  deutlich  intra  vitam  ausgesprochen,  und  die  Autopsie  ergibt  verhältnismässig  geringe 
Veränderungen  im  Herzfleische,  in  anderen  treten  sie  weniger  deutlich  zu  Tage,  die  fettige 
Degeneration  aber  betrifft  das  ganze  Herz  und  ist  hochgradig,  so  dass  man  überall  den 
Finger  in  das  Herzfleisch  eindrücken  kann.  Unter  dem  Einflüsse  verstärkter  Innervations- 
impulse  kann  eben  auch  ein  kranker  Muskel  noch  viel  leisten. 

Diese  mit  anatomischen  Veränderungen  nicht  gleichen  Schritt  haltende  Leistungs- 
fähigkeit zeigt  sich  auch  in  der  Reaction  des  Herzens  auf  Digitalis.  Bei  alten, 
hydropischen,  mit  Fettherz  behafteten  Individuen  geht  der  Hydrops  auf  Digitalis  unter 
Steigerung  der  Diurese  nach  einigen  Tagen  zurück,  doch  auf  einmal  werden  die  Kranken, 
z.  B.  bei  Aufsetzen  im  Bette,  ohnmächtig  und  sterben  im  Collapse  durch  Herzparalyse. 

Andere  Patienten,  deren  Herz  viel  mehr  degenerirt  ist,  können  ungestraft  viel 
grössere  Dosen  mit  Erfolg  gegen  die  Compensationsstörung  vertragen.  Derartige  entgegen- 
gesetzte Erfahrungen  erklären  die  Furcht  vor  Digitalis  bei  fettigen  Degenerationen  auf  der 
einen,  das  allzu  grosse  Vertrauen  zu  derselben  auf  der  anderen  Seite. 

Auch  die  übrigen  Erkrankungen  des  Herzfleisches,  welche  in  theils  pri- 
mären, theils  secundären,  im  Anschlüsse  an  Infectionskrankheiten  erfolgenden 
interstitiellen  oder  parenchymatösen  Entzündungen  des  Herz- 
fleisches bestehen,  führen  dadurch,  dass  sie  die  Herzkraft  schwächen,  zu 
Druckerniedrigung  im  Aortensystem  und  damit  zu  Venenstauung  und  Cyanose. 
Namentlich  einzelne  Infectionskrankheiten  sind  es,  zu  denen  sowohl  während 
ihres  febrilen  Verlaufes,  als  auch  in  der  Eeconvalescenz,  sich  die  Zeichen 
einer  acuten,  oder  chronischen  Affection  des  Herzens  hinzugesellen. 

Auf  diese  Weise  entsteht  Cyanose  im  Verlaufe  eines  acuten  Gelenks- 
rheumatismus,   und   zwar   nicht   nur   bei    den  hyperpyretischen  Formen, 


342  CYANOSE. 

sondern  auch  bei  jenen,  bei  welchen  die  Temperaturen  niedrig  bleiben,  aber 
schon  in  den  ersten  Tagen  cerebrale  Symptome,  Delirien  auftreten,  die  Sali- 
cylpräparate  wirkungslos  bleiben  und  der  Puls  unter  Zunahme  der  Herz- 
dämpfung frequent,  klein  und  unregelmässig  wird.  Der  Sectionsbefund  ergibt 
in  solchen  Fällen  die  Klappen  intact,  die  Herzhöhlen  sehr  weit  und  die  Mus- 
culatur  auffallend  brüchig. 

Auch  bei  Diphtherie  kommen  sowohl  im  acuten  Stadium,  als  auch 
nach  Ablauf  desselben  derartige  Degenerationen  der  Herzmusculatur  vor  und 
werden  mit  dem  plötzlichen  Tode  im  Verlaufe  dieser  Erkrankung  in  Zusammen- 
hang gebracht.  Dasselbe  gilt  für  Scharlach,  Dysenterie,  exanthematischen 
Typhus,  und  ist  namentlich  bei  letzterem,  selbst  nach  überstandener  Erkran- 
kung, das  Auftreten  von  Cyanose  oft  bei  geringfügigen  Veranlassungen  ein 
Zeichen  der  Mitbetheiligung  des  Herzens. 

Die  Veränderungen  des  Herzmuskels  bei  Ileotyphus  äussern  sich  so- 
wohl während  des  Krankheitsverlaufes,'  als  auch  in  der  Reconvalescenz  durch 
die  verschiedensten  klinischen  Zeichen  von  Herzschwäche  wie:  Cyanose,  Ge- 
dunsenheit des  Gesichtes,  Knöchelödem,  Abschwächung  des  ersten  Mitraltones, 
unregelmässigen  kleinen,  beschleunigten  Puls  und  sparsame  Diurese,  nicht 
selten  Albuminurie. 

Während  diese  erwähnten  Erscheinungen  manchmal  zu  raschem,  mitunter  plötzlichem 
Tode  führen,  kommt  es  auf  der  anderen  Seite  vor,  dass  sie  wieder  rasch  und  ohne  irgend 
welche  üble  Folgen  vorübergehen.  In  den  letzteren  Fällen  dürften  sie  jedoch  kaum 
durch  eine  anatomische  Läsion  des  Herzens  bedingt  sein,  sondern  sie  könnten  auf 
Toxin  Wirkung  zui'ückgeführt  werden,  wofür  die  Thatsache  spricht,  dass  im  Defervescenz- 
stadium  reichliche  Ausscheidung  von  Diaminen  im  Urine  stattfindet.  Die  Untersuchung 
des  Urines  auf  den  Gehalt  an  Ptomai'nen  (Diaminen)  gibt  uns  Aufklärungen  über  den  ein- 
zelnen Fall,  und  zwar  ist  gerade  das  Felden  der  durch  die  Benzoylchloridreaction  nach- 
weisbaren Diamine  ein  Anhaltspunkt  für  die  Annahme  der  Ptetention  dieser  Substanzen  und 
für  die  Möglichkeit  einer  cumulativen  Wirkung  derselben. 

Die  richtige  Auffassung  dieser  bedrohlichen  Symptome  bewahrt  den  Arzt, 
der  sein  Urtheil  nicht  blos  auf  seine  individuellen  statistischen  Erfahrungen 
stützt,  vor  einer  bald  optimistischen,  bald  pessimistischen  Prognose.  Anderer- 
seits wird  sie  auch  sein  therapeutisches  Handeln  auf  den  richtigen  Weg 
lenken,  das  sich  bei  der  Annahme  einer  durch  Retention  von  Ptomai'nen 
bedingten  Störung  die  Elimination  derselben  auf  dem  Wege  der  Harn- 
und  Schweisssecretion  (lauwarme  Bäder),  im  zweiten  Falle,  bei  der  Annahme 
einer  anatomischen  Veränderung  des  Herzens,  die  Kräftigung 
der  Herzthätigkeit  zur  Aufgabe  machen  muss.  In  solchen  Fällen,  wo  im 
Verlaufe  des  Typhus  Cyanose,  Dyspnoe  nebst  grosser  Um^ihe,  Delirien,  kleinem, 
um^egelmässigem  Pulse  auftritt,  wird  an  den  Arzt  die  Frage  herantreten,  ob 
zur  Linderung  der  Erscheinungen  nicht  etwa  Opium  angezeigt  wäre.  Traube 
warnte  überhaupt  vor  Gebrauch  des  Opiums  in  Fällen  von  Dyspnoe  bei 
gleichzeitiger  Cyanose  behufs  Linderung  der  Athemnoth  und  gestattete  dessen 
Anwendung  nur  bei  Dyspnoe  anämischer  Individuen.  Diese  Vorsicht  hat  ins- 
besondere bei  Pneumonie  volle  Berechtigung.  Für  Typhus  möchte  ich  Aus- 
nahmen von  dieser  Piegel  gelten  lassen,  da  ich  Fälle  von  schwerem  Typhus 
gesehen  habe  bei  jungen,  jweiblichen,  sonst  gesunden,  nicht  anämischen  Indi- 
viduen, wo  das  Auftreten" von  Unruhe  und  Cyanose,  bei  ausgebreitetem  Bron- 
chialkatarrh und  schwachem,  kleinen,  beschleunigten  Pulse  nach  kleinen  Dosen 
von  Opium,  ebenso  wie  die  übrigen  Symptome,  auf  das  günstigste  beeinflusst 
wurden. 

Bisweilen  sind  es  ganz  bestimmte  Anzeichen  im  physikalischen  Herzbefunde  und  an 
den  Pulsen,  welche  drohende  Herzschwäche  verkündigen.  Hierher  gehören  nebst 
Schwächerwerden  imd  Verschwinden  des  Spitzenstosses  die  Abschwächung  des  ersten  Tones, 
manchmal  das  Auftreten  eines  systolischen  Geräusches  über  der  Herspitze  und  schliesslich 
ein  als  Embryokardie  bezeichneter  Rhythmus  der  Herztöne. 

Während  bei  einfacher,  sei  es  paroxysmaler,  oder  basedowischer  Tachykardie  sowohl 
die  Differenz,  welche  in  der  Stärke  und  im  Accent  zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Herzton 


CYANOSE.  343 

besteht,  als  auch  das  Verhältnis  zwischen  der  kleinen  und  grossen  Herzpause  proportional 
der  Beschleunigung  erhalten  bleibt,  charakterisirt  sich  die  von  Huchard  beschriebene  Ein- 
hryokardie  nebst  Tachykardie  durch  Gleichheit  des  ersten  und  zweiten  Herztones  in  Stärke 
und  Accent,  sowie  durch  zeitliche  Gleichheit  der  Intervalle.  Daraus  resultirt  ein  Rhyth- 
mus, wie  er  am  fötalen  Herzen  vorkommt.  Nach  Huchard  ist  die  Embryokardie  iii  erster 
Liniq  ein  Zeichen  herabgesetzten  Blutdruckes  im  Aortensystem,  dessen  klinischer  Ausdruck 
die  Abschwächung  des  zweiten  Aortentones  ist,  als  Resultat  der  schwachen  Herzsystole  und 
des  verminderten  Tones  in  den  Arterien.  Die  schwache  Herzsystole  erklärt  auch  die  Ab- 
schwächung des  ersten  Tones.  Gleichzeitig  mit  dem  Symptome  der  Embryokardie  beobachtet 
man  livide  Cyanose  des  Gesichtes  und  der  Extremitäten,  Sinken  der  Diurese,  Abnahme  der 
Hauttemperatur  bei  Steigei-ung  der  centralen  Temperatur.  Das  Auftreten  des  embryonalen 
Herzrhythmus,  z.  B.  im  Verlaufe  eines  Typhus,  berechtigt  jedesmal  zur  ernsten  Prognose 
und  ist,  wenn  es  mehrere  Tage  ohne  Aenderung  neben  den  genannten  Symptomen  des 
Collapses  andauert,  ein  präagonales  Symptom. 

Periodische  Irregularitäten  des  Pulses  ohne  Pulsbeschleunigung  kommen  nach  Noth- 
nagel auch  in  solchen  Fällen  von  Typhus  vor,  welche  zur  Genesung  führen,  während  ein 
ausgesprochen  unregelmässiger,  andauernd  beschleunigter  und  kleiner  Puls  prognostisch 
absolut  ungünstig  ist. 

Cyanoseii  werden  ferner  auch  bei  den  seltenen  Erkrankungen  des  Her- 
zens beobachtet,  wie  bei  Amyloiddegeneration,  Herzabscess  und 
schliesslich  bei  Herztunioren:  Carcinomen,  Sarkomen,  Tuberkeln,  Syphi- 
lomen,  sowie  Parasiten  wie  Cysticerken  und  Echinococcen. 

Die  Erscheinungen  hängen  sowohl  von  der  Localisation  der  After- 
masse, als  auch  von  den  begleitenden  Krankheiten  ab,  und  zeichnet  sich  die 
ganze  Reihe  dieser  Krankheiten  noch  dadurch  aus,  dass  sie  bei  den  Sectionen 
als  überraschender  Befund  angetroffen  werden,  da  die  Diagnose  auf  andere 
seltene  oder  häufige  Affectionen  des  Herzens  und  seines  Klappenapparates 
lautete.  Manche  Abweichungen  von  den  klinischen  Erscheinungen,  über  die 
man  sich  vorher  keine  Rechenschaft  zu  geben  vermochte,  finden  erst  dann 
ihre  Erklärung,  wie  in  dem  Falle  von  Litten,  wo  intra  vitam  Erscheinungen 
von  Insufficienz  und  Stenose  der  Pulmonalklappen  vorlagen,  während  dennoch 
neben  dem  systolischen  Schwirren  häufig  reine  Töne  über  der  Pulmonalarterie 
hörbar  waren,  und  die  Section  einen  den  Hauptast  der  A.  pulmonalis  nicht 
vollständig  obturirenden  Echinococcus  ergab. 

Auch  mir  steht  ein  Seitenstück  zu  jenem  Falle  zur  Verfügung:  Ein  43jähriger  Schuh- 
macher wurde  mit  Oedem  der  Extremitäten,  linksseitiger  Hemiplegie,  Dyspnoe  und  massiger 
Cyanose  bei  afebrilem  Verlaufe,  ohne  Hämoptoe,  auf  eine  Abtheilung  des  Rudolfspitales 
gebracht.  Die  Herzdämpfung  verbreitert,  über  der  Pulmonalis  ein  sehr  scharfes  systolisches 
Geräusch  ohne  deutliche  diastolische  Töne.  Radialis  massig  atheromatös,  Puls  relativ  klein, 
von  massiger  Spannung.  Pulsation  des  rechten  Ventrikels  vorhanden.  Singultus,  Icterus, 
später  Decubitus  ad  sacrum,  der  hemiplegischen  Körperhälfte  entsprechend.  Nach  circa 
dreiwöchentlichem  Krankenlager  Tod  unter  Cyanose  und  Dyspnoe.  Mein  College  Prim. 
Mader  stellte  die  Diagnose  auf  Stenose  dei-  Pulmonalis  insbesondere  mit  Rücksicht  auf  das 
laute,  scharfe  systolische  Geräusch  an  der  Auscultationsstelle  derselben.  Die  Section  ergab 
nebst  zerstreuten  Miliartuberkeln  der  Lunge  und  pericardialer  Verwachsung:  ausgebreitete 
tuberculöse  Infiltration  der  vorderen  oberen  Wand  des  rechten  Ventrikels  mit  Schwielen- 
bildung und  Verengerung  des  Conus  artei'iosus  dexter,  massige  Hypertrophie  des  rechten 
Ventrikels  bei  unverändertem  Klappenapparate,  Embolie  der  rechten  Art.  fossae  Sylvii. 
Wiewohl  ein  zweiter  Pulmonalton  nicht  hörbar  war,  und  das  Geräusch  am  lautesten  über 
der  Pulmonalis  gehört  wurde,  so  verleitete  mich  dennoch  die  rasch  entstandene  Hemiplegie, 
die  ich  als  Embolie  der  Arteria  fossae  Sylvii  richtig  auffasste,  zur  falschen  Diagnose  einer 
atypischen  Mitralinsufficienz  mit  der  maximalen  Intensität  des  Geräusches  über  der  Pul- 
monalis im  NAUNYN'schen  Sinne. 

Cyanose  als  Symptom  der  Arteriosklerose  ist  in  ihrem  Auftreten 
davon  abhängig,  ob  das  die  verminderte  Leistung  der  Arterien  compensirende 
Herz  hypertrophirt  und  wie  lange  es  in  diesem  Zustande  leistungsfähig  bleibt. 
Ausserdem  hängt  ihr  Auftreten  von  der  Vielgestaltigkeit  und  von  der  Locali- 
sation des  arteriosklerotischen  Processes  in  verschiedenen  Organen  ab,  wobei 
hinsichtlich  der  Localisation  im  Respirationsapparate  die  Arteriae  intercostales 
und  bronchiales,  hinsichtlich  der  im  Herzen  beide  Kranzarterien  in  Betracht 
kommen.  Auch  ist  die  Localisation  der  Atherose  in  den  Nierenarterien  wegen 
ihrer  Rückwirkung   auf   die  Circulationsorgane    nicht   zu    unterschätzen.     In 


344  CYANOSE. 

vielen  Fällen  mag  sowohl  darauf,  als  auch  auf  den  Grad  und  die  Form  der 
Arterienerkrankung  in  verschiedenen  Gefässbezirken  auch  das  ursächliche 
Moment  von  Einfluss  sein.  So  z.  B.  bilden  die  Gehirnarterien  für  Syphilis, 
die  Merenarterien  für  die  Bleiintoxication,  die  Lebergefässe  für  den  Alko- 
holismus einen  Locus  minoris  resistentiae. 


Aus  diesen  Gründen  und  speciell  mit  Rücksicht  auf  unser  Thema  erscheint 
mir  das  isohrte  Atherom  der  absteigenden  Aorta  einer  kurzen  Besprechung 
würdig. 

Wenn  man  bedenkt,  dass  von  der  absteigenden  Brustaorta  zahlreiche  Aeste 
abgehen,  sowohl  die  Arteriae  bronchiales  posteriores,  Arteriae  oesophageae,  media- 
stinicae,  und  insbesondere  die  Art.  intercostales,  welche  sowohl  die  Rippen,  als  die 
Rippenmuskeln  versorgen,  so  ist  es  klar,  dass  ein  ausgebreitetes  Atherom  des 
Haupt  stamm  es,  mit  Verengerung  der  Ausmündungsstellen  dieser  kleineren  Aeste, 
eine  mangelhafte  Blutversorgung  der  zu  diesen  gehörigen  Gebiete  zur  Folge  haben 
wird,  und  dass  demnach  das  Atherom  der  Aorta  bei  bestehendem  Emphysem  mit 
starrer  Dilatation  des  Thorax  (vielleicht  entstanden  durch  Ernährungsstörungen  in 
den  Rippen  und  in  den  Muskeln)  als  ätiologisches  Moment  in  Betracht  kommt. 

Das  Atherom  der  Arterien  kann  sich  ungleich  massig  verbreiten. 
Man  sieht  nicht  selten,  dass  hochgradige  Veränderungen  an  den  Arterien  des  einen 
Organes  nicht  immer  von  gleich  starken  eines  anderen  begleitet  sind.  Man  beob- 
achtet manchmal  hochgradige  allgemeine  Atherose,  sowohl  der  ganzen  Aorta,  als 
auch  der  Arterien  der  Extremitäten  bei  intacten  Kranzarterien  und  umgekehrt. 
Andererseits  kommt  hochgradige  Atherose  der  Aorta  bei  geringen  Veränderungen 
in  den  Extremitätenarterien  vor.  Auch  finden  wir  nicht  selten  ein  isohrtes  Atherom 
der  aufsteigenden  Aorta,  welches  sich  klinisch  durch  eine  Dämpfung  über  dem 
Manubrium  sterni,  der  erweiterten  Aorta  entsprechend,  deutliche  Pulsation  im  Jugulum 
und  klingenden  zweiten  Ton  an  der  Auscultationsstelle  der  Aorta  kundgibt,  letzteres 
in  Folge  der  guten  Resonanz  in  der  erweiterten  und  anatomisch  veränderten  Aorta. 
Greift  der  atheromatöse  Process  auf  die  Klappen  über,  so  findet  man  nicht  selten 
in  solchen  Fällen,  wo  nur  eine  Klappe  durch  die  Arteriosklerose  verkürzt  wurde, 
nebst  dem  zweiten  klingenden  Ton  ein  demselben  anhängendes  diastohsches  Geräusch, 
als  Zeichen  der  incompleten  Insufficienz.  Man  macht  dann  die  interessante  Beob- 
achtung, dass,  wenn  auch  über  der  Auscultationsstelle  der  Aorta  das  diastohsche 
Geräusch  noch  so  laut  ist  und  den  zweiten  Ton  verdeckt,  in  der  rechten  Carotis 
nur  der  rudimentäre  zweite  Ton,  nicht  aber  das  Geräusch  hörbar  ist.  Es  erklärt 
sich  dieses  Verhalten  dadurch,  dass  musikalische  periodische  Schwingungen  in  guten 
Leitern  sich  auf  grössere  Distanzen  fortpflanzen,  als  unregelmässige,  Geräusche 
bildende  Schwingungen.  So  kommt  es,  dass  musikalische  Geräusche  über  der  Aorta, 
welche  durch  Klappenrisse  entstehen,  sich  auf  weite  Entfernungen,  mitunter  sogar 
in  die  Arteriae  brachiales  und  in  die  Cruralarterien  fortpflanzen,  während  noch  so 
laute,  nicht  musikahsche  Geräusche  über  der  Aorta  nur  bei  besonderer  Intensität 
in  den  Carotiden  hörbar  sind,  derart,  dass  das  Fehlen  des  zweiten  Aorteutones  in 
den  Carotiden  als  ein  semiotisches  Zeichen  für  Aorteninsufficienz  aufgestellt  wurde. 
Da  aber  nach  dem  vorhin  Gesagten  auch  bei  bestehendem  Regurgitationsgeräusch 
ein  rudimentärer  zweiter  Aortenton  bestehen  und  dieser  nur  in  die  Carotis  sich  fort- 
pflanzen kann,  so  darf  das  Vorhandensein  des  zweiten  Tones  in  der  Carotis  in  jenen 
zweifelhaften  Fällen,  wo  die  Diagnos«  zwischen  Aorten-  und  Pulmonalinsufficienz 
schwankt,  zur  unbedingten  Ausschhessung  der  Aorteninsufficienz  nicht  benutzt  werden. 
Die  Distanz,  bis  zu  welcher  sich  die  an  der  Aorta  entstandenen  Geräusche  oder 
Töne  fortpflanzen,  hängt  aber  nicht  nur  von  dem  musiliahschen  Charakter  und  der 
Intensität  dieser  selbst,  sondern  auch  von  der  Resonanz  des  schallleitenden  Arterien- 
rohres ab.     Ist  der  Truncus  anonymus  und  die  rechte  Carotis  atheromatös,  so  wird 


CYANOSE.  345 

man  bei  bestehendem  Atherom  des  Anfangstheiles  der  Aorta  den  zweiten  klingenden 
Ton  in  den  afficirten  Gefässen  ebenso  gut,  wie  über  der  Aorta,  jedenfalls  aber 
lauter  hören,  wie  in  der  verschont  gebliebenen  linlcen  Carotis,  und  ebenso  kann 
bei  vorwiegender  Localisation  des  Atheroms  in  der  linlten  Carotis,  die  klingende 
Beschaffenheit  des  zweiten  Tones  deutlicher  in  diesem  Gefässe  als  in  der  rechten 
Carotis  werden,  ein  Befund,  der  im  Vereine  mit  einer  tastbaren  Verhärtung  der 
linken  Carotis  auf  eine  gleiche  Läsion  der  linken  Art.  fossae  Sylvii  hinweisen 
und  daher  prämonitorische  Bedeutung  haben  kann.  Verbreitet  sich  das  Atherom  der 
Brustaorta  über  einen  grossen  Theil  derselben  bis  in  die  Bauchaorta  hinein,  so  wird 
auch  der  diastolische  Ton  hinten  am  Thorax,  dem  Laufe  der  Aorta  entsprechend, 
weit  vernehmbar  sein,'  und  kann  sich  eventuell  bei  Atherom  der  Bauchaorta  auch 
über  dieser  erhalten,  wie  ich  einen  solchen  Fall  gesehen  habe,  der  sow^ohl  wegen 
dieser  Erscheinung,  als  auch  wegen  Schmerzhaftigkeit  des  stark  pulsirenden  Gefässes 
zur    falschen  Diagnose    eines  Aneurysma  der  Bauchaorta  verleitete. 

Ich  habe  im  Vorangeführten  diesen  Verhältnissen  deshalb  mehr  Raum  gegeben, 
weil  dem  Atherom  der  Aorta  descendens  und  insbesondere  dem  der  von  ihr  ab- 
gehenden Aeste  bisher  zu  wenig  Aufmerksamkeit  geschenkt  wurde,  und  doch  zwingen 
mich  einige  Beobachtungen,  sowohl  am  Krankenbette,  als  auch  am  Secirtische,  zur 
Annahme  eines  Causalnexus  zwischen  Arteriosklerose  der  Brouchial- 
und  Intercost alart erien  und  den  emphysematösen,  respective  atro- 
phischen Zuständen  der  Lunge  und  des  Brustkorbes. 

Was  nun  die  Bedeutung  der  Arterioskle  rose  für  das  Herz  anlangt, 
so  hängt  die  Arbeitsleistung  des  Herzens  davon  ab,  ob  die  das  Herz  ernährenden 
Coronararterien  vom  atheromatösen  Processe  verschont  bleiben,  oder  frühzeitig  von 
demselben  ergriffen  werden.  Im  letzteren  Falle  wird  die  compensatorische  Hyper- 
trophie des  Herzens  trotz  der  durch  Atherose  der  Körperarterien  bedingten  Ver- 
mehrung der  peripheren  Widerstände  aufgehalten,  so  entwickelt  sich  vielmelu:  allge- 
meine Entartung  des  Herzmuskels,  oder  partielle  Myomalacie  durch  Verlegung  von 
Aesten  der  Kranzarterien  mit  ihren  Folgen,  wie  Aneurysmen  des  Herzens,  Herzzer- 
reissung  und  Schwielenbildung.  In  allen  diesen  Fällen  kann  ein  klinisch  wohl  charak- 
terisirtes  Symptomenbild  den  Krankheitsverlauf  vollkommen  beherrschen:  die  soge- 
nannte Stenokardie  (Angina  pectoris), ein  paroxysmal  auftretender,  unter  demSternum 
von  der  Herzgegend  ausgehender  heftiger  Schmerz,  welcher  sehr  häufig  in  den  linken 
Arm,  viel  seltener  anderswohin  ausstrahlt  und  mit  Vernichtungsgefühl  verbunden  ist. 

Die  Respiration  während  eines  stenokardischen  Anfalles  ist  nicht  be- 
hindert, in  den  meisten  Fällen  trotz  des  vorhandenen  Schmerzes  nicht  oder  nur  dem 
Schmerzreflexe  entsprechend  beschleunigt  und  unregelmässig,  im  Gegensatze  zum 
Asthma  cardiacum,  bei  welchem  subjective  und  objective,  schmerzlose  Dyspnoe  das 
Krankheitsbild  charakterisirt  und  sowohl  Cyanose  als  auch  Stauungserscheinungeu  in 
den  Lungen  nachweisbar  sind.  Bei  Stenokardie  finden  wir  in  der  Regel  negativen 
Lungenbefund,  am  Herzen  entweder  hochgradig  verlangsamte  Herzaction,  manchmal 
mit  Verschwinden  des  ersten  Mitraltones  oder  hochgradig  beschleunigte,  oder  un- 
regelmässige Herzthätigkeit.  Der  zweite  Ton  über  der  Aorta  ist  entweder  klingend 
oder  bei  gleichzeitig  bestehender  Aorteninsufficienz  mit  einem  diastolischen  Geräusch 
abschliessend  oder  durch  dieses  ersetzt.  Während  eines  stenokardischen  Anfalles 
ist  das  Gesicht  in  der  Regel  blass,  verfallen,  von  kaltem  Schweisse  bedeckt,  und 
nicht  selten  contrastirt  die  Blässe  der  Haut  mit  der  Cyanose  der  Lippen,  anderer- 
seits der  kleine  Puls  mit  der  turbulenten  Herzthätigkeit  in  jenen  Fällen,  wo  das 
Herz  nicht  verwachsen  oder  fettig  degenerirt,  oder  durch  Pericardialergüsse  von  der 
Thoraxwand  entfernt  ist.  Die  Diagnose  der  Stenokardie  kann  manchmal  sehr  leicht, 
manchmal  sehr  schwer  sein.  Insbesondere  bereiten  Combinationeu  der  Angina  pectoris 
mit  Asthma  cardiacum  diagnostische  Schwierigkeiten. 

Gegenüber  den  Formen  der  Angina  pectoris  bei  chronischer  Tabak- 
vergiftung sowie  bei  Herzneurasthenien  und  Angina  pectoris  vaso- 
motoria  ist  im  ersten  Falle  der  anamnestisch  erhobene  Tabaksmissbrauch  und  die 


346  CYANOSE. 

bei  Nicotinismus  vorkommenden  Defecte  des  Fai'bengesichtsfeldes,  im  zweiten  das 
Vorhandensein  anderweitiger  ueurastlieuisclier  Zustände,  die  Seltenheit  der  Anfälle 
während  der  Xacht  und  manchmal  Motilitätsstörungen  am  linlieu  Arme,  falls  der 
Schmerz  in  dieselben  irradiirt  (Rosenbach),  und  schliesslich  die  Hyperästhesie  der 
Haut  in  dem  Irradiationsbezirk  (Nothnagel),  Erscheinungen,  welche  bei  echter  An- 
gina pectoris  nicht  vorkommen,  für  die  Diagnose  zu  berücksichtigen. 

Ich  möchte  noch  auf  gewisse  Fälle  von  ausstrahlenden  retrosternalen  Schmerzen 
aufmerksam  machen,  welche  nicht  selten  im  Yerlaufe  eines  klinisch  nachweisbaren 
Atheroms  der  Aorta  auftreten  und  fälschlich  prognostisch  als  ernste  Fälle  von  Steno- 
kardie gedeutet  werden.  Man  beobachtet  nicht  selten  bei  Individuen,  welche  eine 
Hypertrophie  des  linken  Yentrikels  mit  Zeichen  allgemeiner  Afherose  und  klingenden 
zweiten  Aortenton  zeigen,  bei  körperlichen  Bewegungen,  Dyspnoe  und  Schmerzen 
unter  dem  Sternum,  welche  manchmal  in  beide  oberen  Extremitäten,  manchmal  gegen 
den  Hals  und  Kopf  ausstrahlen  und  bei  Ruhe  wieder  verschwinden.  In  einiger  Zeit 
entwickelt  sich  dann  eine  Insufficienz  der  Aortaklappen.  Ich  möchte  diese  Schmerzen 
auf  eine  das  Atherom  der  Aorta  begleitende  Affection  der  Adventitia  der  Aorta  zu- 
rückführen (Periaortitis)  und  das  Auftreten  der  Schmerzen  bei  körperlichen  Be- 
wegungen durch  die  Dehnung  des  Gefässes  infolge  der  vermehrten  Blutfüllung  er- 
klären. In  Fällen,  wo  der  atheromatöse  Process  nicht  ausgebreitet  ist  und  sich  nicht 
durch  einen  klingenden  zweiten  Aortenton  kundgibt,  können  derartige  bei  Bewegungen 
auftretende,  ausstrahlende  Schmerzen  einerseits  als  stenokardische  Anfälle,  andererseits 
als  Rheumatismus  der  Brustmuskeln  gedeutet  werden.  Differentialdiagnostisch  dürfte 
nicht  unwichtig  sein,  dass  ein  bestehendes  Atherom  der  Kranzarterien  die  Gresammt- 
ernährung  herabsetzt,  in  der  Regel  zum  vorzeitigen  Marasmus  führt,  und  dass  daher 
dieser  Umstand  insbesondere  dann  in  die  Wagschale  fällt,  wenn  wir  es  mit  einer 
Angina  pectoris  zu  thun  haben,  welche  bei  arthritischen,  plethorischen  Individuen 
ohne  eine  Erkrankung  der  Coronararterien  auftritt  und  entweder  als  Reflexstenokardie 
z.  B.  vom  Magen  aus,  oder  durch  uratisch-entzündliche  Reizung  des  Plexus  cardiacus 
oder  der  Herzganglien  bedingt  ist. 

Dem  gegenüber  muss  betont  werden,  dass  die  arthritisch-ur atische 
Diathese  beim  Entstehen  der  Arteriosklerose  eine  ätiologische  Rolle  spielt.  Die 
bei  arthritischer  Diathese  fast  constant  vorkommende  Leukocytose  als  Ausdruck  der 
Ueberernährung  kann  bei  Verlangsamung  der  Blutströmung,  infolge  der  bestehenden 
Plethora  ad  vasa,  zum  Eindringen  der  Leukocyten  in  die  Innenwand  der  Arterien 
führen  und  dadurch  pathologische  Proliferationsprocesse  in  derselben  anregen.  An- 
dererseits ist  es  aber  auch  möglich,  dass  die  Zerfallsproducte  der  nucleinhältigen 
Fleischnahrung,  seien  die  Harnsäure  oder  Xanthinbasen  oder  giftige  Ptomaine,  bei 
mangelhafter  0-Zufuhr  die  Gefässv/ände  unter  Drucksteigerung  reizen  und  bei  längerer 
Wirkung  anatomisch  schädigen,  ebenso  wie  dies  bei  anderen  Giften  z.  B.  von  Blei, 
Ergotin  etc.,  bekannt  ist.  In  dem  Umstände,  dass  bei  herbivoren  Thieren  der 
atheromatöse  Process  sehr  selten  ist,  liegt  ein  therapeutischer  Wink  sowohl  zur 
Verhütung  der  Arteriosklerose  bei  disponirteu  Individuen  vom  Standpunlvte  der 
Prophylaxis,  als  auch  zur  Bekämpfung  der  bei  schon  bestehender  Atherose  auf- 
tretenden Beschwerden,  somit  auch  gegen  Angina  pectoris.  (Vegetarianismus,  Linde- 
wiese.) Schliesslich  darf  nicht  übersehen  werden,  dass  die  Disposition  zu  Gefäss- 
erkrankungen  sich  vererben  ICann  in  der  Form,  dass  vorzeitige  Arteriosklerose  in  der 
Descendenz  ein  Erbstück  der  Syphilis  in  der  Ascendenz  sein  kann.  Dadurch  mag 
die  günstige  Beeinflussung  gewisser  Fälle  durch  Jodkali  ihre  Erklärung  linden. 

* 
Wie  bei  den  schmerzhaften  Herzneurosen,  so  ist  auch  bei  paroxys- 
maler Tachykardie,  welche  sich  nebst  Angstgefühl  durch  Brechreiz, 
profuse  Schweisse  während  des  Anfalles  und  durch  colossale  Pulsbeschleunigung, 
bis  180  Pulsschläge  in  der  Minute,  auszeichnet,  die  Cyanose  nur  ein  variables 
Symptom.  Diese  paroxysmale  Tachykardie,  bei  welcher  nicht  selten  Verbrei- 
terung der  Herzdämpfung  während  des  Anfalles  nachweisbar  ist,  kommt  sowohl 


CYANOSE.  347 

bei  myokarditisclien  Veränderungen  des  Herzens,  als  auch  als  rein  nervöses 
Leiden  vor  und  kann  auch  in  letzteren  Fällen  während  des  Anfalles  Cyanose 
nebst  Schwellung-  der  Jugularvenen  auftreten,  insbesondere  wenn  der  Puls 
weich  und  klein  ist  und  in  einem  grellen  Widerspruche  zur  Herzcontraction 
steht,  weil  sich  die  Herzhöhlen  in  nur  unvollkommener  Weise  entleeren  und 
eine  geringe  Menge  Blutes  in  das  Arteriensysteni  hineintreiben.  Die  Unter- 
suchung des  Kranken  nach  dem  Anfalle  ergibt  bei  reiner  nervöser  Tachykardie 
normalen  Herzbefund,  bei  myokarditischer  Tachykardie  objective  Erscheinungen, 
welche  auf  eine  organische  Erkrankung  des  Herzens  hinweisen.  Auch  bei 
nervösem  Herzklopfen,  bei  welchem  nicht  das  Symptom  der  Tachykardie  in 
den  Vordergrund  tritt,  sondern  das  subjective  Gefühl  des  Herzklopfens  bei 
schwacher  und  unregelmässiger,  allerdings  frequenter  Herzaction,  können  leichte 
cyanotische  Erscheinungen,  Kühle  der  Hände  und  Füsse,  sowie  Ohnmachts- 
anfälle auftreten.  Dasselbe  gilt  für  Morbus  Basedowii,  wo  ebenfalls  nebst 
wechselndem  Erröthen  Cyanose  des  Gesichtes  beobachtet  wurde. 

Da  dem  Gesagten  zufolge  Cyanose  bei  den  Herzneurosen,  von  der  einfachsten 
bis  zu  der  vollausgebildeten  Angina  pectoris  in  der  Reihe  der  Symptome  eine  n  u  r  u  n  t  e  r- 
geordnete  Bedeutung  hat  und  in  keinem  innigen  Zusammenhange  mit  den  übrigen 
Erscheinungen  steht,  so  sind  wir,  wenn  sie  im  hohen  Grrade  auftritt,  eher  geneigt,  entweder 
die  Annahme  einer  Herzneurose  ganz  fallen  zu  lassen,  oder  an  eine  Complication  derselben 
mit  einer  anderen  Affection  zu  denken,  in  erster  Linie  bei  einem  stenokardischen  Anfalle 
an  ein  gleichzeitig  bestehendes  Aneurysma  der  Aorta. 

Die  Cyanose  bei  Aneurysmen  ist  ein  Compressionssymptom  und  daher 
von  der  Grösse  und  dem  Sitze  desselben  abhängig.  Bei  Compression  des 
rechten  Vorhofes  und  der  Hohlvenen  entstehen  die  intensivsten  Cyanosen, 
welche  namentlich  bei  Perforationen  der  Aneurysmen  in  die  genannten  Venen 
nebst  ausgedehnten  Pulsationen  der  betreffenden  Venenabschnitte  ausserordent- 
lich hohe  Grade  erreichen  können.  Auch  in  Fällen,  wo  die  Arteria  pulmonalis 
dem  Drucke  von  Aneurysmen  ausgesetzt  wird,  und  consecutive  Hypertrophie 
des  rechten  Ventrikels  sich  entwickelt,  wird  Cyanose  nebst  Dyspnoe  im  kli- 
nischen Bilde  eine  Rolle  spielen.  In  gleicher  Weise  wirkt  die  Compression 
der  Aorta  und  bei  grossen  Aneurysmen  auch  die  seltene  Compression  der 
Lungenvenen.  Die  Compression  der  Trachea  und  der  Bronchien  führt  zu  Cya- 
nose durch  insuöiciente  Lungen-  und  Blutventilation,  die  manchmal  von  ver- 
schiedenen Lagen  und  Stellungen,  sowie  dem  Füllungszustande  des  Aneu- 
rysmasackes  abhängig  ist.  Schliesslich  ist  diese  Cyanose  in  der  Endphase  der  Aneu- 
rysmen durch  die  insufficiente  Herzthätigkeit,  wie  bei  anderen  Erkrankungen 
des  Herzens,  hinlänglich  erklärt,  wobei  zu  betonen  ist,  dass  Hypertrophie  des 
rechten  Ventrikels  bei  Aortenaneurysmen  ein  verhältnismässig  häutiger  Befund 
ist ;  Hypertrophie  des  linken  Ventrikels  ist,  wenn  sie  vorkommt,  nicht  so  sehr 
auf  das  Aneurysma  selbst,  sondern  auf  die  demselben  zu  Grunde  liegende  aus- 
gebreitete Arteriosklerose  zurückzuführen.  Die  Hypertrophie  des  rechten  Ven- 
trikels ist  in  der  Regel  vorhanden,  wenn  die  Pulmonalarterien  einen  be- 
deutenden Druck  von  Seiten  des  Aneurysmas  erleiden,  und  sie  kann  bisweilen 
für  die  Ausschliessung  eines  Aneurysmas  der  Pulmonalarterie  eine  differential- 
diagnostische Bedeutung  erlangen. 


In  manchen  Fällen  wird  eine  HyiJertrophie  des  Herzens  durch  Aneurysmen 
der  absteigenden  Brustaorta  vorgetäuscht,  indem  sich  die  retrocardialen 
Pulsationen  derselben  dem  Herzen  mittheilen.  Ist  gleichzeitig  eine  vergrösserte  Herz- 
dämpfung percutorisch  nachweisbar  und  besteht  ein  systolisches  Geräusch  über  der 
Herzspitze,  so  liegt  die  Verwechslung  mit  einer  Mitralinsul'ficienz  nahe.  In  einem 
solchen  Falle  sollen  eventuelle  neuralgische  Rückenschmerzen,  welche  bei  Bewegungen 
des  Stammes  sich  steigern,  Retardation  des  Cvuralpulses,  bestehender  Collateralkreis- 


348  CYANOSE. 

lauf  an  der  vorderen  Brustwand  in  Folge  Compression  der  Vena  azygos  und  hemi- 
azygos,  Dysphagie,  insbesondere  bei  horizontaler  Eückenlage,  unsere  Aufmerksamkeit 
auf  das  Bestehen  dieses  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  nicht  diagnosticirbareu  Leidens 
leulven. 

Aneurysmen  der  Arteria  pulmonalis  sind  ungemein  selten;  sie  ent- 
stehen sowohl  in  Folge  des  atheromatösen  Proeesses  in  derselben,  als  auch  bei  hoch- 
gradigen Mitralstenosen,  in  Folge  des  gesteigerten  Druckes  im  Pulmonalarteriensystem. 
Bei  einer  Pulsation  im  zweiten  linken  Intercostakaum  mit  entsprechender  Dämpfung 
und  dem  auf  eine  Affectiou  der  Pulmonalklappen  hinweisenden  fehlenden  zweiten 
Tone,  respective  diastolischen  Geräusche  muss  insbesondere  bei  gleichzeitiger  Mitral- 
stenose die  Möghchkeit  eines  Aneurysmas  der  Puhnonalarterie  erw^ogen  werden.  Diese 
Erwägungen  schliessen  sich  an  den  von  Skoda  beobachteten  Fall  von  Aneurysma 
der  Pulmonalarterie  an,  welches  sich  intra  vitam  unter  der  Maske  einer 
Mitralinsufficienz  präsentirte.  Verbreiterte  Herzdämpfung,  systolisches  Geräusch 
im  linken  Ventrikel,  welches  sich  gegen  den  rechten  Ventrikel  und  gegen  die  Herz- 
basis fortpflanzte,  schwacher  Herzstoss,  verminderte  Diurese,  Hydrops.  Die  Pulmonal- 
töne  kaum  angedeutet,  Dyspnoe  und  bedeutende  Cyanose.  Gerade  die  letzte  Symp- 
tomentrias, die  dem  Bilde  einer  typischen  Mitralinsufficienz  nicht  entspricht,  ins- 
besondere aber  hochgradige  Cyanose  bei  kaum  hörbaren  Pulmonaltönen  soll  den  Arzt 
bei  den  sonstigen  Symptomen  einer  Mitralinsufficienz  und  ausgeschlossener  Erkrankung 
der  Tricuspidalklappeu  (die  eventuell  auch  die  abgeschwächten  Pulmonaltöne  erklären 
könnte),  an  ein  Aneurysma  der   Pulmonalarterie  gemahnen. 

Die  Diagnose  der  Aneurysmen  unterliegt  nach  alldem  den  erheblichsten 
Schwierigkeiten  dann,  wenn  dieselben,  m  der  Brusthöhle  verborgen,  sich  den  Wänden  des 
Thorax  nicht  nähern  und  daher  dem  palpatorischen  und  percutorischen  Xachweise  ent- 
zogen bleiben.  Xoch  dunkler  und  unbestimmter  wh'd  das  Bild,  wenn  sich  zu  den  übrigen 
Erscheinungen  andere,  namentlich  Compressionssymptome  hinzugesellen,  welche  einer 
richtigen  Deutung  womöglich  noch  weniger  zugänglich  sind.  So  können  die  Aneurysmen 
durch  Compression  des  Vagus,  des  Plu-enicus,  des  Larjiigeus  recurrens  und  des  Sympa- 
thicus  Erscheinungen  hervorrufen,  welche  geeignet  sind,  die  Diagnose  in  ganz  falsche 
Bahnen  zu  lenken  und  es  begreiflich  machen,  dass  Verwechslungen  mit  Asthma  nervosum, 
mit  Asthmaparoxysmen  der  Emphysematiker,  mit  Zwerchfellskrampf  und  sogar  mit 
Hysterie  bereits  vorgekommen  sind.  Für  solche  Fälle  darf  man  nicht  vergessen,  dass  die 
Asthmaparoxysmen  mit  Ausschluss  der  die  Respii-ationswege  stenosirenden  Formen, 
welche  im  Vorhergehenden  bereits  berücksichtigt  worden  sind,  dem  Typus  des  Asthma 
cardiacum  angehören,  daher  inspiratorische  und  exspiratorische  Dyspnoe  zeigen,  mit 
zäher,  schaumiger,  zellenreicher  und  nicht  selten  Pigmentzellen  enthaltender,  reich- 
licher Expectoration  einhergehen  {Asthma  humidum),  weder  Tiefstand  des  Zwerch- 
fells noch  Einziehungen  der  lutercostalräume  hervorrufen,  wobei  die  Dyspnoe  den 
Anfall  überdauert  und  bei  körperlichen  Anstrengungen  wieder  auftritt. 

Bei  Asthma  nervosum  kommt  dem  nervösen  Elemente  eine  gewisse  Unabhängig- 
keit von  der  Intensität  des  Katarrhs  zu,  der  Thorax  ist  inspiratorisch  unbeweglich  und 
das  vesiculäre  Athemgeräusch  ist  abgeschwächt  oder  fehlend,  während  bei  einem  Herz- 
kranken und  bei  einem  Aneurysmatiker  die  Luft  unbehindert  in  die  Lunge  inspiratorisch 
eindringen  kann  (wenn  nicht  Compression  der  Luftwege  vorliegt)  und  so  das  vesiculäre 
Athemgeräusch.  sofern  Rasselgeräusche  dasselbe  nicht  verdecken,  deutlich  wahrnehmbar 
ist.  Auch  das  Fehlen  der  eosinophilen  Zellen  im  Sputum  eines  Aneurysmatikers  ist  nach 
meinen  Beobachtungen  ein  wichtiger  differentialdiagnostischer  Befund  gegenüber  dem  Asthma 
nervosum. 

Bei  Emphysem,  soweit  nicht  secundäre  Degenerationen  des  Herzmuskels  platz- 
gegriffen haben,  prävalirt  die  exspiratorische  Dyspnoe,  im  Gegensatze  zur  Dyspnoe  der 
Herzkranken,  welche  m  gleichem  Grade  beide  Respirationsphasen  betrifft. 

Der  Symptomencomplex  der  hysterischen  Dyspnoe  zeigt  in  seiner  Vielgestaltig- 
keit gewisse  Charaktere,  welche  ihn  von  Dyspnoen  organischen  Ursprunges  unterscheiden. 
Allarmirende  Respirationsstörungen  verschwinden  plötzlich  und  alterniren  mit  anderen 
Manifestationen  der  Hysterie,  wie  Krampf  der  Schlundmusculatur,  das  Gefühl  der  vom 
Epigastrium  aufsteigenden  Kugel  (Globus  hystericus),  das  Gefühl  des  Zusammenschnürens 
im  Halse  mit  Schwellung  der  Jugularvenen.  Fast  in  allen  Fällen  besteht  Dysphagie  und  ist 


CYANOSE.  349 

auch  der  Umstand  wichtig,  dass  solche  Anfälle,  im  Gegensatze  zn  Asthma  cardiacum  ge- 
wöhnlich nicht  in  der  Nacht  auftreten.  Durch  Complication  mit  Antipyrin-  oder  Anti- 
febrinvergiftung,  welche  ebenfalls  zu  Cyanose  führen,  können  auch  hier  unvorhergesehene 
Schwierigkeiten  der  Diagnose  erwachsen. 

I  d  i o  p  a t  h  i  s  ch  e,  kl 0  ni  s  c  h e  Z  w  e  r  ch  f  e  11  k  r  ä m  p  f  e  führen  durch  rasch  aufeinander- 
folgende, kurze  Inspirationsstösse  zum  Tetanus  sämmtlicher  Respirationsmuskeln  und  inspi- 
ratorischer Dilatation  des  Thorax  mit  Tiefstand  des  Zwerchfells,  endlich  zu  einer  raschen, 
ebenso  krampfhaften  Exspiration;  Zwerchfellslähmungen  zu  oberflächlicher  beschleunigter 
Respiration  mit  costalem,  hochthoracischem  Athmungstypus,  bei  totalem  Mangel  abdominaler 
Athmung,  oder  zu  inspiratorischer  Einziehung  und  exspiratorischer  Erweiterung  des  Ab- 
domens. 

Die  durch  Vagusreizung  entstandene  Respirationsstörung  bietet  in  der  Regel 
Charaktere  einer  exspiratorischen  Dyspnoe.  Dieses  Phänomen  kann  bei  Aneurysmen  isolirt 
wahrgenommen  werden. 

Die  Recurrenssymptome  können  sich  sowohl  als  Krampf,  wie  auch  als  Lähmung 
der  Stimmbänder  äussern  und  dementsprechend  können  auch  die  Charaktere  der  Dyspnoe 
wechseln. 

Damit  ist  das  äusserst  wechselvolle  Bild  der  Symptome  bei  Aneurysmatikern  lange 
noch  nicht  erschöpft.  Zum  Beweise  folgender  von  mir  beobachteter  Fall :  Ein  junger  Mann, 
welcher  fast  durch  ein  Jahr  neurasthenische  Erscheinungen  darbot,  mit  Platzangst,  als 
hervorstechendstem  Symptom,  zeigte  im  weiteren  Verlaufe  der  Erkrankung  Symptome, 
welche  einem  hysterischen  Laryngospasmus  nicht  unähnlich  waren.  Der  Fall  wurde  von 
hervorragenden  Wiener  Aerzten  als  Hysteria  virilis  aufgefasst,  zumal  in  den  Thoraxorganen 
keine  Veränderungen  nachweisbar  waren.  In  meine  Ambulanz  gekommen,  wurde  der 
Patient  von  einem  Laryngospasmus  befallen  und  bekam  gleichzeitig  ein  derartiges  Angst- 
gefühl, dass  er,  ohne  sich  untersuchen  zu  lassen,  die  Flucht  ergriff.  Nach  dem  flüchtigen 
Eindruck  konnte  auch  ich  auf  keine  schwere  Krankheit  schliessen.  Im  weiteren  Verlaufe 
nun  stellten  sich  beim  Patienten  charakteristische  Symptome  eines  Aortenaneurysmas  ein, 
welchem  der  Patient  auch  erlag.  In  einem  solchen  Falle  im  Beginne  wäre  natürlich  auch 
Dysphagie  zwischen  Aortenaneurysma  und  Hysterie  differentialdiagnostisch  nicht  entscheidend 
und  ebenfalls  geeignet,  zu  einer  lebensgefährlichen  Untersuchung  mit  der  Schlundsonde  zu 
verleiten. 

Bei  Sklerose  der  Liingenarterie,  auch  ohne  aneuiysmatische 
Erweiterung  derselben,  bestand  in  den  von  Klob  und  Romgeeg  veröffentlichten 
Fällen  intra  vitam  hochgradige  Cyanose  mit  Hypertrophie  des  rechten  Ven- 
trikels, systolischen  Geräuschen  an  der  Herzspitze,  accentuirteni  zweiten 
Pulmonalton  und  kleinen,  weichen  Radialpulsen.  Das  Merkwürdige  des  Falles 
liegt  in  der  ausserordentlich  hochgradigen  Cyanose  bei  völligem  Fehlen  von 
Oedem  bis  zum  Tode. 


Die  Ursache  der  im  Verlaufe  der  verschiedenen  Lifectioiiskraiikheiteii 
auftretenden  Cyanose  liegt  theils  in  directer  Schädigung  des  Herzmuskels, 
theils  in  Complicationen  im  Respirationstractus,  theils,  wie  bei  A'ergiftungen, 
in  directen  Veränderungen  des  Blutes,  durch  Bildung  der  vom  Krankheits- 
erreger erzeugten  toxischen  Producte.  Im  Verlaufe  der  bisherigen  Erörterungen 
haben  wir  sowohl  bei  Besprechung  des  Respirations-,  als  auch  des  Circulations- 
apparates  Gelegenheit  gehabt,  die  einschlägigen  Affectionen  bei  Infections- 
krankheiten  zu  behandeln,  so  dass  uns  nur  erübrigt,  im  Zusammenhange 
theils  auf  das  bereits  Besprochene  im  kurzen  Rückblicke  hinzuweisen,  theils 
noch  nicht  Berücksichtigtes  zu  betonen. 

Cyanose  mit  heftigem,  unaufliörlichem  Reizhusten,  mit  Erstickungs- 
anfällen und  peinlicher  Oppression  kommt  bei  Morbillen,  theils  infolge  der 
den  Masernkatarrh  begleitenden  Follikelschwellung,  theils  infolge  von  Ulce- 
rationen  und  Erosionen  der  Kehlkopfschleimhaut  vor.  Manchmal  treten  diese 
schweren  Larynxsymptome  schon  im  Prodromalstadium  auf,  und  Hehra 
erzählte  in  seinen  Vorlesungen  von  Patienten,  welche  behufs  Tracheotomie 
auf  die  chirurgischen  Kliniken  gel^racht  wurden  und  sich  im  weiteren  Verlaufe 
als  Masernkranke  erwiesen.  Auch  bei  bösartigen  Formen  von  Scharlach, 
welche  unter  schweren  Hirnzufällen,  heftigem  Fieber,  Unruhe,  Delirien, 
manchmal  eklamptischen  Anfällen,    selbst  Tetanus,  Trismus,  Erbrechen   und 


350  CYANOSE. 

Diarrhöen,  liocligradiger  Dyspnoe  und  ausserordentlich  gesteigerter  Pulsfrequenz 
in  der  kürzesten  Zeit  zum  Tode  führen,  tritt  Cyanose  als  Ergebnis  mehrerer 
Factoren  auf.  Bei  Complication  mit  Endocarditis  und  Myocarditis  ist  die 
Cyanose  im  acuten  Stadium  des  Scharlachs  hinreichend  begründet,  ebenso 
wie  im  weiteren  Verlaufe  durch  das  Auftreten  von  Hydrops,  Glottisödem 
infolge  von  Complication  mit  Nephritis.  Durch  Schwellung  der  Halslymph- 
drüsen und  des  Halszellgewebes  entsteht  nebst  Schwellung  des  Gesichtes 
besonders  in  der  Parotisgegend  Cyanose  mit  hochgradiger  Erschwerung  des 
Athmens,  der  Sprache  und  des  Schlingens. 

In  ähnlicher  Weise  wird  die  Cyanose  im  Verlaufe  der  Variola 
beobachtet,  sowohl  durch  complicirende  Herzaffectionen,  als  auch  infolge  Re- 
spirationshemmung,  sei  es  durch  Larynxgeschwüre,  Abscesse,  durch  Perichon- 
dritis  mit  secundärer  Knorpelnekrose  und  Glottisödem,  oder  dadurch,  dass 
sich  der  variolöse  Process  bis  in  die  grossen  Bronchien  erstreckt.  Cyanose 
bei  Intermittens  und  insbesondere  Typhus  recurrens  kann  durch  com- 
plicirende Endocarditis  entstehen.  Bei  Erysipelas  internum  kann  eine 
von  erysipelatöser  Angina  ausgehende  Laryngitis  und  Bronchitis  mit  pneu- 
monischen Infiltrationen  zu  Cyanose  und  Dyspnoe  führen.  In  manchen 
Epidemien  der  Influenza  sind  suflbcatorische  Zustände  mit  Cyanose,  zuweilen 
ohne  entsprechende,  objectiv  nachweisbare  Veränderungen  in  den  Lungen 
beobachtet  und  daher  von  einigen  Autoren  auf  Functionsstörungen  im  Bereiche 
des  Vagus,  von  anderen  auf  Lungencongestion  zurückgeführt  worden.  Bei 
dem  epidemischen  Schweissfriesel  (Sudor  anglicus)  wurde  bei  acutem 
Verlaufe  Cyanose  des  Gesichtes  mit  schnell  erfolgtem,  tödtlichem  Collaps 
beobachtet.  Cyanose  mit  intensiver  Dyspnoe,  Fieber  und  heftigem,  blutigem 
Auswurfe,  verbunden  mit  zusammenschnürenden  Schmerzen  auf  der  Brust, 
die  bei  Bewegungen  sich  steigern,  sowie  mit  Angst  und  Kältegefühl  in  den 
inneren  Organen  kommt  bei  jenen  Formen  von  Milzbrand  vor,  bei  welchen 
vorwiegend  die  Lunge  und  die  Pleura  von  zahlreichen  Bacillenherden  betroffen 
sind.  Nicht  selten  bleibt  klares  Bewusstsein  l)is  zum  Tode  erhalten  und 
häufig  treten  gleichzeitige  Dannerscheinungen  bei  der  als  Anthrax  intestinalis 
bezeichneten  Form  in  den  Vordergrund.  Die  Ursache  der  Cyanose  in  solchen 
Fällen  dürfte  nicht  auf  Insuflicienz  des  Herzens  beruhen,  weil  dieses  Organ 
im  Gegensatze  zu  den  anderen  Infectionskrankheiten  bei  Anthrax  in  der 
Regel  nicht  fettig  degenerirt,  sondern  meist  gesund  gefunden  wird. 

In  gleicher  Weise,  wie  bei  Milzbrand,  wird  Cyanose  mit  Athemnoth 
und  Verfall  der  Kräfte  bei  der  sogenannten  Hadernkrankheit,  wie  sie  in 
Papierfabriken  durch  Inhalation  von  Hadernstaub  auftritt,  beobachtet.  Diese 
Infectionskrankheit  tritt  unter  dem  Bilde  einer  Lobulärpneumonie,  mit  Kopf- 
schmerz, Oppressionsgefühl  auf  der  Brust,  krampfhaften  kurzen  Hustenstössen, 
zähschleimigem  Auswurf,  bei  häufig  fehlendem  Brustschmerz  und  manchmal 
niedriger  Temperatur  auf.  Als  bemerkenswerthe  Krankheitszeichen  sind  ferner 
die  relativ  geringe  Ausbreitung  der  physikalischen  Erscheinungen  in  den 
Lungen,  sowie  das  Freisein  des  Sensoriums  bis  zum  Tode  hervorzuheben. 

Die  Hadernkrankheit  wurde  früher  ziemlich  allgemein  für  Anthrax  pulmonalis 
angesehen,  und  es  ist  wahrscheinlich,  dass  viele  Fälle  durch  Inhalation  von  Hadern  staub, 
in  welchem  Milzbrandsporen  enthalten  sind,  entstehen.  In  anderen  von  krannhals  be- 
schriebenen Fällen  ist  nicht  der  Anthraxbacillus,  sondern  der  Bacillus  des  malignen  Oedems 
Ursache  der  Haderninfectionskrankheit.  In  ähnlicher  Weise,  wie  im  subcutanen  Binde- 
gewebe, verbreitet  sich  der  durch  die  Lunge  als  Eingangspforte  aufgenommene  Oedem- 
bacillus  in  dem  Bindegewebe  des  Mediastinums,  der  Pleura,  des  Pericards  und  der  Bron- 
chialdrüsen. In  anderen  Fällen  dürfte  es  sich  um  eine  Mischinfection  von  Milzbrand  und 
malignem  Oedem,  vielleicht  auch  anderen  Septhaemien  handeln.  Darin  niag  die  Viel- 
gestaltigkeit der  klinischen  Symptome  ihre  Erklärung  finden,  sowie  auch  die  auffallende 
Thatsache,  dass  die  als  exquisite  Anaeroben  bekannten  Oedembacillen  dennoch  in  der  Lunge 
des  Menschen  und  der  Mäuse  (in  Gegenwart  anderer  sauerstoffentziehender  Mikroorganismen) 
vegetiren  können. 


CYANOSE.  351 

Bei  Rotz  hängt  die  Cyanose  von  der  Localisation  des  Processes  in  dem 
Respirations-  und  Circulationsapparate  ab.  Cyanose  mit  Dyspnoe  beobachtet 
man  ferner  bei  Trichinose,  und  zwar  bei  Invasion  der  Trichinen  in  die 
Respirationsmuskeln.  Bei  vorwiegendem  Sitz  der  Trichinen  im  Muskelfieische 
des  Zwerchfells  beobachtete  traube  Cyanose  mit  costalem  Typus  der  Re- 
spiration, Brustbeklemmung  und  hohe  Pulsfrequenz.  Die  durch  Affection  der 
Respirationsmuskeln  entstandene  Cyanose  kann  durch  die  bei  Trichinose  häufig 
vorkommenden  disseminirten  Bronchopneumonien,  welche  nicht  selten  durch 
Embolien  der  kleinsten  Lungenarterienäste  bedingt   sind,   gesteigert  werden. 

In  heftigen  Fällen  von  Dysenterie  tritt  nebst  herabgesetzter  Körper- 
temperatur Trockenheit  und  Cyanose  der  Haut,  sowie  der  Schleimhäute,  als 
prognostisch  ungünstiges  Zeichen  auf.  Bei  Complication  mit  Peritonitis  oder 
Gastroenteritis  zeigt  sich  in  manchen  Fällen  von  Dysenterie  das  vollkommene 
Bild  der  Cholera  asphyctica,  indem  zu  den  Diarrhöen  und  dem  Erbrechen 
Cyanose,  Kälte  der  Extremitäten  und  Pulslosigkeit  hinzutritt.  Im  asphyktischen 
Stadium  der  Cholera  entsteht  die  Cyanose  theils  durch  Paralyse  des  Herzens 
und  Sinken  des  Blutdruckes,  theils  dadurch,  dass  die  Arterien  blutleer  und 
die  Venen  mit  durch  Wasserverlust  eingedicktem,  circulationsunfähigem  Blute 
erfüllt  sind.  In  ähnlicher  Weise  charakterisiren  oberflächliche  und  beschleunigte 
Respiration,  Singultus,  Erbrechen,  Verfall  der  Gesichtszüge  mit  Cyanose  der 
Nase,  Ohren  und  Extremitäten  die  Endphase  der  allgemeinen  Peritonitis. 

Bei  Vergiftungen  kommen  für  das  Auftreten  der  Cyanose,  ähnlich  wie  bei 
den  Infectionskrankheiten,  mehrere  Momente  in  Betracht :  Schädigungen  des 
Respirations-  und  des  Circulationsapparates  sowie  Veränderungen  des  Blutes, 
die  dasselbe  zum  Gasaustausche  minder  tauglich  oder  vollständig  unfähig 
machen. 

Bei  Vergiftungen  mit  Aetzgiften,  wie  Schwefelsäure,  Salpetersäure,  Salz- 
säure, Kalilauge  kommt  Cyanose  mit  grosser  Athemnoth  insliesondere  in 
solchen  Fällen  vor,  wo  das  Gift  vornehmlich  den  Kehlkopf  und  die  Luftröhre 
anätzt  und  durch  bedeutende  Anschwellung  der  Schleimhaut  der  Luftzutritt 
zu  den  Lungen  erschwert  ist.  Im  tetanischen  Anfalle  der  Strychninver giftung 
treten  hochgradige  Cyanose  und  Aufgedunsenheit  des  Gesichtes  auf,  haupt- 
sächlich bedingt  durch  Krampf  der  Respirations-  und  Halsmuskeln.  Kälte 
der  Haut,  taumelnder  Gang  mit  nachfolgender  Lähmung,  Respirationsstörungen 
und  Sinken  der  Pulsfrequenz,  schliesslich  cyanotische  Verfärbung  des  Gesichtes 
kommen  bei  Coniinvergiftung  vor,  desgleichen  bei  Vergiftungen  mit  Cicuta 
virosa,  Oenanthe  crocata,  sowie  auch  Aethusa  cynapium.  Cyanose  der  Lippen, 
bei  Anämie  des  übrigen  Gesichtes,  wird  bei  Vergiftungen  mit  Opium  und 
Chloroform  beobachtet. 

Dass  Gifte,  welche,  wie  z.  B.  Phosphor,  in  erster  Linie  fettige  Degene- 
ration des  Herzens  hervorrufen,  zu  acuten  Stauungen  im  Venensystem  führen, 
ist  selbstverständlich.  Bei  Phosphorvergiftungen  wird  aber  die  Cyanose  durch 
den  gleichzeitig  bestehenden  Icterus  verdeckt.  Doch  kann  die  Cyanose,  welche 
in  nicht  tödtlichen  Fällen  in  der  Reconvalescenz  sich  bemerkbar  macht,  eine 
diagnostische  Bedeutung  haben  als  residuelles  Zeichen  einer  bestehenden  Schä- 
digung des  Herzmuskels.  In  seltenen  Fällen  von  acuter  Phosphorvergiftung 
kann  Cyanose  nebst  tödtlichem  Collaps  durch  Ruptur  an  einer  fettig  degene- 
rirten  Stelle  der  Aorta  zur  Beobachtung  gelangen. 

Die  meisten  Gifte  führen  jedoch  dadurch  zu  Cyanose,  dass  die  hervor- 
gerufenen Veränderungen  des  Blutes  dasselbe  irrespirabel,  d.  h.  für'  den  Gas- 
austausch in  den  Lungen  unbrauchbar  machen.  Dies  kann  auf  zweifache 
Weise  stattfinden.  Entweder  bildet  das  aufgenommene  Gift,  ohne  Verän- 
derung der  rothen  Blutkörperchen,  eine  Verbindung  mit  Hämoglobin,  welche 
nicht  im  Stande  ist,  Sauerstott"  aufzunehmen,  oder  es  bewirkt  eine  Umwandlung 
des  Oxyhämoglobins  der  rothen  Blutkörperchen,  mit  oder  ohne  Zerstörung  der- 


352  CYANOSE. 

selben,  wobei  sicli  aus  dem  ersteren  das  ebenfalls  respirationsunfäliige  Methämo- 
globin  bildet. 

Zu  der  ersten  Gruppe  gehören  das  Kohlenoxyd,  Stichstoffoxyd,  Ace- 
tylen,  Blausäure^  walirscheinlich  Schivefelwasserstoff,  Ammoniak  und  Qilor. 

Der  bestgekannte  Repräsentant  dieser  Gruppe  ist  das  KoUenoxyd,  welcbes 
den  0  aus  dem  Oxyliämoglobin  verdrängt  und  mit  dem  Hämoglobin  eine  fe- 
stere Verbindung  bildet  als  Oxyliämoglobin,  nämlich  das  oxydations-  und  re- 
spirationsunfähige CO-Hämoglobin.  Entsprechend  der  0-Armuth  und  CO-An- 
häufung  im  Blute  kommt  daher  Cyanose  insbesondere  an  den  Extremitäten  in 
Form  blauer  Flecken  bei  CO-Vergiftung  vor.  Doch  tritt  dabei  als  wichtigstes 
klinisches  Kriterium  Dyspnoe  mit  drohender  Asphyxie  und  abnorm  hoher  Puls- 
frequenz in  den  Vordergrund.  Gleichzeitig  Sopor  und  verminderte  Reflexerreg- 
barkeit, nebst  Neigung  zu  entzündlichen  Affectionen  in  der  Lunge.  Der  Grund, 
warum  bei  schweren  CO- Vergiftungen  trotz  hochgradiger  Verarmung  des  Blutes 
an  Sauerstoff  die  Cyanose  keinen  hohen  Grad  erreicht,  liegt  wahrscheinlich 
in  der  veränderten  Blutbeschaffenheit,  nämlich  Bildung  von  hellrothem  CO-Hä- 
moglobin, wodurch  die  Cyanose  verdeckt  wird. 

Mitnnter  kann  der  Arzt  vor  die  Differentialdiagnose:  Alkohol  rausch  oder 
Kohlenoxydvergiftung  gestellt  werden,  z.  B.  wenn  ein  dem  Alkoholismus  ergebener 
Arbeiter  einer  Gasfabrik  im  comatösen  Zustande  ins  Spital  gebracht  wird.  In  beiden  Fällen 
der  Vergiftung  findet  man  bei  solchen  Individuen  den  -charakteristischen  Branntweingeruch 
aus  dem  Munde.  Ein  curioser,  differential-diagnostischer  Behelf  wurde  mir  von  einem  ame- 
rikanischen Arzte  mitgetheilt.  Enveitert  sich  bei  der  Applicirung  einer  Ohrfeige  die  ver- 
engerte Pupille,  so  liegt  ein  einfacher  Eausch  vor,  welchen  man  den  Patienten  einfach  aus- 
schlafen lässt,  erweitert  sie  sich  jedoch  nicht,  dann  ist  der  Verdacht  auf  CO-Vergiftung  be- 
gründet. Physiologisch  lässt  sich  der  dabei  statthabende  Vorgang  durch  eine  Uebertragung 
des  kräftigen  Trigeminusreizes  auf  den  Dilatator  pupillae  erklären.  Durch  Modification  des 
obigen  Verfahrens,  Hineinblasen  ins  Ohr  mit  einer  Trompete,  wie  sich  ihrer  die  Eisenbahn- 
conducteure  bedienen,  habe  ich  denselben  Effect  erzielt. 

Bei  Vergiftungen  mit  Lustgas  kann  nebst  Beschleunigung  der  Respiration 
Cyanose  der  Lippen  auftreten.  Vergiftungen  mit  Blausäure  führen  entweder 
momentan  durch  allgemeine  Paralyse  oder  unter  Betäubung,  Herzparalyse  und 
Convulsionen  in  sehr  kurzer  Zeit  zum  Tode.  Bei  protrahirten  Vergiftungen 
mit  blausäurehältigen  Substanzen,  wie  z.  B.  mit  unreinem  Bittermandelöl,  kommt, 
neben  Beschleunigung  der  Respiration,  Erweiterung  der  Pupillen  und  Kälte  der 
Extremitäten,  Cyanose  im  Gesichte,  elDenso  am  ganzen  Körper  vor.  Vergif- 
tungen mit  Schwefelwasserstoffgas  und  Schwefelammonium  können  unter  livider 
Cyanose,  Benommenheit,  Convulsionen,  Coma,  zu  asphyktischem  Tode  führen. 
Im  Gegensatze  zu  CO-Vergiftungen  ist  das  rasche  Auftreten  der  asphyktischen 
Erscheinungen  für  SHg -Vergiftungen  charakteristisch,  doch  ebenso  rasch  können 
dieselben  zurückgehen  und  somit  zur  Genesung  führen.  Dies  erklärt  sich  dadurch, 
dass  die  Verbindung  des  SH2  mit  Hämoglobin  eine  lockere  ist,  daher  rasche 
Exhalation  des  Giftes  in  den  Lungen  erfolgen  kann.  Es  stimmt  damit  die 
Thatsache  überein,  dass  bei  intravenösen  Injectionen  von  SH2  kein  Uebertritt 
desselben  in  das  arterielle  Blut  stattfindet. 

Die  zweite  Gruppe  der  Gift e  charakterisirt  sich  durch  Bildung  des 
Methämogiobins.  Nach  Hayem  gibt  es  Substanzen,  welche  das  Oxyhämoglobin 
der  rothen  Blutkörperchen  intraglobulär  in  Methämoglobin  verwandeln,  ohne 
dabei  dieselben  zu  zerstören.  Dazu'  gehören  z.  B.  Amylnitrit  und  Kairin. 
Andere  Gifte  bilden  Methämogiobin,  wobei  die  rothen  Blutkörperchen  gleich- 
zeitig auch  in  ihrer  Textur  verändert  werden.  Doch  ist  der  Grad  der  che- 
mischen Veränderung  des  Hämoglobins  dem  der  morphologischen  Schädigung 
des  Zellleibes  der  rothen  Blutkörperchen  nicht  immer  proportional.  Gewisse 
Gifte  lösen  das  Hämoglobin  mit  Leichtigkeit  auf  auch  ohne  namhafte  Verän- 
derung des  Stromas,  wie  z.  B.  Natriumnitrit,  übermangansaures  Kalium,  Pyro- 
gallussäure,  Antipyrin. 

Emmerich  und  Tsuboi  in  München  haben  die  Cholera  asiatica  als  eine  Intoxi- 
cation  mit  salpetriger  Säure  zu  erklären  versuclit ;  letztere  gebildet  vom  Commabacillus  Koch. 


CYANOSE.  353 

Sie  begründeten  ihre  Ansicht  mit  der  Uebereinstimmung  der  Symptome  einer  Nitritvergiftung 
und  jener  der  Cholera,  vor  Allem  aber  mit  dem  spectroskopischen  Nachweise  des  Methae- 
moglobinstreifens  im  Blute  von  an  Cholera  verendeten  Meerschweinchen  und  dem  gleichen 
Nachweise  im  Blute  der  mit  Natriumnitrit  vergifteten  Meerschweinchen.  Dass  die  künstlich 
gezüchteten  Cholerabakterien,  gleich  anderen  Bakterien,  chemische  Zersetzungen  der  Nähr- 
substanz bewirken,  ist  hinlänglich  bekannt.  Nach  Salkowski,  Brieger,  Bujwm  unter- 
scheiden sich  die  Cholera-  von  Fäulnisbakterien  dadurch,  dass  erstere  Ammoniak  und  dessen 
Verbindungen  zu  salpetriger  Säure  zu  oxydiren  vermögen,  während  letztere  Nitrate  und 
Nitrite  zu  Ammoniak  reduciren  können. 

Die  nitrificirende  Eigenschaft  kommt  aber  keineswegs  nur  den  Cholerabakterien  zu, 
sondern  auch  vielen  anderen,  theils  pathogenen,  theils  saprophytischen  Bakterienarten.  Die 
Choleraroth-Eeaction,  welche  in  den  Culturen  keiner  anderen  Bakterienart  so  rasch  und 
intensiv  eintritt,  wie  in  denen  des  Commabacillus,  wurde  als  eine  ganz  gewöhnliche  Nitroso- 
Indol-Reaction  erkannt  und  nach  Salkowski  liegt  die  Erklärung  für  die  Thatsache,  dass 
diese  Reaction  in  den  Choleraculturen  schon  mit  Schwefelsäure  eintritt,  einfach  darin,  dass 
die  Cholerabacillen  constant  salpetrige  Säure  produciren,  welche  sich  als  Nitrit  in  der  Flüs- 
sigkeit befindet.  Charakteristisch  für  die  Cholerabakterien  ist  daher  gleichzeitige  Bildung 
von  Indol  und  salpetriger  Säure,  welch'  letztere  aus  ihren  Salzen  durch  die  ebenfalls  von 
den  Cholerabacillen  gebildete  Milchsäure  frei  gemacht  wird  und  nun  nach  Emmerich  in  statu 
nascendi  ihre  deletäre  Wirkung  im  Darm  entfalten  soll. 

Während  der  Cholera-Epidemie  in  Oesterreich  im  Herbst  1892  habe  ich  im  bacterio- 
logischen  Institute  des  Prof.  Weichselbaum,  sowie  im  chemischen  Laboratorium  des 
Dr.  Freund  diesen  Verhältnissen  mein  Augenmerk  zugewendet  und  stellte  sich  bei  Unter- 
suchung der  aeroben,  wie  der  anaeroben  Choleraculturen  Folgendes  heraus  :  Bei  aerober 
Züchtung  kann  die  Nitritbildung  bis  zur  Nitratbildung  fortschreiten  —  Beweis  dafür,  dass, 
wenn  man  eine  Fleischbrühecultur  des  Cholerabacillus  mit  einer  Lösung  von  Diphenylamin 
und  concentrirter  Salzsäure  versetzt,  sich  die  Flüssigkeit  sogleich  intensiv  indigoblau  färbt. 
Culturen  der  FiNKLER-PRiOR'schen  Bacillen,  DENNEKE'schen  Spirillen  und  MiLLER'schen  Ba- 
cillen zeigten  hiebei  keine  Farbenänderung.  In  gleicher  Weise  zeigte  nur  der  Verfiüssigungs- 
Trichter  des  Cholerabacillus  in  der  Gelatinecultur,  im  Gegensätze  zu  den  Trichtern  der 
früher  erwähnten  drei  Bacterienarten  (Fumkler-prior,  Denneke  und  Miller)  die  Diphenyl- 
aminreaction  auf  Nitrate.  Tropft  man  nämlich  in  den  Verflüssigungs-Trichter  der  Cholera- 
cultur  mit  einer  Pipette  zuerst  eine  alkoholische  Lösung  von  Diphenylamin,  hierauf  einige 
Tropfen  concentrirter  Salzsäure,  so  färbt  sich  der  flüssige  Inhalt  des  vom  Commabacillus 
gebildeten  Trichters  sofort  tief  indigoblau  bis  in  die  unterste  Spitze  desselben.  Nachdem 
das  Diphenylamin  bekanntlich  das  charakteristischste  und  empfindlichste  Reagens  auf  Sal- 
petersäure ist,  so  geht  aus  obigem  Versuche  hervor,  dass  zum  mindesten  der  Commabacillus, 
welcher  aus  dem  Stuhle  des  ersten  tödtlichen  Falles  in  Wien  (Strkal)  stammte,  sowohl  in 
Fleischbrühe-,  als  in  Gelatineculturen  die  Fähigkeit  besass,  Salpetersäure  zu  bilden,  und  zwar 
in  denselben  Nährsubstanzen,  welche  für  die  Culturen  der  den  Cholerabacillen  ähnlichen 
Bakterienarten  verwendet  wurden,  welch'  letztere,  wie  bereits  erwähnt,  die  Diphenylamin- 
reaction  nicht  gaben. 

Andererseits  fielen  die  Pi,eactionen  mit  salzsaurem  Metaphenylendiamin  auf  salpetrige 
Säure  (Gelbfärbung)  und  die  mit  Sulfanilsäure  und  Naphthylamin  (Rothfärbung)  a\  eniger 
prompt  im  Falle  Strkal  aus.  Die  Hamburger  und  Krakauer  Culturen  (älteren  Datums)  er- 
wiesen sich  bei  diesen  Proben  als  theils  wenig,  theils  gar  nicht  nitrificirend. 

Von  besonderem  Interesse  ist  noch  der  Umstand,  dass  eine  im  Laboratorium  Weighsel- 
baum  von  Dr.  Schlagenhaufer  gezüchtete,  ganz  frische  anaerobe  Cultur  dieses  STRKAL-Cho- 
lerabacillus  .weder  die  Metaphenylendiamin-,  noch  die  Diphenylaminreaction  zeigte,  was 
deshalb  besonders  hervorzuheben  ist,  weil  der  Commabacillus  nach  den  heutigen  Anschau- 
ungen im  Darme  unter  anaeroben  Verhältnissen  sich  befindet.  Uebrigens  war  auch  bei 
aerobem  Wachsthume  der  älteren  Culturen  die  Reaction  auf  Nitrate  und  Nitrite  nicht  immer 
vorhanden.  Endlich  habe  ich  einen  Stuhl  von  einem  in  Pest  an  Cholera  Erkrankten  und 
Verstorbenen  untersucht  und  weder  in  demselben  direct,  noch  in  dem  Destillate,  welches 
nach  Ansäuerung  des  Stuhles  mit  Schwefelsäure  gewonnen  wurde,  Nitrite  oder  Nitrate  mit 
den  erwähnten  Reagentien  nachweisen  können.  Jedenfalls  geht  aus  all'  dem  Gesagten  hervor, 
dass  der  Cholerabacillus  nicht  bedingungslos  nitrificirende  Eigenschaften  äussert  und  dass, 
wenigstens  nach  unseren  Befunden,  diese  Eigenschaften  nur  seiner  aeroben  Cultur  und  zwar 
auch  nur  unter  bestimmten  Verhältnissen  zukommen,  während  seine  anaerobe  Cultur,  sowie 
der  aus  dem  anaeroben  Darme  entleerte  Stuhl  keine  nitrificirenden  Eigenschaften  verrathen 
haben.  Diese  Beziehungen  zwischen  Cholera  asiatica  und  salpetriger  Säure  sind  demnach, 
d.  h.  nach  meiner  Ansicht,  nicht  so  einfach  und  klar,  wie  dies  Emmerich  und  Tsuboi  be- 
haupten zu  können  glauben.  —  Uebrigens  kommt  auch  Klemperer  zum  Schlüsse,  dass  die 
Cholera  als  Nitritvergiftung  nicht  gedeutet  werden  kann. 

Andere  Substanzen,  insbesondere  chlorsaure  Salze  und  wahrscheinlich 
ÄsH^  zerstören  vorwiegend  die  rotlien  Blutkörperehen  selbst  bei  protraliirter 
Wirkung  und  bilden  auf  diese  Weise  aus  dem  intraglobulären  Hämoglobin 
Methämoglobin.     Die  Art  und  Weise,   wie   diese  angeführten  Umwandlungs- 

Bibl.  med.  "Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  imd  Kinderkrankheiten.  '-■o 


354  CYANOSE. 

Vorgänge  durch  Einwirkuiig  der  Gifte  sich  abspielen,  dürfte  jedoch  auch  nach 
der  individuellen  Verschiedenheit  des  Hämoglobins  mancherlei  Differenzen  in 
obiger  Richtung  ergeben,  und  sowohl  von  dessen  Löslichkeit  als  Krystallisir- 
barkeit,  Coagulationsfähigkeit  und  hygroskopischen  Eigenschaften,  die  bei  ver- 
schiedenen Menschen  verschieden  sein  können,  abhängen,  wofür  zahlreiche 
Beobachtungen  am  Krankenbette  sprechen. 

Das  Auftreten  von  Cyanose  bei  Gebrauch  von  Äntipyrin  ist  wiederholt 
beobachtet  worden.  Bambekger  erzählte  von  einer  Dame,  welche  nach  jeder 
Einnahme  von  1  g  Äntipyrin,  das  sie  gegen  Migräneanfälle  anwendete,  blau 
wurde,  ohne  andere  Erscheinungen  zu  bieten. 

Ich  selbst  habe  auf  meiner  Abtheilung  einen  Fall  beobachtet,  den  ich  wegen  seines 
casuistischen  Interesses  hier  ausführlich  uiittheile.  Zu  einer  Hysterica,  welche  bereits  mehrere 
hysterische  Productionen,  wie  Vortäuschung  einer  Peritonitis  mit  Hämatemesis,  aufgeführt 
•  hatte,  wurde  ich  einmal  eiligst  von  einer  Wärterin  gerufen,  weil  jene  angeblich  moribund 
sei.  Ich  fand  beiderseitige  Contracturen  der  Extremitäten,  wie  sie  bei  Hysterischen  vor- 
kommen, kleinen,  beschleunigten  Puls  imd  allgemeine  Blaufärbung  der  Haut,  insbesondere 
im  Gesichte.  Sofort  schöpfte  ich  den  Verdacht  auf  die  Möglichkeit  einer  Antipyrinvergiftung, 
der  sich  auch  durch  die  Angabe  der  Wärterin,  dass  die  Patientin  zehn  halbgrammige  Pulver, 
welche  sie  gegen  ihre  Kopfschmerzen  verordnet  bekam,  auf  einmal  zu  sich  genommen  hatte, 
als  gerechtfertigt  erwies.  In  der  kürzesten  Zeit  verschwanden  auf  Einpackung  in  eiskalte 
Tücher  die  hysterischen  Contracturen  und  collapsähnlichen  Symptome  und  allmälig  dann 
auch  die  Cyanose.  Einige  Tage  später  fand  ich  die  Patientin  bei  der  Morgenvisite  wieder 
blau,  diesmal  aber  bei  vollkommen  gutem  Befinden.  Da  die  Patientin  Einnahme  von  Anti- 
pyriai  in  Abrede  stellte,  und  dies  auch  von  der  Wärterin  bestätigt  wurde,  so  griff  ich  nach 
einem  nassen  Handtuche  und  fuhr  damit  der  Patientin  über  das  Gesicht,  wobei  sich  heraus- 
stellte, dass  die  Cyanose  von  diesem  auf  jenes  überging  und  dass  die  Blaufärbung,  welche 
einer  Cyanose  täuschend  ähnlich  sah,  dem  Methylviolett  seine  Entstehung  verdankte,  welches 
im  Krankensaale  als  Pieagens  auf  freie  HCl  im  Mageninhalt  in  Verwendung  stand.  Die 
sonst  sehr  intelligente  Patientin  dürfte  sich  andere  cyanotische  Kranke,  welche  in  den  ärzt- 
lichen Cursen  vorgestellt  wurden,  zum  Muster  für  ihre  so  gelungene  Nachahmung  genommen 
haben. 

Bei  Arbeitern  in  Anilinfabrihen  kommt  es  durch  Einathmung  concen- 
trirter  Anilindämpfe  neben  Kopfschmerzen  regelmässig  zu  Cyanose  der  Lippen, 
Nägel,  in  den  allerschwersteu,  tödtlichen  Fällen  auch  zu  Verlangsamung  der 
Respiration,  Krämpfen,  Coma  mit  stark  ausgeprägter  Cyanose.  Der  Exitus 
erfolgt  unter  dem  Bilde  einer  asphyktischen  Cholera.  Die  Nitrobetizolver- 
giftungen  führen  unter  ähnlichen  Symptomen,  wie  Anilinvergiftung,  ebenfalls 
zu  hochgradiger  Cyanose.  Dasselbe  gilt  für  Nitroglycerin.  Selbst  in  gut  ver- 
laufenden Fällen  überdauert  die  Cyanose  die  übrigen  Intoxicationserscheinungen. 
Auch  bei  Glycerin,  dem  jetzt  so  beliebten  Mittel  gegen  Nephrolithiasis  und 
Cholelithiasis,  wurden  bisweilen  bei  therapeutischer  Anwendung  Intoxications- 
erscheinungen beobachtet,  welche  in  Collaps,  Kälte  der  Hände  und  Füsse, 
Eingenommenheit  des  Kopfes  und  Cyanose  des  Gesichtes  ihren  Ausdruck 
fanden.  Es  bleibt  dahingestellt,  wie  viel  von  dieser  Wirkungsweise  Ver- 
unreinigungen des  Mittels  und  etwaigen  Veränderungen  von  dessen  Oxydations- 
producten  im  Darme  (Nitrificirung)  zuzuschreiben  ist.  Bei  Arbeitern,  welche 
mit  Bedification  von  Petroleum  beschäftigt  waren,  bobachtete  Eulenbukg  oft 
Cyanose  der  Lippen  und  bläuliche  Gesichtsfarbe. 

Bei  Vergiftungen  mit  Arsemvasserstoff,  sowie  chlorsaurem  Kalium  und 
Pyrodin  wurde  ebenfalls  Cyanose,  bei  ersterem  auch  Dyspnoe  und  ein  soporöser 
Zustand  beobachtet.  Niclrt  uninteressant  ist  in  solchen  Fällen  das  Auftreten 
kernhaltiger  rother  Blutkörperchen  im  Blute,  ein  Befund,  der  unter  Umständen 
diagnostische  Bedeutung  haben  kann. 

Bei  Fischvergiftung,  insbesondere  nach  Genuss  der  verschiedenen  Arten 
der  Gattungen  Sphyrena,  Coryphena,  Scomber,  beobachtet  man  rothe  oder 
violette  Gesichtsfarbe,  oft  mit  bedeutender  Anschwellung,  besonders  an  den 
Lippen  und  Augenlidern,  ferner  Athemnoth  und  Erscheinungen  asthmatischer 
Art,  mitunter  acuten  Schnupfen  mit  Niesen,  Thränenfiuss  und  Krampfhusteu. 
Schliesslich  ist  schnell  auftretende  Cyanose  neben  Dyspnoe,   Coma  und  allge- 


CYANOSE.  355 

meiner  Lähmung,   sowie  scorbutälmliclien  Hämorrliagien  in  sämmtliclien  Kör- 
pergeweben    ohne    Gefässzerreissung    ein    Symptom    von    Intoxication    mit 

Schlang  engift. 

Dass  auch  bei  Infectionsk rankheiten  manchmal  hochgradige  Cyanosen,  tind 
zwar  nicht  immer  mit  dyspnoischen  Zuständen  verbunden,  auf  Veränderungen  des  Blutes 
zurückzuführen  seien,  ist  mehr  als  wahrscheinlich  und  es  dürfte  von  der  chemischen  Be- 
schaffenheit der  durch  die  pathogenen  Organismen  gebildeten  Toxine  abhängen,  ob  jene  in 
den  Geweben  und  im  Blute  als  Sauerstofi'entzieher  wirken  und  daher  den  Gasstoffwechsel 
behindern.  In  manchen  Fällen  mag  die  chemische  Constitution  der  bacteriellen  Stoff- 
wechselproducte  mit  der  aeroben  oder  anaeroben  Lebensweise  der  jeweiligen  Bakterien  im 
Zusammenhange  stehen,  doch  muss  auch  hier  der  Satz  ausgesprochen  werden,  dass  die 
Anaerobie  nicEt  eine  Verringerung  des  Sauerstoffbedürfnisses  bedeutet,  sondern  vielmehr 
eine  Steigerung  der  vitalen  Fähigkeit,  denselben  aus  den  sauerstoffhaltigen,  organischen 
Verbindungen  abzuspalten,  ein  Moment,  welches  bei  Mischinfectionen  insoferne  von  Bedeutung 
werden  kann,  als  die  aeroben  Mikroorganismen  durch  Sauerstoffentziehung  die  anaerobe 
Lebensweise  anderer  Mikroorganismen  fördern  können. 

Noch  ein  Moment  verdient  bei  Vergiftungen  berücksichtigt  zu  werden. 
Die  mit  der  Bildung  von  Methämoglolnn  verbundene  Zerstörung  der  rothen 
Blutkörperchen,  wie  sie  bei  Vergiftungen  mit  chlorsauren  Salzen  bekannt  ist, 
kann  zu  Verstopfung  der  Gefässe  mit  Trümmern  zugrunde  gegangener  rother 
Blutkörperchen  in  den  inneren  Organen,  insbesondere  in  der  Lunge  führen, 
und  auch  auf  diese  Weise  Circulationsstörungen  veranlassen. 

Aehnliches  bemerkt  man  bei  Hautverbrennungen,  bei  welchen 
Cyanose  mit  Dyspnoe,  Coma  und  niedriger  Hauttemperatur  beobachtet  wird, 
und  sowohl  die  Toxinwirkung  durch  Kesorption  der  an  den  verbrannten  Stellen 
gebildeten  Toxine  auf  das  Blut,  als  auch  multiple  Gefässthrombosirung  durch 
Trümmer  zugrunde  gegangener  rother  Blutkörperchen  in  Betracht  kommt. 

Cyanose  wird  bei  verschiedenen,  theils  chronischen,  theils  sub acuten 
Erkrankungen  v  erschiedener  Organe  beobachtet,  zu  welchen  secun- 
däre  Veränderungen  im  Circulations-  und  Respirationsapparate  hinzutreten. 
Zu  diesen  gehört  in  erster  Linie  der  Morhus  Brightii,  dessen  Rückwirkung 
auf  den  Circulationsapparat  hinlänglich  bekannt  ist.  Nichtsdestoweniger  be- 
obachtet man  auch  bei  Morbus  Brightii  selbst  in  solchen  Fällen,  wo  die 
Functionsenergie  des  hypertrophischen  linken  Ventrikels  geschwächt  ist,  keine 
Cyanose,  weil  letztere  gegenüber  der  Anämie,  die  manchmal  perniciös  wird, 
in  den  Hintergrund  tritt.  Es  gibt  jedoch  Fälle  von  chronischer  Nephritis,  bei 
welchen  trotz  längeren  Bestandes  der  Krankheit  die  Blutbildung  weniger  ge- 
litten hat.  Dann  kann  der  Beginn  der  klinischen  Symptome  sich  durch  das 
Auftreten  von  Herzarhythmie,  Galopprhythmus,  Cyanose,  Stauung  in  der  Lunge 
und  Leberschwellung,  manchmal  auch  durch  herabgesetzte  Diui'ese,  wenn 
früher  Polyurie  bestand,  markiren,  so  dass  oft  die  Differentialdiagnose, 
ob  ein  cor  renale  oder  ren  cardiacus  vorliege,  Schwierigkeiten  bereiten  kann. 

Die  Verminderung  des  Gehaltes  an  Harnstoff,  Urobilin,  und  insbesondere  an  den 
Verbindungen  der  Phosphorsäure,  namentlich  der  an  alkalische  Erden  gebundeneu,  im  Urin, 
das  normale  Verhalten  der  relativen  Schwefelsäure,  in  Verbindung  mit  normaler  oder  wenig 
herabgesetzter  Diurese,  sowie  andere  klinische  Zeichen  einer  primären  Nierenaffection,  wie 
z.  B.  Pietinitis,  lassen  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  das  Pdchtige  treffen.  Die  Insufficienz  des 
hypertrophischen  linken  Ventrikels  im  Verlaufe  latenter  Sclirumpfnieren  kann  in  acuter 
Weise  zu  Stande  kommen  und  nicht  selten  ist  ein  paroxysmales  Asthma  (Asthma  urae- 
micum)  die  erste  Manifestation  des  heimtückischen  Leidens.  Differential-diagnostisch  gegen- 
über den  Asthmaparoxysmen  bei  primären  Herzaff'ectionen  ist  zu  bemerken,  dass  die  Menge 
des  während  des  Anfalles  entleerten  eiweisshältigen  und  hell  gefärbten  Harnes  grösser  ist, 
als  bei  Asthma  cardiacum,  bei  dem  gewöhnlich  der  Harn  dunkel,  concentrirt.  reich  an 
Uraten  und  Urobilin  ist  und  demgemäss  ein  hohes  specifisches  Gewicht  besitzt.  Manchmal 
sind  es  einfache  acute  Erkältungskatarrhe  der  Luftwege,  welche  in  ganz  unvorhergesehener 
Weise  unter  hochgradiger  Dyspnoe,  allgemeinem  Hydrops,  zahlreichen  Piasseigeräuschen  und 
Cyanose  das  klinische  Bild  eröffnen  und  durch  Lungenödem  zum  tödtlichen  Abschlüsse 
bringen  ;  dies  erklärt  sich  dadurch,  dass  der  Brightiker  jeden  Gewebsreiz  mit  Oedem 
beantwortet.  So  wie  ein  Wespenstich  zu  einem  colossalen  Anasarka  der  betroffenen 
Extremität,  ein  Herpes  praeputialis  zu  einem  Oedem  des  Praeputiums  fülirt.  so  kann  auch 
eine  einfache  Laryngitis  katarrhalis  durch    ein  Larynxödem  dem  Brightiker  verhängnisvoll 

23* 


356  CYANOSE. 

werden.  In  ähnlicher  Weise  führen  kleine  pneumonische  Heerde  zu  Lungenödem  und  nicht 
selten  sind  plötzlich  auftretende  Dyspnoe,  Cyanose  und  Coma  bei  chronischem  Morbus 
Brightii  ein  semiotisches  Zeichen  einer  beginnenden  Pneumomie,  welche  in  der  kürzesten 
Zeit  zu  Lungenödem  und  zum  Tode  führen  kann,  derart,  dass  die  objectiven  Zeichen  der 
Pneunomie  sich  dem  klinischen  Nachweise  entziehen.  In  solchen  Fällen  ist  eine  bestehende 
Temperatursteigerung  im  Gegensätze  zu  den  rein  toxischen  Formen  der  urämischen  Dispnoe 
und  des  urämischen  Coma,  bei  welchem  meist  die  Körperwärme  sinkt,  diagnostisch  zu 
verwerthen,  Yorausgesetzt,  dass  nicht  eine  gleichzeitige  Hirnblutung  nach  der  anfänglichen 
Erniedrigung  der  Temperatur  ein  rapides  Steigen  derselben   veranlasst. 

Manchmal  kann  das  Lungenödem  durch  körperliche  Anstrengungen,  Bergsteigen. 
Alkoholrausch,  Excesse  in  Venere  oder  Gebrauch  Yon  manchen  Medicamenten,  z.  B.  Opium, 
selbst  in  kleinen  Quantitäten,  sowie  durch  acuten  Magenkatarrh,  infolge  plötzlich  ein- 
getretener Erlahmung  des  linken  Ventrikels,  während  der  rechte  noch  fortarbeitet,  sich 
einstellen,  Fälle,  die  an  die  von  leyden  beschriebene  besondere  Form  des  Asthma  cardiale 
erinnern.  In  solchen  Fällen  findet  man  auch  directe  klinische  Zeichen  für  Functions- 
störung  seitens  des  linken  Ventrikels,  wie  Dilatation,  Verminderung  der  Spannung  im 
Arteriensystem,  Arhythmie  und  nicht  selten  Galopprhythmus. 

In  Fällen,  wo  diese  Zeichen  von  Seite  des  linken  Ventrikels  vermisst  werden  und 
trotzdem  Symptome  einer  Stauung  im  Venen-  und  Pulmonalsystem  (bei  hoher  Pulsspannung) 
vorliegen,  ist  die  Ursache  der  Compensationsstörung  in  Degeneration  der  Musculatur  des 
linken  Vorhofes  zu  suchen,  und  bamberger  hat  in  seinen  Vorlesungen  diejenige  Hämoptoe, 
welche  manchmal  als  initiales  Symptom  eine  Schrumpfniere  verräth,  auf  Hyperämie  des 
linken  Vorhofes  zurückgeführt.  Verabreichung  von  Digitalis  oder  Ergotin  zur  Behebung 
dieser  Erscheinungen  muss  als  therapeutischer  Fehlgriff  bezeichnet  werden  und  kann  bei 
der  bestehenden  abnormen  Spannung  im  Aortensystem  leicht  eine  Hirnhämorrhagie,  zu 
welcher  ein  Brightiker  ohnehin  disponirt,  heraufbeschwören.  Noch  mehr  Bestätigung 
gewinnt  die  Diagnose  einer  Vorhofdilatation,  wenn  bei  längerer  Beobachtung  eines  solchen 
Kranken  sich  sowohl  die  Cyanose,  als  die  übrigen  Stauungserscheinungen  in  den  Lungen 
und  in  den  anderen  Organen  steigern,  während  die  Untersuchung  des  linken  Ventrikels 
keine  auffallenden  Veränderungen  wahrnehmen  lässt,  und  zwar  weder  in  functioneller 
Hinsicht,  in  Bezug  auf  Arterienspannung,  noch  auch  durch  progressiv  zunehmende  Dislo- 
cation  des  Spitzenstosses.  Durch  Bildung  von  Thromben  in  dem  dilatirten  linken  Vorhofe, 
Herzohre  und  im  linken  Ventrikel  kann  das  klinische  Bild  eine  grosse  Vielgestaltigkeit  er- 
langen und  manche  diagnostische  Schwierigkeiten  bereiten. 

Ausgesprochene  Cyanose  des  gedunsenen  Gesichtes,  mit  klonischen 
Krämpfen  und  darauffolgendem  Coma  nach  vorausgegangenen  Kopfschmerzen, 
Erbrechen  und  Verminderung  der  Pulsfrequenz,  sehr  häufig,  doch  nicht  immer, 
mit  herabgesetzter  Diurese,  gehören  bekanntlich  zum  Bilde  des  urämischen 
Anfalles  und  sind  durch  Stauung  des  Blutes  im  Krampf  anfalle  bedingt.  Die 
Cyanose  des  Gesichtes  entsteht  hier  auf  dieselbe  Weise,  wie  bei  Epilepsie,  die, 
bei  hochgradiger  Cyanose  während  des  Anfalles,  den  alten  Aerzten  als  un- 
heilbar galt.  Die  anfallsweise  auftretende  Dyspnoe  der  Brightiker,  welche 
gemeiniglich  als  urämische  Dyspnoe  bezeichnet  wird,  kann,  wenn  sie  ohne 
Krämpfe  einhergeht,  mit  oder  ohne  Cyanose  verlaufen,  und  ist  die  Cyanose  in 
solchen  Fällen  ausschliesslich  von  dem  Grade  der  durch  die  Grundkrankheit 
bedingten  Circulationsstörung  und  Behinderung  des  Gasaustausches  in  der 
Lunge  abhängig.  Die  Cyanose  fehlt  bei  der  urämischen  Dyspnoe  gänzlich, 
wenn  letztere  blos  durch  Reizung  des  bulbären  Respirationscentrums  durch 
die  excrementellen  Bestandtheile  des  Harns  bedingt  ist.  Manchmal  kann  diese 
Dyspnoe  nach  vorausgegangenem  Erbrechen  die  Einleitung  zum  urämischen 
Coma  bilden  und  tritt  dadurch  in  differentialdiagnostische  Beziehung  zum 
Coma  diabeticum.  In  solchen  Fällen  ist  daher  dringend  nothwendig,  den  Harn 
nicht  nur  auf  Albumen  und  Cylinder,  sondern  auch  auf  Zucker  und  Aceton 
zu  untersuchen,  da  mir  ein  Fall  bekannt  ist,  bei  welchem  durch  Unterlassung 
des  Zuckernachweises  im  Harne  bei  einer  Puerpera  die  falsche  Diagnose  einer 
eklamp tischen  Dyspnoe  gestellt  und  das  wirklich  bestehende  Coma  diabeticum 
übersehen  wurde. 

Während,  wie  bereits  früher  erwähnt  wurde,  bei  Coma  diabeticum  Cya- 
nose fehlt  und  bei  acuten  Episoden  des  Diabetes  nur  durch  Complicationen 
mit  organischen  Erkrankungen  des  Respirations-  und  Circulationsapparates 
auftritt,  gibt  es  manche  Fälle  von  chronisch  verlaufendem  Diabetes,  in  denen 
leichte  Cyanose  des  Gesichtes,  insbesondere  der  Nase  und  der  Ohren  vorkommt 


CYANOSE.  357 

derart,  dass  beim  ersten  Anblick  der  Gedanke  auftaucht,  als  hätte  man  es 
mit  einem  herzschwachen  Potator  zu  thun.  Ich  habe  derartige  bläuliche  Ver- 
färbungen des  Gesichtes  gerade  bei  fettleibigen  Diabetikern  beobachtet,  und 
empfehle  daher  bei  vorhandener  Cyanose,  für  welche  der  Thoraxbefund  keine 
hinreichende  Erklärung  gibt,  den  Harn  jedesmal  auf  Zucker  zu  untersuchen. 

Ganz  anderer  Natur  ist  j  ene  Gly  kosnrie,  bei  welcher  nebst  acuter  Dilatation  des 
Herzens,  Cyanose  mit  schweren,  raanchmal  tödtlichen  Formen  der  Tachykardie  auf- 
tritt. Sowohl  die  Glykosurie,  als  auch  die  Tachykardie  ist  als  bulbäres  Symptom  aufzufassen. 
In  besonders  complicirten  Fällen  kann  auf  die  Deutung  der  Glykosurie  eine  genaue,  quanti- 
tative Bestimmung  sämmtlicher  Harnbestandtheile  ein  Licht  werfen,  die  bei  echten  Formen 
des  Diabetes  auch  die  für  Diabetes  charakteristischen  Mehrausscheidungen  der  organischen 
und  anorganischen  Harnbestandtheile  ergibt. 

Bei  Bluterkrankungen  wird  in  Folge  der  Verarmung  des  Blutes  an 
rothen  Blutkörperchen  in  der  Regel  trotz  bestehender  Dyspnoe  keine  Cyanose 
beobachtet,  so  z.  B.  bei  Leukämie  selbst  dann  nicht,  wenn  organische 
Affectionen  des  Herzens  hinzutreten,  die  sonst  zu  Cyanose  führen.  Bei  Leuk- 
ämie kommt  letztere  manchmal  durch  Verfettung  der  Papillarmuskeln  und 
Dilatationen  beider  Herzhälften  vor,  doch  auch  in  diesen  Fällen  erreicht  die 
Cyanose  nur  ihre  leichtesten  Grade.  Dasselbe  gilt  auch  von  jenen  Formen  von 
Fettherz,  welche  mit  hochgradiger  Anämie  einhergehen.  Auch  hier  ist  zum 
Theile  die  quantitative  Verminderung  des  Blutes,  zum  Theile  die  herabgesetzte 
Kohlensäurebildung  in  den  Geweben  maassgebend  für  das  Ausbleiben  der  Cyanose. 

Die  bei  Bluterkrankungen  auftretende  Dyspnoe,  und  zwar  sowohl  bei 
Chlorose,  als  bei  schweren  Formen  der  Anämie,  ist  in  vielen  Fällen 
vorwiegend  eine  rein  chemische  und  entsteht  durch  anämische  Reizung  der 
MeduUa  oblongata.  Durch  Zunahme  der  Respirationsfrequenz  kann  dem  Sauer- 
stofibedürfnisse  des  Organismus  Genüge  geleistet  werden,  weil  der  Respirations- 
apparat und  die  Stromgeschwindigkeit  des  im  Pulmonalstrombette  circulirenden 
Blutes  normal  geblieben  sind.  Ist  jedoch  bei  anämischen  Zuständen  das  Herz- 
fleisch krank  und  daher  die  Triebkraft  desselben  herabgesetzt,  so  resultirt 
daraus  eine  Verminderung  des  in  der  Zeiteinheit  die  Lunge  durchströmenden 
Blutquantums,  sowie  durch  Erweiterung  der  Capillaren  in  den  Alveolen  eine 
Verkleinerung  der  Respirationsoberfläche.  Während  bei  der  rein  chemischen 
Dyspnoe  der  Sauerstofibedarf  der  Gewebe  durch  vermehrte  Respirationsfrequenz 
gedeckt  wird,  so  macht  sich  in  der  zweiten  Gruppe  von  Fällen  nebst  vermehrter 
Athemfrequenz  auch  eine  Vertiefung  der  Athemzüge  geltend,  ein  Respirations- 
typus, wie  er  bei  Herzkranken  vorkommt.  In  diesen  Fällen  wird  das  Auftreten 
der  Cyanose  davon  abhängen,  ob  das  circulatorische,  oder  das  anämische 
Element  prävalirt.  Letzterer  Umstand  verdient  insbesondere  dann  Berück- 
sichtigung, wenn  die  objectiven  Symptome  einer  Schwellung  der  Bronchial- 
schleimhaut mit  Stauungskatarrhen  bei  bestehenden  cardialen  Complicationen 
nicht  nachweisbar  sind,  wie  dies  z.  B.  in  Fällen  schwerer  perniciöser  Anämie 
häufig  vorkommt,  wo  dann  die  Diagnose,  ob  das  Herzfleisch  und  in  welchem 
Grade  es  degenerirt  sei,  mitunter  grossen  Schwierigkeiten  begegnet.  Bestehende, 
wenn  auch  sehr  leichte,  cyanotische  Färbung  der  Lippen  kann  nebst  Zeichen 
von  Dilatation  der  Herzhöhlen  und  Schwellung  der  Jugularvenen  in  solchen 
Fällen  diagnostisch,  eventuell  therapeutisch  verwerthet  werden. 

Auch  bei  Leukämie  ist  die  Dyspnoe  weniger  der  veränderten  Blut- 
mischung, als  einer  Dilatation  des  Herzens  zuzuschreiben.  Ein  therapeutischer 
Versuch  mit  Digitalis  bei  gleichzeitiger  Bettruhe  kann  daher  in  solchen  Fällen 
für  die  Diflerentialdiagnose,  ob  die  Dyspnoe  hämatogenen  oder  cardialen  Ur- 
sprunges sei,  entscheidend  sein,  was  unter  Umständen  bei  der  Dyspnoe  der 
Leukämiker  bezüglich  der  Indicationsstellung,  ob  Sauerstofi"  und  Körperbewe- 
gung oder  cardiale  Therapie  (Bettruhe,  Eisbeutel  aufs  Herz)  einzuleiten  seien, 
entscheidend  sein  kann. 


358  CYANOSE. 

Raiimbescliräiikeiide  Processe,  welche  die  respiratorisclie  Erweiterung 
des  Thorax  ungünstig  beeinflussen,  ja  selbst  die  Thoraxorgane  comprimiren, 
jedoch  nicht  von  diesen  selbst  ausgehen,  werden  natürlich  auch  als  ätiologische 
Momente  für  die  Cyanose  in  Betracht  kommen.  Bei  hochgradiger  Ver- 
krümmung des  Thorax  (Kyi^hoskoliose)  kann  ein  einfacher  Katarrh  der 
Luftwege  zu  hochgradiger  Cyanose  mit  den  übrigen  Erscheinungen  von  In- 
sufficienz  des  rechten  Ventrikels  führen.  Die  Cyanose  entsteht  hier  durch 
Zunahme  der  ohnehin  bestehenden  Behinderung  des  Lungeugaswechsels,  durch 
die  Unmöglichkeit  ausgiebiger  inspiratorischer  Erweiterung  der  Lunge.  Bei 
hochgradigen  Skoliosen  wird  durch  Compression  der  Lunge  und  dadurch  ge- 
hemmten Blutzufluss  zum  linken  Herzen  eine  Rückstauung  des  Blutes  zum 
rechten  Ventrikel  und  dementsprechend  mangelhafte  Füllung  des  linken  Ven- 
trikels geschaffen. 

Zum  Theile  durch  die  auf  diese  Weise  erfolgende  mangelhafte  Füllung  des  linken 
Ventrikels  und  weiterhin  dadurch  bedingte  ungenügende  Spannung  der  Mitralklappen,  zum 
Theile  durch  secundäre  Veränderungen  der  Papillarmuskeln  infolge  mangelhafter  FüUujig 
der  Kranzarterien  entsteht  an  der  Herzspitze  ein  systolisches  Geräusch,  welches 
einen  Mitralklappenfehler  Yortäuschen  und  behufs  Linderung  der  Beschwerden  zur  Ver- 
abreichung der  Digitalis  verleiten  kann,  eine  Therapie,  welche  bei  hochgradigen  Verkrüm- 
mungen des  Thorax  planlos  und  sogar  durch  Heraufbeschwörung  eines  Lungenödems  ge- 
fährlich werden  kann. 

Hochstand  des  Zwerchfelles,  durch  verschiedene  Unterleibsprocesse, 
sei  es  Ascites  oder  Ovarialcysten  und  anderweitige  Unterleibstumoren  bedingt, 
kann  selbstverständlich  durch  Behinderung  ausgiebiger  Athmung  zu  Cyanose 
führen.  Dieser  Umstand  spielt  auch  eine  nicht  geringe  Rolle  bei  den  Cya- 
nosen,  welche  die  Endphase  der  allgemeinen  Peritonitis,  sowie  der  inneren 
Einklemmungen  und  Achsenckehungen  des  Darmes  charakterisiren. 

Die  Cyanose  kann  schliesslich  durch  die  verschiedensten  Erkrankimgeu 
des  respiratorischen  Bewegungsapparates  hervorgerufen  werden.  Sowohl 
Lähmungen  als  auch  Atrophie  der  Brustmusculatur  können  zu 
diesem  Symptom  führen.  Lähmungen  beobachtet  man  bei  Affectionen  des 
Halsmarkes,  bei  Caries,  Neoplasmen  und  Fracturen  der  Halswirbel,  sowie  bei 
neuritischen  Degenerationen  der  Nervi  phrenici  und  Compressionen  derselben 
durch  Geschwülste.  Derartige  Cyanosen  entstehen  im  Verlaufe  von  acuter 
Polyneuritis,  Laxdey' scher  Lähmung,  Poliomyelitis,  progressiver  Muskelatrophie, 
TnOMSEN'scher  Krankheit  und  bilden  nicht  selten  die  Schlussscene  verschie- 
dener cerebrospinaler  Erkrankungen,  in  welchen  der  Tod  unter  den  Erschei- 
nungen der  Vagus-  und  Phrenicusparalyse  erfolgt,  z.  B.  Tabes,  amyotrophischer 
Lateralsklerose  und  Bulbärparalyse.  Bei  letzterer  kommt  übrigens  die  Cyanose 
auf  verschiedene  Weise  zu  Stande,  zunächst  durch  Fehlschlingen  infolge  Läh- 
mungen der  Schlingmusculatur  und  Gelangen  der  Nahrung  in  den  Larynx. 
Heftige  zahlreiche  Hustenanfälle,  mit  Angst  und  Erstickungsgefahr,  begleiten 
diese  Erscheinung.  Andererseits  durch  Lähmung  der  Respirationsmuskeln, 
dann,  wenn  die  Kranken  von  einem  Bronchialkatarrh  befallen  werden.  Bei 
beginnender  Lähmung  der  Respirationsmuskeln  werden  die  Respirationen 
schwach  und  unvollkommen,  wodurch  mangelhafte  Sauerstoffaufnahme  und 
Cyanose,  insbesondere  bei  körperlichen  Bewegungen  entstehen.  Die  Klang- 
losigkeit  der  Stimme,  sowie  die  Dyspnoe  selbst  bei  der  geringsten  Anstren- 
gung sind  durch  die  Schwäche  und  Unfähigkeit  der  Thoraxmusculatur,  Luft 
in  der  Lunge  anzuhäufen,  erklärt  und  sowohl  diese  als  auch  die  Schwäche 
der  Gesichtsmusculatur  machen  es  begreiflich,  dass  die  Kranken  kaum  im 
Stande  sind,  ein  Licht  auszublasen. 

Auch  bei  primären  Affectionen  der  Thoraxmusculatur,  z.  B. 
bei  Myositis  des  Zwerchfelles  oder  bei  Entzündungen  desselben,  welche  von 
benachbarten  Organen  ausgehen,  nicht  selten  bei  eitrigen  Processen  im  Be- 
reiche des  Unterleibes,  z.  B.  bei  subphrenischen  jauchigen  Abscessen  infolge 


DEGENERATIVES  IRRESEIN.  359 

von  Ulcus  ventriculi,  Perityphlitis,  exulcerirendem  Magencarcinom  u.  dgl.  m. 
beobachtet  man  Cyanose. 

Ebenso  kann  im  Verlaufe  der  eitrigen  Peritonealentzündungen,  durch 
Fortpflanzung  der  Entzündung  auf  die  Lymphgefässe  des  Zwerchfelles,  eine 
Insufficienz  der  Zwerchfellthätigkeit  und  somit  auch  Cyanose  mit 
ausschliesslich  costalem  Athmungstypus  in  ähnlicher  Weise,  wie  dies  bei  Be- 
sprechung der  Trichinose  erwähnt  wurde,  entstehen.  edm.  neusser. 

Degeneratives  Irresein.  Der  Ausdruck  „degeneratives  Irresein"  ent- 
hält, wenn  das  Adjectivum  „degenerativ"  darin  nicht  bloss  in  dem  ganz  ver- 
waschenen Sinne  gebraucht  sein  soll,  dass  dieses  Irresein  irgendwelche 
Beziehungen  zur  Degeneration  hat,  —  die  Behauptung,  dass  es  bestimmte 
charakteristische  Züge  gibt,  welche  eine  Psychose  als  Ausdruck  von  De- 
generation erkennen  lassen.  Es  muss  also  zunächst  festgestellt  werden, 
was  unter  Degeneration  zu  verstehen  ist. 

Es  muss  hierunter  eine  durch  die  Componenten  der  Generation 
implicite  bedingte  bis  ins  Pathologische  geh  ende  Abweichung 
vom  Typus  des  genus  verstanden  werden. 

Es  fallen  dadurch  zunächst  alle  diejenigen  Psychosen  aus  dem  Begrifi 
des  degenerativen  Irreseins  heraus,  welche  durch  von  aussen  an  eine  gesunde 
Organisation  herangebrachte  Schädlichkeiten  entstehen,  also  alle  exogenen  '-■) 
Geisteskrankheiten.  Hierher  gehören  also  zunächst  alle  durch  grobe  Gehirn- 
störungen  bedingten  Geistesstörungen  (bei  Paralysis  progressiva,  multipler 
Sklerose  des  Hirns,  Hirntumoren,  Porencephalie,  ferner  diejenigen  Fälle  von 
Idiotie,  welche  durch  cerebrale  Erkrankungen  im  fötalen  oder  kindlichen  Leben 
bedingt  sind.) 

Ferner  fallen  a  priori  aus  dem  Begriff  heraus  alle  durch  Intoxication 
im  weitesten  Sinne  bedingten  Psychosen.  Nun  gibt  es  aber  in  der  Psycho- 
pathologie eine  Reihe  von  Krankheiten,  bei  denen  es  zweifelhaft  ist,  ob  sie 
eine  äussere,  im  individuellen  Leben  wirkende  Ursache  gehabt  haben  oder 
nicht  (z.  B.  die  Erschöpfungspsychosen,  Puerperalpsychosen  u.  s.  w.).  Auch 
diese  schalten  wir  vorläufig  aus  unserer  Betrachtung  aus. 

Von  den  unzweifelhaft  endogenen  Geistesstörungen  scheiden  wir  zu- 
nächst die  angeborenen  Schwächezustände  (Idiotie  ohne  cerebrale  Erkrankung) 
aus,  da  sie  als  gesonderte  Gruppe  in  dem  Rahmen  der  Psychopathologie  längst 
ihren  Platz  haben. 

Es  sind  also  zunächst  diejenigen  im  postnatalen  Leben  ausbrechenden 
Geistesstörungen  unter  dem  Sammelnamen  des  degenerativen  Irreseins  unter- 
zubringen, welche  am  deutlichsten  ihren  endogenen,  von  äusseren  Um- 
ständen unabhängigen  Charakter  zeigen.  Ein  Typus  hiervon  sind  die  perio- 
dischen Formen  des  Irreseins.  Allerdings  werden  auch  hier  bei  den  ein- 
zelnen Ausbrüchen  der  bestehenden  „Anlage"  sehr  leicht  äussere  Causalitäten 
zu  den  einzelnen  Perioden  gesucht,  sei  es  nun,  dass  der  Mond,  oder  atmo- 
sphärische Einflüsse,  oder  Aerger,  Ueberanstrengung  etc.  als  Gelegenheitsursache 
angeschuldigt  wird.  Bei  unbefangener  Prüfung  der  Fälle  zeigt  sich  aber, 
dass,  wenn  einmal  jemand  dazu  durch  seine  Organisation  determinirt  ist, 
mehrere  Anfälle  von  Geistesstörung  zu  bekommen,  dass  diese  dann  ohne  jede 
Beziehung  zu  äusseren  Umständen  in  den  besten  und  ruhigsten  A'erhältnissen 
und  allen  Vorbeugemassregeln  zum  Trotz  ausbrechen.  Allerdings  darf  nun 
nicht  jeder,  der  in  seinem  Leben  mehrfach  Anfälle  von  Geistesstörung  hat, 
als  periodisch  geisteski-ank  im  Sinne  des  degenerativen,  endogen  bedingten 
Irreseins  erklärt  werden. 


*)   cfr.  MoEBius,    Die  Eintheilung  der  Nervenkranklieiten.    Centralblatt  für  Nerven- 
heilkiinde  und  Psychiatrie  1892.  Juli. 


360  DEGENEEATIVES  IRRE  SEIN. 

Für  den  Praktiker  ist  die  Kenntnis  der  periodischen  Psy- 
chosen besonders  wichtig  wegen  der  günstigen  Prognose  des  einzelnen  An- 
falls. Es  ist  deshalb  bei  jeder  geistigen  Erkrankung  nicht  nur  der  Beginn 
dieser  zu  erörtern,  sondern  auch  das  oft  schwer  zu  ermittelnde  Vorhandensein 
früherer  Anfälle.  Lässt  sich  dieses  mehrfache  Vorhandensein  von  Anfällen 
psychischer  Störung  feststellen,  so  ist  vor  Allem  zu  fragen,  ob  diese  Anfälle 
etwa  nur  Ausdruck  einer  anderweitigen  mit  Geistesstörung  verbundenen  Nerven- 
krankheit sind.  Vor  allem  ist  hierbei  an  Epilepsie  zu  denken  und  dement- 
sprechend zu  forschen.  Es  kommen  jedoch  z.  B.  auch  Fälle  von  progressiver 
Paralyse  vor,  welche  mit  ihrem  Wechsel  von  Geistesstörung  und  Eemissionen 
symptomatisch  ganz  den  Eindruck  einer  periodischen  Geistesstörung  machen 
können.  Ferner  ist  auszuschliessen,  dass  die  verschiedenen  einander  folgenden 
Anfälle  von  Geistesstörung  Folgen  einer  wiederholten  von  aussen  kommenden 
toxischen  Einwirkung  sind.  Wenn  z.  B.  jemand  unter  wiederholtem  Abusus 
spirituosorum  mehrfach  delirium  tremens  bekommt,  welches  öfter  atypisch  ver- 
läuft und  mit  anderen  Formen  von  Geistesstörung  (hallucinatorische  Ver- 
wirrtheit, hallucinatorischer  Wahnsinn  etc.)  verwechselt  werden  kann,  so  kann 
fälschlich  eine  endogene  periodische  Geistesstörung  angenommen  werden, 
während  es  sich  um  wiederholte  Folgen  gleicher  äusserer  Schädlichkeiten 
handelt.  Ebenso  ist  es  z.  B.  bei  mehrfachen  Intoxicationen  durch  Gifte,  wjelche 
im  eigenen  Körper  bei  bestimmten  Krankheiten  gebildet  werden,  z.  B.  bei 
Uraemie,  ähnlich  ferner  beim  Coma  diabeticum. 

Ferner  muss  erwogen  werden,  ob  es  sich  etwa  bei  den  verschiedenen 
„Anfällen"  nur  um  „Exacerbationen"  oder  stärkere  Aeusserungen  einer  dauernd 
bestehenden  Geistesstörung  handelt.  Hier  kommt  besonders  der  Schwachsinn 
mit  Aufregungszuständen  und  die  chronische  Paranoia  mit  vorübergehenden 
stärkeren  Aufregungen  in  Betracht. 

Schliesst  man  jedoch  bei  der  Diagnose  alle  diese  Fälle  aus,  so  kann 
man  das  wiederholte  Auftreten  von  Geistesstörung  als  periodische  Krankheit 
bezeichnen  und  muss  diese  Formen  für  durchaus  endogen  als  Typus  des 
degenerativen  Irreseins  erklären. 

Die  specielle  Form,  unter  welcher  die  einzelnen  Anfälle  der  periodischen 
Geistesstörung  auftreten,  kann  sehr  verschieden  sein.  Es  gibt  eine  perio- 
dische Manie,  periodische  Melancholie,  periodische  Verwirrtheit,  periodischen 
hallucinatorischen  Wahnsinn,  periodische  Zwangstriebe  z.  B.  Dipsomanie. 
Eine  besondere  Art  der  periodischen  Geistesstörung  ist  das  circuläre  Irresein, 
welches  sich  in  einem  Wechsel  von  „geistiger  Gesundheit,  Manie,  geistiger 
Gesundheit,  Melancholie,  geistiger  Gesundheit  u.  s.  w."  abspielt.  (Vergl.  „Cir- 
culäres  Irresein''  p.  264  d.  B.).  Wenn  die  eingeschobenen  Perioden  geisti- 
ger Gesundheit  sehr  kurz  sind,  so  kann  auch  scheinbar  ein  blosser  Wechsel 
von  Melancholie  und  Manie  auftreten. 

Die  specielle  symptomatische  Erscheinungsform  ist  jedoch  hier  ver- 
schwindend gegen  den  periodischen  Zeitcharakter  und  die  endogene  Natur 
der  Störung. 

An  zweiter  Stelle  ist  als  durchaus  endogene  Geistesstörung  die  ori- 
ginäre Paranoia  zu  nennen.  Es  handelt  sich  um  Menschen,  bei  denen 
die  Entwickelung  von  verkelirten  Ideen  sich  bis  in  die  fi'ühe  Kindheit  zurück- 
verfolgen lässt  und  die  oft  schon  in  sehr  frühem  Lebensalter  in  völliger  Para- 
noia endigen.  Diese  Gruppe  von  Geistesstörung  ist  jedoch  klinisch  so  genau 
umgrenzt,  dass  es  trotz  ihrer  unzweifelhaft  endogenen  Natur  verfehlt  wäre, 
sie  unter  dem  weiten  Begriff  des  degenerativen  Irreseins  unterzubringen. 
Entsprechend  ist  es  bei  der  im  späteren  Leben  ausbrechenden  Paranoia,  so 
dass  wir  diese  Krankheitsformen  später  an  anderer  Stelle  genauer  behandeln 
müssen.  Nur  muss  hier  die  Frage  kurz  berührt  werden,  ob  die  Paranoia, 
wenn  sie  nach  einer  Pteihe  von  Jahren  geistiger  Normalität  ausbricht,  überhaupt 


DEGENERATIVES  IRRESEIN.  361 

ZU  den  endogenen  Geistesstörungen  gerechnet  werden  kann.  Es  sind  jedoch 
fast  alle  psychiatrischen  Schriftsteller  darüber  einig,  dass  auch  die  spät  aus- 
brechende Paranoia  fast  immer  Menschen  betrifft,  welche  schon  durch  ihr 
ganzes  Leben  lang  sonderbare  Züge  gezeigt  und  die  sehr  häufig  durch  ander- 
weitige Fälle  von  Geistesstörung  in  der  Familie  als  erblich  belastet  erschei- 
nen. Jedenfalls  schliessen  wir  aber  auch  trotzdem  die  Paranoia  hier  aus  der 
Betrachtung  aus,  weil  sie  als  klinisch  genau  definirbare  Krankheitsform  eine 
gesonderte  Betrachtung  verdient. 

An  vierter  Stelle  muss  der  primäre  Schwachsinn  genannt  werden, 
welcher  meist  im  Anfang  der  Zwanziger  Jahre  ausbricht  und  bei  dem  sich 
nach  einem  relativ  kurzen  Initialstadium,  in  welchem  das  Bild  der  Manie, 
Melancholie  oder  Paranoia  bei  oberflächlicher  Betrachtung  vorgetäuscht  werden 
kann,  das  ganze  geistige  Leben  auf  ein  niedrigeres  Niveau  einstellt.  Es  ist 
das  gerade  eine  sehr  wichtige  Aufgabe  der  psychiatrischen  Diagnostik,  die- 
jenigen Fälle  von  scheinbarer  Manie  oder  Melancholie  etc.,  in  denen  von  vorn 
herein  das  Element  des  Schwachsinns  dominirt,  richtig  zu  erkennen  und  diese 
Fälle  trotz  der  Aehnlichkeit  mit  anderen  Formen  von  Psychose  bald  in  die 
für  die  Prognose  entscheidende  Ptubrik  des  primären  Schwachsinns  unter- 
zubringen. ■ —  Dieser  Schwachsinn  entstellt  manchmal  mit  ganz  kurzen  aber 
häufigen  Aufregungszuständen,  die  für  die  Umgebung  oft  gar  nicht  unter  den 
Begriff  der  Psychose  kommen.  Die  Kenntnis  der  durchaus  endogenen  Natur 
dieser  Krankheit  ist  von  grösster  Wichtigkeit  für  den  Praktiker,  weil  gerade 
in  solchen  Fällen  immer  causae  externae  gesucht,  und  oft  Kecriminationen  von 
Angehörigen  etc.  erhoben  werden.  Z.  B.  handelt  es  sich  nachweislich  bei 
einer  Pieihe  von  schweren  Soldatenmisshandlungen  um  solche  während  der 
Militärzeit  primär  schwachsinnig  Gewordene,  welche  gerade  durch  ihren  nicht 
richtig  erkannten  Schwachsinn  die  Brutalität  von  Vorgesetzten  herausfordern 
und  später  als  „geisteskrank  gemacht"  hingestellt  werden.  Die  specielle  S}inp- 
tomatologie  dieser  Krankheit  muss  später  genauer  erörtert  werden.  Auch 
hier  ist  es  besser,  wegen  der  klinischen  Abgrenzung  diese  Gruppe  aus  dem 
Begriff  des  degenerativen  Irreseins  herauszunehmen  und  diesen  noch  mein- 
einzuengen. 

So  schränkt  sich  der  Kreis  der  Erkrankungsformen,  welche  unter  den 
Begriff  des  degenerativen  Irreseins  im  engeren  Sinne  fallen,  immer 
mehr  ein. 

Vor  allem  hat  man  nun  darunter  diejenigen  Geisteszustände  zu  verstehen, 
in  denen  sich  bestimmte  Gedanken  oder  Gefühle,  beziehungs- 
weise Antriebe  zu  bestimmten  Handlungen  mit  zwingender  Gewalt 
immer  wieder  in  der  gleichen  Weise  geltend  machen.  Wenn  diese  Handlungen 
zufällig  gegen  das  bestehende  Gesetz  sind,  so  imponieren  sie  dem  psychiatrisch 
Ungebildeten  als  Ausdruck  einer  besonderen  criminellen  Beanlagung.  In  Wirk- 
lichkeit ist  jedoch  kein  principieller  Unterschied  zwischen  Zwangs- 
handlungen, die  sich  im  Rahmen  des  erlaubten  Subjectivismus  bewegen,  und 
solchen,  welche  im  einzelnen  Fall  von  psychiatrisch  Ungebildeten  als  criminelle 
Acte  aufgefasst  werden.  Ebenso  wenig  ist  psychologisch  ein  Unterschied 
zwischen  Zwangsgedanken,  welche  social  indifferent  sind  und  solchen,  welche 
ideell  gegen  bestehende  Zustände  gerichtet  sind. 

Für  die  Darstellung  dieser  Zustände  ist  es  geeignet,  das  Moment  des 
Zwingenden  in  den  Vordergrund  zu  stellen  und  die  psychologische  Differenz 
von  blossen  Gedanken  und  Antrieben  bei  Seite  zu  lassen.  Wir  wollen  daher 
im  Folgenden  auch  die  stereotyp  mit  zwingender  Gewalt  auftretenden  Gedanken 
als  Ausdruck  eines  Triebes  mit  den  Antrieben  zu  Handlungen  zusammen- 
fassen. Diese  Zwangstriebe  müssen  nun  von  einem  doppelten  Gesichtspunkt 
aus  einget heilt  werden. 


362  DEGENERATIVES  IRRESEIN, 

1.  Nach  der  Reaction,  welche  die  Gesammtpersönlichkeit  des  Be- 
troffenen auf  den  vorhandenen  Zwangstrieb  zeigt, 

a)  in  Zwangstriebe  verbunden  mit  dem  störenden  Bewusstsein  des  Krank- 
haften und  Zwingenden ; 

b)  in  Zwangstriebe  ohne  Bewusstsein  des  Kranldiaften  und  Zwingenden. 

2.  Nach  dem  Verhältnis  der  resultir enden  Handlungen  zur 
socialen  Gemeinschaft 

a)  in  social  störende. 

b)  in  social  indifferente. 

Subjectiv  am  meisten  als  Tiaöo?  zu  betrachten  sind  diejenigen,  welche 
einerseits  als  fremdartig  und  zwingend  empfunden  werden,  andererseits  zugleich 
social  störend  sind,  —  am  wenigsten  subjectives  rtocöo?  bieten  diejenigen,  welche 
ohne  Bewusstsein  des  Krankhaften  im  Individuum  vor  sich  gehen  und  zugleich 
social  indifferent  sind. 

Aus  der  Combination  dieser  beiden  Eintheilungsprincipien  entstehen, 
folgende  4  Gruppen : 

I.  (la  -\-  2a)  Zwingende  Triebe,  welche  als  fremd  und  krankhaft  empfun- 
den werden  und  gleichzeitig  social  störend  sind. 

n,  (la  -\-  Ih)  Zwingende  Triebe,  M''elche  als  fremd  und  krankhaft  empfun- 
den werden  und  dabei  social  indift"erent  sind. 

III.  (Ih  -\-  2a)  Zwingende  Triebe,  welche  nicht  als  krankhaft  zum  Be- 
wusstsein kommen  und  social  störend  sind. 

IV.  (Ih  -\-  2h)  Zwingende  Triebe,  welche  nicht  als  krankhaft  zum  Be- 
wusstsein kommen  und  social  indifferent  sind. 

Zur  ersten  Gruppe  gehören  z.  B.  viele  Fälle  von  Onomatomanie  (cfr. 
Magnan,  psychiatr,  Vorlesungen  IV  V),  in  denen  das  zwangsmässig  producirte 
Wort  social  störende  Wirkungen  hervorruft.  Wenn  z.  B.  jemand  im  Theater 
den  Zwangstrieb  bekommt,  „Feuer"  zu  schreien,  so  können  dadurch  eine 
Reihe  von  schlimmen  Wirkungen  hervorgebracht  werden. 

Allerdings  ist  naturgemäss  diese  Gruppe  am  kleinsten,  weil  diejenigen 
Menschen,  welche  ihren  Zwangstrieb  als  etwas  Krankhaftes  empfinden,  sich 
nur  selten  in  Situationen  bringen  werden,  wo  derselbe  für  sie  durch  seine 
sociale  Wirkung  noch  verhängnisvoller  werden  kann. 

Zur  zweiten  Gruppe  gehören  eine  Reihe  von  sehr  verschiedenen  Zu- 
ständen, Avie  Grübelsucht  (folie  du  doute),  Onomatomanie,  geschlechtliche  Ver- 
kehrtheiten, die  als  solche  empfunden  werden,  viele  Fälle  von  Dipsomanie, 
Zahlenbesessenheit,  Erinnerungszwang  für  Gesichter,  Berührungsfurcht. 

Magnan  tiBterscheidet  4  Unterarten  der  Onomatomanie:  1.  Manche  suchen 
ängstlich  nach  einem  Namen  der  Worte,  2.  andere  haben  ein  Wort  im  Sinn  mit  dem 
Zwange,  es  zn  wiederholen;  specielle  Form:  Koprolalie.  3.  anderen  kommt  bei  einem 
gewissen  Worte  der  Zahlen  immer  der  Gedanke,  dass  es  eine  böse  oder  glückliche  Be- 
deutung habe.  4.  Bei  einigen  stellt  sich  geradezu  körperliches  Uebelbefinden  ein  durch  ein 
anscheinend  im  Magen  liegendes  Wort  und  Erleichterung  durch  Würgen  und  Ausspucken. 
Diese  Zustände  nähern  sich  mit  ihrer  Objectivirung  eines  Wortes  schon  völlig  den  Hallu- 
cinationen  des  Gemeingefühls,_-w eiche  in  der  Paranoia  eine  grosse  Rolle  spielen 

Ferner  gehören  hieher :  Lachkrämpfe;  Angst,  dass  durch  Feuer  im 
Haus  Unglück  passiren  könne,  Angst  vor  bestimmten  Gegenständen  z.  B. 
Wachsfiguren,  Leichen,  missgestalteten  Menschen,  Gewitterfurcht,  Haemato- 
phobie  etc.  ■» 

Bei  der  dritten  Gruppe,  nämlich  bei  denjenigen  Zwangstrieben,  welche 
ohne  subjectiven  Widerstand  in  der  Persönlichkeit  eines  Menschen  auftauchen 
und  zugleich  antisocial  sind,  befinden  wir  uns  völlig  auf  dem  Boden  der  Cri- 
minalität.  In  der  That  gibt  es  eine  grosse  Menge  von  Verbrechern,  bei 
welchen  dies  zutrifft.     Der  Streit,    ob    hier    Geistesstörung    oder   Verbrechen 


DEGENERATIVES  IRRESEIN.  363 

vorliegt,  ist  ganz  überflüssig  Es  handelt  sich  einfach  um  determiniert  anti- 
sociale Individuen,  welche  dauernder  Detention  bedürften,  wenn  nicht  an  dem 
ganz  unzutreö'enden  Begriff  der  Bestrafung  e  i  n  z  e  1  n  e  r  H  a  n  d  1  u  n  g  e  n  f  e  s  t- 
ge halten  würde.  Zu  dieser  dritten  Gruppe  rechne  ich  diejenigen  Fälle, 
welche  gewöhnlich  als  moral  insanity  aufgefasst  werden.  Ferner  gehört 
hierher  der  sogenannte  Querulantenwahn,  da  wir  keinen  principiellen  Un- 
terschied zwischen  zwingenden  Antrieben  zu  bestimmten  Handlungen  und  zwin- 
gend auftretenden  Gedanken,  aus  denen  erst  secundär  social  störende  Hand- 
lungen entspringen,  machen.  In  diese  Gruppe  gehören  ferner  alle  die  ver- 
schiedenen Arten  von  perverser  Sexualität,  soweit  sie  nicht  durch  das 
sociale  Moment  der  Verführung,  sondern  durch  zwingende  Antriebe  bedingt 
sind  und  in  der  Gesammtpersönlichkeit  des  Menschen  keinen  hemmenden  Wi- 
derstand finden.  Die  Erscheinungsformen  dieser  specifischen  sexuellen  Hyper- 
ästhesie sind  individuell  so  mannigfaltig,  dass  eine  gesonderte  Hervor- 
hebung einzelner  Perversitäten  aus  der  massenhaften  Literatur  hierüber 
lückenhaft  und  deshalb  überflüssig  erscheint.  Es  stellt  sich  immer  mehr  heraus, 
dass  mit  allen  Arten  von  Vorstellungen  in  einzelnen  Persönlichkeiten  im  Ge- 
gensatz zu  der  Mehrzahl  der  andern  Menschen  Wollustgefühle  verknüpft  sein 
können.  Es  hat  gar  keinen  Zweck  nach  der  zufälligen  Beschaffenheit  des 
Objectes  (Pelze,  Schuhe,  bestimmte  Körpertheile,  homosexuelle  Menschen, 
Thiere,  Leichen  u.  s.  f.)  einzelne  Krankheitsformen  der  sexuellen  Perver- 
sität zu  unterscheiden.  Das  Wesentliche  ist  stets  die  Stellung  dieser  zwin- 
genden Neigungen  im  Gesammtcharakter  einerseits  und  der  mehr  oder  minder 
starke  Widerspruch  der  resultirenden  Handlungen  zu  dem  Zustand  der 
socialen  Umgebung. 

Bei  der  Beurtheilung  dieser  Dinge  kommt  noch  in  Betracht,  ob  diese 
zwingenden  Antriebe  bei  normalem  Verstände  oder  bei  vorhandenem  Schwach- 
sinn auftreten.  Sehr  häufig  findet  man  sie  auch  bei  Menschen,  die  in  ju- 
gendlichem Alter  eine  Psychose  (Manie,  Melancholie  etc. )  durchgemacht  haben 
und  scheinbar  zur  Norm  zurückgekehrt  sind,  so  dass  sie  von  ihrer  Umgebung 
gar  nicht  als  psychopathisch  angesehen  werden.  Z.  B.  kenne  ich  eine  Frau, 
die  nach  einer  abgelaufenen  agitirten  Melancholie  ganz  normal  erschien,  so 
dass  sie  heiraten  konnte,  die  nur  eine  unüberwindliche  Neigung  hatte,  sich 
selbst  die  Haare  auszuzupfen,  wodurch  sie  sich  den  Kopf  halb  kahl  gemacht 
hatte. 

Allerdings  gehört  dieses  Beispiel  eigentlich  in  die  letzte  Gruppe,  nämlich 
zu  den  Zwangstrieben,  welche  subjectiv  nicht  als  Tra'iJoc:  empfunden  werden  und 
zugleich  social  indifferent  sind.  Hierzu  gehören  ferner  viele  Fälle  von  Dipso- 
manie, wenn  die  Betreffenden  sich  mit  ihrem  krankhaften  Trieb  abfinden 
und  gleichzeitig  durch  ihre  periodische  Trunksucht  vermöge  ilii'er  socialen 
Situation  nicht  stören.  Allerdings'  kann  man  hierbei  gerade  sehen,  wie  sehr 
es  bei  der  socialen  Beurtheilung  dieser  Dinge  auf  die  Umgebung  ankommt. 
Mancher  Dipsomane  kommt  überhaupt  nur  deshalb  wenig  zur  Kenntnis  seiner 
Mitmenschen,  weil  seine  verständige  Frau  das  „Laster"  gut  vor  den  Menschen 
zu  verstecken  weiss.  Hieher  gehören  sodann  viele  Fälle  von  perverser  Sexua- 
lität. Wenn  z.  B.  ein  Mann  durch  den  Anblick  von  nackten  Männern 
wollüstig  erregt  wird,  ohne  dass  er  den  Trieb  zur  Paederastie  hat  oder  ihn 
nicht  ausübt  und  wenn  er  zur  Befriedigung  dieses  Gelüstes  Handlungen  begeht, 
die  jedem  Manne  erlaubt  sind,  z.  B.  Badeanstalten  besucht,  so  ist  er  in  socialer 
Beziehung  ganz  indifferent,  während  er  psychopathologisch  völlig  auf  gleicher 
Stufe  mit  einem  sexuell  Perversen  steht,  dessen  Handlungen  criminell  werden. 
So  gibt  es  eine  grosse  Menge  von  Fällen,  in  denen  gewisse  für  die  Mehrzahl  der 
Menschen  indifferente  Vorstellungen  mit  grossem  Wohlgefühl  betont  werden 
und  bei  denen  zugleich  zufällig  jede  Criminalität  fehlt. 


364  DEMENTIA. 

Körperliche  D  ege n er ationsz  eichen  in  dem  Sinne,  dass  aus  ihrem 
Vorhandensein  der  degenerative  Charakter  einer  Psychose  erkannt  werden  könnte, 
gibt  es  nicht.  Die  sogenannten  Degenerationszeichen,  sofern  sie  nicht 
Zeichen  einer  Cerebralerki^ankung  sind,  gehören  in  die  Morphologie,  nicht  in 
die  Psychiatrie.  ")  eobeet  sommer. 

Dementia  (Blödsinn).  Unter  Dementia  verstehen  v^ir  alle  Zustände  von 
hochgradiger  Ahschwächung  der  Intelligenz  mit  nicht  hervortretender  Wahn- 
bildung, welche,  im  Gegensatz  zum  Idiotismus,  nicht  angeboren,  sondern  er- 
worben sind. 

Aetiologie  und  Pathogenese  der  Dementia  zeigen  eine  grosse  Mannig- 
faltigkeit. Dieselbe  ist  organisch  bedingt,  oder  nur  functionell.  Die  orga- 
nische Dementia  tritt  primär  auf  bei  den  verschiedensten  chronischen  Ge- 
hirnerki'ankungen,  sowie  nach  Gehirntraumen,  nach  andauernden  intellectuellen 
und  mechanischen  Gehirnüberreizungen,  nach  habituellen  geschlechtlichen  Ex- 
cessen  und  Onanie,  nach  chronischer  alkoholischer  oder  anderer  Intoxication, 
nach  mancherlei  erschöpfenden  körperlichen  Erkrankungen,  secundär  nach 
nicht  zur  Genesung  tendirenden  einfachen  Psychosen  (namentlich  Melancholie 
und  Manie),  nach  Epilepsie  und  Hysterie.  Die  functionelle  Dementia 
kann  sich  nach  erschöpfenden  fieberhaften  Erkrankungen,  im  Puerperium  und 
nach  tiefen  Gemüths  eindrücken  entwickeln. 

Die  Dementia  zeigt  eine  total  verschiedene  Entwicklung,  sowie  einen 
ganz  anderen  Verlauf,  je  nachdem  sie  acut  oder  chronisch  in  die  Erscheinung 
tritt. 

Die  Dementia  acuta,  welche  sich  in  der  P^egel  primär  entwickelt, 
stellt  einen  acuten  Erschöpfungszustand  des  Gehirns  dar  nach  ernsten 
consumirenden  Fieberzuständen  (Typhus,  Variola,  Erysipelas),  nach  schweren, 
mit  starken  Blutverlusten  verbundenen  Geburten,  seltener  nach  anderen  er- 
schöpfenden Einflüssen,  wie  geistigen  Ueberanstrengungen  oder  intensiven 
Gemüthsbewegungen,  namentlich  wälirend  der  Pubertätsentwicklung. 

Zumeist  handelt  es  sich  hier  um  Lähmung  des  psychischen  Centralorganes 
infolge  von  functioneller  Ueberreizung  oder  mangelhafter  Ernährung.  Bei 
schweren,  nach  Typhus  und  Variola  eingetretenen  Fällen  scheinen  sich  aber 
auch  zuweilen  —  nach  neueren  Untersuchungen  —  gröbere  pathologisch-anato- 
mische Veränderungen  (degenerative  Vorgänge)  in  den  Ganglienzellen  zu  ent- 
wickeln. 

Krankheitsbild.  Die  Dementia  acuta  kann  sich  an  Fieber-  und  Collaps- 
delirien  anschliessen,  aber  auch  ganz  plötzlich  und  unvermittelt  ohne  alle 
auffallenden  Vorboten  hervortreten. 

Der  Kranke  wird  rasch  in  solchem  Grade  verwirrt,  dass  er  die  Umgebung  und 
die  nächsten  Angehörigen  verkennt,  keine  verständige  Auskunft  melu-  zu  geben 
vermag,  sowie  jedes  Interesse  für  die  Aussenwelt  verliert.  Während  er  auf 
Anfragen  nicht  mehr  in  verständiger  Weise  zu  reagiren  vermag,  kann  er 
zusammenhangslose,  abgebrochene  Sätze  oder  einzelne  Worte  reproduciren, 
Fixirte  Wahnvorstellungen  sind  nicht  zugegen,  wenn  auch  mitunter  abrupte 
Aeusserungen  mancherlei  unklare  und  rasch  wieder  untertauchende  krankhafte 
Ideen  zum  Inhalte  haben  können.  Ein  vages  und  dunkles  Krankheitsgefühl 
kann  wohl  auch  zu  der  Aeusserung  fühi^en,  „den  Verstand  verloren  zu  haben, 
verrückt  geworden  zu  sein, "  Die  Stimmung  ist  mannigfachem  Wechsel  unter- 
worfen. 

Die  acute  Dementia  kann  eine  stupide  oder  eine  agitu'te  Form  annehmen. 

Bei  herrschender  Stupidität  sind  die  Kranken  apathisch  und  absolut 
passiv.     Sie   müssen   aus-    und    angekleidet,    gereinigt,    oft    auch    gefüttert 


*)  cfr.  Magnan,  psychiatrische  Vorlesungen  IV/V.,  p. 


DEMENTIA.  365 

werden  und  setzen  äusseren  Einwirkungen  nur  selten  einen  weinerliclien  Wider- 
stand entgegen.  In  den  schwersten  Fällen  sind  sie  abuliscli  und  reactionslos, 
sie  liegen  dann  regungslos  mit  stupiden  und  schlaffen  Gliedmassen  zu  Bette, 
äussern  kein  Wort  und  bedürfen  der  gleichen  Fürsorge  wie  kleine  Kinder. 
Es  handelt  sich  hier  um  einen  tiefen  geistigen  Dämmerzustand,  welcher  aber 
niemals  bis  zur  Stufe  der  vollen  Perceptionslosigkeit  herabsinkt. 

Mitunter  nimmt  auch  die  stupide  Dementia  einen  atonischen  Cha- 
rakter an,  namentlich  wenn  sie  infolge  intensiver  Gemüthsaffecte  sich  eingestellt 
hat.  Sie  kann  dann  durch  hypochondi'ische  Grübeleien  oder  durch  neura- 
sthenische  Erscheinungen  eingeleitet  werden,  oder  ohne  Vorboten  auftauchen. 

Es  stellt  sich  zuweilen  nach  kurzdauernder  Erregung  eine  ängstliche 
Befangenheit  ein,  welche  rasch  zu  einem  tief  benommenen  Zustande  führt.  Nun 
bekundet  sich  eine  lebhafte  Antheilnahme  des  vasomotorischen  Systems  in 
„Rasch's"  zum  Kopfe,  beschleunigtem  Pulse  mit  Ueberwiegen  der  Carotiden- 
thätigkeit  bei  nicht  selten  erhöhter  Temperatur  und  kühlen  röthlich-blauen 
Händen.  Bald  kommen  atonische  Erscheinungen:  Offenhalten  des  Mundes, 
Ausstrecken  der  Arme  und  Beine,  Starre  der  ganzen  Musculatur.  Die  Reflex- 
thätigkeit  tritt  zurück,  während  die  mechanische  Erregbarkeit  der  Muskeln  er- 
höht wird.  Die  Glieder  sind  aber  nicht  rigide  und  geben  passiven  Bewegungen 
leicht  nach.  Jede  angenommene  Lage  zeigt  Behan'ung.  Es  besteht  eine  voll- 
ständige geistige  Ptegungslosigkeit,  Mangel  jeder  Initiative,  schlaffe  ausdrucks- 
lose Gesichtsmaske  mit  fast  beständigem  Lidschlusse.  Der  geistige  Percep- 
tionsschluss  kann  hier  ein  vollständiger  werden. 

Im  weiteren  Verlaufe  der  stupiden  Demenz  fällt  die  Temperatur  oft  unter 
die  Norm,  die  Athmung  wird  oberflächlich,  der  Puls  klein  und  verlangsamt. 
Die  Pupillen  sind  zumeist  weit  und  reagiren  träge.  Es  entsteht  Cyanose 
und  Oedem  der  unteren  Extremitäten.  Bei  ungenügendem  Schlafe,  hartnäckiger 
Obstipation  und  cessirender  Menstruation  sinkt  das  Körpergewicht  mehr  oder 
weniger  erheblich. 

Die  Erkrankung  bleibt  Wochen  bis  Monate  auf  ihrer  Höhe,  um  dann  einen 
günstigen  oder  ungünstigen  Verlauf  zu  nehmen.  In  ersterem  Falle  stellt  sich 
die  Besserung  nur  sehr  allmälig  ein.  Während  wieder  in  langsam  zuneh- 
mendem Grade  Muskelactionen  ausgeführt  werden  können,  hellt  sich  das 
Bewusstsein  schrittweise  auf,  kommen  nach  und  nach  wieder  verständliche 
Aeusserungen.  Der  Puls  wird  entwickelter,  die  periphere  Cyanose  tritt  zurück, 
die  Ernährung  hebt  sich.  Nach  sehr  langsamer  Pieconvalescenz  tritt  endlich 
Genesung  ein. 

In  ungünstigen  Fällen  geht  die  acute  in  chronische  Demenz  über.  Diese 
zeigt  entweder  grössere  Belebtheit  und  geistige  Ptegsamkeit  bei  gleichzeitiger 
x4.mnesie  für  alle  seit  dem  Stuporeintritt  vorgekommenen  Erlebnisse,  oder  aber 
es  bleibt  eine  chronische  Stupidität  bestehen,  eine  Art  geistigen  Dämmerlebens, 
in  welchem  der  Kranke  für  Nichts  mehr  Sinn  hat,  oder  endlich  es  tritt  eine 
partielle  Rückbildung  bis  zur  Stufe  des  Schwachsinns  ein. 

Bei  der  agitirten  Form  der  Dementia  acuta  zeigen  die  Kranken  eine 
läppische,  triebartige  Erregtheit.  Sie  entkleiden  sich,  laufen  und  kiiechen 
umher,  oder  suchen  in  der  albernsten  Weise  zu  entweichen.  Sie  arbeiten  sinn- 
los an  ihren  Kleidungs-  und  Bettstücken  herum,  wühlen  in  der  Erde,  klatschen 
mit  den  Händen.  Sie  machen  ohne  Furcht  vor  Gefahr  die  waghalsigsten  Exer- 
citien.  Sie  stecken  Alles,  was  ihnen  in  die  Hände  kommt,  in  die  Taschen, 
sie  verzehren  ohne  Sättigungsgefühl  alle  erreichbaren  Nahrungsmittel.  Sie  lachen 
oft  plötzlich  und  ganz  unmotivirt  laut  auf  und  ergehen  sich  in  oftmaliger 
Wiederholung  der  gleichen  unzusammenhängenden  Worte  und  Sätze,  um  an 
anderen  Tagen  ein  vollkommen  schweigsames  Verhalten  zu  zeigen. 

Auch  diese  Form  kann,  und  zwar  zumeist  durch  ein  Stadium  der  Moria 
hindiuTh,  mit  langsam  zunehmender  geistiger  Aufliellung  in  Genesung  über- 


366  DEMENTIA. 

gehen ;  eben  so  oft  aber  aucli,  namentlich  bei  zugrunde  liegender  Onanie,  zu 
dauernder  blödsinniger  Abstumpfung  führen. 

Die  chronische  Dementia  stellt  sich  als  eine  dauernde  hoch- 
gradige Abnahme  der  geistigen  Leistungsfähigkeit  dar,  und  zwar 
in  den  verschiedensten  Abstufungen  nach  abwärts  bis  zum  gänzlichen  Ausfall, 
resp.  Stillstand  der  psychischen  Functionen.  Sie  kann  sich  primär  nach  den 
eingangs  angegebenen  Schädlichkeiten  oder  secundär  namentlich  nach  nicht 
geheilten  Psychosen  (besonders  nach  Manie  und  Melancholie)  entwickeln. 

Symptomatologie.  Den  Grundzug  der  chronischen  Dementia  bildet 
eine  mehr  oder  minder  tiefe  Abschwächung  aller  Seelenfunctionen, 
welch'  letztere  bald  gleichmässig,  bald  verschiedenartig  betroffen  sind. 

U  r  t  h  e  il  und  Auffassung  sind  mehr  oder  minder  hochgradig  geschwächt, 
oft  bis  zu  dem  Grade,  dass  keine  Perception  mehr  klar  und  richtig  erfolgt 
und  sell)st  geläufige  Denkoperationeu  geschädigt  oder  aufgehoben  sind.  Die 
einfachsten  Begriffe  gehen  verloren  und  schliesslich  bilden  nur  noch  Trümmer 
bunt  zusammengewlü'felter  Yorstellungsmassen  den  Inhalt  des  Bewusstseins. 
Die  Associationen  werden  defect  und  entbehren  jeder  Logik, 

Das  Gedächtnis  hat  zumeist  in  gleichem  Grade  gelitten,  kann  aber 
auch  für  gewisse  Lebensabschnitte  oder  einzelne  Wissensgebiete  (z.  B.  Rechnen) 
in  contrastierender  Schärfe  erhalten  bleiben.  Die  Rede  ist  unzusammenhängend 
und  ergeht  sich  in  monotonen  Gemeinplätzen,  wobei  unter  Umständen  manche 
geistige  Richtungen  noch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  beherrscht  werden 
können.  Viele  Kranke  reden  gar  nicht,  oder  antworten  nur  auf  Suggestiv- 
fragen mit  einem,  oft  durchaus  nicht  zutreffenden,  „ja"  oder  „nein".  An- 
dere wiederholen  einfach  die  an  sie  gerichtete  Frage  (Echolalie).  Wieder  An- 
dere sprechen  nur  in  der  Infinitivform  des  Zeitwortes  oder  von  sich  in  der 
dritten  Person.  Der  Inhalt  der  Rede  kann  sich  auf  die  banalsten  Phrasen 
beschränken  oder  auch  abgeblasste  Reste  früher  gehegter  Wahnvorstellungen 
zum  Ausdruck  bringen.  Je  tiefer  der  Blödsinn,  desto  weniger  zusammen- 
hängend sind  die  sprachlichen  Entäusserungen. 

Die  Stimmung  ist  theilnahmslos,  apathisch.  Die  Apathie  nimmt  mit 
dem  Fortschritt  des  Blödsinns  zu  und  endet  in  den  höchsten  Graden  mit  ab- 
soluter Gleichgiltigkeit.  An  Stelle  der  altruistischen  Gefühle  tritt  der  niederste 
Egoismus.  Sogar  dieser  kann  schliesslich  schwinden,  so  dass  die  Kranken  für 
Hunger  und  Durst,  für  Wärme  und  Kälte  unempfindlich  werden.  Bei  manchen 
derselben  kann  aber  auch  die  eine  oder  andere  Richtung  des  Gemüthslebens 
auffallend  lang  erhalten  bleiben  z.  B.  die  Pietät,  bestimmte  Liebhabereien  ;  aber 
auch  die  letzteren  werden  immer  mehr  mechanisch  und  unklar.  Andere 
wechseln  zwischen  freundlichem  Wesen  und  Gereiztheit  mit  lebhaften  Zorn- 
ausbrüchen oder  gerathen  von  Zeit  zu  Zeit  in  vage  Angstzustände  mit  Raptus 
von  Gewaltthätigkeit  gegen  sich  oder  Andere. 

Das  Begehren  kann  auf  die  niedersten  sinnlichen  Triebe  sich  be- 
schränken, auf  unersättliche  Gefrässigkeit,  bis  zum  Verzehren  von  Koth  und 
Urin,  schamlose  Masturbation,  päderastische  Gelüste.  Nicht  ganz  selten  macht 
sich  ein  zwangsmässiger  Trieb  zum  Stehlen  oder  zum  Brandstiften  geltend. 
Bei  eingehenderer  Betraclitung  treffen  wir  bei  der  Dementia  die  verschieden- 
artigsten Krankheitsbilder ;  alle  lassen  sich  aber  auf  2  Haupttypen,  die  apa- 
thische und  die  versatile  Form,  zurückführen. 

Bei  der  apathischen  Dementia  überwiegt  die  allgemeine  Passivität 
und  Reactionslosigkeit,  mitunter  mit  Mutacismus  verbunden.  Die  Kranken 
stehen  oder  kauern  oft  Tage  lang  an  derselben  Stelle,  halten  die  angenommene 
Lage  krampfliaft  fest  und  lassen  sich  nur  widerwillig  in  Bewegung  setzen. 
Sie  sind  zu  keiner  Thätigkeit  oder  Entäusserung  zu  vermögen.  Viele  lassen 
Stuhl  und  Urin  unter  sich  gehen. 


DEMENTL\.  367 

Bei  der  versatilen  Form  lierrsclit  eine  planlose  Unruhe,  eine  un- 
geordnete psycho-niotorisclie  Aufregung,  in  ^Yelcller  sich  die  l)löden  Willeus- 
äusserungen  der  Kranken  ohne  Ziel  und  Zweck  geltend  machen.  Ist  der  An- 
trieb nach  einer  bestimmten  Richtung  hin  häufig  wiederholt  worden,  so  wii'd 
derselbe  leicht  fixirt.  So  entstehen  eigenthümliche  automatische  Acte,  Avie 
stundenlang  fortgesetztes  einförmiges  Hin-  und  Herrennen  in  einem  genau 
bestimmten  Wegstücke  oder  im  Kreise,  bestimmte  Körperbewegungen,  wie 
Falten  der  Hände,  Niederkauern  u.  dgl.  m.  Ein  Versuch,  die  Kranken  zu 
hemmen,  kann,  ebenso  wie  bei  den  Apathischen  die  Aufmunterung,  leicht  Paro- 
xysmen  von  Gereiztheit  bis  zu  massloser  Heftigkeit  heraufbeschwören. 

Körperliche  Begleiterscheinungen:  Die  allgemeinen  Aende- 
rungen  des  motorischen  Verhaltens  liegen  im  psychischen  Gebiete  der  Moti- 
lität und  kennzeichnen  sich  als  Störungen  der  Mimik  und  Physiognomik,  der 
Haltung  und  der  willkürlichen  Bewegungen.  Die  Gesichtszüge  sind  stumpf 
und  geistlos  oder  verzerrt,  die  mimischen  Bewegungen  erfolgen  träge  und 
langsam,  oder  ungeregelt  und  choreaartig  überstürzt.  Die  Kopfhaltung  ist 
in  der  Piegel  schlaff;  der  Blick  bald  blöde  hinstaunend,  bald  anhaltend  auf 
den  Boden  gerichtet,  bald  neugierig  umhergaffencl.  Die  Augenlider  sind  oft 
geschlossen.  Der  meist  geöffnete  Mund  ergiesst  überreichen  dünnen  Speichel. 
Die  Körperhaltung  ist  bei  den  apathischen  Kranken  vornübergebeugt,  bei 
Manchen  steif.  Zuweilen  besteht  eine  gesteigerte  Pteflexerregbarkeit  der  Planta 
pedis  mit  klonischem  Ki-ampfe  des  Fusses,  sobald  derselbe  auf  den  Boden  gesetzt 
wii'd.  Die  Körperobeiüäche  ist  gewöhnlich  pastös,  gedunsen  und  fettreich. 
Später  kann  auch  die  Haut  eine  pigmentartige  DüiTe  zeigen  und  sich  reichlich 
abschuppen.  Oft  besteht  vasomotorische  Lähmung  mit  Kälte,  Cyanose  und 
Oedem  der  Extremitäten.  Der  Puls  ist  zuweilen  auffallend  veränderlich.  Die 
Haut-Sensibilität  erweist  sich  in  den  höheren  Graden  der  Dementia  stets 
abgestumpft,  uamentlich  die  Schmerzempfindlichkeit.  Die  Sensibilität  kann 
auch  periodisch  und  partiell  aufgehoben  sein. 

Der  Krankheit  SV  erlauf  gestaltet  sich  verschiedenartig.  Im  All- 
gemeinen geht  der  Blödsinn  langsam  zu  immer  tieferen  Stufen  abwärts.  In 
manchen  Fällen  hält  sich  der  Zustand  ziemlich  stationär ;  nicht  selten  aber 
zeigt  er  periodische  Aenderungen  zwischen  tieferer  Torpidität  und  grösserer 
Belebtheit  oder  Wechsel  zwischen  stumpfsinnigen  und  manisch  erregten  Perio- 
den. Zuweilen  beobachtet  man  aber  auch  erfi'euliche  Besserungen,  in  welchen 
das  Interesse  innerhalb  beschränkter  Grenzen  wieder  erwacht,  der  Ki'anke 
etwas  zugängiger  und  theilnehmender  wird  und  wieder  etwas  beschäftigt  werden 
kann.  Leider  aber  folgen  auf  solche  Besserungen  nur  allzu  häufig  Piückfälle 
in  den  Stumpfsinn. 

Die  pathologische  Anatomie  ergibt  bei  der  acuten  Demenz,  bei 
der  es  sich  in  der  grösseren  Zahl  der  Fälle  um  functionelle  Störungen  zu 
handeln  scheint,  zumeist  einen  negativen  Befund.  Bei  der  clu-onischen  Demenz 
finden  wir  Atrophie  der  Windungen  des  Vorderhirns  bald  geringeren,  bald 
höheren  Grades  infolge  degenerativer  Veränderungen  des  Gewebes. 

Die  Therapie  der  Dementia  hat  wichtige  symptomatische  Aufgaben  zu 
erfüllen.  Bei  der  acuten  Erkrankung  ist  Bettruhe  zu  empfehlen,  weiter 
Sorge  für  genügende  Eruälu'ung,  für  Pteinlichkeit,  für  Pflege  der  Haut  durch 
Bäder.  Bei  wieder  beginnender  Pieactionsfähigkeit  muss  dieselbe  -—  aber  in 
der  schonendsten  und  vorsichtigsten  Weise  —  gefördert  werden.  Die  wieder 
erwachende  geringe  geistige  Kraft  muss  methodisch  geübt  werden.  Es  handelt 
sich  um  eine  förmliche  Ptückerziehung.  Bei  gesteigerter  Reizbarkeit  erweisen 
sich  kleine  Dosen  von  Opium  nützlich.  Weiter  verordnet  man  Roborantieu, 
China  und  Malz-Extract  und  reichlichen  Aufenthalt  im  Freien.  Leichte  me- 
chanische Beschäftigung  unter  sorgsamster  ärztlicher  Ueberwachung  fördert 
sehr  die  Kräftigung  des  Gehirns. 


368 


DEMENTIA  PARALYTICA. 


Bei  der  chrouisclien  Dementia  vermag  eine  rationelle  mid  humane 
Behandlung  in  der  Irrenanstalt  viel  zu  leisten  durch  Erhaltung  und  Hebung 
der  Beste  der  noch  vorhandenen  geistigen  Kraft,  sowie  durch  richtige  Ver- 
werthung  der  schlummernden.  Die  systematische  psychische  Leitung  muss  vor- 
Allem  auf  eine  anregende  Beschäftigung  bedacht  sein.  Sie  muss  unterstützt 
werden  durch  Erfüllung  aller  hygienischen  Anforderungen,  vor  Allem  durch 
die  Gewährung  einer  kräftigen,  aber  reizlosen  Kost,  sowie  einer  gesunden 
Luft.  S  0  können  auch  bei  diesen  verzweifelten  Fällen  noch  manche  relative 
Erfolge  erzielt  werden.  kirn". 

Dementia  paralytica.  Die  Dementia  paralytica  ist  eine  chronische 
progressive  Geistesstörung.  Die  wesentlichsten  Symptome  derselben 
bestehen  einerseits  in  einem  allmälig  eintretenden  und  bis  zu  den  höchsten 
Graden  fortschreitenden  Blödsinn,  anderseits  in  schweren  Störungen 
von  Seite  des  Nervensystems,  vorwiegend  auf  motorischem  Gebiete.  Das  ana- 
tomische Substrat  der  Erkrankung  sind  diffuse  chronisch-entzündliche  und 
degenerative  Processe  im  Gehirn,  die  zu  einer  Atrophie  des  ganzen  Gehirns 
mit  vorwiegender  Betheiligung  der  Grosshirnhemisphären  führen.  Der  Aus- 
gang der  Dementia  paralytica  ist  fast  ausnahmslos  der  Tod  ;  die  Dauer  der  Er- 
krankung beträgt  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  zwischen  1—3  Jahren. 

Die  Dementia  paralytica  ist  eine  der  häufigsten  Geisteskrankheiten.  Unter 
14923  Geisteskranken,  welche  im  Jahre  1889  in  den  österreichischen  Irrenanstalten  be- 
handelt wurden,  befanden  sich  1642  Paralytiker,  d,  i.  ll°lo.  Ihre  Häufigkeit  ist  am  grössten 
in  grossen  Städten  und  industriellen  Bezirken,  am  geringsten  unter  der  ländlichen  Bevöl- 
kerung. So  zählte  die  Irrenanstalt  in  Wien  im  Jahre  1889  unter  1683  Geisteskranken  320  = 
197o  Paralytiker,  die  tirolischen  Landesirrenanstalten  dagegen  unter  773  Geisteskranken 
nur   38=4-57„  Paralytiker. 

Die  Dementia  paralytica  ist  eine  Erkrankung  eines  bestimmten 
Lebensalters  und  zwar  wird  gerade  das  Alter  der  vollen  Manneskraft 
vorwiegend  befallen  ;  zwischen  dem  35. — 55.  Lebensjahre  stehen  ihre  meisten 
Opfer.  Von  den  1642  Paralytikern,  welche  1889  in  Oesterreichs  LTcnanstalten 
behandelt  wurden,  standen  1239  in  diesem  Alter;  vor  dem  30.  Jahre  kommt 
die  Erkrankung  nur  äusserst  selten  vor;  nach  dem  60.  Jahre  wird  die  De- 
mentia paralytica  von  der  Dementia  senilis  abgelöst. 

Die  Dementia  paralytica  ist  ferner  vorwiegend  eine  Erkrankung  des 
männlichen  Geschlechtes.  Von  den  oben  erwähnten  1642  Kranken 
waren  1271  Männer,  371  Frauen.  Noch  auffallender  ist  die  Differenz,  wenn 
wir  nur  die  höheren  Stände  berücksichtigen.  In  Oesterreichs  Privatirren- 
anstalten wurden  z.  B.  1889  behandelt:  91  männliche  und  3  weibliche  Indi- 
viduen. 

In  der  Aetiologie  der  Dementia  paralytica  spielt  die  erste  Rolle  die 
Syphilis.  Es  ist  dieser  Zusammenhang,  ähnlich  wie  bei  der  Tabes,  zunächst  nur 
auf  statistischem  Wege  erhoben.  Der  Percentsatz  der  Paralytiker,  welche  fi^üher 
syphilitisch  inficirt  waren,  ist  zwar  je  nach  den  Angaben  verschiedener  Beob- 
achter ein  sehr  wechselnder,  aber  immer  ein  sehr  hoher  (bis  zu  95%),  den 
Percentsatz  der  Syphilitischen  unter  den  nicht  paralytischen  Individuen  des- 
selben Alters  und  Geschlechtes  weitaus  überragend.  Die  Dementia  paralytica 
tritt  fast  nie  in  der  ersten  Zeit  nach  stattgehabter  syphilitischer  Infection  auf. 
sondern  erst  Jahre,  ja  meist  erst  Jahrzehnte  später ;  sie  folgt  besonders  häufig 
in  solchen  Fällen,  in  denen  die  secundären  Erscheinungen  der  Lues  gering- 
fügig waren,  oft  so,  dass  sie  übersehen  wurden,  und  in  Folge  dessen  auch  keine 
oder  doch  nur  wenig  energische  antiluetische  Behandlung  eingeleitet  wurde. 
Doch  ist  die  Paralyse  nicht  direct  eine  syphilitische  Erkrankung 
des  Nervensystems;  dagegen  spricht  erstens  der  Umstand,  dass  es  zweifellos 
viele  Fälle  von  Paralyse  gibt,  in  denen  Syphilis  nicht  vorausgegangen  war; 
es  spricht  ferner  dagegen,  dass  die  anatomischen  Veränderungen,  welche  der 


DEMENTIA  PARALYTICA.  369 

Dementia  paralytica  zu  Grunde  liegen,  nicht  den  Charakter  syphilitischer 
Producte  haben  und  sieh  von  den  bei  wirklicher  Hirnsyphilis  vorgefundenen 
wesentlich  unterscheiden.  Es  spricht  gegen  einen  directen  Zusammenhang 
endlich  auch  noch  die  Unwirksamkeit  antiluetischer  Curen  bei  Dementia 
paralytica. 

Man  nimmt  daher  vielfa ch  an,  dass  die  Syphilis  n  u  r  e  i  n  e  P  r  a  e  d  i  s- 
position  für  die  Erkrankung  an  Dementia  paralytica  schafit ;  oder  mau  denkt 
mit  Strümpell  an  die  Möglichkeit,  dass  die  Syphilis  in  einem  ähnlichen  Ver- 
hältnisse zur  Dementia  paralytica  stehen  könnte,  wie  die  Diphtheritis  zu  den 
postdiphtheritischen  Lähmungen,  dass  also  die  praesumirten  Syphilisbacillen  in 
den  späteren  Perioden  der  Erkrankung  toxische  Stoffe  bilden,  welche  deletär 
auf  das  Gehirn  wirken. 

Nach  der  Syphilis  ist  unter  den  ätiologischen  Momenten  in  erster  Linie 
zu  stellen  die  functionelle  Ueberanstrengung  des  Gehirns.  Intellec- 
tuelle  Anstrengungen  allein,  wie  sie  etwa  die  Arbeit  des  Gelehrten  mit  sich 
bringt,  sind  dabei  weniger  wirksam,  als  intensive  geistige  Arbeit,  verbunden 
mit  heftigen  Gemüthsbewegungen  und  Aufregungen,  sowie  mit  körperlicher 
Ueberanstrengung  und  Excessen.  Deletär  wirkt  auch  der  Mangel  an  Ptuhepausen 
für  das  arbeitende  Gehirn,  da  bei  der  überhasteten  Genusssucht  unseres 
Zeitalters  die  Erholung  selbst  zur  Anstrengung  wird.  Es  erklärt  sich  daher 
die  Häufigkeit  der  progressiven  Paralyse  bei  gewissen  Berufsclassen,  so  z.  B. 
bei  Kaufleuten  und  Börsenmännern,  hei  Künstlern,  Officieren,  Seeleuten  etc. 

Es  scheint,  dass  auch  eine  gewisse  Einförmigkeit  angestrengter,  mit  unab- 
lässiger Anspannung  der  Aufmerksamkeit  verbundener  psychischer  Leistungen, 
bei  der  fortwährend  dieselben  wenigen  Hirnelemente  in  Anspruch  genommen 
werden,  schädlich  wirkt ;  es  würde  sich  so  erklären  lassen  die  Häufigkeit 
der  Dementia  paralytica  bei  manchen  Berufen,  z.  B.  Rechnungsbeamten  und 
Comptoiristen,  Telegraphisten,  Berufsmusikern  etc. 

Von  weiteren  ätiologischen  Momenten  ist  noch  hervorzuheben  der 
Älcoholmisshrauch,  das  Schädeltrauma,  die  chronische  Bleivergiftung,  der  Miss- 
hrauch  des  Tabaks  und  die  Einwirkung  strahlender  Wärme  auf  den  Kopf. 

Die  Anschauungen  der  Autoren  über  die  Beziehung  des  Alkohol- 
missbrauchs zur  Dementia  paralytica  sind  noch  nicht  vollständig  ge- 
klärt; es  kann  darüber  gestritten  werden,  ob  man  die  Alcoholparalyse  als  eine 
Erkrankung  sui  generis  auffassen  soll  oder  als  eine  Dementia  paralytica,  die 
nur  in  Folge  complicirender  Erscheinungen  des  Alcoholismus  chronicus  ein 
abweichendes  Bild  darbietet.  Sicher  ist,  dass  sich  auf  dem  Boden  langdauernden 
Alcoholmissbrauchs  Krankheitsbilder  entwickeln  können,  die  klinisch  und  ana- 
tomisch die  grösste  Aehnlichkeit  mit  Dementia  paralytica  haben. 

Manchmal  schliessen  sich  an  schwere  Schädeltraumen  Krankheits- 
zustände  an,  die  durch  ein  oft  jahrelanges  Prodromalstadium  mit  wenig  charak- 
teristischen nervösen  und  psychischen  Symptomen  schliesslich  in  manifeste 
Dementia  paralytica  übergehen.  Li  anderen  Fällen  scheint  das  Schädeltrauma, 
ähnlich  der  Syphilis,  nur  einen  prädisponirenden  Einfluss  zu  haben. 

Calorische  Schädlichkeiten  endlich  müssen  herangezogen  werden, 
um  die  Häufigkeit  der  Paralyse  bei  Feuer  arbeiten!,  Köchinnen  etc.  zu  erklären. 

Eine  auffallend  geringe  Rolle  spielt  in  der  Aetiologie  der  Dementia  para- 
lytica die  Heredität,  wie  man  vielfach  annimmt,  weil  die  hereditär  Veran- 
lagten viel  weniger  als  die  Träger  leistungsfähiger  Gehh^ne  der  Hauptursache 
der  Dementia  paralytica,  der  functionellen  Ueberanstrengung  unterliegen,  oder, 
wenn  sie  sich  ihr  aussetzen,  viel  früher  geistig  erki'anken,  in  einem  Alter,  dem 
die  Dementia  paralytica  noch  fremd  ist.  Geschützt  sind  natürlich  auch  die 
Hereditarier  keineswegs  gegen  die  Dementia  paralytica,  und  wenn  die  here- 
ditäre Veranlagung  zwar  auf  die  Entstehung  der  Dementia  paralytica  keinen 

Bibl.  med.  Wissenschaften.'  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  « 


370  DEMENTIA     PARALYTICA. 

wesentlichen  Einfluss  hat,  so  übt  sie  ei  nen  solchen  doch  aus  auf  den  Verlauf 
derselben. 

Krankheitsbild  und  Siinptoiiie.  Die  in  allen  Fällen  von  Dementia  para- 
lytica  gemeinsame,  nie  fehlende  Störung  der  psychischen  Sphäre  ist  der 
fortschreitende  Blödsinn,  und  es  gibt  zahlreiche  Fälle,  welche  während 
der  ganzen  Dauer  der  Erkrankung  anderweitige  psychische  Störungen  nicht 
aufweisen.  In  einer  anderen  grossen  Eeihe  von  Fällen  treten  aber  zu  dem 
Blödsinn  Symptomenbilder  psychischer  Störung  hinzu,  die  mit  den  auch  als 
selbständige  Krankheitsbilder  auftretenden  Formen  der  Manie  und  Melancholie, 
zum  Theile  auch  der  Amentia,  grosse  Aehnlichkeit  haben  und  gleichzeitig  eben 
durch  den  hindurchleuchtenden  Blödsinn  eine  charakteristische  Färbung  be- 
kommen. 

Man  pflegt  diese  beiden  Varietäten  der  Dementia  paralytica  wohl  auch 
mit  den  Terminis  .,])aralijtisclier  Blödsinn'-'  und  „parahjtische  Geistesstörung" 
zu  difierenziren.  Die  erstere  Varietät  soll  zunächst  Gegenstand  der  Schil- 
derung sein. 

Dem  Ausbruche  der  Erkrankung  geht  oft  jahrelang  ein  Prodromal- 
stadium voraus,  dessen  Symptome  wechselnden  und  unbestimmten  Charakters 
höchstens  zur  Diagnose  Neurasthenie  berechtigen,  die  drohende  Gefahr  aber 
keineswegs  mit  Bestimmtheit  voraussehen  lassen.  In  der  psychischen  Sphäre 
ist  es  eine  gewisse  Unlust  zu  geistiger  Anstrengung  und  rasche  Ermüdung 
bei  derselben,  eine  hypochondrische  Verstimmung,  die  viele  Kranke  zu 
allerlei  Curversuchen  verleitet;  der  Schlaf  ist  oft  schon  frühe  gestört;  die 
Kranken  klagen  über  einen  andauernden  Kopfschmerz,  der  oft  als  ein  zu- 
sammenschnüi'ender  beschrieben  wird,  oder  es  sind  Symptome  von  Hirncon- 
gestion:  Schwindel,  Ohrensausen,  Funkensehen,  worüber  die  Kranken  klagen. 
Auch  rheumatoide  Schmerzen  wechselnden  Sitzes  in  den  Extremitäten  oder 
in  intercostalen  Bahnen  werden  oft  geklagt. 

Die  ersten  manifesten  Störungen,  welche  die  Krankheit  in  der  psychischen 
Sphäre  setzt,  betreifeu  die  Aufmerksamkeit,  das  Gedächtnis  und  die 
Stimmung.  Die  Kranken  werden  unfähig  zu  andauernder  ener- 
gischer Anspannung  der  Aufmerksamkeit,  sodass  äussere  Eindrücke 
oder  innere  Ideengänge  die  gewohnten,  durch  Uebung  gefestigten  Associationen 
nicht  oder  nur  unvollständig  wachrufen.  Die  Kranken  machen  infolge  dessen 
den  Eindruck  der  Zerstreutheit  und  ermüden  sehr  leicht  bei  jeder  gei- 
stigen Leistung. 

Die  Gedächtnisstörung  der  Paralytiker  betrifft  zuerst  die  Erwerbung 
neuer  Erinnerungsbilder,  so  dass  zunächst  die  Ereignisse  der  Jüngst- 
vergangenheit mangelhaft  reproducirt  werden,  während  die  früheren  Er- 
lebnisse noch  fester  im  Gedächtnisse  haften.  Es  mag  daran  auch  der  Mangel 
an  Aufmerksamkeit  Schuld  sein,  infolge  dessen  die  Erlebnisse  aus  der  Zeit 
seit  Beginn  der  Erkrankung  mit  geringerer  Intensität  in"s  Bewusstsein  treten 
und  daher  auch  weniger  fest  haften. 

Wichtiger  als  die  vorübergehende  Unfähigkeit,  einzelne  Erinnerungsbilder 
wachzurufen,  wie  sie  auch  in  der  Vergesslichkeit  normaler  Menschen  manchmal 
zutage  tritt,  ist  die  Constatirung  v  o  1 1  s  t  ä  n  d  i  g  e  r  G  e  d  ä  c  h  t  n  i  s  1  ü  c  k  e  n,  der 
dauernden  Unfähigkeit,  sich  an  einzelne  vor  Kurzem  vorgefallene  Erlel)nisse 
oder  Eindrücke  zu  erinnern.  So  kann  es  sein,  dass  sich  der  Kranke  un- 
mittelbar nachher  nicht  an  einen  Besuch,  eine  Mahlzeit  u.  dgl.  erinnert.  Aus- 
nahmsweise begreifen  solche  Gedächtnislücken  selbst  grössere  Zeitabschnitte 
in  sich,  so  dass  sich  z.  B.  der  Ehemann  nicht  erinnert,  dass  er  sich  ver- 
heiratet hat;  dass  ein  Domizilwechsel,  eine  Reise  vollständig  vergessen  wird. 
Infolge  der  Zerstreutheit  und  Gedächtnisschwäche  pas- 
sieren  den  Kranken   eine  Menge   von  Lapsus,    die   zum  Tlieil  recht 


DEMENTIA    PARALYTICA.  371 

charakteristisch  für  dieses  Leiden  sind.  Sie  unterlassen  z.  B.  aus  Mangel  an 
Aufmerksamkeit  einzelne  unter  gewissen  Verhältnissen  übliche  Handlungen: 
sie  gehen  unvollständig  gekleidet,  ohne  Hut,  ohne  Kock  auf  die  Gasse:  sie 
behalten  im  fremden  Hause,  in  der  Kirche  den  Hut  auf  dem  Kopfe;  sie  rauchen 
im  Theater,  befriedigen  ihre  Bedürfnisse  an  unpassenden  Orten  und  in  in- 
decenter  Weise;  sie  schreiben  Briefe  ohne  Adresse,  machen  früher  ungewohnte 
orthographische  und  Rechenfehler  in  Menge.  Es  ist  nicht  selten,  dass  sie 
aus  Mangel  an  Aufmerksamkeit  an  öffentlichen  Orten,  im  Theater,  in  einer 
Sitzung,  bei  einem  Diner  einschlafen.  Sie  wiederholen  sich  endlos  in  ihren 
Erzählungen,  ohne  es  zu  merken,  oder  verlieren  auch  plötzlich  vollständig 
den  Faden  einer  Erzählung;  sie  unterlassen  es,  im  Gasthause  ihre  Zeche  zu 
bezahlen,  oder  zahlen  sie  auch  zweimal;  sie  zahlen  einen  kleinen  Betrag  mit 
einer  grossen  Münze  oder  Note,  ohne  auf  das  Herausgeben  des  Restes  zu 
warten.  Die  Kranken  begehen  massenhaft  Fehler  in  der  örtlichen  und  zeit- 
lichen Orientirung,  kommen  zu  früh  oder  zu  spät,  halten  wichtige  Termine 
nicht  ein;  sie  localisiren  Erlebnisse  unrichtig  in  der  Vergangenheit.  Sie  ver- 
irren sich  in  bekannten  Strassen  und  finden  gelegentlich  nicht  einmal  ihre 
eigene  Wohnung,  oder  klingeln  ein  Stockwerk  zu  hoch  oder  zu  tief.  Die 
Berufsfähigkeit  des  Kranken  geht  meist  schon  in  diesem  Stadium  verloren, 
indem  er  die  wichtigsten  Verrichtungen  verabsäumt,  Geld,  wichtige  Actenstücke 
u.  dgl.  verlegt  und  verliert,  mit  seinen  Arbeiten  zu  spät  fertig  wird  oder  ihm 
sonst  ganz  geläufige  Leistungen  gar  nicht  mehr  zu  Stande  bringt. 

Sehr  früh  stellen  sich  Anomalien  der  Stimmung  ein;  einerseits  fällt 
die  Apathie  auf,  die  den  Kranken  gegenüber  den  wichtigsten  Interessen  unem- 
pfindlich erscheinen  lässt;  es  tritt  eine  Ahstunipfung  der  ethischen  und  ästhe- 
tischen Gefühle  ein,  infolge  deren  der  Kranke  nur  für  grob-sinnliche  Genüsse, 
Essen  und  Trinken,  empfänglich  ist,  während  er  für  Beruf  und  Familie,  Elu'e 
und  Anstand  gleichgiltig  wird.  Anderseits  zeigt  sich  eine  abnorme  Reizbarkeif, 
die  den  Kranken  bei  den  geringfügigsten  Anlässen  in  heftigsten  Zorn  gerathen 
lässt,  ja  zu  Thätlichkeiten  verleitet;  ebenso  rasch  als  sie  kamen,  sind  aber 
diese  Ausbrüche  vergessen  und  machen  wieder  der  gewohnten  Apathie  Platz. 
Auch  in  einer  früher  ungewohnten  Rührseligkeit  mit  Neigung  zum  Weinen 
nlacht  sich  diese  abnorme  Erregbarkeit  der  Gefühlssphäre  oft  geltend. 

Häufig  fehlt  den  Kranken  von  Vorneherein  jedes  Krankhei  tsbe  wu  sst  sein  und 
macht  sich  ihre  Apathie  und  ein  oft  früh  schon  nachweisbarer  Mangel  an  Kritik  geltend  in 
der  Gleichgiltigkeit,  mit  der  die  Kranken  die  beunruhigendsten  Verstösse  und  Lapsus  hin- 
nehmen oder  wohl  gar  mit  den  einfältigsten  Ausreden  zu  beschönigen  suchen.  Ausnahms- 
weise findet  sich  aber  wohl  noch  im  Anfangsstadium  ein  Krankheitsbewusstsein  und  selbst 
eine  gewisse  Krankheitseinsicht,  und  erklären  diese  Fälle  die  nicht  gar  zu  seltenen  Selbst- 
morde der  Paralytiker  im  Initial  Stadium.  Mit  diesem  wirklichen  Krankheitsbe- 
wusstsein ist  nicht  zu  verwechseln  das  wahnhafte  Krankheitsbewusstsein,  wie  es  in  der 
hypochondrischen  Form  der  Dementia  paralytica  zum  Ausdruck  kommt. 

Im  weiteren  Verlaufe  nehmen  alle  angeführten  Erscheinungen  an  Inten- 
sität zu,  es  beschränkt  sich  ferner  die  Gedächtnisstörung  nicht  bloss  auf  die 
Unfähigkeit  zur  Aufnahme  neuer  Erinnerungsbilder,  sondern  es  gehen  nach 
und  nach  auch  die  noch  in  gesunden  Tagen  erworbenen  Erin- 
nerungsbilder verloren,  um  so  leichter,  je  complicirter  sie  einerseits 
sind,  je  weniger  sie  anderseits  durch  frühen  Erwerb  und  unablässige  Wieder- 
holung gefestigt  sind. 

Auffallend  früh  geht  meistens  das  Zahlengedächtnis  verloren  und  die  Fähigkeit 
mit  Zahlengrössen  zu  operiren.  Infolge  dessen  kann  der  Kranke  die  einfachsten  Rechen- 
exempel  nicht  mehr  lösen ;  er  verliert  die  Beurtheilung  von  Geld  und  G  eldeswerth :  es  gellt 
die  zeitliche  Orientirung  verloren,  so  dass  der  Kranke  weder  Datum  nocli  Jahreszahl  weiss 
irnd  ausser  Stande  ist,  Ereignisse  in  der  Vergangenheit  richtig  zu  localisiren.  Schliesslich 
hat  der  Kranke  sein  Alter  und  seinen  Wohnort  vergessen,  er  weiss  die  Namen  seiner  Kinder 
nicht  mehr;  es  gehen  ihm  nach  und  nach  alle  die  Kenntnisse  und  Fähigkeiten- verloren, 
auf  denen  seine  Berufsthätigkeit  beruhte. 

2-4*  . 


372  DEMENTIA   PARÄLYTICA. 

Die  zimelimende  Verarmimg  des  geistigen  Lebens  beraubt  den  Kranken 
der  Fälligkeit,  an  der  Hand  der  Erfahrung  eine  Correctur  an  seinen  Vor- 
stellungen durchzuftihren:  es  macht  sich  ein  Mangel  an  Kritik  geltend, 
vermöge  dessen  der  Kranke  Alles  für  wahr  und  möglich  hält  und  nicht  im- 
stande ist,  Widersprüche  zwischen  seinen  Meinungen,  Wünschen  und  Be- 
fürchtungen und  der  Wirklichkeit  zu  erkennen.  Infolge  des  zunehmenden 
geistigen  Verfalls  ändert  sich  auch  der  Charakter  der  Kranken.  Die  Ver- 
armung an  bestimmenden  Vorstellungen  und  der  Mangel  an  Interesse  lässt 
sie  jeder  nachhaltigen  Initiative  baar  erscheinen,  während  sie  anderseits  dui'ch 
die  Verarmung  an  eigenen  Motiven  und  die  Unfähigkeit  ziu^  Kritik  äusseren 
Einwii'kungen  gegenüber  ungemein  empfänglich,  in  ihren  Ansichten  und  ihren 
Affecten  sehr  leicht  umstimmbar  und  zu  Handlungen  selbst  verbrecherischer 
Natur  verführbar  sind. 

Einen  leisen  Anklang  an  die  gleich  zu  schildernde  manische  Verstimmung 
gewisser  Paralytiker  kann  man  in  der  auch  bei  der  dementen  Form  sehr 
häufigen  Euphorie  finden,  vermöge  deren  die  Kranken  mit  Allem  zufrieden 
sind,  Alles  sehr  schön  und  gut  finden  und  sich  und  ilu'e  Verhältnisse  und 
Umgebung  im  Lichte  eines  kritiklosen  Optimismus  betrachten. 

In  auffallendem  Contraste  zu  dem  tiefen  geistigen  Verfall,  den  eine  ein- 
gehendere Untersuchung  aufdeckt,  steht  bei  solchen  Kranken  häufig  die  noch 
erhaltene  Fähigkeit,  gewisse  früh  angelernte  und  durch  lange  Uebung  ge- 
festigte Schablonen  der  Verkehrsformen  zu  bewaliren,  gewisse  Leistungen 
aufzubringen,  die  mit  den  immer  wiederkehrenden  Verrichtungen  des  Alltags- 
lebens und  des  primitivsten  socialen  Verkehrs  zusammenhängen. 

Im  weiteren  Fortschreiten  der  Erkrankung  geht  endlich  auch  dieser 
spärliche  Rest  von  noch  erhaltenen  Leistungen  verloren;  in  diesem  vor- 
geschrittenen Zustande  stellt  sich  der  durch  difi'use  Hirnentartung  bedingte 
Blödsinn  des  Paralytikers  dar  als  eine  Summation  von  Ausfallserschei- 
nungen, wie  sie,  jede  einzeln,  als  Folge  localisirter  Hirnerkrankung  auch 
isolirt  auftreten  können:  als  motorische  und  sensorische  Aphasie,  als  Rinden- 
blindheit, als  Apraxie  in  Folge  Verlustes  der  Bewegungsvorstellungen  etc.  Der 
Kranke  erkennt  Personen  und  Objecte  nicht  mehr,  er  hat  den  Gebrauch  der 
einfachsten  Gegenstände  verlernt,  er  weiss  Messer  und  Gabel  nicht  melir  zu 
gebrauchen,  und  die  Xahi'ungsaufnahme  erfolgt  in  primitivster  Weise  mit  den 
Händen;  der  Kranke  ist  unfähig,  Geniessbares  von  Ungeniessbarem  zu  unter- 
scheiden, so  dass  ihm  selbst  der  eigene  Koth  als  ein  zum  Verzehren  ge- 
eignetes Object  erscheint;  der  Kranke  kann  sich  nicht  auskleiden,  weil  er  sich 
in  seinen  eigenen  Kleidungsstücken  nicht  zurechtfindet ;  er  lässt  Koth  und  Urin 
unter  sich,  ohne  von  der  Beschmutzung  Notiz  zu  nehmen.  Die  sprachlichen 
Aeusserungen  sind  auf  ein  Stammeln  unverständlicher  Laute  reduciert  und  es 
fehlt  jede  Spur  von  Sprachverständnis;  es  fehlt  auch  jedes  Verständnis  der 
Vorgänge  in  der  Aussenwelt,  so  dass  der  Kranke  selbst  den  zu  seiner  Pflege 
und  Reinigung  dienenden  Proceduren  in  seiner  Rathlosigkeit  oft  einen  im- 
pulsiven Widerstand  entgegensetzt, 

Wälirend  so  in  diesen  als  Dementia  paralytica  sensu  strictiori  zu  be- 
zeichnenden Fällen  die  Erkrankung  vom  Anfange  bis  zum  Ende  in  gleich- 
massigem  Flusse  unter  dem  Bilde  eines  progredienten  Blödsinns  verläuft, 
stellen  sich  in  den  als  paralytische  Geistesstörung  zu  bezeichnenden 
Fällen  im  Laufe  der  Erlo-ankung  compli eierte  Symptomenbilder  ein, 
die  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  expansiven  Character  haben,  wäh- 
rend eine  Minderzahl  Depressionszustände  aufweist.  Neben 
diesen  Störungen  schreitet  aber  der  Blödsinn  unaufhaltsam  fort 
gerade  wie  bei  der  früher  geschilderten  Verlaufsform  und  es  verleiht  gleich- 
zeitig der  zu  Grunde  liegende  Blödsinn  diesen  expansiven  und  depressiven 
Geistesstörungen  ein  characteristisches  Gepräge,  durch  das  sie  sich  von  den 


DEMENTIA    PARALYTICA.  373 

analogen    nicht   auf   der  Grundlage    einer   Dementia   paralytica   auftretenden 
Störungen  unterscheiden. 

In  den  expansiven  Formen  der  paralytischen  Geistesstörung  durchläuft 
der  Kranke  in  rascherem  oder  langsamerem  Tempo  häufig  alle  Intensitäts- 
stufen maniakalischer  Erregung. 

Anfangs  ähnelt  das  Bild  dem  einer  geordneten  Manie;  der 
Kranke  wird  heiter  gestimmt,  zu  überaus  optimistischer  Auffassung  seiner 
Verhältnisse  geneigt,  wohl  auch  bei  Widerspruch  in  zornige  Erregung  aus- 
brechend; er  wird  mittheilsam  und  zudringlich,  renommirt  in  plumper  Weise. 
Die  gesteigerte  Genusssucht  äussert  sich  durch  Excesse  in  Alkohol  und  Yenere. 
Der  Kranke  macht  massenhaft  Pläne  zu  Geschäften,  Reisen,  Heiratspläne; 
geht  auch  an  deren  unüberlegte  und  überstürzte  Ausführung;  er  zeigt  eine 
zwecklose  Kauflust,  als  deren  die  beginnende  Demenz  manifestierende  Aeusse- 
rung  Masseneinkäufe  besonders  auffallen.  Sehr  häufig  werden  die  Kranken  in 
diesem  Stadium  criminell,  indem  sie  die  Mittel  zu  ihren  Ausschweifungen 
und  Verschwendungen  bei  mangelnder  Voraussicht  der  Folgen  sich  durch 
freche  leicht  entdeckte  Diebstähle  und  plumpe  Betrügereien  und  Fälschungen 
verschaffen.  Die  characteristische  Zerstreutheit  und  Gedächtnisschwäche  ver- 
räth  schon  jetzt,  dass  man  es  mit  mehr  als  einer  einfachen  Manie  zu  thun 
hat  und  früher  oder  später  geht  der  Optimismus,  die  Selbstüberschätzung  dieser 
Kranken  in  ein  Symptom  über,  das  in  den  nicht  paralytischen  Manien  selten 
imd  nie  in  diesem  Grade  vorhanden  ist,  in  den  paralytischen  Grössen- 
wahn. 

Auch  in  den  Grössenwahnideen  der  Paralytiker  kommt  die  Demenz  zum 
Ausdrucke,  vor  Allem  in  der  Ungeheuerlichkeit  und  Absurdität  der- 
selben, die  aller  physikalischen  Möglichkeit  spottet  und  in  Folge  deren  der 
Kranke  bei  Zahlenangaben  rasch  von  den  Tausenden  zu  den  Milliarden  und 
Billionen  aufsteigt.  Der  Kranke  vereinigt  in  seiner  Person  alle  möglichen  und 
unmöglichen  Vorzüge,  er  nimmt  es  z.  B.  mit  100  Gegnern  auf,  er  hat  die 
schönste  Stimme,  kann  fliegen,  zeugt  mit  tausend  Weibern  täglich  ungezählte 
Kinder.  Er  versteht  alle  Wissenschaften  und  Künste,  spricht  alle  Sprachen 
und  produciert  etwa  gar  auf  Verlangen  ein  rasch  improvisiertes  Kauderwelsch 
als  Probe  einer  fremden  Sprache;  er  ist  unerschöpflich  in  den  abenteuer- 
lichsten und  absurdesten  Projecten;  er  ist  unermüdlich  in  der  Aufzählung 
seiner  fabelhaften  Reichthümer;  seine  Macht  erstreckt  sich  über  ganze  Länder, 
über  die  Erde,  über  die  Welt  etc. 

Ferner  äussert  sich  der  Blödsinn  in  den  v  i  e  1  f  a  c  h  e  n  W  i  d  e  r  s  p  r  ü  c  h  e  n 
■der  Grössenwahnideen,  welche  dem  Kranken  gar  nicht  zum  Bewusstsein 
kommen,  in  der  Vereinigung  ganz  incommensurabler  Grösssen,  so 
dass  er  z.  B.  in  der  Aufzählung  seiner  Reichthümer  neben  Millionen  Gold 
und  unermesslichen  Schätzen  in  Gold  und  Edelsteinen  noch  eine  kleine  Summe, 
die  er  etwa  wirklich  besitzt,  hinzuzufügen  nicht  unterlässt;  oder  er  ist  z.  B. 
Gott  und  Ober-Conducteur  zugleich. 

Die  Demenz  des  paralytischen  Grössenwahns  äussert  sich  ferner  auch 
darin ,  dass  dem  Kranken  der  C o n t r a s t  zwischen  Wahn  und  Wirk- 
lichkeit nicht  zu  Bewusstsein  kommt,  so  dass  z.  B.  der  Weltkaiser 
und  Obergott  sich  von  einem  Wärter  widerstandslos  zu  einer  geringfügigen 
Dienstleistung  commandieren  lässt  oder  um  einen  Cigarrenstummel  bettelt. 

Die  Grössen  Wahnideen  des  Paralytikers  sind  nicht  fix,  wie  die  des 
Paranoikers,  sondern  labil,  von  Minute  zu  Minute  wechselnd,  ebenso  rasch  produciert 
als  vergessen.  Der  Paralytiker  schöpft  ferner  seine  Glrössenwahnideen  aus  sicli  selbst, 
aus  seinem  eigenen  Kraft- und  Wonnegefühl,  während  sie  der  Paranoiker  gewissennassen 
von  aussen  bezieht,  allerlei  missdeutete  Erlebnisse  und  Beobachtungen  oder  halluciiiirte 
Nachrichten  als  Quelle  derselben  anführt.  Dagegen  ist  der  Paralytiker  sehr  leicht  Sug- 
gestionen zugänglich,  lässt  sich  Wahnideen  unschwer  einreden,  ist  aber  gelegentlich  auch 
geneigt,  sie  auf  irgend  einen  Einwand  hin  aufzugeben. 


374  DEMENTIA    PARALYTICA. 

Solange  der  Paralytiker  noch  in  Freiheit  ist,  handelt  er  auch  seinen  Grössen- 
wahnideen  entsprechend;  er  vergeudet  in  kürzester  Zeit  die  grössten  Summen, 
macht  ungemessene  Einkäufe  und  Bestellungen,  schreibt  und  telegraphirt 
sinnlos  in  der  Welt  herum,  an  Behörden,  Souveräne  etc.,  ladet  alle  Welt  zu 
abenteuerlichen  Festlichkeiten,  engagiert  Diener,  Beamte  etc. 

Mit  dem  Auftreten  des  Grössenwahns  nimmt  häufig  rasch  die  maniaka- 
lische  Erregung  zu;  die  heitere  Verstimmung  steigert  sich  zu  einem  Gefühl 
uuermesslicher  Glückseligkeit,  der  Ideengang  wird  bald  ein  abspringender  bis 
zur  Ideenflucht,  ja  bis  zur  vollen  Verworrenheit;  die  motorische  Unruhe 
steigert  sich  nach  und  nach  zu  sinnlosem  Toben,  oder  es  bricht  plötzlich  in 
Folge  irgend  eines  Conflictes,  in  den  der  Kranke  durch  sein  Gebahren  geräth, 
oder  in  Folge  einer  Behauche  ein  Tobsuchtsanfall  ein. 

Während  sonst  im  Laufe  der  Dementia  paralytica  Hallucinationen  nur  aus- 
nahmsweise aixftauchen  und  keine  besondere  Rolle  im  Kranklieitsbilde  spielen,  können  sie 
in  diesen  tobsüchtigen  Erregungszuständen  sowie  auch  in  den  später  zu  erwähnenden  angst- 
vollen Erregungszuständen  manchesmal  sehr  massenhaft  und  in  grosser  sinnlicher  Lebhaf- 
tigkeit auftreten,  so  dass  das  Krankheitsbild  vorübergehend  Aehnlichkeit  mit  einem  Delirium 
alcoholicum  oder  einer  hallucinatorischen  Verworrenheit  (Amentia)  erlangen  kann. 

Diese  tobsüchtigen  Erregungszustände  können  sich  mit  Re- 
missionen, in  denen  der  Kranke  nur  leichtere  Grade  manischer  Verstimmung 
zeigt  und  wieder  in  etwas  geordneterer  Weise  seinen  Grössenwahn  produciert, 
durch  Wochen  und  Monate  hinziehen.  Früher  oder  später  tritt  bei  dem 
Kranken  eine  gewisse  Beruhigung  ein;  die  Demenz  hat  mittlerweile  unauf- 
haltsame Fortschritte  gemacht  und  die  Krankheit  entwickelt  sich  jetzt  in  der- 
selben Weise  weiter  wie  bei  den  früher  geschilderten  Formen  der  einfachen 
paralytischen  Demenz. 

Häufig  bleiben  aber  gewisse  Residuen  aus  der  manischen  Phase  zurück;  der  Kranke 
reproduciert  noch  hin  und  wieder  Bruchstücke  der  früheren  Grössenwahnideen  aber  ohne 
die  productive  Thätigkeit  der  Phantasie  und  ohne  den  Schwung  der  Stimmung  des  ma- 
nischen Stadiums.  Solche  Kranke  sind  es  wohl  auch,  die  ab  und  zu  massenhaften 
Erinnerungstäuschungen  unterliegen,  indem  sie  in  ziemlich  affectloser  Weise  den 
Inhalt  von  Träumen,  von  Erlebtem  und  Grehörtem  oder  Gelesenem  in  buntem  Durcheinander 
reproducieren  und  diese  confusen,  phantastischen  Erzählungen  für  wirkliche  Erlebnisse  aus 
der  iüngsten  Vergangenheit  ausgeben. 

Im  Einzelfalle  weist  der  Verlauf  dieser  expansiven  Form  der  paralytischen 
Geistesstörung  mancherlei  Verschiedenheiten  auf.  Es  können  manische  Er- 
regungsstadien mit  Grössenwahn  mehrmals  bei  einem  und  demselben  Indi- 
viduum auftreten,  indem  der  progressive  Verlauf  der  Erkrankung  durch  die 
bald  zu  erwähnenden  Ptemissionen  eine  Unterbrechung  erleidet;  es  können 
vor  Allem  tobsüchtige  Erregungszustände  in  den  spätesten  Stadien  der  Paralyse 
noch  einmal  oder  mehrmals  recrudesciren.  Oder  es  kann  die  Erregung  sehr 
bald,  im  Laufe  weniger  Tage,  die  höchsten  Grade  der  Tobsucht  erreichen  und 
auf  denselben  verharren;  der  Kranke  ist  aufs  Aeusserste  verworren,  fast 
perceptionslos,  stösst  nur  mehr  unarticulirte  Laute  und  abgerissene  Worte 
und  Silben  aus;  die  motorische  Erregung  weist  in  ihrer  fast  convulsionsähn- 
lichen,  von  einem  Vorstellungsinhalte  ganz  losgelösten  Ungeordnetheit  direct 
auf  einen  organischen  Hirnreiz  hin;  die  Kranken  abstiniren  vollständig,  zeigen 
meist  leichte  Fieberbewegungen.  Bald  collabiren  sie  und  setzen  ihre  triebartigen 
Bewegungen  noch  am  Boden  rutschend  oder  in  der  Rückenlage  einige  Zeit  fort, 
bis  zu  dem  bald  eintretenden  Erschöpfungstode.  Solche  in  wenigen  Wochen 
zum  exitus  letalis  verlaufende  Fälle  werden  als  gallopierende  Paralyse 
bezeichnet.  Es  gehört  hierher  übrigens  auch  ein  Theil  der  Fälle,  die  unter 
dem  Namen  Delirium  acutum  in  der  Literatur  beschrieben  worden. 

Von  Combinationen  expansiver  mit  depressiven  Zuständen  wird  sofort 
die  Rede  sein. 


DEMENTIA   PARALYTICA.  375 

In  einer  Minderzahl  von  Fällen  hat  die  paralytische  Geistesstörung  nicht 
den  Charakter  der  Exaltation,  sondern  den  der  Depression.  Es  treten  bei 
dem  Kranken  ängstliche  und  traurige  Verstimmungszustände  auf  mit 
entsprechenden  Wahnideen,  die  Anfangs  noch  in  massvollerer  Weise  und 
mit  weniger  absurdem  Inhalte  vorgebracht  werden,  mit  der  Zeit  aber  einen 
ganz  grotesken,  ungeheuerlichen  Inhalt  bekommen  und  in  ihrer  Ab- 
surdität, in  den  Innern  Widersprüchen,  in  der  Inconsequenz,  die  das  gleich- 
zeitige Verhalten  bekundet,  und  in  dem  vollständigen  Uebersehen  des  Con- 
trastes  zwischen  Wahn  und  Wirklichkeit  den  Grössenwahnideen  der  Paralytiker 
ganz  analog  sind  und  ebenso  wie  diese  eine  weit  vorgeschrittene  Demenz 
bekunden. 

Mit  Vorliebe  haben  diese  Wahnideen  eine  hypochondrische  Fär- 
bung und  bilden  ihren  Inhalt  die  unmöglichsten  Veränderungen  des  Körpers 
und  seiner  Organe,  wobei  es  z.  B.  den  Kranken,  dessen  Mastdarm  zugewachsen 
ist,  nicht  beirrt,  dass  er  gerade  im  eigenen  Kothe  liegt,  oder  den  Kranken, 
dessen  Speiseröhre  und  Magen  vollständig  fehlen,  ebensowenig  hindert,  den 
besten  Appetit  zu  entwickeln. 

Die  melancholischen  Wahnideen  haben  meist  den  Charakter  der 
Selbstanklagen  und  des  Kleinheitswahns,  die  entweder  durch  ihre  unsinnige 
Uebertreibung  oder  anderseits  durch  das  Missverhältnis  zwischen  der  läppischen 
Geringfügigkeit  des  Wahninhaltes  und  der  Schwere  der  zur  Schau  getragenen 
Verstimmung  und  der  davon  abgeleiteten  Befürchtungen  den  zu  Grunde 
liegenden  Blödsinn  verrathen.  In  anderen  Fällen  liegen  ängstliche  bis  zur 
Panphobie  gesteigerte  Erwartungsaffecte  mit  entsprechendem  Wahninhalte  vor. 

Das  motorische  und  sprachliche  Verhalten  der  Kranken  in  diesen  De- 
pressionszuständen  ist  entweder  ein  gehemmtes  und  es  kann  sich  die  Hem- 
mung bis  zu  stuporähnlichen  Zuständen  steigern,  oder  es  hat  den  Charakter 
der  ängstlichen  Agitation. 

Auch  in  den  depressiven  Formen  der  Dementia  paralytica  verblasst  nach 
längerer  oder  kürzerer  Dauer  die  Lebhaftigkeit  der  Affecte  und  Wahnideen 
und  bleibt  schliesslich  nur  der  weit  vorgeschrittene  Blödsinn  zurück.  In 
manchen  Fällen  erfolgt  nach  längerem  Bestehen  eines  depressiven  Stadiums 
ein  Umschlag  in  ein  expansives,  ja  es  kann  ein  solcher  Wechsel  von  manischen 
und  melancholischen  Phasen  mehrmals  stattfinden,  wobei  jede  Phase  mehrere 
Monate  andauert  und  mit  jeder  Wiederholung  ein  schwereres,  mehr  organisch 
.  bedingtes  Gepräge  annimmt.  (Circuläre  Form  der  Dementia  paralytica) 

Die  häufigste  Form  der  -progressiven  Paralyse  ist  die  einfach  de- 
mente, wenn  auch  diese  Kranken  als  weniger  störend  und  gemeingefährlich  seltener  in 
den  Irrenanstalten  gefixnden  werden.  Nach  ihr  an  Häufigkeit  kommt  die  expansive  Form, 
während  die  depressive  Form  und  die  complicirteren  Verlaufsweisen  am  seltensten  sind. 
Nach  meiner  Erfahrung  kommen  die  beiden  letzteren  Formen  sowie  die  gleich  zu  bespre- 
chenden Remissionen  besonders  in  jenen  Fällen  zur  Entwicklung,  wo  eine  starke  hereditär- 
psychopathische  Anlage  vorhanden  ist. 

Die  erwähnten  Eemissionen  können  sich  in  allen  Stadien  der  Er- 
krankung mit  Ausnahme  des  letzten  einstellen  und  sind  besonders  häufig  bei 
der  expansiven  Form.  Die  mit  denselben  verbundene  Besserung  im  psychi- 
schen Befinden  kann  eine  verschieden  weitgehende  sein.  Oft  handelt  es  sich 
nur  um  eine  gewisse  Beruhigung  mit  Correctur  der  Wahnideen,  häufig  aber 
ist  damit  auch  eine  Besserung  der  Leistungsfähigkeit  verbunden,  die  das 
Individuum  oft  nur  gesund  erscheinen  lässt,  solange  es  nur  vor  die  einfachen 
Anforderungen  des  Anstaltslebens  gestellt  ist,  während  sich  den  complicirteren 
A'erhältnissen  der  Aussenwelt  gegenüber  doch  die  geistige  Insufficienz  heraus- 
stellt; ausnahmsweise  werden  jedoch  solche  Kranke  selbst  wieder  berufsfähig. 
Die  Freude  ist  aber  meist  nur  von  kurzer  Dauer;  nach  einigen  Wochen  oder 


37,6  DEMENTIA   PARALYTICA. 

Monaten,  äusserst  selten  erst  nach  Jahresfrist,  setzt  die  Krankheit  wieder 
dort  ein,  wo  sie  abgebrochen  hatte,  um  dann  unaufhaltsam  zum  Ende  zu  führen. 
Neben  den  psychischen  Störungen  spielen  im  Bilde  der  Dementia  para- 
lytica  als  jenen  gleich werthige  Symptome  auch  die  körperlichen  eine  wesent- 
liche Bolle;  charakteristisch  sind  vor  Allem  Inner vations Störungen  in 
der  motorischen  Sphäre. 

Wie  der  anatomische  Process  der  Dementia  paralytica,  wenn  auch  vorwiegend  in  den 
Grosshirnhemisphären  localisirt,  sich  doch  mehr  weniger  über  das  gesammte  Nervensystem 
verbreitet,  so  setzen  sich  auch  die  motorischen  Symptome  der  Dementia  paralytica  aus  ver- 
schiedenen elementaren  Störungen  zusammen. 

Die  wichtigste  motorische  Störung  der  Dementia  paralytica  hat  nicht, 
wie  der  Name  der  Krankheit  glauben  machen  könnte,  den  Charakter  der 
Lähmung,  sondern  den  der  Coordinationsstörung;  kein  einzelner  Muskel  ist 
gelähmt,  aber  das  Zusammenwirken  verschiedener  Muskeln  zu  geordneten 
Bewegungen  ist  erschwert.  Als  Sitz  dieser  Coordinationsstörung  ist  die  Hirn- 
rinde anzusehen;  die  Ataxie  ist  eine  corticale  und  Coordination- 
motorische  Ässodatimi.  (Meyneet). 

Es  handelt  sich  nicht,  wie  bei  der  spinalen  Ataxie  des  Tabetikers,  um  eine  fehler- 
hafte Ausführung  an  und  für  sich  richtiger  Impulse,  sondern  die  Impulse  selbst,  die  Be- 
wegnngsvorstellungen  sind  mang elliaft,  weil  die  Associationen  gelitten  haben,  sowohl  die 
innerhalb  der  motorischen  Centren  selbst  ablaufenden,  als  auch  die,  welche  von  anderen 
Rindengebieten  zu  den  motorischen  Centren  hinzielen.  Es  bekommen  darum  die  coordina- 
torischen  Störungen  das  Gepräge  von  psychischen  Defecten  und  sind  mit  anderen  psychi- 
schen Ausfallserscheinungen,  die  ja  auch  auf  corticalen  Associationsstörungen  beruhen, 
auf's  Innigste  verknüpft,  wie  vor  Allem  das  Studium  der  paralytischen  Sprach-  und  Schrift- 
störung zeigt. 

Ausser  der  Coordinationsstörung  zeigt  sich  oft  auch  ein  Intentions- 
tremor,  bald  mehr  kleinwelliger  Natur,  bald  von  grosser  Excursionsweite, 
so  dass  er  täuschend  ähnlich  werden  kann  dem  Tremor  der  multiplen  Sklerose. 

Eigentliche  Lähmungserscheinungen  treten  erst  in  den 
späteren  Stadien  der  Dementia  paralytica  zu  Tage;  aber  auch  da  handelt 
es  sich,  abgesehen  von  den  passageren  Lähmungen  der  gleich  zu  erwähnenden 
paralytischen  Anfälle,  nicht  um  complete  Paralysen  einzelner  Muskelgruppen, 
sondern  um  eine  zunehmende  Schwächung  sämmtlicher  der  Willkür 
unterworfener  Innervationen.  Manchmal  ist  diese  Muskelschwäche 
halbseitig  stärker  ausgeprägt;  es  kommt  dann  zu  Ungleichheiten  in  der  Inner- 
vation des  Facialis,  zum  Ueberhängen  des  ganzen  Körpers  nach  einer  Seite 
u.  dgl.  Es  ist  diese  Muskelschwäche  in  erster  Linie  abhängig  zu  denken 
von  der  auch  die  motorischen  Centren  befallenden  fortschreitenden  Atrophie 
der  Hirnrinde,  die  in  feinstdisserainirter  Weise  eine  Unmasse  von  nervösen 
Zellen  und  Fasern  zum  Schwunde  bringt,  ohne  doch  an  irgend  einer  Stelle 
den  der  Neurose  eigenthümlichen  und  zu  completer  Lähmung  führenden  voll- 
ständigen Untergang  aller  Elemente  herbeizuführen. 

Die  Functionen,  bei  denen  sicli  die  motorischen  Störungen  der  Dementia 
paralytica  meist  zuerst  zeigen,  sind  die  Sprache  und  die  Schrift  und  man 
hat  daher  von  jeher  auf  den  Nachweis  der  Sprachstörung  grosses  Gewicht  flu' 
die  Diagnose  dieser  Erkrankung  gelegt. 

Die  Sprachstöruirg  der  Paralytiker  hat  in  früheren  Stadien 
weder  den  Charakter  der  Aphasie  (abgesehen  von  den  später  zu  erwähnenden 
Anfällen),  noch  den  der  Lähmung,  wie  sie  etwa  bei  der  progressiven  Bulbär- 
paralyse  sich  findet;  es  ist  nicht  das  Wort  und  nicht  der  Buchstabe,  w  as  dem 
Kranken  fehlt,  aber  die  Verbindung  von  Lauten  zu  Silben  und  Worten  ist 
eine  erschwerte;  es  zeigt  sich  das  charakteristische  Silb e  n  s  to  Ip  ern.  Es  werden 
einzelne  Silben  ausgelassen  oder  anderseits  verdoppelt;  es  werden  Silben  um- 
gestellt, nicht  nur  innerhalb  eines  Wortes,  sondern  auch  aus  einem  Worte 
in  ein  anderes,  oder  die  Silbe  wird   ganz  umgekehrt;  oder  es  werden  endlich 


DEMENTIA    PAEALYTICA.  377 

in  eine  Silbe  fremde  Buchstaben  hineingestellt  (z.  B.  drittende  reitere 
Katrilleriebrade  statt  diitte  reitende  Artilleriebrigade).  Die  Coordinations- 
störung  Yerräth  sich  beim  Sprechen  der  Paralytiker  auch  in  dem  Ueber- 
mass  von  Bewegungs Innervationen,  die  er  dabei  aufwendet;  beginnt 
ein  solcher  Kranke  zu  sprechen,  so  sieht  man  oft  schon  eine  Eeihe  von  un- 
regelmässigen Zuckungen  über  sein  Gesicht  ablaufen,  bevor  er  einen  Laut 
herausbringt,  und  während  des  Sprechens  treten  fortwährend  allerlei  mimische 
Mitbewegungen  ein.  Als  Coordinationsstörung  ist  es  offenbar  auch  aufzu- 
fassen, wenn  die  Phonation  der  Articulation  vorauseilt,  so  dass  der  Aussprache 
des  articulirten  Wortes  ein  unarticulirter  Laut  vorausgeht.  Durch  mangel- 
hafte Articulation  überhaupt  bekommt  die  Sprache  der  Kranken  etwas  Ver- 
waschenes, w^odurch  sie  schwer  verständlich  wird. 

Ausserdem  wird  häufig  eine  Verla ngsamung  der  Sprache  beobachtet, 
die  oft  den  ausgesprochenen  Charaläer  des  (sonst  bei  der  multiplen  Sklerose 
häufigen)  Scandirens  hat.  Manchmal  ist  auch  wirkliches  Stottern  zu  beobachten 
und  endlich  verräth  sich  der  Litentionstremor  durch  ein  eigenthümliches 
Tremuliren  und  Vibriren  der  Stimme. 

Am  auffälligsten  zeigt  sich  die  Sprachstörung  beim  lauten  Lesen,  eine 
Prüfung,  die  daher  sehr  zu  empfehlen  ist.  In  vorgeschrittenen  Fällen  verliert 
das  Gelesene  durch  die  Entstellung  und  Auslassung  von  Silben  und  Worten, 
ja  von  ganzen  Zeilen,  jede  Aehnlichkeit  mit  dem  Original.  Es  eignet  sich 
diese  Prüfung  übrigens  auch  sehr,  um  die  Gedächtnisschw^äche  und  Zerstreut- 
heit der  Kranken  zu  demonstriren,  indem  dieselben  häufig  nicht  einmal  den 
einfachsten  gelesenen  Satz  seinem  Inhalte  nach  ausw^endig  zu  reproduciren 
imtande  sind. 

In  den  späteren  Stadien  der  progressiven  Paralyse  kommen  mehr 
und  mehr  auch  eigentliche  aphasische  Störungen  zur  Geltung,  die 
aber  meist  wegen  der  Gleichzeitigkeit,  mit  der  sie  alle  der  Sprache  zuge- 
hörigen Theilfunctionen  betreffen,  und  wegen  der  nur  allmäligen  Zunahme 
selten  (abgesehen  von  den  paralytischen  Anfällen)  eine  selbstständige  Be- 
deutung erlangen,  sondern  meist  im  Bilde  des  progredienten  Blödsinns 
aufgehen. 

Noch  früher  und  deutlicher  als  beim  Sprechen  macht  sich  die  motorische 
Störung  in  der  Schrift  geltend;  Die  Handschrift  verändert  sich,  die  Incoor- 
dination  verräth  sich  in  den  unregelmässigen,  oft  ausfahrenden  Zügen,  in  der 
mangelhaften  Führung  der  Zeile;  eine  dem  Silbenstolpern  der  Piede  ganz 
analoge  Erscheinung  ist  das  Auslassen,  die  Versetzung,  oder  Wiederholung 
von  Buchstaben  und  Silben.  Ausserdem  macht  sich  die  Gedächtnisstörung 
durch  eine  Menge  von  Lapsus  in  den  schriftlichen  Mittheilungen  der  Kranken 
bemerkbar.  Oft  kommt  es  schon  frühe,  in  einem  Stadium,  wo  die  Kranken 
noch  leidlich  sprechen,  zu  vollständiger  Agraphie. 

Allmälig  leiden  ausser  der  Sprache  und  der  Schrift  auch  andere  feinere 
Bew^egungen,  der  Kranke  verliert  die  Fähigkeit  zum  Ciavier-  oder  Violin- 
spiel; man  vermisst  die  gewohnte  Sicherheit  im  Billardspiele  oder  bei  irgend 
welchen  feinen  Handarbeiten.  Endlich  geht  auch  die  Sicherheit  bei  gröberen 
Bewegungen  verloren,  der  Kranke  hat  Schwierigkeiten  beim  Au-  und  Auskleiden, 
beim  Zu-  oder  Aufknöpfen,  bei  der  Handhabung  des  Essbesteckes.  Auch  der 
Gang  und  die  Erhaltung  des  Gleichgewichtes  leidet  endlich,  der  Gang  wird 
unsicher,  mit  kleinen  schlürfenden  oder  trippelnden  Schritten,  oder  er  be- 
kommt den  Charakter  des  ataktischen  oder  spastischen  Ganges,  wobei  aller- 
dings auch  die  gleich  zu  erwvähnenden  spinalen  Complicationen  eine  Piolle 
spielen;  häufig  tritt  Rombergsches  Phänomen  auf.  Schliesslich  verlieren  die 
Kranken  vollständig  die  Fähigkeit  zu  gehenf  sie  werden  dauernd  bett- 
lägrig  und  es  treten  dann  wohl  auch  starre  Beugecontracturen  der  unteren 
Extremitäten  ein.  In  den  letzten  Stadien  leiden  nicht  nur  die  von  der  Rinde 


378  DEMENTIA    PARALYTICA. 

aus  innervirten  Bewegungen,  sondern  auch  die  Reflexbewegungen;  practisch 
am  wichtigsten  sind  die  Schlingbeschwerden  vorgeschrittener  Paralytiker,  da 
sie  durch  die  Aspiration  von  Ingestis  oder  Speichel  häufig  den  exitus  letalis 
verursachen. 

Die  in  vorgeschrittenen  Fällen  selten  fehlende  Mitbetheiligung  des 
Rückenmarkes  kommt  ebenfalls  in  den  motorischen  Störungen  zum  Aus- 
drucke. Hat  die  Rückenmarkserkrankung,  wie  das  häufig  der  Fall  ist,  ihren 
Sitz  in  den  Hintersträngen,  so  treten  ähnliche  Erscheinungen  auf,  wie 
bei  der  Tabes  dorsalis,  nur  meist  in  geringerer  Intensität,  entsprechend  der 
meist  geringeren  Ausbildung  der  Veränderungen  im  Rückenmarke.  Jedenfalls 
fehlen  in  allen  derartigen  Fällen  die   Patellarreflexe. 

In  einzelnen  Fällen  aber  ereignet  es  sich,  dass  die  Tabes  schon  jahre- 
lang vorausgeht  und  ihre  Symptome  zu  beträchtlicher  Entwicklung  gelangen 
und  dann  erst  die  Erscheinungen  der  Dementia  paralytica  hinzutreten.  Man 
hat  diese  Fälle  als  ascendirende  Paralyse  beschrieben,  wobei  das  Ascen- 
diren  nicht  in  dem  Sinne  zu  verstehen  ist,  als  v^ürde  ein  directes,  continu- 
irliches  Aufsteigen  des  anatomischen  Processes  vom  Rückenmarke  in  das 
Gehirn  stattfinden  ;  es  soll  damit  nur  die  zeitliche  Aufeinanderfolge  in  dem 
Auftreten  von  spinalen  und  cerebralen  Symptomen  ausgedrückt  werden.. 

In  anderen  Fällen  betriff't  die  Rückenmarkserkrankung  die  Seiten- 
stränge, welcher  Process  wohl  als  secundäre  Degeneration  in  Folge  Unter- 
gangs nervöser  Elemente  in  den  motorischen  Rinden-Centren  aufzufassen  ist. 
In  solchen  Fällen  finden  wir  die  Patellarreflexe  gesteigert,  seltener  ist 
auch  Fussphänomen  nachzuweisen ;  dagegen  sind  die  Sehnenreflexe  auch  an 
den  oberen  Extremitäten  ausserordentlicli  lebhaft ;  ferner  finden  wir  Hyper- 
tonie der  Musculatur  mit  spastischem  Gang,  mit  Widerstand  bei  activen  und 
passiven  Bewegungen,  endlich  auch  Contracturen. 

In  vielen  Fällen  werden  bei  Dementia  paralytica  oculopupilläre 
Symptome  beobachtet,  die  mit  den  bei  Tabes  vorkommenden  identisch  sind. 
Unter  ihnen  sind  am  häufigsten  und  zugleich  wichtigsten  wegen  ihrer  Be- 
deutung für  die  Diagnose  die  Innervationsstörungen  der  die  Pupillenweite 
regulirenden  Muskeln.  Man  findet  oft  ungleiche  Pupillen,  ferner  abnorme 
Enge  (spinale  Myosis)  oder  Weite  einer  oder  beider  Pupillen  und  endlich  das 
am  meisten  charakteristische  Symptom  der  reflectorischen  Pupillen- 
starre. Viel  seltener  als  bei  Tabes  findet  sich  primäre  Opticus- Atrophie; 
ebenso  treten  in  seltenen  Fällen,  dann  aber  oft  schon  in  frühen  Stadien,  Augen- 
muskellähmungen auf. 

Häufig  leidet  im  Laufe  der  Dementia  paralytica  die  Innervation  der 
Sphinkteren.  Anfangs  ist  es  vorwiegend  der  Mangel  an  Aufmerksamkeit 
und  die  Unempfindlichkeit,  die  den  Kranken  das  auftretende  Bedürfnis  zur  Ent- 
leerung übersehen  lässt,  so  dass  es  dann  zur  unwillkürlichen  Entleerung  kommt, 
von  der,  der  Kranke  häufig  ebensowenig  Notiz  nimmt,  sodass  er,  ohne  es  zu  wissen, 
mit  beschmutzten  Kleidern  herumgeht;  oder  man  findet  seine  Blase  bis  zum  Nabel 
ausgedehnt,  so  dass  der  Neuling  zum  Catheter  greift,  während  es  oft  nur  der 
eindringlichen  Aufforderung  an  den  Kranken  bedarf,  seine  Blase  zu  entleeren. 
In  späteren  Stadien  kommt  es  aber  zu  wirklichen  Lähmungserscheinungen  im 
Bereiche  der  Sphinkteren,  wobei  die  spinale  Complication  bestimmend  auf  die 
Art  der  Functionsstörung  einwirkt;  es  kommt  dadurch  spastische  oder  atonische 
Blasenlähmung  zu  Stande,  im  ersteren  Falle  entweder  mit  Retention  oder  mit 
Incontinenz  durch  reflectorische  Entleerungen,  im  letzteren  Falle  zu  Retention 
mit  Abträufeln  des  Harns  bei  ausdrückbarer  Blase. 

Von  körperlichen  Functionen  ist  vor  Allem  auch  der  Schlaf  meist 
gestört,  und  zwar  ist  die  Schlaflosigkeit  häufig  eines  der  ersten,  schon  in  das 
Prodromalstadium  zurückreichenden  Symptome  und  sie  wird  während  manischer 
Exaltationen  oder  während  melancholischer  Angstzustände  häufig  eine  absolute. 


DEMENTIA    PARALYTICA.  379 

In  den  späteren  Stadien  und  in  der  dementen  Form  leidet  der  Schlaf  meist 
weniger. 

Nicht  bloss  die  motorischen  Innervationen  leiden  bei  der  Dementia 
paralytica  sondern  in  späteren  Stadien  ausnahmslos  auch  die  Sensibilität; 
besonders  die  Schmerzemplindlichkeit  erlischt  oft  vollständig;  infolge  dessen 
können  schwere  Erkrankungen  oder  Verletzungen  ganz  schmerzlos  ver- 
laufen, so  dass  solche  Kranke  sich  selbst  die  ärgsten  Verstümmelungen  bei- 
zubringen im  Stande  sind  oder  mit  einem  fracturirten  Oberschenkel  noch 
herumgehen;  auf  einen  Rippenbruch  z.  B.  wird  man  überhaupt  nur  selten 
durch  den  Kranken  aufmerksam  gemacht. 

Intercurrent  treten  im  Verlaufe  der  Dementia  paralytica  schwere  motorische 
Störungen  auf,  die  sogenannten  paralytischen  Anfälle.  Dieselben  äussern 
sich  entweder  in  Krämpfen  oder  in  Lähmungen  mit  begleitenden  Bewusstseins- 
störungen  und  werden  demnach  als  epileptiforme  und  apoplectiforme 
Anfälle  bezeichnet. 

Die  ersteren,  die  epilepti formen  Anfälle,  können  ganz  das  Bild 
eines  echten  epileptischen  Insults  darbieten:  der  Kranke  fällt  plötzlich  be- 
wusstlos  um  und  bekommt  tonische  und  klonische  Convulsionen  in  allen 
Muskelgruppen;  meist  verrathen  die  Krämpfe  ihren  corticalen  Charakter 
durch  ihr  ursprünglich  halbseitiges  Auftreten;  oft  verlaufen  die  Convulsionen 
sogar,  von  einer  Muskelgruppe  ausgehend,  ganz  wie  bei  einem  Anfalle  typischer 
corticaler  Epilepsie.  In  manchen  Fällen  beschränken  sich  die  Convulsionen 
auf  eine  Körperhälfte  oder  gar  nur  auf  eine  Muskelgruppe;  in  diesen  unvoll- 
ständigen Anfällen  fehlt  wohl  der  Bewusstseinsverlust  oder  es  tritt  nur  eine 
leichte  Trübung  des  Bewusstseins  ein.  Manchmal  weichen  die  Krämpfe  durch 
eine  längere,  über  Stunden,  ja  bei  geringer  Intensität  selbst  über  Tage  sich 
erstreckende  Dauer  von  dem  Bilde  gewöhnlicher  epileptischer  Anfälle  ab. 

Diese  epileptiformeii  Anfälle  können  gerade  so  wie  die  wirklichen  epileptischen  Anfälle 
anch  gehäuft  auftreten,  zu  10—20—30,  ja  100  und  mehr  im  Tage,  so  dass  sich  ein  förm- 
licher Status  einlepticus  herausbildet.  Dem  Ausbruche  dieser  Anfälle  gehen  häufig  kürzere 
oder  längere  Zeit  Prodrome,  vorwiegend  Symptome  von  Gehirn-Congestion  voraus.  Die 
Erholung  aus  denselben  erfolgt  meist  nicht  so  rasch,  wie  nach  wirklichen  epileptischen 
Anfällen. 

Bei  den  ap o ple et i formen  Anfällen  kann  unter  dem  Bilde  eines 
apoplectischen  Insultes  eine  halbseitige  Lähmung  auftreten,  so  dass  sich  der 
momentane  Zustand  in  nichts  unterscheidet  von  dem  nach  einer  Hämorrhagia 
cerebri;  auch  die  Aphasie  fehlt  nicht  bei  rechtsseitigen  Lähmungen.  Diese 
Lähmungen  unterscheiden  sich  aber  von  den  nach  Blutungen  oder  Embolien 
auftretenden  durch  die  Dauer;  selbst  eine  complete  halbseitige  Lähmung  kann, 
wenn  durch  einen  solchen  paralytischen  Anfall  bedingt,  im  Laufe  eines  oder 
einiger  Tage  wieder  schwinden;  dauernde  schwere  Lähmungserscheinungen 
bleiben  nach  diesen  paralytischen  Anfällen  überhaupt  nicht  zurück. 

Als  rudimentäre  derartige  Anfälle  muss  man  ganz  kurz  dauernde  und 
ohne  Bewusstseinsverlust  aber  doch  mit  nur  leichter  Bewusstseinstrübung  einher- 
gehende Lähmungserscheinungen  eines  Armes,  eines  Beines,  einer  Gesichts- 
hälfte, der  Zunge  auffassen,  die  oft  schon  in  frühen  Stadien  der  Dementia 
paralytica  auftreten;  auch  blosse  Ohnmachts-  oder  vertiginöse  Anfälle  gehören 
hieher,  ferner  die  nicht  seltenen  Anfälle  aphasischer  Sprachstörung. 

Combinationen  von  apoplectiformen  und  epileptiformen  Anfällen  können  ebenfalls 
vorkommen,  indem  die  von  der  Lähmung  betroffenen  Gliedmassen  oder  manchmal  auch  die 
der  andern  Seite,  Sitz  von  epileptiformen  Krämpfen  sein  können. 

Die  Körpertemperatur  ist  bei  diesen  paralytischen  Anfällen  in  der 
Regel  etwas  erhöht;  bei  gehäuften  epileptiformen  oder  bei  schweren  apoplecti- 
formen Anfällen  werden  sogar  hohe  Fiebergrade  erreicht. 

Die  paralytischen  Anfälle  können  in  jedem  Stadium  der  Krankheit  auf- 
treten; allerdings  verhält  es  sich  meist  so,   dass  die  leichteren  Anfälle  vor- 


380  DEMENTIA    PARALYTICA. 

wiegend  den  früheren  Stadien  eigen  sind.  Doch  besteht  in  ihrem  Auftreten 
keine  Gesetzmässigkeit,  sie  bleiben  bei  manchen  Paralytikern  während  der 
ganzen  Dauer  der  Erkrankung  aus,  während  sie  in  einem  andern  Falle  selten, 
in  einem  dritten  endlich  häufig  auftreten,  ohne  dass  eine  Ursache  für  diese 
Verschiedenheiten  bekannt  wäre.  Die  nächste  Veranlassung  zum  Ausbruch 
des  Anfalles  können  Aufregungen,  Indigestionen,  Koprostasen,  intercurrente 
fieberhafte  Erkrankungen  geben,  während  oft  auch  eine  Gelegenheitsursache 
gar  nicht  eruirbar  ist.  Für  den  Verlauf  der  Paralyse  sind  die  Anfälle  inso- 
ferne  von  Bedeutung,  als  sie  häufig  von  einer  merklichen  Zunahme  der 
psychischen  Störungen  gefolgt  sind;  oft  auch  führt  ein  paralytischer  Anfall 
oder  eine  Serie  von  solchen  den  Exitus  herbei. 

Welche  Vorgänge  im  Gehirne  den  paralytischen  Anfällen  zu  Grunde 
liegen,  wissen  wir  nicht;  irgendwelche  palpable  Veränderungen,  welche  die 
während  des  Lebens  beobachteten  schweren  Krämpfe  oder  Lähmungen  erklären 
würden,  werden  an  den  Gehirnen  von  im  Anfalle  Verstorbenen  nicht  vor- 
gefunden. Die  Annahme,  dass  den  Anfällen  umschriebene  Circulationsstörungen 
oder  Oedeme  im  Gehirne  zu  Grunde  liegen,  ist  nicht  mehr  als  eine  plausible 
Hypothese.  In  manchen  Fällen  allerdings  kleidet  sich  eine  pachymeningitische 
Blutung  mit  Compression  des  Gehirns  in  das  Gewand  eines  paralytischen 
Anfalles. 

Das  E n d s t a d i u m  d er  Dementia  p a r a  1  y  t i c a  ist  ein  Zustand  nicht 
blos  tiefsten  geistigen,  sondern  auch  körperlichen  Verfalles.  Der  Kranke 
wird  immer  unbehilllicher  und  unbeweglicher;  er  magert,  oft  bis  zum  Extrem, 
ab;  die  Gefässinnervation  sinkt  mehr  und  mehr  und  damit  tritt  eine  Neigung 
zu  Stauungen  und  Oedemen,  zu  Catarrhen  aUer  Schleimhäute  auf.  Die  Nahrungs- 
aufnahme wird  durch  die  Schlinglähmung  erschwert,  der  Kranke  aspirirt  öfters 
Ingesta  oder  auch  Speichel  und  dadurch  entstehen  purulente  Bronchitiden 
und  lobulare  pneumonische  Herde.  Es  treten  trophische  Störungen  in 
verschiedenen  Geweben  auf,  die  zu  Folgeerscheinungen  füliren.  Dahin  ist  zu 
rechnen  das  Othaematom^  das,  wenn  es  auch  immer  traumatischen  Ursprungs 
ist,  doch  eine  Ernährungsstörung  des  Ohrknorpels  zur  Voraussetzung  hat. 
Dahin  ist  ferner  zu  rechnen  eine  abnorme  Gebrechlichkeit  der  Knochen, 
die  zu  Fracturen  bei  geringfügigen  Gewalteinwirkungen  führt,  was  besonders 
an  den  Kippen  häufig  beobachtet  wird.  Hieher  gehört  ferner  die  Neigung  der 
Kranken,  auf  Druck  sehr  leicht  gangränösen  Decubitus  zu  bekommen,  was 
durch  die  Unempfindlichkeit  der  Kranken  einerseits,  durch  die  geringe  Gefäss- 
spannung  andererseits  sehr  begünstigt  wird. 

Der  endliche  Ausgang  der  Dementia  paralytica  ist  mit  einer 
Constanz,  die  kaum  eine  Ausnahme  zulässt,  der  Tod,  Dieser  Endeffect  kann 
durch  sehr  verschiedene  nächste  Ursachen  bedingt  werden.  Eine  Minderzahl 
von  Paralytikern  endet  im  Initialstadium  durch  Selbstmord.  Manche  gehen 
in  einem  paralytischen  Anfalle  zu  Grunde,  viele  an  intercurrenten  Erkran- 
kungen, denen  sie  in  Folge  der  verminderten  Widerstandsfähigkeit  ilu'es 
Organismus  und  der  Unfähigkeit,  Schädlichkeiten  zu  vermeiden,  (wobei 
auch  die  Analgesie  mitwirkt)  sehr  ausgesetzt  sind.  Im  Endstadium 
sind  die  häutigste  Ursache  die  durch  die  Schlinglähmung  bedingten  lobulär 
pneumonischen  Herde.  Jene  Kranken  endlich,  die  allen  diesen  Gefahren 
entgehen,  verfallen  einem  zunehmenden  allgemeinen  Marasmus,  der  endlich 
durch  Herzlähmung  zum  Tode  führt. 

Es  wird  in  der  Literatur  eine  Anzahl  von  Fällen  angeführt,  in  denen 
Heilung  einer  wohl  constatirten  Dementia  paralytica  eingetreten 
sein  soll,  Fälle,  die  allerdings  gegenüber  der  Anzahl  letal  verlaufender  Fälle  ver- 
schwinden. Doch  wird  auch  ihre  Zahl  noch  vermindert  durch  die  Erkenntnis, 
dass  es  sich  häufig  niu'  um  sehr  weitgehende  und  langdauernde  Remissionen 
handelte,  die  nur  den  Schein  der  Genesung  vortäuschten.  Es  bleibt  aber  immer 


DEMENTIA   PARALYTICA.  381 

noch  eine  gewisse  Zahl  von  Fällen  übrig,  in  denen  selbst  nach  jahrelanger 
Beobachtung  eine  Wiederkehr  der  Erkrankung  nicht  eintrat.  Es  resultirt  also 
hieraus  die  tröstende  Gewissheit,  dass  die  Heilung  der  Dementia  paralytica 
möglich  ist,  wenngleich  man  im  Einzelfalle  mit  diesem  Ausgang  nur  mit  dem 
Grade  von  Wahrscheinlichkeit  hoffen  kann,  mit  dem  man  etwa  ein  Wunder  er- 
wartet. Immer  ist  aber  bei  der  Feststellung  der  Prognose  den  Angehörigen 
gegenüber  an  die  Möglichkeit  von  Eemissionen  zu  denken. 

Die  durchschnittliche  Dauer  der  Dementia  paralytica  be- 
trägt, wenn  man  vom  BeginnemanifesterErscheinungen  an  rechnet,  1 — 3  Jahre, 
eine  Zeit,  die  sich  unbestimmbar  verlängert,  wenn  man  die  schwer  abgrenz- 
baren  Prodromalstadien  mit  in  Rechnung  ziehen  will.  Ausnahmsweise,  besonders 
bei  sorgfältigster  Pflege,  kann  sich  die  Krankheit  wohl  auch  viel  länger,  bis 
zu  7 — 8  Jahren  erstrecken.  Ueber  den  wesentlich  rascheren  Verlauf  gewisser 
Fälle  {galoppirende  Paralyse)  wurde  schon  früher  gesprochen. 

Die  Diagnose  der  progressiven  Paralyse  gründet  sich  auf  den  Nach- 
weis der  erworbenen  psychischen  Schwäche  einerseits,  auf  den 
der  Charakter  istischen  motorischen  Störungen  anderseits;  endlich 
sind  auch  die  manischen  und  melancholischen  Symptomenbilder  dort,  wo  sie 
vorhanden  sind,  von  Werth.  Die  Diagnose,  in  den  meisten  Fällen  kein  Gegen- 
stand des  Kopfzerbrechens,  kann  doch  in  einzelnen  Fällen  Schwierigkeiten 
machen.  Dies  gilt  besonders  von  den  frühesten  Stadien  und  deren  Abgrenzung 
von  der  Neurasthenie.  Wichtig  ist  hiefür  der  Nachweis  der  gemüthlichen 
und  ethischen  Abstumpfung,  der  Nachweis  wirklicher  Gedächtnisschwäche  und 
Erinnerungsdefecte,  während  den  betreffenden  Klagen  der  Neurastheniker  meist 
ein  reales  Substrat  nicht  zu  Grunde  liegt;  entscheidend  kann  werden  der  Befund 
von  leichter  Sprachstörung,  von  reflectorischer  Pupillenstarre,  von  Schwinden 
der   Patellarreflexe   oder  endlich  das  Auftreten  paralytischer  Anfälle. 

Die  manischen  und  melancholischen  Zustände  der  Paralytiker 
können  Schwierigkeiten  in  der  Diagnose  bereiten,  wenn  die  characteristischen 
Wahnideen  noch  nicht  ausgeprägt  sind,  die  Demenz  noch  wenig  vorgesclnitten 
ist  und  die  motorischen  Störungen  fehlen.  Es  ist  dem  gegenüber  wichtige 
sich  an  die  Thatsache  zu  halten,  dass  die  meisten  Manien  und  Melancholien 
bei  Männern  zwischen  35 — 55  Jahren  der  progressiven  Paralyse  angehören. 

Schwierig,  wenn  auch  gerade  practisch  nicht  besonder  wichtig,  kann 
sich  die  Differentialdiagnose  von  der  Dementia  senilis  gestalten.  Es  ist 
hiefür  von  Bedeutung  das  Alter;  ferner  haben  die  Wahnideen  der  Dementia 
senilis  mehr  den  Character  des  Misstrauens,  des  Verfolgungswahnes;  die  Sprach- 
störung der  Paralyliker  hat  mehr  den  Character  der  Coordinationsstörung,  die 
der  senilen  Demenz  den  Character  der  Aphasie.  Auch  in  den  übrigen  moto- 
rischen Störungen  tritt  bei  Dementia  senilis  mehr  das  Element  der  Lähmung 
hervor.  Endlich  ist  die  Progression  bei  Dementia  senilis  meist  eine  weniger 
rasche.  Aufklärend  können  auch  complicirende  Blutungen  oder  Erweichungs- 
processe  des  Gehirns  wirken. 

Zur  Verwechslung  können  auch  H  e  r  d  e  r  k  r  a  n  k  u  n  g  e  n  des  Gehirns  Anlass 
geben.  Der  Stumpfsinn  in  Folge  raumbeschränkender  Hh-ntumoren  kann  die 
einfach  demente  Form  der  Paralyse  vortäuschen.  Der  Kopfschmerz  tritt  aber  1)eim 
Tumor  viel  mehr  in  den  Vordergrund,  heftiger  Schwindel  fehlt  bei  der  pro- 
gressiven Paralyse;  auch  kommt  den  Tumorkranken  ihre  geistige  Insufticienz 
meist  zum  Bewusstsein,  dem  Paralytiker  nicht.  Aufklärend  kann  der  Nachweis 
von  Stauungspapille  oder  von  Herdsymptomen  wirken. 

Auch  mit  der  m  u  1 1  i  p  1  e  n  S  k  1  e  r  0  s  e  kann  die  Dementia  paralytica  dm'ch 
Intentionstremor,  Scandiren,  psychische  Schwäche  eine  gewisse  Aehnlichkeit 
bekommen.  Doch  ist  die  multiple  Sklerose  meist  eine  Erkrankung  eines  frü- 
heren Lebensalters;    ihre  Progression    ist    eine    viel    langsamere   und  endlich 


382  DEMENTIA   PARALYTICA. 

werden  auch  meist  irgendwelche  positive  Merkmale,  wie  Sehnervenatrophie, 
Nystagmus,  Lähmungserscheinungen  die  Diagnose  sichern. 

Schwierig  endlich  und  zugleich  praktisch  äusserst  wichtig  kann  die  Unter- 
scheidung der  Dementia  paralytica  von  gewissen  Formen  der  Gehirn-lues 
werden.  Es  kommt  dabei  weniger  die  luetische  Hirnarterienerkrankung  in 
Betracht,  die  durch  viel  rascheren  Verlauf  vor  Verwechslung  genügend  ge- 
schützt ist,  als  gewisse  diffuse  chronisch  entzündliche  Processe  an  Gehirn  und 
Meningen.  Vermöge  der  oft  zu  constatierenden  vorwiegenden  Localisation 
dieser  Processe  an  der  Hirnbasis  kann  eine  Lähmung  eines  einzelnen  Hirn- 
nerven aufklärend  wirken;  auch  der  Kopfschmerz  tritt  mehr  in  den  Vorder- 
grund, als  dies  bei  der  Paralyse  der  Fall  zu  sein  pflegt.  Wo  diese  Anhalts- 
punkte im  Stiche  lassen,  kann  sich  die  Differentialdiagnose  zu  einer  sehr 
schwierigen  gestalten,  wobei  allerdings  die  Aufgabe  durch  die  ungleich  grössere 
Häufigkeit  der  Dementia  paralytica  erleichtert  wird. 

In  differentialdiagnostischer  Richtung  wäre  endlich  auch  der  paralyti- 
schen Anfälle  zu  gedenken.  Das  Bild  eines  apoplectiformen  Anfalles  kann  so 
vollständig  eine  Hirnblutung  vortäuschen,  dass  im  Insult  selbst  die  Unter- 
scheidung kaum  möglich  ist.  Einen  allerdings  nicht  selir  zuverlässigen  Anhalts- 
punkt kann  das  Verhalten  der  Körpertemperatur  geben,  die  im  paralytischen 
Anfall  gesteigert,  im  echten  apoplektischen  Insult  aber  herabgesetzt  zu  sein 
pflegt.  Es  ist  ferner  zu  berücksichtigen  das  geringere  Alter  der  Paralytiker 
im  Vergleich  zu  dem  der  Apoplektiker  und  der  anamnestisch  erhobene  Nach- 
weis vorangegangener  psychischer  Störungen.  Im  zweifelhaften  Falle  wird  beim 
paralytischen  Anfalle  das  rasche  Schwinden  schwerer  Lähmungserscheinungen 
auf  die  richtige  Fährte  führen. 

Die  wichtigsten  anatomischen  Befunde  bei  der  Dementia  paralytica 
/eigen  in  Bezug  auf  das  Gehirn  und  seine  Hüllen  ziemliche  Verschiedenheiten, 
die  sich  keineswegs  immer  bloss  durch  die  Unterschiede  im  Alter  der  Erkran- 
kung erklären  lassen. 

Bei  längerer  Dauer  der  Erkrankung  fehlt  nie  mehr  weniger  hochgradige 
Atrophie  des  Gehirns;  diese  Atrophie  betrifft  nach  Meynert's  Wägungen 
in  erster  Linie  die  Grosshirnhemisphären,  in  zweiter  Linie  den  Hirn  stamm 
und  am  wenigsten  das  Kleinhirn.  Am  Grosshirn  ist,  wie  schon  der  Augenschein 
lehrt,  der  Stirnlappen  von  der  Atrophie  am  stärksten  betroffen,  ein  Resultat, 
das  auch  durch  die  Wägung  bestätigt  wird.  Das  Gesammtgewicht  des  Gehirns 
kann  in  extremen  Fällen  bis  auf  900  g  sinken  (gegenüber  einem  Normal- 
gewicht von  1363  g  bei  erwachsenen  Männern,  nach  Bischoff.) 

Die  Windungen  werden  durch  die  Atrophie  verschmälert;  die  Furchen  klaffen  weit; 
die  Hirnrinde  zeigt  sich  auf  dem  Durchschnitte  reducirt  auf  einen  schmalen  Rand,  der  in 
extremen  Fällen  nur  1  mm  breit  sein  kann,  Die  atrophische  Einde  hat  meist  dunklere 
Färbung  und  vermehrte  Consistenz.  Aber  die  Atrophie  betrifft  in  ebenso  hohem  Grade  auch 
das  Hemisphären-Mark;  dasselbe  retrahirt  sich  auf  der  Schnittfläche,  hat  meist  zähe  Con- 
sistenz und  bietet  klaffende,  erweiterte  Gefässlücken  dar. 

Die  zarten  Hirnhäute  zeigen  sich  in  vielen  Fällen  getrübt  und 
verdickt,  oft  in  einem  Grade,  dass  es  leicht  gelingt,  dieselben  von  einer 
ganzen  Hemisphäre  als  ein  dickes,  zusammenhängendes  Fell  abzuziehen.  Doch 
ist  diese  Trübung  und  Verdickung  der  Meningen  kein  constanter  Befund  und 
sind  besonders  in  den  Fällen,  welche  in  früheren  Stadien  zur  Obduction 
kommen,  die  Meningen  manchmal  ganz  zart,  während  anderseits  auch  in 
frischen  Fällen  gelegentlich  hochgradige  meningeale  Veränderungen  gefunden 
werden. 

Die  Meningen  sind  oft  mit  der  Hirnrinde  stellenweise  ver- 
wachsen, besonders  an  den  Windungskuppen,  so  dass  beim  Versuche,  die 
Meningen  abzuziehen;  an  ihnen  die  oberflächlichen  Rindenschichten  haften 
bleiben  und  an  der  Hirnrinde  Substanzverluste  mit  rauhem  Grunde  sich  zeigen. 


DEMENTIA    PARALYTICA.  383 

Die  Trübung  und  Verdickung  der  Meningen  sowie  die  Verwachsung  derselben  mit  der 
Hirnrinde  sind  über  dem  Stirn-  und  Scheitel-Hirn  am  stärksten  ausgeprägt;  sie  nehmen 
gegen  den  Scheitel-  und  Hinterhauptslappen  zu  ab  und  sind  nur  ausnahmsweise  an  den 
basalen  ßindenparthien  in  spärlicher  Entwicklung  zu  constatiren. 

Zwischen  Pia  und  Araclmoidea  findet  sich  in  vielen  Fällen  eine  Flüssig- 
keit angesammelt,  ein  H  y  d  r  o  c  e  p  h  a  1  u  s  e  xt  e  r  n  u  s,  der  als  ein  Hydrocepha- 
lus  ex  vacuo  aufzufassen  ist,  indem  Flüssigkeit  den  Raum  in  der  Schädelhöhle 
ausfüllt,  den  das  atrophirende  Hirn  frei  gibt.  Wo  an  umschriebenen  Stellen 
die  Atrophie  eine  besonders  starke  ist,  gewinnt  diese  Flüssigkeitsansammlung 
das  Ansehen  von  förmlichen  Cysten,  die  sich  in  die  Tiefe  der  Furchen  hinein 
erstrecken. 

Die  Hirnhöhlen  sind,  wenigstens  nach  längerem  Bestände  der  Erkran- 
kung, meist  erweitert  und  mit  klarem  Serum  erfüllt.  Nach  constanter,  ja 
nach  meinen  Erfahrungen  selbst  in  frischen  Fällen  fast  nie  fehlend,  findet 
sich  eine  krankhafte  Veränderung  am  Ependym  der  Ventrikel;  es  ist  ver- 
dickt und  mit  einer  Unmasse  feinster  Wärzchen  bedeckt,  sogenannten  E  p  e  n- 
dymgranulationen,  so  dass  es  das  Aussehen  und  Anfühlen  von  Chagrin- 
leder  bekommt. 

An  der  harten  Hirnhaut  findet  sich  als  nicht  seltene  Complication  die 
Pachymeningitis  haemorrhagica  interna,  die  zur  Bildung  von  Pseudo- 
membranen und  Blutaustritten  an  der  Innenfläche  der  Dura  führt,  welche 
Blutungen  ausnahmsweise  halbseitig  solchen  Umfang  erreichen  können,  dass 
sie  zu  einer  erheblichen  Compression  der  betreffenden  Hemisphäre  führen. 

Am  knöchernen  Schädel  kommt  es  bei  längerer  Dauer  der  Erkrankung 
und  hochgradiger  Hirnatrophie  manchmal  zu  einer  Hyperostose  der  Innen- 
fläche, die  besonders  über  dem  Stirnlappen,  dem  Sitz  der  stärksten  Atrophie, 
die  grösste  Dicke  erreicht  und  wohl  als  eine  Hyperostosis  ex  vacuo  auf- 
zufassen ist. 

Die  feineren  Veränderungen  am  Gehirn  der  Paralytiker  beziehen  sich  auf  die 
nervösen  Elemente  sowohl,  wie  auch  auf  die  Bindesubstanz  und  auf  die 
Gef  ässe. 

A.n  den  Gaaiglienzellen  findet  sich  theils  Sklerose  mit  Verdichtung  des  Proto- 
plasma und  ündeutlichwerden  des  Kernes,  theils  einfache  und  pigmentöse  Atrophie  mit 
Schwund  der  Fortsätze  ;  das  Endresultat  ist  eine  Vermindei^ung  der  Zahl  der  Ganglienzellen, 
so  dass  man  in  vorgeschrittenen  Fällen  oft  in  einem  Gesichtsfelde  eines  Eindenschnittes 
kaum  eine  einzige,  deutlich  erkennbare  Ganglienzelle  vorfindet.  Dagegen  zeigt  sich  die 
Rinde  ganz  durchsetzt  von  einer  Unmasse  von  Rundzellen  und  „freien  Kernen",  theils  zer- 
streut, theils  in  gruppenweiser  Anhäufung,  theils  in  den  Gefässwandungen  abgelagert. 

Über  den  Schwundmarkhaltiger  Nervenfasern  in  der  Grosshirnrinde  haben 
wir  zuerst  durch  Tuczek's  mit  feineren  Methoden  (Exner'sche  und  Weigert'sche 
Faserfärbung)  angestellte  Untersuchungen  eingehende  Aufschlüsse  erhalten.  Wir  erfuhren 
dadurch,  dass  bei  der  Dementia  paralytica  die  markhaltigen  Nervenfasern  der  Hirnrinde 
nach  und  nach  zu  Grunde  gehen,  und  zwar  zuerst  die  tangentialen  Fasern  der  äussersten 
Rindenschichte,  und  nach  und  nach  auch  die  Fasern  in  tieferen  Schichten  und  endlich 
auch  die  radiären  Fasern  (Projectionsfasern)  der  dem  Marke  benachbarten  Rindenschichten, 
so  dass  in  vorgeschrittenen  Fällen  die  Rinde  markhaltige  Nervenfasern  fast  gar  nicht  mehr 
aufweist.  Dieser  Faserschwund  pflegt  entsprechend  der  stärkeren  Atrophie  im  Stirnlappen 
und  Scheitellappen  am  weitesten  gediehen  zu  sein. 

Die  der  Bindesubstanz  angehörigen  „Saftzellen"  gewinnen  durch  Vermehrung 
ihrer  Kerne  und  Quellung  des  Protoplasma  unter  gleichzeitiger  Vermehrung  und  An- 
schwellung ihrer  Fortsätze  das  Aussehen  der  sogenannten  Spindelzellen,  die  sich  in 
den  an  das  Mark  angrenzenden,  sowie  in  den  äussersten  unmittelbar  unter  den  Meningen 
liegenden  Schichten  insbesonders  reichlicher  Anhäufung  vorfinden,  ferner  durch  das  ganze 
Hemisphärenemark  in  Masse  auftreten.  In  sehr  lang  dauernden  Fällen  kann  es  endlich  zur 
Bildung  eines  faserigen,  dem  gewöhnlichen  Bindegewebe  ähnlichen  Gewebes  kommen. 

Die  kleinen,  in  der  Hirnsubstanz  selbst  eingebetteten  Gefässe  sind  in  der  mannig- 
fachsten Weise  verändert.  Die  Gefässwände  zeigen  Kernvermehrung,  die  adventitiellen 
Räume  sind  erweitert  und  erfüllt  mit  Anhäufungen  von  Rundzellen,  mit  Pigmentscholleu  ; 
ferner  findet  sich  in  den  Gefässwänden  colloide  und  hyaline  Degeneration.  Verkalkung 
11.   s.  w. 


384  DEMENTIA    PARALYTICA. 

Bezüglich  der  Auffassung  des  der  Dementia  paralytica  zu 
Grunde  liegenden  Processes  ist  eine  Yolle  Einigkeit  noch  nicht  erzielt; 
es  stehen  sich  hauptsächlich  zwei  Ansichten  gegenüber.  Nach  der  einen 
soll  die  Dementia  paralytica  ein  entzündlicher  Process,  eine 
Periencephalitis  oder  Meningoencejjhalitis  chronica  sein,  es  sollen  Veränderungen 
an  den  Gefässen,  an  den  Meningen  und  der  Bindesubstanz  das  Primäre  sein 
und  die  Degeneration  der  nervösen  Elemente  secundär;  es  sollen  langdauernde 
Hyperämien  (fluxionäre  durch  Hitzewirkung,  Alkohol  etc.  oder  functionelle 
durch  Ueberanstrengung)  den  Anstoss  zum  Ausbruche  des  chronisch  entzünd- 
lichen Processes  geben. 

Zur  Stütze  dieser  Anschauung  werden  experimentelle  Ergebnis  se  herangezogen 
indem  es  Mendel  gelungen  ist,  bei  Hunden  durch  Erzeugung  wiederholter  intensiver  Hirn-, 
hyperämien  (oftmalige  Rotation  auf  einer  Scheibe,  mit  dem  Kopfe  zur  Peripherie  gewendet.) 
Krankheitsbilder  hervor  zurufen,  die  klinisch  und  anatomisch  mit  der  Dementia  paralytica 
der  Menschen  eine  weitgehende  Aehnlichkeit  darbieten  sollen. 

Von  anderen  Seiten  wird  den  Veränderungen  an  den  ner- 
vösen Elementen  eine  grössere  Bedeutung  beigelegt,  dieselben 
wenigstens  in  einem  Theil  der  Fälle  für  primär,  den  entzündlichen  Ver- 
änderungen vorangehend  erachtet;  es  wird  zur  Stütze  dieser  Ansicht  auch 
auf  die  innigen  Beziehungen  zu  anderen  degenerativen  Erkrankungen  des 
Nervensystems,  vor  Allem  zur  Tabes  dorsalis,  auf  die  gemeinsamen  Be- 
ziehungen beider  zur  Syphilis  etc.  hingewiesen. 

Das  Piichtige  dürfte  eine  vermittelnde  Ansicht  treffen,  welche  den  ent- 
zündlichen und  degenerativen  Processen  gleiche  Dignität  zuerkennt  und  in 
dem  relativen  Ueberwiegen  des  einen  oder  des  anderen  Processes  einen  Theil 
der  Verschiedenheiten  im  Krankheitsbilde  und  Verlaufe  der  Dementia  para- 
lytica begründet  sieht.  Sehen  wir  ja  doch,  dass  eine  Pteihe  von  Schädlich- 
keiten, wäe  Syphilis,  verschiedene  Gifte,  die  Bakterienproducte  acuter  Infec- 
tionskrankheiten  sowohl  degenerative  als  auch  entzündliche  Processe  hervor- 
zurufen geeignet  sind. 

Nach  dem,  was  über  die  Ausgänge  der  progressiven  Paralyse  gesagt 
wurde,  kann  Erfreuliches  in  dem  Capitel  über  die  Therapie  nicht  erwartet 
werden.  Wir  stehen  der  ausgebildeten  Krankheit  machtlos  gegenüber,  ja  wir 
können  auch  in  den  frühesten  Stadien  das  kommende  Uebel  wohl  voraussehen 
aber  nicht  abwenden. 

Wo  immer  der  Verdacht  auf  eine  beginnende  Dementia  paralytica  besteht, 
wird  dem  Kranken  dringend  vollständige  Ptuhe,  Entfernung  aus  seiner  ge- 
wohnten Umgebung,  Enthaltung  von  jeder  körperlichen  und  geistigen  An- 
strengung und  sorgfältige  Ueberwachung  der  Lebensweise  mit  Vermeidung 
von  Alcohol,  Tabak,  grösseren  Hitzegraden,  Nachtwachen  etc.  anzurathen 
sein.  Täglich  mehrmalige  energische  Application  von  Kälte  auf  den  Kopf 
entspricht  einer  rationellen  Indication.  Tritt  unter  einem  solchen  Kegime  eine 
dauernde  Besserung  ein,  so  wird  allerdings  bei  der  Schwierigkeit  der  Unter- 
scheidung von  initialen  Paralysen  und  schweren  cerebralen  Neurasthenien  der 
Verdacht  eines  diagnostischen  Irrthums  schwer  abzuweisen  sein. 

Die  innige  ätiologische  Beziehung  der  Syphilis  zur  Dementia  paralytica 
könnten  den  Versuch  gerechtfertigt  erscheinen  lassen,  durch  eine  antiluetische 
Cur  dem  Weiterschreiten  des  Uebels  Einhalt  zu  thun.  Die  Erfahrungen, 
welche  von  vielen  Seiten  gemacht  wurden,  muntern  zu  diesem  Versuche  nicht 
auf.  Vereinzelte  Kemissionen  werden  nach  dem  früher  Erwähnten  auch  er- 
klärlich, ohne  dass  man  der  antiluetischen  Cur  das  Verdienst  daran  zuzu- 
schreiben braucht,  und  in  ernsthafter  Weise  ist  eigentlich  von  Niemanden! 
ein  günstiger  Einfiuss  energischer  antisyphilitischer  Curen  auf  die  Dementia 
paralytica  behauptet  worden;  dagegen  ist  von  mehreren  Seiten  der  Meinung 
Ausdruck  gegeben   worden,    dass  derartige  Curen  ungünstig,  den  Verlauf  be- 


DEMENTIA    PARALYTICA.  385 

schleunigencl  auf  die  Dementia  paralytica  einwirken.  Trotzdem  wii'd  man 
sich  vor  Augen  halten  müssen  die  Schwierigkeit  der  Diflerentialdiagnose  zwischen 
Dementia  paralytica  und  gewissen  Formen  luetischer  Hirnerkrankung,  und  be- 
denken, dass  man  in  zweifelhaften  Fällen  durch  Unterlassung  mehr  Schaden 
anrichten  kann  als  durch  energisches  Handeln. 

Mehr  noch  als  bei  antiluetischen  Curen  ist  vor  allen  anderen  eingrei- 
fenderen Behandlungsmethoden  zu  warnen;  vor  Allem  vertragen  Paralytiker 
hydriatische  Proceduren  nicht  und  werden  solche  Kranke  häutig  genug 
durch  Ausserachtlassung  dieses  Umstandes  infolge  von  Kaltwassercm^en  vor- 
zeitig „anstaltsreif." 

Der  Irrenanstalt  bedürftig  sind  alle  in  maniakalischen  oder  melan- 
cholischen Zuständen  befindlichen  Paralytiker  und  kann  besonders  bei  Ersteren 
die  Unterbringung  in  eine  Anstalt  nicht  frühe  genug  stattfinden,  soll  der  Kranke 
selbst  und  seine  Familie  vor  den  schwersten  Folgen  seiner  Ausschreitungen 
rechtzeitig  geschützt  werden.  An  einfacher  Dementia  paralytica  leidende 
Kranke  können,  wenn  sie  lenksam  und  in  günstigen  A^erhältnissen  sind,  in 
häuslicher  Pflege  verbleiben;  für  die  Mehrzahl  derartiger  Kranker  wird  auch 
die  Irrenanstalt  wenn  schon  keine  Nothwendigkeit  so  doch  ein  Vortheil  sein, 
besonders  in  den  späteren,  die  aufmerksamste  Pflege  erfordernden  Stadien. 

Die  symptomatische  Behandlung  der  Dementia  paralytica  erfordert 
häufig  den  Gebrauch  von  Beruhigungs-  und  Schlafmitteln.  Bei  hoch- 
gradigen Aufregungszuständen  erweist  sich  die  Isolirung  als  ein  wirksames 
Beruhigungsmittel;  von  inneren  Mitteln  leisten  Opium  und  Morphium  bei  der 
Paralyse  wenig,  wirken  sogar  manchmal  erregend.  Bei  den  furibundesten 
Tobsuchtszuständen  kann  Hyoscinum  hydrojodicum,  ^2 — 1  Milligr.  subcutan 
als  rasch  und  sicher,  aber  nicht  ungefährlich  wirkendes  Mittel  am  Platze  sein. 
Von  den  eigentlichen  Schlafmitteln  ist  Chloralhydrat  für  längeren  Gebrauch 
nicht  angezeigt,  da  es  die  ohnehin  vorhandene  Neigung  zur  Vasoparalyse 
noch  steigert;  vorübergehend  kann  es  aber  in  Anwendung  kommen;  sonst 
passen  Paraldehyd,  Amylenhydrat,  Sulfonal  oder  Irional.  Auch  grössere 
Quantitäten  Bie7-  (1 — 2  Liter)  Abends  gegeben,  wirken  manchmal  günstig 
hypnotisch. 

In  den  hilflosen  Endstadien  erfordern  die  Kranken  die  sorgfältigste 
Pflege.  Die  Nahrungsaufnahme  muss  sorgfältig  überwacht  werden,  nicht  nur 
damit  die  Kranken  nicht  allerlei  Ungeniessbares  verschlingen,  sondern  auch, 
damit  sie  sich  nicht  gierig  den  Mund  vollstopfen  ohne  zu  schlucken,  und  so 
ersticken  (was  nicht  zu  selten  passirt).  Sobald  wesentliche  Schlingbeschwerden 
eintreten,  muss  sich  der  Kranke  beim  Essen  sehr  viel  Zeit  lassen,  um  sich 
nicht  durch  Aspiration  von  Ingestis  zu  schaden. 

Aufmerksamkeit  erfordern  die  Entleerungen  der  Kranken.  Durch 
ein  rechtzeitig  dargereichtes  Abführmittel  kann  oft  einem  paralytischen  Anfalle 
vorgebeugt  werden.  Ferner  gehen  die  Kranken  oft  tagelang  mit  bis  zum 
Nabel  gefüllter  Blase  herum,  ohne  etwas  zu  äussern.  Man  vermeide  es  möglichst 
lang,  zum  Katheter  zu  greifen.  Oft  bedarf  es  nur  der  energischen  Aufforderung 
an  den  Kranken,  der  in  seinem  Stumpfsinn  ganz  vergessen  hat,  seine  Blase 
zu  entleeren.  Oder  es  wird  der  gewünschte  Effect  durch  ein  Abführmittel 
Klysma  oder  durch  ein  Bad  erreicht.  Bei  Kranken  mit  erloschenen  Patellar- 
reflexen  lässt  sich  die  Blase  meist  mechanisch  ausdrücken. 

Den  Decubitus  anlangend  halte  man  sich  vor  Augen,  dass  die  Prophy- 
laxe wichtiger  ist  als  die  Therapie.  Sorgfältige  Reinhaltung,  Vermeidung  an- 
haltender Bettlage  bei  noch  geh-  oder  sitzfähigen  Kranken,  häufiger  Lage- 
wechsel bei  Bettlägrigen,  Anwendung  von  Luft  oder  Wasserkissen  und  recht- 
zeitige Behandlung  jeder  leichten  Excoriation  werden  in  der  Regel  vor  dieser 
ominösen  Complication  bewahren. 

Bibl.  med.  Wissenschaften.    I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  -^O 


386  DEMENTIA  SENILIS. 

In  paralytischen  Anfällen  sorge  man  für  Entleerung  des  Unter- 
leibs, applicire  die  Eisblase  auf  den  Kopf  und  unterlasse  es,  dem  nicht  schling- 
fähigen Krauken  irgend  etwas  per  os  zu2ufüln'en.  Bei  gehäuften  epileptiformen 
Anfällen  leistet  Chloralhydrat  'per  Klysma,  2  Gramm  pro  dosi,  nöthigenfalls 
2 — 3mal  im  Tage  wiederholt,  gute  Dienste. 

V.   WAGXER. 

Dementia  senilis  (Psychosis  senilis,  Altersblödsinn),  eine  nur  im  Yor- 
geschrittenen  Lebensalter  auftretende  psychische  Störung,  ist  gekennzeichnet 
durch  einen  unaufhaltsamen  geistigen  Verfall,  welcher  sich  sehr  häufig  unter 
einer  Eeihe  wechselvoller  melancholischer  und  manischer  Phasen,  welche  mit 
Wahnbildungen  verbunden  sein  können,  vollzieht.  Er  zeigt  zugleich  andere 
Erscheinungen  des  senilen  Marasmus  und  nicht  selten  auch  anderweitige  ce- 
rebrale Störungen. 

Genetisch  ist  diese  Erki^ankung  zurückzufülu'en  auf  eine  melir  oder 
w^eniger  in-  und  extensive  atheromatöse  Entartung  der  Hirnarterien, 
durch  welche  die  cerebral-psychischen  Ceutren  in  ihrer  Ernährung  gestört 
und  dadurch  zu  Abnahme  und  Schwund  gefüllt  werden. 

Die  Lebensperiode  ilu'es  gewöhnlichen  Auftretens  liegt  jenseits  der 
60.  Lebensjalu'es ;  sie  tritt  aber  ausnahmsweise  auch  schon  in  etwas  jüngerem 
Alter  (Senium  praecox)  bei  schon  m'sprünglich  invaliden,  oder  durch  fort- 
gesetzte Ueberarbeitung  oder  aufreibende  Affecte  geschwächten  Individuen  auf. 
Sie  scheint  häufiger  bei  Männern  als  bei  Frauen  beobachtet  zu  werden. 

Symptomatologie.  Den  psychischen  Symptomen  gehen  häufig  Zeichen 
eines  difiusen  Hirm-eizzustandes  voraus,  verschieden  je  nach  Xatm'  und  Sitz 
der  durch  die  Atherose  bedingten  Circulationsstörungen  und  verbunden  mit  den 
Erscheinungen  allgemeiner  Schwäche :  Kopfweh,  Schwindel,  Schlaflosigkeit, 
allgemeines  Unbehagen,  Frost-  und  Unruhegefühle,  zuckender  Puls  mit  den 
Zeichen  vermehrter  arterieller  Spannung. 

Das  erste  auffällige  psychische  Smptom  bildet  in  der  Ptegel  rasch  fort- 
schreitende Gedächtnisschwäche.  Während  aber  die  Erinnerung  an  längst 
entschwundene  Tage  noch  fest  haftet,  ja  selbst  die  Eindrücke  aus  fi-üher  Kind- 
heit mit  erstaunlicher  Lebhaftigkeit  reproducirt  werden,  wird  das  Gedächtnis 
für  die  jüngste  A^ergangen hei t  zusehends  immer  lückenhafter.  Der  Kranke 
vergisst  nach  km-zer  Frist,  was  er  gethan  und  gesagt  hat.  Er  verlangt  eine 
Stunde  nach  Tisch  von  Neuem  seine  Mahlzeit,  weil  er  nicht  mehr  weiss,  dass 
er  bereits  gegessen  hat.  Er  verlegt  seine  Habseligkeiten  und  meint  dann, 
sie  seien  ihm  gestohlen  worden.  Er  erzählt  alte  ])ekannte  Geschichten  immer 
wieder.  Oft  kann  er  sich  auch  nicht  mehr  auf  die  Xamen  seiner  Umgebung 
erinnern.  Bald  vermag  er  sich  auch  nicht  mehr  in  den  Strassen  seines 
eigenen  Wohnorts  zurechtzufinden.  Statt  des  thatsächlich  Erlebten  erzählt  er 
aber  gerne  Eingebungen  seiner  Phantasie  und  kindische  Wahnideen,  welche 
ohne  alle  Kritik  vorgebracht  werden.  Piasch  sinkt  nun  die  ganze  in- 
tellectuelle  Leistungsfähigkeit  in  dem  Maasse  herab,  dass  der  Betrof- 
fene vollkommen  arbeitsunfähig  wird. 

Gleiclizeitig,  zuweilensogar  schon  früher,  verödet  das  Gemüthsleben. 
Der  Ki^anke  wh'd  stumpf  und  theilnahmslos  gegenüber  seinen  gewohnten  Ge- 
fühlsbeziehungen, gegen  Wohl  und  Wehe  seiner  Familie  und  seiner  Freunde, 
w^ährend  er  nm'  auf  die  Befriedigung  seiner  persönlichen  Interessen  bedacht  ist. 
Unduldsam  und  verständnislos  gegenüber  fremden  Anschauungen  und  Wünschen, 
wird  er  durch  jeden  Widerspruch  gereizt  und  aufln'ausend;  er  ist  aber  bald 
wieder  beruhigt,  denn  sein  Affect  sitzt  nur  oberflächlich. 

Auch  die  ethischen  Gefühle  gehen  rasch  verloren,  namentlich 
der  Sinn  für  jede  Scham.  Nicht  selten  ist  zugleich  der  Geschlechtstrieb 
in  auffälligem  Grade  gesteigert.     So   kommt  es  denn  zu  obscönen  Reden, 


DEMENTIA  SENILIS.  387 

sexuellen  Renommagen,  Heiratsprojecten,  namentlich  auch  zu  unzüchtigen  Hand- 
lungen besonders  mit  Kindern,  welche  oft  vor  dem  Richterstuhle  ausgetragen 
werden  müssen. 

Während  sich  nun  die  fortschreitende  intellectuelle  und  sittliche  Schwäche 
als  rother  Faden  durch  den  ganzen  Krankheitsverlauf  durchzieht,  wechselt 
im  Uebrigen  das  Symptomenbild  mannigfach.  Manche  Fälle  fülu:en  sich 
unter  dem  Bilde  einer  maasslosen  Hypochondrie  ein.  Die  Kranken  wähnen, 
alle  ihre  Körpertheile  seien  innerlich  auseinander  gerissen,  ilu'e  Muskeln  zusam- 
mengesclirumpft,  oder  sie  seien  durch  und  durch  syphilitisch  und  innerlich 
verfault  und  dergeichen  mehr. 

Andere  leiden  an  aufgeregter  Melancholie  mit  Wahnvorstellungen 
und  Sinnestäuschungen,  oft  mit  grenzenlosem  Misstrauen,  wobei  der  Wahn 
„bestohlen  zu  sein"  eine  hervorragende,  fast  typische  Rolle  spielt.  Sie  haben 
triebartige  Angstzustände  und  Zwangsvorstellungen,  die  zuweilen  bis  zu  ge- 
waltthätigen  Raptus  und  Selbstmordversuchen  ansteigen.  Sie  können  deshalb 
oft  nachts  Stunden  lang  angstvolle  Schreie  ausstossen  und  dadurch  ungemein 
stören. 

Wieder  andere  sind  manisch  enAufregungszuständen  unterworfen. 
Sie  zeigen  eine  grosse  zweckloses  Geschäftigkeit,  ein  triebartiges  Umherlaufen, 
auch  nächtlicher  Weile,  mit  unvorsichtiger  Hantirung  des  Lichtes  und  mit  Kra- 
men in  allen  Schränken.  Sie  machen  sinnlose  Einkäufe,  bekunden  wohl  auch 
gelegentlich  kleptomanische  Triebe.  Sie  führen  beständig  verworrene  Reden, 
in  welchen  auch  ein  matter  Grössenwahn  geäussert  werden  kann.  Die  Ess- 
gier ist  hier  in  der  Regel  sehr  gesteigert. 

So  kann  der  Verlauf  der  Dementia  senilis  durch  die  verschieden- 
artigsten Stadien  hindurchgehen,  auch  häufig  Remissionen  und  Exacerbationen 
zeigen.  Wenn  nicht,  wie  sehr  häufig,  der  Tod  zuvor  als  erlösendes  Ende  ein- 
tritt, so  schreitet  allmälich  der  psychische  Verfall  so  weit  vorwärts,  dass  der 
Vorstellungsschatz  schliesslich  bis  auf  einige  wenige  völlig  stereotype,  oft  ganz 
sinnlose  Wendungen,  die  stets  wiederholt  werden,  verarmt.  Es  besteht  dann 
schliesslich  ein  Zustand  von  Verwirrtheit  mit  vollkommener  Aufliebung  des 
Seilest-  und  Weltbewusstseins,  zugleich  körperliche  Unbehilflichkeit  mit  Un- 
reinlichkeit. 

Die  Dauer  unserer  Erkrankung  ist  sehr  verschieden.  Sie  kann,  wenn 
auch  selten,  schon  nach  melu'eren  Wochen,  peracut  zum  Tode  führen.  Ge- 
wöhnlich dauert  sie  1 — 4  Jahre  lang. 

Die  die  psychische  Störung  begleitenden  somatischen  Veränderungen 
verdienen  noch  eine  besondere  Betrachtung.  Wir  finden  bei  allen  unseren 
lü'anken  geschlängelte  rigide  Ai'terien,  sowie  einen  harten,  aljer  kleinen  und 
verlangsamten  Puls.  Es  besteht  Schlaflosigkeit  oder  Schlafsucht,  Abma- 
gerung trotz  häufiger  Gefrässigkeit.  Es  stellen  sich  Schwindelzustände,  epi- 
leptiforme  Convulsionen  und  Hemiplegien  ein.  Nicht  ganz  selten  sind  Sprach- 
störungen und  aphasische  Erscheinungen.  Zuweilen  kann  sich  auch  ein  Zustand 
allgemeiner  Muskelschwäche  entwickeln. 

Der  endliche  Exitus  tritt  in  der  Regel  durch  Apoplexie,  Decubitus,  Cy- 
stitis  oder  Pneumonie  ein. 

Die  Diagnose  wird  zumeist  keine  sehr  grossen  Schwierigkeiten  bereiten. 
Im  Initialstadium  kann  die  Erki'ankung  allerdings  leicht  übersehen  werden, 
indem  man  deren  erste  Erscheinungen  auf  den  physiologischen  Rückgang 
des  Greisenalters  bezieht.  In  späteren  Stadien  dürfte  wohl  hauptsächlich  in 
Fällen  mit  Sprachstörung  und  Lähmungserscheinungen  die  Dift'erentialdiagnose 
mit  der  Dementia  paralytica  in  Betracht  kommen  können.  Gegen  letztere 
sprechen  das  höhere  Alter  des  Erkrankten,  der  glossoplegische  nicht  ataktische 
Charakter  einer  vorhandenen  Sprachstörung,  die  hemiplegische  Form  der  Läh- 
mungszustände,  die  geringe  Productivität  der  Wahnideen. 

25* 


3B8  DENGUE-FIEBER. 

Die  Prognose  ist  absolut  ungünstig  zu  stellen. 

Die  pathologische  Anatomie  ergibt  in  vorgeschrittenen  Fällen  aus- 
gebildete Atherose  der  Gehirn-Arterien,  Abnahme  des  Gehirngewichts,  Ver- 
schmäl erung  der  Windungen  des  Grosshtrns,  namentlich  im  A^orderhirn,  com- 
pensatorische  Schädelverdickungen  und  hydropische  Serum-Ansammlungen.  Das 
Mikroskop  zeigt  uns  Degeneration  der  Ganglienzellen  und  Schwund  der  Faser- 
massen. Ausserdem  finden  sich  des  Oefteren  Erweichungs-  und  apoplektische 
Herde  in  Rinde  und  Marklager,  auch  Pachymeningitis  hämorrhagica. 

Die  Behandlung  dieser  unheilbaren  Erkrankung  hat  nur  symptomatische 
Aufgaben  zu  erfüllen.  Bewahrt  die  senile  Demenz  einen  ruhigen  Charakter,  so 
genügt  die  fürsorgliche  Pflege  in  der  Familie  oder  in  einer  gewöhnlichen  Pflege- 
austalt,  verläuft  sie  aber  mit  Erregungszuständen,  so  kann  die  Irrenanstalt 
nicht  entbehrt  werden.  kirn. 


{Rheumatismus  fehrilis  exanthematicus,  Daridy-fever, 
Pantomime- fever,  Broken  icijig,  fievre  de  foin,  fievre  courbaturale,  La  Padiosa). 
Dengue  ist  ein  altarabisclies  Wort  und  bedeutet  grosse  Abgeschlagenheit 
(Vambeey).  Das  Dengue-Fieber  ist  eine  seit  Ende  des  vorigen  Jahr- 
hunderts in  den  Küstenstrichen  der  südlichen  Staaten  Nord-  und  Südamerikas 
einerseits,  und  den  Küsten  des  rothen  Meeres  andererseits  epidemisch  auf- 
tretende Krankheit,  welche  dem  Schiffsverkehr  folgend  zu  wiederholten  Malen 
sich  sowohl  auf  die  Inseln  des  Indischen,  als  auch  des  Atlantischen  Oceans 
ausbreitete  und  sogar  Europa  einmal  in  Cadix  (1863),  ein  anderes  Mal  und 
zwar  in  neuester  Zeit  (1889)  in  Athen,  Constantinopel,  Salonichi,  Varna 
erreichte. 

Fraglich  erscheint  es,  ob  die  in  Rxissland  (Odessa,  Petersbnrg)  im  Jahre  1880  beob- 
achtete Epidemie  mit  der  Dengue-Infection  etwas  zu  thnn  hatte. 

Das  Dengue-Fieber  ist  eine  eminent  contagiöse  Krankheit  und 
zeigt  sich  diese  Disposition  zur  Ansteckung  namentlich  in  kleineren  Kreisen. 
Als  Incubationszeit  werden  4 — 5  Tage  angegeben;  es  werden  jedoch  Fälle 
berichtet,  bei  denen  mit  Sicherheit  von  dem  erwiesenen  Moment  der  An- 
steckung bis  zum  Ausbruch  der  Krankheit  nur  wenige  Stunden  vergingen. 
Die  Krankheit  ergreift  Männer  und  Weiber  ohne  Unterschied  des  Alters,  alle 
Eacen  unterliegen  der  Infection,  nur  die  Neger  scheinen  weniger  prädisponirt 
zu  sein  —  auch  Aerzte  und  Wärter  werden  häufig  befallen.  Die  Uebertragung 
des  Contagiums  findet  nicht  nur  durch  die  Kranken  selbst  statt,  sondern  durch 
die  von  ihnen  benützten  Gegenstände  (Kleider,  Bettwäsche  etc.)  Andererseits 
ist  das  Dengue-Fieber  eine  wahre  tropische  Krankheit ;  die  Grenzen  seiner 
Ausdehnung  liegen  nach  Norden  und  nach  Süden  nicht  allzuweit  vom 
Aequator. 

Der  Infectionsträger  des  Denguefieber  ist  nicht  bekannt.  Zwar  gelang  es  Mc. 
Laughlin  im  Venenbhite  mehrerer  an  Dengue  erkrankten  Personen  Micrococcen  nachzu- 
weisen, doch  bezweifelt  E.  Klebs  schon  wegen  der  ungenauen  Angaben  über  das  Morpho- 
logische dieser  Organismen  die  Richtigkeit  dieses  Befundes. 

Krankheits  verlauf  und  Symptome.  Die  Krankheit  beginnt 
mit  rapid  ansteigender  Temperaturerhöhung,  wozu  sich  als  objectiv  nach- 
weisbare Erscheinungen  multiple  Gelenkschwellungen  einstellen.  Das  Bild 
ist  anfänglich  ganz  das  einer  Polyarthritis  rheumatica.  Grosse  Prostration, 
starke  Injection  der  Augen,  Erbrechen  und  Delirien  lenken  jedoch  sofort 
von  der  letztgenannten  Diagnose  ab.  Am  2.  oder  3.  Tage  der  Erkrankung 
zeigt  sich  das  sogenannte  initiale  Exanthem. 

Dasselbe  bietet  entweder  eine  lebhaft  diffuse  Röthung,  die  über  die 
ganze  Körperoberfläche  verbreitet  ist,  oder  grosse  Flecken,  die  an  einzelnen 
Stellen  zusammenfliessen.     Das  initiale  Exanthem  blasst  meist   sehr  schnell 


.    DENGüE-FIEBER.  389 

ab,  während  gleichzeitig  die  früher  stark  geschwollenen,  sowohl  spontan,  als 
auch  auf  Druck  schmerzhaften  Gelenke  ihre  Affection  verlieren  (3. — 5.  Krank- 
heitstag). Mit  dem  Schwinden  der  Gelenkserkrankung  und  dem  gleichzeitig 
unter  profusem  Schweissausbruch  erfolgenden  Niedergang  der  Temperatur  ist 
die  Krankheit  jedoch  nicht  zu  Ende.  Nach  einem  kurzen  Stadium  der 
Euphorie,  während  dessen  die  Kranken  oft  schon  lebhaft  darnach  verlangen, 
das  Bett  zu  verlassen,  tritt  aufs  Neue  Fieber  auf  und  gleichzeitig  damit 
zeigt  sich  ein  frisches  Exanthem  auf  der  Haut.  Dieses  t  e  r  m  i  n  a  1  e  E  x  a  n  t  h  e  m, 
bietet  zum  Unterschiede  von  dem  initialen  ein  sehr  polymorphes  Aussehen, 
indem  es  bald  dem  Exanthem  der  Masern,  des  Scharlachs,  der  Urticaria 
ähnlich  sieht,  bald  als  Liehen  oder  Roseola-Eruption  auftritt,  oder  gar  vesicu- 
lösen  Charakter  zeigt.  Wie  aber  auch  immer  diese  terminalen  Eruptionen 
ausschauen  mögen,  sie  bestehen  nur  kurze  Zeit,  dauern  zumeist  nur  einige 
Stunden,  ad  maximum  2 — 3  Tage.  Entsprechend  der  differenten  Gestaltung 
dieser  terminalen  Exanthemformen  ist  auch  die  in  der  Regel  auftretende 
Desquamation  sehr  verschieden.  Bald  werden  grosse  zusammenhängende 
Epidermisstücke  abgestossen,  bald  erfolgt  die  Abschuppung  kleienförmig, 
bald  geht  sie  so  tief,  dass  grosse  Abschnitte  der  Cutis  ganz  entblösst  werden 
(Rochaed).  Während  der  Eruption  des  terminalen  Exanthems  bietet  die 
Temperaturcurve  einen  typisch  remittirenden  Charakter,  um  während  des 
Desquamationsstadiums  lytisch  die  Norm  zu  erreichen. 

Von  Begleiterscheinungen  wurden  Angina,  Bronchitis,  vorüber- 
gehende Lymjjhdrüsensehiüellungen,  diarrhoische  Stuhlentleerungen  häufig,  jedoch 
keineswegs  mit  constanter  Regelmässigkeit  gefunden;  es  verhält  sich  eben 
mit  dem  Dengue-Fieber  ebenso  wie  mit  jeder  andern  Infections-Krankheit :  die 
Infectionsursache  setzt  Veränderungen  in  den  verschiedensten  Organen  und 
variirt  so  den  Symptomencomplex  in  den  einzelnen  Fällen  sehr  mannigfaltig. 

Bei  der  Differentialdiagnose  kommt  neben  Pohjarthritis  rheuma- 
t)ca  nnd  Scarlaiina  insbesondere  Influenza  in  Betracht,  zumal  Influenza  und 
Dengue  gleichzeitig  in  denselben  Länderstrichen  vorzukommen  pflegen.  Kar- 
TüLis  gelangte  zu  der  Ansicht,  dass  beide  Infectionen  wesentlich  verschieden 
seien  und  dass  namentlich  der  fast  stets  gutartige  Verlauf,  das  constante 
Exanthem,  die  Seltenheit  catarrhalischer  Erscheinungen  als  charakteristische 
Symptome  gegenüber  der  Lifluenza  hervorzuheben  wären. 

Die  Prognose  ist  bei  Erwachsenen  günstig,  bei  Kindern  viel 
ernster,  indem  dieselben  in  einem  grossen  Percentantheil  der  Erkrankung 
unter  dem  typischen  Bilde  schwerer  Hirnreizung  (heftige  Convulsionen) 
binnen  kurzer  Zeit  vom  Tode  ergriffen  werden. 

Was  die  Therapie  betrifft,  so  wurden  gegen  das  Dengue-Fieber  alle  jenen 
Arzneistoffe  empfohlen,  die  als  Antipyretica  und  Specifica  gegen  andere 
Infectionen  Verwendung  finden:  Chinin,  Salicgl,  Antijjgrin  etc.  Christie 
fand  die  Belladonna  in  grossen  Dosen  gegen  die  Gelenksaft'ection  sehr  wirksam. 
Im  Reconvalescenzstadium,  in  dem  sich  die  Patienten  oft  hochgradig  geschwächt 
zeigen,  sollen  Tonica  {Eisen,  Arsen  u.  a.)  verordnet  werden. 

Diabetes  insipiduS  (Polgwia  neuropatUca  persistens).  Eine  Definition 
dieses  Krankheitsbegrift's  durch  eine  anatomische  Störung,  welche  mit  Be- 
stimmtheit auf  ein  ergriffenes  Organ  hinweisen  würde,  eine  Zurückführung 
der  Krankheit  auf  eine  constante  und  streng  umschriebene  Functionsstörung 
ist  bisher  ausgeschlossen.  Die  nosologische  Classification  knüpft  hier  noch  immer 
vorwiegend  an  äussere  Symptome  an,  wie  die  gröbste  Beobachtung  sie  lehrt. 
Bestimmte  Veränderungen  des  Urins  geben  den  Anhaltspunkt.  Und  zwar 
bestehen  die  Erscheinungen  von  Seite  des  Harns  hauptsäclüich  in  gewissen 
quantitativen   Abweichungen    seiner   Zusammensetzung.     Seit    seiner    Er- 


390-  DIABETES  mSIPIDüS. 

kenntnis  gilt  der  Diabetes  insipidiis  als  eine  Art  Urindiarrhoe.  Wir  haben 
uns  gewöhnt,  unter  dieser  Bezeichnung  den  krankhaften  Zustand  zu  verstehen, 
welchen  eine  nicht  bloss  passager  e  gesteigerte  Absonderung  eines 
zucker-  und  eiweissfreien  Harnes  von  relativ  niedrigem  speci- 
fischen  Gewicht  bei  sichergestellter  Integrität  des  Merengewebes  kenn- 
zeichnet. 

Nicht  eigentlich  also  mit  einer  Krankheit,  bloss  mit  einem  Syndrom 
haben  wir  es  anscheinend  hier  zu  thun.  Ein  sorgfältiges  Studium  dieses 
Syndroms  in  Hinsicht  seiner  ätiologischen  Bedingungen  lässt  aber  wenigstens, 
wie  wir  sehen  werden,  trotz  äusserlich  disparaten  Ursprungs  eine  constante 
pathogenetische  Beziehung  zu  abweichenden  Verrichtungen 
verschiedener  nervöser  Apparate  nicht  verkennen.- 

Nach  den  classischen  Werken  über  Gehirnkrankheiten  (Nothnagel, 
Weenicke)  zu  schliessen,  wäre  die  dauernde  Polyurie  als  cerebrales  Herd- 
symptom schon  seit  Längerem  klinisch  festgestellt.  Doch  sind  es  nicht  so 
sehr  eine  genügende  Zahl  von  Einzelbeobachtungen  aus  der  menschlichen 
Pathologie,  die  der  gebotenen  Kritik  Stand  zu  halten  geeignet  sind,  als  viel- 
mehr bestimmte  Ergebnisse  der  Experimentalpathologie  gewesen,  worauf  sich 
diese  Lehre  stützen  konnte. 

Cl.  Bern  ARD  ist  es  bekanntlich  geglückt,  an  Kaninchen  und  Hunden  durch  piqüre  der 
Med.  oblongata  Polyurie  zu  erzeugen.  Dieselben  Eesultate  wie  bei  der  piqure  erzielte  Eckhard 
bei  Kaninchen  auch  durch  Verletzung  des  hintersten  der  Ton  oben  sichtbaren  Lappen  des 
Kleinhirnwurms  (Lobus  hydruricus)  und  ebenso  durch  Läsion  des  Lobus  posterior  cerebelli. 
Da  diese  Polyurien  sich  aber  als  ganz  vorübergehende  irritative  Phänomene  herausgestellt 
haben,  so  hätte  man  auf  Grund  derselben  in  der  menschlichen  Pathologie  auch  höchstens 
nur  passagere  Hyperdiuresen,  z.  B.  die  kurzdauernde  Polyurie  nach  Gehirnblutungen,  deuten 
können,  nicht  ebenso  aber  Formen  des  Diabetes  insipidus,  welche  ein  längere  Zeit  fort- 
bestehendes, selbst  bleibendes  Syndrom  darstellen. 

Erst  Kahler  ist  es,  indem  er  durch  Injection  kleinster  Mengen  von 
Silbernitrat  ganz  umschriebene  persistente  Störungen  setzte,  gelungen,  dau- 
ernde (selbst  Wochen  anhaltende)  Veränderungen  der  Harnabsonderung  bei 
Kaninchen  hervorzurufen.  Die  dauernde  Polyurie  als  cerebrales  Herdsymptom 
kann  bei  diesen  Thieren  nicht  auf  das  Kleinhirn  (den  Wurm)  bezogen  werden, 
sondern  auf  Läsion  der  lateralen  Theile  der  Region  des  Corpus  trapezoides 
und  des  anschliessenden  Abschnittes  des  verlängerten  Markes.  Sie  stellt  sich 
als  ein  dauerndes  Reizungsphänomen  dar  und  es  steht  a  priori  zu 
erwarten,  dass  sie  häufig  als  indirectes  Herdsymptom  erscheinen  wird. 

Betrachtet  man,  was  ja  neuerdings  vielfach  geschieht,  jede  Störung  einer 
wenn  auch  nicht  direct  auf  dem  altern  klinisch-anatomischen  Wege,  so  doch 
durch  das  physiologische  Experiment  localisirbaren  Gehirnfunction  als  Herd- 
symptom, und  überträgt  man,  was  bei  einer  einfachen  secretorischen  Leistung 
wohl  gestattet  sein  wird,  die  am  Versuchsthier  festgestellten  Thatsachen  auf 
den  Menschen,  so  muss  für  den  letzteren  die  Facialis-Abducensregion 
der  Brücke  (die  lateralen  Theile  des  distalen  Ponsabschnittes  und  die  pro- 
ximalen Theile  der  Med.  oblongata)  als  entsprechende  Region  in  Betracht  ge- 
zogen werden. 

Die  Fälle  von  dauernder  Polyurie  aus  der  menschlichen  Pathologie,  bei  denen  Loca- 
lisationsversuche  mehr  oder  weniger  bestimmt  ausführbar  sind,  stehen  mit  den  experimen- 
tellen Forschungsergebnissen  Kahler's  in  Uebereinstimmung,  oder  doch  wenigstens  nicht  im 
Widerspruch.  Der  Versuch,  ohne  Rücksicht  auf  die  Resultate  des  Thierversuches,  durch 
rein  klinische  Analyse  im  Sinne  der  GRiESiKGER'schen  Definition  des  Herdsymptomes 
die  Polyurie  zu  localisiren,  verspricht  eine  gewisse  Aussicht  auf  Erfolg  bei  den  auch  sonst 
von  cerebralen  Symptomen  gefolgten  Schädeltraumen  (die  traumatische  dauernde 
Polyurie)  und  in  den  Fällen  von  dauernder  Polyurie  bei  Gehirnerkran- 
kungen. 

Mit  vollkommener  Sicherheit  gestatten  die  Fälle  von  traumatischer  Polyurie, 
rein  klinisch  analysirt,  allerdings  nicht,  aus  den  n  eben  d  erHype  r  dl  uresebesteh  enden 
Symptomen    eine    streng   umschriebene   cerebrale  Läsionsstelle   zu   erschliessen.     Es    ist 


DIABETES  INSIPIDÜS.  391 

eben  im  gegebenen  Falle  schwer  zu  beurtheilen,  ob  nicht  eine  Fractur  der  Basis  cranii  etc. 
die  Läsionen  der  verschiedenen  betheiligt  sich  darstellenden  Gehirnnerven  in  deren  extern- 
cerebralem  Verlaufe  bedingt.  Diese  relative  Unsicherheit  der  rein  klinischen  Schlussfolge- 
rungen genügend  hoch  angeschlagen,  würde  jedoch  der  Sitz  der  traumatischen  Polyurie 
nach  Massgabe  der  concurrirenden  Symptome  gerade  in  die  oben  genannte  Brückenregion 
zu  verlegen  sein  :  wir  begegnen  hier  also  der  geforderten  Uebereinstimmung. 

Hinsichtlich  der  klinischen  Beobachtungen  von  Hyperdiurese  bei  Grehirnerk ran- 
kungen hat  die  kritische  Sichtung  ergeben,  dass  dauernde  Polyurie  vornehmlich  bei  Ge- 
schwülsten, welche  die  in  der  hinteren  Schädelgrube  gelagerten  Hirntheile  oder  die  graue 
Bodencommissur  sei  es  direct  sei  es  durch  Compression  betheiligen,  zu  beobachten  ist.  Auch 
Herderkrankungen  im  engeren  Sinne,  wenn  sie  Mittelhirn,  Brücke  oder  verlängertes  Mark  be- 
treffen, sind  geeignet,  eine  solche  Polyurie  zu  verursachen.  Dabei  fällt  auf,  dass  die  nega- 
tiven Fälle  viel  zahlreicher  sind,  als  die  positiven.  Gerade  dieses  seltene,  gewissermassen 
zufällige  Auftreten  der  dauernden  Polyurie  bei  Erkrankungen  der  letztangeführten  Geliirn- 
theile  stimmt  aufs  beste  zur  Auffassung  des  Symptoms  als  Reizungsphänomen.  Für  das 
Zustandekommen  eines  Reizungsphänomens  bedarf  es  eben  nicht  allein  des  bestimmten 
Sitzes  der  Erkrankung,  sondern  auch  noch  des  Zutreffens  anderweitiger  Bedingungen. 
A  priori  wird  man  anzunehmen  haben,  dass  Erkrankungen,  welche  einen  irritativen  Einfluss 
auf  die  Umgebung  üben,  also  gerade  die  Tumoren,  leichter,  beziehungsweise  häufiger  Polyurie 
veranlassen.  Die  von  Kahler  unternommene  nähere  Localisation  der  experimentellen 
Polyurie  steht  mit  den  klinischen  Thatsachen  auch  hier  nicht  im  Gegensatz.  Darüber,  ob 
dauernde  Polyurie  als  Herdsymptom  bei  Erkrankungen  der  grauen  Bodencommissur,  des 
Mittelhirns,  der  proximalen  Ponsabschnitte,  der  distalen  Antheile  der  Med.  oblongata  auf- 
treten kann,  liegen  eben  specielle  experimentelle  Erfahrungen  bisher  iiicht  vor. 

Auch  nach  Durchtrennung  der  Nn.  splanchnici  sah  Eckhard  Steigerung  der  Harn- 
absonderung eintreten.  Durchschneidung  de?  Rückenmarks  unterhalb  des  12.  Brustwirbels  hat 
gleichfalls  öfter  leichte  dauernde  Polyurie  zur  Folge.  Und  ebenso  ist  aus  klinischen  (beziehungs- 
weise pathologisch-anatomischen)  Gesichtspunkten  darauf  hingewies  enworden,  dass  degenerative 
Veränderungen  im  Plexus  coeliacus  und  N.  splanchnicus  major  ursächliche  Beziehungen  zum 
Diabetes  insipidus  haben  (Dickinson,  Schapiro).  Die  beobachteten  Veränderungen  bestanden  in 
bindegewebiger  Entartung  des  Plexus,  Pigmentablagerung  und  Extravasaten.  Die  Gefässe 
waren  erweitert,  die  Ganglienzellen  geschrumpft,  zum  Theil  kernlos  verfettet.  Dieselben 
Veränderungen  setzten  sich  noch  in  den  N.  splanchnicus  fort.  Lustig  und  Peiper  konnten 
bei  ihren  aseptisch  ausgeführten  experimentellen  Untersuchungen  über  die  Folgen  der 
Ausrottung  des  Plexus  coeliacus  Polyurie  allerdings  nicht  beobachten.  Peiper  speciell  ver- 
mochte während  längerer  höchst  sorgfältiger  Beobachtung  eine  Steigerung  der  Urinmenge 
über  die  vor  der  Operation  constatirte  durchschnittliche  Quantität  nur  ausnahmsweise  und  in 
ganz  geringem  Grade  zu  sehen.  Die  Splanchnicuspolyurie  und  analoge  Formen  müssten 
gegenüber  dem  Diabetes  insipidus  cerebralis  als  L  ä  h  m  u  n  g  s  p  h  ä  n  o  m  e  n  e  gedeutet  werden. 

Wenn  somit  nach  dem  Bisherigen  eine  gewisse  Wahrscheinlichkeit  dafür 
bestellt,  dass  charakteristische  Formen  dauernder  Polyurie  durch  Lähmung 
und  noch  häufiger  durch  persistente  Erregung  gewisser  Nervenbahnen,  welche 
Beziehungen  zur  Harnabsonderung  haben  und  zum  Theil  durch  bestimmte 
Abschnitte  des  Pons  ziehen,  zu  Stande  kommen,  so  können  wir  hieliir  doch 
nicht  so  distincte  nervöse  Gebilde  wie  etwa  einen  abgegrenzten  Faserzug  oder 
eine  sonstige  ganz  umschriebene  Formation  verantwortlich  machen. 

Für  einzelne  Fälle,  in  denen  man  sich  bestimmt  überzeugt  zu  haben 
glaubte,  dass  die  gesteigerte  Urinentleerung  dem  erhöhten  Durste  folgte,  dass  also 
Polydipsie  das  Primäre  war,  reflectirte  man  nach  allerdings  ganz  theoretischen 
Ueberlegungen  (Cl.  Bernard's  Angabe,  dass  Durchschneidung  des  N.  vagus  an 
der  Cardia  Polyurie  bewirke,  steht  vereinzelt  da),  auf  die  Nerven,  welche  das 
Durstgefühl  vermitteln.  Nothnagel  nahm  an,  dass  die  verschiedenen  dieses 
Gemeingefühl  vermittelnden  nervösen  Bahnen  einen  gemeinsamen  Knotenpunkt, 
das  sog.  „Durstcentrum"  in  der  Medulla  oblongata  besitzen,  und  hält  es  für 
sicher,  dass  der  Durst  hier  auch  central  ausgelöst  werden  kann.  Damit  wäre 
zugleich  eine  nicht  zu  verkennende  pathogenetische  Verschiedenheit  zwischen 
den  beiden  Typen  von  nervöser  Hyperdiurese,  der  Polyurie  als  Reizungsphä- 
nomen und  der  Polyurie  als  Folge  von  primärer  Polydipsie,  bezeichnet. 

Die  vorstehenden  Zeilen  manifestiren  wohl  deutlich  genug  das  Be- 
streben, das  Symptomenbild  der  dauernden  Polyurie  als  ein  nervöses  zu 
deuten.  Die  Fälle  aus  der  menschlichen  Pathologie,  in  welcher  Heredität, 
gewisse  Gifte  (Alkohol,  Blei,  Missbrauch  der  Diuretica),   psychische  Traumen, 


392  DIABETES  INSIPIDUS. 

Hysterie,  Epilepsie,  Dementia  paralytica,  Hydroceplialus,  innere  Incarceration, 
Traumen  auf  den  Baucli,  Gravidität  ätiologisch  discutirt  werden  müssen,  die 
grosse  Ueberzalil  der  Fälle,  wo  der  Diabetes  insipidus  anscheinend  ein  essen- 
tielles, primitives  Syndrom  darstellt,  lassen  sich  den  unzweifelhaft  nervösen 
Typen  ungezwungen  anreihen.  Bei  einem  seiner  ganzen  Geschichte  nach  so 
verschwommenen  Krankheitsbilde  kann  es  aber  allerdings  nicht  Wunder  nehmen, 
wenn  wir  in  einzelnen  Fällen  pathogenetischen  Schwierigkeiten  begegnen. 
Man  hat  sich  gewöhnt,  Analogien  mit  dem  Diabetes  mellitus  aufzustellen  und 
ist  deshalb  der  Auffassung  der  einschlägigen  Formen  von  dauernder  Polyurie 
als  Nervenkrankheit  vielleicht  allzuängstlich  ausgewichen.  Die  Annahme  einer 
solchen  Analogie  war  offenbar  die  Veranlassung,  dass  man  auch  einen  speciell 
constitutionellen  Typus  des  Diabetes  insipidus  angenommen  hat  (Formen 
der  Polyurie,  welche  mit  Diabetes  mellitus  wechseln,  Hyperdiurese  bei  Gicht, 
Steinkrankheit  etc.).  Aber  es  ist  wohl  sicher,  dass  die  ältere  Bezeichnung 
Diabetes  insipidus  verschiedene  Zustände  zusammenfasst,  und  dass  die 
Heraushebuug  der  charakteristischesten  nervösen  Formen  einen  Fortschritt  be- 
deutet. Der  sogenannte  constitutionelle  Typus  gehört  ebenso  wie  die  öfter 
beobachtete  infectiöse  Form  und  andere  symptomatische  Hyperdiuresen  we- 
nigstens zum  Theil  in  andere  Krankheitsgebiete, 

1.  Die  traumatische  Polyurie. 

Unter  dieser  Bezeichnung  versteht  man  jene  Form  der  dauernden  Polyurie, 
welche  in  Folge  eines  Schädeltrauma  oder  einer  starken  Erschütte- 
rung des  ganzen  Körpers  neben  eventuellen  sonstigen  cerebralen  Symp- 
tomen entstehen.  Relativ  häufig  ist  in  diesen  Fällen  Fractur  der  Schädel- 
basis beobachtet,  doch  ist  dieselbe  nicht  ausschlaggebend  für  das  Zustande- 
kommen der  Hyperdiurese.  Meist  handelt  es  sich  um  Fälle  von  ausgespro- 
chener Commotio  cerebri  mit  langdauernder  Bewusstlosigkeit.  In  unmittel- 
barem Anschluss  an  die  Symptome  der  Hirnerschütterung  fällt  dann  ent- 
weder die  Polyurie  oder  die  Polydipsie  zuerst  auf.  Es  braucht  kaum  betont 
zu  werden,  dass  wenn  auch  letzteres  der  Fall  ist,  die  Polydipsie  nicht  noth- 
wendig  die  primäre  Störung  darstellen  muss.  Bei  etwas  verspätetem  Auf- 
treten der  Polyurie  kann  sich  das  Phänomen  gleichzeitig  mit  sonstigen  neuen 
cerebralen  Symptomen  einstellen.  In  der  ersten  Zeit  nach  ihrer  Entstehung 
erfährt  die  Hyperdiurese  meist  noch  eine  Zunahme,  bis  nach  mehreren  Tagen 
oder  Wochen  die  Acme  erreicht  ist.  Dann  kann  die  Polyurie  jahrelang  bestehen 
bleiben,  oder  es  tritt  nach  längerer  oder  kürzerer  Zeit  eine  zunehmende 
Verminderung  ein.  Die  24-stündige  Harnmenge  erreicht  hier  nicht  jene 
colossale  Höhe,  wie  bei  den  selbständigen  Typen  der  Polyurie ;  doch  sind 
Tagesmengen  von  10 — 20  Litern  öfter  beobachtet.  Das  subjective  Befinden 
der  Kranken  bleibt  meist  ein  relativ  gutes.  Die  Intensität  des  traumatischen 
Diabetes  insipidus  steht  in  keinem  directen  Verhältnis  zur  Schwere'  des  Trauma's 
und  der  Hirnerschütterung.  Die  cerebralen  Herdsymptome,  welche  neben  der 
Polyurie  beobachtet  werden,  sind  besonders  Abducens-  und  Facialislähmung, 
Nystagmus,  Zwangsbewegung.  Die  Möglichkeit,  dass  Schädeltraumen  um- 
schriebene Läsionen  an  der  Ursprungsstelle  der  genannten  Hirnnerven  ver- 
ursachen, ist  vor  Allem  experimentell  (durch  Duret)  ausreichend  klargestellt. 
Die  Schwierigkeit,  im  einzelnen  Fall  die  extracerebrale  Entstehungsweise 
der  begleitenden  Symptome  sicher  auszuschliessen,  ist  schon  genügend  betont 
worden. 

2.  Die  Polyurie  als  dauerndes  Symptom  cerebraler  Erki'aiikungen. 

Die  verschiedenen  Gehirnerkrankungen,  welche  zu  dauernder  Polyurie 
Veranlassung  geben  können,  sind  schon  aufgezählt  worden.  Es  gibt  übrigens 
keine  Stelle  des  Mittelhirns,  des  Pons,  der  Med.  oblongata  und  des  Cerebellum, 


DIABETES  INSIPIDUS.  393 

bei  deren  Läsion  dieses  Symptom  nicht  auch  gefehlt  hätte.  Die  Harnmenge 
überschreitet  in  den  einschlägigen  Fällen  bisweilen  den  Betrag  von  10  Litern 
pro  die.  Eegel  ist  hier  ein  grössere  Perioden  umfassendes,  aber  auch  ein 
nicht  selten  tageweises  Schwanken  der  Harnsecretion. 

3.  Die  essentielle  dauernde  Polyurie. 

Unter  dieser  Bezeichnung  dürfen  jene  Fälle  von  Diabetes  insipidus  zu- 
sammengefasst  werden,  in  welchen  neben  der  das  Krankheitsbild  symptomatisch 
beherrschenden  Polyurie  höchstens  vereinzelte  Zeichen  einer  der  fi-üher  ge- 
nannten Neurosen  sich  finden.  Doch  werden  solche  nervöse  Erscheinungen 
nie  ganz  vermisst.  Dieser  Typus,  welcher  begreiflicherweise  das  meiste  In- 
teresse beansprucht,  findet  sich  häufiger  bei  Kindern  und  jüngeren  Individuen, 
als  bei  älteren  Menschen.  Das  Alter  von  10—25  Jahren  ist  das  bevorzugte. 
Die  Zahl  der  erkrankten  Weiber  ist  eine  relativ  bedeutende.  Bisweilen  ist 
der  Verlauf  ein  fast  acuter,  in  der  Ptegel  ist  derselbe  chronisch.  Intermittenzen 
sind  nicht  selten.  Die  acute  Form  hat  man  beobachtet  nach  Erkältungen, 
nach  vorübergehenden  Alcoholexcessen  u.  dgl.  Die  Polyurie  dauert  dann 
eine  bis  zwei  Wochen.  Es  ist  fraglich,  ob  alle  hierher  gerechneten  Beobach- 
tungen auch  wirklich  in's  Bereich  des  Diabetes  insipidus  gehören.  Die  inter- 
mittirende  Form  findet  sich  besonders  bei  den  Hysterischen.  Es  sind  dann 
oft  ganz  geringfügige  Ursachen,  welche  die  Polyurie  hervorrufen.  Die  Perioden 
betragen  Stunden,  Tage,  aber  auch  viel  längere  Zeiten.  Die  Piemissionen 
sind  von  sehr  ungleicher  Dauer,  bald  nur  kurz,  bald  sehr  lang.  In  der  Regel 
wird  der  anfänglich  intermittirende  Diabetes  insipidus  später  continuirlich. 
Auch  die  ganz  chronische  Form  zeigt  tägliche  Modificationen,  welche  in  Be- 
ziehung stehen  zum  Regime  des  Kranken.  Aber  ihre  Dauer  kann  eine  ausser- 
ordentlich lange  sein,  man  sieht  die  Polyurie  Monate,  Jahre,  ja  durch  das 
ganze  Leben  der  Patienten  fortbestehen.  Es  sind  insbesondere  die  Fälle,  wo 
die  hereditäre  neuropathische  Disposition  eine  Rolle  spielt,  welche  die  aus- 
gesprochenste Chronicität  zeigen.  Die  Polyurie  erscheint  hier  nicht  selten 
schon  in  der  Kindheit,  oder  doch  nach  dem  14.  Lebensjahre.  Ihr  Eintreten 
erfolgt  ganz  spontan,  oder  nach  belanglosen  Ursachen.  15,  20,  25  Liter  Harn 
pro  die  oder  noch  grössere  Mengen  bilden  die  Regel.  Das  Gesammtbefiuden 
bleibt  gleichwohl  ein  gutes,  der  Fettpolster  erhält  sich.  Die  Therapie  kann 
die  Hyperdiurese  herabdrücken,  aber  den  Zustand  nicht  beseitigen.  Es  heisst, 
dass  hier  nicht  selten  schliesslich  Tuberculose  oder  digestive  Störungen  die 
Scene  beschliessen.  Sicheres  ist  darüber  wenig  bekannt.  Es  handelt  sich 
doch  wohl  bloss  um  accidentelle  Krankheiten,  um  Complicationen.  Das  rela- 
tive Wohlbefinden  bei  dauernder  Polyurie  kann  sich  nach  vorliegenden  Berichten 
20—30  Jahre  erhalten.  Kinder  bleiben  im  Wachsthum  bisweilen  evident 
zurück;  doch  werden  sie  zeugungsfähig,  und  ihre  Intelligenz  kann  sich  normal 
entwickeln.  Dass  speciell  in  infantilen  Fällen  des  Leidens  die  Lebensdauer 
abgekürzt  sei,  wie  behauptet  worden  (Roger),  erscheint  wohl  nicht  ausreicliend 
begründet.  —  Spontane  Heilung  ist  für  manche  Fälle  angegeben  worden. 
Dass  der  Tod  dem  Diabetes  insipidus  selbst  zuzuschreiben  wäre,  ist  kaum  lür 
einen  Fall  ausreichend  festgestellt. 

Das  führende  Symptom  ist  Polyurie;  damit  parallel  geht 
Polydipsie. 

"  Strauss  hat  zuerst  in  klarer  Weise  die  Frage  aufgeworfen,  ob  die  primäre  Störung 
in  Polj'urie  oder  in  Polydipsie  zu  suchen  ist.  Die  Frage  ist  auch  rein  sj-mptomatologisch 
noch  nicht  abschhessend  beantwortet.  Doch  steht  soviel  fest,  dass  gewiss  nicht  alle 
Fälle  ursprünglich  Polydipsien  sind. 

Man  hat  zunächst  als  Eigenthümlichkeit  des  Polydiptikers  die  grössere  Ab- 
hängigkeit des  Modus  der  Harnausscheidung  von  der  Zufuhr  betont.  Für  den 
Polyuriker  dagegen  wurde  eine  gewisse  Co n stanz  der  Ausscheidungsgrossen  in 
d  e  r  Z  e  i  t  e  i  n  h  e  i  t  angenommen.  Der  Polyuriker  sollte  ferner  bei  entzogener  F 1  u  s  s  i  g- 
keitszufuhr  noch  längere  Zeit  hindurch  grössere  Mengen  Harn   ausschei- 


394  DIABETES  INSIPIDÜS. 

den;  dieses  Wasserplus  müssen  natürlich  die  Gewebe  bestreiten.  In  einer  einschlägigen 
Arbeit  glaube  ich  aber  ausreichend  nachgewiesen  zu  haben,  dass  alle  diese  behaupteten 
symptomatischen  Unterschiede  vor  Beobachtung  und  Kritik  nicht  Stand  halten.  Als  zweite 
wesentliche  Differenz  zwischen  Polydiptiker  und  Polyuriker  wurde  erklärt,  dass  bei  ersterem 
die  Flüssigkeitsabfuhr  durch  Harn  und  Schweiss  erfolge,  dem  Polyuriker  dagegen  wäre 
die  insensible  Perspiration  entweder  ganz  abhanden  gekommen,  oder  die- 
selbe sei  doch  constant  sehr  herabgesetzt  (Strauss).  Beobachtungen,  welche  ich  nach 
dieser  Pachtung  an  relativ  zahlreichen  Kranken  dieser  Art  anstellen  konnte,  haben  mir  aber 
gezeigt,  dass  die  insensible  Perspiration  bei  demselben  kranken  Individuum  auffallenden 
Schwankungen  unterliegt.  Schon  deshalb,  aber  auch  noch  aus  anderen  Gründen,  kann 
sie  nicht  den  Mittelpunkt  des  polyurischen  Symptomencomplexes  bilden. 

Die  genauere  symptomatische  Ermittelung  der  Bedingungen  der  Hyper- 
diurese  bei  Diabetes  insipidus,  für  welche  von  allen  in  den  vorstehenden  Zeilen 
angeführten  Eigenthümlichkeiten  blos  eine  sicher  ist,  nämlich  die,  dass  der  Dia- 
betiker in  derselben  Zeit  mehr  Harn  secernirt  als  der  gesunde  Vieltrinker  bei 
gleicher  Flüssigkeitszufuhr,  geschieht  nach  meinen  Erfahrungen  am  besten  in 
folgender  Weise.  Alle  drei  für  die  Flüssigkeitsabfuhr  aus  dem  Körper  in 
Betracht  kommenden  Factoren,  Darmthätigkeit,  Sättigung  der  Gewebe  (des  Blutes) 
mit  Flüssigkeit,  Nierenfunction,  werden  durch  genügend  langes  Fasten  ent- 
sprechend entlastet.  Dann  werden  entweder  dadurch,  dass  man  auf  einmal 
ein  relativ  sehr  bedeutendes  Flüssigkeitsquantum  trinken  lässt,  an  alle  diese 
Factoren  möglichst  hohe  Anforderungen  gestellt  oder  man  führt  dem  Versuchs- 
kranken fortgesetzt  etwas  kleinere,  unter  sich  gleich  grosse  Flüssigkeitsmengen 
zu.  Bei  allen  Versuchen  wird  dem  Diabetiker  ein  arteficieller  Polydiptiker 
unter  identischen  Verhältnissen  zum  Vergleich  gegenübergestellt. 

Durch  solche  Vergleichsversuche,  die  in  acht  Fällen  durchgeführt  wurden, 
habe  ich  zwei  Typen  der  Harncurve  bei  Diabetes  insipidus  feststellen  können. 
Dass  man  unter  den  dargelegten  Versuchsverhältnissen  von  einer  „normalen 
Harncurve"  sprechen  kann,  haben  die  Untersuchungen  von  Friedel  Pick 
nachgewiesen.  Die  Harncurve  des  ersten  Typus  des  Diabetes  insipidus 
steigt  nun  auffallend  schneller  an  und  viel  schneller  ab  als  beim 
Gesunden.  Solange  sein  Organismus  mit  Flüssigkeit  überschwemmt  ist, 
erscheint  der  Diabetiker  als  Schnellharner  {Tachyuriker).  Haben  seine  Nieren 
die  Entwässerung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  besorgt,  dann  lässt  er  den 
gesunden  Vieltrinker  allmälig  nachkommen ;  Gewebsflüssigkeit  setzt  er  seinen 
Ausscheidungen  nicht  zu.  Die  Feststellung  dieses  ersten  Typus  ist  deshalb 
von  Bedeutung,  weil  derselbe  einem  experimentellen  Postulat  entspricht.  Die 
experimentelle  Polyurie  ist  aus  Polydipsie  allein .  nicht  erklärlich.  Ich  habe 
bisher  nur  drei  streng  hierherzurechnende  Fälle  gesehen.  Der  zweite  Typus 
der  Harncurve  entfernt  sich  kaum  von  derjenigen  des  gesunden 
Vieltrinkers.  Ob  man  auf  Grund  von  Neuschler's  sorgfältigen  Unter- 
suchungen einen  dritten  Typus  aufstellen  kann,  bei  welchem  der  Krankesein 
Wasser  langsamer  wieder  hergibt  als  der  Gesunde,  muss  ich  dahinge- 
stellt sein  lassen.  Ich  habe  keine  ähnliche  Beobachtung  gemacht.  Der  Einwand, 
dass  die  Formulirung  der  Gesetze  der  Wasserabgabe  beim  Diabetes  insipidus 
das  Verständnis  der  Pathogenie  auch  nicht  unmittelbar  fördert,  mag  gelten; 
erfolgen  musste  aber  diese  Formulirung  in  Hinsicht  auf  die  Revisionsbedürf- 
tigkeit des  älteren  klinisch-experimentellen  Materiales  und  der  geradezu 
abenteuerlichen  Angaben  und  Hypothesen,  welche  der  Literatur  des  Gegen- 
standes noch  anhalten. 

Alle  genau  beobachteten  Kranken  nehmen  mehr  Flüssigkeit  auf,  als  sie 
ausscheiden;  ein  Ueberwiegen  der  Harnsecretion  über  die  Wasserzufuhr  findet 
nur  anscheinend  oder  ganz  vorübergehend  statt.  Der  Polyuriker  kann  „er- 
zogen" werden  und  es  dann  über  30  Liter  pro  Tag  Harn  bringen.  Viel  Pikantes 
könnte  über  den  Durst  berichtet  werden.  Nicht  niedrig  anzuschlagen  ist  hier 
die  Rolle  der  Neurose,  welche  im  gegebenen  Falle  mitspielt.  Der  Harn  ist 
klar,  hell,  manchmal  ins  Grünliche  spielend,    das    specifische  Gewicht   über- 


DIABETES  INSIPIDUS.  395 

schreitet  wohl  nur  selten  den  Betrag  von  1010,  liegt  in  der  Regel  unter 
1006,  und  sinkt  leicht  auf  1001.  Beim  Stehen  sedimentirt  der  untersetzte 
Harn  kaum.  Bei  mittleren  Harnmengen  pro  die  (6 — 12  Liter)  bleibt  das 
Quantum  ausgeschiedenen  Stickstoffes  normal.  In  Fällen,  wo  die  Patienten 
mehr,  14 — 20  Liter  Harn  oder  noch  grössere  Mengen  absondern,  und  in  noch 
ausgesprochenerer  Weise,  wo  die  Patienten,  was  sehr  häufig  ist,  gefrässig  sind, 
geht  die  Harnstoffmenge  weit  über  die  Norm.  Bevor  man  aber  einen  speciellen 
Typus  des  Diabetes  insipidus  als  Azoturie  aufstellt,  müssen  doch  noch  ge- 
nauere Krankheitsgeschichten  und  einwandfreiere  Untersuchungen  des  Stoff- 
wechsels vorliegen,  als  gegenwärtig  zur  Verwerthung  stehen.  Inosit  im  Harn 
wurde  früher  als  (diagnostisch)  wichtiger  Bestandtheil  des  Harns  angesehen: 
er  ist  gewiss  nur  etwas  Zufälliges. 

Spuren  von  Eiweiss  findet  man  nicht  so  selten,  aber  immer  nur  vorüber- 
gehend. Es  ist  aber  natürlich  keine  Frage,  dass  Albuminurie  im  Symptomen- 
bilde diagnostische  Bedenken  erregen  muss.  Alimentäre  Glycosurie  habe  ich 
in  einem  Falle  sehr  ausgeprägt  hervorrufen  können,  in  einem  anderen  auch 
nach  Zufuhr  reichlichen  Zuckers  vermisst. 

Untersuchung  des  Blutes  mit  den  modernen  Mitteln  ist  ein  dringendes  Desiderat. 
Die  Analysen  von  Strauss  entsprechen  nicht  allen  Anforderungen  und  sind  auch  nicht  mit 
Rücksicht  auf  die  uns  meist  interessirenden  Fragepunkte  ausgeführt. 

Von  sonstigen,  mehr  inconstanten  oder  secundären  Symptomen  sind  vor 
Allem  anzuführen  die  nervösen  Beschwerden:  Verschiedene  Erscheinungen 
von  Hysterie,  Neurasthenie,  neuralgiforme  Schmerzen,  Kopfschmerzen  mit  Er- 
brechen u.  s.  w.  Ob  der  oft  zu  beobachtende  Heisshunger,  der  seltene  Speichel- 
fluss,  die  Stuhlverstopfung  nervösen  Ursprung  haben,  ist  schwer  zu  beurtheilen. 
Dass  die  Perspiratio  insensibilis  sehr  schwankt,  wurde  bereits  erwähnt.  Die 
Haut  ist  oft,  aber  durchaus  nicht  immer  trocken.  Pruritus  und  Furunculose 
wurden  öfter  gesehen.  Die  Geschlechtsthätigkeit  in  den  Fällen,  die  ich  beob- 
achtet, war  ganz  normal.  Die  Körpertemperatur  zeigt  keine  besonderen  Ab- 
weichungen; doch  hält  sie  sich  in  der  Nähe  der  unteren  physiologischen  Grenz- 
werthe.  Intercurrente  fieberhafte  Krankheiten  führen  in  der  Regel  eine  Ab- 
nahme des  Diabetes  insipidus  herbei. 

Die  Diagnose  muss  den  Diabetes  insipidus  von  verschiedenen  anderen 
Formen  der  Polyurie  unterscheiden.  Verwechslung  mit  Diabetes  mellitus  wird 
wohl  kaum  je  stattfinden  können.  Wichtiger  sind  in  differentialdiagno- 
stischer Richtung  verschiedene  Merenkrankheiten :  Ren  granulatus,  Amyloidose, 
Pyelitis,  Hydronephrose.  Albuminurie  als  Symptom  von  differientialdiagnostischer 
Bedeutung  wurde  schon  genügend  hervorgehoben. 

Die  Prognose  gestaltet  sich  viel  günstiger,  als  man  nach  der  Intensität 
der  Störung  erwarten  sollte.  Der  Diabetes  insipidus  liefert  ein  prägnantes  Bei- 
spiel für  die  ausserordentliche  Compensationsfähigkeit  der  organischen  Ein- 
richtungen. 

Therapie.  Von  der  Behandlung  der  eventuell  zu  Grunde  liegenden 
Affection,  welche,  wenn  möglich  in  Angriff  zu  nehmen  ist,  soll  hier  nicht 
speciell  die  Rede  sein.  Alle  Mittel,  welche  gegen  das  Leiden  selbst  empfohlen 
wurden,  taugen  nichts.  Der  an  sich  ganz  vernünftige  Versuch,  durch  Haut- 
;pflege,  Bäder  u.  s.  w.  einen  Theil  der  Harnfluth  durch  die  Haut  abzulenken, 
wird  zu  allermeist  erfolglos  unternommen.  Auch  Pilocarpin  hat  nach  dieser 
Richtung  höchstens  ganz  vorübergehende  Wirkung. 

Empirische  Mittel  gegen  die  Krankheit  sind  der  constante  Strom  auf  die 
Wirbelsäule  und  Nierenregion  (Külz),  die  Baldrianivurzel  in  grossen  Dosen 
(Teousseau)  und  Ergotin  (gleichfalls  in  grossen  Dosen,  Hershey).  Wider  den 
Durst:  Hausmittel  und  Opium.  f.  kraus. 


396  DIABETES  MELLITUS. 

Diabetes  mellitus  heisst  der  patliologische  Zustand,  bei  welchem  durch 
längere  Zeit,  ohne  dass  grosse  Mengen  von  Zucker  oder  Kohlenhydraten,  ja 
oft  ohne  dass  überhaupt  Kohlenhydrate  mit  der  Nahrung  zugeführt  werden, 
fortgesetzte  Zuckerausscheidung  mit  dem  Harn  stattfindet. 

Theoretisch  müssen  wir  den  Diabetes  mellitus  als  eine  Störung  des 
Stoffumsatzes  betrachten,  bei  welcher  der  Organismus  die  von 
aussen  aufgenommenen,  beziehungsweise  die  in  ihm  entstan- 
denen Kohlenhydrate  nicht  vollständig  ausnutzt  und  zu  einem 
verschieden  grossen  Bruchtheil  unzersetzt  mit  den  Excreten 
eliminirt. 

Es  handelt  sich  somit  nicht  um  eine  einfache  quantitative  Veränderung  des  (com- 
bustiven)  Gesammtstoffwechsels,  nicht  nm  eine  Verringerung  der  summarischen  Oxydations- 
kräfte des  Organismus,  sondern  bloss  um  eine  Abweichung  einer  bestimmten  einzelnen 
Hauptrichtung  der  chemischen  Stoffbewegung  im  Körper.  Schon  die  Külz'sche  Entdeckung 
dass  der  diabetische  Organismus  gewisse  Kohlenhydrate  verbrennt,  andere  nicht,  beweist, 
dass  die  combustive  Energie  an  sich  unvermindert  ist.  Leo  hat  ferner  direct  nachge- 
wiesen, dass  der  Sauerstoifverbrauch  in  den  Geweben  des  Diabetikers  sich  innerhalb  der 
auch  beim  Gesunden  unter  gleichen  Verhältnissen  zu  beobachtenden  Werthe  bewegt.  Die 
gesammte  Oxydationsgrösse  im  Organismus  erhält  sich  also  unabhängig  von  der  Grösse  des 
ausgeschiedenen,    krankhafterweise    unzersetzten  Materiales.     Bei    sehr    starker  Zuckeraus- 

CO 
Scheidung  wird  nur  eventuell  der  respiratorische  Coefficient  — ~  besonders  niedrig, 

eben  weil  im  Körper  zu  wenig  Kohlenhydrate  verbrannt  werden. 

Die  Kohlenhydrate  sind  im  Thierkörper  nur  in  relativ  geringer  Menge  vor- 
räthig  abgelagert.  Aber  sie  sind  am  Stoff'zerfall  im  Organismus  in  bedeutenden  Quanti- 
täten betheiligt,  sie  stellen  höchst  wichtige  Uebergangsstufen  der  Zersetzung,  typische 
Zwischenglieder  des  intermediären  Stoffwechsels  dar. 

Die  Zucker-  (Dextrose-)  Bildung  im  Körper  erfolgt  aus  zwei  verschiedenen  Gruppen 
von  Verbindungen,  aus  den  Kohlenhydraten  der  Nahrung  und  des  Organismus  und 
aus  den  Eiweisskörpern.  Die  öfter  bestrittene  ZuckeTbil düng  aus  Eiweiss  ist  zunächst 
durch  die  klinische  Form  des  sogenannten  schweren  Diabetes  (Fortdauer  der  Glycosurie 
trotz  absoluter  Eiweissdiät),  und  ferner  durch  die  experimentellen  Thatsachen  des  Phlori- 
dizin-  und  des  Pancreas-Diabetes  ausreichend  sichergestellt.  Damit  nun  der  Zuckergehalt 
der  Säftemasse  (des  Blutes)  gehörig  regulirt  bleibe,  verfügt  der  Körper  über  gewisse  in  der 
Organisation  gelegene  Einrichtungen.  Der  Zuckergehalt  des  Blutes  darf  nämlich  eine  be- 
stimmte Grenze  nicht  überschreiten,  sonst  tritt  wegen  der  besonderen  diffusiven  Fähigkeit 
der  Dextrose  Glykurie  ein  und  es  geht  Material  ungenützt  verloren.  Diese  Regulirung 
bezieht  sich  auf  zwei  Acte  des  Kohlenhydratstoffwechsels,  einerseits  auf  die  Geschwindigkeit, 
mit  welcher  der  Zucker  (verzuckerte  Stärke  etc.)  aus  dem  Darmtractus  der  Säftemasse  zu- 
geführt wird  und  auf  die  Leistung  bestimmter  Gewebe,  welchen  speciell  die  Assimilation 
trnd  Desassimilation  der  praeformirten  und  der  aus  dem  N-freien  Rest  des  Eiweissmolecüls 
entstandenen  Kohlenhydrate  obliegt.  Auch  beim  Gesunden  ist  die  Assimilationskraft  für 
Dextrose  keine  unbegrenzte,  und  auch  beim  Kranken  ist  der  Zuckerverbrauch  im  Körper 
durchaus  nicht  ganz  unmöglich,  es  ist  bloss  die  Assimilationsgrenze  durch  dauernde  Störung 
der  Zucker  assimilirenden  (desassimilirenden)  Apparate  bleibend  herabgesetzt. 

Die  normalen  Einrichtungen,  welche  den  Zuckerumsatz  und  den  Zuckergehalt  der 
Säftemasse  reguliren,  sind  uns  bisher  nur  theilweise  bekannt.  Sicher  ist,  dass  der  Zucker- 
verbrauch im  normalen  Organismus  nicht  in  einheitlicher  Weise  von  statten  geht; 
der  Zucker  wird  unter  Mitwirkung  einer  Mehrzahl  von  Apparaten  im  Körper  um- 
gesetzt. Wir  kennen  experimentell  herbeiführbare  Störungen  der  Darmfunction  —  Hunger, 
Unterbindung  von  Aesten  der  A.  meseraica  (Hofmeister  Kolisgh)  —  wobei  die  Assimilation 
des  Zuckers  mehr  als  dessen  Resorption  ins  Blut  herabgesetzt  ist,  so  dass  Glycosurie  auf- 
tritt. Wir  wissen,  dass  gewisse  Zellen  des  Organismus  (Leber)  den  Zucker  in  ihrem 
Leibe  aufspeichern,  indem  sie  ihn  durch  Polymerisation  in  Glycogen  überführen.  Es  steht 
ferner  fest,  dass  gleich  allen  vegetativen  Functionen  auch  der  Zucker-  (Glycogen-)  Umsatz 
unter  dem  Einfiuss  des  Nervensystems  (vasomotorische  Factoren?)  steht  (Gl.  Bernard). 
Der  durch  Abtragung  des  Pancreas  experimentell  hervorrufbare  Diabetes  (Mi.mkowski) 
beweist,  dass  auch  diese  Drüse  die  Aufgabe  hat,  den  Verbrauch  der  resorbirten  und  der  aus 
Eiweiss  abgespaltenen  Kohlenhydrate  zu  reguliren.  Der  Einfiuss  des  Pancreas  scheint 
sich  insbesondere  auf  das  Blut  im  Pfortadergebiet  zu  erstrecken.  Ob  auch  die  Schilddrüse 
und  die  Speicheldrüsen  eine  ähnliche  Function  besitzen,  erscheint  noch  sehr  zweifel- 
haft. Endlich  ist  normaler  Verlauf  der  secretorischen  Vorgänge  in  den  Nieren  eine  un- 
erlässliche  Vorbedingung  für  die  volle  Ausnützung  der  Kohlenhydrate;  die  Thatsachen  der 
Phlordizinvergiftuug  scheinen  dafür  zu  sprechen,  in  wie  grossem  Umfange  Durchlässigkeit 
der  Nieren  eine  Ausschwemmung  der  Kohlenhydrate  aus  dem  Körper  bedingen  kann. 


DIABETES  MELLITUS.  397 

Aus  dem  Bisherigen  geht  klar  hervor,  dass  dauernde  Zuckerausscheidung,  ohne  dass 
eine  Ueberschwemmung  des  Organismus  mit  überreichlich  gebildetem  Zucker  existiren 
müsse,  auf  mehrfachem  Wege  zu  Stande  kommen  kann.  A  priori  betrachtet, 
braucht  somit  auch  der  klinische  Diabetes  mellitus  nach  dieser  Richtun«> 
nicht  nothwendig  eine  einheitliche  Nutritionsstörung  darzustellen. 

Die  dargelegte  theoretische  Auffassung  vermittelt  uns  auch  ein  einfaches  Yerstcändnis 
schwerer  und  leichter  Formen  des  iJiabetes  mellitus.  Eine  schwere  Form  wird  es 
sein,  wenn  eine  so  tiefe  Herabsetzung  der  Assimilationsgrenze  besteht,  dass  nicht  bloss  der 
in  den  Kohlenhydraten  zugeführte  Zucker,  sondern  auch  ein  Theil  des  im  Organismus  selbst 
(aus  Eiweiss)  gebildeten  Zuckers  der  normalen  Umsetzung  entgeht  ;dieAssimilationsgrenze 
liegt  dann  dauernd  unter  dem  Niveau  des  durch  den  Stoffwechsel  im. 
steten  Gange  erhaltenen  Zuckerzuflusses.  Mit  einer  leichten  Form  haben  wir 
es  zu  thun,  wenn  die  Assimilationsgrenze  nur  insoweit  unter  die  Norm 
fällt,  dass  sie  jeweilig  bei  der  durch  A  myl  aceenzufuhr  hervorgerufenen 
Vermehrung  der  Dextrose  im  Blute  überschritten  wird.    (Hofmeister.) 

Man  sieht  leicht,  dass  in  den  obigen  Zeilen  an  der  alten  Vorstellung,  nach  welcher 
der  Diabetes  mellitus  in  einer  Assimilationsstörung  begründet  gedacht  wird  (Sy- 
denh am),  festgehalten  ist.  Dass  übermässige  Bildung  in  der  Oeconomie  (Lecorche) 
die  Schuld  trägt,  ist  gegenüber  neueren  Thatsachen  nur  durch  sehr  künstliche  Aufstellungen 
plausibel  zu  machen. 

Wenn  der  Zucker  im  Körper  bei  regelmässig  fortschreitender  Bildung 
infolge  mangelhafter  Leistung  bestimmter  Gewebe  dauernd  unvollständig  um- 
gesetzt wird  und  die  resultirende  Hyperglykaemie  von  anhaltender  Glycosurie 
gefolgt  ist,  wird  es  nothwendig  zu  Stickstoffverlusten  durch  chroni- 
sche Inanition  kommen.  Das  mit  starker  Zuckerausscheidung  nothwendig 
verbundene  Caloriendeficit  muss  dazu  führen,  dass  der  Eiweisszerfall  sich 
entsprechend  höher  einstellt.  Der  Diabetiker  ist  nach  dieser  Kichtung  einem 
Gesunden  vergleichbar,  welchem  man  denselben  Betrag  von  Kohlenhydi'aten, 
welchen  der  Kranke  im  Harn  verliert,  einfach  gleich  von  der  Nahrung  ab- 
streicht. Es  handelt  sich  somit  um  physiologische  Eiweissverluste  (vgl.  den 
Artikel  „Cachexie"  dieser  Bibliothek).  Zur  Glycosurie  gesellt  sich  also,  ent- 
sprechend den  Beziehungen,  welche  auch  unter  normalen  Bedingungen  zwischen 
Eiweiss-  und  Kohlenhydratz  er  Setzung  im  Körper  bestehen,  die  Az  o  t  u  r  i  e.  Stei- 
gerung der  Eiweisszufuhr  erhöht  natürlich  im  gegebenen  Falle  auch  die 
Zuckerausscheidung  im  Harn,  da  mehr  Kohlenhydrate  im  Körper  entstehen. 
Die  Stickstoffverluste  durch  Inanition  erklären  die  A  b  m  a  g  e  r  u  n  g  der  Diabetiker 
und  deren  erhöhtes  Nahrungsbedürfnis.  Da  die  Kranken  infolge  dessen 
wiederum  überhaupt  viel,  und  speciell  auch  mehr  Albuminate  zuführen,  ist  ein 
weiterer  Grund  für  die  altbekannte  Thatsache  gegeben,  dass  die  Eiweisszersetzung 
im  Diabetes  mellitus  relativ  sehr  hohe  Werthe  erreicht.  Specifisch  das  Proto- 
plasma der  Zellen  angreifend  und  dadurch  in  streng  pathologischem  Sinne 
den  Stickstoffumsatz  erhöhende  Gifte  finden  sich  im  Organismus  der  Diabetiker 
bloss  bei  bestimmten  autotoxischen  Zuständen  (vgl.  den  Artikel  „  Säureautointo- 
xication^^). 

Der  von  den  Diabetikern  ausgeschiedene  Zucker  ist  die  Dextrose;  in 
seltenen  Fällen  links  drehender  Zucker.  Die  Fähigkeit,  Laevulose  und  Inulin 
zu  oxydiren,  bewahrt  sich  der  diabetische  Organismus  in  einem  gewissen 
Umfange.  Auch  Milchzucker  wird  zersetzt.  Muskelarbeit  steigert  die  Zucker- 
zerstörung und  vermindert  dadurch  die  Glykurie  (KtJLz,  Zimmer). 

Fett  erhöht  die  Zuckerausscheidung  nicht.  Die  Fettbildung  aus  über- 
schüssigen Kohlenhydraten  auf  synthetischem  Wege  im  normalen  Organismus 
ist  eine  feststehende  Thatsache.  Es  ist  nun  ganz  wahrscheinlich,  dass  diese 
Synthese  und  die  Fähigkeit  des  combustiven  Zuckerumsatzes  nicht  in  gleichem 
Maasse  gestört  sein  müssen:  die  Fettbildung  aus  Kohlenhydraten  kann  sich 
noch  regelrecht  vollziehen,  während  die  Oxydation  des  Zuckers  eingeschränkt 
ist.  Haben  wir  es  mit  einem  derartigen  Diabetiker,  der  seinem  erhöhten 
Nahrungsbedürfnis  folgt,  zu  thun,  so  könnte  es  sogar  leicht  zu  allgemeiner 
Obesitas  kommen.  Da  ein  solcher  Kranker  die  Kohlenhydrate  nicht  ganz 
verliert  und  von  seinem  Fett  zehren  kann,  so  wird  er  auch  nicht  in  gleichem 


398  DIABETES  MELLITUS. 

Umfange  von  seinem  Eiweissbestande  zusetzen  müssen,  also  überhaupt  besser 
daran  sein,  als  ein  magerer  Diabetiker.  Daher  die  berechtigte  günstigere 
Prognose  des  sogenannten  lipogenen  Diabetes. 

Alles,  was  ans  rein  klinischen  Gesichtspunkten  über  die  Aetiologie  des  Diabetes 
mellitus  angegeben  wurde,  ist  recht  vag.  Man  beschuldigt  die  vegetarische  Lebensweise  ge- 
wisser Völker  als  Ursache  der  Häufigkeit  des  Leidens  in  den  betreffenden  Ländern  (Indien, 
Italien).  Die  Juden,  auch  die  Schweden  sollen  (infolge  von  Raceneigenthümlichkeiten)  für 
Diabetes  mellitus  besonders  veranlagt  sein.  Vor  Allem  aber  scheint  die  Heredität  eine  Rolle  zu 
spielen  Der  Diabetes  kann  in  den  Familien  mit  andern  constitutionellen  Krankheiten  abwechseln 
(Glicht,  Corpulenz).  Der  familiäre  Diabetes  mellitus  zeichnet  sich  oft  durch  besonders 
schweren  Verlauf  aus.  Die  ererbte  nervöse  Disposition  (Psychopathien,  schwere  Neurasthenie, 
Epilepsie)  hat  vielleicht  gleichfalls  aetiologische  Beziehungen  zur  Entstehung  der  Krankheit. 
Traumen,  besonders  Schädelverletzungen,  gelten  als  ursächliches  Moment  von  grosser  Wich- 
tigkeit. Der  Excess  im  Genuss  von  Amylaceen  oder  fetthaltigen  Nahrungsmitteln  ist  nicht 
selten  angeschuldigt  worden.  In  Fällen,  wo  wahrscheinlich  vom  Anfang  an  eine  starke 
Disposition  für  Diabetes  mellitus  bestanden,  mögen  ganz  geringfügige  Veranlassungen  zum 
Manifestwerden  des  Leidens  Veranlassung  geben  können  (psychische  Traumen,  Erkältung). 
Eine  gewisse  Beachtung  verdienen  die  Fälle  von  Diabetes  mellitus  in  unmittelbarem  oder  ent- 
fernterem Gefolge  bestimmter  Infecte  (Malaria,  Influenza,  Syphilis). 

Pathologische  Anatomie.  Einen  für  Diabetes  mellitus  ausschlaggeben- 
den Sectionsbefund  kennen  wir  nicht.  Mit  Rücksicht  auf  die  früheren  Aus- 
führungen verdienen  jedoch  vorliegende  pathologische  Befunde  am  Central- 
nervensystem  und  am  P a n c r e a s  unzweifelhaft  besondere  Beachtung.  Am 
Nervensystem  sind  insbesondere  Geschwülste,  Hämorrhagien,  Erweichungen, 
Entzündungen  am  Boden  der  Ptautengrube  von  Wichtigkeit.  Hinsichtlich  des 
Rückenmarks,  des  Vagus  und  Sympathicus  liegen  nur  spärliche  verwerthbare 
Beobachtungen  vor.  Mehr  als  die  immerhin  seltenen  pathologisch-anomatischen 
Befunde  ist  es  der  Diabetesstich  Gl.  Bernard's  gewesen,  welcher  die  Theorie 
eines  n  europathischen  Diabetes  mellitus  begründet  hat.  Die  heute 
vielfach  betonte  Geringschätzung  dieses  experimentellen  Fundamentes  büsst 
viel  an  Gewichtigkeit  ein,  wenn  man  sich  erinnert,  dass  es  Kahler  gelungen 
ist,  durch  Erzeugung  eines  persistirenden  cerebralen  Herdes  dauernde  Polyu- 
rie zu  erzeugen.  Der  Schluss  auf  ein  analoges  Verhalten  durch  an  ent- 
sprechender Stelle  des  Gehirns  erzeugte  dauernde  Laesionen  hervorgerufener 
Glykurien  erscheint  nicht  zu  gewagt. 

Am  Pankreas  einzelner  verstorbener  Diabetiker  sah  man  Atrophie, 
Fettnekrose,  Sclerose,  cystöse  Degeneration,  Abscess,  Carcinom  (letztere  bei- 
den mit  secundärer  Atrophie)  u.  s.  w.  Für  manche  (nicht  allzu  viele) 
Fälle  von  Diabetes  mellitus  darf  man  also  Erkrankung  des  Pancreas  als  Ur- 
sache supponiren.  Die  Hauptstütze  des  pancreatogenenDiabetes  liefert 
jedoch  ebenfalls  nicht  so  sehr  die  pathologische  Anatomie,  wie  das  berühmt 
gewordene  Experiment  von  Minkowski. 

In  der  grossen  Mehrzahl  der  Fälle  von  Diabetes  mellitus  verschafft  uns 
die  Obduction  weder  hinsichtlich  des  Gehirns,  noch  hinsichtlich  des  Pancreas 
greifbare  Anhaltspunkte.  Insbesondere  erscheint  das  Pancreas  der 
Diabetikerleichen  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  nach  Maassgabe 
unserer  besten  mikroskopischen  Untersuchungsmethoden 
intact.  Alle  Versuche,  die  sogenannte  Einheitlichkeit  des  Diabetes,  für  welche 
in  den  Bedingungen  der  zu'^Grunde  liegenden  Stoftwechselanomalie  ausreichende 
Beweise  durchaus  nicht  vorliegen,  noch  dahin  zuzuspitzen,  dass  gerade  eine 
Schädigung  des  Pancreas  die  wesentliche  oder  gar  einzige  Veranlassung  der 
Krankheit  sei,  muss  vorläufig  von  der  Hand  gewiesen  werden. 

Dass  beim  Menschen  ein  enterogener  Diabetes  existire,  dafür 
liefern  höchstens  die  Experimente  Hofmeisters  über  den  Himgerdiabetes 
eine  Andeutung. 

Ebensowenig  ist  es  für  den  Menschen  wirklich  nachgewiesen,  dass 
eine  Störung   der  regulatorischen  Thätigkeit,  welche  der  Leber  hinsichtlich 


DIABETES  MELLITUS.  399 

des  Kohlenliydratumsatzes  zukommt,  einen  dauernden  Diabetes  erzeugt.  Frerichs 
fand  allerdings  in  den  Leberzellen  zweier  lebender  Diabetiker  trotz  Amylaceen- 
zufuhr  wenig  oder  kein  Glycogen.  Seegens  einschlägige  Behauptungen  wur- 
den vielfach  angegriffen. 

Die  Symptome  des  Diabetes  mellitus  sollten  aufgezählt  werden  nach 
den  einzelnen  befallenen  Organen  des  Körpers  und  nach  der  Reihenfolge,  in 
welcher  dieselben  im  Verlauf  der  Krankheit  erscheinen.  Letzteres  ist  jedoch 
eine  schwierige  Aufgabe,  weil  nichts  so  variabel  ist  als  die  Ordnung,  in 
welcher  bei  Entwicklung  des  Leidens  die  Symptome  sich  folgen.  Es  sind  be- 
sonders die  ersten  Anfänge  der  Krankheit,  die  nicht  genau  charakterisirt 
werden  können.  Gar  nicht  selten  entdecken  die  Specialisten  das  Leiden: 
Der  Oculist,  der  wegen  einer  Cataract  oder  wegen  einer  Amblyopie  consultirt 
wird;  der  Dermatologe,  welchen  man  wegen  Pruritus,  Balanoposthitis,  wegen 
Eccems,  Furunculose  befragt;  der  Zahnarzt,  dessen  Hilfe  wegen  rasch  fort- 
schreitender Zahncaries,  Gingivitis  in  Anspruch  genommen  wird;  der  Neurologe, 
welcher  wegen  Neuralgien  (Quintus,  Ischias),  wegen  Neurasthenie  (Verlust  der 
intellectuellen  Activität,  ungerechtfertigte  Ideen  des  persönlichen  Ruins, 
leichte  Ermüdung  der  Muskeln,  Impotenz)  consultirt  wird.  In  seltenen  Fällen 
wird  auch  erst  bei  eingetretener  Gangränescenz  peripherer  Körpertheile  der 
Harn  auf  Zucker  untersucht.  Zum  Internisten  führt  den  Kranken  die  Wahr- 
nehmung, dass  er  abmagert  trotz  guter,  beziehungsweise  gesteigerter  Esslust, 
intercurrente  Magendarmkatarrhe,  das  viele  Trinken  und  Harnlassen  u.  s.  w. 
Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  in  der  Regel,  wenn  der  Arzt  zu  Rathe  ge- 
zogen wird,  die  Glycurie  schon  längere  Zeit  besteht.  Nur  wenige  Fälle 
gibt  es,  wo  man,  da  gewisse  Anzeichen  vorliegen,  gewissermassen  darauf  wartet, 
dass  ein  Individuum  ein  Diabetiker  wird. 

Im  vollentwickelten  Krankheitsbild  finden  sich  neben  dem  führenden 
Symptom,  der  Glycurie,  vor  Allem  Polyurie,  Polyphagie,  Aiitophagie. 

D  er  Harn.  5 — 6  Liter  sind  die  durchschnittliche  Tagesmenge,  doch  können 
leicht  über  10  Liter  ausgeschieden  werden.  Anfangs  besteht  öfter  Pollakisurie, 
besonders  Nachts.  Wassermenge  und  Zuckergehalt  gehen  meist  proportional.  Wo 
dieses  Gesetz  eine  Ausnahme  erleidet,  spricht  man  vom  Diabetes  decipiens. 
Nach  starkem  Trinken  setzt  beim  Gesunden  die  Harnflut  früher  ein,  hört 
aber  auch  früher  auf  als  beim  Diabetiker,  der  unter  gleichen  Verhältnissen 
steht  (Friedel  Pick).  Die  Maxima  der  Polyurie  fallen  mit  den  Verdauungs- 
perioden zusammen.  Es  braucht  wohl  kaum  betont  zu  werden,  dass  das  aus- 
geschiedene Flüssigkeitsquantum  kleiner  oder  höchstens  gleich  ist  der  Summe 
des  zugeführten  Getränkes.  Das  specifische  Gewicht  des  Harn  liegt 
zwischen  1025—1040  und  mehr.  Immer  ist  es  sehr  hoch  gegenüber 
der  Polyurie;  es  geht  meist  mit  dem  Zuckergehalt  parallel. 

Die  absolute  Grösse  der  Dextroseausscheidung  hängt  mit 
der  Intensität  des  Einzelfalles  und  mit  der  Diät  des  Kranken  zusammen.  Die 
Grenzen  sind:  ganz  kleine  Mengen  und  mehrere  100  Gramm  pro  die.  Her- 
vorzuheben ist,  dass  die  Glycurie  meist  Intensitätsschwankungen  zeigt,  und 
zwar  auch  noch  bei  absoluter  Eiweissdiät.  In  leichteren  Fällen  der  Krankheit 
(Initialstadium)  ist  die  Glycurie  bisweilen  intermittirend.  Der  äusserst  seltene 
Befund  anderer  Kohlenhydrate  im  Harn  (statt  oder  ausser  der  Dextrose),  ver- 
dient keine  specielle  Berücksichtigung.  (Nachgewiesen  sind:  Dextrin,  Glycogen, 
Maltose,  Laevulose,  Laiose;  Inosit  —  letzterer  überhaupt  gar  kein  Kohleu- 
hydrat). 

Die  Erhöhung  des  Gesammt  stickst  off  es  im  diabetischen  Harn 
(Azoturie)  wurde  schon  angeführt  und  erklärt.  Vorwaltend  ist  die  Stickstoif- 
ausscheidung  vom  Harnstoff  beherrscht,  wie  in  der  Norm.  Eine  gewisse  per- 
centische  Verschiebung  zu  Ungunsten  des  Harnstoff-N  erfolgt,  wenn  bei 
Säureautointoxication  der  Diabetiker  viel  Ammoniak  ausgeschieden  wird.    Die 


400  DIABETES  MELLITUS. 

Ammonexcretion  ist  bei  den  Diabetikern  insbesondere  bei  Eiweissdiät  über- 
haupt Ton  allem  Anfang  an  relativ  hoch;  während  der  Säiu-evergiftung'  hat 
man  jedoch  bis  6,  ja  sogar  1'2  g  pro  die  beol)achtet.  Die  Harnsäure  ist  ab- 
solut nicht  vermindert.  Es  gibt  Fälle  von  Diabetes,  bei  welchen  besonders  im 
Initialstadium  vermehrte  Harnsäurexcretion  stattfindet,  oder  harnsaure  Diathese 
und    Zuckerausscheidung    abwechseln    {sogenannter    constitutioneller  Diabetes). 

Gichtiker  werden  bisweilen  diabetisch.  Nur  in  seltenen  Fällen  des 
Leidens  wird  abnorm  reichlich  oxalsaurer  Kalk  ausgeschieden;  bemerkeuswerth 
ist  es,  dass  dann  l^isweilen  die  Oxalurie  zunimmt,  wenn  die  Glycurie  nachlässt. 

Ungefähr  die  Hälfte  der  Diabetiker  scheidet  (insbesonders  in  den  Spät- 
stadien der  Krankheit)  Albumin  aus.  Oft  bleibt  die  Albuminurie  nur  gering- 
fügig. Hochgradige  Albuminurie  findet  sich  in  der  Mehrzahl  der  schweren  Fälle 
von  Coma  diabeticorum.  Tritt  zum  Diabetes,  was  nicht  so  selten  geschieht 
Morbus  Brightii  hinzu,  kann  die  Glycurie  geringer  werden:  die  Ursache, 
ist  nicht  sicher  bekannt. 

Die  Aschenbestandtheile  des  Harns  sind  vermehrt.  Dies  erklärt  sich  zum 
Theil  aus  der  gesteigerten  Nahrungsaufnahme.  Es  scheint  ül)rigens  im  Dia- 
betes das  Knochengewebe  ganz  speciell  zu  zerfallen  (v.  NooedenJ. 

Von  sonstigen  Bestandtheilen  des  Harns  verdienen  die  specielle  Be- 
achtung des  Arztes  das  Aceton,  die  A  c  e  t  y  1  e  s  s  i  g-  und  die  ß-0  xy- 
butt er  säure.  Insbesonders  der  Nachweis  der  letzteren  beiden  Verbindungen 
ist  prognostisch  wichtig:  das  Vorhandensein  der  beiden  Körper  spricht  für 
Säureautointoxication. 

Hinsichtlich  der  nothwendigen  harnanalytischen  Details  vgl.  den  Ai'- 
tikel  ^.Harnuntersuchung'-''  dieser  ..Bibliothek.'-^ 

Die  Polydipsie  ist  kein  ganz  coustantes  Symptom;  sie  folgt  übrigens 
den  Intensitätsschwankungen  der  Polyurie.  Noch  weniger  absolut  coustant, 
aber  in  typischen  Fällen  des  Diabetes  mellitus  oft  sehr  in  den  Vordergrund 
tretend,  ist  die  Polyphagie.  Der  Intensität  nach  bewegt  sich  die  letztere 
zwischen  einfach  gesteigerter  Esslust  und  Graden  der  Bulimie,  welche  die 
Kranken  gebieterisch  nöthigen,  bis  gegen  10  Kilo  Fleisch  pro  die  zu  verzehren. 
Polydipsie  und  Polyphagie  brauchen  nicht  parallel  zu  gehen.  Es  wurde  schon 
ausgefülu't,  dass  die  erhöhte  Appetenz  nichts  ist  als  das  Correlat  des  Ge- 
Avebehungers,  welch  letzterer  wiederum  nur  eine  unmittelbare  Folge  der 
speciellen  diabetischen  Nutritionsstörung  darstellt.  In  allen  schweren  Fällen 
deckt  der  Ersatz  den  Bedarf  auch  entfernt  nicht  und  es  resultirt  mit  uner- 
bittlicher Consequenz  die  Autophagie  (diabetische  Cachexie,  vgl.  den 
aii'tikel  „  Cachexie " ). 

Die  Körpertemperatur  der  Diabetiker  ist  gewöhnlich  niecMg;  man 
misst  oft  36"  C.  und  beobachtet  zum  Schlüsse  gelegentlich  unter  35°  C!  Inter- 
currente  febrile  Infecte  vermögen  bisweilen  die  Temperatur  nicht  in  demselben 
Maasse  zu  steigern,  wie  es  bei  Gesunden  der  Fall  wäre.  Man  sieht  z.  B.  aus- 
gedehnte Pneumonien  mit  38"  C.  ablaufen. 

Das  Blut  der  Diabetiker  ist  nicht  regelmässig  in  toto  eingedickt.  Die 
Blutmasse  wii'd,  wie  immer  bei  chronischer  Inanition,  eine  absolute  Abnahme 
erfahren.  Wichtig  ist,  dass  auch  in  vorgeschrittenen  Fällen  von  schwerem 
Diabetes  mit  sonst  ausgeprägtem  Marasmus  eigentliche  Anämie  (Vermin- 
derung des  Haemoglobingehaltes)  fehlen  kann.  NatiMich  gibt  es  aber  doch 
auch  viele  anämische  Diabetiker.  Das  höchste  beobachtete  spec.  Gewicht  betrug 
1064,  das  mindeste  1057  (also  ungefähr  normale  Werthe).  Die  Blutalkalescenz 
ist  oft  vermindert,  besonders  dann,  wenn  auch  der  Harn  Acetylessig-  und 
Oxybuttersäure  enthält  (Säureautointoxication).  Bei  paroxysmaler  Säurever- 
giftung konnten  die  genannten  Säm-en  auch  im  Blute  nachgewiesen  werden. 
Der  Dextrosegehalt  des  Blutes  ist  wohl  meist  erhöht,  bis  fast  5  pro  Mille. 
Wenn  jedoch  neuerdings  immer  wieder  betont  wird,  dass  die  Hyperglycaemie 


DIABETES  MELLITUS.  401 

eine  absolute  Voraussetzung  der  Glycosurie  ist,  müssen  dem  gegenüber  sichere 
Beobachtungen  angeführt  werden,  wo  Diabetiker  bei  Kohlenhydratzufuhr  reichlich 
mehr  Zucker  ausscheiden,  während  der  Blutzucker  nicht  ersichtlich  zunimmt. 
Gabeitschewsky  hat  Glycogen  in  den  Leucocyten  der  Diabetiker  nach- 
gewiesen. Das  Blutplasma  ist  in  den  schweren  Fällen  auffallend  „fett "reich. 
Das  wohl  mit  Unrecht  berühmt  gewordene  glycoly tische  Ferment  im  Blute  erfährt 
durchaus  nicht  eine  regelmässige  Abnahme. 

Die  mehr  secun dar en  Symptome,  grösstentheils  eigentlich  schon  Com- 
plicationen  des  Diabetes  mellitus  sind,  aufgezählt  nach  den  befallenen  Organen, 
folgende : 

Nervensystem:  1 .  Intellectuelle  Störungen:  Gedächtnisschwäche,  pseudo- 
paralytische Demenz,  Hypochondrie,  Lypemanie,  schreckhafte  Hallucinationen 
etc.  2.  Allgemeine  Neurosen:  Neurasthenie,  Epilepsie,  asthmaähnliche  Dyspnoe, 
Pseudoangina  pectoris,  Morbus  Basedow,  Schlafattaquen,  Impotenz.  3.  Sinnes- 
organe: Cataract,  Ptetinitiden,  Amblyopien,  Sehnervenatrophie,  Glaskörperblutung, 
Synchysis  scintillans,  Accommodationslähmung,  (Lähmung  der  äusseren  Augen- 
muskeln); Otalgie,  Otitis  diabeticorum,  Eiterungen,  Taubheit;  Anosmie;  Ageusie. 
4.  Neuralgien  (Worms).  Dieselben  haben  das  Charakteristische,  dass  sie  relativ 
oft  symmetrisch  sind.  Medicamente  sind  erfolglos,  Eiweissdiät  bessert  sie 
manchmal,  nicht  immer.  Befallen  sind  mit  Vorliebe  der  N.  ischiadicus  (oft 
auch  in  seinen  terminalen  Zweigen),  trigeminus,  occipitalis,  cruralis,  nn.  inter- 
costales.  Wahrscheinlich  gehören  hierher  manche  Formen  von  Kopfschmerzen, 
Nackenschmerz,  Mastodynie,  Schmerz  am  Daumenballen  etc.  5.  Neuritis: 
Schon  manche  der  vorhergenannten  nervösen  Störungen  sind  streng  genommen 
hier  einzubeziehen.  Speciell  sind  hier  jedoch  bestimmte  Lähmungen  an- 
zuführen. Diese  letzteren  sind  unvollständig,  ganz  umschrieben  (eine  Extremi- 
tät, wenige  Muskeln,  z.  B.  des  Auges,  ein  Stimmband  etc.  betreffend)  und  passager. 
Das  Fehlen  des  Patellarphänomens  ist  gleichfalls  im  Sinne  einer  Neuritis 
im  Cruralisgebiet  zu  deuten.  Bouchard  fand,  dass  das  Kniephänomen  in 
etwa  einem  Drittel  der  Fälle  fehlt,  Niviere  in  40  von  100.  Bisweilen 
sind  —  wie  auch  sonst  bei  Neuritiden  —  die  Sehnenphänomene  gesteigert. 
Gleichfalls  in's  Bereich  der  Neuritis  gehört  das  Fehlen  des  Muskelsinnes, 
der  atactische  Gang,  lancinirende  Schmerzen,  gastrische  Krisen,  Dysaesthesien 
(Charcot):  das  bekannte  Syndrom  der  sogenannten  Pseudotabes.  Die  neu- 
ritische  diabetische  Paraplegie  ist  vielfach  ähnlich  der  Alcoholneuritis.  Dass 
auch  echte  Tabes  und  Sclerose  en  plaques,  wenn  sie  den  4.  Ventrikel  in 
Mitleidenschaft  ziehen,  ebenso  Diabetes  hervorufen,  ist  casuistisch  festgestellt 
und  kann  nach  den  früheren  Ausführungen  nicht  überraschen.  Endlich  müssen 
noch  partielle  Anaesthesien,  Paraesthesien,  Ueberempfindlichkeit,  Pruritus 
cutanus  mit  hierherbezogen  werden.  Vielleicht  gehören  auch  gewisse  trophische 
Symptome,  z.  B.  mal  perforant,  Verlust  der  Nägel,  localisirte  Schweisse,  um- 
schriebene Hautatrophie,  Muskelatrophien  zu  den  neuritischen  Symptomen. 
6.  Cerebrale,  spinale  Symptome  und  Syndrome.  Cerebrale  Herdaffectionen, 
welche  Ursache  des  Diabetes  selbst  sind,  wurden  schon  oben  genannt.  Hier 
seien  weiter  angeführt  als  in  einzelnen  Fällen  beobachtet:  xipoplectiforme 
und  comatöse  Attaquen,  die  nicht  auf  Säurevergiftung  beruhen,  Hemiplegie, 
Schwindelanfälle,  Ohnmächten;  centrale  Facialislähmung.  Von  Seite  des 
Ptückenmarks  sind  cervicale  und  crurale  Paraplegien  constatirt. 

Circulationsapparat :  Atherose,  Insufficientia  cordis  mit  Dilatation, 
Fett-Degeneration  des  Herzens.  Oedenie  stellen  sich  theils  infolge  der  Herz- 
schwäche, theils  auch  infolge  der  hydraemischen  Cachexie  ein.  Nach  Lecorche 
wäre  die  Endocarditis  eine  nicht  seltene  Complication. 

Bronchopulmonaler  Apparat:  Fibrinöse  Lobärpneumonie  ist  häutig. 
Sie  bietet  nichts  Besonderes  als  einen  schweren,  manchmal  foudroyanten  Ver- 
lauf. Häufig  hat  die  Pneumonie  eine  Tendenz  zum  Ausgang  in  Suppuration  oder 

Bibl.  med.  W^issenscliaften.   I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  &0 


402  DIABETES  MELLITUS. 

in  Gangrän.  Doch  ist  die  Prognose  niclit  in  jedem  Fall  verzweifelt.  Riegel 
hat  eine  specielle  fibröse  Pneumonie  bei  Diabetikern  beschrieben,  mit  Bronche- 
ctasie  und  eitriger  Seretion.  Die  Sclerose  folgt  nach.  Die  Lungengangrän 
kann  auf  eine  Pneumonie  folgen,  oder  auf  eine  Bronchopneumonie,  selbst  auf 
eine  einfache  Bronchitis.  Das  Hauptmoment  von  Seite  der  Lungen  ist  jedoch 
die  Häutigkeit  der  bacillären  Phthise.  Etwa  ein  Drittel  der  Diabetiker  stirbt 
an  Tuberculose.  Fieber,  Schweisse,  Haemoptoe  sind  relativ  wenig  häufig  im 
Verlauf  dieser  Tuljerculose,  der  meist  nach  insidiösem  Beginn  ein  relativ  rascher 
ist.  Manchmal  erscheint  die  Tuberculose  als  vorwiegend  infiltrirte  (Lob.  Pneumo- 
nie), häufiger  aber  als  typisch  ulceröse  mit  Cavernenbildung  u.  s.  w. 

Verdauungsapparat:  Die  Mucosa  oris  ist  meist  trocken,  in  der 
Mundhöhle  wenig  Speichel.  Manchmal  besteht  wieder  (wenigstens  anfangs) 
Ptyalismus.  Die  Reaction  des  gemischten  Mundspeichels  ist  sauer,  wahi'- 
scheinlich  ohne  dass  bacteritische  Zersetzung  die  Ursache  ist.  Die  Zunge  ist 
trocken,  meist  gross,  kirschroth,  das  Epithel  nicht  selten  theilweise  defect, 
so  dass  die  geschwollenen  Papillen  frei  liegen.  Die  Zähne  werden  (oft  in 
grosser  Zahl)  cariös,  die  Gingiva  entzündet.  Pilze  in  der  Mundhöhle  lassen 
sich  massenhaft  nachweisen.  In  den  typischen  Fällen  der  Krankheit  stellt 
sich  der  Magen  lange  Zeit  sehr  leistungsfähig  dar.  Die  Motilität,  der  ja 
natürlich  viel  zugemuthet  wird,  ist  eine  ausreichende.  Bei  den  Polyphagen 
entwickelt  sich  aber  schliesslich  doch  häufig  Megastrie.  Die  Absonderung  der 
Salzsäure  zeigt  kein  streng  gesetzmässiges  Verhalten.  Dyspepsien  sind  häufig. 
Nicht  so  selten  sind  Cardialgien.  Die  Resorptionsthätigkeit  des  Dünndarms 
dürfte  nach  vorliegenden  Erfahrungen  bei  der  Mehrzahl  der  Kranken  in  den 
Grenzen  der  Norm  sich  bewegen :  dies  gilt  für  Eiweiss,  Fett  und  Kohlen- 
hydrate. Doch  gibt  es  Ausnahmen  (Hirschfeld).  Die  aromatischen  Producte 
der  Darmfäulnis  sind  im  Harn  öfter  vermehrt.  Der  Koth  enthält  wie  der 
Harn  nicht  selten  Aceton.  Obstipation  ist  häufig,  Neigung  zur  Diarrhoen  besonders 
im  Beginn  der  Krankheit  nicht  gar  zu  selten.  In  den  diarrhoischen  Stühlen  hat 
man  bisweilen  viel  Fett  gefunden.  Die  Leber  ist  nur  selten  vergrössert. 
Girrhose  derselben  kommt  unzweifelhaft  bisweilen  neben  Diabetes  vor.  Milz- 
vergrösserungen  sind  bei  Diabetikern  mehrfach  beobachtet  —  vielleicht  sind 
diese  Fälle  jedoch  bloss  zufällig  complicirte. 

Geschlechtsapparat:  Hoden  und  Ovarien  atrophiren,  Sterilität  ist 
häufig.  Bisweilen  zeigt  sich  im  Beginn  des  Leidens  erhöhte  Libido,  später  in 
der  Regel  Frigidität.  Die  Impotenz  wird  ebenso  oft  gleichmüthig  ertragen, 
wie  sie  zu  Störungen  der  Psyche  verschiederer  Intensität  führt.  Ich  habe  die 
Schwangerschaft  bei  Diabetikerinnen  normal  ablaufen  gesehen  ;  doch  sind  mehr- 
fach Aborte  beobachtet. 

Haut :  Herabsetzung  der  Perspiratio  insensibilis  ist  für  manche  Fälle  fest- 
gestellt, Trockenheit  der  Haut  die  Regel.  Im  Initial  Stadium  sind  jedoch  all- 
gemeine und  locale  Schweisse  nicht  selten.  Sonst  sind  anzuführen :  Pruritus, 
Eczem,  Liehen,  Zoster,  Xanthom,  Carbunkel,  Furunkel,  Phlegmone;  Gangrän 
(meist  an  den  Zehen)  im  Anschluss  an  Entzündungen  und  leichte  Verletzungen 
oder  primär.  (Als  seltenes  Frühsymptom  ist  die  Gangrän  schon  erwähnt 
worden.)  Die  vordere  Oeffnung  der  Urethra  wird  oft  der  Sitz  von  Pilz- 
wucherung, und  es  kommt  dann  zu  Vulvitis,  Balanoposthitis,  zu  Eczemen, 
welche  das  Praeputium,  die  Vulva  und  die  Scheide  in  Mitleidenschaft  ziehen. 
Von  hier  aus  kommt  es  dann  auch  nicht  selten  zu  Cystitis.  Die  Glans  penis 
oder  der  Penis  in  toto  kann  gangränös  werden. 

Diagnose :  Selbst  die  wiederholt  bei  demselben  Kranken  constatirte  Gly- 
curie  ist  an  sich  noch  kein  sicherer  Beweis  für  das  Bestehen  des  Diabetes 
mellitus.  Es  gibt  Fälle  von  persistirender  gesteigerter  alimentärer 
Glycosurie  (vergl.  y,Harn:  allgem.  und  specielle  Pathologie"),  welche  nie- 
mals zu  wirklichem  Diabetes  sich  ausgestalten  und    doch    diagnostisch  leicht 


DIABETES  MELLITUS.  403 

irre  führen.  Doch  darf  man  wohl  den  Satz  aussprechen,  dass  ein 
Individuum,  welches  bei  Zufuhr  relativ  geringer  Mengen  von 
Stärkemehl-  (nicht  zucker!-)  haltiger  Nahrung  (unter  50  Gramm) 
leicht  nachweisbare  Mengen  von  Zucker  (über  1 — 3  Zehntelprocent) 
im  Harn  ausscheidet,  wirklich  diabetisch  ist.  Kach  den  früheren 
Darlegungen  über  die  Art,  wie  der  Diabetes  sich  meist  insidiös  entwickelt, 
begreift  es  sich,  dass  man  oft  die  Krankheit  übersehen  muss,  wenn  man 
sich  nicht  dazu  bequemt,  den  Harn  jedes  Kranken  auf ,  Zucker  zu  unter- 
suchen. Dies  gilt  besonders  für  die  Fälle  ohne  Polyurie,  weil  dann  die  Pa- 
tienten auch  weniger  Durst  und  Hunger  haben.  Die  Fälle  mit  intermittirender 
Glycosurie  verursachen  noch  ganz  specielle  Schwierigkeiten. 

Das  Organ,  welches  im  gegebenen  Falle  in  letzter  Linie  die  Schuld  an  der 
Krankheit  trägt,  ist  vorläufig,  von  den  seltenen  cerebralen  Formen  abgesehen, 
Ijisher  durchaus  kein  Object  diagnostischer  Erwägungen.  Der  Diabetes  mellitus 
muss  bisher  als  abstracte  Nutritionsstörung  hingenommen  werden. 

Von  einer  gewissen  Bedeutung  ist  die  Entscheidung,  ob  die  sogenannte 
schwere  oder  leichte  Form  des  Diabetes  mellitus  (Traube,  SeegexJ  im 
gegebenen  Falle  vorliegt.  Wie  schon  oben  ausgeführt,  sind  leichte  Fälle  solche, 
wo  der  Harn  nur  Zucker  enthält,  wenn  in  der  Nahrung  Kohlenhydrate  zu- 
geführt werden.  Hierher  gehören  auch  die  ganz  leichten  Fälle,  in  denen  selbst 
eine  verschieden  grosse  Toleranz  für  Kohlenhydrate  nachw^eislich  ist.  Bei  den 
schweren  Fällen  dauert  die  Glycosurie  auch  bei  absoluter  Eiweissdiät  an.  Eine 
principielle  Scheidung  der  beiclen  Formen,  welche  auch  die  Prognose  ausschlag- 
gebend influenziren  würde,  scheint  jedoch  nicht  angezeigt,  da  es  erstlich 
Uebergangsformen  gibt,  so  dass  z.  B.  die  Eiweissglycogenie  beim  sonst  leicht- 
kranken Diabetiker,  welcher  für  Kohlenhydrate  eine  allerdings  begrenzte,  aber 
doch  nicht  unbeträchtliche  Toleranz  zeigt,  trotzdem  die  Eiweissglycogenie 
vom  Anfang  an  sich  nicht  mehr  ganz  normal  verhält,  und  da  andererseits 
w^enigstens  im  weiteren  Verlauf  fast  jedes  Einzelfalles  von  Diabetes  das  Ver- 
hältnis zwischen  Zuckervorrath  im  Körper  und  der  Möglichkeit,  den  Zucker 
auszunützen,  immer  mehr  im  Sinne  der  schweren  Form  sich  verschiebt,  die 
Assimilationsgrenze  also  progressiv  sinkt. 

Ebensowenig  sicher  es  berechtigt  ist,  die  sogenannte  leichte  Form  als 
„hepatische"  zu  denken  (Seegen),  ebensowenig  durchführbar  ist  vorläufig  die 
von  Lanceraux  versuchte  symptomatische  Abtrennung  einer  speciellen  pan- 
creatischen  Form  des  Diabetes  (magerer  Diabetes).  Die  von  Lanceranx 
für  diese  letztere  Form  angeführten  Merkmale  (Ptelativ  plötzliches  Einsetzen, 
rascher  Decursus  mit  starker  Deconstitution,  Azoturie,  Fettstühle,  grosse  Leber, 
Tod  durch  Phthise)  passen  in  der  Ueberzahl  auf  schwere  Diabetesformen  über- 
liaupt.  Noch  weniger  nothwendig  und  erspriesslich  ist  die  Aufstellung  einer 
constitutione llen  Form  (Obesitas,  Gicht  u.  s.  w.)  Warum  der  sogenannte 
„lipogene"  Diabetes  (diabete  gras)  prognostisch  günstiger  sich  darstellt, 
wurde  oben  ausgeführt. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  dagegen  ist,  nachdem  ein  schwerer  Dialietes  fest- 
gestellt, der  fernere  Nachw^eis,  ob  toxogener  Eiweisszerfall  Platz  gegritfen 
liat  und  ob  (meist  gehen  diese  beiden  Symptome  nebeneinander)  Säure- 
autointoxication  eingetreten  ist.  Ersteres  lehrt  der  lege  artis  angestellte 
Stoffwechselversuch.  Letzteres  geht  aus  dem  Auftreten  grosser  Acetonmengen 
und  dem  Erscheinen  der  Acetylessig-  und  der  ß-Oxybuttersäure  im  Harn,  sowie 
aus  der  nachweisbaren  Veränderung  der  Blutalkalescenz  hervor.  Erfahrungs- 
gemäss  ist  die  Säurevergiftung  seltener,  wenn  der  Diabetiker  einer  progredirten 
Phthise  verfallen  ist. 

Verlauf  iind  Ausgänge.  Die  Dauer  eines  Diabetes,  auch  wenn  er 
durch  die  digestive  Hygieine  nicht  mehr  beeintiussl)ar,  lässt  sich  selbt  an- 
nähernd   nicht   abschätzen.     Es  wurden    Fälle  beobachtet,    welche  in  weniger 

26* 


404  DIABETES  MELLITUS. 

als  zwei  Monaten  mit  dem  Tode  des  Kranken  endeten.  Andererseits  steht 
fest,  dass  Diabetiker  sich  mehr  als  20  Jahre  leidlichen  subjectiven  Wohl- 
befindens erfreuen  können.  Der  sehr  variable  Verlauf  ist  beeinflusst  durch  das 
Alter  des  kranken  Individuums,  durch  die  Pflege,  die  es  sich  angedeihen  lassen 
kann,  durch  die  specielle  Form  der  Krankheit,  durch  die  Complicationen.  Be- 
sonders rapid  pflegt  der  Decursus  bei  Kindern  zu  sein.  Auch  der  familiäre 
Diabetes  erweist  sich  meist  besonders  schwer.  Der  Greisendiabetes  ist  viel 
günstiger  zu  beurth eilen ;  er  ist  oft  intermittirend  und  bleibt  rudimentär.  Von 
einem  Schwangerschafts-  und  einem  klimakterischen  Diabetes  sollte  man  lieber 
gar  nicht  sprechen.  Ueber  die  specielle  Prognostik  der  einzelnen  „Formen" 
des  Diabetes  wurde  das  Nöthige  schon  angeführt.  Hier  sei  noch  hinsichtlich  des 
traumatischen  Diabetes,  welcher  aus  forensischen  Gesichtspunkten  eine 
gewisse  besondere  Bedeutung  beansprucht,  erwähnt,  dass  er  unmittelbar  nach 
dem  Trauma,  aber  auch  erst  Monate  und  Jahre  nach  demselben  einsetzen  kann. 
Wenn  der  traumatische  Diabetes  gleich  nach  der  Verletzung  beginnt  {Diabetes 
traumaticus  praecox)  pflegt  er  in  einem  Vierteljahr  abzulaufen.  Wenn  er 
erst  lange  nach  dem  Trauma  beginnt,  ist  sein  Verlauf  ein  langsamer,  die  Pro- 
gnose schwer  (Diabetes  traumaticus  tardivus). 

Der  Ausgang  kann  Heilung  sein  (in  den  schweren  Fällen  gewiss  selten!). 
Uebergang  in  eine  anderweitige  Constitutionserkrankung  wurde  gelegentlich 
beobachtet.  In  der  grossen  Ueberzahl  der  Fälle  gelingt  es  aber  durch  ent- 
sprechendes Regime  wenigstens  den  Decursus  zu  verlängern  und  die  Intensität 
der  Symptome  zu  vermindern.  Typisch  ist  ein  kürzeres  oder  längeres  Stadium 
relativen  Wohlbefindens  und  ein  durch  die  progressive  constitutionelle  Hypo- 
trophie  sowie  durch  die  Complicationen  beherrschtes  terminales  Stadium.  Der 
Tod  erfolgt  durch  Phthise,  Gangrän  (Haut,  Lungen),  intercurrente  Pneumonie, 
Typhus  etc.,  Hirnblutung,  Säureintoxication,  durch  einfachen  Marasmus^selten), 
Herzlähmung. 

Therapie:  Man  ist  einig,  dass  die  Behandlung  des  Diabetes  mellitus 
fast  ausschliesslich  auf  diätetischen  Vorschriften  beruhen  muss.  Die 
Ernährungslehre  gibt  uns  vorläufig  noch  kein  in  allen  Fällen  ausreichendes 
rationelles  Programm  für  die  digestive  Hygieine  des  Diabetikers.  Doch  sind 
einige  Gesichtspunkte  genügend  festgestellt,  welche  alle  praktischen  Versuche 
beherrschen  sollten.  Als  wichtigste  Aufgabe  stellt  sich  uns  nach  den  Grund- 
sätzen der  Ernährungslehre  die  Erhaltung  des  Körperbestandes  (vor  allem  des 
Eiweissbestandes)  dar. 

Mit  der  absoluten  Eiweissdiät  (500 — 1000  Gramm  Eiweiss  pro  die) 
wird  bei  der  sog.  leichten  Form  des  Diabetes  mellitus  erzielt,  dass  der  Harn 
zuckerfrei  wird,  und  dass  in  Fällen  der  schweren  Form  die  Polyurie  und  das 
täglich  ausgeschiedene  Zuckerquantum  sehr  bedeutend  (bis  unter  50  Gramm) 
absinkt.  Dabei  werden  natürlich  die  Zucker  assimilirenden  Apparate  geschont 
und  die  Hyperglykaemie  vermieden.  Wenn  diese  Thatsachen  den  Versuch  recht- 
fertigen, im  Beginn  des  Leidens  und  später  immer  wieder  in  gewissen  Perioden 
(solange  noch  nicht  toxogener  Eiweisszerfall  und  Säurevergiftung  vorliegt),  die 
strenge  Fleischdiät  durchzuführen,  so  ist  doch  zu  erwägen,  dass  bei  einer 
solchen  Ernährung  (insbesondere  magerer  Individuen)  in  der  Folge  Fleisch- 
und  Fettverluste  kaum  zu  vermeiden  sind,  weil  selbst  durch  sehr  grosse  Fleisch- 
gaben der  Calorienbedarf  nicht  ausreichend  gedeckt  wird. 

Die  Ernährungslehre  verweist,  um  den  Eiweissbestand  des  Kranken  zu 
beschirmen,  vor  Allem  auf  die  Fette,  v.  Meeing  hat  gezeigt,  dass  sich  eine 
Nahrung  zusammensetzen  lä»sst,  die  genügend  viel  Eiweiss  und  Fett  enthält, 
um  allen  Ausgaben  des  Diabetikers  vollständig  zu  entsprechen.  Stickstoff 
braucht  nicht  abgegeben  zu  werden,  die  Zuckerausscheidung  hält  sich  massig, 
das  subjective  Befinden  bleibt  ein  leidliches.  Ein  Ideal  ist  diese  Fett-Eiweissdiät 
auch  nicht,  weil  unter  den  obwaltenden  Bedingungen  die  Fettzufuhr  eine  sehr 


DIABETES  MELLITUS.  405 

grosse  sein  muss,  was  insbesondere  die  äussere  Form  der  Ernährung  sehr 
schwierig  macht. 

Berücksichtigt  man  die  dargelegten  Thatsachen  und  den  Umstand,  dass 
der  ärztliche  Praktiker  doch  immer  auch  mit  dem  Gaumen  und  der  Psyche 
seiner  Patienten  zu  rechnen  hat,  so  sieht  man  leicht  ein,  eine  wie  wichtige 
praktische  Aufgabe  es  ist,  im  gegebenen  Fall  zu  ermitteln,  wie  viel  Kohlen- 
hydrate der  Organismus  des  Kranken  auszunützen  vermag.  Einen  exacten 
Massstab  hiefür  kann  aber  nur  der  lege  artis  angestellte  Stoffwechselversuch 
verschaffen.  Aufgabe  der  Ernährungstherapie  ist  es,  solche  Kohlenhydrate 
(Inulin,  Laevulose,  Pentaglycosen  etc.)  ausfindig  zu  machen  und  genau  zu  stu- 
diren,  welche  auch  im  diabetischen  Organismus  in  grösserem  Umfange  ver- 
werthet  werden.  Bei  vorhandenem  toxogenen  Eiweisszerfall  ist  die  gemischte 
Ernährung  ein  Postulat,  über  das  nicht  weiter  discutirt  zu  werden  braucht ;  hier 
kann  die  Eiweissdiät  geradezu  vergiftend  wirken. 

In  den  vorstehenden  Ausführungen  ist  die  Rücksicht  auf  den  überreich- 
lichen Zuckergehalt  der  Säftemasse  (Hyperglykaemie),  welchem  man  von  jeher 
als  Ursache  einer  bestimmten  Zahl  von  Symptomen  (Durst,  Polyurie,  nervöse 
Störungen,  Vulnerabilität  der  Gewebe,  necrotisirende  Entzündungen)  angesehen 
hat,  etwas  vernachlässigt  worden.  Die  Rechtfertigung  liegt  darin,  dass  wir 
nicht  wissen,  in  welchem  Umfang  thatsächlich  die  angeführten  Symptome, 
von  den  beiden  erstgenannten  abgesehen,  auf  Rechnung  der  Hyperglykaemie 
kommen.  Jedenfalls  werden  diese  Symptome  auch  durch  absolute  Eiweissdiät 
nichts  weniger  als  regelmässig  beseitigt. 

Für  die  Praxis  schlagen  wir  das  von  Naunyn  vorgeschlagene  Regime  mit 
geringen  Abweichungen  vor. 

Bei  Behandlung  der  schweren  Fälle  beginne  man  immerhin  mit  stricter  Eiweissdiät, 
500  g  Fleisch  pro  Tag.  Sehr  rasch  überzeugte  sich  jedoch  Ref.  bei  den  meisten  Versuchen, 
die  er  nach  dieser  Richtung  unternommen,  dass  mit  Rücksicht  auf  den  Eiweissbestand  und 
auf  das  subjective  Befinden  diese  Diät  auf  die  Dauer  undurchführbar  war.  Deshalb  gebe 
man  schon  nach  14  Tagen  zunehmend  Milch  (bis  1  Liter)  und  Yor  Allem  auch  Brot  (50  bis 
100  g).  Auch  die  Gemüse  (siehe  unten)  sind  bald  heranzuziehen  und  "Wein  (1  Flasche)  zu 
gestatten.  Die  Fleischration  kann  bei  diesen  Zuthaten  den  Betrag  von  500  g  beibehalten 
oder  bis  1  hg.  steigen.  Das  Fleisch  sowohl,  als  auch  das  gestattete  Brot  und  die  Gemüse 
sind,  soviel  als  die  Küche  vermag  und  der  Darm  der  Kranken  verträgt,  als  Fettträger  zu 
verwerthen ! 

Naunyn  hat  eine  „Mittelform"  des  Diabetes  mellitus  aufgestellt.  Dieselbe  umfasst  Fälle 
mit  ausgesprochener  Deconstitution,  bis  6  Litern  Harn,  500 — 600  g  Zucker  pro  die.  Aber  der 
Zuckergehalt  des  Harns  sinkt  bei  eingeleiteter  Fleischdiät  schon  nach  wenigen  Tagen  unter 
2%.  In  8  —  14  Tagen  ist  der  Harn  zuckerfrei,  das  subjective  Befinden  bessert  sich,  nach- 
dem es  vielleicht  zu  Anfang  der  Cur  eher  schlechter  geworden,  gleichfalls.  Solche  Fälle 
sind  jedenfalls  selten.  Meist  stellt  sich,  wie  schon  erwähnt,  bei  fortgesetzter  absoluter  Ei- 
weisskost  Muskelschwäche,  Eisenchloridreaction  ein  Nach  Naunyn  soll  diese  Reaction  in 
Fällen  der  Mittelform,  auch  wenn  sie  aufgetreten,  bald  wieder  ganz  schwinden.  Ref.  hat 
selbst  in  Fällen,  wo  die  Eiweissdiät  eine,  zwei  Wochen  ganz  leidlich  vertragen  wurde,  wo 
mit  der  Entzuckerung  des  Harns  Durst  und  Polyurie  sistirten,  die  Kräfte  sich  erhielten,  schon 
in  der  3.  Woche  oder  später  mit  einer  gewissen  Regelmässigkeit  gelinde  oder  ausgesprochene 
Digestionsstörungen  beobachtet,  welche  allerdings  oft  schon  durch  ganz  geringe  Zugeständ- 
nisse beseitigt  werden  konnten.  Naunyn  empfiehlt,  die  Fälle  der  sogenannten  Mittelform 
mindestens  3—4  Wochen  bei  stricter  Fleischkost  zu  halten.  Nach  5  Wochen  Zulage  von 
Eiern,  Milch,  Brot,  Erhöhung  der  Fleischration  auf  600^.  Tritt  darnach  über  l7o  'be- 
tragende, steigende  Zuckerausscheidung  ein,  werde  zur  Eiweissdiät  zurückgekehrt.  Nach 
dieser  Zeit  abermals  die  genannten  Zulagen.  Wird  die  letztere  gleich  oder  erst  jetzt  ver- 
tragen, geht  man  weiter.  Ref.  hat  in  seinen  meisten  (klinisch  beobachteten)  Fällen  nicht  mehr 
erreichen  können,  als  dass  bei  ähnlicher  Zugabe,  wie  die  angeführte,  die  Zuckerausfuhr  im 
Harn  pro  Tag  um  etwa  50^  schwankte.  Die  leichten  Diabetiker  erhalten  (nachdem 
die  entsprechenden  Versuche  mit  absoluter  Eiweissdiät  durchgeführt  sind)  später  700  g 
Fleisch  pro  Tag,  oder  statt  dessen  Eier  (1  Ei=40(/  Fleisch,  Eigelb  etwa  Ib  g  Fleisch). 
Fett  in  jeder  Form,  100  f/  Brot  per  Tag,  Gemüse,  Obst  (Salze!),  Milch  (^4  Liter  täglich). 

Als  diätetisches  Mittel  dürfen  auch  die  kohlensauren  Alkalien 
gelten.  Da  in  einer  sehr  grossen  Zahl  von  Fällen  des  Diabetes  mellitus  die 
Blutalkalescenz  herabgesetzt  ist,  besteht  sogar  eine  gewisse  theoretische  Unter- 


406  DIABETES  MELLITUS. 

läge  für  die  Kothwendigkeit  des  Gebrauclis  der  Alkalien.  Der  Nutzen  einer 
Carlshader  Cur  ist  erfahrungsgeniäss  nicht  zu  bestreiten  ;  er  resultirt  übrigens 
aus  mehrfachen  hygieinischen  Einflüssen.  Unter  ähnlichen  Badeorten  ver- 
dient Karlsbad  weitaus  den  Vorzug.  Antidiabetisch  wirkt  natürlich  das 
Karlshader  Wasser  nicht! 

Massage,  Muskelbewegung  (nicht  übertrieben !),  Anregung  der  Haut- 
thätigkeit  (Baden,  Douchen,  Abreibungen)  werden  überall  empfohlen. 

Die  pharmaceutische  Behandlung  hat  versucht :  Opium  und  seine  Derivate, 
Bttychnin,  Atropin,  (salinische)  Laxantien,  die  Valerianapräparate,  Arsenik,  Gly- 
cerin^  Jod,  Quecksilber,  Kupfer,  Natrium  salicylicum,  Phospliorsäure,  Salpeter- 
säure, Phenol,  Chloral^  Cocain,  die  Adstringentia,  Sauerstoffinhalationen,  Chinin, 
Bromkalium,  Ergotin.  ■ —  Xeuestens  sind  mehrfach  genannt  worden  Anüpyrin, 
Sidfonal,  Syzygium  jamholamim  (pro  die  20  • —  40  g.  dieser  Drogue).  Alle 
diese  Mittel,  auch  die  drei  letztgenannten,  sind  leider  unwirksam,  sofern 
man  nicht  etwa  in  vorübergehender  Verminderung  der  Glycurie,  deren  Ursache 
nicht  immer  ermittelbar,  schon  Erfolge  sieht.  Die  Empfehlung  des  Benzosol 
ist  rasch  widerrufen  worden. 

Im  Verlaufe  eines  gegebenen  Falles  von  Diabetes  mellitus  ergeben  sich 
natürlich  zahlreiche  specielle  Indicationen,  welchen  man  zum  Theil  auch  mit 
Medicamenten  gerecht  werden  kann. 

An  Diabetikern  dürfen  Operationen  ausgeführt  werden.  Dies  gilt  ins- 
besondere auch  für  die  Cataract.  Haut-  und  Zahnpflege  seien  vom  Anfang  an. 
besonders  berücksichtigt. 

Anhang. 

(Excerpte  aus  berühmt    gewordenen  Diätvorschriften    (Bouchaedat,    Pavt,    Seegen,. 
Cantani,  Dickinson,  Ebstein,  Naunyn). 

Den  Diabetiker  nicht  dürsten  lassen !  (Eisstückchen,  langsames  Kauen  von. 
Kaflfeehohnen).  —  Besser  zwei  Mahlzeiten  im  Tag  (eine  um  10,  eine  um  4  Uhr), 
statt  drei  oder  vier  ! 

Genossen  werden  kann  Schlacht  fleisch  aller  Art  (Leber  ausgenommen  (?), 
Rauchfleisch,  Schinl^en,  Zunge,  Speck,  Knochenmark,  Merenfett  (Kalb),  Geflügel, 
Wild,  eingesalzene  und  eingemachte  Fische,  Austern,  Muscheln,  Krebse,  Hummern.  Vor- 
zuziehen fettes  Fleisch!  Thierische  Suppen  ohne  Zusätze,  Beeftea,  Fleischbrühe, 
Eier,  Leberthran,  Olivenöl.  Mit  Vorsicht:  Butter,  Rahm,  Milch.  Grünes  Gemüse: 
Spinat,  Radieschen,  Sellerie,  (nicht  süsser);  Senf,  Kresse,  Kochsalat,  Endiviensalat,. 
Gurken,  grüner  Spargel,  Sauerampfer,  Artischoken,  Pilze.  Mit  grösserer  Vor- 
sicht: Blumenliohl,  weisse  Rübe,  Kraut,  grüne  Bohnen;  Erd-,  Johannis-,  Himbeeren, 
Orangen,  Mandeln.  —  Gel^e  (nicht  gesüsst),  Eierrahm  ohne  Zucker,  Nüsse  (mit 
Vorsicht).  —  Mandelkleie  oder  Kleber  für  Brotherrichtung.  —  Thee,  Kaffee,  Cacao  von 
den  Schalen.  Getränke:  Sherry  und  Bordeauweine;  mit  Vorsicht:  alle  nicht 
zu  alcoholr eichen,  nicht  süssen  Weine,  (besonders  Moselweine),  Brantwein  und  andere 
ungesüsste  Spirituosen;  Sodawasser,  Mineralwässer;  Cognac,  Whisky,  Rum,  Claret, 
ungesüsste  Mandelmilch,  zuckerfreie  Limonade. 

Auf  den  Index  ge-setzt  wurden:  Zucker,  Syrup,  Honig,  Mehl  (Brot  im 
Excess),  Maccaroni,  Nudeln,  Maismehl,  Arrowroot,  Sago,  Tapioka,  Hafergrütze, 
Gerstenmehl,  Kartoffeln;  rothe  Rüben,  Pastinak,  Carotten,  (Rüben,  Zwiebeln  und 
Wurzeln),  Erbsen,  Bohnen,  Kastanien,  süsse  und  conservirte  Früchte,  Milch  (im  Ex- 
cess), Chocolade,  Bier,    Most,  Champagner,  Schaumweine,  süsse  Weine  und  Liqueure. 

Kleb  erbrot:  Zuerst  von  Bouchaedat  empfohlen,  von  Seegen  verpönt. 
Konnte  in  der  Praxis  wegen  schlechten  Geschmackes  nicht  festen  Fuss  fassen. 
Ebstein  ist  neuerdings  für  das  sogenannte  Aleuronatbrot  eingetreten.  Dr. 
Hundhausen  in  Hamm  i.  W.  fabricirt  nämlich    ein   Kleberpräparat,    das  Aleuronat, 


DIABETES  MELLITUS.  407 

welches  voll  ausuutzbar  und  iu  seiner  übrigens  fast  constanten  Zusammensetzung  (SÜ^/q 
Eiweiss)  auch  haltbar  ist.  Mit  Hilfe  dieses  Präparates  und  mit  irgend  einem  Stärkemehl 
lässt  sich  nnn  ein  geniessbares  Brot  herstellen,  welches  in  maximo  50  "/o  Pflanzen- 
eiweiss  enthält.  Der  en-gros-Preis  des  Aleuronats  beträgt  das  5-fache  des  jeweiligen 
Weizenpreises;  gegenüber  Schlachtfleisch  ist  es  ein  billiges  Nahrungsmittel.  Man 
erhält  auch  Aleuronatzwieback  und  Cakes.  (Lieferanten  G.  Scheele,  Braunschweig, 
Bahthel,  Mühlhausen  i.  E.,  E,.  G-eeicke,  Potsdam,  Ceon  &  Lanz,  Göttingen). 
(Schwächeres)  Aleuronotbrot  kann  man  natürlich  auch  zu  Hause  backen!  Auch  alle 
Saucen,  die  Ragout  und  Fricassesaucen,  die  Braten  und  Wildsaucen  können  ohne 
Mehl  mit  Aleuronat  hergestellt  werden.  Das  Inulinmehl,  das  man  aus  den  Knollen 
von  Topinambur  leicht  verfertigen  kann,  wäre  dazu  gleichfalls  brauchbar.  Die  To- 
pinamburknollen (in  deren  Saft  neben  Inulin  noch  andere  Zuckerarten  sich 
finden)  schmecken  etwas  fad.    Die  Stach ysknollen  kennt  Pief.  nicht. 

Das  Mandelbrot  ist  für  die  Praxis  kaum  zu  empfehlen;  höchstens  als  ge- 
legentliches Genussmittel.  Brot  aus  Sojabohnenmehl  (C.  H.  Knoee,  Stuttgart)  hat  an- 
fangs von  sich  reden  gemacht,  ist  jedoch  wieder  vergessen  (Oelgeschmack!)  Leid- 
lichen Geschmack  hat  auch  das  sog.  Teplitzer  Brot  (Conditor  Pokoeny), 
solange  das  darin  reichlich  enthaltene  Fett  nicht  ranzig  ist. 

Vom  Saccharin,  dessen  Harmlosigkeit  wohl  sichergestellt  ist,  kommt  ein  leicht 
lösliches  Salz  zur  Verwendung,  das  in  Tablettenform  von  der  bekannten  Fabrik  Fahl- 
beck, List  &  Co.,  hergestellt  wird.  Die  Verwerthbarkeit  der  Lae  vulose  und  der 
Pentaglycosen  als  Zuckerersatz  bei  Diabetes  mellitus  ist  noch  zu  erwägen. 

Auf  die  diätetischen  Yorschrifteu  von  Düring,  welche  sehr  lax  sind  in  Hin- 
sicht der  Kohlenhydrate,  und  auf  das  vegetarische  Regime  von  Lahmann,  welch' 
letzteres  eigentlich  eine  Inanitionsdiät  ist,  wurde  in  den  vorstehenden  Zeilen  keine 
Rücksicht  genommen.  fe.  keaus. 

Diarrhoe  (Abweichen,  Durchßuss,  Durchfall,  Dünnschiss)  ist  für  uns 
jede  mehr  oder  minder  dünnflüssige  Stulilentleerung.  Man  pflegt  zwar  mit 
dem  Begriöe  „Diarrhoe"  auch  eine  Vermehrung  der  Zahl  der  Ausleerungen 
zu  verbinden,  wie  sie  bei  ihr  thatsächlich  meistens  vorkommt,  —  jedoch  mit 
Unrecht,  denn  ein  einziger  dünnflüssiger  Stuhl  ist  nicht  minder  eine  Diarrhoe, 
wenn  auch  innerhalb  der  nächsten  24  Stunden  kein  zweiter  gleicher  oder 
ähnlicher  Stuhl  ihm  gefolgt  ist.  Dagegen  sind  mehrere  kotlireiche,  melu' 
oder  minder  harte /Stulilentleerungen  am  selben  Tage  noch  keine  Diarrhoe. 
Für  viele  Autoren  gehört  auch  eine  Beschleunigung  der  Entleerung  zum  Begrifi" 
Diarrhoe,  die  freilich  für  die  weitaus  meisten  Fälle  zutrifft,  aber  doch  nicht 
allgemein  giltig  ist. 

Eine  andere  Eigenthümlichkeit  der  Diarrhoe,  die  anderswo  nicht  immer 
gebührend  erwähnt  wird,  ist  ihr  oft  plötzliches  stürmisches,  überraschendes, 
geradezu  unberechenbares  Einsetzen,  was  mit  der  Beschleunigung  keineswegs 
identisch  ist,  für  die  davon  Betroffenen  gar  manchmal  üble  Folgen  hat  und 
ihnen  das  Leben  recht  sauer  machen  kann. 

Wollten  wir  die  obige  Definition  der  Diarrhoe  nach  dem  eben  Gesagten 
erweitern,  so  müssten  wir  sagen:  Diarrhoe  ist  eine  Unregelmässigkeit  der 
Defäcation,  bei  der  die  Entleerungen  dünnflüssiger,  meist  auch  zahlreicher 
und  beschleunigter  als  beim  normalen  gewohnten  Stuhlgange  sind  und  gar  oft 
unerwartet  und  plötzlich  sich  einstellen. 

Diese  Detinition  stimmt  für  alle  Fälle  von  Diarrhoe,  die  nicht  nur  ^^ei 
verschiedenen  Krankheitsprocessen  eine  mehr  oder  minder  dominirende,  ja  oft 
geradezu  pathognomonische  Rolle  spielt,  sondern  auch  zuweilen  keinem  aus- 
gesprochenen Krankheitsbilde  angehört,  gewissermaassen  eine  Störung  sui 
generis  darstellt;  schon  aus  diesem  Grunde  verdient  die  Diarrhoe  allein  und 


408  DIAREHOE. 

füi'  sich  l3esproclien  zu  werden.  Die  Bedeutung  der  als  Symptome  der  ver- 
schiedenartigsten Krankheiten  auftretenden  Diarrhoe  wh'd  in  den  betreffenden 
Artikeln  {„Brech-Durchfall  der  Säuglinge/'  „Colitis",  „Di/senterie''%  ..Einheimische 
und  Indische  Cholera.,^'  ,, Enteritis,''^  „Gastritis^''  ^^Intestinale  Äutointoxication" 
„Typhus''  etc.)  eingehende  Würdigung  finden.  Doch  haben  alle  Diarrhoeen, 
S}anptomatische,  wie  selbständige  in  ihrem  Wesen  und  Verlaufe,  sowie  in 
Ursache  und  Behandlung,  soviel  Eigenartiges,  Zusammengehöriges  und  Mar- 
kantes, dass  sie  einer  umfassenden  Besprechung  ungezwungen  unterzogen 
werden  können. 

Die  Diarrhoe,  als  ein  in  seiner  Consistenz  veränderter,  dünnerer  Stuhl- 
gang aufgefasst,  bringt  uns  zunächst  zur  Betrachtung  der  entleerten  Massen 
und  ilirer  Beschaffenheit.  Sie  sind  bald  breiig,  bald  dünner,  bald  wasser- 
dünn (Diarrhoea  serosa),  allein  oder  mit  festen  Massen  untermischt  {Diarrhoea 
sterxoralis)  und  können  diese  Unterschiede  der  Consistenz,  je  nach  Um- 
ständen und  Lidividualität  variii'en.  Bei  der  weiteren  Charakterisirung  der 
Beschafienheit  der  diarrhoischen  Entleerungen  imponirt  die  Mannigfaltigkeit 
ihrer  Farbe,  welche  je  nach  den  Ingestis  (Speisen,  Getränken.,  Ahfuhr- 
mitteln  etc.")  oder  normalen,  pathologischen,  manchmal  zufälligen  oder  ver- 
mehrten Beimischungen,  (Galle.,  Schleim,  Epithelien,  Blut,  Eiter  etc.)  oft  in 
charakteristischer  Weise  wechselt  und  der  zu  Grunde  liegenden  Erkrankung 
das  Gepräge  geben  kann.  So  sind  die  sogenannten  Pteiswasserstühle  bei  der 
Cholera,  die  erbsenpüreeartigen  beim  Typhus,  die  grünen  nach  Calomel 
(Schwefelquecksilber)  und  bei  Cholera  Infant.  (Pilze),  die  blutigen,  eitrigen 
bei  bestimmten  Zuständen  (Piuhr  etc)  sehr  bekannt  und  bedeutungsvoll  ge- 
worden. Alle  Nuancen  der  Färbung,  von  der  beinahe  wasserhellen,  unge- 
färl^ten,  bis  zur  braunen  und  pechschwarzen  können  bei  der  Diarrhoe  dm'ch 
die  mannigfachsten  Umstände  in  den  verschiedenartigsten  Combinationen  und 
Variationen  vorkommen.  Der  Geruch  der  diarrhoischen  Entleerungen  wech- 
selt vom  einfach  fäcalen  bis  zum  scharf  sauren,  aashaften,  stinkenden,  jauchigen, 
wie  er  namentlich  durch  gewisse  Zersetzungsvorgänge  und  Bildung  von  be- 
gleitenden Gasen  (Kohlenwasserstoff,  Schwefelwasserstofi  etc.)  bedingt  wkd. 
Es  kommen  aber  auch  diarrhoische  Stühle  zu  Stande,  welche  so  gut  wie 
geruchlos  sind. 

Je  nach  der  Beimischung  von  Dünndarmsecreten  und  der  Schnelligkeit 
der  Ausleerung,  mit  oder  ohne  Zersetzung  ist  die  Reaction  der  diarrhoischen 
Stühle  eine  alkalische  oder  saure,  und  findet  man  bei  ihrer  chemischen 
Untersuchung  ausser  den  mannigfachsten  bereits  erwähnten  normalen  und 
abnormen  Substanzen  namentlich  noch  Fermente,  salpetrige  Säure,  Peptone, 
Kochsalz,  Xalu'ungsbestandtheile,  Leukomaine  und  Ptomaine  etc.  in  wech- 
selnder Menge.  Ein  besonderes  Interesse  erregen  die  vorwiegend  mit  ver- 
schiedenen Mengen  von  Fett  einhergehenden  Diarrhoeen,  Erscheinungen,  die 
mit  einer  mangelhaften  Absonderung  von  Pancreassaft  und  Galle,  beziehungs- 
weise schlechter  Fettverdauung  verbunden  sind,  namentlich  bei  gleiclizeitig  mehr 
oder  minder  fettreicher  Xalu-ung  (Diarrhoea  adiposa).  Es  gilt  dabei  als  fest- 
stehend, dass  um  so  mehr  unverdaute  Massen  sich  finden,  je  höher  oben 
im  Darme  die  beschleunigte  Darmbewegung  begonnen  und  das  etwa  zu  Grunde 
liegende  Uebel  seinen  Sitz  hat  und  je  schneller  die  Beförderung  des  Darm- 
inhaltes und  seine  Ausscheidung  stattfindet. 

Das  Mikroskop  erweist  in  all'  diesen  Fällen,  was  mehr,  was  weniger 
verdaut  und  ausgenutzt  worden  ist  und  ob  und  wieviele  normale  und  patho- 
logische Beimengungen  und  welche  enthalten  sind.  So  werden  wir  durch 
dasselbe  namentlich  auf  Epithelien,  weisse  und  rothe  Blutkörperchen,  Eiter, 
Fettsäurenadeln,  Tyrosin,  Krystalle  (phosphorsaure  Ammoniakmagnesia, 
Oxalate  etc.)  Leucin,  auf  die  verschiedensten  thierischen  und  pflanzlichen 
Parasiten,  Eier  von  Wüi'mern,  Schleim,  Gewebsfetzen,  brandige  Massen  u.  s.  w. 


DIARRHOE.  409 

aufmerksam  gemacht,  Dinge,  die  hier  wohl  iiiclit  alle  des  Näheren  erwähnt  zu 
werden  brauchen,  da  sie  in  ihrer  offenkundigen,  semiotischen  und  sonstigen 
Bedeutung  an  anderen  Stellen  eingehender  gewürdigt  werden  müssen.  (Yergl. 
,,Faeces  und  Faecesimtersmhung.^^ 

Die  Zahl  der  Stühle  bei  der  Diarrhoe  ist  ebenso  wie  ihre  Be- 
schaffenheit, von  den  mannigfachsten  Factoren  abhängig,  jedoch  nicht  immer 
maassgebend  für  die  Schwere  des  Verlaufes.  Art,  Menge,  Zeit  und  Mischung 
der  Ingesta,  nicht  bloss  bestimmter  für  die  Diarrhoe  direct  verantwort- 
licher Dinge,  spielen  darin  eine  Rolle,  wie  die  zu  verschiedenen  Zeiten  und 
Umständen  wechselnde  Verdauungs-,  Absorptjons-  und  Contractionsfähigkeit  und 
Thätigkeit  jedes  einzelnen  Abschnittes  des  Intestinaltractus,  sowie  endlich  die 
Reizbarkeit  und  Gereiztheit  des  nervösen  Apparates,  das  Allgemeini) efinden 
des  Individuums,  die  allgemeine  und  locale  Ernährung,  Circulation  u.  dgl.  So 
kann  die  Zahl  der  diarrhoischen  Stühle  innerhalb  24  Stunden  variiren  von 
1 — 5,  10,  20  und  mehr,  wobei  statt  des  normalen  Stuhldranges  eine  oft 
sehr  schmerzhafte  Empfindung  am  After  Platz  greift,  der  sogenannte  Stuhl- 
zwang oder  Tenesmus.  Er  stellt  sich  dar  als  ein  ewiger  Drang,  meist  ohne 
Erfolg,  dann  wieder  eine  plötzliche  Erleichterung  und  der  Gedanke,  es  könnte 
eine  Ausleerung  erfolgen,  dann  nach  langem  Hasten  und  Harren  ein  kürzerer 
schmerzhafter  Stuhl,  dünn  und  heiss  spritzend,  sich  oft  nach  langem  Warten 
plötzlich  ergiessend.  Zu  unterscheiden  vom  Tenesmus  ist  das  brennende, 
juckende,  oft  sein'  schmerzhafte  Gefühl  am  After,  wie  es  namentlich  nach 
wiederholten  diarrhoischen  Stühlen  sich  hier  einstellt  und  von  Wundsein,  Ery- 
them, ja  gar  häufig  von  Ekzem  herrühren  kann.  Bei  acuten  Diarrhoeen  ist  die 
Zahl  und  Häufigkeit  der  Stühle  im  Durchschnitt  entschieden  grösser  als  bei 
chronischen,  wenigstens  innerhalb  einer  bestimmten  Zeit. 

Unter  den  Begleiterscheinungen  der  Diarrhoe  spielt  der 
Schmerz  im  Bauche  eine  wichtige  Rolle.  Er  ist  nicht  immer  gegeben,  aber 
in  seinen  verschiedenen  Nuancen  oft  um  so  stärker,  je  acuter  die  Diarrhoe 
einsetzt,  je  krampfhafter  und  wehenartiger  die  Zusammenziehung  und 
Spannung  der  Darmmusculatur,  je  lebhafter  die  Peristaltik  und  damit  der 
stärkere  oder  häufig  wiederkehrende  Druck  auf  die  sensiblen  Nervenfasern. 
deren  Zerrung  und  Dehnung  ist.  Bei  dieser  Schmerzäusserung  spielen  ja 
mechanische  Verhältnisse  (Druck  durch  den  Darminhalt,  Kothballen  und 
Gase  etc.)  eine  hervorragende  Rolle,  um  so  grösser,  je  stärker  und  hart- 
näckiger der  Widerstand  für  die  Fortbewegung  und  Entleerung  ist  und  wächst, 
und  demnach  die  Anstrengung  der  oberhalb  gelegenen  Partien  sich  geltend 
macht.  Wie  weit  freilich  dann  mit  der  Zeit  oder  durch  noch  sonst  gegebene 
Verhältnisse  eine  Abstumpfung  der  Reizbarkeit  und  Empfindlichkeit  des 
Darmes  und  seiner  Nerven  möglich  ist  und  wie  ihr  Bewusstwerden  zurück- 
gehen kann,  sehen  wir  bei  länger  dauernden,  beziehungsweise  habituellen 
Diarrhoeen,  beim  Untersichgehenlassen  etc.,  wobei  die  Empfindungslosigkeit  nicht 
nur  im  übrigen  Darmabschnitt,  sondern  auch  am  sonst  so  empfindlichen 
Anus  sich  geltend  macht.  Abgesehen  ist  bei  diesen  Erwägungen  von  den 
centralen  Störungen,  wie  sie  durch  Fieber,  Coma,  Bewusstlosigkeit,  Lypo- 
thimie  etc.  bedingt  werden  können.  Der  Charakter  der  Schmerzen  wechselt 
vom  einfach  dumpfen,  diffusen,  unbehaglichen  Gefühl,  bis  zum  Kneifen, 
Schneiden  und  Grimmen,  ja  bis  zu  den  heftigsten  kolikartigen  Attaquen,  wobei 
der  Schmerz  sich  bald  continuirlich,  gleichmässig  oder  exacerbirend,  bald 
intermittirend,  wehenartig  äussert.  Begreiflich  sind  neben  diesen  Schmerz- 
empfindungen dann  noch  die  auf  andere  Nervengebiete  ausstralilenden  Schmerzen 
und  sonstige  Erscheinungen,  wie  sie  sich  durch  Ziehen  in  den  Beinen,  Waden- 
krämpfe, allgemeines  Unbehagen,  Frösteln,  Blässe,  Schweissausbruch,  Er- 
brechen, Herzklopfen  etc.,  bis  zur  Bewusstlosigkeit  und  Syncope  einstellen. 
Unter  die   Begleiterscheinungen  gehören  auch  die  localen  oder  allgemeinen 


410  DIARRHOE. 

Auftreibimgen  (Tymjjanitis),  das  Kollern  und  Poltern  im  Leibe  (BorhorygmQ 
das  Plätschern  und  Quatsclien,  Erscheinungen,  welche  eintreten,  wenn  ver- 
mehrte Gase  und  Flüssigkeitsmengen  bei  gesteigerter  Darmbewegung  irgendwo 
anlaufen,  den  Darm  ungieichmässig  füllen,  andrerseits  seine  Wandung  auch 
wieder  erschlafien  und  so  ein  wichtiges  Merkmal,  namentlich  bei  dünnen 
Bauchdecken  für  die  Localisation  der  Darmaffection  abgeben  können.  In  diesen 
Fällen  sind  ki'ampfhaft  gewölbte  Darmschlingen  oft  durch  die  Bauchdecken  zu 
sehen  und  zu  fühlen. 

Die  Piückwirkung  der  Diarrhoe  auf  den  Gesammtorganismus 
zeigt  sich  bald  im  Appetit,  der  vermehrt  oder  vermindert  sein  kann,  noch 
mehr  im  Durst,  der  entsprechend  dem  Verluste  an  Flüssigkeit,  meistens  sehi' 
vermeint,  aber  auch  in  der  Temperatur,  die  normal,  subnormal,  oder  gesteigert 
sein  kann.  Wichtig  ist  auch  die  Beschaffenheit  des  Urins,  der  um  so  dunkler, 
concentrii'ter,  harnsäure-  und  farbstoffi'eicher  (Salze  Indigo,  Indol)  erscheint,  je 
mein'  Flüssigkeit  entzogen  worden  ist.  der  aber  auch  unter  Umständen  Eiweiss, 
Blut,  Galle  etc.  zeigen  kann.  Durch  Heftigkeit  oder  lange  Dauer  der  Diarrhoe 
werden  dem  Organismus  oft  plötzlich  oder  allmälig  so  viele  Xahrungsstoffe 
und  Yerdauungssäfte  entzogen,  dass  bald  filiher,  bald  später,  je  nach  der 
Individualität,  Intensität,  Schnelligkeit,  Häufigkeit  etc.  eine  Ernährungsstörung 
mit  Anaemie,  Abmagerung,  Schwäche,  Hinfälligkeit,  Heruntergekommenheit, 
sowie  mit  charakteristischem  Gesichtsausckuck  (Facies  hyppocratica),  Hy- 
pochondrie, psychische  Depression,   etc.  selten  ausbleibt. 

Wenn  wii'  nun  zu  den  verschiedenen  Ursachen  der  Diarrhoe  über- 
gehen, so  hat  dabei  praktisch  ganz  gewiss,  wohl  aber  auch  theoretisch  die 
Natiu"  der  Ingesta  und  des  jeweiligen  Darminhaltes  die  erste  und  weittragendste 
Wichtigkeit  und  Bedeutung,  Eine  plötzliche  cjualitative  Veränderung  der  ge- 
wohnten Diät  (Nahrung  und  Getränke)  kann  eine  Diarrhoe  zu  Folge  haben 
(Acclimatisations-Diarrhoe ),  ebenso  wie  eine  übertriebene  Menge  der  In- 
gesta oder  der  reichliche  Genuss  von  Sachen,  die  schon  normaler  Weise 
und  b esonders  b ei  gewissen  Individuen  den  Stuhlgang  weicher  gestalten 
und  fördern  (Obst,  Compot,  Honig.  Fruchtsaft  etc.).  Auch  gewisse  Gifte, 
infickende  Organismen  und  andere  Stoffe,  die  zufällig  (um-eifes  Obst,  ver- 
dorbenes Fleisch,  Cholera-,  Typhuserreger,  Kothanhäufungen  etc.)  oder  ab- 
sichtlich (Medicamente,  Abführmittel  etc.)  eingeführt  werden,  spielen  eine 
grosse  Piolle  bei  Diarrhoeen.  In  allen  diesen  Fällen  ist  die  Diarrhoe  durch  die 
Ingesta  bedingt,  wenn  auch  der  Mechanismus,  der  sie  auslöst,  ein  sehr  ver- 
schiedener sein  kann.  Einmal  ist  sie  die  Folge  von  einer  abnorm  starken 
mechanischen  Eeizung  der  normalen  Darmschleimhaut  durch  die  ein- 
gefülirten  zu  grossen  Mengen,  ein  anderesmal  von  der  sogenannten  ünver- 
daulichkeit  oder  Unverdautheit  der  Ingesta,  ein  chittesmal  von  ihi'er  endo- 
exosmotischen,  wasserentziehenden  Eigenschaft  etc.  In  allen  diesen  Fällen 
kommt  es  zu  einer  Vermehrung  des  Darminhaltes  und  das  führt  allein 
leicht  zu  Diarrhoeen,  Hierher  gehören  auch  die  Diarrhoeen  durch  Entozoen, 
Wüi'mer,  angestaute  Kotlimassen,  (Scybala)  und  die  Diarrhoeen  nach  habitueller, 
starker  Verstopfung.  Ein  anderes  Mal  aber  wü'd  der  Eeiz  auf  die  Schleimhaut 
durch  die  chemische  Zusammensetzung  der  Ingesta,  beziehungsweise 
des  Danninhaltes  l)edingt,  ohne  dass  die  Menge  vermelut  zu  sein  braucht.  In 
den  meisten  Fällen  jedoch,  wo  die  Diarrhoe  direct  auf  die  Ingesta  zurückgefülu-t 
werden  muss,  sind  sowohl  die  Qualität,  sowie  die  Quantität  der  letzteren  im 
Spiel,  wobei  zu  berücksichtigen  ist,  dass  auch  kleine  Mengen  Ingesta  durch 
ihren  qualitativen  Pieiz  auf  die  Schleimhaut  eine  ungewöhnliche  Vermehi'ung 
des  Darminhaltes  zur  Folge  haben  und  zur  Diarrhoe  führen  können.  So  sehen 
wir  die  mechanischen  und  die  chemischen  Pieize  ineinander  übergehen  und 
dadurch  oft  auch  eine  Addition  ihrer  Wirkungen  veranlassen.  Dazu  kommen  oft 
Eigeuthümlichkeiten    der   Darm  wand,    wie    sie    durch    die    verschiedensten 


DIARRHOE.  411 

Momente,  von  der  abnormen  Erregbarkeit  und  Erregung  des  Darmnervensystems 
(peripher  oder  central),  bis  zu  den  verschiedensten  pathologisch-anatomischen 
Veränderungen  des  Darmes  und  seiner  Adnexe  gegeben  sind  und  die  namentlich 
auch  Störungen  der  Ernährung,  Blutbewegung  und  Yertheilung  im  Darm  ver- 
anlassen. Endlich  gibt  es  Einwirkungen  und  Zustände  allgemeiner 
Art,  welche  Diarrhoeen  zur  Folge  haben  können,  gar  oft  wohl  durch  func- 
tionelle  (Schrecken,  Angst,  Freude,  Examen-  und  Lampenfieber,  sogenannte 
Erkältung  etc.  etc.)  oder  noch  nicht  näher  erforschte  anatomische  Störungen 
veranlasst.  (Dentition,  Cachexien  aller  Art,  bestimmte  Infectionskrankheiten, 
verschiedene  Degenerationszustände  etc.  etc.) 

Es  bleiljt  aber  zu  betonen,  dass  der  Magen-,  beziehungsweise  Darminhalt 
immer  das  Ausschlaggebende  ist,  schon  weil  ohne  ihn  weder  eine  normale, 
noch  pathologische  Stuhlentleerung  stattfinden  kann.  Al)er  auch  l)ei  Diar- 
rhoeen, wo  eine  functionelle  oder  gar  organische  Veränderung  der  Darmwand 
nachzuweisen  ist  oder  sonst  eine  locale  oder  allgemeine  Ernährungs-  oder 
Cii'culationsstörung  vorliegt,  kommt  dem  Darminhalt  die  hervorragendste  Rolle 
zu,  insoferne  durch  seine  Menge,  Beschaffenheit,  Zeit  des  Durchganges  etc. 
eine  Steigerung,  Verminderung,  ja  vollständige  Neutralisirung  und  Lähmung 
der  Darmbewegung  bedingt  werden  kann.  LTnd  da  gerade  die  Veränderung 
des  Darminhaltes,  namentlich  so  weit  sie  von  den  eingeführten  Speisen  und 
Getränken  herrührt,  in  unserer  Macht  als  Menschen  und  Aerzte  steht,  so 
lassen  ■  sich  daraus  die  wichtigsten  Anhaltspunkte  für  die  Behandlung  der 
Diarrhoekranken  geben,  was  wir  bei  der  Besprechung  der  Therapie  weiter 
unten  näher  auszuführen  haben.  Nach  dieser  kurzen  Uebersicht  der  Ur- 
sachen der  Diarrhoe  wollen  wir  doch  noch  die  Frage  stellen :  Was  ist  eigentlich 
das  Wesen  der  Diarrhoe?  Bei  der  Feststellung  des  Wesens  der  Diarrhoe 
müssen  wir  uns  erinnern,  wie  die  normale  Darmentleerung  sich  vollzieht.  Die 
in  den  Magen  eingeführten  Ingesta  werden,  nachdem  sie  denselben  passiert 
haben  (in  wenigen  Stunden),  durch  Duodenum,  Jejunum  und  Ileum,  durch 
letzteres  meist  normal  schon  etwas  schneller,  in  circa  3  Stunden  hindurch- 
geführt. Bis  dahin  mehr  oder  minder  dünnflüssig,  beginnt  dann  im  Coecum 
und  Colon  (ascend.,  transv.  und  descend.)  eine  allmälig  zunehmende  Ein- 
dickung,  zuletzt  noch  im  S-Romanum,  bis  der  Darminhalt  im  Rectum  nach 
circa  9  Stunden  festsitzt,  um  nach  längerem  Verweilen  und  weiterer 
Eindickung  in  der  Norm  und  bei  den  meisten  Erwachsenen  alle  24  Stunden 
einmal,  oft  zur  selben  Zeit,  wie  mit  dem  Glockenschlage  dmxh  einen  bekannten 
Mechanismus  entleert  zu  werden.  Dieser  wohl  allgemein  bestrittene  Vorgang 
kann  bei  jeder  Beschleunigung  der  Vorwärtsbewegung  des  Darminhaltes  eine 
mangelhafte  Eindickung  desselben  zur  Folge  haben  und  so  leicht  zu  Diarrhoe 
führen.  Denn  wenn  es  z.  B.,  infolge  irgend  einer  der  oben  erläuterten  Ur- 
sachen, zu  einer  gesteigerten  Darmbewegung  kommt,  so  tritt  eine  beschleunigte 
Fortbewegung  des  Darminhalts  ein.  Es  mangelt  den  Verdauungssäften  an  Zeit, 
gebührend  auf  denselben  einzuwirken,  mithin  ist  an  eine  normale  Verdauung 
nicht  zu  denken.  Die  hastigen  Ausscheidungen  und  die  rapide  Beförderung 
des  Darminhaltes  verhindern  ferner  die  Absorption  der  etwa  schon  verarbeiteten 
Verdauungsproducte  durch  die  Lymphgefässe  und  die  Pfortader  und  so  werden 
endlich  durch  die  Darmbewegungen,  die  keinen  Unterschied  zwischen  den  ver- 
schiedenen Darmflüssigkeiten  machen,  gleichzeitig  die  Verdauungssäfte  selbst 
weiter  geführt  und  entleert,  so  dass  dem  Körper  eine  Menge  Xahrungsstoffe 
und  Flüssigkeiten  entzogen  werden,  weshalb  auch  bei  heftigen  Diarrhoeen  bald 
nel)en  mehr  oder  minder  grosser  Schwäche  der  bereits  erwähnte  intensive  Durst 
sich  einstellt. 

Man  hat  die  Diarrhoe  auf  eine  erhöhte  peristaltische  Bewegung  des 
Darms  zurückgeführt,  allein  mit  Unrecht  oder  doch  mit  Ungenauigkeit.  schon 
weil  ausser  der  peristaltischen  Bewegung  Ijekanntlich  auch  sog.  pendelnde  und 


412  DIARRHOE. 

gerade  bei  der  Diarrhoe  gewiss  auch  vermehrt  und  wirksamer  sog.  rollende 
Bewegungen  in  Betracht  kommen.  Andererseits  kann  die  erhöhte  Darm- 
bewegung zwar  von  jeder  Stelle  des  Darmrohres  ausgehen,  aber  auch  an  jeder 
Stelle  wieder  enden,  während  eine  Diarrhoe  nur  dann  auftreten  wird,  wenn 
die  irgendwo  begonnene  erhöhte  Darmbewegung  ihren  Inhalt  bis  über  das 
Eectum  hinaus  befördert.  Schon  hieraus  ist  ersichtlich,  dass  wenn  zum  Zu- 
standekommen von  Diarrhoeen  eine  gesteigerte  Darmbewegung  namentlich 
der  unteren  Darmabschnitte  nothwendig  ist,  beim  vorherrschenden  Ergriffensein 
der  oberen  Darmpartien  es  nicht  zum  Ausbruch  einer  Diarrhoe  zu  kommen 
braucht.  Es  kommt  jedoch  dabei  in  erster  Linie  auf  den  Darminhalt  an  und 
wir  müssen,  gewiss  nicht  aus  Ueberfluss  oder  Wortklauberei,  sondern  weil  es 
den  Thatsachen  entspricht,  und  gar  oft  als  Richtschnur  unseres  therapeutischen 
Handelns  dienen  wird,  den  Satz  wiederholt  betonen:  „Keine  Diarrhoe  ohne 
Darminhalt!""")  Aus  dem  Gesagten  geht  somit  hervor,  dass  das  Wesen  der 
Diarrhoe  —  wie  der  normalen  Stuhlentleerung  —  in  einer  Wechsel- 
wirkung zwischen  Darminhalt  und  Darmbewegungen  zu  suchen 
ist,  wobei  die  Ausscheidung  des  Darminhaltes  in  beschleunigter  und  weil 
beschleunigt,  vermehrter  und  dünnerer  Weise  erfolgt. 

Bei  dem  Zustandekommen  der  vermehrten,  sind  wie  bei  der  normalen 
Darmbewegung  bekanntlich  Nerveneinflüsse  thätig;  wir  wollen  hier  nur  die 
Rolle  des  Vagus  als  Darmbewegung  fördernd  und  des  Splanchnicus  als 
hemmend  erwähnen,  Nerven,  die  peripher  und  central  durch  die  mannig- 
fachsten Ursachen  (mechanisch,  chemisch,  thermisch,  bakteriell,  psychisch) 
gereizt  ihi^en  Einfluss  entwickeln  und  die  Bewegung  zu  Stande  bringen,  sie 
vermehren,  vermindern  oder  lahmlegen.  Aber  auch  hier,  bei  diesen  Be- 
wegungen der  Darmwand  lässt  sich  die  Rolle  des  Darminhaltes  (incl.  der 
Darmgase)  nicht  verkennen,  denn  der  ganz  leere  Darm  bew^egt  sich  wohl  nicht. 

Die  i)  a  u  e  r,  sowohl  wie  die  P  r  o  g  n  o  s  e  d  e  r  D  i  a  r  r  h  o  e  ist  direct,  ausser 
von  dem  betreffenden  Individuum,  von  der  Natur  und  Dauer  ihrer  Ursache, 
beziehungsweise  des  ihr  zu  Grunde  liegenden  Uebels  abhängig  (siehe  Typhus, 
Cholera  etc.).  Gerade  die  Dauer  der  Diarrhoe  hat  zu  der  Eintheilung  in 
chronische  und  acute  Diarrhoeen  geführt.  Eine  acute  Diarrhoe 
dauert  selten  über  8  Tage,  während  welcher  Zeit,  soweit  der  Tod  nicht  eintritt, 
nach  einem  ziemlich  plötzlichen  und  stürmischen  Einsetzen  der  Stuhlentleerungen 
die  Dejectionen  nach  immer  grösseren  Intervallen  erfolgen,  bis  die  Darmbe- 
wegungen sich  völlig  beruhigen,  wobei  dann  auch  meistens  mehr  oder  minder 
Verstopfung  folgt.  Die  Zahl  der  Dejectionen  steht  an  und  für  sich  in  keinem 
directen  Verhältnis  zu  der  Bedenklichkeit  der  Erkrankung  und  gewinnt  nur 
dann  eine  prognostisch  ungünstige  Bedeutung,  wenn  die  zahlreichen  Entlee- 
rungen nicht  bald  wieder  aufliören,  also  durch  die  Dauer. 

Bei  den  chronischen  Diarrhoeen,  die  durch  continuirliche  Diätfehler, 
beziehungsweise  unzweckmässige  Einführung  von  Speisen  und  Getränken 
unterhalten  werden,  kann  noch  eine  ziemlich  rasche  Heilung  eintreten,  wenn 
die  Nahrungszufuhr  entsprechend  geregelt  wii'd.  Chronische  Diarrhoeen,  die 
mit  schweren  organischen  Veränderungen  der  Darmwand  oder  ihrer  Adnexe 
(Tuberculose,  amyloide  Degeneration,  Geschwüre  aller  Art  etc.  etc.)  einher- 
gehen, sind  hartnäckiger,  ja  manchmal  unstillbar,  doch  lässt  sich  auch  hier 
durch  zweckmässige  therapeutische  Maassnahmen  noch  viel  erreichen  und  die 


*)  Anmerkung.  Dabei  wollen  wir  jedoch  gleich  betonen,  dass  nnter  Darminhalt 
nicht  allein  die  eingeführten,  durch  die  verschiedenen  Verdauungsacte  mehr  oder  minder 
modificirten  Ingesta  bez.  ihre  unverdauten  Reste  verstanden  werden  sollen,  sondern  auch 
normale  und  pathologische  Absonderungen  und  Ausschwitzungen  des  Darmes,  die  ohne 
jede  Zufuhr  vom  Munde  aus,  in  gewissen  Fällen  in  beträchtlichen  Mengen  im  Darme 
vorhanden  sein  können  (Cholera  etc!). 


DIARRHOE.  413 

Prognose,  so  weit  sie  die  Diarrhoe  selbst  betrifft,  ist  lange  nicht  so  ungünstig 
wie  das  vielfach  angenommen  wii'd. 

Dass  die  Diarrhoe  bei  geschwächten,  heruntergekommenen  Individuen 
(Scrophulösen,  Tuberculosen,  Rhachitischen,  Syphilitischen),  eine  grössere  Be- 
deutung gewinnt  und  prognostisch  schlechter  ist,  versteht  sich  ohne  Weiteres, 
wenn  man  bedenkt,  was  für  eine  Störung  der  Gesammternährung  und  Circu- 
lation,  was  für  einen  Säfteverlust  die  Diarrhoe  mit  sich  bringt.  Bei  derartigen 
Individuen  ist  die  Diarrhoe  oft  der  verhängnisvolle  Schluss  des  ganzen  Dramas. 
Auch  bei  Kindern,  zumal  bei  Säuglingen,  ist  eine  nicht  leicht  weichende  Diar- 
rhoe eine  mehr  oder  minder  bedenkliche  Erscheinung,  es  treten  bei  ihnen  leicht 
Erschöpfung  und  Convulsionen  etc.  ein  und  bis  zum  Tode  ist  dann  oft  nur 
noch  ein  Schritt.  Anaemische,  Reconvalescenten  und  Greise  sind,  wie  die  Kinder, 
labiler  und  leiden  durch  eine  Diarrhoe  unter  Umständen  sehr  in  ihrer  Ernäh- 
rung, weshalb  die  Prognose  dabei  immer  reservirt  sein  muss. 

Eine  acute  Diarrhoe  wird,  ausser  durch  häufiges  Ptecidiv,  selten  chronisch. 
Im  Gefolge  von  einer  acuten  Diarrhoe  ist  eigentlich  ausser  der  obenerwähnten 
Verstopfung,  dem  Durst,  der  leichten  Abmagerung,  der  körperlichen  und  psychi- 
schen Depression  und  dem  schlechten  Aussehen  nichts  Besonderes  zu  consta- 
tiren :  einige  Tage  genügen  oft,  um  den  Verlust  auszugleichen. 

Bei  clu-onischen  Diarrhoeen  dagegen  ist  der  Körper  mehr  oder  minder 
dauernd  geschwächt,  und  wenn  die  Dauer  sich  lange  hinzieht,  so  kommen 
ausser  der  Abmagerung  und  Abschwächung  Oedeme,  Schwellung  der  Mesente- 
rialdrüsen,  Entartung  der  Herzmusculatur  und  andere  Erscheinungen  der  Ina- 
nition,  bis  zum  Exitus  letalis. 

Nach  dem,  was  im  Vorstehenden  über  die  Diarrhoe  gesagt  ist,  muss  ein- 
leuchten, dass  es  eine  Therapie  derselben  als  solcher  eigentlich  nicht  gibt.  Es 
kann  sich  in  erster  Linie  immer  nur  darum  handeln,  den  mit  Diarrhoe  be- 
hafteten Menschen,  beziehungsweise  Kranken  zweckmässig  zu  ernähren  und 
nach  Maassgabe  der  vorliegenden  Verhältnisse  zu  behandeln.  Wie  einfach  unter 
Umständen,  aber  auch  wie  complicirt  in  gar  vielen  Fällen  die  Verhältnisse 
liegen,  wird  die  genaue  Betrachtung  des  Einzelfalles  jedesmal  lehren  und 
gleichzeitig  zeigen,  wie  mannigfaltig  die  Angriffspunkte  zur  nothwendigen, 
zweckmässigen  oder  nur  nützlichen  Behandlung  sind.  Für  alle  Fälle  muss  es 
sich  darum  handeln,  dass  die  Diarrhoe  nicht  nur  in  der  denkbai*  kürzesten 
Zeit  sich  verliert,  sondern  auch  nicht  wiederkommt  und  dass  dies  ohne  Nach- 
theil für  die  Gesundheit  oder  das  Wohlbefinden  des  Kranken  bewirkt  werden 
kann.  Wer  kritiklos  —  um  nur  ein  häufig  gegebenes  Beispiel  zu  erwähnen  — jede 
Diarrhoe  einfach  stopfen  wollte,  durch  Verminderung  oder  Verlangsamung  der 
den  Durchfall  auslösenden  Darmbewegung,  und  dabei  einfach  Opium  (als 
Pillen,  Pulver,  Tinctur  ohne  oder  gleichzeitig  mit  den  beliebten  Adstringentien 
Tanin,  Alaun  etc.  per  os  oder  per  anum  gibt)  kann  einen  verhängnisvollen  Irr- 
thum  mit  bedenklichen  Folgen  begehen.  Mau  darf  nicht  vergessen,  dass  auch  die 
Diarrhoe  ein  oft  werthvoller  Versuch  der  Natur  zur  Selbstheilung  ist,  dem  wir 
nicht  immer  und  unter  allen  Umständen  entgegentreten,  sondern  den  wir  selbst 
gegebenen  Falles  kräftig  unterstützen,  jedenfalls  aber  in  sorgfältig  erwogene 
Bahnen  lenken  müssen  und  wobei  wir  auch  ein  oder  das  andere  Mal  Abführ-  und 
selbst  Brechmittel  noch  anwenden.  Aber  auch  hier  muss  man  sofort  bedenken, 
dass  jedes  nicht  in  den  gewöhnlichen  Haushalt  passende  Mittel  niu'  als  noth- 
wendiges  Uebel  betrachtet  und  als  solches  gehandhabt  werden  darf.  Da  gilt 
es  vor  Allem  natürlich  wieder  unter  genügender  Berücksichtigung  und  Erwä- 
gung aller  einschlägigen  Momente,  dass  ein  solches  Mittel,  besonders  wenn 
medicamentös,  mit  Vorsicht  gebraucht  und  beschränkt  werden  muss,  nament- 
lich in  Bezug  auf  Häufigkeit,  Dauer,  Menge,  Form  und  Mischung  der  An- 
wendung. Ueberhaupt  zeigt  sich  auch  hier  wie  überall  in  der  Beschränkung 
der  Meister,  der  Mässigung,  Kunst  und  Urtheil,  Kenntnisse  und  Erfahrungen 


414  DIARRHOE. 

recht  vollwertliig  zur  Entfaltung  bringen  kann.  Die  Beförderung  der  Abführun- 
gen, namentlich  wenn  Zahl  und  Maass  der  Entleerungen  nicht  unmittel- 
bare Gefahr  bringen,  begünstigt  die  Entfernung  reizender  Substanzen  aus 
Magen  und  Darm,  und  kann  so  unter  Umständen  am  leichtesten  und 
schnellsten  dem  Uebel  steuern,  und  zwar  nicht  nur  bei  örtlich  beschränkten 
den  Magen  und  Darm  (Nahrung,  Getränke,  Gifte  etc.)  wesentlich  oder  allein 
treffenden  Substanzen,  sondern  auch  bei,  durch  die  Anwesenheit  solcher  be- 
dingten, schweren  Zuständen  (Typhus,  Sejjsis,  Cholera,  Vergiftung  jeder  Art  etc.). 
In  all'  diesen  Fällen  sind  als  Abführmittel,  erst  milde,  rasch  wii'kende:  Ricinus 
bis  zu  30^,  Mittelsalze  (20 — 30^  Natr.  sulf.),  Calomel  allein  oder  mit  Aloe 
sehr  wohl  am  Platze.  Doch  muss  man  sich  bei  Calomel  daran  erinnern,  dass 
es  leicht  Brechen  erregt  und  Quecksilbervergiftung  bewirken  kann.  Sind 
Brechmittel  wegen  Ueberfüllung,  Vergiftung,  Brechreiz  etc.  am  Platze,  so 
empfiehlt  sich  Brechweinstein,  Ipecacuanha  innerlich,  Äpomorphin  subcutan  etc. 
Sobald  von  vornherein  oder  im  weiteren  Verlauf,  durch  bedrohliche  Er- 
scheinungen, Verfall  der  Kräfte,  Blutungen  u.  s.  w..  Verlangsamung  der 
Darmbewegung,  möglichst  nach  genügender  Entleerung  alles  Schädlichen  ge- 
boten ist,  treten  die  Adstringentien.  ferner  Morphium,  besonders  aber  das 
Opium  unter  Umständen  in  seine  E,echte.  Es  hemmt  die  Peristaltik  und 
stellt  den  Darm  mehr  oder  minder  ruhig.  Beliebt  ist  das  codeinhaltige  Extr. 
Opii.  Da  Entleerungen  nicht  stattfinden,  wenn  der  Dickdarm  sich  nicht 
an  der  Peristaltik  betheiligt,  so  genügen  oft  Supposiforien  mit  Extr.  Op.  O'OÖ 
nach  der  Stuhlentleerung ^  2 — 3  mal  täglich^  oder  Klysmen  mit  Althaeadecoct  und 
20 — 40  Tropfen  Tlnct.  Opii,  innerlich,  namentlich  wenn  der  Magen  intact, 
10 — 40  Tropfen  Tinct.  Opii.  Man  muss  besonders  bei  innerlicher  Gabe  an  die 
verlangsamte  Resorption  und  deshalb  oft  nutzlose  Darreichung  denken.  Auch 
gibt  man  oft  Bittermittel  in  alkoholischer  Lösung  (Choleratropfen);  Adstrin- 
gentien dazu  sind  meist  überflüssig  und  machen  oft  das  Opium  schwerer  löslich 
und  so  unwirksam.  Auch  an  die  Darreichung  von  heissem  Pfeffermünz- 
und  Chamillenthee,  sowie  von  Glühwein,  Cognac,  Haferschleim  etc.  wird  man 
oft  denken  müssen,  Getränke,  die  meistens  günstig  einwirken,  dazu  noch 
den  Vortheil  haben,  dass  sie  sich  an  die  Genussmittel  anlehnen,  im  Gegen- 
satz zu  den  wirklichen  Medicamenten  und  somit  auch  längere  Zeit  gebraucht 
werden  können.  Wir  wollen  die  kurze  Erwähnung  der  bei  der  Behandlung 
der  Diarrhoekranken  etwa  in  Frage  kommenden  Arzneimittel,  abführende  wie 
stopfende,  nicht  verlassen,  ohne  namentlich  noch  einmal  auf  die  Gefahren  auf- 
merksam gemacht  zu  haben,  welche  diese  Mittel  unter  Umständen  an  sich, 
aber  auch  durch  die  eventuell  bewirkten  oft  gar  nicht  gewollten  Effecte  her- 
vorrufen. 

Da  weder  ein  System,  noch  ein  Schema,  noch  ein  allgemein  giltiges, 
souveraines,  specifisches  Mittel  oder  Verfahren,  Cur  etc.  für  die  Behandlung 
des  Diarrhoekranken  sich  aufstellen  lässt,  so  wollen  wir  hier  noch  die 
Gesichtspunkte  erwähnen,  die  uns  bei  der  Behandlung  der  Diarrhoekranken 
leiten,  wir  meinen  bei  der  nicht  medicamentösen  Behandlung,  die  in  den 
weitaus  meisten  Fällen  allein  genügt  und  zum  gewünschten  Ziele  führt. 

Im  Allgemeinen  haben  wir  es  bei  Jedem,  also  auch  beim  Diarrhoeki'anken 
mit  der  Beeinflussung  seiner  gesammten  Lebenshaltung  zu  thun.  Wer  eine 
genaue  Anamnese  aufnimmt  und  mit  Rücksicht  auf  den  allgemein  giltigen 
Satz,  dass  der  Mensch  immer  das  Product  seiner  Gesammteinflüsse 
ist,  das  anders  wird,  selbst  wenn  nur  ein  Factor  und  gar  einer  der  wichtigsten 
ausfällt  oder  geändert  wird,  —  seine  Verordnungen  gibt,  der  hat  schon  sehr 
Erspriessliches  und  mannigfaltig  Nutzbringendes  zu  thun. 

Am  Allerwichtigsten  erscheint  bei  weitaus  allen  Diarrhoekranken  die 
Frage  der  Zuführung  von  Nahrung  im  weitesten  Sinne.  Aus  dem  oben  bei  der 
Besprechung  der  Ursachen  und  des  Wesens  der  Diarrhoe  Gesagten  geht  hervor, 


DIARRHOE.  415 

dass  eine  Yerminderung  der  Menge  der  Ingesta  günstig  gegen  .die 
Diarrhoe  einwirken  kann,  und  in  der  That  wird  diese  Verminderung  oft  erfolg- 
reich bethätigt.  Sie  kann  bis  zur  absoluten  Enthaltung  von  jeder  Nah- 
rungsaufnahme (Abstinentia  prima  medicina)  gebracht  werden,  was  bei 
vielen  acuten  Diarrhoeen  beschränkte  Zeit  hindurch  auch  oft  sehr  rathsam 
ist.  Doch  kann  man  gegen  die  Zufuhr  von  Suijstanzen,  die  keine  oder  uner- 
heldiche  Fäcalmassen  zurücklassen,  Wasser,  Schleimsuppen,  Thee,  Wein,  Milch. 
Cacao  etc.)  gar  oft  nichts  einwenden,  ebenso  zeitweise  die  absolute  Milch- 
diät zulassen,  ohne  aber  zu  vergessen,  dass  sie  grosse  Xachtheile  in  sich  birgt. 
In  den  meisten  Fällen  wird  man  sich  veranlasst  fühlen,  etwas  mehr  zu  ge- 
statten und  die  Sachen,  die  hier  in  Frage  kommen,  sind  in  erster  Linie  die 
thierischen,  als  Fleisch,  Fische,  Eier,  Käse.  Gerade  den  perhorrescirten  Käse 
haben  wir  erwähnt,  um  dem  Wahne  zu  begegnen,  als  wäre  er  ein  ganz  be- 
sonders schlechtes  oder  schwier  verdauliches,  ungeeignetes  Nährmittel.  Warum 
dagegen  Fleischbrühe  und  Gelee  sehr  berühmt  und  immer  und  allgemein 
empfohlen  werden,  bleibt  uns  um  so  unverständlicher,  als  der  Nährwerth  der 
in  ihrer  Zusammensetzung  dem  Urin  so  ähnlichen  Fleischlu'ühe,  und  concen- 
trirt  entfettet,  minimal  und  durch  die  Wirkung  ihrer  Salze  (z.  B.  auf  das  Herz) 
nicht  unbedenklich  ist.  Dauert  die  Diarrhoe  freilich  nur  kurze  Zeit,  so  kommt 
man  auch  wohl  damit  aus.  Anders  ist  es  bei  länger  dauernden,  bzw.  cliro- 
nischen  Diarrhoeen.  Hier  wird  schon  aus  subjectiven  Gründen,  d.  h.  aus  dem 
Verlangen  des  Patienten  nach  einer  variirten  Nahrung,  aber  auch  aus  objectiven 
Gründen  nothwenclig  zu  einer  anderen  weniger  monotonen  Ernährungsweise 
überzugehen  sein.  Einem  Diarrhoekranken  kann  man  ja  auch  gar  oft,  ohne  jedes 
Bedenken  Alles  gestatten,  was  auch  ein  gesunder  Mensch  geniesst,  denn  nicht 
nur  das  Was,  sondern  das  Wie  und  zur  Zeit  Wieoft  und  Wieviel  ist 
bei  der  allgemeinen  Diätetik,  wie  bei  der  Diätetik  des  Diarrhoe- 
kranken m  a  a  s  s  g  e  b  e  n  d.  Die  üblichen  Haupt-  und  Nebenmahlzeiten  müssen 
natürlich  zunächst  als  unzweckmässig  verschwinden  und  die  Verordnung  l)ei  der 
Nahrungsaufnahme  wird  heissen:  jeweilig  wenig,  dafür  lieber  öfters 
und  jede  Sache  für  sich  allein  geniessen.  Es  ist  einleuchtend,  dass 
ganz  kleine  Portionen  viel  rascher  und  vollkommener  verdaut  und  absorbii't 
werden  als  grössere;  geniesst  man  ausserdem  jede  Sache  für  sich  allein  und 
zwar  im  strengsten  Sinne  des  Wortes  (nicht  jedes  Gericht  für  sich,  das  gar 
gerne  aus  verschiedenen  Sachen  ])esteht),  so  ist  auch  aus  diesem  Grunde  der 
ganze  Verdauungs-  und  Absorptionsact  erleichtert  und  begünstigt,  in  der  Zeit- 
einheit verküi'zt,  und  wird  eine  derartige  Ernährungsweise  den  verhältnis- 
mässig denkbar  kleinsten,  unschuldigsten  Kothrückstand  aufweisen  und 
bei  dem  Diarrhoekranken  von  der  besten  Wirkung  sein.  Um  grosse 
Schwankungen  in  der  Ausdehnung  von  Magen  und  Darm,  sowie  in  der  Cir- 
culation  (Stauungen  und  Anschoppungen  im  Abdomen)  möglichst  zu  vermeiden, 
die  durch  seltene  grosse  Mahlzeiten  hervorgerufen,  die  Darndiewegungen  direct 
und  reflectorisch  leicht  steigern,  ist  es  auch  rathsam,  die  empfohlenen 
kleinen,  häufigen  Mahlzeiten  von  je  nur  einer  Sache,  zur  Zeit 
auch  möglichst  gleich  gross  zu  gestalten.  Die  Pausen  zwischen  zwei 
derartigen  Mahlzeiten  können  dann  je  nach  den  vorliegenden  Umständen, 
ebenso  wie  die  jeweiligen  Mengen  grösser  oder  kleiner  sein,  und  es  lässt  sich 
im  Allgemeinen  der  Satz  aufstellen,  dass  die  einzelnen  Mengen  nie  zu 
klein,  dagegen  leicht  zu  gross  werden,  und  dass  bei  sehr  kleineu 
Mengen  auch  iiui  entsprechend  kleine  Zwischenpausen  innegehalten  werden 
müssen.  Diese  Art  der  Nahrungszufulu'  ist  meist  derartig  von  Erfolg,  dass 
ohne  jede  medicamentöse  Hilfe  und  in  sehr  kurzer  Zeit,  oft  in  ein  paar 
Tagen,  selbst  jahrelang  dauernde  Diarrhoeen  beseitigt  werden  und  zwar  nicht 
allein  solche,  die  vielleicht  momentanen  oder  häutig  wiederkehrenden,  flagranten 
Diätfehlern  ihi'en  Ursprung  verdanken,  sondern  auch  Diarrhoeen  bei  materiellen 


416  DIARRHOE. 

Veränderungen  in  der  Darmwand  (Entzündungen,  speckiger  und  anderer  Ent- 
artung etc.);  ja  die  antidiarrhoisclie  Wirkung  dieser  Ernährungsweise  ist  eine 
so  intensive,  dass  sie  leiclit  in  verstopfende  ausarten  kann,  eine  Schattenseite, 
der  jedoch  dadurch  leicht  zu  begegnen  ist,  dass  man  dann  etwa  die  Mengen, 
bzw.  die  Pausen  allmälig  vergrössert,  zwei  und  später  drei  und  mehr  Sachen 
auf  einmal  gemessen  lässt  und  so  den  Uebergang  zur  üblichen  Ernährungsweise 
des  gesunden  Menschen  leitet,  wobei  man  der  individuellen  und  momentanen 
Leistungsfähigkeit  der  Verdauungsorgane  des  Patienten  stets  gerecht  werden 
muss.  Ein  anderes  Bedenken  gegen  unsere  antidiarrhoische  Ernährungsweise,  — 
eine  gewisse  durch  die  anhaltende  Magendarmthätigkeit  zu  befürchtende  Er- 
müdung dieser  Organe  —  ist  mehr  theoretischer  Natur  und  kommt  in  praxi 
so  gut  wie  nie  vor  und  wenn  doch,  so  müsste  man  die  Pausen  vergrössern,  die 
einzelnen  Mengen  dagegen  nicht.  Man  kann  sich  auch  fragen,  ob  bei  dieser 
Ernährungsweise  des  Diarrhoekranken  empfehlenswerth  ist,  Sachen,  die  er- 
fahrungsgemäss  den  Stuhl  befördern  (Obst,  Compot  etc.)  oder  andere,  die  be- 
rechtigt oder  unberechtigt  als  „schwer  verdaulich"  gelten  {Hülsenfrüchte,  Sauer- 
kraut, Gurkensalat)  Speck,  Klösse  etc.)  auszuschalten  oder  nicht?  Oft,  zumal 
bei  acuten  Diarrhoeen  und  stärkeren  Veränderungen  der  Darmwand  etc.,  wird 
man  aus  Zweckmässigkeits-  und  anderen  Gründen  bejahend  antworten.  Auch 
bei  chronischen  Diarrhoeen  wird  man  je  nach  der  Individualität  und  vorliegenden 
Umständen,  das  eine  oder  das  andere  Mal  diese  oder  jene  oder  melirere 
Sachen  zeitweise  verbieten. 

Im  Grossen  und  Ganzen  aber  braucht  man  das  nicht  zu  thun 
und  war  man  doch  dazu  genöthigt  gewesen,  so  muss  unser  Streben  sein,  dem 
Patienten  die  verbotenen  Sachen  nach  und  nach  wieder  zuzuführen.  Denn  er 
ist  nur  halb  geheilt,  wenn  er  nur  solange  keine  Diarrhoe  bekommt,  als  er 
jene  Sachen  vermeidet.  Er  ist  gründlich  geheilt,  wenn  er  auf  all'  das,  was  ein 
Durchschnittsmensch  in  seinem  Alter,  Klima  etc.  ohne  Verdauungsstörung 
geniesst,  keine  Störung  der  Verdauung  bekommt.  Und  wenn  der  Genuss  von 
Obst,  Compot,  Honig  etc.  etwa  eine  Diarrhoe  zur  Folge  hat,  so  müssen  wir 
versuchen,  dafür  zu  sorgen,  dass  das  nicht  mehr  der  Fall  ist  und  das  kön- 
nen wir  nicht  auf  dem  Wege  des  dauernden  Vermeidens,  wohl 
aber  des  zweckmässig  angeordneten  Geniessens.  Erst  recht  müssen 
diese  Sachen  genossen  werden,  um  zu  lernen,  sie  zu  vertragen,  was  auch  in 
den  weitaus  meisten  Fällen  gelingt  und  zwar  durch  Aenderung  der  Quantität, 
Zeit,  Temperatur,  Zubereitung,  Mischung,  Zuthaten,  Verbindung  etc.  der  zuzu- 
führenden Sachen.  Eine  absolute  Unverträglichkeit  existirt  nicht 
und  wenn  ein  Patient  sagt:  „die  und  die  Sache  vertrage  ich  nicht,"  „die  und 
die  Sache  bekommt  mir  schlecht"  etc.,  so  ist  das  gar  oft  mindestens  ein  Irr- 
thum,  denn  die  Verträglichkeit  ist  nicht  nur  eine  quantitative, 
viel  seltener  eine  qualitative  dagegen,  und  wenn  beispielsweise  eine 
Tasse,  ja  ein  Esslöffel  voll  Milch  Diarrhoe  zur  Folge  hat,  so  wird  das  bei 
einem  Theelöffel  voll  vielleicht  noch,  bei  einem  Tropfen  jedenfalls  nicht  mehr 
der  Fall  sein.  Es  lässt  sich  auch  in  allen  diesen  Fällen  die  Menge  „unbe- 
kömmlicher" Sachen  leicht  feststellen,  die  gut  bekommen  und  ertragen  werden. 
Das  Accommodationsvermögen  des  menschlichen  Körpers,  beziehungsweise 
Magens  und  Darmes  wird  es  dann  weiter  ermöglichen,  durch  allmäliges  Stei- 
gen mit  der  Quantität,  Aenderung  der  Zufuhrart,  Zeit,  Mischung  etc.  die  Un- 
verträglichkeit und  Unbekömmlichkeit  für  gewisse  Sachen  ganz  zu  überwin- 
den, wenigstens  bis  zu  einem  gewissen  Grade  und  Grenze.  Eine  Verordnung, 
die  dem  Diarrhoekranken  immer  mitgegeben  werden  muss,  ist  ferner  die,  die 
Nahrung  langsam  und  gut  zu  zerkauen  und  ordentlich  einzu- 
speicheln, nicht  zu  schlingen,  wie  das  leider  als  Beigabe  unserer  hastigen 
Zeit  so  häufig  bethätigt  wird. 


DIAERHOE.  417 

Die  Temperatur  der  Speisen  und  Getränke  spielt  bei  den  ganz 
kleinen  Portionen  keine  wesentliche  Rolle.  Erfahrungsgeniäss  sind  lieisse  oder 
doch  warme  Getränke  vorzuziehen,  kalte  wirken  ja,  wie  wir  gesehen  haben, 
unter  Umständen  leichter  Peristaltik  erregend.  Die  kleinen  häufigen,  langsam 
gekauten  und  gut  eingespeichelten  Mengen,  fordern  nicht  nur  von  den  Yer- 
dauungsorganen  eine  viel  geringere  Arbeitsleistung,  sondern  gewähren  auch 
die  möglichst  grösste  Ausnutzung  und  Ernährung  des  Organismus.  Eine  der- 
artige Ernährungsweise  bringt  auch  mit  sich,  dass  der  Diarrhoekranke  ebenso 
wie  der  gesunde  Mensch  viel  weniger  zu  essen  und  zu  trinken  braucht,  um  das 
Leben  und  die  Leistungsfähigkeit  zu  erhalten.  Gerade  hier  sieht  man,  mit  wie 
wenig  man  auskommen,  dabei  gesund  und  leistungsfähig,  ja  kräftiger  werden 
kann,  und  die  Bedeutung  dieses  Ergebnisses  unserer  langjährigen  Erfahrungen 
und  Untersuchungen  in  mannigfacher  Hinsicht  müsste  in  allen  Schichten  der 
Bevölkerung  Eingang  und  Berücksichtigung  finden. 

Neben  der  Diät  spielt  die  Frage  nach  der  Bettruhe  auch  bei  der 
Diarrhoe  eine  Rolle,  die  sich  von  kurzer  Hand  nicht  im  Allgemeinen  ent- 
scheiden lässt  und  eine  sorgfältige  Beurtheilung  des  Einzelfalles  erheischt, 
der  von  Moment  zu  Moment  variirende  Verordnungen  bedingen  kann.  A  e  u  ss e r  e 
Applicationen,  wie  warme  oder  heisse  Umschläge  der  verschiedensten  Art, 
kalte  Anwendungen,  namentlich  auf  den  Leib,  in  verschiedener  Form,  Dauer 
und  Ausdehnung  sind,  richtig  gewählt,  oft  von  der  wirksamsten  Beeinflussung, 
Gegensätze  in  dieser  Beziehung,  wie  man  sie  in  heissen  und  kalten  Bädern 
und  sonstigen  Anwendungen  an  verschiedenen  Stellen  (Armen,  Beinen,  Kopf, 
Leib,  Sitzgegend  etc.)  findet,  schliessen  dabei  einander  durchaus  nicht  aus 
und  finden  ihre  berechtigte,  oft  sehr  nutzbringende,  abwechselungsweise  statt- 
findende Anwendung,  namentlich  bei  Kranken,  die  durch  sogenannte  psychische, 
nervöse,  reflectorische  (Erkältung  etc.)  Einflüsse  von  Diarrhoe  heimgesucht  wer- 
den. Dasselbe  gilt  von  allgemeinen  und  localen,  activen  und  passiven  Uebungen, 
Massage,  Einreibungen  (mit  Salben,  Oelen,  Spiritus)  der  Bauchdecken  oder 
anderer  Körpertheile.  Die  der  Diarrhoe  sonst  zu  Grunde  liegenden  Processe 
und  Veränderungen  werden  bei  der  oben  genannten  Behandlung,  ihren  natur- 
gemässen  Verlauf,  womöglich  bis  zur  Heilung  nehmen,  soweit  dies  möglich  ist. 

Die  Verfechter  der  Lehre,  dass  die  „Erkältung,"  wie  für  so  viele 
Krankheiten,  so  auch  für  die  Diarrhoe  häufig  die  Ursache  abgibt,  hüllen  ihre 
Patienten  in  verschiedener  Weise  in  Wolle  ein.  Glücklich  ist  der  Diarrhoekranke, 
der  nur  mit  einer  einfachen  wollenen  Leibbinde  von  ihnen  abkommt,  was  für  die 
Dauer  doch  immer  sehr  verwerflich  ist.  Wir  haben  bei  den  Ursachen  der  Diarrhoe 
erkannt,  dass  unter  Umständen  äussere,  mechanische,  chemische,  thermische, 
bakterielle,  psychische  Einwirkungen,  darunter  auch  die  Kälte  oder  besser  eine 
plötzliche  Abkühlung,  namentlich  eines  überhitzten  Theiles  (denn  das  ist  wohl 
das  Wesen  der  sog.  Erkältung,  wo  sie  nicht  Infection  etc.  ist)  unter  Umständen 
Diarrhoe  zur  Folge  haben  kann.  Ein  derartiger  Diarrhoekranker  muss  aber 
rationell  so  behandelt  werden,  dass  er  lernt,  Kälteeinwirkungen,  beziehungs- 
weise Abkühlungen  so  weit  wie  möglich  zu  vertragen,  d.  h.  so  wie  sie  der 
Durchschnittsmensch  auch  verträgt,  und  wie  sie  im  menschlichen  Leben  und 
Verkehr  überall  vorkommen  können.  Und  das  kann  in  verschiedener  Weise 
inscenirt  werden,  z.  B.  durch  erst  warm,  allmälig  kühler  werdende,  trockene 
oder  feuchte  Umschläge  auf  den  Bauch,  später  durch  unmittelbar,  hinterein- 
ander folgende,  erst  sehr  heisse,  dann  sehr  kalte  Applicationen  (nasse  Schwämme, 
Uebergiessungen,  locale  Bäder)  um  so  durch  Schaffung  der  schroffsten 
Gegensätze  eine  Abhärtung  gegen  die  „Erkältung"  hervorzurufen. 
Ein  derartiger  Mensch  „erkältet"  sich  dann  nicht  mehr,  oder  wenigstens  hat 
die  Abkühlung  bei  ihm  keine  Diarrhoe  mehr  zur  Folge.  Derjenige  aber,  der 
ewig  eine  Leibbinde  oder  dergleichen  trägt,  wird,  abgesehen  von  den  schäd- 
lichen Wirkungen  solcher  und  ähnlicher  Bandagen  auf  die  locale  und  all- 

Bibl.  med.  Wissenschaften.   I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  " ' 


418  DIARRHOE. 

gemeine  Ernährung  und  Circulation,  immer  empfindlicher,  verweichlichter  und 
geeigneter,  sich  zu  „erkälten"  und  trotz  seiner  Yorsicht  kommt  er  gar  oft,  ja 
leichter  und  öfter  dazu,  Diarrhoe  zu  bekommen.  In  gewissen  Fällen  von 
habituellen,  zahlreichen,  zu  weichen  und  diarrhoeartigen  Stühlen  empfiehlt 
sich  dem  Patienten  aufzutragen,  dem  Stuhldrange  möglichst  zu  widerstehen  und 
ihm  seltener,  möglichst  nur  einmal  täglich  uaclizukommen  und  das  lässt  sich 
oft  durch  Uebung  erreichen,  Bade-,  Trink-,  Luft-Curen  bei  Diarrhoekranken, 
so  werthvoll  sie  im  gegebenen  Falle  sein  können,  genügen  ja  meist  nur  einer 
palliativen  Indication  und  sind  bei  Berücksichtigung  des  ol3eu  Gesagten  fast 
immer  zu  umgehen,  jedenfalls  aber  nie  ohne  geeignet  präcishte  und  stetig 
controllirte  Beeinflussung  der  gesammten  Lebensweise  des  Kranken  zu  ver- 
ordnen. Auch  die  verschiedensten  Diarrhoeen  im  Kindesalter,  beziehungsweise 
bei  Säuglingen,  die  ja  ein  besonderes  Capitel  näher  beleuchtet,  werden  nach 
den  genannten  Gesichtspunkten  meist  zu  bewältigen  sein. 

Immer  und  immer  ist  es  geboten,  mit  Maass  und  Ziel,  mit  Umsicht  und 
Yorsicht  vorzugehen  und  als  Ziel  im  Auge  zu  behalten,  den  Diarrhoekranken 
so  gesund  als  möglich  zu  machen  und  wieder  in  den  thunlichst  grössten  Grad 
von  Yerdauungs-  und  Leistungsfähigkeit  zurückzubringen.  Bei  dem  Fort- 
sclu^eiten  vom  Einfachsten  zum  Complicirteren  wii'd  sich  bald  die  Grenze  der 
Leistungsfähigkeit  und  des  Erreichbaren  ergeben,  beziehungsweise  wie  weit 
der  Mensch  zu  seiner  und  der  für  andere  Menschen  seines  Alters,  Geschlechtes, 
Klimas  etc.  normalen  und  üblichen  Lebensweise,  Yertragsfähigkeit,  Ernähi'uug 
zurückzufüluTn  ist.  Und  das  wird  in  der  besprochenen,  in  diesem  Artikel 
freilich  nur  lückenhaft  skizzirten  Weise  sich  machen  lassen,  unter  Cotrolle 
der  Stuhl-  und  LTrinentleerungen,  von  Maass,  Gewicht,  Temperatur  und  allen 
wichtigen  Funktionen  und  Erscheinungen,  sowie  deren  Berücksichtigung  von 
Fall  zu  Fall,  von  Stunde  zu  Stunde.  schwexixger-büzzi. 

DiphthorlB.  (Diphtheritis,  Angina  maligna^  Synanche  contagiosa). 

Historisclies.  Bretokneau  bezeichnete  in  seinem  berühmten,  1821  der  Akademie 
iibergebenen  Memoire  als  Diphterite  eine  von  ihm  in  Tours  beobachtete  epidemische  Krank- 
heit, welche  durch  Bildung  häutiger  Membranen  auf  den  Schleimhäuten  des  Rachens  und 
der  Luftwege  charakterisirt  war  und  in  der  Regel  durch  Erstickung  den  Tod  herbei- 
führte. Es  handelte  sich  hier  um  dieselbe  Erkrankung,  die  schon  Aretaeus  mit  dem  Namen 
der  Ulcera  syriaca  belegt  und  deren  Epidemien  im  17.  und  18.  Jahrhundert  von  Cakne- 
VALE  1618,  Ghisi  1747,  Basd  1771,  Grakvilliers  1768  beschrieben  worden  waren.  Je  nach- 
dem die  Erkrankung  des  Rachens  oder  die  der  Luftwege  mehr  in  den  Vordergrund  trat, 
war  dieselbe  bald  als  Angina  maligna,  gangraenosa,  scorbutica,  bald  als  Croup,  Morbus 
suffocatorius,  Grarotillo  benannt  worden.  Erst  Bretonseau  erkannte  die  Zusammengehörig- 
keit dieser  verschiedenen  Kraiikheitsbilder  und  als  das  Gemeinsame  derselben  die  Anwesen- 
heit von  Membranen  auf  den  Schleimhäuten,  die  durch  eine  specifische  und  durch  Con- 
tagion  sich  verbreitende  Entzündung  hervorgerufen  werden.  Sein  grosser  Schüler  Trousseau 
vervollständigte  das  klinische  Bild,  und  fügte  die  Beschreibung  der  Di])hterite  maligne  {QTii- 
sprechend  der  septischen  Form  der  heutigen  Autoren)  hinzu.  Gerade  das  Studium  der  letz- 
teren veranlasste  ihn.  die  Diphtherie  als  eine  Allgemeinerkrankung  nach  Art  der  acuten  Exan- 
theme aufzufassen  mit  dem  Unterschiede  jedoch,  dass  bei  jener  den  örtlichen  Veränderungen 
auf  der  Obeiüäche  eine  sehr  viel  grössere  Bedeutung  beizumessen  ist  als  bei  diesen.  Um 
diesen  Standpunkt  auch  in  dem  "Worte  auszudrücken,  liess  er  die  auf  die  örtliche  Entzün- 
dung hinweisende  Endung  aus  der  Bn^TONNEAu'schen  Bezeichnung  weg.  Obgleich  die  moderne 
Forschung  zu  Gunsten  der  löcalistischen  Anschauung  Bretonkeau's  entschieden  hat,  so 
ist   doch  der   von  Trousseau    gewählte  Name   Diphtherie  der   heute  allgemein  gebrauchte. 

Während  die  Krankheit  noch  in  der  ersten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts 
vorodegend  in  geschlossenen  Epidemien  auftrat,  die  durch  freie  Intervalle 
getrennt  waren  und  vorwiegend  Frankreich,  Italien  und  England  heimsuchten, 
nahm  sie  in  der  zweiten  Hälfte  einen  geradezu  pandemischen  Charakter  an  und 
bildete  insbesondere  in  den  grösseren  Städten  Herde,  in  denen  sie  niemals  er- 
löscht, sondern  nur  ziemlich  regelmässige  Jahresschwankungen  aufweist 
(Gerhardt).  Doch  kommen  insbesondere  auf  dem  Lande  auch  gut  abgegrenzte 


DIPHTHERIE,  419 

Epidemien  und  an  bestimmte  Oertliclikeiten  gebundene  Infectionen  vor.  Auch 
der  Charakter  und  die  Localisationen  der  Diphtherie  scheinen  gewissen  Aen- 
derungen  zu  unterliegen.  So  berichtet  Trousseau  auffallend  häufig  von  der 
jetzt  nur  mehr  selten  zu  beobachtenden  Diphtherie  der  äusseren  Haut,  Bartels 
und  Minnich  kamen  in  der  der  eigentlichen  Invasion  der  Diphtherie  unmittelbar 
vorausgehenden  Zeit  eine  auffallend  grosse  Zahl  von  Croupfällen,  d.  h.  pri- 
mären Larvnxdiphtherien  zur  Beobachtung,  während  diese  heute  zu  den  Selten- 
heiten gehören  und  die  erste  Localisation  der  Diphtherie  sich  in  der  weitaus 
grössten  Zahl  der  Fälle  im  Rachen  nachweisen  lässt.  Aus  den  Schilderungen 
der  älteren  Autoren  gewinnt  man  den  Eindruck,  als  ob  damals  Erwachsene 
häufiger  und  schwerer  an  Diphtherie  erkrankten  und  die  Ansteckung  leichter 
zu  verfolgen  wäre  als  heute.  Im  Ganzen  ist  aber  allen  hygienischen  Ver- 
besserungen und  Fortschritten  ungeachtet  eine  fortwährende  Ausbreitung  der 
Seuche,  eine  Zunahme  der  Zahl  ihrer  Opfer  unverkennbar. 

Die  Diphtherie  kommt  in  allen  Klimaten  vor,  doch  sind  die  nördlichen 
kalten  Gegenden  entschieden  stärker  betroffen.  Auch  da,  wo  sie  endemisch 
vorkommt,  bevorzugt  sie  die  kälteren  Jahreszeiten.  Für  Deutschland  haben 
Brühl  und  Jahr  nachgewiesen,  dass  die  Sterblichkeit  an  Diphtherie  von  Ost 
nach  West  und  Süd  abnimmt,  und  um  so  geringer  wird,  je  höher  die  mitt- 
lere Temperatur  ist.  Sie  schwankt  zwischen  0-1—60  auf  10.000  Lebende. 
Dieselbe  vertheilt  sich  sehr  ungleich  auf  die  verschiedenen  Lebensalter.  Schon 
das  erste  Lebensjahr  ist  stark  betheiligt,  doch  betrifft  dies  vorwiegend  die 
letzten  Monate.  Im  ersten  Halbjahre  ist  Diphtherie  eine  seltene  Erki'ankung. 
Das  weitaus  grösste  Contingent  stellt  das  Alter  zwischen  2 — 5  Jahren  und 
in  manchen  Bezirken  wird  fast  die  Hälfte  der  gesammten  Sterbefälle  in  diesen 
Lebensaltern  durch  Diphtherie  und  Croup  hervorgerufen.  Im  schulpflichtigen 
Alter  wird  die  Sterblichkeit  an  Diphtherie  sehr  viel  geringer  und  sinkt  dann 
noch  weiter  auf  ein  Minimum  im  erwachsenen  Alter.  Das  männliche  Ge- 
schlecht ist  daran  überall  stärker  betheiligt.  Zwischen  Stadt  und  ländlichen 
Districten  finden  sich  keinerlei  erhebliche  Unterschiede. 

Unsere  Kenntnisse  über  Diphtherie  gingen  durch  lange  Zeit  nicht  wesentlich  über  das 
hinaus,  was  die  beiden  genialen-  französischen  Forscher  in  ihren  Werken  niedergelegt  hatten 
lind  der  Versuch  Virghow's  einen  principiellen  Gregensatz  zwischen  den  der  Schleimhaut 
aufgelagerten  und  den  derselben  eingelagerten  Membranen  zu  construiren,  hat  nur  zur  Ver- 
wirrung und  Verwischung  des  einheitlichen  Krankheitsbegriffes  geführt.  Eine  neue  und 
fruchtbare  Pachtung  erhielten  die  Studien  erst,  als  man  begann,  in  den  Membranen,  die,  wie 
man  wusste,  die  Affection  übertragen  konnten,  nach  dem  Infectionsstoffe  zu  suchen.  Oertel 
und  Trendelenbürg  wiesen  darin  zuerst  bestimmte  Mikroorganismen  nach  und  betrachteten 
dieselben  als  Ursache  der  Erkrankung.  Jedoch  erst  mittelst  der  von  R.  Koch  begründeten 
Methodik  gelang  es,  aus  der  Unzahl  der  in  den  Membranen  enthaltenen  Bakterien  die 
wirklichen  Erreger  der  Krankheit  zu  isoliren.  In  einer  durch  strenge  Selbstkritik  ausge- 
zeichneten Arbeit  beschrieb  Löffler  (Mittheilungen  aus  dem  deutschen  Reichsgesundheits- 
amte Bd.  IL  1884)  einen  Bacillus,  den  er  aus  8  Fällen  frischer  Diphtherie  gezüchtet  und  mittels 
dessen  er  bei  Thieren  diphtherieähnliche  Erkrankungen  hervorgebracht  hatte.  Dieselben 
Bacillen  waren  schon  ein  Jahr  vorher  von  Klees  in  den  Membranen  gesehen  und  als  Er- 
reger der  Diphtherie  bezeichnet  worden.  Nach  ihren  Entdeckern  werden  sie  gewöhnlich 
KLEBS-LöFFLER'sche  oder  kurzweg  Diphtherie-Bacillen  genannt. 

Die  Befunde  Löffler's  wurden  nach  einigem  Zögern  von  zahlreichen  Forschern  be- 
stätigt und  die  classischen  Arbeiten  von  R,oux  und  Yersin  zerstreuten  die  letzten  Zweifel 
an  der  ätiologischen  Bedeutung  der  Bacillen,  indem  es  gelang,  das  von  ihnen  producirte 
Gift  zu  isoliren  und  mittelst  desselben  die  wichtigsten  klinischen  Symptome  der  Diphtherie, 
insbesondere  die  diphtherischen  Lähmungen,  zu  erzeugen. 

Wir  sind  demnach  berechtigt  an  Stelle  des  klinischen,  den  sehr  viel 
schärferen  ätiologischen  Begriff  zu  setzen  und  als  Diphtherie  nur  jene 
Erkrankung  zu  bezeichnen,  welche  ganz  oder  doch  zum  grösseren  Theile 
durch  die  Anwesenheit  des  Löffler' schen  Bacillus,  resp.  der  von  ihm 
produchlen  Toxine  hervorgerufen  ist. 

Das  Verständnis  für  die  Pathogenese  und  die  Vorgänge  bei  der  Heilung  wurde 
wesentlich  gefördert  durch  die  Untersuchungen  Behring's  und  seiner  Schüler  über  die  Immu- 

27* 


420  DIPHTHERIE. 

nität,  für  welche  gerade  die  experimentelle  Diphtherie  ein  günstiges  Studienobject  darbot. 
So  haben  die  von  bakteriologischer  Seite  ausgehenden  Forschungen  nach  vielen  Pachtungen 
hin  das  Dunkel  gelichtet,  das  trotz  der  Bemühungen  der  scharfsinnigsten  Beobachter 
noch  über  dieser  vielgestaltigen  Krankheit  lagerte,  und  wir  können  heute  sagen,  dass  die 
Diphtherie  dadurch  eine  der  am  besten  gekannten  Infectionskrankheiten  des  Menschen  ge- 
worden ist.  Indem  wir  in  der  Darstellung  denselben  Weg  einschlagen,  sollen  hier  zu- 
erst die  an  der  Entstehung  der  Diphtherie  betheiligten  Mikroorganismen,  die  Wirkungen 
derselben  auf  den  Organismus  und  dann  das  dadurch  hervorgebrachte  Krankheitsbild 
der  Pieihe  nach  geschildert  werden. 

Der  von  Löfflee  zuerst  aus  den  Membranen  gezüclitete  Diplitlierie- 
Bacillus  stellt  sicli  in  frischen  Culturen  auf  Blutserum,  Agar  oder  Bouillon 
als  ein  kurzes  plumpes  Stäbchen  von  der  Länge  des  Tuberkelbacillus,  aber 
etwa  doppelt  so  breit  mit  abgerundeten  Ecken  dar,  dessen  eines  Ende  etwas 
dicker  erscheint  als  das  andere.  Sehr  viel  deutlicher  wird  diese  Keulenform 
bei  etwas  längerem  Wachsthum  und  schliesslich  zeigen  alle  oder  doch  die 
meisten  Bacillen  Degenerationsformen,  welche  die  6 — 8-fache  Länge  der  Stäb- 
chen erreichen,  sich  krümmen,  an  einem  oder  beiden  Enden  kolbig  anschwel- 
len, so  dass  ungemein  mannigfaltige  birn-,  hantel-,  bisquitähnliche,  manchmal 
sogar  an  Mycelbildung  erinnernde  Formen  entstehen.  Während  die  jungen 
Wuchsformen  sich  mit  allen  Anilinfarben  in  wässeriger  oder  schwach  alka- 
lischer Lösung  leicht  und  in  toto  färben,  nehmen  bei  den  Degenerations- 
formen nur  einzelne  Stücke  oder  Körner  im  Bacillenleibe  die  Farbe  an.  Ln 
hängenden  Tropfen  sind  sie  unbeweglich.  Das  Wachsthum  ist  an  schwach 
alkalische  Eeaction  des  Nährbodens  und  an  die  Anwesenheit  von  Sauerstoff 
gebunden.  Es  geht  am  besten  vor  sich  zwischen  32  und  37*';  unter  20"  bleibt 
die  Entwicklung  aus. 

Als  Nährmedien  werden  deshalb  vorwiegend  Bouillon,  Agar  und  Blutserum, 
benutzt.  Auf  letzteren  gedeihen  sie  besonders  üppig  und  bilden  schon  nach  18  Stunden 
kleiiTe  weisse,  mit  dem  freien  Auge  erkennbare  Knöpfchen.  Auf  Glycerinagar  wachsen  sie 
spärlicher  und  vorwdegend  im  Stichcanal.  Bouillon  wird  in  24  Stunden  leicht  getrübt, 
am  Boden  liegt  ein  an  dem  Glase  haftender  kleinflockiger  oder  wolkiger  Bodensatz,  seltener 
trifft  man  grobe  Flocken  bei  klarer  Flüssigkeit.  Die  Eeaction  der  Bouillon  wird  erst  sauer, 
dann  (oft  erst  nach  Wochen)  wieder  alkalisch.  Gelatine  wird  nicht  verflüssigt,  Milch  nicht 
verändert.     Auf  Kartoffel  bilden  sie  spärliche,  kaum  erkennbare  Colonien. 

Ihre  Widerstandsfähigkeit  gegen  schädigende  Einflüsse  ist,  da  sie  keine 
Sporen  bilden,  gering.  Schon  die  halbstündige  Erhitzung  auf  60"  tödtet  sie 
sicher.  Nach  Löffler  genügt  eine  kurz  dauernde  Berührung  der  ausgesäten 
Keime  mit  Sublimat  1  :  10000,  Höllenstein  1  :  1000,  Carbolsäure  3— 4"/o,  ab- 
solutem Alkohol,  um  dieselben  entwicklungsunfähig  zu  machen.  Dagegen 
widerstehen  sie  der  Eintrocknung  auffallend  lange  und  aus  Membranen  und 
Culturen,  die  unter  Abschluss  des  Lichtes  durch  5  Monate  in  getrocknetem 
Zustande  aufljewahrt  waren,  können  unter  Umständen  noch  lebensfähige  Ba- 
cillen gezüchtet  werden. 


Bei  den  Thieren  imd  speciell  deu  Hausthieren  werden  zwar  nicht  selten 
diphtherieälinhche  Erkrankungen  der  Schleimhäute  beobachtet,  dieselben  sind  jedoch 
durch  andere  Mikroorganismen  hervorgerufen.  Bis  jetzt  wenigstens  ist  das  spontane 
Vorkommen  einer  durch  den  Löffler' sehen  Baccillus  hervorgerufenen  Erkranlvung  bei 
Thieren  noch  nicht  erwiesen.  Nur  durch  sehr  energische  Eim-eibung  der  Culturen 
auf  der  Yaginalschleimhaut  des  Meerschw^einchens,  der  Conjunctival-  oder  Tracheal- 
schleimhaut  des  Kaninchens,  der  Rachenschleimhaut  der  Taube  gelingt  es  eine  diph- 
therieähnliche pseudomembranöse  Entzündung  auf  der  verletzten  Stelle  hervorzurufen. 
Dieselbe  läuft  in  wenigen  Tagen  ab;  einzelne  der  geheüten  Thiere  zeigen  alsdann 
ebenso  wie  bei  der  menschlichen  Diphtherie  Lähmungserscheiuimgen  oder  gehen  an 
schleichender  Cachexie  zu  Grunde;  andere  erliegen  noch  während  des  Bestandes  der 
Entzündung    der    diphtherischen   Intoxication.     Während   die    Schleimhäute   nur  eine 


DIPHTHERIE.  421 

geringe  Empfänglichkeit  für  die  diphtherische  Infection  zeigen,  genügen  schon 
geringe  Mengen  des  diphtherischen  Giftes,  die  in  den  Thierkörper  seihst  eingehracht 
werden,  um  den  Tod  unter  charakteristischen  Erscheinungen  herbeizuführen.  Ins- 
Isesondere  gilt  dies  für  junge  Thiere,  nur  Ratten  und  Mäuse  zeigen  eine  fast  völlige 
TJnempfindlichkeit.  Mau  benutzt  dieses  Verhalten  mit  Vorliebe  zur  Identificirung 
der  Culturen  und  bedient  sich  dazu  meist  der  Meerschweinchen,  die  unter  allen 
Thieren  für  das  diphtherische  Gift  am  empfänglichsten  sind.  Schon  geringe  Mengen 
der  Culturen  intraperitoneal  oder  subcutan  applicirt,  genügen,  um  innerhalb  2 — 4 
Tagen  den  Tod  der  Thiere  herbeizuführen.  Man  findet  an  der  Impfstelle  eine  fibri- 
nöse Exsudation,  umgeben  von  ausgedehntem  hämorrhagischem  Oedem;  die  benachbarten 
Lymphdrüsen  sind  vergrössert  und  hj'perämisch,  die  Nebennieren  dunkel  geröthet, 
der  Anfang  des  Dünndarms  deutlich  injicirt;  in  den  Pleuren  bisweilen  auch  im 
Peritoneum  ein  seröser  Erguss.  Kaninchen  zeigen  ausserdem  noch  Diarrhoeen  und 
Fettleber.  Manche  Thiere  überleben  die  Impfung  um  Wochen  und  Monate.  Bei  der 
Section  findet  man  alsdann  enorme  Abmagerung,  Nekrose  an  der  Impfstelle,  ver- 
dichtete Herde  in  den  Lungen.  Die  oben  geschilderten  Veränderungen  fehlen.  Bei 
den  an  acuter  Diphtherie  gestorbenen  Thieren  finden  sich  ebenso  wie  bei  den  auf 
die  Schleimhäute  geimpften  die  Bacillen  nur  oder  fast  nur  an  der  Stelle  der 
Inoculation;  die  inneren  Organe  sind  keimfrei.  Der  Tod  tritt  also  ein  nicht  durch  Ver- 
"breitung  der  Bacillen  im  Körper,  sondern  durch  die  Resorption  der  an  der  Impf- 
stelle von  den  Bacillen  gebildeten  Giftstoffe.  Schon  Löffleb  hatte  diese  Vermuthung 
ausgesprochen-,  sie  wurde  erwiesen  durch  die  Untersuchungen  von  Roux  und  Yer- 
siN,  denen  es  gelang,  die  Giftstoffe  in  der  durch  Filtration  von  den  Bacillen  befreiten 
Culturflüssigkeit  nachzuweisen.  Durch  Einspritzung  derselben  gelingt  es,  die 
Thiere  unter  den  gleichen  Erscheinungen  zu  tödten,  als  ob  sie  mit  lebenden  BaciEen 
geimpft  wären.  Der  einzige  Unterschied  ist,  dass  an  der  Injectionsstelle  die  fibrinöse 
Exsudation  fehlt.  Die  Bildung  derselben  scheint  demnach  an  die  Lebensthätigkeit 
der  Bacillen  selbst  gebunden  zu  sein.  Im  Uebrigen  finden  wir  eine  besonders  ausge- 
sprochene Wirkung  des  Giftes  auf  die  Gefässe,  die  dilatirt  und  durchlässig  werden, 
auf  das  Herz,  Leber,  das  Nervensystem  und  die  Niere ,  welche  eiweisshaltigen 
Harn  producirt.  Die  motorischen  Lähmungserscheiuungen  treten  wie  bei  der  mensch- 
lichen Diphtherie  meist  erst  nach  Ablauf  der  acuten  Intoxication  in  Erscheinung. 
Dieselben  Autoren  versuchten  auch  den  toxischen  Körper  aus  den  Bouillonculturen  zu 
isoliren  und  es  gelang  ihnen,  denselben  in  dem  Alkoholniederschlage  sowie  in  der 
durch  Phosphatzusatz  erzeugten  Fällung  in  concentrirter  Form,  jedoch  nicht 
rein  zu  erhalten.  Bei  Erwärmen  auf  70*^  verliert  er  seine  toxische  Kraft.  Roux 
l)ezeichnete  ihn  auf  Grund  dieser  Eigenschaften  als  Diastase.  Fraenkel  und 
Bkieger  ,  die  ihn  mittels  Ammoniumsulfat  fällten,  fanden  Eiweissreactionen  und 
erklärten  ihn  daher  für  ein  Toxcdbumin;  doch  war  das  Eiweiss  wohl  mechanisch 
beigemengt.  Gamalaia  erklärt  ihn  auf  Grund  allgemeiner  Ueberlegungen  für  ein 
dem  Bakterienleibe  selbst  entstammendes  Nudeoalhumin.  Nach  letzterem  findet  es 
sich  anfangs  nur  im  Leibe  der  Bakterien  und  wird  von  diesen  synthetisch  auch  auf 
eiweissfreien  Nährmedien  (Harn)  gebildet,  erst  bei  längerem  Stehen  der  Cultur  geht 
es  in  die  Flüssigkeit  über. 

Die  Wirkung  der  Bacillen  gegenüber  den  Versuchsthieren  beruht  auf  der  Fähigkeit 
diese  Toxine  zu  erzeugen.  In  dieser  Beziehung  findet  man  grosse  Unterschiede  zwischen 
den  aus  verschiedenen  und  selbst  den  aus  einem  und  demselben  Falle  gezüchteten  Bacillen. 
-Zur  Messung  derselben  empfiehlt  es  sich  in  jedem  Falle  diejenige  kleinste  Menge  der  24stün- 
digen  Bouilloncultur  zu  ermitteln,  welche  genügt,  ein  Meerschweinchen  innerhalb  längstens 
4  Tagen  mit  Sicherheit  zu  tödten.  Dieselbe  in  Procenten  des  Körpergewichtes  des  Versuchs- 
thieres  ausgedrückt,  gibt  ein  bequemes  Mass  für  die  Virulenz  der  betreffenden  Cultur. 
Die  Zahl  schwankt  zwischen  0'02-0-5  und  mehr  Procent.  Sie  kann  auch  für  ein  und  die- 
selbe Cultur  sich  ändern;  sie  kann  durch  ungünstige  Vegetationsbedingungen  erhöht,  d.  h. 
<lie  Cultur  abgeschwächt  oder  durch  Verimpfung  von  Thier  zu  Thier  vermindert  werden. 
Nach  Roux  soll  die  Virulenz  der  Diphtherie-Bacillen  auch  durch  Symbiose  mit  Streptococcen 
«rhöht  werden. 

Durch  die  experimentell  feststehende  Thatsaclie  der  Abschwächung  der  Diphtherie- 
Culturen  bis  zur  völligen  Unwirksamkeit  gegenüber  dem  Thierkörper  entfällt  allerduigs  ein 


422  DIPHTHERIE. 

wich-tiges  Merkmal  für  die  Charakteristik  des  LÖFFLER'schen  Bacillus.  Allein  es  ist  gewiss 
zu  weit  gegangen,  wenn  man  daraufliin  alle  morphologisch  ähnlichen  Bacillen  der  Mund- 
höhle wie  den  yon  Hofmann  beschriebenen  Pseudodiphtheriebacillus  schlankweg  als  nicht 
virulente  Diphtheriebacillen  bezeichnet.  Abgesehen  davon,  dass  der  exacte  Nachweis  nur 
durch  die  Wiederherstellung  der  verloren  gegangenen  Virulenz  zu  erbringen  wäre,  unter- 
scheidet er  sich  auch  durch  das  culturelle  Verhalten  (üppigeres  Wachsthum  auf  Agar, 
Mangel  der  Säurebildung  auf  Bouillon  etc.)  von  jenem,  so  dass  er  zunächst  wenigstens 
als  eine  besondere  Art  anzuerkennen  ist. 

Da  wo  die  diphtherische  Intoxication  nicht  zum  acuten  oder  chronischen  Tod 
des  Thieres  führt,  bleibt  eine  erhöhte  Widerstandsfähigkeit  des  Organis- 
mus gegenüber  dem  diphtherischen  Gifte  zurück:  das  Thier  ist  immunisirt.  Die 
Erklärung  dieses  auch  von  den  anderen  Infectionskrankheiten  her  bekannten  Zustan- 
des  ist  durch  die  epochemachende  Entdeckung  Beheing's  gegeben,  dass  in  dem 
Blutserum  dieser  Thiere  ein  Stoff  enthalten  ist,  welcher  in  vitro  wie  im  lebenden 
Organismus  die  von  den  Diphtlieriebacülen  producirten  Gifte  zerstört  oder  wenig- 
stens unschädlich  macht.  Dabei  kann  der  Diphtheriebacillus  auf  der  Oberfläche 
solcher  „giftfesten"  Thiere  noch  vegetiren  und  sich  vermehren,  aber  sie  sind  nicht 
im  Stande,  irgend  welche  schädigende  Wirkung  auszuüben.  Von  Immunität  im  eigent- 
lichen Sinn  des  Wortes  spricht  man  erst,  wenn  die  kranliheitserregenden  Organis- 
men sich  überhaupt  nicht  mehr  auf  dem  Körper  vermehren  können.  Es  ist  wahr- 
scheinlich, dass  Immunität  und  Giftfestigkeit  nui'  graduell  verschiedene  Zustände  sind. 

Die  Bildung  dieser  antitoxischen  Stoffe  im  Thierkörper  ist  gebunden 
an  das  Ueberstehen  des  diphtherischen  Krankheitsprocesses  und  kann,  yne  Ehuizch 
gezeigt,  in  infinitum  vermehrt  werden,  wenn  dm"ch  Injection  immer  steigender  Cul- 
turmengen  nochmals  die  gleichen  Processe  hervorgerufen  werden.  Ueber  den  Ort 
der  Bildung  Liegt  nur  die  Yermuthung  vor,  dass  sie  in  den  lymphbereitenden  Or- 
ganen und  der  Milz  vor  sich  gehe.  Ihre  Xatur  ist  noch  völlig  in  Dunkel  gehüllt. 
Durch  üebertraguug  derselben  auf  den  Körper  empfänglicher  Thiere  werden  auch 
diese  für  die  Zeit,  in  welcher  sie  als  solche  erhalten  bleiben,  gegen  eine  diphthe- 
rische Infection  geschützt,  ja  es  gelingt  sogar,  ein  schon  erkranktes  Thier  dm-ch 
Einführung  grösserer  Mengen  Blutserums  von  einem  gegen  Diphtherie  hochimmuni- 
sirten  Thiere  stammend  vor  dem  sicheren  Tode  zu  bewahren.  Gerade  diese  letztere 
Thatsache,  auf  welcher  sich  die  von  Beheixg  begründete  Blutserumtherapie  aufbaut, 
legt  den  Gedanken  nahe,  dass  auch  der  natürliche  Heüungsvorgang  auf  ähnliche 
Weise  zu  Stande  kommt.  Diu'ch  die  Einfühi'ung  des  diphtherischen  Virus  in  den 
Thierkörper  wöi'd  zugleich  mit  den  Krankheitserscheinungen  gleichsam  als  Selbst- 
hilfe desselben  die  Thätigkeit  der  die  Antikörper  bildenden  Organe  angeregt.  Erliegt 
der  Organismus  nicht  der  acuten  Vergiftung,  so  'wird  das  im  Blute  kreisende  Toxin 
von  den  sich  allmälig  und  in  steigender  Menge  bildenden  Antikörpern  gleich- 
sam abgefangen  und  unter  gleichzeitigem  Verschwinden  der  Antilvörper  selbst  in  eine 
für  den  Organismus  unschädliche  Verbindung  verwandelt.  Dieser  Heüungsvorgang 
währt  so  lange,  bis  der  Organismus  entgiftet  und  schliesslich  immunisii't  ist.  Allein 
auch  wenn  dies  geschehen,  dauert  die  Büdung  der  Antikörper  noch  fort,  sie  werden 
im  Blute  nachweisbar  und  bedingen  so  die  nach  Ablauf  der  Erkrankung  zm'ück- 
bleibende  Immunität. 

Da  die  Spontanheilung  bei  der  experimentellen  Diphtherie  ein  seltenes  und  zufälliges  Er- 
eignis ist,  so  hat  man,  um  immunisirte  Thiere  zu  gewinnen,  nach  Methoden  gesucht,  die 
geeignet  sind  den  Krankheitsprocess  so  abzuschwächen,  dass  eine  grössere  Anzahl  derselben 
am  Leben  bleibt,  Es  gelang  dies'  zuerst  C.  Fraenkel  durch  Erhitzung  alter  Bouilloncultur- 
filtrate  auf  70".  Später  theilte  Behring  eine  ganze  Reihe  von  Methoden  mit,  von  denen 
die  der  Injection  vorausgehende  Abschwächung  der  Culturen  mittelst  Jodtrichloiid  die 
wichtigste  ist.  Obgleich  noch  keine  ganz  befriedigende  Immunisirungsmethode  gegen 
Diphtherie  bekannt  ist,  so  ist  es  doch  Behning  und  neuerdings  auch  Aronson  gelungen, 
so  hohe  Immunitätsgrade  zu  erreichen,  dass  1  cm^  Blutserum  des  immunisirten  Thieres 
(Hammel,  Hund)  2  Millionen  Gramm  Meerschweinchen  gegen  die  sicher  tödthche  Dosis  des 
Diphtherotoxins  zu  schützen  vermag. 

Neben  dem  bis  jetzt  beschriebenen  Diphterotoxin  findet  sich  in  den  Culturen  des 
Diphteriebacillus  noch  ein  zweiter  Giftstoff,  der  an  die  Bakterienleiber  gebunden,  vielleicht 
mit  ihnen  identisch,  erst  nach  Tödtung  der  Bacillen   ausgezogen  werden  kann.     Da  er  der 


DIPHTHERIE.  423 

Erhitzung  auf  100''  widersteht,  so  kann  er  leicht  von  dem  zersetzlichen  primären  Gift 
getrennt  werden.  Gamalaia  meint,  dass  es  durch  Zersetzung  aus  dem  ersteren  entsteht 
und  bezeichnet  es  daher  als  poison  modifie  oder  artificiel.  Buchner,  dem  wir  die  Kenntnis 
der  Bakterienproteine  verdanken,  fand,  dass  dieselben  in  den  Thierkörper  eingeführt,  eine 
die  Leukocyten  anlockende  Wirkung  (positive  Chemotaxis)  besitzen.  In  die  Blutbahn  ein- 
geführt, rufen  sie  allgemeine  Leukocytose  und  Fieber  hervor,  nach  Schweighofer  auch  eine 
Schwellung  der  lymphoiden  Organe  und  parenchymatöse  Degeneration  der  Niere,  Leber 
und  des  Herzmuskels. 


Verbreitung  des  Diphtheriebacillus.  Die  geringe  Widerstands- 
fälligkeit und  die  früher  erwähnten  Wachsthumsbedingungen  bringen  es  mit 
sich,  dass  der  Diphtheriebacillus  ähnlich  wie  der  Erreger  der  Tuberculose  im 
Wesentlichen  auf  den  menschlichen  Körper  als  Brutstätte  angewiesen  ist. 

Er  findet  sich  constant  und  in  grosser  Menge  auf  den  Schleimhäuten 
und  in  den  Membranen  der  Diphtheriekranken  und  bleibt  für  gewöhnlich 
ebenso  wie  im  Thierversuche  auf  die  erkrankte  Oberfläche  beschränkt.  Er 
kann  jedoch  auf  dem  Blut-  und  auch  auf  dem  Lymphwege  (Abbott)  in 
die  inneren  Organe  gelangen,  woselbst  er  aber  rasch  zu  Grunde  geht.  Ich 
selbst  habe  ihn  aus  den  unmittelbar  nach  dem  Tode  herausgenommenen  Nieren 
zweier  an  Diphtherie  verstorbener  Kinder  gezüchtet  und  neuerdings  hat 
Frosch  denselben  in  10  unter  15  untersuchten  Fällen  in  Milz,  Mere,  Herzblut, 
Pericardial-  und  Pleuraflüssigkeit,  Gehirn  und  Leber  nachgewiesen.  Mit 
dem  Sekret  der  Schleimhäute  und  den  Membranen  gelangt  der  Bacillus  in 
die  Aussenwelt  und  kann  dann  direct  zu  einer  Neuinfection  führen,  wenn 
er  durch  Küssen,  durch  ausgehustete  Membranen  etc.  auf  die  Schleimhaut 
eines  dafür  empfänglichen  Menschen  gelangt,  oder  indirect,  indem  er  an 
Kleidern,  Trinkgeschirren,  Löffeln,  Taschentüchern,  Wänden,  Möbeln  u.  A.  m. 
haften  bleibt  und  eintrocknet.  Da  er  in  diesem  Zustande  sehr  lange  (unter 
günstigen  Bedingungen  jedenfalls  Monate,  vielleicht  Jahre  lang)  lebensfähig 
bleibt,  so  kann  auf  diese  Weise  eine  sehr  ausgiebige  und  schwer  controllirbare 
Verbreitung  des  Diphtherie-Bacillus  erfolgen.  So  erklärt  sich  das  gehäufte 
Auftreten  von  Infectionen  an  Orten,  wo  Diphtheriekranke  sich  längere  Zeit 
aufgehalten,  die  sprungweise  Verbreitung  in  Kinder spitälern.  Jedenfalls 
spielt  die  directe  Contagion  daneben  nur  eine  geringe  Rolle  und  dürfte  vor- 
zugsweise bei  der  innigen  Berührung,  wie  sie  innerhalb  der  Familie  statt- 
findet, in  Betracht  kommen.  In  dieser  Beziehung  ist  die  Thatsache  von 
Wichtigkeit,  dass,  wie  ich  zuerst  gezeigt,  virulente  Diphtherie-Bacillen  nicht 
nur  während  des  Bestandes  der  Krankheit,  sondern  auch  nach  Ablauf  der- 
selben noch  durch  Tage  und  Wochen  in  der  Mundhöhle  enthalten  sein  können, 
so  wie  dass  dies  in  vereinzelten  Fällen  sogar  bei  gesunden  oder  doch  an- 
scheinend gesunden  Personen  der  Fall  sein  kann. 

Trotz  vielfacher  Bemühungen  ist  es  bisher  noch  nicht  gelungen,  eine  Vermehrung 
des  Diphtheriebacillus  ausserhalb  des  menschlichen  Körpers  und  seiner  Effluvien 
zu  constatiren.  Die  namentlich  in  England  (Klein)  angenommene  üebertragung  durch  die 
Milch  oder  durch  Hausthiere  ist  noch  ebensowenig  erwiesen,  als  der  Einfluss  der  Misthaufen, 
in  denen  TeissieR  eine  Brutstätte  der  Bacillen  sieht.  Um  die  in  ihrer  Entstehung  oft  ganz 
räthselhaften  sporadischen  Erkrankungen  an  Diphtherie  zu  erklären,  hat  Roux  die  Hj^po- 
these  aufgestellt,  dass  eine  abgeschwächte,  der  Virulenz  beraubte  Art  von  Diphthei-ie- 
Bacillen  sehr  häufig  in  dem  Munde  der  Kinder  vorkomme  (bei  59  Schülern  einer  Erziehungs- 
anstalt fand  er  denselben  26mal)  und  unter  dem  Einflüsse  besonderer  Verhältnisse  wie 
der  Symbiose  mit  Streptococcen  seine  pathogenen  Eigenschaften  ■^\aedergewinnen  und  echte 
Diphtherie  erzeugen  könne.  Nachdem  jedoch  Roux  die  Unterscheidung  von  dem  gleich- 
falls im  Munde  vorkommenden  Pseudodiphtheriebaccillus  verabsäumt  und  es  ihm  auch 
nicht  gelungen,  diese  Bacillen  auf  experimentellem  Wege  wieder  virulent  zu  machen, 
scheint  mir  diese  Annahme  noch  nicht  erwiesen.  C.  Fraenkel,  der  sich  derselben  ange- 
schlossen, macht  darauf  aufmerksam,  dass  derartige  nicht  virulente  Diphtherie-Bacillen 
nicht  selten  als  harmlose  Parasiten   auf  der    Conjunctivalschleimhaiit    angetroffen    werden. 


424  DIPHTHERIE. 

Da  die  diplitlierisclie  Erkrankung  des  Menschen  sich  stets  auf  Schleim- 
häuten localisirt,  die  der  Luft  ausgesetzt  und  auf  denen  schon  unter  nor- 
malen Verhältnissen  Bakterien  vorhanden  sind,  so  können  sich  neben  den 
Diphtherie-Bacillen  stets  und  oft  in  grosser  Zahl  andere  an  dem  betreffenden 
Orte  gelegentlich  vorkommende  Arten  vorfinden,  ohne  dass  denselben  eine 
Bedeutung  für  den  Krankheitsverlauf  zukommt.  Anders  liegt  die  Sache 
wenn  es  sich  um  pathogene  Arten  wie  Streptococcen,  Staphylococcen  pyo- 
genes  u.  a.  m.  handelt.  Dieselben  können  zwar  in  beschränkter  Zahl  in  der 
Mundhöhle  im  gesunden  wie  im  kranken  Zustande  gefunden  werden,  ohne 
dass  sie  krankhafte  Erscheinungen  hervorrufen,  allein  in  manchen  Diphtherie- 
fällen sind  sie  in  so  grosser  Menge  und  auch  im  Innern  des  erkrankten 
Körpers  vorhanden,  dass  kein  Zweifel  über  ihre  selbständige  pathogene  Be- 
deutung bestehen  kann.  Insbesondere  gilt  dies  von  den  Streptococcen, 
die  als  nahezu  constante  Begleiter  der  Rachendiphtherie  gelten  müssen.  Ihre 
morphologischen  und  culturellen  Eigenschaften  setze  ich  als  bekannt  voraus. 
Bezüglich  der  Frage,  ob  sie  einer  einzigen,  ob  sie  mehreren  Arten  angehören, 
ob  sie  mit  dem  Streptococcus  pyogenes  identisch  sind  oder  nicht,  ist  eine  volle 
Einigung  noch  nicht  erzielt.  Für  Thiere  (Mäuse,  Hasen  zeigen  sie  eine  Virulenz 
mittleren  Grades.  Ihr  Verhalten  im  Körper  charakterisirt  sie  als  ausge- 
sprochene Gewebsparasiten.  Zwar  finden  sie  sich  zunächst  ebenso  wie  die 
Diphtherie-Bacillen  auf  der  Oberfläche  der  Rachen-Schleimhaut  und  breiten 
sich  auf  derselben,  wenngleich  in  sehr  viel  beschränkterem  Maasse,  aus. 
Sobald  jedoch  durch  irgend  welchen  begünstigenden  Umstand  die  Wider- 
standsfähigkeit des  Organismus  sinkt,  dringen  sie  in  die  Tiefe  des  Gewebes 
ein,  wandern  in  dichten  Schwärmen  längs  der  Lymphbahnen,  durchbrechen 
die  Blutgefässwandungen  und  gelangen  so  in  sämmtliche  inneren  Organe 
des  Körpers.  Es  entsteht  das  wohlbekannte  Bild  der  Sepsis  mit  hohem,  re- 
mittirendem  Fieber,  Blässe,  Benommenheit  und  sinkender  Herzkraft.  Die 
Tonsillen,  an  welchen  die  Coccen  eingedrungen,  sind  intensiv  geröthet  und 
geschwellt,  ja  die  Oberfläche  kann  nekrotisiren  und  sich  mit  einem  dünnen 
fibrinösen  Belage  bedecken,  so  dass  ein  der  echten  Diphtherie  nicht  un- 
ähnliches Bild  entsteht.  In  den  inneren  Organen  entstehen  da,  wo  die  mit 
dem  Blutstrom  verschleppten  Coccen  hingelangen,  nekrobiotische  Herde,  in 
den  Lungen  lobulär-pneumonische  Verdichtungen,  auf  den  serösen  Häuten 
seröse  und  eitrige  Entzündungen.  Besonders  charakteristisch  sind  die  in  den 
subniaxillaren  Lymphdrüsen  hervorgerufenen  Veränderungen.  Dieselben 
schwellen  mächtig  an  und  die  Entzündung  greift  auf  das  periglanduläre  Ge- 
webe über,  so  dass  eine  diffuse  harte  Anschwellung  der  Seitentheile  des 
Halses  entsteht.  Im  späteren  Verlaufe  kann  es  zur  Abscessbildung  kommen. 
In  dem  Eiter  sind  die  Trümmer  der  nekrotisirten  Drüse  und  zahllose  Strepto- 
coccen enthalten. 

Die  Beziehungen  der  Streptococcen  zu  den  Diphtherie-Bacillen  sind  sehr  mannigfaltige 
und  noch  nicht  völlig  klargestellt.  Zunächst  scheint  es,  als  ob  eine  leichte,  durch  Streptococcen 
hervorgerufenene  Reizung  der  Schleimhaut  die  Ansiedlung  der  Diphtherie-Bacillen  begünstigt, 
wenigstens  ist  dies  bei  den  Thierversuchen  der  Fall.  Die  durch  die  diphtheritische  Erkran- 
kung gesetzten  localen  Veränderungen  scheinen  ihrerseits  wieder  das  Wachsthum  und  die 
Vermehrung  der  Streptococcen  zu  begünstigen.  Welche  besonderen  Umstände  es  sind,  die 
ihnen  dann  in  gewissen  Fälleir  das  Eindringen  in  die  Gewebe  gestatteten,  ist  noch  nicht 
klargestellt.  NeuMANN  hat  in  einer  interessanten  Arbeit  zur  Lehre  von  der  Sepsis  gezeigt, 
dass  Durchtränkung  des  Körpers  mit  Stoffwechselproducten  von  Bakterien,  Avie  es  bei 
Infectionskrankheiten  und  schon  bei  Stuhlretention  eintreten  kann,  ferner  die  Aufspei- 
cherung von  Stoffwechselproducten  des  Körpers  selbst,  die  in  ausgesprochenster  Weise 
bei  Störung  der  Nierenfunction  zu  Stande  kommt,  die  Widerstandsfähigkeit  des  mensch- 
lichen Körpers  gegen  Streptococceninvasion  herabsetzen.  An  ähnliche  Momente,  sowie  an  die 
bekannte  Neigung  des  kindlichen  Organismus  zur  Streptococcensepsis  im  Allgemeinen 
(Babes),  wäre  wohl  auch  hier  zu  denken.  Ist  es  im  Verlauf  der  Diphtherie  zu  einer  Strepto- 
coccensepsis gekommen,  so  laufen  die  beiden  Erkrankungen  nicht  einfach  neben  einander  ab, 
sondern  es  entsteht  das  eigenartige  Bild  der  sogenannten  septischen  Diphtherie.    Ein  besou- 


DIPHTHERIE.  425 

ders  charakteristischer  Zug  in  demselben  ist  das  rasche  und  unauflialtsame  Sinken  der 
Herzkraft,  das  zumeist  in  wenigen  Tagen  und  oft  unter  subnormalen  Temperaturen  zum 
Tode  führt.  Man  wird  darin  wohl  eine  besondere  Verbindung  der  dem  Diphtherie-Bacillus 
tind  den  Streptococcen  eigenthümlichen  Giftwirkungen  erkennen  können  und  in  der  That  hat 
Sieber  im  Nenckischen  Laboratorium  gezeigt,  dass  die  aus  Mischculturen  der  genannten  Bak- 
terien erhaltenen  Toxine  sich  wirksamer  erweisen,  als  die  Mischung  der  aus  den  Eeinculturen 
erhaltenen.  Dagegen  scheint  das  mit  Streptococcen  durchsetzte  Gewebe  der  Weiterverbreitung 
ja  selbst  dem  Fortbestande  der  Diphtherie-Bacillen  alsdann  eher  ungünstige  Verhältnisse  zu 
bieten.  Wenigstens  sieht  man  häufig  mit  dem  Eintritt  der  Allgemeinsepsis  das  Fortschreiten 
der  Membranen  sistiren,  die  Bacillen  treten  an  Zahl  mehr  und  mehr  zurück,  um  schliesslich 
den  Streptococcen  ganz  das  Feld  zu  überlassen. 

Viel  weniger  ist  über  die  Bedeutung  der  pyogenen  Staphylococcen  bekannt,  obgleich 
auch  diese  insbesondere  der  albus  in  einer  nicht  geringen  Zahl  von  Fällen  und  in  reich- 
licher Menge  angetroffen  werden.  Am  häufigsten  allerdings  in  den  Tracheal-,  seltener  und 
oft  erst  gegen  Ende  der  Erkrankung  in  den  Rachenmembranen.  Ein  Eindringen  desselben 
in  die  Blutbahn  und  in  die  inneren  Organe  mit  Ausnahme  der  Lungen,  wohin  er  durch 
Aspiration  gelangt,  ist  jedenfalls  sehr  selten.  Der  klinische  Verlauf  scheint  durch  die 
Anwesenheit  der  Staphylococcen  eher  im  günstigen  Sinne  beeinflusst  zu  werden.  Ein  hem- 
mender Einfluss  auf  die  Ausbreitung  der  Membranen  ist  jedoch  nicht  zu  bemerken. 

Der  Vollständigkeit  halber  seien  hier  noch  zwei  Bakterienarten  erwähnt,  die  mir  nicht 
ohne  Einfluss  auf  das  Krankheitsbild  zu  sein  schienen:  ein  dem  Bakterium  coli  ähnliches 
Xurzstäbchen,  das  ich  wiederholt  in  schweren,  mit  ulcerösen  Zerstörungen  einhergehenden 
Fällen  sowohl  in  den  Membranen  als  in  den  inneren  Organen  insbesondere  in  den  Lungen- 
herden gefunden  und  ein  dem  FRAENKEL-WEiciiSELBAUM'schen  nahestehender  Kapselcoccus. 
Der  letztere  fand  sich  sowohl  in  Rachen-  als  Bronchialmembranen,  die  durch  ihre  beson- 
dere Dicke  und  feuchten  Glanz  ausgezeichnet  waren. 

Versuchen  wir  nimmehr  auf  Grundlage  dieser  experimentellen  Erfahrungen 
die  Pathogenese  der  menschlichen  Diphtherie  darzulegen,  so  müssen  wir  hier 
wie  bei  allen  Infectionskrankheiten  drei  Perioden:  das  Stadium  incubationis, 
eruptionis  und  decrementi  unterscheiden.  Dass  zur  Entstehung  der  Diphtherie 
die  Anwesenheit  des  Diphtherie-Bacillus  und  zwar  des  virulenten  Bacillus  noth- 
wendig  ist,  bedarf  keiner  weiteren  Beweisführung.  Nicht  minder  wichtig  ist 
dazu  aber  die  Empfänglichkeit,  die  Disposition  des  betreffenden 
Individuums  für  die  diphtherische  Infection.  Dieselbe  ist,  wie  die 
sprungweise  Ausbreitung  der  Epidemien  beweist,  keinesweg  keine  so  allgemeine 
wie  bei  Masern  oder  Scharlach.  Insbesondere  scheint  dieselbe  mit  dem  zu- 
nehmenden Alter  schon  vom  5.  Lebensjahre  an  rapid  zu  sinken.  Es  geht  dies  un- 
zweifelhaft aus  der  geringen  Zahl  der  von  Diphtherie  befallenen  Erwachsenen 
hervor,obgleich  sich  dieselben  gewiss  nicht  weniger  als  Kinder  der  Gelegenheit 
zur  diphtherischen  Infection  aussetzen.  Die  geringe  individuelle  Disposition  kann 
einmal  dadurch  bedingt  sein,  dass  durch  lokale  Verhältnisse,  festere  Fügimg  des 
Schleimhautepithels,  saure  Reaction  der  Mundhöhle  (bei  Säuglingen),  durch 
mechanische  oder  chemische  Mittel  die  Ansied  hing  der  Bakterien  verhindert 
wird;  oder  es  handelt  sich  um  eine  natürliche  oder  erworbene  Giftfestigkeit 
oder  Immunität.  Die  Erfahrung,  dass  junge  Thiere  eine  sehr  viel  grössere 
Empfänglichkeit  für  das  diphtherische  Gift  aufweisen,  als  ältere  derselben 
Gattung,  spricht  dafür,  dass  es  sich  um  eine  dem  verlangsamten  Stoffwechsel 
Erwachsener  als  solchem  zukommende  Eigenschaft  handelt.  Es  wäre  aber 
auch  nicht  ausgeschlossen,  dass  eine  durch  latent  verlaufene  Diphtherien  oder 
durch  andere  Erkrankungen  (siehe  später)  erworbene  Immunität  im  Spiele  ist. 

Die  Infection  erfolgt  in  der  weitaus  grössten  Zahl  der  Fälle  in  der 
Eachenhöhle,  sei  es,  dass  der  Bacillus  direkt  mit  dem  Speichel  eines  Erkrankten 
oder  als  Staub  mit  der  eingeathmeten  Luft  an  diese  Stelle  gelangt.  Die  den 
Luftstrom  brechenden  Tonsillen  mit  ihren  zahlreichen  Einbuchtungen  bilden 
die  geeignetste  Stätte  für  die  Ablagerung  und  ungestörte  Vermehrung  der 
Keime.  Schon  l)estehende  katarrhalische  Entzündungen  scheinen  die  Infection 
zu  begünstigen,  doch  bedarf  es  keineswegs  einer  Läsion  der  Epitheldccke. 
Dieses  Incubationsstadium  beträgt  nach  klinischen  Erfahrungen  durchschnittlich 
2 — 7  Tage,  kann  sich  jedoch  sicherlich  noch  sehr  viel  länger  hinausziehen. 
Die    ersten    sichtbaren    örtlichen   Erscheinungen   sind  Eöthung    und  leichtes 


426  DIPHTHERIE. 

Oedein  der  Sclileimliaut,  aucli  wohl  ein  leichter  reifähnlicher  Anflug  aus 
desquamirten  Epithelien  und  Bakterienhaufen  bestehend;  dann  folgt  die  Bildung 
der  fibrinösen  Membran. 

Ueber  die  Entstell imgsweise  und  die  Zusammensetzung  der  diphtherischen 
Membran  ist  viel  discutirt  und  bis  heute  noch  keine  Einigung  erzielt  worden.  Man  hielt  sie 
anfangs  für  einen  oberflächlichen  Brandschorf,  später  für  ein  aus  den  Drüsen  stammendes 
Secret.  Seitdem  man  das  Fibrin  als  den  wesentlichen  Bestandtheil  derselben  erkannt,  kann  kein 
Zweifel  sein,  dass  die  aus  den  Gefässen  transsudirenden  Serumbestandtheile  die  Quelle  ihrer 
Entstehung  bilden.  Dieser  abnorm  reichliche  Durchtritt  der  fibiinoplastischen  Substanzen 
ist  eine  der  specifischen  Wirkungen  der  Diphtheriebacillen,  die  unter  Necrotisirung  der 
obersten  Schichten  in  das  Epithel  eingedrungen  sind.  Auf  der  Rachenschleimhaut  beginnt 
die  Bildung  des  Exsudates,  wie  Heubner  in  einer  vortrefi'lichen  Studie  klargelegt  hat,  un- 
ter den  obersten,  der  Mundhöhle  zunächst  gelegenen  Schichten.  Mit  der  Fortdauer  und 
der  Intensität  der  Exsudation  werden  auch  die  tieferen  Schichten  emporgehoben,  so  dass 
die  Membranen  eine  Dicke  von  mehreren  Millimetern  erreichen  können.  Sie  bestehen 
dann  aus  geschichteten  Fibrinmassen,  zwischen  denen  das  zum  Theil  hyalin  degenerirte  zum 
Theil  noch  erhaltene  Epithel,  sowie  namentlich  in  den  vorgeschrittenen  Stadien  zahlreiche 
Rundzellen  eingeschlossen  sind.  In  ähnlicher  ^\"eise  schildern  Goldmanij  und  MmDELDORPF 
die  Entstehung  der  Membranen  auf  der  Tracheaischleimhaut.  Die  Membran  ist  nach 
aussen  hin  scharf  begrenzt  durch  die  Basalmembran,  und  setzt  sich  in  Drüsenausführungs- 
gänge und  Lymphspalten  hinein  fort.  Auch  in  dem  angrenzenden  Bindegewebe  sowie  den 
benachbarten  Lymphdrüsen  finden  sich  Fibringerinnungen.  Nekrotische  Vorgänge  sind  im 
Wesentlichen  auf  das  Epithel  beschränkt,  und  vereinzelt  werden  sie  im  Bindegewebe 
gefunden.  Im  Gegensatz  zu  den  genannten  Autoren  nimmt  Oertel  an.  dass  die  Mehrzahl 
der  Menibranen  direct  aus  dem  Inhalt  von  submucös  im  Bindegewebe  gelegenen  nekro- 
biotischen  Herden  hervorgehe,  die  das  Epithel  emporheben,  sprengen  und  sich  auf  die 
Oberfläche  der  Schleimhaut  ergiessen  (secundäre  Membranen).  Die  Schilderung  der  kli- 
nischen Verhältnisse  und  der  Mangel  genauer  bacteriologischer  Angaben  lässt  es  nicht  un- 
wahrscheinlich erscheinen,  dass  Oertel's  treffliche  Darstellung  auf  die  Entstehungsweise  der 
bei  septischer,  mit  Streptococceninvasion  comphcirter  Diphtherie  sich  bildenden  Membranen 
passt  und  die  tiefliegenden  nekrobiotischen  Herde  nicht  so  sehr  der  diphtherischen  All- 
gemeinintoxication  als  dem  Eindringen  der  Streptococcen  ihre  Entstehung  verdanken. 

Die  Oberfläche  der  Membranen,  insbesondere  der  im  Rachen  befindlichen,  ist  mit  den 
verschiedenartigsten  Bakterien  insbesondere  mit  Coccen  besetzt.  In  älteren  Membranen 
findet  man  die  obersten  Schichten  davon  durchwachsen.  Unter  diesen,  näher  der  Schleim- 
haut trifft  man  auf  die  charakteristischen  Stäbchen,  die  in  Haufen  gruppirt  oder  pallisaden- 
artig  angeordnet  sind.  Die  der  Schleimhaut  zunächst  Hegende  Schicht  ist  frei  von  Bakte- 
rien. Nur  da  wo  neben  den  Bacillen  die  kettenförndgen  Coccen  vorhanden  sind,  sieht 
man  diese  noch  weiter  in   das  Gewebe   und  insbesondere  in  die  Lymphspalten  eindringen. 

Das  Stadium  eruptionis  beginnt  mit  dem  Erscheinen  der  Membran,  die 
sich  theils  durch  Weiterschieben  der  Ränder,  theils  durch  Confluiren  mit  den 
in  der  Umgebung  entstandenen  Membranen  zu  einem  den  ganzen  Eachen 
auskleidenden  Belage  ausbreiten  kann.  Stets  geht,  wie  Klebs  gezeigt,  der 
Entstehung  der  Membran  die  Ansiedlung  freiliegender  Bacillen  auf  der  Schleim- 
hautoberfläche vorher.  Entsprechend  dem  Sauerstoöbedürfnis  und  der  Vor- 
liebe der  Bacillen  für  das  Cylinderepithel  schreitet  der  Belag  von  dem  Rachen 
nach  den  Luftwegen  fort,  wo  er  erst  an  den  Alveolen  der  Lunge  Halt  macht. 

In  der  Regel,  schwere  Fälle  ausgenommen,  bleibt  der  Bacillus  auf  die 
Oberfläche  dieser  Schleimhäute  beschi^änkt  und  der  übrige  Organismus  wiixl 
nur  durch  die  Resorption  der  von  ihnen  producirten  Toxine  in  Mitleidenschaft 
gezogen.  Dabei  scheinen  die  fi'ei  der  Schleimhaut  aufliegenden  Bacillen  von 
grösserer  Bedeutung  zu  ^ein,  als  die  in  die  gefässlosen  Membranen  ein- 
geschlossenen.   Die  Schwere  der  toxischen  Erscheinungen  hängt  ab 

1.  von  der  Menge  der  Bacillen,  respective  der  Ausdehnung  der  von 
ihnen  ergriffenen  Schleimhautoberfläche; 

2.  von  dem  Virulenzgrade,  d,  h.  der  Fähigkeit  der  Bacillen,  Toxin  zu 
produciren.  Man  kann  sagen,  dass  bei  schwer  verlaufenden  Fällen  meist 
hochvirulente  Bacillen  gefunden  werden,  doch  nicht  umgekehrt; 

3.  von  den  Resorptionsverhältnissen,  welche  sich  an  der  gerade  er- 
griffenen Schleimhaut  voi'finden; 


DIPHTHERIE.  427 

4.  von  der  individuellen  Widerstandsfähigkeit  gegenüber  den  Toxinen. 
Dieselbe  ist  wie  oben  auseinandergesetzt,  bei  Kindern  in  der  Kegel  gering, 
bei  Erwachsenen  dagegen  nicht  selten  so  gross,  dass  trotz  zahlreicher  auf  der 
Schleimhautoberfläche  vorhandenen  virulenten  Diphtheriebacillen  die  diphthe- 
rischen Intoxicationserscheinungen  völlig  ausbleiben  können.  Da  wo  sie  in 
Erscheinung  treten,  kommt  es  ähnlich  wie  bei  den  Thierversuchen  zu  Albu- 
minurie, Unregelmässigkeit  der  Herzthätigkeit  und  nach  Ablauf  der  Er- 
krankung zu  multipler  peripherer  Neuritis.  Ob  das  die  Diphtherie  meist 
begleitende  Fieber  und  die  Leucocytose  auf  die  Resorption  der  Proteine  oder 
auf  die  Wirkung  der  gleichzeitig  vorhandenen  Streptococcen  zurückzuführen 
ist,  bleibt  noch  unentschieden.  Dagegen  ist  eine  dritte  Reihe  von  Symptomen : 
die  suppurativen  Lymphdrüsenentzündungen,  Pneumonien,  Otitis,  Gelenker- 
güsse etc.  mit  Sicherheit  auf  die  Misch-  und  Secundärinfection  mit  den 
pyogenen  Coccen  zu  beziehen. 

Geht  die  Erkrankung  in  Heilung  aus,  so  schwinden  die  Symptome 
in  anderer  Reihenfolge.  Am  frühesten  erlischt  das  Fieber  und  die  damit  zu- 
sammenhängenden Erscheinungen,  soweit  es  nicht  durch  Complicationen  unter- 
halten wird.  Zu  welchem  Zeitpunkt  die  Wirkung  der  Toxine  erlischt,  ist 
schwer  zu  bestimmen,  da  die  durch  sie  gesetzten  Veränderungen  mit  ihren 
Folgezuständen  sich  noch  weit  in  die  Reconvalescenz  hineinerstrecken  können. 
Als  letztes  der  eigentlich  diphtherischen  Symptome  schwinden  die  örtlichen 
Veränderungen,  die  Membranen,  die  oft  noch  zu  einer  Zeit  bestehen  können, 
in  welcher  jede  Spur  von  Allgemeinerscheinungen  fehlt.  Die  durch  Secundär- 
infection veranlassten  Complicationen  laufen  unabhängig  von  diesen  Vorgängen 
nebenher.  Den  Schlüssel  für  das  Verständnis  dieses  Heilungsmechanismus 
liefert  die  früher  erwähnte  Fähigkeit  des  empfänglichen  Körpers,  unter  dem 
Einfluss  des  Krankheitsprocesses  gewisse  antitoxisch  wirkende  Stoffe  zu  bilden. 
In  dem  Maasse,  in  dem  diese  Fähigkeit  mit  der  Dauer  der  Krankheit  erstarkt, 
werden  die  angesammelten  und  die  neugebildeten  Giftmengen  vernichtet,  nur 
ein  kleiner  Theil  derselben  wird  durch  den  Urin  ausgeschieden.  Die  örtlichen 
Vorgänge  werden  erst  später  von  diesem  Immunisirungs-Vorgange  berührt. 
Der  Einfluss  desselben  äussert  sich  zumeist  darin,  dass  die  weitere  Aus- 
breitung der  Membranen  sistirt,  ohne  dass  zunächst  wenigstens  die  Vege- 
tationsfähigkeit der  Bacillen  auf  der  Schleimhaut  beeinträchtigt  erscheint. 
Das  Letztere  würde  erst  später  bei  Entwickelung  des  immunen  Zustandes 
eintreten,  allein  schon  ehe  dieser  erreicht  wird,  laufen  in  den  Membranen 
selbst  Vorgänge  ab,  die  einen  rascheren  Zerfall  und  ein  allmäliges  Ver- 
schwinden der  Bacillen  herbeiführen.  In  dem  Maasse,  in  welchem  der  Austritt 
flbrinogener  Substanz  aus  den  Gefässen  sistirt,  zeigen  die  Membra^en  gewisse 
Alterserscheinungen.  Von  der  Oberfläche  her  wandern  zahlreiche  Sapro- 
phyten,  insbesondere  Staphylococcen  in  dichten  Schwärmen  ein,  zwischen 
denen  die  Diphtherie-Bacillen  nahezu  verschwinden  und  es  erscheinen  viel- 
leicht angelockt  durch  die  aus  den  absterbenden  Bakterien  frei  werdenden 
Proteine  zahlreiche  Leukocyten  mit  wohl  erhaltenen  Kernen.  Dadurch  wird 
die  Consistenz  und  der  Zusammenhang  der  Membranen  gelockert,  die  zierlichen 
Fibrinnetze  und  Bälkchen  des  Faserstoö'gerüstes  verschwinden  und  die  ganze 
Membran  wird  schliesslich  in  eine  breiige,  gelbliche  Masse  umgewandelt,  die 
durch  Schlingbewegungen  leicht  entfernt  werden  kann  und  unter  welcher  die 
epithelentblösste  Schleimhaut  zu  Tage  tritt. 

Klinischer  Verlauf  der  Diphtherie:  Bei  der  Schilderung  des  klini- 
schen Bildes  der  Diphtherie  ist  zu  beachten,  dass  die  am  meisten  hervortre- 
tenden örtlichen  Symptome  und  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch  die  Inten- 
sität der  toxischen  Erscheinungen  durchaus  abhängig  sind  von  der  Localisation 
der  Erkrankung  und  daher  eigentlich  für  jede  Körperregion  verschieden  sind. 
Eine  weitere  Reihe  von  Complicationen  erleidet  dasselbe  durch  das  Hinzutreten 


428  DIPHTHERIE. 

anderer  pathogener  Bakterienarten,  insbesondere  der  Streptococcen,  denen 
wiederum  eine  geradezu  unabsehbare  Mannigfaltigkeit  der  im  Organismus 
bewirkten  Störungen  zukommt.  Angesichts  der  Unmöglichkeit  einer  erschöpfen- 
den Darstellung  derselben  beschränke  ich  mich  auf  die  Schilderung  derjenigen 
Form,  in  welcher  die  Diphtherie  weitaus  am  häufigsten  und  verschiedenartig- 
sten auftritt:  der  Rachendiphtherie  mit  ihren  Folgezuständen  und  verweise 
betreffs  der  anderen  auf  den  Abschnitt,  der  von  den  selteneren  Localisationen 
der  Diphtherie  handelt. 

Man  unterscheidet  zunächst  primäre  und  sekundäre  Diphtherie  d.  h. 
solche,  die  im  Anschluss  an  andere  Erkrankungen  entstanden  sind.  Unter 
den  primären  uncomplicirten  Rachendiphtherien  ist  es  zweckmässig  nach  der 
grösseren  oder  geringeren  Ausbreitung  der  Membranen  eine  localisirte  und 
eine  progrediente  Form  der  Diphtherie  zu  trennen.  Die  Intensität  der 
toxischen  Erscheinungen  geht  zumeist  parallel  mit  der  örtlichen  Ausdehnung 
der  Affection.  In  den  seltenen  Fällen,  wo  sie  bei  verhältnismässig  unbedeu- 
tender Membranbildung  in  den  Vordergrund  der  klinischen  Bilder  tritt,  kann 
man  von  einer  hypertoxischen  Form  der  Diphtherie  sprechen.  Diese 
Gruppe  von  Fällen,  bei  welchen  es  sich  im  Wesentlichen  um  Störungen  han- 
delt, die  durch  die  Lebensthätigkeit  des  Löftler'schen  Bacillus  allein  hervor- 
gebracht sind  (die  Angine  diphtherique  pure  Grancher's)  stehen  diejenigen 
gegenüber,  in  welchen  neben  dem  Diphtherie-Bacillus  noch  andere  pathogene 
Mikroorganismen  bestimmenden  Einfluss  auf  den  Krankheitsverlauf  haben; 
unter  diesen  als  wichtigste  die  durch  Mischinfection  mit  Streptococcen  veran- 
lasste septicaemische  Diphtherie.  Eine  strenge  Trennung  der  einzelnen 
Formen  lässt  sich  übrigens  nicht  durchführen  und  gerade  bei  der  Rachen- 
diphtherie fehlen  septische  Erscheinungen  fast  in  keinem  Falle. 

Die  im  Rachen  localisirte  Diphtherie  ist  diejenige  Form,  an  wel- 
cher vorzugsweise  ältere  Kinder  und  Erwachsene,  kurz  die  wenigen  disponirten 
Individuen  erkranken.  Vor  dem  5.  Lebensjahre  Avird  sie  ungleich  seltener 
beobachtet.  Ihr  Beginn  ist  manchmal  unbemerkt,  meist  aber  durch  eine  deut- 
liche fieberhafte  Erhebung  gekennzeichnet.  Dieselbe  ist  von  Mattigkeit,  Un- 
lustgefühl  auch  wohl  Kopfschmerz  begleitet.  Schlingbeschwerden  sind  meist, 
doch  nicht  immer  vorhanden.  Untersucht  man  den  Rachen  ganz  im  Beginn, 
so  trifft  man  denselben  deutlich  gerötliet,  die  Schleimliaut  feucht  glänzend, 
leicht  ödematös,  die  Tonsillen  massig  geschwellt.  Die  Bildung  der  Mem- 
branen beginnt  meist  auf  einer  Tonsille,  indem  sich  ein  oder  mehrere  weisse 
Plaques_  auf  der  Höhe  der  Schleimhautwülste  erheben.  Seltener  bilden  sie  sich 
zuerst  in  den  Lakunen  und  zeigen  dann  meist  zarte  reifartige  Höfe  um  die 
Ränder.  Durch  Vorschieben  derselben  fliessen  sie  schliesslich  zu  gebuchteten 
Figuren  oder  zu  einer  die  ganze  Tonsille  bedeckenden  Membran  zusammen. 
Sehr  frühzeitig  greift  die  Erkrankung  auf  die  andere  Tonsille  zumeist  auf  die 
prominenteste  Stelle  derselben  über ;  auch  die  entsprechende  Stelle  der  Seiten- 
wand des  Zäpfchens  und  die  Spitze  des  Gaumenbogens  bedeckt  sich  mit  den 
gleichen  Belägen.  Dieselben  zeigen  im  Vergleich  zu  den  gleich  zu  erwäh- 
nenden eine  mehr  morsche  Consistenz,  lassen  sich  nur  in  kleinen  Fetzen  und 
unter  Verletzung  der  Schleimhaut  abziehen.  Die  submaxillaren  Lymphdrüsen 
sind  geschwellt  und  etwas  auf  Druck  empfindlich.  Die  sämmtlichen  Verän- 
derungen können  sich  in  Zeit  von  2 — 4  Tagen  entwickeln;  dann  sinkt  das 
Fieber,  die  weitere  Ausdehnung  der  Membranen  sistirt,  sie  lösen  sich  ab  oder 
gehen  die  früher  erwähnten  Veränderungen  ein.  Appetit  und  Wohlbefinden 
der  Kranken  kehren  wieder  und  in  w'eiteren  3 — 5  Tagen  ist  der  Kranke  l)is 
auf  eine  stärkere  Röthung  der  Rachenorgane  wieder  genesen.  Neben  dieser 
leichtesten  Form  werden  aber  auch  alle  Ueliergänge  zu  den  septischen  mit 
hohem  Fieber,  Albuminurie  und  Drüsenschwellungen,  sowie  solche  mit  Aus- 
breitung   der   Membranen    auf    die    hintere    Rachenwand,    vorübergehender 


DIPHTHERIE.  429 

Schweratlimigkeit  und  nachfolgenden  Lähmungen  beobachtet.  Auch  die  Dauer 
kann  eine  abnorm  lange  sein,  indem  bei  sonst  ungestörtem  Allgemeinbefinden 
einzelne  diphtherische  Plaques  durch  40  und  mehr  Tage  unverändert  bestehen 
bleiben.  (Cadet  de  Gassicourt.) 

Die  progrediente  Form  der  Diphtherie  kommt  im  Gegensatz 
zu  den  vorigen  mehr  in  den  früheren  Lebensjahren  vor  und  sie  ist  es,  welche 
die  enorme  Sterblichkeit  an  Diphtherie  in  dieser  Lebensperiode  veranlasst. 
Sie  beginnt  womöglich  noch  unauffälliger  als  die  vorige  ;  insbesondere  werden 
Schlingbeschwerden  nicht  oder  erst  spät  von  den  Kindern  angegeben.  Häufig 
gibt  erst  die  Mattigkeit,  Blässe  und  Stille  des  kleinen  Patienten  oder  eine  leichte 
Temperatursteigerung  Veranlassung  zur  Untersuchung  des  Ptachens,  der  dann 
oft  schon  grossentheils  mit  Membranen  ausgekleidet  ist.  Daneben  erscheint 
die  Rachenschleimhaut  nur  wenig  geröthet  und  geschwellt.  Auch  hier  ist  der 
Beginn  in  der  Piegel  einseitig,  von  ein  oder  zwei  fibrinösen  Plaques  aus- 
gehend; eine  multiple  disseminirte  Bildung  derselben  wie  in  der  vorigen  Form 
wird  kaum  beobachtet. 

Die  Membranen  sind  deutlich  über  die  Schleimhaut  erhaben,  scharf- 
randig,  von  zäh  elastischer  Consistenz  und  lassen  sich  in  grösseren  Fetzen  von 
der  Schleimhaut  abziehen.  Sie  breiten  sich  ungemein  rasch  in  die  Fläche 
aus,  springen  auf  die  andere  Tonsille  über,  überziehen  diese  und  die  Uvula 
mit  zusammenhängenden  Belägen.  Auch  die  anstossenden  Partien  der  Gaumen- 
bögen und  die  hintere  Rachenwand  werden  damit  bedeckt.  Behinderte  Nasen- 
athmung  und  seröser  Ausfluss  deuten  darauf  hin,  dass  auch  die  hinteren 
Partien  der  Nase  ergriffen  sind,  jedoch  nur  in  seltenen  Fällen  reichen  die 
Membranen  so  weit  nach  vorne,  dass  die  Membranen  in  den  Nasenlöchern 
sichtbar  werden.  Am  meisten  gefürchtet  ist  das  Uebergreifen  der  Membranen 
auf  den  Larynx.  Es  geschieht  dies  oft  sprungweise,  ohne  dass  die  hintere 
oder  seitliche  Rachenwand  angegriffen  zu  sein  braucht  und  in  schweren  Fällen 
schon  am  zweiten,  dritten  Krankheitstage.  Heiserkeit,  rauher  bellender  Husten, 
Aphonie  sind  die  Vorläufer.  Alsdann  kommt  es  zu  dem  schon  früher  ge- 
schilderten Bilde  der  Laryngostenose  und  des  absteigenden  Croup.  Die  be- 
gleitenden Erscheinungen  können  äusserst  stürmische  sein  von  Anfang  an 
hohes,  kaum  remittirendes  Fieber  mit  hochgradiger  Mattigkeit,  Blässe,  Be- 
nommenheit, starke  Schwellung  der  submaxillaren  Lymphdrüsen  und  Album- 
inurie. In  anderen  Fällen  besteht  nur  geringes,  unregelmässiges  Fieber  und 
geringe  Störung  des  Allgemeinbefindens  solange  die  Erkrankung  die  Trachea 
nicht  erreicht  hat  und  steigt  erst  nach  vorgenommener  Tracheotomie.  Der 
Process  kann  übrigens  an  jeder  beliebiger  Stelle  Halt  machen  und  in  Heilung 
übergehen.     Die  mittlere  Dauer  dieser  Fälle  beträgt  8 — 14  Tage. 

Nicht  immer  ist  Rachen  und  Trachea  so  gleichmässig  ergriffen.  Die 
Rachenaffection  kann  unbedeutend,  localisirt  auftreten ;  sie  kann 
schon  abgelaufen  sein,  wenn  ganz  plötzlich  und  unerwartet  die  Larynxdiphtherie 
einsetzt.  Andere  Male  besitzt  die  Aff'ection  eine  ganz  auffällige  Tendenz,  nach 
Mund  und  Nase  fortzuschreiten.  Alsdann  bedecken  sich  der  harte  Gaumen, 
Kiefer,  Lippen,  Nasenlöcher  mit  diphtherischen  Membranen,  während  der 
Larynx  verschont  wird.  Da  wo  nicht  durch  das  unautlialtsame  Fortschreiten 
der  Membranen  der  suffocatorische  Tod  herbeigeführt  wird,  sieht  man  die  eine 
oder  andere  der  toxischen  Erscheinungen  das  Bild  beherrschen.  So  kann  ein 
plötzliches  Sinken  des  Blutdrucks,  eine  fahle  Blässe,  kleiner,  unregelmässiger, 
verlangsamter,  zuletzt  unzählbarer  Puls,  Verbreiterung  der  Herzdämpfung  auf- 
treten und  zum  Tod  im  Collaps  führen.  Oder  nach  Rückbildung  der  ül)rigen 
Erscheinungen  bleibt  hochgradige  Albuminurie,  Anämie,  Anorexie,  Schwäche 
des  Kindes  bestehen.  Es  kommt  zu  leichten  Oedemen  und  schliesslich  zum 
Exitus  unter  urämischen  oder  hydropischen  Erscheinungen. 


430  DIPHTHERIE. 

Verminderte  Beweglichkeit  am  weichen  Gaumen,  ungleiche  Höhe  der 
Gaumenbögen  werden  nicht  selten  noch  auf  der  Höhe  und  unmittelbar  im 
Anschluss  an  besonders  heftige  örtliche  Entzündungserscheinungen  beobachtet 
und  sind  wahrscheinlich  als  eine  durch  Oedem  oder  Degeneration  der  Muskel- 
fasern bedingte  Functionsstörung  aufzufassen.  Terschieden  davon  sind  die 
Lähmungen,  welche  erst,  nachdem  die  Rachenerkrankung  bereits  ihre  Ahme 
Überschlitten  oder  in  voller  Eeconvalescenz  1 — 2  Wochen  nach  Schwund  der 
Membranen  bisweilen  auch  noch  später  sich  einstellen.  Sie  werden  als  posV 
diphtherische  Lähmungen  bezeichnet.  Sie  entsprechen  im  anatomischen 
wie  im  klinischen  Bilde  einer  peripheren,  multiplen,  degenerativen  Neuritis, 
von  der  sie  sich  jedoch  durch  die  gesetzmässige  Entwicklung,  den  fieberlosen 
Verlauf  und  das  Fehlen  der  Schmerzen  und  Parästhesien  unterscheiden.  Als 
Vorbote  derselben  schwindet  häufig,  doch  nicht  immer  das  Kniephänomen,  um 
oft  erst  nach  Monaten  wieder  zu  erscheinen.  Den  Beginn  macht  die  Gaumen- 
lähmung :  die  Sprache  wii'd  näselnd,  Getränke  regurgitiren  durch  die  Xase 
und  die  Untersuchung  ergibt  alsdann  eine  totale  Uubeweglichkeit  des  weichen 
Gaumens,  die  nach  4 — 6  Wochen  wiederum  verschwindet.  Dabei  kann  die 
Sache  ihr  Bewenden  haben  oder  es  schliesst  sich  eine  Accommodationsparese 
an ;  die  Kinder  können  nicht  mehr  in  der  Xähe  lesen.  Andere  Augenmuskel- 
störungen, Lähmung  des  Abducens  oder  totale  Ophthalmoplegie  werden  nur  in 
den  schwersten  Fällen  beobachtet.  Nächst  Gaumen  und  Ciliarmuskel  wird  die 
Musculatur  des  Stammes  und  der  Extremitäten,  insbesondere  der  unteren,  mit 
Vorliebe  befallen.  Der  Kranke  ermüdet  rasch,  der  Gang  wird  unsicher,  schwan- 
kend; die  Bewegungen  der  Beine  zeigen  deutliche  Ataxie.  Auch  der  Hände- 
druck wird  schwächer :  feinere ,  Bewegungen  können  nicht  mehr  ausgeführt 
werden.  Schliesslich  nimmt  die  Schwäche  so  zu,  dass  die  Glieder  nicht  melu' 
von  der  Unterlage  erhoben  werden  können,  die  Sehnem'eflexe  sind  erloschen, 
während  die  Hautreflexe  erhalten  bleiben ;  die  Muskeln  magern  rapid  ab  und 
zeigen  Schwund  der  faradischen  und  deutliche  Entartungsreaktion.  Sensibilität 
und  vor  allem  der  Piaumsinn  ist  herabgesetzt,  so  dass  die  Form  der  Gegen- 
stände nicht  mehr  durch  das  Gefühl  erkannt  wird.  Auch  die  Muskeln  des 
Stammes  sowie  das  Zwerchfell  werden  ergrifi'en  und  es  können  dadurch  direct 
das  Leben  bedi'ohende  Erscheinungen  hervorgerufen  werden.  Husten  und  lautes 
Sprechen  werden  unmöglich,  die  Athmung  wii'd  sehr  frequent,  rein  thorakal,  das 
Abdomen  inspii-atorisch  eingezogen.  Der  Patient  geht,  wenn  die  Störung  andauert, 
in  einem  Anfall  von  Dyspnoe  zu  Grunde.  Eine  andere  der  Diphtherie  eigenthümliche 
Lähmungsform  ist  die  sensil)le  Kehlkopfs-  oder  Schlundlähmung.  Es  besteht  Anä- 
sthesie und  Ai'eflexie  der  Schleimhaut  des  Piachens  und  des  Kehlkopfeinganges, 
häufig  auch  leichte  Motilitätsstörung  im  Larynx.  Bei  jedem  Versuch  zu  schlingen 
gelangen  Speisetheile  in  die  Luftröhre  und  erregen  anhaltende  Hustenparo- 
xysmen  und  Erbrechen.  Am  bedrohlichsten  ist  die  Lage,  wenn  sich  noch  Er- 
scheinungen von  Seiten  des  Herzens  hinzugesellen,  die  alsdann  wahrscheinlich 
auf  einer  Erkrankung  der  die  Herzactionen  regulirenden  Xerven  beruhen  und 
meist  mit  dem  Tode  des  Patienten  enden.  Falls  jedoch  der  Ivi-anke  nicht  den 
durch  die  Lähmungen  bedingten  Functionsstörungen  erliegt,  kann  selbst  in 
den  hochgradigsten  Fällen  noch  Heilung  und  volle  Wiederherstellung  eintreten, 
freilich  oft  erst  nach  Monaten  und  Ziemssex  hat  in  einem  Falle  noch  nach 
Ablauf  eines  Jahres  Abweichungen  der  Xerven  von  dem  normalen  elektrischen 
Verhalten  constatirt. 

Die  während  und  nach  Ablauf  der  Diphtherie  auftretenden  Störungen 
der  Function  des  Herzens  sind  gerade  in  letzter  Zeit  Gegenstand  ein- 
gehender Untersuchungen  geworden  (  Veeoxese,  Heubxer).  In  fast  allen  schwe- 
reren Fällen  von  Diphtherie  wird  meist  schon  in  der  ersten  Krankheitswoche 
ein  beträchtliches  Sinken  des  Blutdruckes  constatirt.  Schon  in  dieser  Zeit  kann 
unter   den    oben   geschilderten   Erscheinungen    der    acute    Herztod  eintreten, 


DIPHTHERIE.  431 

wobei  dann  vorwiegend  degenerative  Erscheinungen,  Wirkungen  des  im  Blute 
kreisenden  Dipliteriekeims  an  den  Muskeln  vielleicht  auch  an  den  Ganglien  des 
Herzens  gefunden  werden.  Insbesondere  ist  dies  bei  den  septischen  Formen 
der  Diphtherie  der  Fall.  Verschieden  davon  ist  die  als  Myocarditis  diphtherica 
von  Leyden  und  Uneuh  geschilderte  Erkrankung.  Dieselbe  entwickelt  sich  nie- 
mals vor  Ablauf  der  ersten  Krankheitswoche.  Der  Puls  wird  klein,  unregelmässig, 
leicht  unterdrückbar,  die  Herztöne  sind  dumpf,  häufig  verdoppelt,  die  Herz- 
dämpfung nach  links,  namentlich  aber  nach  rechts  hin  verbreitert.  Die  Kinder 
scheuen  instinctiv  jede  stärkere  Bewegung,  haben  aber  sonst  weder  subjective 
noch  objective  auf  die  Herzerkrankung  hinweisende  Störungen.  Dauer  3 — 4 
Wochen,  Ausgang  meist  in  Genesung.  Die  spärlichen  pathologisch-anatomi- 
schen Befunde  zeigen  das  Bild  einer  interstitiellen  Myocarditis,  deren  Anfänge 
l)ereits  im  acuten  Stadium  der  Diphtherie  zu  erkennen  sind.  Derartige  Zu- 
stände werden  übrigens  auch  nach  anderen  Infectionskrankheiten  häufig  beob- 
achtet, so  dass  sie  nicht  als  für  Diphtherie  charakteristisch  betrachtet  werden 
können. 

Der  bekannteste  und  am  meisten  gefürchtete  Zufall  ist  die  am  Ende  der 
örtlichen  Erkrankung  oder  inmitten  der  Reconvalescenz  eintretende  acute 
Herzlähmung.  Sie  kommt  ausschliesslich  bei  etwas  älteren  Kindern  und 
nach  schwereren  Erkrankungen  vor.  Obgleich  keinerlei  ernsteren  Krankheits- 
symptome mehr  bestehen,  so  zeigen  die  Kinder  doch  eine  aufiallende  Schwäche, 
Blässe,  Schlaflosigkeit,  Unlust  zum  Spielen  und  zur  Nahrungsaufnahme.  Den 
eigentlichen  Anfall  pflegen  Brechreiz,  heftige  Schmerzanfälle  im  Epigastrium, 
auch  wohl  Diarrhoeen  anzukündigen.  Der  Puls  wird  klein,  unregelmässig,  sinkt 
vorübergehend  auf  60 — 40  Schläge.  Die  Leber  schwillt  an,  es  erscheint 
Eiweiss  im  Harn  und  unter  fortdauernder  Vergrösserung  der  Herzdämpfung 
tritt  in  Coma  der  Exitus  letalis  ein.  Manchmal  zieht  sich  der  Zustand  länger 
hin,  es  kommt  zu  wiederholten  Synkopeanfällen  und  bei  einer  zufälligen,  stär- 
keren Bewegung,  Aufsetzen,  Husten,  sinkt  der  Kranke  leblos  zurück.  Indess 
kommt  auch  Genesung  nach  einer  langedauernden  Pteconvalescenz  vor.  Eine 
einheitliche  Erklärung  dieser  Zufälle  steht  noch  aus.  Der  Umstand,  dass  sie 
zeitlich  mit  dem  Eintritt  der  neuritischen  Veränderungen  in  den  peripheren 
Nerven  zusammenfallen,  während  in  dem  Herzen  selbst  häufig  keine  entspre- 
chenden Läsionen  gefunden  wurden,  dass  ferner  für  einzelne  Fälle  directe 
Degenerationsprocesse  an  Nervus  vagus  und  am  Sympathicus  (Plexus  coeliacus) 
constatirt  worden,  macht  es  wahrscheinlich,  dass  diese  wenigstens  in  einem 
Theil  der  Fälle  die  Ursache  der  Herzlähmung  und  dass  diese  selbst  sonach 
Theilerscheinung  der  oben  erwähnten  multiplen  Neuritis,  sei. 

Vielfach  wird  der  Verlauf  auch  durch  das  Hinzutreten  anderweitiger 
bakterieller  Erkrankungen  complicirt.  Die  wichtigste  und  häufigste  derselben 
ist  die  Pneumonie  und  die  Bronchitis.  Dieselben  stellen  sich  meist  im 
Anschluss  an  Tracheal-  und  Bronchialdiphtherie  ein.  Die  letztere  bleibt  häufig 
nach  Abstossung  der  Membranen  zurück ;  besonders  gefährlich  ist  sie  bei 
kleinen  Kindern,  deren  Expektorationskraft  eine  so  geringe  ist.  Fast  regel- 
mässig findet  man  bei  diesen  die  letzten  Verzweigungen  der  Bronchien  mit 
eitrigem  Secrete  erfüllt.  Kleine  lobuläre  pneumonische  Herde  düi'ften 
bei  einigermassen  ausgedehnter  Erkrankung  des  Bronchialbaumes  kaum 
jemals  vermisst  werden  und  an  der  Entstehung  des  den  absteigenden 
Croup  begleitenden  Fiebers  betheiligt  sein.  Physikalisch  nachweisbar  werden 
sie  erst,  wenn  sie  eine  beträchtlichere  Grösse  erreicht  haben.  Sie  finden  sich 
meist  in  den  hinteren  und  unteren  Partien  der  Lunge.  Ihr  Verhalten  ent- 
spricht dem  der  gewöhnlichen  lobulären  Pneumonien.  In  Verbindung  mit  dem 
absteigenden  Croup  bilden  sie  eine  der  häufigsten  Todesursachen.  Ist  die 
Diphtherie  abgelaufen,  so  ist  der  günstige  Ausgang  die  Ptegel.  Die  nur  selten 


432  DIPHTHERIE. 

beobacliteten  Schluckpneimiomen  geben  zu  Lmigenabscess,  Gangrän  und  eitrigem 
Erguss  in  die  Pleura  Veranlassung. 

Auch  eigentlich  septische,  durch  Invasion  von  Streptococcen  veranlasste 
Complicationen  können  vorkommen,  so  die  gleich  zu  erwähnende  suppurative 
Entzündung  der  submaxillaren  Lymphdrüsen,  Otitis  media,  Ulcerationen  in 
Eachen  und  Nase,  Exantheme  und  Haemorrhagien  auf  der  Haut  etc.,  ohne  den 
Charakter  im  Allgemeinen  zu  ändern,  doch  bilden  diese  Fälle  den  Uebergang 
zu  den  folgenden  Gruppen  der  septicae mischen  Diphtherie.  Dieselbe 
kommt  in  allen  Lebensaltern  vor;  sie  ist  es,  die  gerade  bei  älteren  Kindern 
und  Erwachsenen  die  bösartig  verlaufenden  Fälle  ausmacht.  Li  den  schlimmsten 
Fällen  lässt  schon  der  Anblick  des  Kranken  die  Gefahr  erkennen.  Er  liegt 
kraftlos,  apathisch,  oder  in  leicht  benommenem  Zustande  zu  Bett.  Das  Gesicht 
ist  blass,  wie  gedunsen,  der  Teint  bleifarben.  Die  Seitentheile  des  Halses 
sind  stark  geschwellt;  doch  fühlt  man  die  beträchtlich  vergrösserten  Drüsen 
nur  undeutlich  inmitten  des  diffusen  Oedems  der  umgebenden  Weichtheile.  Die 
Augen  sind  glanzlos,  die  Nase  scharf  vorspringend,  leicht  cyanotisch  verfärbt; 
Nasenlöcher  und  Oberlippe  von  dem  serös-jauchigen  Nasensecret  excoriirt. 
Der  Mund  steht  offen  und  lässt  gleichfalls  eine  dünne  bräunlich  gefärbte 
Flüssigkeit  ausfliessen.  Es  besteht  Fötor  ex  ore.  Die  Lispection  ergibt  die 
Weichtheile  des  Rachens,  Tonsillen,  Gaumenbögen  und  Zäpfchen  stark  ge- 
röthet  und  so  geschwellt,  dass  der  Durchtritt  der  Luft  erschwert  ist;  auf 
denselben  ein  grauweisses,  schmieriges  Exsudat,  das  auch  die  hintere 
Eachenwand  und  den  Nasenrachenraum  bedeckt.  Dagegen  bleiben  die  Luft- 
wege oft  auffälliger  Weise  frei  und  selbst,  wenn  es  zur  Bildung  von  Mem- 
branen im  Kehlkopf  kommt,  erreicht  die  Athemnoth  selten  so  hohe  Grade,  dass 
die  Tracheotomie  nothwendig  wird.  Dabei  besteht  Anorexie  meist  auch  Un- 
fähigkeit zu  schlingen;  sehr  frequenter,  leicht  unterdrückbarer  Puls.  Die  Leber 
ist  vergrössert,  die  Milz  palpabel,  der  Urin  spärlich,  stark  eiweisshaltig;  die 
Extremitäten  kühl,  livid  verfärbt.  Der  Beginn  und  Verlauf  dieser  schwersten 
Fälle  ist  meist  ein  acuter,  sie  führen  in  wenigen  Tagen  zum  Tode.  Die 
Temperatur  ist  von  Anfang  an  oder  im  Verlaufe  normal,  eher  subnormal.  In 
anderen  derartigen  Fällen  trifft  man  auch  enorm  dicke,  knorpelharte  Mem- 
branen, deren  Unterfläche  bereits  in  stinkende  Fäulnis  übergegangen;  oder 
es  kommt  zu  ausgedehnterem  Gangrän  und  Zerfall  der  Schleimhaut,  der  dann 
in  der  Regel  vor  dem  Kehlkopf  oder  der  Trachea  Halt  macht.  Da  wo  die  Mem- 
branbildung auf  die  Trachea  fortschreitet,  unterscheidet  sie  sich  typisch  von 
den  festen  leicht  ablösbaren  Ausgüssen  der  vorigen  Form.  Man  findet  hier 
zarte,  dünne,  schwer  ablösbare  Beläge,  durch  welche  man  die  stark  geröthete 
und  mit  Hämorrhagien  besetzte  Schleimhaut  durchschimmern  sieht.  Wenn  die 
Erkrankung  weniger  stürmisch  auftritt,  ist  sie  von  hohem  Fieber  begleitet  und 
weist  eine  Menge  weiterer  Complicationen  auf.  Die  geschwellten  sub- 
maxillaren Lymphdrüsen  schmelzen  sammt  dem  umgebenden  Gewebe  zu  mächtigen 
Eiterhöhlen  ein,  in  deren  Grund  die  grossen  Halsgefässe  blossliegen.  Auf  dem 
Wege  der  Tuben  gelangt  septisches  Material  in  die  Paukenhöhle  und  ruft  dort 
eine  eitrige  Mittelohrentzündung  hervor.  Doch  wird  diese  Complication  sehr 
viel  seltener  beobachtet  als  nach  Scharlach.  Noch  seltener  erfolgt  eine  Aus- 
breitung der  Entzündung  von  der  Nase  auf  die  Conjunctiva.  Auf  der  Haut 
erscheinen  scharlachähnliche  Exantheme  und  Haemorrhagien.  Pneumonie,  Nephri- 
tis, ausgedehnte  Phlegmonen  und  selbst  ausgesprochen  pyämische  Erschei- 
nungen decimiren  noch  die  geringe  Zahl  derjenigen,  welche  die  erste  Attaque 
der  Krankheit  überstanden. 

Die  liier  gescliilderte  Form  der  Diphtherie  wurde  von  Teousseau  seiner  Zeit  als 
die  toxische  bezeichnet  tind  der  forme  infectieuse  (unserer  progressiven)  gegenübergestellt. 
In  der  That  ist,  wenn  man  von  der  multiplen  Localisation  der  Streptococcen  absieht,  die 
schwere,   die   Herzaktion  lähmende  Wirkung  des  combinirten   Streptoccocen-  und  Diplithe- 


DIPHTHERIE.  433 

rietoxins  die  weitaus  hervorstechendste  und  wichtigste  Eigenthümlichkeit  derselben.  Wenn 
ich  in  der  Eintheilung  der  Fälle  noch  einer  besonderen  hypertoxischen  Form  Erwähnung 
gethan  habe,  so  verstehe  ich  darunter  Fälle,  in  denen  die  Membranbildung  eine  noch 
geringfügigere,  die  toxische  Erscheinung  eine  noch  vehementere,  dagegen  die  sonst  septi- 
sche Fälle  auszeichnenden  Merkmale  (Lymphdrüsenschwellung  etc.)  fehlen.  Es  sind  dies 
die  Fälle,  welche  in  Zeit  von  Stunden,  manchmal  sogar  noch  ehe  es  zur  Bildung  von  Mem- 
branen gekommen,  der  Intoxication  erliegen.  Sie  gaben  Veranlassung  zu  der  auch  von 
Buhl  vertretenen  Ansicht,  dass  die  Membran  nur  die  Folgeerscheinung  der  diphtherischen 
Allgemeinintoxication  sei.  Nachdem  es  Morel  und  mir  gelungen,  auf  der  dunkelgerötheten 
Piachenschleimhaut  solcher  Fälle  virulente  Diphtheriebacillen  in  grosser  Zahl  nachzuweisen, 
kann  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  dass  es  sich  hier  zunächst  um  eine  örtliche  Affection 
handelt.  Ob  die  schwere  Intoxication  der  ungewöhnlichen  Zahl  und  Wirkung  der  atif  der 
Schleimhaut  befindlichen  Diphtherie-Bacillen  allein  oder  einer  foudroyant  verlaufenden 
septischen  Diphtherie,  bei  der  es  in  Anbetracht  der  kurzen  Zeit  noch  nicht  zu  den  typischen 
Localisationen  der  Streptococcen  gekommen,  zuzuschreiben  sei,  müssen  erst  weitere  Unter- 
suchungen entscheiden. 

Es  erübrigt  noch,  die  selteneren  Localisationen  und  Er- 
scheinungsweisen der  Diphtherie  in  Kürze  zu  erwähnen.  Nächst  dem 
Eachen  wird  am  häufigsten  die  Nasenhöhle  von  primärer  Diphtherie  be- 
fallen; ja  sie  erscheint  bei  Säuglingen  der  ersten  Monate  geradezu  der  be- 
vorzugte Sitz  derselben;  freilich  breitet  sie  sich  bei  diesen  von  dort  rasch 
nach  unten  zu  aus.  Sekundär  wird  sie  meist  vom  Rachen  aus  und  fast  regel- 
mässig bei  den  septischen  Formen  der  Diphtherie  befallen.  Die  klinischen 
Symptome  derselben  sind  Behinderung  der  Athmung,  Ausschnauben  oder  Sicht- 
barwerden der  Membranen,  seröser  ätzender  Ausfluss,  Schwellung  der  am  Mund- 
höhlenboden gelegenen  Lymphdrüsen.  Sie  kann  die  Rachenaffection  über- 
dauern und  kann  nach  Tobiesen  den  Bacillen  auch  nach  Ablauf  der  Er- 
krankung noch  durch  lange  Zeit  als  Aufenthaltsort  dienen.  Durch  die  Unter- 
suchungen Baginsky's  wissen  wir,  dass  die  als  Rhinitis  membranacea  bekannte 
gutartige  Erkrankung  diphtherischer  Natur  sein  kann.  Die  gleiche  Erfahrung 
machte  ich  in  einen  Falle  vom  Pharyngitis  crouposa,  einer  chronischen  fieber- 
losen pseudomembranösen  Entzündung  der  hinteren  Rachenwand. 

Die  primäre  Infection  der  Luftwege  ist  gegenwärtig  anscheinend  seltener 
geworden;  doch  behauptet  Maetin  neuerdings  auf  Grund  bakteriologischer  Be- 
funde, dass  die  Lunge  viel  öfter  als  man  annehme,  der  Ausgangspunkt  der  Diphthe- 
rie sei.  Meist  handelt  es  sich  um  ein  primäres  Befallenwerden  des  Kehlkopfes 
seltener  des  Bronchialbaumes;  katarrhalische  Erkrankungen  begünstigen  die  In- 
fection. Dieselbe  kann  dann  nach  oben  (Croup  ascendant)  nach  dem  Rachen  zu  oder 
nach  unten  fortschreiten  und  suffbcatorisch  den  Tod  herbeiführen.  Im  Ganzen 
ist  jedoch  die  Erkrankung  entschieden  gutartiger  und  hat  eine  bessere  Prognose 
als  der  vom  Rachen  absteigende  secundäre  diphtherische  Croup.  Das  häufigere 
Vorkommen  einer  durch  den  Diphtherie-Bacillus  veranlassten  Entzündung 
der  Conjunctiva  ist  erst  in  jüngster  Zeit  bakteriologisch  erwiesen  worden. 
Die  zwei  von  mir  beobachteten  Fälle  verliefen  unter  Fieber,  aber  ohne  aus- 
gesprochene Membranbildung  günstig  in  wenigen  Tagen.  Die  relative  Gut- 
artigkeit dieser  Localisationen  gegenüber  denen,  die  primär  im  Rachen  auf- 
treten oder  denselben  passiren,  ist  in  die  Augen  springend  und  dürite  wohl 
auf  den  Ausfall  bösartiger  Secundärinfectionen  zu  beziehen  sein,  während  in 
dem  entzündeten  Rachen  jederzeit  Streptococcen  und  andere  pathogene  Bakterien 
in  Menge  vorhanden  sind,  welche  den  diphtherischen  Process  compliciren 
können.  Von  geringerer  klinischer  Bedeutung  ist  die  Diphtherie  der  äusseren 
Haut  und  der  Wunden  (Brunner),  da  sie  stets  mit  anderen  pathogenen  Bak- 
terien combinirt  ist  und  sich  auf  von  vornherein  lädirte  und  unsauber  ge- 
haltene Stellen  beschränkt.  Sie  kann  durch  einfache  antiseptische  Behandlung 
und  Reinlichkeit  hintangehalten  werden.  Doch  kommen  ausnahmsweise  Läh- 
mungen nach  derselben  vor  (Roser).  Das  gleiche  gilt  von  der  Diphtherie  der 
Vulva,   wovon   Baginsky    einen  Fall    in  seinem  Lehrbuch   beschrieben  hat. 

Bibl.  med.  Wissenschaften    I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  ^ö 


434  DIPHTHERIE. 

Die  typische  Erscheinungsweise  der  diphtherischen  Localaffection  ist  die 
Membran,  die  wie  schon  früher  beschrieben,  je  nach  der  Art  des  Epithels,  auf  dem  sie  auf- 
sitzt und  den  ausserdem  noch  Yorhaudenen  Bakterien  beträchtliche  Verschiedenheiten  auf- 
weist. Indes  kommen  Fälle  vor,  in  Avelchen  die  Anwesenheit  der  DiphtheriebaciUen  ledig- 
lich entzündliche  oder  katarrhalische,  bisweilen  von  Fieber  begleitete  Zustände  auf  der 
Schleimliaut  hervorruft,  ohne  dass  es  jemals  zur  Bildung  fibrinöser  Exsudate  kommt.  Es 
sind  dies  die  von  Trousseau,  Gterhardt,  Jacoby  beschriebenen  diphtherischen  Anginen,  Diph- 
therien sine  ot'-pDcpa,  bei  denen  ich  zuerst  den  bakteriologischen  Kachweis  der  Diphtherie- 
baciUen erbracht.  Häufiger  scheint  dies  auf  anderen  Schleimhäuten,  so  der  Conjunctiva 
und  der  Laryuxschleimhaut  vorzukommen.  Die  Erkrankungen  sind  stets  leichter  Katur 
und  verlaufen  auch  bei  längerer  Dauer  ohne  toxische  Begleiterscheinungen. 


SeciUKläre  Diphtherien.  Es  gehört  zum  Begriffe  der  secundären  Dipli- 
therien,  dass  die  vorausgegangene  (primäre)  Erkranlvuug  in  einer  gewissen  ursäch- 
lichen Beziehung  zu  der  nachfolgenden  Diphtherie  steht.  Es  kann  dies,  wie  sclion 
früher  auseinandergesetzt,  in  einem  doppelten  Siime  der  Fall  sein,  einmal  durch  die 
Schaffung  localer  Zustände,  welche  die  Ansiedlung  der  Bacillen  begünstigen,  zwei- 
tens dui'ch  Terininderung  des  vorher  bestehenden  Grades  der  Giftfestigkeit  des  Or- 
ganismus. Das  Erstere  ist  der  Fall  beispielsweise  durch  die  entzündlichen  Vorgänge, 
die  sich  bei  Masern  in  den  Luftwegen,  bei  Scharlach  im  Bachen  abspielen,  und 
welche,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  für  die  Localisation  der  nachfolgenden  Diphtherien 
von  Bedeutung  sind.  Von  weit  grösserem  Interesse  ist  der  zweite  Punkt,  über  den 
wir  bis  jetzt  allerdings  noch  wenig  wissen.  Indes  spricht  das  gleich  zu  erwäh- 
nende verschiedene  Verhalten  der  secundären  Diphtherien  nach  Masern  und  Schar- 
lach entschieden  in  dem  Siime,  dass  durch  die  genannten,  vielleicht  auch  durch 
andere  Erkranlvungen  eine  Verminderung,  aber  auch  eine  Erhöhung  der  individu- 
ellen Giftfestigkeit  gegen  Diphtherie  hervorgerufen  werden  kann. 

In  diesem  Sinne  bieten  die  Masern  das  schlagendste  Beispiel.  Vielleicht 
schon  während,  jedenfalls  aber  nach  Ablauf  derselben  ist  die  Empfänglichkeit,  für 
Diphtherie  eine  wesentlich  gesteigerte.  Sie  pflegt  sich,  je  nachdem  mehr  die  obere 
oder  die  untere  Partie  der  Luftwege  von  dem  Masernkatarrh  betroffen  war,  in  der 
Nase,  Bachen,  auch  Conjunctiva,  oder  aber  im  Kehlkopf  und  Trachea  zu  localisii-en. 

In  dem  letzteren  weitaus  gefährlicheren  Falle  bildet  häufig  die  nach  Masern 
so  oft  zurückbleibende  Heiserkeit  den  Uebergang  zu  den  laryngostenotischen  Erschei- 
nungen der  KehUvopfdiphtherie.  Dieselbe  schreitet  dann  meist  imter  stürmischen 
Erscheinungen  und  hohem  Fieber  nach  der  Lunge  vor  und  tödtet  innerhalb  weniger 
Tage  durch  SuÖocation.  Nach  Moeel  sollen  jedoch  auch  sehr  gutartige  Formen 
vorkommen  und  manche  auffallend  lang  sich  hinziehende  Heiserkeit  nach  Masern 
auf  diphtherischer  Infection  beruhen.  Am  gutartigsten  scheint  die  Affection  der 
Nase  zu  sein,  die  nach  Ai't  der  Ehinitis  membranacea  verlaufen  kann.  Die  im 
Bachen  beginnenden  Fälle  sind  dubiös,  sie  haben  im  Allgemeinen  die  Tendenz,  sich 
nach  abwärts  auszubreiten.  Die  Häufigkeit  der  secundären  Diphtherie  nach  Masern 
weist  übrigens  grosse  örtliche  Verschiedenheiten  auf:  besonders  verheerend  tritt  sie 
in  den  mit  ungenügenden  IsoliiTäumen  versehenen  Kinderspitälern  auf.  Es  spricht 
dieser  Umstand  für  eine  dii'ecte  Infection  mit  diphtherischem  Virus.  Auf  der  an- 
deren Seite  ist  es  auffallend,  dass  der  nicht  vii"ulente  Pseudodiphtheriebacillus 
gerade  wähi'end  der  Masernei'krankuug  im  Munde  der  Kinder  besonders  häufig  an- 
getroffen wird. 

In  einem  gewissen  Gegensatz  hierzu  steht  das  Verhalten  der  Diphtherie 
nach  Scharlach.  Es  kann  heute  keinem  Zweifel  mehr  unterliegen,  dass  die  so- 
genannten Scharlachdiphtherien  (Hexoch's  PharjTigitis  necroticans)  trotz  der 
grossen  Aelmlichkeit  des  Krankheitsbildes  nichts  mit  der  echten  Diphtherie 
zu  thun  haben.  Ja  man  kann  sagen,  dass  die  Krauken  in  dieser  Periode  des  Scharlachs 
eher  eine  verminderte  Disposition  für  Diphtherie  besitzen,  indem  Complicatiouen  mit 
echter  Diphtherie  trotz  der  zu  aller  Zeit  gleichmässig  vorhandenen  Infectionsmöglichlveit 


DIPHTHERIE.  435 

erst  in  der  Reconvalescenz  in  der  zweiten  oder  dritten  Woche  nach  Beginn  der 
Erkrankung  aufzutreten  pflegen.  Dieselben  sind  im  Rachen  localisirt,  sie  können 
wie  in  den  von  mir  beobachteten  Fällen  darauf  beschränkt  bleiben  oder  aber  durch 
Absteigen  in  die  Luftwege  den  Patienten  tödten.  Immerhin  ist  ihr  Vorkommen 
ein  seltenes  und  mehr  noch  als  bei  den  Masern  auf  die  Spitäler  beschränkt.  Für 
andere  Infectionskrankheiten  sind  derartige  Beziehungen  zur  Diphtherie  nicht 
bekannt.  Drei  Fälle  von  Diphtherie,  die  ich  im  Yerlaufe  des  Keuchhustens  auf-^ 
treten  sah ,  endeten ,  obgleich  die  Tracheotomie  vorgenommen  werden  musste, 
günstig. 


Entsprechend  dem  wechselnden  klinischen  Bilde  ist  noch  der  pathologisch- 
anatomische  Befund  in  den  Leichen  der  an  Diphtherie  Verstorbenen  ein 
sehr  mannigfaltiger.  Allen  gemeinsam  ist  das  Vorhandensein  der  Membranen, 
deren  Zusammensetzung  bereits  früher  besprochen  wird  und  die  parenchymatöse 
Degeneration  der  inneren  Organe.  Oertel  hat  weiterhin  nekrobiotische  Herde, 
die  er  in  und  unter  dem  Epithel  der  Schleimhäute  des  Respirationstraktes  und 
des  Rachens,  in  den  benachbarten  Lymphdrüsen  und  der  Milz  aufgefunden, 
als  charakteristische  Aeusserungen  des  diphtherischen  Alrus  beschrieben. 
Sie  dürften  jedoch  eher  den  Streptococcen  zur  Last  zu  legen  sein. 

Bei  den  an  der  typischen  progressiven  Form  Gestorbenen  findet  man 
den  Bronchialbaum  bis  zu  den  kleinsten  Verzweigungen  mit  Membranen  aus- 
gegossen; in  den  Lungen  die  unteren  Partien  blutreich,  atelektatisch  die 
oberen  blass,  mit  Emphysemblasen  durchsetzt.  In  länger  dauernden  Fällen 
findet  man  lobulär  pneumonische  Herde,  in  den  Unterlappen  confluirend.  Die 
bakteriologische  Untersuchung  derselben  ergibt  neben  Diphtherie-Bacillen 
Pneumococcen  oder  Streptococcen.  Der  Verdauungstrakt  ist  wenig  verändert. 
Bei  ausgedehnter  Membranbildung  trifft  man  an  der  Cardia  und  im  Fundus 
des  Magens  auf  diphtherische  Membranen;  einmal  sah  ich  sie  auch  am  Anus. 
Plaques  und  Mesenterialdrüsen  sind  geschwellt.  Die  Milz  ist  meist  vergrössert, 
die  Follikel  geschwellt;  Leber  grösser,  blutreich,  stellenweise  verfettet.  Oertel 
beschreibt  in  der  Leber  wie  in  den  Nieren  Anhäufungen  von  Rundzellen  im  inter- 
stitiellen Gewebe.  Die  Nieren  zeigen  makroskopisch  ausser  Blutreichthum  keine 
Veränderung.  Auf  Schnitten  bemerkt  man  stark  erweiterte  Gefässe  und  degenera- 
tive Vorgänge  namentlich  an  den  Endothelien  der  Glomerulicapillaren,  schwächer 
an  den  Epithelien  der  Harnkanälchen.  Die  Lymphdrüsen  sind  vergrössert,  blut- 
reich; die  dem  diphtherischen  Herde  nahe  liegenden  zeigen  die  oben  erwähnten 
nekrotischen  Herde  und  Fibringerinnungen.  Das  Flerz  ist  gross,  schlaff;  die 
Herzhöhlen  erweitert,  die  Papillarmuskeln  abgeplattet.  Das  Muskelfleisch  ist 
gelblich  gesprenkelt,  brüchig.  DiemikroskopischeUntersuchung  älterer 
Fälle  zeigt  das  Bild  einer  acuten  interstitiellen  Myocarditis  mit  herdförmigen 
Kernwucherungen  zwischen  den  Muskelfasern;  daneben  bald  mehr,  bald  we- 
niger ausgesprochene  Veränderungen  der  Muskelfasern,  die  theils  fettig,  theils 
wachsartig  degenerirt  sind;  letzteres  insbesondere  bei  den  im  akuten  Stadium 
erlegenen  Fällen. 

Von  Welch  ist  vor  Kurzem  ein  Fall  mitgetheilt,  in  welchem  in  den  frischen  endo- 
carditischen  Veränderungen  ein  nicht  virulenter  Löfflerbacillns  nachgewiesen  wurde. 
Oertel  hat  im  Centralnervensystem  bei  acuten  Erkrankungen  Hyperämie  und  Blutungen 
gesehen.  Von  D^j^rine  und  Stadthagen  sind  im.  Rückenmark  entzündliche,  in  Skle- 
rose übergehende  Herde  beschrieben  worden. 

Die  wichtigsten  Veränderungen  und  insbesondere  diejenigen,  welche  das 
Bild  der  postdiphtherischen  Lähmungen  hervorrufen,  spielen  sich  erst  nach 
Ablauf  der  akuten  Erkrankung  in  dem  peripheren  Nervensystem  ab.  Ent- 
sprechend dem  klinischen  Bilde  einer  Polyneuritis  infectiosa  findet  man  in  den 
die  gelähmten  Partien  versorgenden  Nerven,  ausgesprochene  Degeneration  der 

28* 


436  DIPHTHERIE. 

Fasern  neben  interstitiellen  Wucherungsprocessen.  Von  Leydex  und  Hochhaus 
sind  auch  degenerative  Zustände  in  den  Muskeln  beobachtet. 

Diagnose.  So  leicht  die  Diphtherie  zu  erkennen  ist,  wenn  es  sich  um 
zusammenhängende,  dicke,  den  Rachen  und  Kehlkopf  auskleidende  Beläge, 
verbunden  mit  den  früher  beschiiebenen  Allgemeinerscheinungen  handelt,  so 
schwierig  kann  dies  bei  der  auf  die  Tonsillen  localisirten  oder  der  septischen 
Form  sich  gestalten;  ja  es  wird  zur  Unmöglichkeit,  wenn  sie  sich  in  der  Form 
der  diphtherischen  Angina  ohne  Spur  von  Membranbildung  darbietet.  Immerhin 
bietet  die  zäh-elastische  Consistenz  der  echten  diphtherischen  Membranen, 
die  sich  zwischen  Objectträgern  nur  schwer  und  unvollkommen  zerquetschen 
lassen,  die  Confluenz  und  die  Ausbreitung  werthvoller  Unterscheidungsmerkmale 
gegenüber  den  breiartigen  Belägen  gewisser  lacunärer  Anginen  der  Scharlach- 
Diphtherie  und  ähnlicher  Erkrankungen.  Allein  auch  wenn  feste,  zusammen- 
hängende, nicht  auf  die  Tonsillen  beschränkte  Membranen  vorhanden  sind, 
ist  eine  Täuschung  nicht  ausgeschlossen,  da  es  diphtheroide,  durch  Coccen 
veranlasste  Anginen  gibt,  welche  alle  diese  Merkmale  besitzen,  ja  sogar  auf 
den  Kehlkopf  fortschreiten  und  stenotische  Erscheinungen  hervorrufen  können. 
Ein  Punkt,  auf  welchen  ich  bei  der  Differentialdiagnose  grossen  Werth  zu 
legen  pflege,  ist  die  Albuminurie,  wenigstens  in  dem  Sinne,  dass  das  Vor- 
handensein derselben  entschieden  zu  Gunsten  der  Annahme  einer  diphtheri- 
schen Erkrankung  spricht.  Allein  alle  diese  Anhaltspunkte  sind  unsicher  und 
überall  da,  wo  ein  Zweifel  über  die  Diagnose  möglich,  sollte  man  das  ver- 
hängnisvolle Wort  Diphtherie  nicht  aussprechen,  bevor  man  nicht  versucht 
hat,  durch  eine  mikroskopische  oder  besser  noch  durch  eine  bakterio- 
logische Untersuchung  über  den  Fall  ins  Klare  zu  kommen.  In  Ueber- 
einstimmung  mit  Heubner  kann  ich  auf  Grund  mehrjähriger  Erfahrungen 
bestätigen,  dass  es  in  vielen,  vielleicht  den  meisten  Fällen  gelingt,  die  Diagnose 
schon  mikroskopisch  durch  den  Befund  der  charakteristischen  Stäbchen  zu 
bestätigen  oder  dieselbe,  was  noch  leichter  ist,  durch  den  Nachweis  zahlloser 
Coccen  oder  Bacteriengemenge  zurückzuweisen. 

Von  grossem  Nutzen  erwies  sich  mir  dabei  die  Verwendung  der  AVEiGERT'schen 
Fibrinfärbungsmethode,  welche  in  Bakteriengemengen  die  Stäbchen  deutlich  hervor- 
treten lässt  und  noch  den  weiteren  Vortheil  bietet,  die  Anwesenheit  und  Anordnung  des 
Fibrins  in  den  Membranen  in  schönster  AVeise  vorzuführen.  Da  wo  in  einem  deutlichen, 
dicken  Belag  Fibrin  fehlt,  x^flege  ich  von  vornherein  Diphtherie  auszuschliessen.  Umge- 
kehrt, findet  sich  Fibrin  in  reichlicher  Menge  und  gut  gefärbten  zierlichen  Netzen,  so 
würde  ich  auch,  wenn  es  mikroskopisch  nicht  gelingt,  Bacillen  zu  finden,  den  Fall  für 
dubiös  erklären. 

Zur  Erkennung  der  Bacillen  trägt  nicht  nur  ihre  Keulenform  und 
ihr  besonderes  Verhalten  gegenüber  den  Farbstoffen,  sondern  auch  ihre  La- 
gerung bei.  Sie  sind  meist  in  kleinen  Häufchen  gruppirt  oder  vereinzelt, 
paarweise  gekreuzt  zu  finden.  Ihre  Zahl  ist  gerade  in  den  acutesten  Fällen, 
in  welchen  sich  die  Membranen  rasch  erneuern  und  ausbreiten,  eine  nicht 
sehr  grosse;  deshalb  werden  sie  wohl  auch  in  den  Trachealmembranen  viel 
spärlicher  gefunden  als  in  den  Ptachenbelägen.  Dafür  sind  sie  aber  alsdann 
fast  in  Reincultur  vorhanden,  während  sie  in  älteren  Membranen  der  Mund- 
höhle neben  zahllosen  anderen  Bakterien  liegen.  Es  ist  dies,  insofern  man 
darin  eine  langsamere  Neubildung  erblicken  kann,  eher  ein  prognostisch  gün- 
stiges Zeichen;  freilich  kann  auch  ein  noch  schwerer  septischer  Process  an 
Stelle  des  diphtherischen  treten.  Freilich  gibt  es  Fälle,  in  welchen  die 
mikroskopische  Diagnose  im  Zweifel  lässt;  alsdann  bleibt  nur  die  bakteriologische 
Untersuchung  mittelst  des  Culturverfahrens.  Da  dasselbe  doch  nur  in  Spi- 
tälern mit  gut  eingerichteten  Laboratorien  durchgefülirt  werden  kann,  verzichte 
ich  hier  auf  die  Schilderung  desselben  (vgl.  Bd.  ^.Baderiologie  und  Hygiene^'} 
Es  ist  der  Vorschlag  gemacht  worden,  in  grösseren  Städten  besondere  Sta- 
tionen zu    errichten,    die  sich  mit   der  Durchfülirung   dieser  Untersuchungen 


DIPHTHERIE.  437 

befassen.  Einstweilen  wird  aber  sicherlicli  die  allgemeine  Einführung  und 
Uebung  der  mikroskopischen  Untersuchung  der  Membranen  die  Zahl  der  Fehl- 
diagnosen und  der  zweifelhaften  Fälle  um  ein  Wesentliches  verringern. 

Prognose.  Der  Verlauf  der  Diphtherie  ist  nach  Alter,  Constitution  der  Kinder, 
nach  dem  Charakter  der  Epidemie  sehr  verschieden.  Weitaus  am  höchsten 
ist  die  Sterblichkeit  in  den  ersten  5  Lebensjahren  und  sinkt  dann  rasch  mit 
dem  zunehmenden  Alter.  Der  Grund  dieses  Verhältnisses  liegt  darin,  dass 
die  Diphtherie  in  diesem  am  meisten  disponirten  Alter  auch  am  häufigsten 
die  rasch  tödtende  progressive  Form  annimmt,  während  die  weniger  disponirten 
höheren  Lebensalter  häufiger  an  der  gutartigen  localisii'ten  Form  erkranken. 
Es  geht  dies  aus  der  Häufigkeit  hervor,  mit  welcher  gerade  in  diesem  Lebens- 
alter die  Tracheotomie  ausgeführt  werden  muss.  Die  ungünstigen  Heilungs- 
percente  der  Tracheotomie  im  frühen  Lebensalter  sind  schon  fi'üher  (siehe 
Croup)  besprochen.  Nimmt  man  die  Mittelzahl  der  geheilten  Tracheotomien 
zu  27^0  an  und  rechnet  hiezu  ca  10%  Fälle,  in  welchen  die  Genesung  ohne 
Tracheotomie  eintritt,  so  erhält  man  für  die  progressive  Form  eine  Mortalität 
von  ca.  63 7o-  Noch  ungünstiger  gestaltet  sich  die  Prognose  der  Fälle  mit 
toxischem  oder  ausgesprochen  septischem  Charakter,  sie  düi'fte  hier  nahezu 
907o  erreichen.  Die  Mortalität  der  Diphtherie  im  Allgemeinen  wurde  bisher 
z\\ischen  20 — 40%  angegeben,  die  neueren  Statistiken,  in  denen  die  Diagnose 
dui'ch  den  Bacillenbefund  controliit  wurde,  weisen  mit  unheimlicher  Constanz 
eine  Mortalitätszifi'er  zwischen  45 — 50%  auf,  ein  Beweis,  dass  früher  unter 
der  Zahl  der  Diphtherien  manche  nicht  hierher  gehörige  Erkrankung  geführt 
wurde. 

Im  einzelnen  Falle  hängt  der  Ausgang  der  Diphtheritis  noch  wesentlich 
von  dem  Kräftezustande  des  Patienten  ab.  Es  bedarf  keines  Beweises, 
dass  schlecht  genährte,  durch  vorausgegangene  Erkrankungen  geschwächte 
Kinder  der  diphtherischen  Intoxication  und  den  Complicatiouen  leichter  er- 
liegen als  vorher  gesunde  und  gut  genälu'te.  Endlich  ist  noch  der  Charakter 
der  Epidemie  in  Betracht  zu  ziehen.  Derselbe  wird  bestimmt  durch  die 
Art  der  Erkrankung,  die  vorherrschend  dabei  beobachtet  wird,  sowie  durch 
Schwankungen  in  der  Art  und  der  Intensität  der  pathogenen 
Wirkung  der  Bacillen.  So  werden  in  manchen  Epidemien  auffallend  häufig 
Lähmungen  beobachtet,  während  sie  in  anderen  ein  seltenes  Vorkommnis  sind. 

Der  Einfluss  der  Therapie  macht  sich  in  unzweideutiger  Weise  bei 
den  durch  Tracheotomie,  resp.  Intubation  Geretteten  bemerkbar,  die  sonst 
sicher  der  Suffbeation  erlegen  wären.  Die  Bedeutung  der  coupirenden  ört- 
lichen Behandlung  ist  leider  durch  die  geringe  Zahl  der  für  ihre  Anwendung 
geeigneten  Fälle  beschränkt.  Auch  wenn  die  örtliche  Erkrankung  vorüber 
ist,  hat  man  immer  noch  an  die  Möglichkeit  des  acuten  Herztodes  oder 
schwerer  Paralysen  zu  denken  und  achte  deshalb  auf  die  dieselben  ankün- 
digenden Zeichen. 

Prophylaxe  imd  Therapie:  Erst  die  Entdeckung  des  Bacillus  hat  ^u 
einer  rationellen  Prophylaxe  und  Therapie  der  Diphtheritis  geführt.  Die 
ausschliessliche  Quelle  des  Contagiums  sind  die  Membranen  und  der  Aus- 
w^urf  der  Kranken.  Sobald  die  Krankheit  erkannt  oder  auch  nur  vermuthet 
wird,  ist  der  Patient  zu  isoliren;  etwa  noch  in  der  Familie  befindliche  Kinder 
sofort  aus  dem  Hause  zu  entfernen  und  bis  auf  Weiteres  ärztlich  zu  beobachten. 
Alle  Gegenstände,  die  mit  dem  Kranken  in  Berührung  kommen,  Wäsche, 
Essgeschirre,  Spielzeug,  Bücher  etc.  sind  nach  dem  Gebrauche  entweder  zu 
vernichten  oder  zu  desinficiren,  vrozu  schon  halbstündiges  energisches  Aus- 
kochen genügt.  Ueberflüssige  Möbel,  Vorhänge  u.  ä.  sind  aus  dem  Zimmer 
zu  entfernen.  Die  pflegenden  Personen  sollen  womöglich  mit  einem  beson- 
deren waschbaren  Rock  bekleidet,  beim  Verlassen  des  Zimmers  und  vor  den 
Mahlzeiten,  die  stets  in  einem  anderen  Räume  einzunehmen  sind,  die  Hände 


438  DIPHTHERIE. 

•waschen  und  desinficiren,  den  Mund  mehrmals  des  Tages  mit  antiseptischen 
Lösungen  ausgurgeln.  Es  ist  zu  beachten,  dass  der  Kranke  auch  nach  Schwund 
der  Membranen  noch  anstecken  kann  und  insbesondere,  dass  die  Zimmer,  in 
denen  er  sich  aufgehalten,  erst  nach  einer  ausgiebigen  Desinfection  und 
Lüftung  und  womöglich  nicht  vor  1 — 2  Monaten  wieder  bezogen  werden 
dürfen.  Leider  sieht  man  trotzdem  nicht  selten  weitere  Erkrankungen  in 
denselben  Räumen  nachfolgen. 

Die  Behandlung  der  Diphtheritis  zerfällt  ebenso  wie  die  Symptomatologie 
in  eine  örtliche  und  eine  allgemeine.  Die  örtlicheist,  insoferne  sie  auf 
die  Vernichtung  der  Bacillen  gerichtet  ist,  zugleich  die  causale  und  stellt, 
wenn  sie  ihren  Zweck  erreicht,  eine  Coupirung  des  Krankheitsprocesses  dar. 
Die  Untersuchungen,  welche  Löfflee  über  die  Wirkung  der  einzelnen  Anti- 
septika auf  die  Aussaat  und  die  Culturen  des  Diphtheritis-Bacillus  angestellt 
hat,  haben  endlich  Klarheit  und  Methode  in  die  Auswahl  der  Mittel 
gebracht.  Obgleich  die  Diphtheritis-Bacillen  zu  den  wenig  widerstands- 
fähigen Bacterien  gehören,  so  ist  doch  die  Concentration  derjenigen  Des- 
inficientien,  welche  die  Bacillen  schon  bei  kurz  dauernder  Berührung  tödten, 
eine  so  hohe,  dass  nur  kleine  Mengen  davon  in  Verwendung  kommen  können. 
Es  empfiehlt  sich  daher  neben  dieser  starken  antiseptischen  Lösung  noch  eine 
schwächere  zu  verwenden,  welche  ohne  Gefahr  der  Intoxication  in  grossen 
Mengen  angewandt  werden  kann  und  zur  mechanischen  Reinigung  der  Mund- 
höhle, zum  Loslösen  und  Wegschwemmen  der  gelockerten  Membranen  und 
zur  Auslaugung  der  darin  enthaltenen  Toxine  dient.  Dieselbe  kann  bei  älteren 
Kindern  (jenseits  des  3.  oder  4.  Lebensjahres)  als  Gurgelwasser  verordnet 
werden,  bei  jüngeren  Kindern  müssen  Ausspritzungen  des  Mundes  mittels 
Spritze  oder  Gummiballon  vorgenommen  werden.  Will  man  grössere  Flüssig- 
keitsmengen (1 — 2  Liter  pro  Sitzung)  durchspülen,  so  benützt  man  am 
besten  einen  über  dem  Bett  hängenden  Irrigator.  Die  Wahl  des  Zusatz- 
mittels zur  Flüssigkeit  ist  hier  von  untergeordneter  Bedeutung.  Als  Gurgel- 
wasser kann  Carhol  (ein  Kinderlöffel  einer  5^0  Lösung  auf  ein  Trinkglas 
Wasser),  Creolin  oder  Lysol  tropfenweise  in  ein  Glas  mit  gekochtem  Wasser, 
Kalkwasser  zu  gleichen  Theilen  mit  Wasser  gemischt  u.  A.  m.  benutzt 
werden.  Zu  den  Berieselungen  kann  man  bei  kleinen  Kindern  einfach  gekochtes 
Wasser,  bei  älteren  Ihymol  oder  Salicylsäure  1  :  1.000,  Borsäure  1 — 1^1  ^  ver- 
wenden. Auf  Henoch's  Empfeblung  hin  können  auch  Säuren,  Essigsäure, 
Milchsäure,  Salzsäure  zugemischt  werden,  nachdem  saure  Reaction  dem  Wachs- 
thum  und  der  Giftbildung  der  Diphtheritis-Bacillen  schädlich  ist. 

Zur  eigentlichen  Desinfection  dienen  Sublimat  oder  das  weniger  unan- 
genehm schmeckende  Hydrargyrum  cyanatum  1 — 2  :  1000,  Liquor  ferri  sesqui- 
chloraü  mit  1  oder  2  Theilen  Wasser  verdünnt,  Höllenstein  Va — l7o-  Die 
schonendste  und  zweckmässigste  Art  der  Application  geschieht  mittels 
des  Spray,  der  am  besten  aus  Glas  besteht  und  durch  ein  Metallgehäuse  ge- 
schützt wird. 

Eine  diesen  Zwecken  speciell  angepasste  Form  habe  ich  in  der  „Wiener  klinischen 
Wochenschrift  1893,  Nr.  7  n.  ff."  beschrieben.  Bei  Verwendung  desselben  wird  die  ganze 
erkrankte  Schleimhautpartie  mit  einer  gieichmässig  dünnen  Schicht  des  Antisepticums 
bedeckt.  Dieselbe  ist,  wie  ich  durch  Culturversuche  erwiesen,  im  Stande,  die  freiliegenden 
Bacillen  sofort  zu  tödten  und  dadurch  günstigen  Falles  das  Fortschreiten  der  Membranen 
zu  hindern. 

Die  Concentration  der  angewandten  Flüssigkeiten  genügt  aber,  wie  auch 
LöFFLER  gefunden,  nicht,  um  die  in  den  Membranen  enthaltenen  Bacillen  zu 
tödten,  und  damit  den  Herd  der  Krankheit  auch  thatsächlich  zu  zerstören.  Dies 
gelingt  erst  durch  die  gewaltsame  Ablösung  der  Membranen  und 
Desinfection  der  entblössten  Schleimhaut.  Man  benützt  dazu  meist  Pinsel 
oder  Wattebauschen,  die   an  der  Spitze  eines  Holzstäbchens  aufgedreht  und 


DIPHTHERIE.  439 

in  die  betreffende  Flüssigkeit  getaucht  werden.  Mir  hat  sich  ein  schon  von 
Bretonneau  angewandtes  Verfahren  am  besten  bewährt:  kleine,  nach  der 
Form  und  dem  Umfang  des  Rachens  zugeschnittene  Schwämme  werden  an 
einem  gut  fassenden  Schwammhalter  befestigt  und  in  die  Flüssigkeit  ein- 
getaucht. Der  Schwamm  wird  mit  oder  auch  ohne  Führung  des  Auges  in 
den  Rachen  eingeführt,  gegen  die  erkrankte  Stelle  angepresst  und  leicht  ge- 
dreht. Durch  die  Drehung  werden  erstlich  die  Membranen  in  relativ  scho- 
nender Weise  entfernt  und  gleichzeitig  eine  frische  mit  dem  Desinficiens  ge- 
tränkte Stelle  des  Schwammes  auf  die  nunmehr  entblösste  Schleimhaut  ge- 
bracht. Ich  pflege  bei  einer  Sitzung  ca.  5  Schwämme  zu  benützen,  die  Aus- 
wischung aber  nicht  öfters  als  ein-,  höchstens  zweimal  des  Tages  und  nur  an 
den  ersten  zwei  Krankheitstagen  vorzunehmen. 

In  allen  Fällen  aber,  wo  bedrohliche  Erscheinungen  von  Seiten  des  Herzens  drohen, 
wird  man  von  dieser  energischen  Art  der  Localbehandlung  abstehen  müssen.  Eine  weitere 
Contraindication  liefern  die  mit  septischen  Erscheinungen  complicirten  Fälle,  da  die  Desin- 
fection  gegenüber  den  im  Gewebe  sitzenden  Streptococcen  unwirksam  und  bei  diesen  wirk- 
lich jede  Läsion  neue  Eintrittspforten  in  die  Blut-  und  Lymphbahnen  schafft.  Contrain- 
dicirt  —  wenigstens  als  coupirende  Methode  —  ist  diese  Behandlung  ferner  da,  wo  man 
nicht  mehr  hoffen  kann,  den  ganzen  Herd  zu  zerstören,  sobald  also  die  Diphtherie  über 
ihre  ursprüngliche  Localisation  auf  den  Tonsillen  und  deren  Umgebung  hinausgewandert 
ist.  Die  beginnenden  frischen  Fälle  sind  die  eigentliche  Domäne  der  energischen  Local- 
behandlung. 

Andere  Methoden  der  localen  Desinfection  sind:  Inhalation 
antiseptischer  Lösungen  mittelst  des  SiEOLE'schen  Dampfzerstäubers,  Ein- 
athmung  von  Gasen  und  Dämpfen  (Terpentin,  Theer),  Einblasung  von  Pulvern : 
Alaun,  Calomel,  Schwefel,  Jodoform,  Zucker,  Kochsalz.  Von  Taube-Heubner 
und  Seibert  sind  besondere  Spritzen  zur  submucösen  Injection  einer  2^0 
Carbollösung  in  die  Tonsillen  empfohlen  worden.  In  die  Gruppe  der  örtlich 
wirkenden  Mittel  gehören  auch  die  auf  die  Aussenseite  des  Halses  applicirten. 
Weitaus  am  häufigsten  gebraucht  sind  feuchtwarme,  sog.  PRiESSNiTz'sche  U  m- 
schläge,  die  2 — Sstündlich  gewechselt  werden.  Ihre  Anwendung  geschieht 
wohl  in  der  von  Oertel  ausgesprochenen  Idee,  die  entzündliche  Reaction  der 
Schleimhaut  und  dadurch  die  Abstossung  der  Membranen  zu  fördern.  Die 
Eisbehandlung  hat  neuerdings  in  Mayer  wiederum  einen  begeisterten  Für- 
sprecher gefunden.  Er  lässt  continuirlich  Eiscravatte  tragen  und  Eisstückchen, 
resp.  Eiswasser  schlucken.  Eine  besondere  Indication  dafür  scheinen  mir  nur 
die  mit  Schlingbeschwerden  und  starken  entzündlichen  Reizerscheinungen  ein- 
hergehende Fälle  zu  bieten.  Bei  derartigen,  gewöhnlich  ausgesprochen  sep- 
tischen Fällen  ist  auch  jede  verletzende  örtliche  Behandlung  zu  meiden.  Man 
muss  sich  hier  auf  ausgiebige  Gurgelungen,  Ausspülungen  mit  den  schwächer 
desinficirenden  Lösungen,  Einblasen  von  Jodoform,  Kali  chloricum  beschränken 
und  das  Hauptgewicht  auf  die  Allgemeinbehandlung  legen. 

Die  gleichen  Grundsätze  gelten  für  die  Behandlung  der  Diphtherie  auf  anderen 
Schleimhäuten.  Die  Nasendiphtherie  wird,  wo  sie  überhaupt  eine  besondere  Therapie 
verlangt,  gewöhnlich  mit  Durchspülen  oder  Eingiessen  (Rigauer)  antiseptischer  Lösung  [Sali- 
cylsäure,^  Borsäure,  Carholsäure)  behandelt.  Jedoch  besteht  namentlich  bei  Anwendung  von 
Druck  die  Gefahr  einer  Infection  des  Mittelohrs.  Ich  beschränke  daher  die  Spülungen  auf 
die  nothwendigste  Reinigung  und  bringe  auch  hier  den  Sublimatspray  abwechselnd  mit 
dem  Einblasen  desinficirender  Pulver  {Arg.  nitric,  Jodol,  Aristol  etc.)  in  Anwendung.  Bei 
Diphtherie  des  Mundes,  der  Conjunctiva,  der  äusseren  Haut  bringt  die  Sub- 
limaibeltandlung  in  Form  von  Umschlägen  angewandt  fast  momentanen  Erfolg.  Die  gegen 
das  Fortschreiten  der  Membranen  nach  dem  Kehlkopf  anzuwendenden  Mittel,  sowie  die  Be- 
handlung der  Laryngostenose  und  des  absteigenden  Croup  sind  bei  dem  letzt- 
genannten Capitel  erwähnt.     {Vergl  ds.  Bd.  p.  275.) 

Auch  bei  den  innerlich  gereichten  Mitteln  denkt  man  vielfach  an  eine 
local  desinficirende  Wirkung  auf  die  Rachenorgane,  die  naturgemäss  sehr  viel 
schwächer  und  unsicherer  ist  als  die  der  obengenannten  Methoden.  Zwar  ent- 
behrt, wie  die  neueren  Untersuchungen  ergeben  haben,  das  altehrwürdige  Ka- 
lium chloricum  in  der  gewöhnlich  angewandten  1 — 3%  Lösung  jedes  tödtenden 
Einflusses  auf  die  Diphtherie-Bacillen.     Trotzdem   bleibt   es  wegen  der  anti- 


440  DIPHTHERIE. 

katarrhalischen  Wirkung  auf  die  Mundschleimhaut  ein  bei  Diphtheritis  ge- 
schätztes Mittel.  Insbesondere  ist  es  da,  wo  gleichzeitig  eine  energische  Subli- 
matbehandlung geübt  wird,  als  Prophylacticum  gegen  eine  mercurielle  Stoma- 
titis am  Platze.  Ausgesprochen  desinficirende  Wirkungen  kommen  dagegen  dem 
Sublimat  (Jacoby)  oder  dem  Hydrargyi-um  ajanatum  (0"01 — 0"1  :  100)  (Schulz- 
Strübing),  dem  Liquor  ferri  sesquichlorati  (1  :  100),  Natrium  henzoicum  (3  :  100) 
etc.  zu.  Da,  wo  aus  irgend  welchen  Gründen  die  directe  Localbehandlung 
nicht  möglich,  ist,  wird  man  sich  zweckmässig  dieser  Mittel  bedienen.  Als  To- 
nicum  wird  Liquor  ferri  Bestuscheffi,  Chinin  und  Decoctum  Chinae  (10  :  100) 
gereicht. 

Die  gegen  die  toxischen  Erscheinungen  gerichtete  Allgemeinbehand- 
lung ist  vorläufig  noch  einerein  symptomatische:  Sorge  für  frische  Luft,  am 
besten  durch  abw^echselndes  Belegen  zweier  Zimmer  (Ranke)  erreichbar;  reich- 
liche Zufuhr  nahrhafter  flüssiger  Speisen  (Milch  mit  Eidotter  oder  Cognac, 
Chaicd  d'eau,  starker  Wein,  Thee,  Bouillon,  Fleischpepton,  Beaftea  etc.,)  Schonung 
der  Kräfte  und  wo  die  Gefahr  der  Herzschwäche  droht,  Vermeidung  jeder  Auf- 
regung oder  Bewegung.  Bei  drohendem  Collaps  sind  die  stärksten  Reizmittel: 
Campher,  Aether,  Coffein  innerlich  und  subcutan  ungesäumt  in  Anwendung 
zu  ziehen.  Die  begleitendeNephritis  erfordert  während  der  Erkrankung 
keine  besondere  Berücksichtigung;  das  Fieber  nur  da,  wo  es  ausserge wohnlich 
hohe  Grade  erreicht.  Die  hauptsächlichste  Aufgabe  ist,  die  Kräfte  des  Körpers 
zu  erhalten,  um  ihm  Zeit  zu  geben,  seine  Schutzvorrichtungen  gegen  die  im 
Blute  kreisenden  Toxine  in  Thätigkeit  zu  setzen. 

Erst  in  allerjüngster  Zeit  besitzen  wir  in  dem  Blutserum  der  gegen  Diph- 
therie immunisirten  Thiere  ein  Mittel,  das  dem  Organismus  in  diesem  Kampfe 
wirksame  Hilfe  leisten  kann. 

Es  ist  S.  422  auseinander  gesetzt,  dass  es  im  TJiierkörper,  wenn  mit  steigenden 
Dosen  von  Diphtheriegift  injicirt  wird,  zu  einer  Anhäufung  der  unter  dem  Einflüsse  des 
Krankheitsprocesses  gebildeten  antitoxischen  Stoffe  im  Blute  kommt.  Diese  Stoffe  besitzen 
eine  auffallende  Widerstandsfähigkeit  und  Haltbarkeit.  Entnimmt  man  einem  solchen 
Thiere  Blut,  so  sind  sie  in  dem  zellfreien  Serum  enthalten  und  injicirt  man  dieses  anderen 
empfänglichen  Thieren,  so  theilen  sie  dem  neuen  Organismus  denselben,  resp.  den  geän- 
derten Mengenverhältnissen  entsprechend  geringeren  Schutz  gegen  Diphtherie  mit,  den  der 
Blutspender  besessen.  Nachdem  der  Heilungsprocess  der  Diphtherie  überhaupt  auf  der 
Bildung  dieser  antitoxisch  wirkenden  Stoffe  im  Körper  des  Erkrankten  beruht,  und  ein 
Unterschied  zwischen  den  im  menschlichen  und  den  im  Thierkörper  gebildeten  Stoffen 
nicht  besteht,  so  stellt  die  Einführung  des  diesen  Körper  enthaltenden  Blutserums  vom 
Thiere  nichts  anderes  als  den  natürlichen  Heilungsvorgang  dar  (vergl.  S.  422)  mit  dem  Unter- 
schiede, dass  hier  die  Antikörper  nicht  vom  Organismus  gebildet,  sondern  künstlich  ein- 
geführt worden  sind:  passive  Immunität.  Die  Dauer  derselben  ist  nicht  genau  bekannt, 
jedenfalls  eine  begrenzte,  da  ja  die  eingeführten  Stoffe  wieder  ausgeschieden  werden.  Man 
nimmt  an,  dass  sie  bei  Injection  kleiner  Mengen  durch  2—4  Wochen  bestehen  bleibt. 

Es  ist  oft  von  grösster  Wichtigkeit  die  Menge  der  in  einer  gegebenen 
Menge  Serum  vorhandenen  Antikörper  zu  messen,  da  es  darauf  ankommt, 
dem  erkrankten  Organismus  die  zur  Neutralisirung  des  Giftes  genau  aus- 
reichende Quantität  zuzuführen.  Die  Messung  geschieht  jetzt  mittels  der 
sogenannten  Mischmethode  von  Ehelich,  indem  man  wechselnde  Serummengen 
mit  einem  Diphtheriegift  von  bestimmter  Concentraction,  deren  sogenannte 
Normalgiftlösung,  von  welcher  0-4  cm^  ein  Kilo  Meerschweinchen  in  längstens 
drei  Tagen  tödtet,  in  Reagensgläsern  mischt  und  die  Mischung  Meerschwein- 
chen injicirt.  Jenes  Serum,  welches  gerade  die  lOfache  Menge  Toxin,  somit 
in  der  Menge  von  0*1  einen  Cubikcentimeter  Normalgift  unschädlich  zu 
machen  im  Stande  ist,  wird  als  Normalserum  (Normalantitoxinlösung)  bezeich- 
net. Die  in  1  Cubikcentimeter  dieses  Normalserums  enthaltene  Antitoxin- 
menge nennt  Behring  eine  Lnmunisirungseinheit  (L  E).  Die  von  der  Höchster 
Fabrik  in  den  Handel  gebrachten  Serumsorten  sind  60-,  100-  und  140faches 
Normalserum.  Sie  werden  in  Fläschchen  mit  grüner  (Nr.  I),  weisser  (II)  und 
rother  (III)  Etiquette   abgegeben,  deren  jedes  circa  10^  Flüssigkeit  enthält 


DIPHTHERIE.  440  a 

Es    sind    demnach   in   Nr.  I  10  X  60  =  600,    in  Nr.    II  1000,  in   Nr.  IH 
1400   I.  E.    vorhanden. 

Leider  fehlt  uns  noch  der  Schlüssel,  nach  welchem  wir  beim  Menschen  die  in  jedem 
einzelnen  Falle  benöthigte  Menge  von  Antitoxin  berechnen  können.  Im  Allgemeinen  lässt 
sich  sagen,  dass  es  nur  geringer  Quantitäten  bedarf,  um  ein  disponirtes,  noch  nicht  inficir- 
tes  Individuum  vor  der  Erkrankung  zu  schützen.  Nach  der  früheren  Angabe  von  Behring 
genügte  dafür  1  cm^  der  Lösung  Nr.  I,  also  60  I.  E.;  später  hat  man  diese  Dose  auf  '/j  Flasche 
Nr.  I,  erhöht.  Jetzt  werden  besondere  Immunisirungsdosen,  die  150  I.  E.  in  2  cm'^  Serum 
enthalten,  ausgegeben.  Durch  die  Injection  wird  die  vielleicht  vorhandene  Disposition  zur 
Diphtherie  beseitigt,  das  Individuum  gegen  Diphtherie  immunisirt.  Sehr  viel  grösserer 
Mengen  bedürfen  wir,  wenn  die  Infection  schon  eingetreten,  das  Gift  bereits  in  den  Körper 
eingedrungen  ist.  In  dem  Maasse,  in  welchem  die  Erkrankung,  resp.  die  Intoxication  fort- 
geschritten ist,  werden  rasch  steigende  Mengen  zur  Unschädlichmachung  des  Giftes  benöthigt 
und  noch  rascher  sinkt  die  Wahrscheinlichkeit  des  Heilerfolges,  da  in  diesen  Fällen  die 
zur  Degeneration  führenden  Veränderungen  der  Nerven  bereits  gesetzt  sind,  die  natürlich 
durch  die  Beseitigung  des  Giftes  aus  dem  Körper  nicht  mehr  gut  gemacht  werden  können. 
Aus  diesem  Grunde  ist  auch  von  der  Behandlung  der  postdiphterischen  Lähmungen  mit 
Antitoxin  kaum  ein  Erfolg  zu  erwarten. 

Als  geringste  Dosis  gegenüber  der  ausgebrochenen  Erkrankung  ist  die  volle  Dosis 
Nr.  I  zu  verwenden.  Dauert  die  Erkrankung  schon  einige  Tage,  ist  die  Localaffection  aus- 
gedehnter oder  sind  überhaupt  schwerere  Krankheitserscheinungen  vorhanden,  so  greife 
man  zu  Nr.  II,  bei  schweren,  weit  vorgeschrittenen  Fällen,  sowie  bei  Erwachsenen  ist  Nr.  III 
zu  verwenden.  Man  mache  die  Injection,  insbesondere  wenn  Anzeichen  von  Gefahr  vor- 
handen, sobald  als  möglich  und  verschiebe  event.  die  genauere  Diagnosenstellung  auf 
später.  Jede  Stunde,  die  man  versäumt,  verschlimmert  die  Prognose.  Zumeist  genügt  eine 
einmalige  Injection.  Wo  die  drohenden  Erscheinungen  fortbestehen,  insbesondere  die  Mem- 
branenbildung fortschreitet,  lasse  man  an  den  folgenden  Tagen  eine  zweite,  event.  auch  eine 
dritte  Einspritzung  folgen. 

Die  Technik  der  Injection  ist  eine  äusserst  einfache,  vorausgesetzt,  dass  man  eine 
gut  schliessende  10  g  haltende  Spritze  besitzt.  Man  macht  dieselbe  nach  vorgängiger  Desinfec- 
tion  der  Haut  in  die  Infraclaviculargrube  oder  in  die  Seitentheile  von  Brust  oder  Bauch 
oder  in  den  Oberschenkel.  Nachdem  die  Nadel  zurückgezogen,  wird  die  Einstichöffnung 
mit  Heftpflaster  bedeckt.  Massage  ist  unnöthig.  An  unangenehmen  Folgeerscheinungen 
sind  bisher  einige  Male  Urticaria  und  fieberhafte  Erytheme  mit  Gelenkschmerzen  beobachtet 
worden.  Ueber  die  Dauer  der  Haltbarkeit  der  Antitoxinlösungen  liegen  keine  bestimmten 
Angaben  vor,  doch  dürften  sie  mindestens  mehrere  Monate  betragen.  Sie  sollen  bei  mög- 
lichst kühler  Temperatur  und  bei  Lichtabschluss  aufbewahrt  werden.  Das  Serum  ist  durch 
Zusatz  von  Carbol  O-ö^/q  vor  Zersetzung  geschützt,  kann  also  event.  selbst  einige  Zeit  nach 
Eröffnung  der  Flasche  noch  verwendet  werden. 

Ausser  dem  im  Vorstehenden  besprochenen  Präparate  der  Farbwerke  vorm.  Meister,  ' 
Lucius  &  Brüning  in  Höchst  a.  Main,  das  unter  Controle  der  Prof.  Behring  und  Ehrlich 
steht,  wird  das  Heilserum  noch  von  H.  Aronson  in  Berlin  (zu  beziehen  durch  die  ScHERiNG'sche 
Fabrik,  Berlin  N.  Müllerstrasse  170,  Telegrammadresse:  Satrap,  Berlin),  sowie  von  E.  Roux 
am  Institut  Pasteur  in  Paris,  in  Bälde  wohl  auch  an  anderen  Orten  hergestellt.  Betreffs  des 
ARONSON'schen  Serums  kann  ich  nach  experimenteller  Prüfung,  sowie  auf  Grund  meiner 
klinischen  Erfahrungen  bestätigen,  dass  die  Wirksamkeit  der  mir  übermittelten  Serum- 
probe nicht  hinter  dem  BEHRiNG'schen  zurückblieb. 

Die  Wirkung  der  Seruminjection  äussert  sich  ausschliesslich  in 
der  Besserung,  resp.  dem  Schwinden  der  Krankheitssymptome;  in  erster  Linie 
möchte  ich  die  Besserung  des  Allgemeinbefindens,  Sinken  des  Fiebers,  Wieder- 
kehr des  Appetites,  der  Kräfte,  frischeres  Aussehen  und  kräftigeren  Pulsschlag 
hervorheben.  Im  Uebrigen  verhält  der  Patient  sich  eben  wie  ein  solcher,  bei 
dem  der  natürliche  Heilungsprocess  sich  einleitet;  wir  haben  aber  hervorgehoben, 
dass  es  sich  hier  nicht  nur  um  eine  äussere  Aehnlichkeit  handelt.  Die  weitere 
Ausbreitung  der  Membramen  sistirt,  die  vorhandenen  begrenzen  sich  und 
stossen  sich  im  Laufe  der  nächsten  Tage  ab  (nach  Roux  in  72  Stunden). 
Das  Fieber  fällt  nicht  selten  in  kritischen  oder  in  lytischen  Curven  ab,  ganz 
wie  wir  dies  auch  sonst  bei  günstig  ausgehenden  Diphtherien  sehen.  Am 
wenigsten  beeinflusst  wurden  die  Veränderungen  im  Nervensystem  und  Niere, 
da  es  sich  hierbei  wahrscheinlich  um  schon  abgeschlossene  Processe  handelt. 
Auf  den  Ablauf  der  die  Diphtherie  complicirenden  Erkrankungen:  Pneumonie, 
Schwellung  und  Vereiterung  der  Lymphdrüsen,  allgemeine  Sepsis  etc.  ist  die 
Injection  selbstverständlich    ohne  Wirkung.     Der  nicht  geringe   Percentsatz 


440  b  DIPHTHERIE. 

der  Erkrankten,  welcher  diesen  Folgeerscheinungen  der  Diphtherie  erliegt, 
wird  sich  auch  bei  der  Serumbehandlung  niemals  vermeiden  lassen. 

Nehmen  wir  die  klinischen  Formen  der  Diphtherie  im  Einzelnen  vor,  so 
wäre  bei  den  gutartigen,  localisirten  Formen  vielleicht  eine  Serumbehandlung 
unnöthig,  wenn  nicht  die  Dauer  der  Erkrankung  dadurch  abgekürzt  und  die 
Gefahr  einer  weiteren  Ausbreitung  des  Processes  damit  vermieden  würde. 
Das  dankbarste  Object  bilden  die  progredienten  Fälle  mit  starker,  rasch  fort- 
schreitender Membranbildung  und  geringen  toxischen  Symptomen.  Wird  hier 
die  Injection  zeitig  genug  ausgeführt,  so  gelingt  es  meist  der  weiteren  Aus- 
breitung der  Membramen  Einhalt  zu  thun  und  die  drohende  Operation  zu  ver- 
meiden. Wo  dennoch  die  Laryngostenose  zu  einem  operativen  Eingriff  zwingt, 
kommt  man  meist  mit  der  Intubation  aus,  da  wenigstens  die  tieferen  Theile 
des  Bronchialbaumes  verschont  bleiben. 

Weniger  günstig  liegen  jene  Fälle,  bei  denen  von  Anfang  an  die  toxi- 
schen Erscheinungen,  Apathie,  Herzschwäche,  Albuminurie  mehr  hervortreten, 
am  ungünstigsten  die  sogenannten  septischen  und  gangränösen  Diphtherien. 
Hier  traten  neben  den  mannigfachen  Localisationen  der  Streptococcen  die 
Vergiftungssymptome  von  Seiten  des  Herzens  und  Centralnervensystems  in 
solcher  Schwere  und  Heftigkeit  in  Erscheinung,  dass  das  Loos  des  Patienten 
manchmal  schon  am  zweiten  oder  dritten  Krankheitstage  entschieden  wird.  In 
diesen  Fällen  ist  auch  das  stärkste  Serum  machtlos. 

Gleichwohl  hat  die  Erfahrung  gelehrt,  dass  manchmal  auch  bei  septischen 
Erkrankungen  durch  frühzeitige  und  ausgiebige  Injection  von  Serum  (Nr.  III)  eine 
unerwartete,  günstige  Wendung  dieser  sonst  absolut  tödtlichen  Fälle  herbeigeführt  wird. 
Noch  mehr  als  bei  den  anderen  Fällen  kommt  hier  darauf  an,  die  Injection  möglichst  bald 
nach  Beginn  der  Erkrankung  vorzunehmen.  Die  eminente  Bedeutung  dieses  Factors  geht 
aus    der   Zusammenstellung    Ehrlich's   hervor:  (Deutsche   med.  Wochenschrift  94,  Nr.  16.) 

Krankheitstag  Behandelt  Geheilt  Gestorben  Heilung  in  % 

I  6  6  0                 100 

II  66      (9)  64       (7;  2  (2)            97 

III  29      (8)  25       (7)  4  (1)             86 

IV  39     (14)  30     (10)  9  (4)             77 
V  23    (10)  13       (4)  10  (6)             56-0 

163 

(Die  in  Klammern  eingeschlossenen  Zahlen  geben  die  in  der  Gesammtzahl  ein- 
geschlossenen Diphtherien  an.) 

In  den  Berliner  Krankenhäusern  wurden  bei  220  so  behandelten  Kindern  geheilt 
168  =  76-4''/o,  darunter  von  67  Tracheotomirten  55-1%.  (Vergl.  die  Durchschnittszahlen  auf 
S.  437.)  Im  Hospital  des  enfants  malades  in  Paris  ist  in  Folge  der  Serumbehandlung  die 
Mortalität  von  bl-ll°Jo  auf  24-33"/o  gesunken.  Den  günstigen  Einfluss  gerade  auf  die 
Fälle  mit  progredientem  Charakter  zeigt  die  Statistik  der  Tracheotomirten  von  Körte, 
welche  statt  20— 26"/o  seit  der  Serumbehandlung  45%  Heilungen  aufweist. 

Meine  eigenen  Erfahrungen  bestätigen  diese  günstigen  Resultate.  Seit  Beginn  der 
antitoxischen  Behandlung  im  April  1894  wurden  bis  1.  December  72  Fälle  aufgenom- 
men, darunter  44  mit  Serum  injicirt.  Die  Mortalität  dieser  Periode  beträgt  5,  d.  i.  7% 
gegen  44''/o  der  früheren  Jahre.  Besonders  günstig  beeinflusst  wurde  die  progrediente  Form, 
die  in  21  Fällen  vorhanden  war  und  in  16  Fällen  zu  einem  operativen  Eingriff  nöthigte 
(Intubation).  Darunter  ein  tödtlich  verlaufender  Fall.  Fast  ohne  Einfluss  waren  die  In- 
jectionen  auf  die  4  septischen  Fälle,  die  ausschliesslich  bei  älteren  Kindern  vorkamen.  So 
kam  es,  dass  die  sonst  so  gefährdeten  jungen  Altersclassen  eine  geringere  Mortalität  auf- 
wiesen als  die  höheren.  Die  diphtherische  Erkrankung  des  Larynx  war  stets  schon  beim 
Eintritte  ins  Spital  vorhanden;  niemals  wurden  wir  bei  einem  schon  in  Behandlung  stehen- 
den Patienten  zur  nachträglichen  Ausführung  der  Operation  genöthigt.  Sämmtliche  Pa- 
tienten, die  innerhalb  der  ersten  3  Krankheitstage  eingeliefert  wurden,  sind  genesen.  Ich 
will  übrigens  nicht  verschweigen,  dass  ein  gut  Theil  dieser  glänzenden  Heilerfolge,  wohl 
auch  dem  sehr  milden  Charakter  der  zur  Zeit  dieser  Behandlung  herrschenden  Diphthe- 
rieepidemie zuzuschreiben  ist. 

Gegen  die  nach  Ablauf  der  acuten  Erkrankung  zurückbleibende  S  eh  wach  e 
und  Anämie  kommen  Chinin,  Eisen  mit  Arsen  (Levico,  Guberquelle),  Land- 
aufenthalt in  Anwendung. 


DüODENALSTENOSE.  441 

Die  Therapie  der  Lähmungen  ist  naturgemäss  sehr  verschieden. 
Die  leichten  Formen  bedürfen  keiner  besonderen  Behandlung.  Da.  wo  sie 
hartnäckig  sind,  ver^Y endet  man  den  constanten  Strom  und  auch  auf  Hexochs  Em- 
pfehlung subcutan  Stryclinininjectionen  O'OOl  pro  dosi.  Sobald  Verschlucken 
in  Folge  von  Kehlkopilähmung  vorhanden,  muss  Sondenernälu-ung  durchge- 
führt werden ;  bei  Zwerchfelllähmung  können  künstliche  Respiration,  elek- 
trische Eeizung  des  Phrenicus,  Sauerstofiinhalationen  angewandt  werden. 
Jedes  Anzeichen  von  Herzschwäche  ist  sorgfältig  zu  beachten  und  sofort 
strengste  körperliche  Ruhe  zu  verordnen. 

Gegen  drohenden  Herzcollaps  sind  die  oben  angeführten  Reizmittel,  vor 
allem  Campher  in  grossen  Dosen  (Camphorae  1,0,  Ol.  amygdal.  dulc.  5,0;  4 — 6 
Spritzen  Ziemssex),  sowie  auch  Galvanisation  des  Herzens  (Erb)  zu  versuchen. 

ESCHERICH. 

DuodenalstenOSe.  Das  Duodenum  kann  entweder  an  einzelnen  Stellen 
oder  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  verengert  sein,  es  kann  ferner  der  Sitz 
der  Verengerung  sich  auf  die  Innenfläche  des  Zwölffingerdarmes  erstrecken, 
oder  es  kann  die  Stenose  durch  Compression  von  Aussen  bedingt  sein.  In 
erster  Hinsicht  bilden  Duodenalgeschwüre  von  dem  Charakter  des  Ulcus 
rotundum,  sowie  maligne  Neubildungen  die  häufigste  Veranlassung  zu  Stenose- 
erscheinungen, von  äusseren  Einwirkungen  sind  besonders  Neoplasmen  der 
Kachbarschaft  des  Pancreas,  der  Leber,  der  Gallenblase,  des  Dickdarms,  der 
Mesenterialdrüsen,  sowie  adhäsive  Verklebungen  aus  anderen  Intestinal- 
abschnitten,  ferner  Abknickungen,  Verlagerungen  u.  s.  w.  zu  nennen. 

Symptomatologie:  Man  kann  hohe  und  tiefe  Duodenalstenose  unter- 
scheiden, je  nachdem  der  oberhalb  des  Diverticulum  Vateri  gelegene  Theil 
des  Duodenum  —  die  pars  horizontalis  superior  —  oder  der  unterhalb  der 
Mündungsstelle  des  vereinigten  Gallen-  und  Bauchspeicheldrüsenganges  gelegene 
Abschnitt  —  die  pars  descendens  und  horizontalis  inferior  —  Sitz  der  Ver- 
engerung bilden. 

Die  hohe  Duodenalstenose  unterscheidet  sich  in  Nichts  von  den  Ver- 
engerungen der  Pylorusstenose,  man  wird  daher  nur  ausnahmsweise  in  der 
Lage  sein,  beide  klinisch  auseinanderzuhalten.  Es  bildet  sich  im  Anschluss 
an  die  hohe  Duodenalstenose  eine  mehr  oder  weniger  ausgeprägte  Magendi- 
latation aus,  wobei  in  der  Regel  der  Pylorusring  infolge  der  zurückstauenden 
Massen  vollständig  verstreicht.  Auch  die  übrigen  Erscheinungen :  Erbrechen 
grosser  Massen,  Obstipation,  Oligurie,  starke  Abmagerung  theilt  die  hohe 
Duodenalstenose  mit  der  Pylorusstenose. 

Weit  charakteristischer  dagegen  ist  die  tiefe  Duodenalstenose:  die  Ana- 
mnese ergibt  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  das  Vorhandensein  constant  galligen 
Erbrechens ;  des  Weiteren  ergibt  die  Untersuchung  des  Mageninhaltes  per- 
manente Anwesenheit  von  Galle,  bezw.  Pancreassaft  im  Magen  (Boas).  Der 
Magen  selbst  wird  durch  die  permanente  Anwesenheit  von  Flüssigkeit  all- 
mälig  gedehnt  und  tritt  tiefer.  Von  der  Pylorusstenose,  bei  der  Galle,  wenn 
auch  selten  in  den  Magen  zurücktritt,  unterscheidet  sich  die  tiefe  Duo- 
denalstenose durch  das  Fehlen  von  Gährungsprocessen  und  die  Abwesenheit 
von  Hefe  und  Sarcine.  Je  nach  der  zu  Grunde  liegenden  Ursache  geht  die 
tiefe  Stenose  des  Duodenum  mit  mehr  oder  weniger  starkem  Kräfteveiiust 
einher.  Häufig  findet  sich  nach  meinen  Untersuchungen  in  Fällen  tiefer 
Duodenalstenose  ein  hoher  Gehalt  an  Indican,  sowie  Acetessigsäure  und  Aceton. 
Wegen  des  behinderten  Galleabflusses  sind  die  Stühle  mehr  oder  weniger 
stark  thonfarben. 

Die  Diagnose  ergibt  sich  aus  dem  genannten  Symptomencomplex ;  in 
ausgesprochenen  Fällen  kann  man  ausser  der  Stenose  des  Duodenum  auch  die 
Ursache  der  letzteren  z.  B.  ein  Neoplasma  oder  ein  Ulcus  constatiren. 


442  -      DYSARTHRIE. 

Die  Prognose  hängt  einmal  von  der  zu  Grunde  liegenden  Ursache,  sodann 
von  dem  Grade  der  Verengerung  ab.  Nur  in  einem  von  Homgmaisw  mit- 
getheilten,  unter  ileusartigen  Erscheinungen  verlaufenen  Falle  ist  bisher 
Heilung  beobachtet,  in  den  anderen  konnten  im  günstigsten  Falle  Besserungen 
erzielt  werden. 

Die  Therapie  müsste  vor  Allem  die  der  Stenose  zu  Grunde  liegende 
Ursache  zu  beseitigen  anstreben :  dies  ist  unter  besonders  günstigen  Um- 
ständen durch  innere  Mittel  oder  durch  Magenauswaschungen  zu  erzielen ;  in 
den  meisten  Fällen  ist  nur  durch  ein  geeignetes  operatives  Eingreifen  (Exstir- 
pation  der  stenosirenden  Geschwulst,  Lösung  von  Adhäsionen,  ev.  Gastro- 
jejunostomie)  der  Causalindication  zu  genügen.  Wo  die  Operation  aus  irgend 
welchem  Grunde  unausführbar  ist,  muss  man  sich  begnügen,  durch  häufige 
Magenausspülungen  das  Organ  von  den  zurückstauenden  Massen  zu  befreien 
und  hierdurch  die  Magenverdauung  aufzubessern,  boas. 

Dysarthriß  bedeutet  Störung  der  Articulationsbewegungen  speciell  bei 
der  Lautbildung.  Die  Abgrenzung  dieser  Zustände  gegen  die  ap ha- 
sischen Störungen  (cfr.  „ÄpJtasie'^)  muss  bei  der  Untersuchung  von  Sprach- 
kranken vor  allem  im  Auge  behalten  werden.  Am  nächsten  aus  dem  Gebiet 
der  aphasischen  Störungen  steht  den  hier  vorliegenden,  die  sogenannte  sub- 
corticale  motorische  Aphasie,  welche  als  völlige  Anarthrie  nur  graduell 
von  der  cerebral  bedingten  Dysarthrie  verschieden  ist.  In  der  That  können 
auch,  wenn  man  von  den  anatomischen  Zuständen  ausgeht,  durch  „subcor- 
ticale"  Herde  sowohl  völlige  Anarthrie  als  verschiedene  Grade  von  Dysar- 
thrie hervorgebracht  werden. 

Bei  der  Untersuchung  von  Sprachkranken,  bei  welchen  Aphasie  im 
engeren  Sinne  ausgeschlossen  ist,  sind  zwei  Hauptgesichtspunkte  festzuhalten : 

1.  ob  die  Dysarthrie  alle  Arten  von  Lautbildung  gleichmässig  betrifit 
oder  ob  isoliert  nur  einzelne  Lautbildungen  fehlen.  Im  letzteren  Fall  handelt 
es  sich  eigentlich  nicht  um  Dysarthrien,  sondern  um  partielle  Anarthrien, 

2.  ob  die  Dysarthrie  peripherisch  oder  central  bedingt  ist.  Die  central 
bedingten  Störungen  der  Articulation  bilden  die  Dysarthrie  im  engsten  und 
eigentlichsten  Sinne,  welcher  den  eigentlichen  pathologischen  Gegensatz  zu  den 
Aphasien  ausmacht. 

Das  Fehlen  von  einzelnen  Buchstabenlauten  bei  dem  Versuch  der 
Articulation  ist  als  Stammeln  besonders  im  Gegensatz  zum  Stottern,  zu 
kennzeichnen.  Beim  Stottern  handelt  es  sich  um  krampfliafte,  plötzlich 
auftretende  Muskelcontractionen,  welche  die  verschiedensten  Sprachbildungs- 
apparate  {Facialisgebiet,  Hypoglossusgehiet,  Coordination  von  Stimmhandinner- 
vation  und  Exspiration  etc.)  betreffen  können. 

Beim  Stammeln  liegen  dauernde  gleichbleibende  Defecte  vor,  beim 
Stottern  wechselnde  functionelle  Störungen,  welche  ohne  Beziehung  zu  be- 
stimmten Lautbildungen  in  der  Keihe  der  Laut-  und  Wortproduction  auf- 
treten können. 

Peripherisch  können  Dysarthrien  bedingt  sein  durch  Verstopfung 
der  Nase,  Gaumendefecte,  Lähmung  des  Gaumensegels  etc.  Praktisch  ist  es 
nothwendig,  bei  einer  Sprachprüfung  alle  Laute  des  Alphabets  durchzupro- 
biren  und  für  das  eventuelle  Fehlen  einzelner  zunächst  nach  peripherischen 
Ursachen  zu  suchen.  Erst  nach  Ausschluss  dieser  kann  die  Diagnose  auf 
nur  cerebral  bedingte  partielle  Anarthrie,  bezw.  Dysarthrie  gestellt  werden. 

Von  den  central  bedingten  Dysarthrien,  welche  nicht  bloss  einzelne 
Lautbildungen  betreffen,  ist  das  Stottern  schon  genannt  worden.  Ferner 
gehört    hierher    die    sk  an  dir  ende   Sprache   der  multiplen   Sklerose,   in 


DYSENTERIE.  443 

welchem  Fall  natürlich  klinisch  das  einzelne  S5anptom  vor  der  Gnmdkrankheit 
ganz  zurücktreten  niuss.  Die  einzelnen  Silben  werden  dabei  scharf  accen- 
tuirt  und  durch  kleine  Pausen  getrennt.  Ferner  gehört  hierher  die  Articu- 
lationsstörung  der  Bulbär-Paralyse.  Sodann  ist  die  undeutliche  ver- 
waschene Sprache  zu  nennen.  Diese  kann  entweder  durch  organische 
Hirnerkrankung  (Pons  bis  Stabkranz)  bedingt  sein  oder  durch  psychische  Zu- 
stände. Es  ist  wichtig  zu  wissen,  dass  diese  Art  von  Sprache  bei  Idiotie 
ohne  jede  organische  Hirnerkrankung  vorkommen  kann.  Dasselbe  gilt  zum 
Theil  für  die  verlangsamte  Sprache,  welche  auf  Grund  von  psychischen 
Schwächezuständen  auftreten  kann.  Diese  verlangsamte  Sprache  kommt  jedoch 
auch  bei  organischen  Hirnkrankheiten  vor  {Paralysis  'progressiva,  Tumor  cerebri). 
In  allen  diesen  Fällen  steht  jedoch  die  Grundkrankheit  so  im  Vordergrund, 
dass  eine  Diagnose  sich  stets  auf  diese,  nicht  aber  auf  das  blosse  Symptom 
der  Dysarthrie  beziehen  muss.  sommee. 

Dysenterie  (Ruhr)  ist  eine  theils  endemisch  oder  epidemisch  und  zwar 
in  den  Tropen  und  den  südlichen  Ländern  Europas  (Spanien,  Türkei,  Griechen- 
land) theils  —  wie  in  unseren  Breiten  —  sporadisch  vorkommende  Infections- 
krankheit.  Als  Infectionserreger  ist  mit  Wahrscheinlichkeit  eine  von 
Kart  Ulis  in  den  Dejectionen-,  sowie  in  der  Leber  entdeckten  Amöbenart  an- 
zusehen, die  sich  ausnahmslos  bei  Dysenterie  vorfindet,  obwohl  sichere  Ueber- 
tragungsversuche  noch  ausstehen.  Von  anderen  Seiten  (Chantemesse  und 
YiDAL,  Babes,  Maggioea,  Couxcilmaxn,  Ogata)  sind  Mikroorganismen  als 
Krankheitserreger  bezeichnet  v>'orden,  doch  sind  über  die  Specificität  derselben 
die  Ansichten  noch  getheilt.  (vergl.  Ämoebenenteritis  ds.  Bd.  p.  42.) 

Die  Krankheit  ist  im  Allgemeinen  miasmatischen  Ursprungs  und  wird 
in  den  meisten  Fällen  durch  den  Genuss  unreinen,  verseuchten  Trinkwassers 
oder  indirect  durch  Berührung  mit  Dejectionen,  Gebrauchsgegenständen  Ruhr- 
kranker hervorgerufen.  Dabei  spielen  aber  andere  Einflüsse,  grosse  Hitze,  der 
Genuss  verdorbener  Nahrungsmittel,  namentlich  unreifen  Obstes  eine  gewisse 
unterstützende  Rolle.  Wie  bei  anderen  Infectionskrankheiten  wird  die  Auf- 
nahmefähigkeit des  Organismus  für  das  Virus  durch  schwächende  Einflüsse 
oder  andere  constitutionelle  Krankheiten  (Tuberculose,  Morbus  Brightii,  Dia- 
betes u.  A.)  erhöht.  Besonders  soll  die  Malaria  zur  Entwicklung  von  Dysen- 
terie disponiren. 

Obwohl  in  der  Hauptsache  sporadisch,  kann  Dysenterie  auch  in  unseren 
Zonen  eine  mehr  oder  weniger  stark  extensive  und  intensive  Ausbreitung  an- 
nehmen, sobald  insalubre  Verhältnisse,  schlechte,  dumpfe  Wohnungen,  unhy- 
gienisch angelegte  Abtritte,  vor  Allem  aber  schlechtes,  ungesundes  Trinkwasser 
Veranlassung  bieten.  Wiederholt  sind  Hausepidemien  und  besonders  Epide- 
mien in  Gefängnissen  und  Irrenanstalten,  auch  wohl  sonst  in  Krankenhäusern, 
die  die  genannten  ungünstigen  Verhältnisse  aufweisen,  beobachtet.  Alles  in 
Allem  aber  zeigen  auch  diese  Epidemien  einen  ausgesprochen  localen  Charakter. 
Vielfach  sind  • —  zuletzt  noch  in  dem  deutsch-französischen  Kriege  —  Ruhr- 
epidemien im  Feldzuge  mit  starker  Mortalität  beobachtet. 

Pathologisch -anatomisch  kann  mau  dreierlei  Formen  von  Ruhr 
unterscheiden:  die  katarrhalische,  die  folliculäre  (noduläre,  Orth)  und  die 
diphtherische.  Diese  Formen  stellen  aber  keineswegs  streng  abgeschlossene 
I{Tankheitsbilder  dar,  sondern  gehen  häufig  an  verschiedenen  Stellen  des  Darmes 
nebeneinander  her.  Die  katarrhalische  Form  stellt  nach  Orth  für  die  Mehr- 
zahl der  Fälle  den  Beginn  des  Processes  dar.  Die  Krankheit  erstreckt  sich 
fast  ausschliesslich  auf  den  Dickdarm  und  nur  in  sehr  seltenen  Fällen  greift 
der  Process  über  die  Bauhin'sche  Klappe  auf  das  Ileum  über. 


444  DYSEXTEEIE. 

Die  katarrlialisclie  Form  ist  cliarakterisirt  cTurcli  starke  Hyperämie 
und  beträchtliche  Schwellung  der  Submucosa  mit  Faltenbildung.  Häufig  werden 
circumscripte  punktförmige  sub epitheliale  Hämorrhagien  Ijeobachtet.  Die  Darm- 
follikel  zeigen  ein  stark  injicirtes  Blutgefässnetz,  wodurch  dieselben  wie  von 
einem  rothen  Hof  umkleidet  sind.  Die  Mucosa,  namentlich  aber  die  Submucosa 
ist  geschwollen  und  tritt  buckel-  oder  zottenartig  hervor. 

Bei  der  f oll iculären  Form  der  Dysenterie  schwellen  die  Follikel 
zuerst  stark  au,  ulceriren  dann,  wodurch  scharf  abgeschnittene,  kraterförmige, 
bis  in  die  Submucosa,  zuweilen  noch  tiefer  greifende  Geschwiü'e  gesetzt  werden. 
Solange  die  Umgebung  der  Follikel  noch  nicht  in  den  Process  einbezogen 
ist,  bleiben  die  Geschwüre  isolirt,  später  greifen  sie  ineinander  und  nehmen 
weite  Strecken  des  Dickdarmes  ein. 

Die  diphtherische  Form  der  Enteritis  unterscheidet  sich  anatomisch 
in  Xichts  von  anderen  diphtherischen  Krankheitsprocessen  des  Dickdarmes,  wie 
sie  bei  Typhus.  Scharlach,  Septicämie,  Puerperalfieber,  Piachen-Diphtherie,  Sub- 
limatintoxication  vorkommen. 

Hierbei  bildet  sich  zuerst  ein  punktförmiger,  graugelblicher,  uuregelmässig 
vertheilter  Belag,  welcher  dem  Darm  das  Aussehen  gibt,  „als  wenn  Kleie 
über  die  Obeiüäche  gestreut  wäre."  Diese  kleienförmigen  Auflagerungen 
können  in  nischen  Fällen  noch  ohne  Substanzverlust  abgeschal3t  werden.  In 
vorgeschritteneren  dagegen  nehmen  die  Flecken  an  Grösse  zu,  coufluiren  mit 
einander,  lassen  sich  immer  weniger  von  der  Darmschleimhaut  trennen.  In- 
zwischen nimmt  die  Schwellung  der  Mucosa  und  Submucosa  immer  zu,  die 
gelblichen  Massen  wandeln  sich  in  graugrüne,  schliesslich  in  schmutziggraue 
Partien  um.  Hierbei  nimmt  —  und  dies  ist  charakteristisch  füi'  die  diphthe- 
rischen A^ränderungen  —  der  nekrotisirende  Zerfallsprocess  besonders  die  Yor- 
sprünge  der  Falten,  sowie  die  Haustra  coli  ein.  Eine  besondere  Prädilections- 
stelle  zeigen,  offenbar  bedingt  durch  die  hier  in  Betracht  kommenden  mechani- 
schen Verhältnisse  (Kothstauung  Yirchow)  die  Flexuren  des  Dickdarmes.  In 
den  weniger  schweren  Fällen  findet  der  Process  an  der  Muscularis  ihre  Grenze, 
doch  sind  auch  die  äusseren  Häute  mehr  oder  weniger  hämorrhagisch  infiltrirt, 
in  schwersten  Fällen  kann  der  Process  bis  zum  Peritoneum  vordringen  und  zu 
Peritonitis  führen  oder  es  kann  selbst  zu  Perforationsperitonitis  kommen. 

Die  Heilung  des  Processes  findet  in  der  AYeise  statt,  dass  die  nekrotischen 
Partien  sich  abstossen  und  die  Geschwüre  vernarben,  zuweilen  geschieht  dies 
unter  Retraction  des  umliegenden  Gewebes,  wodurch  es  leicht  zur  Stenose- 
bildung kommen  kann. 

Der  Darm  ist  je  nach  der  Art  und  dem  Stadium  des  Processes  mit  schlei- 
migen oder  schleimigeitrigen  oder  mit  blutigen  Massen  gefüllt.  Bei  der  diphthe- 
rischen Form  sieht  man  graugelbe,  fetzige,  putrid  riechende  Massen,  zuweilen 
zeigt  der  Darm  schwärzliche  mit  Schleimhautfetzen  untermischte  Partikel 
(gangränescirende  Formj. 

Ausser  dem  Darm  selbst  kann  der  Process  durch  Thrombenbildung  in 
den  Yenen  zu  Leberabscessen  fühi-en,  wie  sie  besonders  in  den  Tropen  als 
Complicationen  der  Diphtherie  beobachtet  werden.  Yon  sonstigen  Complica- 
tionen  sind  zu  erwähnen:  Nierenhyperämie,  Hämorrhagien,  multiple  Abscess- 
bildungen,  Piückenmarkerweichung  u.  A. 

Symptomatologie.  Die  Symptome  der  Dysenterie  beziehen 
sich  im  Wesentlichen  auf  die  gestörte  Dickdarmfunction  und 
kennzeichnen  sich  durch  die  Art  und  das  Aussehen  der  Stühle, 
den  Stuhldrang  und  die  locale  Druckempfindlichkeit  im  Ver- 
laufe des  Dickdarmes,  namentlich  in  der  Gegend  der  Flexura 
sigmoidea. 


DYSENTERIE.  445 

Die  Stühle  sind  im  katarrhalischen  Stadium  dünn,  wässerig,  mit  mehr 
oder  weniger  viel  Schleim  oder  Eiter  vermischt;  zuweilen  sieht  man  auch  kleine 
distincte  Blutbeimengungen,  wodurch  die  Stühle  ein  fleischwasserfarbenes 
Aussehen  gewinnen.  Lässt  man  die  Stühle  sedimentiren,  so  sieht  man  kleinere 
oder  grössere,  häufig  gleichfalls  blutig  tingirte  Schleimfetzchen.  Auch  triöt 
man  kleine,  sago-  oder  froschlaichähnliche  Schleimklümpchen  an.  In  der 
mehr  diphtherischen  Form  überwiegt  der  Blutgehalt  der  Stühle,  welche  ähnlich 
wie  bei  der  Pneumonie  ein  rostfarbenes  Aussehen  annehmen.  Bei  der  gangränes- 
cirenden  Form  endlich  werden  schwarze,  brandige,  höchst  übel  riechende  Massen 
abgestossen.  Im  Uebrigen  verlieren  die  Stühle  bei  reichlicher  Entleerung  sehr 
bald  den  fäculenten  Charakter  und  bekommen  einen  faden,  spermaähnlichen 
Geruch. 

Mikroskopisch  zeichnen  sich  die  Stühle  abgesehen  von  den  bereits  oben 
erwähnten  Amöben  durch  grossen  Eeichthum  an  Eiterkörperchen  und  rothen 
Blutkörperchen  aus,  denen  verschonte  Darmepithelien,  Fettsäurenadeln,  unver- 
daute Speisereste  etc.  beigemengt  sind. 

Das  Charakteristische  der  dysenterischen  Durchfälle,  wodurch  sie  sich  von 
blutig-serösen  Durchfällen  bei  anderen  Krankheiten  (Lues,  Carcinom,  Hämor- 
rhoiden) unterscheiden,  sind  die  schmerzhaften  Tenesmen,  der  Stuhlzwang. 
Die  Patienten  fühlen  in  schweren  Fällen  in  kürzesten  Zwischenräumen  alle 
5 — 10  Minuten  Drang  zum  Stuhle,  ohne  dass  es  zu  einer  irgendwie  bemer- 
kenswerthen  Defäcation  kommt.  Mit  dem  Stuhlzwang  kann  zuweilen  auch 
schmerzhafter  Harnzwang  vorhanden   sein. 

Die  objective  Untersuchung  ergibt  zuweilen,  eine  distincte  Schmerz- 
haftigkeit  in  der  Gegend  der  Flexura  sigmoidea,  woselbst  man  auch  häufig 
bei  leichtem  Anschlagen  mit  den  Fingern  Gargouillement  beobachtet. 

Durch  die  Untersuchungen  Uffelmann's  ist  uns  bekannt,  dass  die 
specifischen  Körpersecrete  an  Leistungsfähigkeit  einbüssen,  der  Speichel  an  amy- 
lolytischer  Kraft,  der  Magensaft  an  peptischer  Wirksamkeit  verliert.  Auf  die 
Mitbetheiligung  des  Magens  weisen  ferner  das  gelegentlich,  namentlich  im  Be- 
ginne der  Krankheit  vorkommende  Erbrechen,  die  belegte  Zunge,  die  Appetit- 
losigkeit, der  Foetor  ex  ore  hin. 

Die  Temperatur  ist  nur  in  äusserst  seltenen  Fällen  erhöht  und  zeigt  dann 
den  Charakter  einer  unregelmässigen  Ptemittens,  der  Puls  dagegen  ist  häufig 
beschleunigt  und  weich.  Der  Urin  zeigt  sehr  selten  Eiweissgehalt,  ist  aber 
hochgestellt  und  reich  an  Uraten. 

Der  Verlauf  der  Krankheit  kann  sich  auf  nur  wenige  Tage  oder 
mehrere  Wochen  erstrecken:  in  unseren  Breiten  nimmt  die  Dysenterie  über- 
wiegend häufig  einen  günstigen  Verlauf,  der  sich  durch  das  Seltenerwerden  der 
Stühle,  das  Sistiren  der  Tenesmen,  die  Ptückkehr  des  Appetites,  des  Schlafes 
ankündigt.  In  weniger  günstigen  Fällen  können  sich  Complicationen  verschie- 
dener Art  dem  Krankheitsbilde  zugesellen:  Perforationsperitonitis,  Leberab- 
scesse,  Conjunctivitis  (Kräuter),  Gelenkerkrankungen,  Pyämie  u.  A. 

Als  Nacherkrankungen  der  Dysenterie  sind  zu  nennen:  Lähmungen 
(Neuritis  ascendens,  Leyden),  Darmstricturen,  Mastdarmfisteln,  chronische  En- 
teritis. 

Die  Diagnose  der  Dysenterie  macht  bei  ausgeprägten  Formen  keine 
Schwierigkeiten:  der  acute  Beginn,  das  Aussehen  der  Stühle,  der  Tenesmus, 
die  Schmerzhaftigkeit  der  Flexura  sigmoidea  sind  him-eichend  charakteristische 
Symptome.  Vor  Verwechselungen  mit  Localerkrankungeu  des  Mastdarmes, 
die  gelegentlich  zu  ähnlichen  Symptomen  führen  können,  schützt  die  nie  zu 
unterlassende  sorgfältige  Rectaluntersuchung. 


446  DYSENTERIE.  DYSGRAPHIE. 

Die  Prognose  der  Dysenterie  ist  in  unseren  Breiten  im  Ganzen  gün- 
stig, die  Mortalität  beträgt  im  Durchschnitt  7 — 10  7oi  doch  werden  aus  den 
Tropenländern  erheblich  grössere  Mortalitätsziffern  berichtet.  Aber  auch  bei 
der  bei  uns  herrschenden  leichteren  Form  der  Euhr  kann  die  Prognose  durch 
die  bereits  erwähnten  complicirenden  Ereignisse  arg  getrübt  werden.  Auch 
durch  etwaige  Nachkrankheiten,  die  zunächst  nicht  vorauszusehen  sind,  erleidet 
die  im  Ganzen  gute  Prognose  eine  für  die  Praxis  nicht  unwichtige  Beschränkung. 

Therapie:  Die  Therapie  der  Dysenterie  ist  im  Ganzen  exspectativ- 
symptomatisch.  Man  beginnt  die  Behandlung  am  besten  mit  einem  Laxans, 
wie  Ol.  Bicini  oder  noch  besser  Calomel  (0,3  davon  2  Dosen  in  Sstündlichen 
Intervall)  und  stellt  dann  den  Darm  durch  innerliche  oder  rectale  Anwendung 
eines  Opiates  ruhig,  wodurch  auch  besonders  die  Tenesmen  günstig  beeinflusst 
werden.  Mit  dieser  Therapie  und  der  entsprechenden  Diät,  auf  welche  das  Haupt- 
gewicht der  Behandlung  zu  legen  ist,  reicht  man  in  uncomplicirten  Fällen 
völlig  aus. 

Die  Diät  muss  vor  Allem  substanzarm  und  schleimig  sein,  damit 
nicht  durch  dicke  Kothmassen  und  etwa  unverdaute  Nahrungsreste  die  erkrankte 
Darmschleimhaut  insultirt  wird.  Man  reiche  also  Brühsuppen,  Hafermehlsuppen 
mit  Ei  oder  Fleischextract,  Mondamin-,  Tapioca-,  Gries-,  Keissuppen.  Auch 
Milch  eignet  sich  theils  allein,  theils  mit  Mehlzusätzen  oder  mit  Cacao  für 
die^  Ernährung.  Zweckmässig  ist  als  Stimulans  Eothwein  und  Weinsuppen. 
Erst  wenn  die  Tenesmen  aufhören,  die  Stühle  fäculent  und  seltener  werden, 
kann  man  wieder  festere  Substanzen  (Zwieback,  Fleisch,  Kartoffelbrei)  gestatten. 

In  complicirten  Fällen  muss  eine  Localbehandlung  des  Darmes  ein- 
treten. Hierzu  eignen  sich  am  meisten  Eingiessungen  von  Tannin  oder  Alumen 
( 5  gr  auf  1  /  Wasser)  mittels  Hegar'schen  Trichters,  die  zweimal  täglich  appli- 
cirt  werden.  Sehr  zweckmässig  fügt  man  auch  diesen  Eingiessungen  einige 
Tropfen  Laudanum  hinzu  oder  man  schickt  den  Einlaufen  ein  Opiumsuppo- 
sitorium  voraus.  Ausser  mit  Tannin  sind  noch  eine  Reihe  anderer  Substanzen 
warm  empfohlen  worden,  die  hier  nur  kurz  erwähnt  werden  mögen:  Argentum 
nitricum,  Chinin,  Creolin,  Sublimat.  Das  letztere  ist  jedenfalls  wegen  der 
Gefahr  der  Intoxication  nur  mit  grösster  Vorsicht  zu  verwenden,  dagegen  ist 
das  Chinin  (1  :  1000 — 5000)  ein  Mittel,  das  sich  in  vielen  Fällen  bewährt  hat. 
Gegen  die  Tropendysenterie  sind  von  englischen  Aerzten  grosse  Dosen  Ipe- 
cacuanha  (0,1 — 0,3)  als  Specificum  empfohlen  worden.  Sonst  sind  im  Allge- 
meinen kleinere  Dosen  von  Ipecacuanha  in  Verbindung  mit  Opium  als  Dower'- 
sches  Pulver  (0,2 — 0,4  pro  dosi)  zu  empfehlen. 

In  Fällen  von  chronischer  Ruhr  leisten  grosse  Dosen  Bismuth,  besonders 
das  Bismuth.  salicyl.  (1,0 — 3,0  pro  dosi)  oder  Salol  (2,0  4,0  pro  dosi)  gute 
Dienste. 

Die  Complicationen  der  Dysenterie  sind  nach  den  hierfür  geltenden 
Regeln  zu  behandeln.  boas. 

Dysgraphie.  Bei  dem  Wort  Dysgraphie  hat  man  klinisch  nur  an  die 
erworbenen  Störungen  der  Schrift  zu  denken,  bei  welchen  sich  das  Vor- 
handensein von  Agraphie  (siehe  ,, Aphasie,  Agraphie,  Alexie'')  ausschliessen 
lässt.  Wenn  ein  Mensch  nie  in  seinem  Leben  ordentlich  schreiben  gelernt 
hat,  kann  man  klinisch  nicht  von  Dysgraphie  reden.  Praktisch  ist  die  Ent- 
scheidung der  Frage,  ob  jemand  schon  seit  seiner  Schulzeit  ganz  ungenügend 
geschrieben  hat,  oder  ob  er  eine  entsprechende  Schreibstörung  bekommen  hat, 
oft  sehr  wichtig.  Hier  wird  meist  nur  das  Beibringen  von  früheren  Schrift- 
proben zur  Entscheidung  helfen. 

Nachdem  eine  Schreibstörung  einerseits  gegen  die  Zustände  mangelhafter 
Bildung,  andererseits  gegen  die  agraphischen  Störungen  abgegrenzt  ist,  kommen 
wie  bei  der  Dysarthrie  hauptsächlich  zwei  Fragen  in  Betracht : 


DYSGRAPHIE.  DYSLEXIE.  447 

1.  ob  es  sich  um  isolierte  Ausfallsersclieinungen  in  Bezug  auf  bestimmte 
Schriftzüge  (wozu  auch  Zahlen  gehören)  handelt  nach  Analogie  des  Stam- 
me 1  n  s  oder  um  gleichmässige  Erschwerung  alles  Schreibens.  Der  erste  Fall 
ist  sehr  selten,  kommt  aber  unzweifelhaft  auch  ohne  agraphische  Störungen 
im  früher  entwickelten  Sinne  rein  als  Störung   der  Schreib-Articulation  vor; 

2.  ob  die  Störung  peripher  oder  central  bedingt  ist.  Bei  den  ver- 
schiedenen Arten  des  Tremors,  welche  Schreibstörungen  bedingen  (tremor 
alkoholicuS;  senilis,  mercurialis  etc.),  wird  diese  Entscheidung  oft  nicht  zu  treffen 
sein,  weil  die  Entstehung  des  Tremors  selbst  noch  unklar  ist.  Immerhin  muss 
dieser  Gedanke  als  Leitmotiv  der  Untersuchung  festgehalten  werden.  Im 
einzelnen  kommen  für  die  Art  der  Schrift  dieselben  Gesichtspunkte  in  Betracht 
wie  bei  der  Beurtheilung  anderer  Innervationsstörungen.  Eine  Schrift,  bei 
welcher  es  an  der  nothwendigen  Zusammenordnung  der  einzelnen  Schrift- 
züge mangelt,  wird  man  entsprechend  der  Bezeichnungsweise  bei  anderen 
Bewegungsstörungen  ataktisch  nennen.  Als  besondere  Neurose  ist  der 
Sclireibkrampf  zu  erwähnen  (cfr.  Beschäftigung sneiirosen). 

E.  s. 

Dyslexie.  Die  Dyslexie  hat  mit  den  nach  gleicher  Art  gebildeten 
Worten  Dysarthrie,  Dysgraphie  u.  s.  f.  inhaltlich  nichts  gemeinsam,  sondern 
ist  eine  Störung  für  sich. 

Das  von  Beelin  scharf  hervorgehobene  Symptom  bestand  darin,  dass 
gewisse  Menschen  (cfr.  Berlin,  Eine  besondere  Art  der  Wortblindheit  pag.  30) 
nur  eine  geringe  Anzahl  von  Worten  hintereinander  laut  oder  leise  lesen 
können,  während  die  sorgfältigste  augenärztliche  Untersuchung  die  Abwesenheit 
aller  jener  bekannten  Ursachen  verminderter  Ausdauer  nachweist. 

Es  lag  in  der  Natur  dieser  Störung,  welche  lebhaft  an  die  Hebetudo 
Visus  erinnerte,  dass  die  Abwesenheit  peripherischer  Ursachen  und  die  Ab- 
grenzung der  cerebral  bedingten  von  der  peripherisch  bedingten  Störung  des 
Lesens  zuerst  ins  Auge  gefasst  wurden.  Von  diesem  Gesichtspunkt  ist  der 
ganze  erste  Theil  der  BEELiN'schen  Abhandlung  (pag.  1  —  34)  beherrscht. 
Die  weiteren  Erörterungen,  welche  Berlix  an  die  Thatsache  der  cerebralen 
Natur  der  Störung  angeknüpft  hatte,  enthielten  nun  mehrere  Elemente,  welche 
in  der  weiteren  Entwickelung  dieser  Lehre  der  Reihenfolge  nach  in  den 
Vordergrund  gerückt  worden  sind.  In  Verbindung  mit  den  Erörterungen  über 
die  Asthenopie  hatte  Berlin  den  Begriff  der  verminderten  Ausdauer  und  der 
Ermüdung  in  Erwägung  gezogen.  Zunächst  wurde  nun  hieran  von  Niedex 
in  seiner  1888  veröffentlichten  Abhandlung  angeknüpft,  welcher  das  subjective 
Ermüdungsgefühl  bei  der  Unfähigkeit  weiter  zu  lesen,  betonte. 

Ein  zweites  Element,  welches  bei  Berlin  nur  eine  gleichwerthige  Com- 
ponente  neben  einer  Reihe  von  anderen  Gesichtspunkten  bildet,  ist  der  Be- 
griff des  Zusammenfassens  von  Schriftzeichen.  Eigentlich  hatte  Berlin  diesen 
Begriff'  nur  betont,  um  das  Wort  Dyslexie,  dessen  verbaler  Bestandtheil 
Xsveiv  zwar  im  Speciellen  reden,  aber  doch  im  Allgemeinen  „sammeln"  oder 
„zusammenlegen"  bedeutet,  annehmbar  zu  machen  im  Hinblick  auf  die  That- 
sache, dass  die  Erscheinung  auch  beim  wortlosen  Lesen  auftritt.  Dieses 
Element  ist  nun  in  dem  Aufsatz  von  Weissenbeeg  (Aus  der  medicinischen 
Klinik  in  Heidelberg,  Ärch.  f  Psych.  XXII.  414  bis  463)  ausgebildet  und 
zur  Grundlage  einer  Theorie  zur  Erklärung  dieser  Erscheinung  gemacht 
werden.  Weissenbeeg  postulirte  auf  Grund  der  Beobachtung,  dass  ein 
Kranker  nach  einigen  richtig  gelesenen  Worten  die  Buchstaben  d,  e,  r  noch 
lesen,  aber  nicht  mehr  das  Wort  „der"  zusammenbringen  konnte,  ein  Buch- 
stabenfügungscentrum  und  wollte  durch  die  Annahme  der  Zerstörung  dieses 
Centrums   das  Phänomen    erklären.    Aus   Zerstörung   dieses    hypothetischen 


448  DYSLEXIE. 

Centriims  könnte  jedoch  nur  ein  dauernder  Verlust  der  Combinationsfäliigkeit 
für  riclitig  erkannte  Buchstaben,  niemals  aber  das  Phänomen  der  Dyslexie, 
entspringen.  Die  Dyslexie,  bei  ^-elcher  eine  Aufeinanderfolge  von  Func- 
tionsfähigkeit  und  Functionsunfähigkeit  vorliegt,  ist  ein  Typus  der  func- 
tionellen  Störungen,  welche  die  anatomische  Intaktheit  der  in  Frage  kom- 
menden Gehirnpartien  voraussetzt.  Damit  steht  die  Thatsache  in  einem 
"Widerspruch,  dass  Berlix  dieses  Phänomen  meist  bei  Herderki'ankungen 
der  linken  Hemisphäre  in  der  Xähe  des  gyi'us  marginalis  angetroffen  hat. 
Aber  der  Widerspruch  ist  nur  scheinbar,  weil  von  einem  bestehenden 
Hirnherd  aus  FernT\irkungen  auf  benachbarte  Theile  ausgeübt  Tverden  können. 
—  Auf  diesem  Wege  zur  Hervorhebung  des  Phänomens  als  eines  specifisch 
„functionellen"  ist  Pick  vorT\-ärts  gegangen,  wenn  er  die  Dyslexie  mit  dem 
intermittirenden  Hinken  verglich. 

Ich  habe  nun  2  Fälle  beobachtet,  welche  den  theoretischen  Uebergang 
von  der  Dyslexie  einerseits  zur  Alexie,  d.  h.  völligen  Leseunfähigkeit,  andrer- 
seits zur  normalen  Lesefähigkeit  bilden.  Im  ersten  Fall,  wo  nach  einem 
Schlaganfall  zuerst  sicher  Dyslexie  vorhanden  war,  die  später  sich  wieder  der 
Grenze  normaler  Ausdauer  beim  Lesen  näherte,  fanden  sich  bei  der  Section 
zwei  Herde,  der  eine  am  Fuss  der  zweiten  Front alwindung,  der  andere  am 
G}TUS  marginalis  nach  oben  bis  über  den  sulc.  interparietalis  c.  Va  C7n  hin- 
aufreichend. 

Im  anderen  Fall,  der  eine  progressive  Paralyse  betrifft,  Hessen  sich 
periodische  Schwankungen  der  Lesefähigkeit  bei  langen  ohne 
Piuhepausen  unternommenen  L^ntersuchungsreihen  nachweisen. 
Ferner  zeigten  sich  auch  beim  Benennen  von  Zahlen  periodische  Schwan- 
kungen der  Leistungsfähigkeit,  derart,  dass  in  den  Stadien  der  I^nfähigkeit 
selbst  die  einfachsten  Zahlen  nicht  erkannt,  später  wieder  mehi^stellige  Zahlen 
erkannt  wurden.  Es  gibt  also  eine  Zahlen  dyslexie  wie  es  eine  Buch- 
stabendyslexie  gibt  und  in  beiden  Beziehungen  ist  die  Dyslexie  nur  Anfangs- 
glied einer  Kette  von  periodischen  Schwankungen.  Auf  Grund  dieser  Beobach- 
tungen lassen  sich  folgende  Sätze  aufstellen,  (cfr.  So.adiee,  Die  Dyslexie  als 
functionelle  Störung,  Sitzungsberichte  der  Würzhurger  xjhysiJcal.-medimi.  Ge- 
sellschaft vom  28.  Jan.  1893  und  ArcJiiv  für  Psychiatrie  1893.). 

1.  Die  Dyslexie  ist  gehh'nphysiologisch  als  Anfangsglied  eines  perio- 
dischen Wechsels  von  Fun"^ctionsfäh  igkeit  und  Functionsun- 
fähigkeit aufzufassen.  L^nd  zwar  tritt  die  Leistungsfähigkeit  auch  ohne 
„Ausruhen"  wieder  auf. 

2.  Der  periodische  Wechsel  von  Leistungsfähigkeit  und  Leistungsunfä- 
higkeit lässt  sich  nicht  bloss  in  Bezug  auf  die  Fähigkeit  des  Wort-  und 
Buchstabenlesens,  sondern  auch  in  Bezug  auf  andere  isolierte  gei- 
stige Functionen  beobachten. 

3.  Die  Voraussetzung  zum  Zustandekommen  der  Dyslexie  ist  die  ana- 
tomische Intaktheit  derjenigen  Gehirntheile,  welche  füi-  die  Function 
des  Lesens  in  Betracht  kommen.  Daher  ist  es  principiell  verfehlt,  dieses 
..Lesecentrum"  in  denjenigen  Gehirnpartien  zu  suchen,  welche  nach  einer 
klinisch  beobachteten  Dyslexie  zerstört  gefunden  wurden. 

4.  In  den  Fällen,  wo  die  Dyslexie  bei  Herderkrankungen  des  Ge- 
hirns beobachtet  wird,  ist  dieselbe  als  Fernwii'kung  und  functionelle  Schä- 
digung benachbarter  Gehirntheile  aufzufassen. 

R.    SOMMER. 


DYSTROPHIA  MüSCüLORÜM  PROGRESSIVA.  449 

Dystrophia  muSCUlorum  progressiva.  Dystrophia  musculorum 
progressiva  nennt  Erb  eine  hauptsächlich  im  Kindes-  und  Jünglingsalter 
auftretende  Muskelerkrankung,  welche  auf  einer  angeborenen,  häufig  bei 
mehreren  Mitgliedern  derselben  Familie  vorkommenden  fehlerhaften  Ent- 
wickeluugstendenz  beruht.  Sie  ist  charakterisirt  durch  progressive  Kraft- 
verminderung und  Yolumveränderung  vieler  Muskeln.  Unter  Volumveränderung 
ist  sowohl  primäre  Muskelatrophie  wie  -hypertrophie  zu  verstehen,  deren 
letztere  entweder  auf  thatsächliche  Zunahme  und  abnormes  Wachsthum  der 
Muskeln  {echte  Hyiiertrophie),  oder  aber  auf  Entwickelung  des  interstitiellen 
Fettgewebes  (Pseudohypertrophie)  zurückzuführen  ist. 

Aetiologie.  Unsere  Einsicht  in  die  ä  t  i  o  1  o  g  i  s  c  h  e  n  Y  e  r  h  ä  1 1  n  i  s  s  e 
dieser  Krankheit  ist  noch  eine  sehr  beschränkte.  Die  Bedingungen,  unter 
welchen  die  von  den  Erzeugern  ausgehenden  Schädlichkeiten  zu  Tage  treten, 
sind  eigentlich  ganz  unbekannt.  Alkoholismus,  Syphilis,  Traumata  und  Ueber- 
anstrengung  werden  häufig  in  der  Aetiologie  erwähnt,  spielen  jedoch  bei  der 
Entstehung  der  Dystrophie  so  gut  wie  gar  keine  Rolle.  Nahe  Blutsverwandt- 
schaft der  Eltern  scheinen  im  Allgemeinen  nicht  ganz  ohne  Bedeutung  zu  sein, 
dagegen  sind  von  hervorragender  Wichtigkeit  die  hereditär-familiären  Ein- 
flüsse. Kach  Erb  ist  Heredität  in  56%  aller  Fälle  nachweisbar.  Die  congenital- 
erbliche  Tendenz  spricht  sich  in  dem  Auftreten  der  Erkrankung  bei  mehi-eren 
Gliedern  derselben  Familie  und  in  mehreren  Generationen  sehr  deutlich  aus. 
Es  kann  in  einer  Familie  die  Anlage  dazu  auf  ein  Geschlecht  beschränkt  sein, 
während  das  andere  keine  derartige  Disposition  zeigt ;  in  manchen  Fällen  tritt 
die  Krankheit  bei  mehreren  Gliedern  derselben  Generation  ohne  Antecedentien 
auf,  in  anderen  Fällen  wird  eine  Generation  ganz  ausgelassen  und  die  folgende 
von  der  Dystrophie  betroffen.  Häufig  wird  das  Leiden  von  den  Frauen  fort- 
gepflanzt, welche  selbst  ihm  nicht  unterliegen.  Es  beruht,  wie  Gowers  meint, 
die  congenitale  Anlage  (bei  der  Pseudohypertrophie)  ausschliesslich  auf  dem 
mütterlichen  Elemente  im  Embryo.  Die  überraschend  vielen  Fälle,  wo  der 
Einfluss  der  Heredität  nicht  nachzuweisen  ist,  vertheilen  sich  hauptsächlich 
auf  die  im  Jünglingsalter  entstehenden  Formen  (sog.  juvenile  Form). 

In  einigen  Fällen,  wo  der  Ausbruch  des  Leidens  nach  krankhaften  Processen  er- 
folgte —  nach  Infectionskrankheiten,  Chlorose  —  zeigte  sich,  dass  bei  anderen  Personen 
derselben  Familie  die  Krankheit  sich  ohne  das  Vorhergehen  solcher  schwächenden  Schäd- 
lichkeiten entwickelt  hatte,  dass  somit  auch  diesen  Momenten  keine  Rolle  in  der  Aetiologie 
zukommt. 

Das  Alter,  in  dem  das  Leiden  zuerst  beobachtet  wird,  _  ist  sehr  ver- 
schieden. Man  unterscheidet  eine  Dystrophia  iiifantum,  iiivenimi  und 
adultorum.  Sehr  selten  beginnt  die  Krankheit  nach  dem  50.  Jahre  sich 
zu  entwickeln.  Bezüglich  des  Alters  ist  interessant  die  Erfahrung,  dass 
die  mit  vorwiegenden  Hypertrophien,  resp.  mit  primärer  Gesichtsbetheiligung 
verlaufenden  Formen  gewöhnlich  infantil  sind,  so  dass  etwa  in  ^j^  dieser 
Fälle  der  Ausbruch  des  Leidens  in  den  ersten  Lebensjahren  —  jedenfalls 
vor  dem  10.  Jahi'e  —  erfolgt.  In  der  Mehrzahl  der  juvenilen  Fälle  zeigt  sich 
die  Krankheit  zwischen  dem  15.  und  35.  Jahr,  mitten  in  der  letzten  Periode 
des  Wachsthums  und  des  ersten  des  Mannesalters.  Von  der  hypertrophischen 
Form  wird  auffallender  Weise  das  männliche  Geschlecht  fünfmal  häutiger  be- 
fallen als  das  weibliche.  Die  Krankheit  tritt  ausserdem  bei  den  Weibern 
weniger  intensiv  und  etwas  später  auf.  Die  juvenile  Form  zeigt  keine 
nennenswerthen  Differenzen  bezüglich  der  Geschlechter. 

Klinische  Krauklieitsbilder.  Man  unterscheidet  bei  der  Erb'schen 
Dystrophie,  von  Charcot  „Myopathie  procjressive  primitive"  genannt,  klinisch 
mehrere  Typen,  die  sowohl  bezüglich  des  gesammten  Krankheitsbildes  wie  des 

Bibl.  med.  Wissenschaften.   I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  29 


450.  DYSTROPHIA  MüSCüLORUM  PROGRESSIVA. 

Verhaltens  einzelner  Symptome  bestimmte  Merkmale  aufzuweisen  pflegen. 
Die  wiclitigsten  Abarten  sind :  die  sog.  juvenile  (Eeb),  die  Pseudohypertrophia 
infantilis  (Geiesinger,  Duchenne),  die  hereditäre  (Leyden),  und  die  faciale  s. 
facio-humero-scapulare  (Duchenne,  Landouzy-Dejeeine)  ^).  Das  Einthei- 
lungsprincip  der  Typen  ist,  wie  leicht  zu  merken,  nicht  einheitlich  und 
aus  diesem  Grunde  schon  ä  priori  kaum  haltbar.  Die  nähere  Betrachtung 
der  einzelnen  Typen  wird  die  Unbrauchbarkeit  der  landläufigen  Classification 
ä  posteriori  demonstriren. 

1.  Die  sog.  juvenile  Form  entwickelt  sich  in  früher  Jugend,  seltener 
im  mittleren  Lebensalter,  sehr  häufig  als  Familienkrankheit  auftretend.  Sie 
äussert  sich  in  chronischer  progressiver  Atrophie  und  Schwäche  zahlreicher 
quergestreifter  Muskeln,  speciell  des  Schulter-  und  des  Beckengürtels,  des  Ober- 
arms und  des  Oberschenkels.  Fibrilläres  Zucken  in  den  erkrankten  Muskeln  fehlt 
hier  vollständig,  wie  man  denn  auch  keine  qualitativen  Aenderungen  in  der 
elektrischen  Erregbarkeit  zu  bemerken  Gelegenheit  hat,  mit  Ausnahme  natürlich 
der  durch  Schwund  der  Muskelfasern  an  sich  bedingten  herabgesetzten  Irrita- 
bilität. Vereinzelt '  stehen  die  Befunde  von  fibrillären  Zuckungen  und  Ent- 
artungsreaction  in  den  afficirten  Muskeln.  Die  Sehnenreflexe  verschwinden 
mit  dem  Fortschreiten  des  Muskelleidens.  Störungen  der  Sensibilität,  der 
Sphincteren,  der  Hirnnerven  und  der  trophischen  Verhältnisse  der  Haut  fehlen 
durchaus. 

Von  den  Muskeln  werden  zuerst  ergriffen  der  untere  Theil  der  Pedorales 
und  des  Latissimus  dorsi,  doch  merken  die  Kranken  wegen  der  relativen 
Unwichtigkeit  dieser  Muskeln  davon  oft  wenig.  Von  den  Armmuskeln 
werden  Biceps  und  Triceps  und  mit  ihnen  der  Supinator  longus  afficirt. 
Der  letztere  Muskel  ist  in  der  Regel  der  einzige  der  Vorderarmniuskeln, 
der  einer  intensiven  Atrophie  verfällt.  Atrophie  des  Thenar^  der  Lumhricales 
und  der  Interossei  gehört  zu  den  seltenen  Ausnahmen,  dagegen  werden  der 
Supraspinatus,  In/raspinatus,  Suhscapularis  und  Serratus  magnus  in  der  Mehr- 
zahl der  Fälle  vom  Krankheitsprocesse  betroffen.  Bei  längerer  Dauer  des 
Leidens  wird  auch  die  untere  Körperhälfte  in  weniger  ausgesprochenem  Maasse 
befallen.  An  derselben  leiden  vor  Allem  der  Sacrolumhalis  und  Longissimus 
dorsi,  ein  Theil  der  Bauchmuskeln,  die  Glidaei,  grosse  Theile  der  Oberschenkel- 
musculatur,  endlich  auch  die  Wade  und  theilweise  das  Peroneusgebiet.  Ge- 
legentlich werden  auch  die  mimischen  Gesichtsmuskeln  afficirt.  Im  Verlauf 
des  Leidens  stellen  sich  früher  oder  später  Retractionen  einzelner  Muskeln, 
ein,  besonders  im  Biceps  hrachii,  in  den  Unterschenkelbeugern  und  der  Wade. 
Fast  regelmässig  findet  man  bei  der  juvenilen  Form  sehr  ausgesprochene  Hy-, 
pertrophie  in  manchen,  bei  der  Besprechung  des  „pseudohypertrophischen" 
Typus  näher  zu  erwähnenden  Muskeln. 

2.  Etwas  eigenthümlich  verhalten  sich  diejenigen,  relativ  seltenen  Formen 
von  Dystrophie,  bei  denen  die  Muskeln  des  Gesichts  vor  dem  Eintreten  ander- 
weitiger Krankheitserscheinungen  befallen  werden.  Es  sind  das  die  zum 
facialen  Typus  gehörenden  Formen.  Sie  treten  gewöhnlicli  im  Kindes- 
alter auf,  werden  daher  mit  Rechtim  Gegensatz  zu  den  juvenilen  infantile 
Dystrophien  genannt.  Von  der  Atrophie  wird  fast  ausschliesslich  die  mimi- 
sche Musculatur  befallen.  (Mm.  zygomatici,  Levator  labii  superioris,  Orbicularis 
oris,  Levator  angiüi  oris,  Frontalis,  Orhicularis  palpehrae).  Die  Miene  des  Kin- 
des wird  schläfrig,  gleichgiltig,  ausdruckslos,  die  Wange  eingesunken,  die  Stirn 


^)  Von  manchen  Autoren  wird  noch  ein  tibio-femoraler  und  peronealer  Typus  der 
Dystrophie  unterschieden.  Dieselben  gehören  aber  anatomisch-pathologisch  einer  ganz  diffe- 
renten  Krankheitsgruppe  an  und  sollen  daher  an  einer  anderen  Stelle  näher  besprochen 
werden,  (vergl.  Musculorum  atrophia  prociv.  neuralis.) 


DYSTROPHIA  MÜSCÜLORÜM  PROGRESSIVA. 


451 


glatt,  die  Nasenlippenfurche 
schwindet,  die  Bewegungen  des 
Mundes  werden  mangelhaft,  das 
Pfeifen  unmöglich,  der  Lippen- 
schluss  unvollkommen,  das  Lä- 
cheln erscheint  verändert.  Der 
Kranke  ist  auch  bei  grösster 
Anstrengung  nicht  im  Stande, 
die  Augen  zu  schliessen.  Die 
Diagnose  der  in  Frage  stehen- 
den Dystrophie  wird  durch  die 
,,  Facies  myopathica"  derart  er- 
leichtert, dass  man  sie  auf  den 
ersten  Blick  zu  stellen  vermag. 
Bulbärsymptome  werden  nie 
beobachtet. 

Der  weitere  Verlauf  der 
facialen  Form  zeigt  eine  weit- 
gehende Uebereinstimmung  des 
Symptomenbildes  mit  dem  der 
oben  geschilderten  juvenilen 
Form,  indem  dann  später  die 
Musculatur  der  oberen  Extre- 
mitäten und  des  Rumpfes  in 
der  bekannten  Weise  dem 
Krankheitsprocesse  unterliegen 
(Type  facio  -  humero  -  scapulare) 
und  endlich  die  Beine  progres- 
siv atrophiren.  Hypertro- 
phien begegnet  man  bei  der 
facialen  Form  bedeutend  sel- 
tener als  bei  der  juvenilen  und, 
wo  sie  vorkommen,  localisiren 
sie  sich  ebenfalls  in  den  bei 
dem  „hypertrophischen"  Typus 
zu  erwähnenden  Muskeln. 

3.  Die  in  der  grossen 
Gruppe  der  Dystrophien  die 
Mehrzahl  bildende  pseudo- 
hypertrophische Form  beginnt  in  frühester  Jugend,  meist  zwischen 
dem  4.  und  10.  Jahre  und  ist  auch  prognostisch  ungünstiger  als  die  meisten 
übrigen  Formen  zu  beurtheilen.  In  der  Regel  stellt  sich  etwa  im  5.  Jahre 
eine  unnatürliche,  deutlich  wahrzunehmende  Volumszunahme  bestimmter 
Muskeln  ein,  welche  besonders  im  Gegensatze  zu  anderen  schlecht  entwickelten 
Muskeln  auffällig  sind.  Die  Kinder  fangen  an  spät  und  ungeschickt  zu  laufen, 
fallen  bald  hin  und  richten  sich  nur  mit  Mühe  auf,  beim  Treppensteigen 
müssen  sie  sich  am  Geländer  festhalten  und  in  die  Höhe  ziehen.  Diese  auf 
Verminderung  der  Muskelkraft  beruhenden  Anomalien  richten  in  der  Regel 
die  Aufmerksamkeit  auf  sich,  bevor  in  dem  Umfang  der  Muskeln  eine  Ver- 
änderung bemerkt  wird.  Am  häufigsten  und  frühesten  werden  die  Waden- 
muskeln, am  häufigsten  und  stärksten  der  Infraspinatus  von  der  Hypertrophie 
befallen.  Oft  sind  alle  Extensoren  am  Oberschenkel  vergrössert,  zuweilen 
nur  der  Rectus  oder  Vastus  internus.  Die  Glutaei  und  Lendenmuskeln  werden 
regelmässig  hypervoluminös.  An  der  oberen  Körperhälfte  werden  neben  dem 
Infraspinatus  von  der  Hypertrophie  befallen  der  Siqwaspinatus  und  Deltoideus, 

29* 


Kg.  1. 

PsRudoliypertrophia  musculorum. 

(Nach  einer  Originalphotographie  der  II.  medic.  Klinik 

zu  Wien.) 


452  DYSTROPHIA  MüSCüLORUM  PROGRESSIVA. 

zuweilen  auch  der  Triceps.  Die  Yorclerarmmuskeln  leiden  nur  in  der  Mino- 
rität der  Fälle  und  die  Muskeln  der  Hand  bleiben  gewöhnlich  ganz  frei. 

Atrophisch  werden  bei  der  pseudohypertrophischen  Form  gefunden: 
die  Pectot^ales,  CitcuUares,  Latissimi,  Bhomhoidei^  Biceps,  Brachialis  internus, 
Supinator  longus  u.  s.  w.,  kurz,  die  bei  dem  juvenilen  Typus  genannten 
Muskeln.  In  manchen  Muskeln  sieht  man  deutlich  die  Hypertrophie  der 
Atrophie  vorausgehen. 

Die  ungeheure  Volumszunahme  der  Waden,  Podex,  des  Oberarmes,  ge- 
wöhnlich auf  pathologischer  VeränderuLg  des  interstitiellen  Fettgewebes  be- 
ruhend, verleihen  dem  Individuum  etwas  Riesenhaftes.  Die  colossalen  Massen 
fühlen  sich  ziemlich  weich  und  schwammig  an,  ihre  elektrische  Erregbarkeit 
und  grobe  Kraft  ist  infolge  der  Abnahme  der  Muskelfasern  in  nicht  geringerem 
Maasse  herabgesetzt,  als  in  den  primär  atrophischen  Gebieten.  Nur  äusserst 
selten  ist  die  Volumzunahme  der  Muskeln,  als  Ausdruck  wirklicher  Hyper- 
trophie mit  compensatorischer  Functionssteigerung  aufzufassen. 

4.  Die  sogenannte  hereditäre  Muskelatrophie  ist  zum  ersten  Mal  von 
Leyden  unter  diesem  Namen  als  specieller  Typus  beschrieben  worden.  Die 
von  ihm  gegebene  Definition  dieser  Form  lässt  sich  dahin  zusammenfassen: 
„hereditäres  oder  wenigstens  familiäres  Auftreten  —  Ueberwiegen  des  männ- 
lichen Geschlechts  —  Beginn  im  späten  Kindesalter  (8. — 10.  Lebensjahr)  oder 
um  die  Zeit  der  Pubertät  —  Beginn  stets  mit  Schv\^äche  im  Kreuz  und  den 
Beinen  —  häufig  Neigung  zu  Lipomatose  der  Muskeln  —  Schultern  und  Arme 
erst  nach  Jahren  mit  einfacher  Atrophie  begrifi'en."  Es  bietet  somit  die  „here- 
ditäre" Form  in  allen  wesentlichen  klinischen  Merkmalen  eine  so  weite  Ueber- 
einstimmung  mit  der  ,. juvenilen"  und  der  ihr  nahestehenden  „pseudohyper- 
trophischen" Form,  dass  sie  kaum  auf  eine  specielle  Besprechung  Anspruch  zu 
erheben  vermag. 

Manche  Anomalien  in  der  Haltung,  Form  und  Bewegung  des 
Körpers  sind  mit  Um^echt  für  einzelne  Typen  der  Dystrophie  als  charakte- 
ristisch beschrieben  worden.  Die  Anomalien  sind  keineswegs  einzig  und  allein 
für  diese  oder  jene  Form  pathognostisch,  sie  sind  in  gleichem  Maasse  allen 
Typen  eigenthümlich  und  werden  ausschliesslich  durch  die  Localisation  der 
Atrophie  an  bestimmten  Muskelgruppen  verursacht.  Als  charakteristisch  für  die 
Dystrophie  werden  betrachtet:  die  sogenannte  Facies  myopathica,  die 
stark  herabgesunkenen  Schultern,  die  abstehenden  Schulter- 
blätter, das  Hervortreten  der  Schulterecke,  die  sogenannten 
losen  Schultern,  die  ab  norme  Beweglichkeit  des  Schulterblattes, 
der  watschelnd  unbeholfene  Gang,  das  Emporklettern  an  sich 
selbst  beim  Aufstehen  vom  Bodensitzen,  die  Lendenlordose, 
die  Verbreiterung  der  unteren  Partien  des  Rippenkorbes,  die 
Ptetraction  verschiedener  Muskeln  mit  consecutiven  Distor- 
sionen. 

Sehen  wir  uns  näher  die  Pathologie  der  einzelnen  Anomalien  an.  Die 
^Facies  myopathica"  und  ihre  Abhängigkeit  von  der  Atrophie  der  Gesichts- 
musculatur  wurde  beim  facialen  Typus  genauer  besprochen.  Unter  „losen 
Schultern"  versteht  Erb  die  Haltlosigkeit  der  Schultern,  wenn  man  die  Kran- 
ken unter  den  Armen  fasst  und  sie  in  die  Höhe  heben  will;  sofort  steigen  die 
Schultern  bis  zu  den  Ohren  empor.  Das  Ganze  beruht,  ebenso  wie  das 
„weite  Abstehen  der  Schulterblätter",  auf  der  mangelhaften  Fixation 
der  Schultern  wegen  der  Lähmung  der  Latissimi  dorsi,  der  unteren  Abschnitte 
der  Pedorales  und  Cucidlares.  Das  „Hervortreten  der  Schult  er  ecke", 
richtiger  des  inneren  oberen  Schulterblattwinkels  ist  ebenfalls  Folge  der  man- 
gelhaften Fixation  der  Scapula  durch  den  atrophischen  Cucidlaris  und  der  über- 
wiegenden Wirkung  der  erhaltenen  Rhomhoidei  und  des  Levator  anguli.  Die 
antagonistische  Wirkung  der  Teretes  und  Infraspinati  bei  relativer   Schwäche 


DYSTROPHIA  MüSCüLORUM  PROGRESSIVA. 


453 


der  Cucullares  nndi  Bhomboidei  bedingt  die  „abnorme  Beweglichkeit  des 
Schulterblattes",  das  starke  Nachaussenrticken  der  Scapularspitze,  wenn 
man  den  horizontal  erhobenen  Arm  gegen  ki'äftigen  Widerstand  herab- 
drücken lässt. 

Der  „watschelnd  unbeholfene  Gang",  die  Schwierigkeit  beim  Treppen- 
steigen beruhen  hauptsächlich  auf  der  Schwäche  der  Strecker  von  Knie  und 
Hüfte.  Der  Glutaeus  maximus,  der  das  Bein  gegenüber  dem  Becken  zu  strecken, 
und  der  Psoas,  der  es  zu  heben  hat,  leiden  gewöhnlich  am  frühesten  bei  der 
Pseudohypertrophie.  Die  grösste  Anomalie  zeigt  sich  jedoch  beim  Aufstehen 
vom  Boden,  wenn  es  überhaupt  noch  möglich  ist,  und  keine  Gegenstände  in 
der  Nähe  sind,  mit  deren  Hilfe  der  Kranke  sich  aufrichten  kann.  Das  Kind 
stützt  sich  mit  den  Händen  auf  dem  Boden  auf,  streckt  die  Beine  nach  hinten 
weit  aus,  und  während  so  das  Hauptgewicht  des  Piumpfes  auf  den  Händen 
ruht,  werden  die  Zehen  fest  gegen  den  Boden  gedrückt  und  der  Körper  so 
weit  nach  hinten  gelagert,  bis  die  Last  desselben  gleichmässig  auf  Händen 
und  Füssen  ruht;  diese  sind  so  weit  als  möglich  von  einander  entfernt.  Die 
Hände  werden  alternirend  auf 
dem  Boden  zurückgesetzt,  so 
dass  ein  grösserer  Theil  der  Last 
von  den  Füssen  getragen  wdrd. 
Dann  wird  eine  Hand  auf  das 
entsprechende  Knie  aufgesetzt 
und  indem  sich  der  Patient 
mit  dieser  und  der  noch  auf 
dem  Boden  befindlichen  Hand 
abstösst,  werden  die  Extensoren 
der  Hüfte  befähigt,  den  Rumpf 
aufzurichten.  Das  „Empor- 
klettern an  sich  selbst'- 
beruht  somit  ebenfalls  auf  der 
Schwäche  der  Extensoren  des 
Knies. 

Die  charakteristische  „Aus- 
wärtskrümmung der  unte- 
ren Rippen"  wird  durch  die 
Schwäche  des  Obliquus  und 
Transversus  abdominis  erzeugt. 
Eine  andere  sehr  auffallende 
Difformität,  welche  hauptsäch- 
lich durch  Muskelschwäche  her- 
vorgebracht wird,  ist  die  „lor- 
do  tische  Verkrümmung 
der  Wirbelsäule."  Sie  beruht 
nicht,  wie  gewöhnlich  behaup- 
tet wird,  auf  der  Schwäche  der 
Rumpfmusculatur,  sondern  der 
Extensoren  der  Hüfte,  infolge 
deren  das  Becken  nach  vorne 
geneigt  ist  und  mit  ihm  die 
unteren  Lendenwirbel  und  das 
Abdomen.  Der  Oberkörper  muss 
stark  hintenüber  geneigt  wer- 
den, um  den  Schwerpunkt  rich- 
tig über  die  Füsse  zu  bringen. 
Die    Lordose    schwindet    des- 


Fig.  2 

Lordotische  Verkrümmung  der  Wirbelsäulo  durch  Di/stynpkia 

musculorum  progressiva.  (Nach  einer  Original-Photographie  der 

II.  medic,  Klinik  zu  Wien). 


454  DYSTROPHIA  MUSCULORÜM  PROGRESSIVA. 

halb  beim  Sitzen,  wenn  das  Becken  auf  den  Tubera  iscliii  gestützt  wird.  Atro- 
phiren  die  Rückenstrecker,  so  entstehen  „Kyphosen"  und  „Scoliosen", 
die   die  Lordose  zum  Schwinden  bringen. 

„Distorsionen"  gehören  ebenfalls  zu  den  nicht  seltenen  Erscheinungen 
der  Dystrophie  und  werden  durch  die  Verkürzung  und  Contractur  mancher 
Muskeln  bedingt,  speciell  des  Biceps  hrachii,  der  Unterschenkelbeuger  und 
der  Wade.  Die  Eetractionen  beruhen  theils  auf  denselben  Vorgängen,  wie 
die  auch  sonst  zu  beobachtenden  paralytischen  Contracturen,  theils  mag  auch 
die  Wucherung  und  nachfolgende  Retraktion  des  interstitiellen  Bindegewebes 
bei  ihrer  Entstehung  eine  Rolle  spielen.  Die  Deformität  im  Fussgelenke 
(Pes  equinus)  wird  zuweilen  so  gross,  dass  der  Fussrücken  und  die  Vorderseite 
des  Unterschenkels  fast  eine  Linie  bilden.  Ist  eine  Luxation  des  Fussgelenkes 
beim  Pes  equinus  zustande  gekommen,  so  kann  der  Tihialis  anticus  nicht 
länger  als  Flexor  functioniren. 

Pathologische  Anatomie.  Der  pathologisch-anatomische  Befund  ist  bei 
den  verschiedenen  Typen  der  Dystrophie  ziemlich  übereinstimmend.  Folgendes  Bild  ist  den 
von  der  Leiche  entnommenen  Präparaten,  sowohl  wie  den  am  Lebenden  excidirten  Muskel- 
stückchen gemeinsam:  Hypertrophie  und  Atrophie  der  Muskelfasern,  Kernwucherung  und 
Vacuolisirung,  Spaltbildungen  und  Theilungen  derselben,  Hyperplasie  und  Kernvermehrung 
des  Bindegewebes,  Verdickung  und  Kernwucherung  an  den  Gefässwandungen,  zunehmende 
Einlagerung  von  Fettzellen  bis  zu  den  höchsten  Graden  der  Lipomatose.  Der  Grad  dieser 
einzelnen  Veränderungen  ist  allerdings  in  den  einzelnen  Fällen  ein  sehr  verschiedener; 
allein  es  handelt  sich  dabei  lediglich  um  quantitative  Unterschiede.  Circumscripte  perimuscu- 
läre  Lipomatose  wird  ausnahmsweise  beobachtet.  In  seltenen  Fällen  von  Dystrophie  findet 
man  die  grauen  Vorderhörner  des  Rückenmarkes  aificirt  (Heubner,  Strümpell,  Kahler),  in 
der  Regel  ist  der  Befund  am  centralen  und  peripheren  Nervensystem  durchaus  negativ. 

Rückblick.  Die  genauere  vergleichende  Durchsicht  der  einzelnen  Abarten 
der  Dystrophie  zeigt  in  eindringlicher  Weise,  dass  alle  die  4  Formen  unterein- 
ander in  den  wesentlichen  ätiologischen  und  klinischen  Merkmalen  und  dem  patho- 
logisch-anatomischen Verhalten  eine  so  weitgehende  Uebereinstimmung  aufwei- 
sen, dass  ihre  Grenzen  sich  verwischen  und  eine  scharfe  Trennung  derselben  nicht 
gut  möglich  ist.  Es  zeigen  die  einzelnen  Typen  untereinander  jedenfalls  nicht 
mehr  Differenzen,  als  sie  auch  sonst  unter  den  unzweifelhaft  zu  einer  Gruppe 
gehörigen  Fällen  vorkommen.  Es  erscheint  aus  diesem  Grunde  gerechtfertigt, 
sie  zu  einer  nosologisch  zusammengehörigen  Krankheitsgruppe  zu  vereinigen 
und  als  klinische  Einheit  aufzufassen.  In  der  That  handelt  es  sich  überall 
um  eine  weitverbreitete  Atrophie  vieler  Muskeln,  wie  sie  bei  der  juvenilen  und 
facialen  Form  geschildert  wurde.  Die  atrophischen  Muskeln  zeigen  in  Bezug 
auf  ihr  objectives  Verhalten,  mechanische  und  elektrische  Erregbarkeit,  fibril- 
läre  Zuckungen  u.  s.  w.  bei  allen  Typen  eine  absolute  Uebereinstimmung. 
Dasselbe  gilt  von  den  constant  an  bestimmten  Muskelgruppen  sich  localisirenden 
Hypertrophien.  Bei  langem  Bestehen  des  Leidens  verbreitet  sich  bei  jeder 
Form  der  Dystrophie  die  Affection  fast  über  den  ganzen  Körper.  Die  charak- 
teristischen Störungen  in  der  Haltung,  Form  und  Bewegungen  des  Körpers 
sind  in  den  letzten  Stadien  des  Leidens  bei  allen  Formen  identisch,  und  sind 
deshalb  die  Fälle  nicht  selten,  in  denen  alle  4  Typen  in  gleichem  Masse  ver- 
treten sind.  Der  Unterschied  zwischen  den  einzelnen  Hauptformen  besteht 
mithin  nur  darin,  dass  hier  zuerst  das  Gesicht  (faciale),  dort  die  oberen  Ex- 
tremitäten (juvenile),  resp:  die  unteren  (hereditäre)  zuerst  befallen  werden,  hier 
die  Hypertrophie  vorausgeht  und  im  Vordergrunde  steht  (pseudohypertrophische), 
dort  sie  fast  ganz  zurücktritt  (faciale),  hier  juvenil,  dort  infantil  sich  ent- 
wickelt etc.  „Ob  ein  paar  Muskeln  mehr  oder  weniger  im  Gesicht  oder  an  der 
Hand  oder  am  Bein  ergriien  sind,  das  ist  gewiss  für  die  nosologische  Stellung 
nicht  entscheidend  bei  einer  Krankheit,  die  nach  und  nach  fast  das  ganze 
Muskelsystem  befallen  kann."  (Erb). 

Uebrigens  verlieren  die  geringen  Differenzen  im  Beginn  und  der  Loca- 
lisation  bedeutend  an  Gewicht  bei  genauerer  Berücksichtigung  der  sog.  un- 


DYSTROPHIA  MüSCüLORUM  PROGRESSIVA.  455 

bestimmten  und  Uebergangsformen.  In  den  letzteren  finden  wir  bei 
dem  einen  Typus  die  Kriterien  des  anderen  sehr  ausgesprochen,  z.  B.  bei  der 
sog.  Leyden'schen  hereditären  Form  die  Eigenthümlichkeiten  der  infantilen 
oder  pseudohypertrophischen  und  das  Fehlen  der  Heredität.  Es  gibt  ferner  Fälle, 
welche  zu  verschiedenen  Zeiten  ihres  Verlaufes  den  Typus  verschiedener  For- 
men darbieten,  endlich  solche,  die  nicht  sicher  zu  classificiren  sind  und 
über  deren  Angehörigkeit  zur  Dystrophie  doch  nicht  der  mindeste  Zweifel 
bestehen  kann.  Für  die  EßB'sche  Ansicht  von  der  Identität  der  verschiedenen 
Typen  spricht  schliesslich  noch  die  Thatsache,  dass  in  einer  und  der- 
selben Familie  sich  mehrere  Formen  zugleich  vertreten  finden.  Da  die 
Identität  aller  Typen  heutzutage  wohl  als  feststehend  gelten  darf,  so  wäre 
die  besondere  Bezeichnung  derselben,  die  nur  Verwirrung  in  die  Diagnosen- 
stellung bringt,  gänzlich  zu  vermeiden. 

Pathogenese.  Haben  wir  es  bei  der  Dystrophie  mit  einer  primären  und 
localen  Erkrankung  des  Muskelgewebes,  oder  mit  einer  primären  Störung 
im  Nervensystem,  etwa  mit  einer  Affection  der  trophischen  Centren  oder 
Leitungsbahnen  zu  thun?  Die  meisten  Autoren  (Chaecot,  Schultze,  Licht- 
heim, Landouzy,  Dejerine)  entscheiden  die  Frage  in  dem  Sinne,  dass  eine 
primäre  Myopathie  vorliege. 

Für  die  myopatliische  Natur  sclieineu  folgende  Thatsachen  zu  sprechen: 
1.  Das  fast  regelmässige  Fehlen  anatomisch-pathologischer  Veränderungen  im  Rücken 
marke  und  den  peripheren  Nerven.  2.  Die  Verschiedenheit  der  an  den  Muskeln  festzustel- 
lenden Veränderungen  von  denjenigen,  welche  man  bei  echten  ..neurotischen"  Atrophien,  bei 
traumatischen  Nervenläsionen,  bei  Poliomyelitiden  u.  s.  w.  zu  finden  gewohnt  ist.  3.  Die 
von  manchen  Autoren  (Schäffer)  gemachte  Beobachtung,  dass  bei  unzweifelhaft  örtlichen 
Einwirkungen  (Sarcom,  Carcinom)  aut  die  Muskelsubstanz  ganz  ähnliche  histologische  Ver- 
änderungen auftreten,  wie  bei  der  Dystrophie  :  Kernwucherung,  Atrophie,  Vacuolen-  und 
Spaltbildung,  dichotomische  Theilung.  4.  Manche  bei  der  Muskelregeneration  nach  Wunden, 
Verbrennung    beobachteten  Vorgänge,  die  an  die  dystrophischen  erinnern. 

Die  myelopathische  Theorie  besitzt  ebenfalls  ihre  Anhänger  (Knüll,  Moebius, 
Liebermeister,  Erb).  Erb  betrachtet  die  Dystrophie  als  eine  Trophoneurose  der  Muskeln, 
abhängig  von  functionellen,  mikroskopisch  nicht  nachweisbaren  Störungen  der  trophischen 
Rückenmarkscentren.  Folgende  Thatsachen  vermögen  theilweise  der  neuropathischen 
Theorie  ihre  Berechtigung  zu  wahren  :  1.  Das  gleichzeitige  Vorkommen  sonstiger  nervöser 
Störungen  und  Degenerationszeichen  bei  den  Dystrophikern  selbst  oder  in  ihren  Familien 
(Schwachsinn,  Idiotie,  Epilepsie,  Albinismus,  Eclampsie,  Diabetes,  Migräne,  Chorea,  Hysterie, 
Psychosen).  2.  Das  Vorkommen  von  spinalen,  resp.  peripheren,  saturninen  Amyotrophien  und 
der  DuCHENNE-ARAN'schen  progressiven  spinalen  Muskelatrophie  mit  gelegentlicher  pri- 
märer Localisation  am  Schultergürtel  und  am  Rumpfe,  wie  es  nur  bei  der  Dystrophie 
der  Fall  zu  sein  pflegt.  3,  Die  Localisation  der  Dystrophie  in  bestimmten  Muskeln  und 
Nerv-Muskelgebieten,  theils  in  solchen,  die  einer  bestimmten  gemeinsamen  Function  die- 
nen, was  doch  auf  ein  gemeinsames  Innervationscentrum  schliessen  lässt,  theils  in  solchen, 
die  zu  bestimmten,  in  den  Plexus  oder  peripheren  Nerven  nachgewiesenen  Innervations- 
gebieten  gehören.  Es  erinnert  somit  an  die  spinale  Kinderlähmung,  an  gewisse  Plexusläh- 
mungen, an  die  Bleilähmungen,  an  die  sog.  ERß'sche  Supraclavicular  lähmung.  4.  Das  Vor- 
kommen dystrophischer  Muskelveränderungen  bei  unzweifelhaft  spinalen  Erkrankungen.  Es 
werden  hypervoluminöse  Fasern  bei  spinaler  Kinderlähmung,  bei  Syringomyelie,  Polio- 
myelitis ant.  chron..  bei  spinaler  progressiver  Muskelatrophie  beobachtet.  5.  Endlich 
sind  von  besonderem  Interesse  die  pathologisch-anatomischen  Befunde,  welche  man  in  ein- 
zelnen Fällen  von  Dystrophie  am  Rückenmark  erhoben  hat,  nämlich  weitverbreitete  Affec- 
tion der  grauen  Vordersäulen  (Strümpell). 

Die  seltenen  positiven  Befunde  am  Rückenmarke,  das  gelegentliche  Auftreten  von 
Entartungsreaction  und  von  fibrillären  Zuckungen  machen  es  wahrscheinlich,  dass  eine  gewisse 
Verwandtschaft  zwischen  der EnB'schen  Dystrophie  und  derDucHENNE-ARAN'schen  spinalen 
Amyotrophie  besteht.  Uebergangsformen  und  Combinationen  beider  Gruppen  werden  klinisch 
äusserst  selten  beobachtet.  In  welchen  Beziehungen  die  an  den  Muskelfasern  ablaufenden 
Vorgänge  zu  den  Vorgängen  am  Bindegewebe  stehen,  ob  die  Hyperplasie  des  Bindegewebes 
Folge  der  gleichen  Schädlichkeit,  ob  sie  der  Ausdruck  des  gleichen  allgemeinen  patho- 
logischen Vorganges,  also  der  Muskelveränderung  coordinirt  ist,  oder  ob  sie 
erst  die  Folge  dieser  Muskelveränderung,  ihr  subordinirt  ist,  durch  die  mit  der  Muskel- 
veränderung einhergehenden  Reize  oder  durch  den  Schwund  der  Fasern  an  sich  etwa  ausgelöst 
wird,  lässt  sich  nicht  mit  Bestimmtheit  entscheiden.    So  viel  scheint  festzustehen,  dass  die 


456  DYSTROPHIA  MüSCüLORUM  PROGRESSIVA. 

Hypertrophie  und  Lipomatose  der  Atrophie  zeitlich  vorausgehen,  wenngleich  keineswegs  jede 
atrophische  Muskelfaser  ein  hypertrophisches  resp.  lipomatöses  Stadium  durchmachen  muss. 
Das  Endergebnis  ist  überall :  gänzlicher  Schwund  des  Muskelgewebes  und  an  Stelle  desselben 
entweder  eine  atrophische  und  sklerotische  oder  eine  luehr  hypertropische 
Lipomatose. 

Die  Diagnose  der  Dystrophie  macht  selten  irgend  welche  nennens- 
werthen  Schwierigkeiten.  Das  Alter  der  Patienten,  die  familiär  hereditären 
Momente,  die  frühzeitige  Localisatiou  der  Atrophie  (Latissimus  und  Pectorales) 
und  Hypertrophie  (Infraspinatus  und  Gastrocnemius),  das  Freibleiben  der  kleinen 
Handmuskeln,  das  Verhalten  der  Muskeln  mechanischen  und  elektrischen 
Reizen  gegenüber,  die  Anomalien  der  Haltung,  Bewegung  und  Form  des 
Körpers,  das  stets  normale  Verhalten  der  Sensibilität,  die  patologisch-anato- 
mischen  Veränderungen  an  den  excidirten  Muskelstücken  charakterisiren 
genügend  das  Bild. 

Differentialdiagnostisch  kommen  nur  wenige  Krankheiten  in 
Betracht. 

Bei  der  spinalen  progressiven  Muskelatrophie  findet  man 
hauptsächlich  Aö'ection  des  Thenars  und  Hypothenars,  Fortschreiten  der  Atro- 
phie im  Allgemeinen  von  der  Peripherie  nach  der  Wurzel  des  Gliedes,  fibrilläre 
Zuckungen  und  Entartungsreaction ;  bei  der  amyotrophischen  Lateral- 
sclerose  —  bedeutende  Steigerung  der  Sehnenreflexe  und  rascheren  Krank- 
heitsverlauf. Beide  Leiden  sind  übrigens  ziemlich  selten  und  treten  ausnahms- 
weise familiär  und  im  Kindes-  und  Jünglingsalter  auf.  (Hoffmann).  Das  früh- 
zeitige Befallensein  der  Mm.  zygomatici  und  Or'bicularis  oris  (Facies  myo- 
pathica)  und  das  Fehlen  von  Störungen  seitens  der  Larynx,  Pharynx  und 
Zunge  unterscheidet  genügend  die  faciale  Dystrophie  von  Bulbärparalysen. 
Die  Unterscheidung  von  der  sog.  progressiven  neurotischen  Muskel- 
atrophie mit  ihrem  ganzen  charakteristischen  Habitus,  mit  ihrem  Beginn 
an  der  unteren  Extremität,  E  a  R  und  fibrillären  Zuckungen,  mit  der  aus- 
schliesslichen Atrophie  und  häufigen  vasomotorischen  und  Sensibilitätsstörungen 
ist  relativ  leicht. 

Die  Poliomyelitis  ant.  chron.,  die  congenitale  spastische  Pa- 
ralyse, die  Friedreich'sche  hereditäre  Ataxie,  die  angeborenen 
Hüftgelenkluxationen  und  die  doppelseitige  Entbindungsläh- 
mung kommen  ebenfalls  bei  der  Differentialdiagnose  zuweilen  in  Betracht ; 
geübten  und  sorgfältigen  Beobachtern  bereiten  dieselben  jedoch  keine  grossen 
Schwierigkeiten. 

Die  Prognose  ist  ziemlich  zweifelhaft,  besonders  ungünstig  ist  sie  bei 
der  pseudohypertrophischen  Form.  Heilung  der  einmal  aufgetretenen  Atrophie 
wird  leider  nie  beobachtet.  Zuweilen  bleibt  zwar  die  Krankheit  auf  ihr  erstes 
Ausbruchsgebiet  beschränkt,  zuweilen  zeigt  sie  langdauernde  Remissionen.  Selbst 
bei  der  infantil  begonnenen  Dystrophie  können  die  Kranken  ein  hohes  Alter 
erreichen.  Es  gehört  aber  jedenfalls  zu  den  Ausnahmen.  Die  Dauer  des 
Lebens  schwankt  zwischen  10  und  50  Jahren.  Der  Tod  erfolgt  niemals  als 
directe  Ursache  der  Erkrankung,  gewöhnlich  infolge  intercurrenter  Krank- 
heiten oder  durch  eine  acute  Pneumonie  oder  Bronchitis.  In  anderen  Fällen, 
wo  die  Wirbelsäuleverkrümmung  und  die  Lähmung  der  Bauchpresse  intensiv 
sind,  entwickeln  sich  chronische  Lungen-Erkrankungen,  die  dem  hilflosen 
Patienten  den  Tod  herbeiführen.  Der  Krankheits verlauf  der  Pseudo- 
hypertrophie  ist  im  Allgemeinen  bei  Mädchen  ein  langsamerer  als  bei  Knaben. 

Von  einer  wirklichen  Therapie  kann  hier  kaum  die  Rede  sein.  Von 
den  verschiedensten  zur  Anwendung  gekommenen  Medicamenten  hat  sich  kein 
einziges  wirksam  erwiesen.  Phosphor,  Arsen,  Strychnin  werden  am  meisten 
gebraucht.  Die  elektrische  Behandlung  ist  ebenfalls  nutzlos.  Wirksamer  erweist 
sich  systematische  Massage,  mit  passiven  Bewegungen  combinirt  und  gym- 
nastische Uebung  der   hilfsbedürftigen  Muskeln.    Die  Tendenz   zu  Muskelcon- 


DYSTROPHIA  MüSCULORUM  PROGRESSIVA.  457 

tracturen  und  anderen  Diiformitäten  wird  dadurch  vermindert.  Die  Fälligkeit 
zu  gehen  und  zu  stehen  geht  in  der  Regel  durch  die  Contractur  der  Waden- 
muskeln  verloren,  bevor  die  Schwäche  der  Beine  den  Kranken  ans  Bett  fesselt. 
In  solchen  Fällen  kann  dieTenotomie  das  Gehen  noch  Jahre  lang  ermög- 
lichen. .  Beim  Recidiviren  der  Contractur  ist  eine  abermalige  Operation  indicirt. 
Während  des  letzten  Krankheitsstadiums  ist  grosse  Sorgfalt  nöthig,  um  den 
Patienten  vor  intercurrenten  Leiden  zu  bewahren. 

Anhang.  Mit  der  progr.  Muskeldystrophie  gemeinsam  pflegt  gewöhnlich 
ein  Leiden  besprochen  zu  werden,  das  sowohl  seines  klinischen  wie  patho- 
logisch-anatomischen Verhaltens  wegen  auf  eine  specielle  Besprechung  Anspruch 
nehmen  dürfte,  nämlich  die 

Dystrophia  niusciüaris  hyperplastica.  Von  diesem  Leiden  sind  nur 
ziemlich  wenige  Fälle,  gewöhnlich  unter  dem  Titel  „wahre  Muskelhyper- 
trophie", bekannt,  Es  handelt  sich  bei  demselben  um  eine  mit  bedeutender 
Abnahme  der  motorischen  Kraft  verlaufende  Zunahme  des  Volumens  und  der 
Consistenz  der  willkürlichen  Muskeln,  ohne  gleichzeitige  interstitielle  Wu- 
cherung von  Fett  oder  Bindegewebe.  Da  eine  „wahre"  Muskelhypertrophie 
nur  dann  angenommen  werden  darf,  wenn  neben  einer  Vermehrung  der  Muskel- 
substanz auch  die  maximale  Kraftentwickelung  zugenommen  hat,  so  ist  die 
Bezeichnung  Talma's  „hyperplastische  Dystrophie"  wohl  passender. 

Die  am  häufigsten  erkrankten  Muskeln  sind  die  der  Schulter  und  des 
Oberarmes,  oder  die  des  Oberschenkels  und  der  Wade  auf  einer,  resp.  auf 
beiden  Seiten.  Man  hat  auch  die  Trapezii,  Glutaei  und  langen  Rückenmuskeln 
afficirt  gefunden.  Der  Umfang  der  Wade  beträgt  zuweilen  über  40  cm  und 
der  von  allgemeiner  Muskelhypertrophie  befallene  Patient  kann  als  Modell 
eines  Herculesbildes  dienen.  Unglaublich  gering  ist  jedoch  die  Kraft  der 
dicken,  hart  eventuell  normal  weich  sich  anfühlenden  Muskeln.  Mit  vornüber- 
gebeugtem Rumpfe  schleppt  Patient  beim  Gehen  seine  Füsse  über  den  Boden 
fort  und  muss  nach  jeder  Bewegung  wenige  Minuten  ausruhen,  gequält  von 
einem  Gefühle  grösster  Ermüdung.  Die  Krankheit  wird  zuweilen  von  spon- 
tanen Schmerzen  und  Paraesthesien  eingeleitet.  Das  Hautgefülil  leidet  dabei 
sehr  intensiv,  die  elektrische  Erregbarkeit  der  Muskeln  und  Nerven  nimmt 
bedeutend  ab,  die  mechanische  und  reflectorische  Erregbarkeit  bleiben  in  der 
Regel  normal. 

Das  ohne  bestimmte  Aetiologie  einbrechende  Leiden  nimmt  selten 
einen  progressiven  Verlauf,  bleibt  gewöhnlich  auf  einer  bestimmten  Ent- 
wicklungshöhe stationär,  ohne  von  therapeutischen  Eingriffen  in  irgend 
welcher  Weise  beeinflusst  zu  werden.  Differentialdiagnostisch  lässt 
sich  die  hyperplastische  Muskeldystrophie  ohne  nennenswerthe  Schwierig- 
keiten von  analog  verlaufenden  Muskel-  und  Nervenleiden  unterscheiden. 

Das  pathologis ch -anatomische  Bild  unterscheidet  sich  bedeutend 
von  dem  der  wahren  und  der  Pseudohypertrophie.  Es  fehlt  vollkommen  die 
Wucherung  des  Bindegewebes  oder  des  Fettes.  Die  Zahl  der  marklosen 
Nervenfasern  und  der  Kerne  unterhalb  des  Neurilemmas  ist  viel  grösser  als  in 
der  Norm.  Die  Sarkolemmata  sind  fast  überall  verschwunden  oder  wenigstens 
unkennbar  geworden.  Die  Grenzen  der  Primitivbündel  sind  demzufolge 
nirgends  scharf,  zwischen  denselben  sind  viele  Kerne  zu  sehen.  Der  aÖ'icirte 
Muskel  besteht  somit  nicht  mehr  aus  den  alten,  von  Sarkolemmata  begrenzten 
Primitivbündeln,  sondern  aus  anscheinend  neugebildeten.  Die  Zahl  derselben 
ist  dabei  vermehrt  und  ihre  Kerne  nehmen  ebenfalls  an  Zahl  bedeutend  zu. 
Bei  Weitem  der  grösste  Theil  des  Muskelgewebes  zeigt  einen  Verlust  der 
Querstreifung.  Da  nur  diejenigen  Primitivbündel  sich  mit  normaler  Kraft 
contrahiren,  die  die  normale  Querstreifung  behalten,  so  ist  also  der  anato- 
mische Grund  der  Kraftabnahme  trotz  der  Hypertrophie  leicht  zu  ersehen. 


458  ECLAMPSIA  INFANTUM. 

Bezüglich  der  Pathogenese  lässt  sich  nichts  Bestimmtes  aussagen. 
Die  anatomischen  Veränderungen  an  den  Nerven,  die  Paraesthesien  und  spontane 
Schmerzen,  die  objectiven  Sensil}ilitätsstörungen,  die  geringe  Empfindlichkeit 
der  Muskeln  für  den  elektrischen  Strom  machen  den  neurotischen  Ursprung 
des  Leidens  ziemlich  wahrscheinlich.  Die  Frage,  ob  das  Nervenleiden  primär, 
central  oder  peripher  anfängt,  kann  zur  Zeit  nicht  definitiv  gelöst  werden. 

H.    HIGIER. 

Eclampsia  infantum.  (Convulsionen,  Fraisen.)  Sie  ist  eine  der  häufigen 
Kinderkrankheiten;  sie  wäre  noch  bei  weitem  häufiger,  wenn  alles  das,  was 
mit  dem  Namen  „Fraisen"  zum  Arzte  gebracht  wird,  auch  thatsächlich  Eclampsie 
wäre.  Nicht  immer  ist  dfer  Arzt,  zumal  der  Praktiker,  ausserhalb  des  Spi- 
tales  im  Stande,  den  Anfall  zu  sehen,  besonders  dann  nicht,  wenn  es  sich  bloss 
um  einen,  oder  um  wenige  rasch  vorübergehende  handelt.  Es  ist  daher  sehr 
zweckmässig,  sich  stets  bei  der  Behauptung,  das  Kind  hätte  Fraisen  gehabt, 
beschreiben  zu  lassen,  was  eigentlich  an  ihm  beobachtet  worden  war.  Aus 
der  Art  der  Beschreibung,  der  Beantwortung  einiger  Zwischenfragen,  wird 
man  rasch  orientirt  sein,  ob  es  sich  thatsächlich  um  einen  eclamptischen 
Anfall  gehandelt  hat.  In  der  Ptegel  werden  die  Symptome  der  Kolik  der 
Kinder  von  den  Pflegerinnen  derselben  für  eclamptische  Anfälle  gehalten. 

Es  unterliegt  gar  keinem  Zweifel,  dass  der  kindliche  Organismus  sehr 
leicht  zu  Convulsionen  disponirt,  und  dass  dieselben  bei  Kindern  durch  die 
verschiedensten  Ursachen  sehr  leicht  hervorgerufen  werden.  Der  Behauptung 
SOLTMANXS,  dass  das  kindliche  Nervensystem  sich  von  dem  der  Erwachsenen 
dadurch  unterscheidet,  dass  in  der  ersten  Lebensperiode  die  Entwicklung  der 
Hemmungscentren  rückständig  ist,  während  gleichzeitig  die  Erregbarkeit  der 
Peripherie  einen  hohen  Grad  erreicht  hat,  kann  im  Allgemeinen  beigepflichtet 
werden.  Vorwiegend  sind  es  die  ersten  Lebensjahre,  während  welcher  eclamp- 
tische Anfälle  gesehen  werden. 

Unter  eclamptischen  Anfällen  versteht  man  klonische  Zuckungen,  even- 
tuell abwechselnd  mit  mehr  minder  rasch  vorübergehenden  tonischen  Contrak- 
turen,  welche  meist  die  gesammte  Körpermuskulatur  befallen,  und  die  wohl 
immer  einhergehen  mit  völliger  Bewusstlosigkeit  oder  mit  sehr  schwerer  Be- 
wusstseinstörung.  Am  ausgeprägtesten  sind  die  klonischen  Zuckungen  zu  sehen 
in  der  Muskulatur  des  Gesichtes  und  an  den  Extremitäten.  Der  Blick  ist  meist 
starr,  doch  nimmt  in  der  Piegel  auch  die  Muskulatur  des  Auges  und  die  Lid- 
muskulatur an  den  klonischen  Zuckungen  Antheil.  Das  Verhalten  der  Pupillen 
ist  durchaus  ungleichartig,  bald  sind  sie  contrahirt,  bald  erweitert.  Meist 
sind  sie  völlig  reactionslos,  und  ist  die  Pieflexerregbarkeit  des  Bulbus  erloschen. 
Oft  sind  die  Kiefer  aufeinandergepresst,  Schaum  vor  dem  Munde.  Verletzungen 
der  Zunge  bei  grösseren  Kindern  kommen  selu-  oft  vor.  Ebenso  kann  es  vor- 
kommen, dass  die  nach  hinten  geschlagene  Zunge  gewissermassen  geschluckt 
wird  und  ein  Hindernis  für  die  Athmung  bildet.  Es  ist  daher  zweckmässig, 
sich  von  ihrer  Lage  zu  überzeugen  und  dieselbe  zu  corrigieren,  d.  h.  die  fest- 
gekeilte Zunge  wieder  mit  dem  Finger  nach  vorne  umzuschlagen.  Die  Ke- 
spiration  ist  in  der  Kegel  verlangsamt,  stertorös,  mitunter  treten  beängstigend 
lange  Athempausen  ein. 

Wenn  man  in  solchen  Fällen  während  eines  Anfalles  mit  dem  Finger 
in  den  Larynxeingang  eingeht,  findet  man  oftmals,  nicht  immer,  die  Epiglottis 
nach  abwärts  gebogen  und  gegen  den  Larynxeingang  geschlagen. 

Es  gelingt  ohne  Schwierigkeiten,  dieselbe  gerade  zu  richten,  und  man 
kann  öfter  die  Freude  erleben,  dass  sich  in  demselben  Momente  die  Respiration, 
die  sistiert  hatte,  mit  einigen  tiefen  Inspirationen  wieder  herstellt,  die  Cyanose, 


ECLAMPSIA  INFANTUM.  459 

die  bei  solchen  Gelegenheiten  stets  vorhanden  ist,  schwindet,  ja  dass  mit  den 
ersten  tiefen  Athemzügen  der  eclamptische  Anfall  für  jetzt  ein  Ende  hat. 
Natürlich  kann  sich  rasch  ein  neuerlicher  einstellen. 

Viel  seltener  sind  während  der  eclamptischen  Anfälle  die  Kinder  blass. 
Der  Anfall  beginnt  meist  unmerklich,  hie  und  da  mit  einer  langgezogenen, 
lauten  Inspiration,  eventuell  Aufschreien.  Ebenso  werden  gegen  Ende  die 
Zuckungen  seltener  und  seltener,  weniger  intensiv.  Puls  und  Respiration  kehren 
zur  Norm  zurück.  Unwillkürlicher  Abgang  von  Stuhl  und  Urin  während  der 
Anfälle  ist  die  Regel.  Die  Sensibilität  ist  auf  der  Höhe  des  Anfalles  erloschen. 
Nach  demselben  sind  die  Kinder  in  der  Regel  sehr  erschlafft  und  liegen  re- 
gungslos da. 

Die  Dauer  des  einzelnen  Anfalles  ist  sehr  verschieden.  In  der  Regel 
dauert  er  bloss  einige  Minuten.  Doch  auch  10 — 15  Minuten  lange  Anfälle 
und  solche  von  noch  längerer  Dauer  wurden  gesehen.  Ein  einzelner  Anfall 
ist  etwas  sehr  seltenes.  Je  nach  der  Ursache  folgen  die  Recidiven  mehr 
minder  rasch  nach  einander. 

Die  Aetiologie  der  eclamptischen  Anfälle  ist  eine  sehr  verschiedene. 
Es  ist  unmöglich,  es  einem  eclamptischen  Anfalle  anzusehen,  ob  er  dieser 
oder  jener  Ursache  seine  Entstehung  verdankt.  Sie  gleichen  einer  dem  an- 
dern. Es  ist  weiter  unmöglich,  mit  Sicherheit  einen  eclamptischen  Anfall 
von  einem  epileptischen  zu  trennen.  Mögen  nun  die  Anfälle  dieser  oder 
jener  Ursache  ihre  Entstehung  verdanken,  stets  müssen  wir  sie  betrachten  als 
Ausdruck  einer  Reizung  der  motorischen  Gehirncentren.  Diese  Reizung  kann 
veranlasst  sein  durch  materielle,  anatomisch  palpable  Veränderungen,  wie 
z.  B.  bei  einer  grossen  Reihe  von  Gehirn-  und  Rückenmarkskrankheiten: 
Meningitis,  Encephalitis,  Tumoren  des  Gehirnes,  Hydrocephalus,  Poliomyelitis, 
Sinusthrombose,  Embolie,  Blutungen,  Anaemie,  Hyperaemie  des  Gehirnes  etc. 
Stets  gehen  den  eventuellen  Lähmungen,  die  bei  vielen  dieser  Erkrankungen 
eintreten  können  und  eintreten,  Reizerscheinungen,  eclamptische  Anfälle,  voraus. 

Die  eclamptischen  Anfälle  werden  allgemein  sein  und  die  gesammte 
Körpermuskulatur  betreffen,  sobald  es  sich  um  Processe  handelt,  welche  das 
ganze  Gehirn  gleichmässig  aöiciren.  Sie  werden  eine  bestimmte  Reihen- 
folge im  Auftreten,  eventuell  eine  bestimmte  Localisation  einhalten  bei  circum- 
scripten,  localen  Erkrankungen.  Diese  Art  der  eclamptischen  Anfälle  ist  im  All- 
gemeinen bei  Kindern  die  seltenere. 

Man  findet  öfter  bei  Kindern  eclamptische  Anfälle,  für  die  scheinbar 
kein  Grund  auffindbar  ist,  und  die  doch  anatomischen  Veränderungen  im  Ge- 
hirne ihren  Ursprung  verdanken.  So  sah  ich  z.  B.  einmal  ein  Kind,  welches 
im  Laufe  einiger  Jahre  zeitweise  an  eclamptischen  Anfällen  litt,  die  stets  ein 
bis  zwei  Tage  dauerten,  dann  spurlos  schwanden.  Das  Kind  starb  später  an 
Pneumothorax.  Im  Gehirn  fanden  sich  mehrere  kleine,  chronische  tuber- 
culöse  Herde,  die  keine  Herdsymptome  veranlasst  hatten,  aber  wohl  hinreichende 
Erklärung  für  das  Auftreten  der  Anfälle  boten. 

Häufiger  sind  diejenigen  Eclampsien,  welche  im  Gefolge  der  verschieden- 
artigsten Organerkrankungen  des  kindlichen  Organismus  zeitweise  auftreten. 
Man  könnte  sie  reflectorische  Eclampsien  nennen.  Es  soll  jedoch  be- 
merkt werden,  dass  es  wohl  gewisse  Krankheiten  gibt,  mit  denen  sie  gerne 
und  öfter  vergesellschaftet  vorkommen,  aber  keine,  deren  regelmässiger  Be- 
gleiter sie  sind,  wie  bei  den  schon  oben  genannten  Gehirnkrankheiten.  Ob 
nun  die  solche  Krankheiten  begleitende  Anaemie  oder  Hyperaemie  des  Ge- 
hirnes, ob  die  in  vielen  Fällen  im  Beginn  hohe  Temperatur,  mit  der  viele 
dieser  Krankheiten  einsetzen,  ob  bei  Infectionskrankheiten  vielleicht  die  In- 
toxication  des  Blutes,  in  manchen  Fällen  vielleicht  die  Ueberladung  desselben 


460  ECLAMPSIA  INFANTUM. 

mit  Kohlensäure,  die  Ursache  der  Anfälle  ist,  das  zu  entscheiden,  ist  vor- 
läufig ein  Ding  der  Unmöglichkeit,  darüber  kann  man  sich  theoretischen 
Erwägungen  hingeben.  Jedenfalls  scheint  es,  dass  manchen  Individuen  eine 
gewisse  Labilität  und  Eignung  des  Nervensystemes  für  eclamptische  Anfälle 
zukommt.  Dafür  sprechen  die  Berichte  über  das  regelmässige  Vorkommen 
eclamptischer  Anfälle  bei  Kindern  einer  und  derselben  Familie,  ferner  über 
das  gleiche  bei  deren  Kindern  wiederum. 

Mit  Unrecht  hat  man  wohl  die  Dentition  und  die  Helminthen  als 
Ursache  eklamptischer  Anfälle  beschuldigt.  Bezüglich  der  letzteren  wird 
wohl  jeder  Praktiker  über  einen  oder  den  anderen  Fall  verfügen,  wo  nach 
erfolgreichem  Abgange  grösserer  Mengen  von  Ascariden  oder  anderer  Darm- 
parasiten eclamptische  Anfälle,  die  früher  öfter  aufgetreten  waren,  für  immer 
geschwunden  sind.  Auch  ich  erinnere  mich  eines  solchen  Falles.  Doch  was 
will  das  gegenüber  dem  Heer  von  Kindern  bedeuten,  die  mit  Helminthen  be- 
haftet sind.  So  leicht  dürfen  wir  unser  Causalitätsbedürfnis  nicht  befriedigen. 
Darum  ist  es  in  solchen  sporadischen  Fällen  besser,  an  ein  zufälliges  Zu- 
sammentrefien,  als  an  einen  Zusammenhang  zu  denken. 

Häufig  zusammen  kommen  eklamptische  Anfälle  mit  denjenigen  Krank- 
heiten vor,  die  acut  beginnend,  mit  hohem  Fieber  einsetzen.  Vorerst  ge- 
hören hieher  eine  Reihe  von  Krankheiten  des  Ptespirationstraktes  (Pneu- 
monie, Pleuritis,  Angina)  sowie  eine  grosse  Zahl  von  Infectionskrank- 
heiten  (Variola,  Scarlatina,  Sepsis,  Morbilli).  Auch  bei  Intermittens,  Typhus, 
Otitis  media  wurden  sie  beobachtet. 

Bei  Pertussis,  sowie  bei  Laryngospasmus  und  Tetanie  sieht  man  mit- 
unter eklamptische  Anfälle,  wenn  es  sich  um  einen  tonischen  Krampf  der 
Glottismuskulatur  handelt,  die  Respiration  für  längere  Zeit  stille  steht,  die 
Kinder  cyanotisch  werden.  Möglicherweise  handelt  es  sich  hier  um  eine 
rasch  eintretende  Kohlensäureintoxication  des  Blutes.  Bei  Pertussis  kommen 
auch  eventuelle  Haemorrhagien  in  den  Gehirnhäuten  in  Betracht,  die  in  den 
so  häufigen  Conjunctivalblutungen  bei  dieser  Krankheit  ein  Analogon  finden. 

Relativ  am  häufigsten  findet  man  eklamptische  Anfälle  bei  Störungen 
des  Digestionstraktes,  hier  zum  Theile  veranlasst  durch  mechanische 
Momente,  Ueberladung  des  Magens  mit  schwer  verdaulichen  und  nicht  zu 
bewältigenden  Speisemassen  oder  durch  die  in  Folge  der  Einführung  schäd- 
licher und  zersetzter  Ingesta  entstandene  Erkrankung  des  Magendarmkanals. 
Ob  die  dabei  sich  im  Organismus  regelmässig  bildenden  Aceton  und  Acet- 
essigsäure  mit  den  Anfällen  in  irgend  einem  Nexus  stehen,  ist  erstens  un- 
entschieden, zweitens  sehr  unwahrscheinlich.  Denn  die  Zahl  der  Erkrankungen 
des  kindlichen  Organismus,  die  mit  der  Bildung  dieser  Körper  einhergehen, 
ist  eine  sehr  grosse,  und  es  gibt  nur  sehr  wenige  febrile  Processe,  wo  sie 
fehlen. 

Nicht  vergessen  dürfen  wir  die  eklamptischen  Anfälle  im  Verlaufe  der 
Nephritis,  die  urämischen  Anfälle.  Sie  unterscheiden  sich  von  den 
eklamptischen  höchstens  durch  ihre  lange,  oft  12  Stunden  lange  Dauer.  In 
einigen  Fällen  mag  es  sich^  hiebei  um  Retention  von  Abfallstoffen  handeln, 
sicher  ist  mitunter  Oedema  cerebri  vorhanden,  constatirbar  durch  das  gleich- 
zeitig vorhandene  Oedem  der  Retina,  dieses  Vorpostens  des  Gehirnes. 

Auch  periphere  Reize,  z.  B.  Phimosen,  Rectumpolypen,  Harnsteine, 
Verletzungen  sollen  des  öfteren  von  eklamptischen  Anfällen  begleitet  sein. 
Weiter  müssen  wir  noch  der  terminalen  Krämpfe  gedenken,  die  bei  manchen 
Erkrankungen  des  Respiration-  und  Circulationsapparates  versus  finem  ein- 
treten, gewöhnlich  gepaart  mit  starker  Cyanose.  Auch  Vergiftungen  mit  ge- 
wissen Alkaloiden,  mit  Alkohol,  gehen  mit  eklamptischen  Anfällen  einher,  be- 


ECLAMPSIA  INFANTUM.  461 

sonders  bei  Säuglingen.  Hier  ist  es  auch  möglich,  dass  diese  Stoffe  durch 
die  Milch  von  Mutter  auf  Kind  übergehen. 

Wir  wollen  nicht  behaupten,  dass  wir  hiemit  alle  Krankheiten  aufgezählt 
haben,  bei  denen  eklamptische  Anfälle  vorkommen  und  vorkommen  können. 
Dies  ist  auch  nicht  unsere  Absicht.  Jedenfalls  darf  der  Arzt  sich  mit  der 
Diagnose  Edampsie  nicht  begnügen,  muss  sie  als  Symptom  eventuell  Com- 
plication  betrachten,  welche  ihn  zu  sorgfältiger  Untersuchung  der  Kranken, 
zum  Nachforschen  nach  dem  Grunde  der  Anfälle  auffordert. 

Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  mitunter  ein  eklamptischer  Anfall 
eigentlich  ein  epileptischer  ist.  Es  kann  vorkommen,  dass  ein  Kind  in 
den  ersten  Zeiten  seines  Lebens  bei  dieser  oder  jener  Gelegenheit  eklamp- 
tische Anfälle  bekommt,  dann  eine  längere  freie  Pause  eintritt,  schliesslich 
sich  bei  dem  Individuum  typische  epileptische  Anfälle  einstellen.  Es  ist  dies 
jedoch  nur  selten  der  Fall.  Viele  Kinder  haben  nur  einmal  im  Leben  einen 
oder  mehrere  eklamptische  Anfälle  und  dann  nicht  wieder. 

Die  Prognose  der  eklamptischen  Anfälle  ist  im  Allgemeinen  keine  gute. 
Sie  ist  absolut  ungünstig,  dort,  wo  es  sich  um  materielle  Veränderungen  im 
Gehirne  handelt.  Sie  bilden  eine  schwere  Complication  aller  Erkrankungen, 
bei  denen  sie  vorkommen.  Tod  während  der  Anfälle  besonders,  wo  es  sich 
um  heftige,  lange  dauernde  handelt,  ist  nicht  sehr  selten.  Offenbar  handelt 
es  sich  hier  um  Erschöpfung,  schliessliche  Lähmung  der  Muskulatur  des  Zwerch- 
felles und  des  Herzens. 

Folgen  der  eclamptischen  Anfälle  kommen  in  der  Ptegel  keine  vor. 
Manche  geben  Geistesschwäche  und  Blödsinn  als  Folge  an.  Doch  ist  es  in 
diesen  Fällen  wahrscheinlicher,  dass  es  sich  um  destructive  Processe  im  Ge- 
hirne handelt,  die  die  Anfälle  in  ihrem  Gefolge  haben.  Bei  letal  endenden 
Fällen  findet  man  Blutungen  in  den  serösen  Häuten,  Blutungen  in  den  Menin- 
gen; viele  dürften  wahrscheinlich  durch  die  Anfälle  veranlasst  sein.  Auch 
Fracturen  der  Knochen,  entstanden  durch  die  Heftigkeit  der  Bewegungen 
während  des  Anfalls  wurden  beschrieben.  Es  ist  dies  übrigens  bei  der  Knochen- 
brüchigkeit  mancher  Bhachitiker  durchaus  nicht  wunderbar  oder  unwahr- 
scheinlich.    Mitunter  ist  Lungenödem  Folge  der  eklamptischen  Anfälle. 

Die  pathologischen  Veränderungen,  die  man  bei  Kindern  findet,  die 
einem  eklamptischen  Anfalle  erliegen,  richten  sich  nach  der  Grundkrankheit 
und  sind  in  Folge  dessen  sehr  mannigfaltige.  Stets  findet  man  in  den  Menin- 
gen Hyperaemie,  dilatirte  Gefässe,  nicht  gar  zu  selten  mehr  weniger  reiche 
kleinste  Blutungen.  Bei  kleinen  Kindern  wird  man  ausserdem  oft  von  dem 
Vorhandensein  einer  in  vivo  nicht  diagnosticirten  mehr  weniger  ausgedehnten 
lobären  oder  lobulären  Pneumonie  überrascht.  Eingehendere  Untersuchungen 
des  Centralnervensystemes  solcher  Fälle  wären  übrigens  sehr  erwünscht. 

Therapie:  Wir  sind  heute  im  Stande,  jeden  eklamptischen  Anfall 
sofort  zu  coupiren.  Damit  haben  wir  gewiss  schon  viel  gethan,  da  der  Aufall 
als  solcher,  abgesehen  von  seiner  Aetiologie,  an  und  für  sich,  besonders  bei 
langer  Dauer,  tödtlich  enden  kann.  Das  souveräne,  nie  versagende  Mittel 
in  diesem  Falle  ist  das  Chloroform.  Selbstverständlich  soll  der  Arzt  selbst 
Chloroformiren  und  zwar  so  lange  bis  die  Zuckungen  aufgehört  haben.  Irgend 
einen  Nachtheil  von  der  Narkose  haben  wir  bei  Kindern  bisher  nicht  ge- 
sehen, wenn  sie  unter  entsprechenden  Cautelen,  mit  sorgsamer  Controle  des 
Pulses  und  der  Respiration  vorgenommen  wurde.  Es  ist  erstaunlich,  wie  leicht 
Kinder  die  Narkose  vertragen,  und  wie  geringe  Unannehmlichkeiten  sie  ihnen 
nach  dem  Erwachen  bereitet.  Man  heilt  mit  der  Narkose  keine  Eclampsie, 
aber  man  beseitigt  immer  den  Anfall  in  raschester  Weise.  Besonders  bei 
uraemischen  Anfällen  ist  sie  am  Platze.  Dass  man  sich  von  dem  Verhalten 
der  Zunge  und  des  Kehldeckels  stets  überzeugen  solle,  haben  wir  bereits 
oben  erwähnt. 


462  ECLAMPSIA  INFANTUM. 

Stets  befreie  man  das  Kind  von  allen  beengenden  Kleidungsstücken, 
sorge  füi  Zuführung  frischer  Luft,  frottire  Brust  und  Abdomen,  eventuell 
das  Gesicht  mit  einem  nassen  Tuch.  —  Ist  Fieber  vorhanden,  dann  setze 
man  in  jedem  Falle  die  Temperatur  herab.  Eascher  und  sicherer  als  durch 
jedes  Antipyreticum,  dessen  Beibringung  während  des  Anfalles  oft  recht 
schwierig  ist,  erreicht  man  bei  Kindern  die  Herabsetzung  der  Temperatur  durch 
kalte  Einpackungen,  Eiskompressen,  auf  Stirne  und  Kopf  applicirt,  eventuell 
einen  Eisbeutel,  mit  dem  Thermometer  muss  man  stets  den  Effect  der  Pro- 
ceduren  controlliren,  und  man  fahre  mit  der  Wärmeentziehung  bis  zur  Er- 
reichung des  erwünschten  Zieles  fort. 

Bei  urämischen  Anfällen  vergesse  man  nicht  zur  Anregung  der  Diurese 
der  warmen  Bäder  und  der  kühlen  Uebergiessungen  des  Kopfes  in  denselben, 
sowie  des  Zuführens  lauwarmen  Thees. 

Ist  die  erste  Attaque  vorüber,  untersuche  man  das  Kind  sorgfältig  zur 
Constatirung  der  eventuellen  Ursache  des  Anfalles  und  versuche  es,  derselben, 
falls  dies  überhaupt  möglich  ist,  beizukommen.  Hier  bestimmte  Vorschriften 
weiter  zu  geben  ist  nicht  möglich,  da  wir  fast  das  gesammte  Gebiet  der  The- 
rapie durchwandern  müssten.  In  jedem  Falle  jedoch  sorge  man  für  Entleerung 
des  Magens  und  Darmes.  Bei  dem  ersteren  ziehen  wir  eine  regelrechte  Magen- 
spülung jedem  Brechmittel  vor.  Unter  den  Abführmitteln  ist  uns  für  das 
Kindesalter  speciell  in  solchen  Fällen  das  Calomel  in  Dosen  ä  0"01 — 0*05, 
je  nach  dem  Alter,  stündlich  bis  zweistündlich  bis  zur  gewünschten  Wirkung, 
das  am  meisten  sympathische.  Nur  bei  Nephritis  ist  dasselbe  absolut 
contraindicirt.  Hier  wende  man  lieber  ein  Klysma  mit  oder  ohne  arz- 
neiliche Zusätze  oder  eine  Darmeingiessung  an.  Selbstverständlich  kann  statt 
Calomel  ein  anderes  Laxans  (Inf.  fol.  Sennae  praep.,  Ol.  Pdcin.  etc.)  angewendet 
werden. 

Wenn  man  will,  kann  man  einen  bis  mehrere  Blutegel  am  Kopfe  an- 
setzen lassen,  eventuell  durch  Senfpapier  Hautreize  auszuüben  versuchen.  Dem 
ersten  Grundsatze  jedes  therapeutischen  Handelns  „nil  nocere"  trägt  man 
damit  jedenfalls  Rechnung.  Dass  man  Helminthen,  dass  man  verschiedene 
periphere  Leiden,  falls  man  Grund  hat,  sie  für  die  Veranlassung  der  Eclampsie 
zu  halten,  in  entsprechender  Weise  beseitigt,  bedarf  kaum  der  Erwähnung. 
Das  Zahnfleisch  zu  scarificiren,  um  dem  durchbrechenden  Zahne  den 
Weg  leichter  zu  machen,  halten  wir  für  ein  Nonsens. 

Von  den  Medicamenten,  die  man  verabreicht,  um  die  Wiederkehr  der 
Anfälle  zu  verhüten  und  das  erregte  Nervensystem  zu  beruhigen,  nennen  wir 
das  Zincum  sulfuric.  et  valericmum,  die  Äsafoetida,  das  Kai.  oder  Natr.  hromat., 
das  Chlor alhydrat.  Die  beiden  letztgenannten  besitzen  die  gewünschte  Wir- 
kung in  zweifellosestem  Maasse.  Man  gibt  Na.  oder  K.  brom.  in  Dosen  von 
0-30— 1-0  3mal  pro  die,  Chloralhydrat  l'O— 2*0  :  lOO'O  2 stündlich  bis  zur 
Ruhe  oder  in  Dosen  von  0*20 — 0-50  als  Klysma  mit  Mucil.  gumm.  Auch 
Morph  muriat.  ist  eventuell  mit  Vorsicht  zu  verwenden.  Soltmann  verwendet 
bei  manchen  Formen  der  Eclampsie  mit  Vorliebe  Moschus  und  gibt  ihn  in 
folgender  Form: 


^Ö'' 


Rp.     Mosch.  0-30  oder    Moschi  0-18 

Mixt.  gumm.  60' 0  Camph.  012 

I).  8.  stündlich  1  Theelöfel,  Sach.  0-20 

Amm.  carbonic  6'0 
M/p.  d.  i.  d.  VI. 

Stets  bleibe  es  die  wichtigste  Regel:    den  einen  Anfall    zu  beseitigen, 
und  womöglich  seine  Ursache  zu  finden.  loos. 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN.  463 

Eingeweidewürmer   des   Wlensciien.    im  Daimcanai  sowie  in  ver- 

scliiedenen  parenchymatösen  Organen  des  Menschen  und  der  Thiere  leben 
zahlreiche  Arten  von  Würmern,  welche  man  schlechthin  als  Eingeweidewürmer 
oder  Helminthen  bezeichnet  und  in  früheren  Zeiten  als  einer  einheitlichen 
systematischen  Abtheilung  zugehörig  beurtheilte.  Diese  irrthümliche  Ansicht 
war  offenbar  von  der  bis  in  die  ersten  Decennien  dieses  Jahrhunderts  weit 
verbreiteten  Vorstellung  beeinflusst,  nach  welcher  die  Eingeweidewürmer  unter 
gegebenen  Bedingungen  aus  krankhaften  Säften  und  Substanztheilen  ihrer 
Träger  am  Orte  ihres  Aufenthaltes  durch  sog.  Urzeugung  entstünden  (Ru- 
DOLPHi,  Naturphilosophie,  Lehre  von  der  Lebenskraft),  eine  Irrlehre,  welche 
sich  vornehmlich  auf  die  in  Cysten  eingeschlossenen  geschlechtslosen  Würmer 
und  insbesondere  die  blasenförmigen  der  Geschlechtsorgane  entbehrenden  und 
bis  in  die  neuere  Zeit  für  selbständige  Arten  gehaltenen  Finnen  stützte  und  von 
diesen  auf  die  Eingeweidewürmer  überhaupt  so  lange  übertragen  werden  konnte, 
als  die  Lebensgeschichte  derselben,  die  Art  ihrer  Uebertragung  durch  active 
und  passive  Wanderung  unbekannt  war.  Erst  gegen  Mitte  dieses  Jahrhun- 
derts begann  sich  das  Dunkel  zu  lichten  mit  dem  Nachweis,  dass  die  ency- 
stirten  Würmer  keine  selbständigen  Lebensformen,  sondern  unreife  Jugend- 
stadien darstellen,  welche  an  ihrem  derzeitigen  Wohnorte  die  Geschlechtsreife 
nicht  erlangen,  vielmehr  auf  einen  anderen  günstigen  Boden  in  den  Organis- 
mus eines  zweiten  Trägers  übergeführt  werden  müssen,  um  sich  zu  dem 
Geschlechtsthiere  entwickeln  und  fortpflanzen  zu  können.  Mit  dieser  Erkennt- 
nis verknüpfte  sich  alsbald  die  Vorstellung,  welche  für  eine  Reihe  von  Fällen 
experimentell  als  zutreffend  erwiesen  werden  konnte,  dass  die  in  schein- 
bar abgeschlossenen  Organen  encystirt  auftretenden  Jugendstadien,  welche  mit 
dem  Fleische  ihres  Wohnthieres  passiv  in  den  Darmapparat  eines  zweiten 
Thieres  überwandern,  und  hier  zu  Geschlechtsthieren  werden,  aus  den  geschlecht- 
lich erzeugten  Keimen  dieser  und  deren  frei  gewordenen  Embryonen,  be- 
ziehungsweise Larven  hervorgehen,  welche  auf  activem  Wege  in  die  Organe 
des  ersten  Trägers  einwandern  und  in  demselben  unter  mannigfachen  Ver- 
änderungen bis  zu  einer  bestimmten  Grösse  und  Organisationsstufe  gelangen. 

Wie  es  die  Finnen,  die  Blasenwurm-Stadien  der  Bandwürmer,  waren, 
welche  der  irrigen  Lehre  von  der  Urzeugung  so  lange  Zeit  zur  vornehm- 
lichen Stütze  dienten,  so  sind  es  auch  die  Finnen  gewesen,  von  denen  der  erste 
Einblick  in  die  merkwürdigen  Vorgänge  der  Metamorphose  und  Biologie  der 
Helminthen  gewonnen  wurde,  welcher  allmälig  zu  einer  befriedigenden  Auf- 
klärung der  Lebensgeschichte  zahlreicher  Eingeweidewürmer  des  Menschen 
und  der  höheren  Wirbelthiere  führte. 

Der  Beginn  dieser  neuen  Aera  für  der  Helminthologie  und  damit 
auch  das  an  die  natiu"ge schichtlichen  Vorgänge  anknüpfende  Verständnis  der 
Helminthen-Krankheiten  und  deren  Behandlung  datirt  seit  dem  bekannten 
Experimente  Küchenmeisters,  welcher  aus  der  einem  Delinquenten  ein- 
gegebenen Schweinefinne  {Cysticercus  cellulosae)  im  Darm  desselben  den 
Bandwurm  {Taenia  solium)  zog  und  hiermit  zur  Einführung  des  Experi- 
mentes Anlass  gab,  mittelst  dessen  es  bald  gelang,  eine  Reihe  verschiedener 
Finnen  durch  Verfütterung  an  bestimmte  Thiere  in  Bandwürmer  zu  verwandeln 
und  wiederum  aus  den  in  den  Proglottiden  dieser  enthaltenen  Embryonen 
in  entsprechenden  Versuchsthieren  die  zugehörigen  Finnen  zu  erziehen.  Das 
Experiment  war  nun  in  die  Wissenschaft  der  Helminthologie  eingeführt,  die 
mittelst  dieser  Untersuchungsmethode  einen  ungeahnten  Aufschwung  nahm  und 
schon  in  verhältnismässig  kurzer  Zeit  den  allgemein  giltigen  Satz  begründen 
konnte,  dass  sich  die  Lebensgeschichte  fast  sämmtlicher  Eingeweidewürmer 
auf  zwei  Träger  vertheilt.  Von  diesen  beherbergt  der  eine,  meist  im  Darm- 
canale  oder  in  einem  adnexen  Organ  desselben  den  geschlechtsreifen  Wurm, 


464  EINGEWEIDEWÜKMER  DES  MENSCHEN. 

der  andere  gewissermassen  als  Zwischenwirth  in  diesem  oder  jenem  Organ 
die  meist  encystirte  Jugendform  des  Gesclileclitsthieres,  dessen  Brut  nicht  in 
demselben  Wohnorte  ihre  weitere  Entwicklung  durchläuft,  sondern  diesen 
frühzeitig  als  Larve  verlässt,  nun  mit  dem  Inhalt  des  Organes  oder  auch  durch 
selbständige  Auswanderung  in  das  Freie  gelangt  und  von  hier  aus  durch 
die  Wechselbeziehungen  des  Thierlebens  unterstützt  in  einen  neuen  Träger 
activ  überwandert.  Es  war  in  erster  Linie  ß.  Leukaet,  der  Altmeister  der 
jetzt  lebenden  Zoologen,  welcher  durch  umfassende  auf  alle  Ordnungen  von 
Eingeweidewürmern  ausgedehnte  Untersuchungen  dieser  Erkenntnis  eine  eben- 
so feste  als  breite  Grundlage  gab. 

Aber  nicht  nur  die  Herkunft  der  Eingeweidewürmer  des  Menschen  wurde 
für  die  Mehrzahl  derselben  festgestellt  und  damit  die  sichere  Basis  zu  einer 
Prophylaxis  der  Wurmkrankheiten  gewonnen,  nicht  nur  die  Erscheinungen 
der  Ontogenese,  die  mannigfachen  und  oft  wunderbar  erscheinenden  Vor- 
gänge der  Metamorphose,  welche  diese  Parasiten  nach  ihren  theils  passiven 
theils  activen  Wanderungen  durchlaufen,  fanden  befriedigende  Aufklärung. 
Die  durch  Darwin  neu  begründete  Lehre  der  Descendenz  zeigte  uns  auch  den 
Weg,  um  phylogenetisch  die  Herkunft  der  Eingeweidewürmer  als  Parasiten 
verstehen  und  erklären  zu  können.  Im  Gegensatz  zur  Schöpfungs- 
hypothese kann  zur  Zeit  keine  Meinungsverschiedenheit  darüber  bestehen,  dass 
sich  die  Eingeweidewürmer  aus  freilebenden  Formen  entwickelt  und  den  gün- 
stigen Lebens-  und  Ernährungsbedingungen  als  Parasiten  zweckentsprechend 
in  Organisation  und  Entwicklungsweise  secundär  angepasst  haben.  Unter 
den  Fadenwürmern  {Nematoden)  gibt  es  noch  zahlreiche  theils  im  Humus, 
theils  im  süssen  und  salzigen  Wasser  lebende  Arten  von  geringer  Körper- 
grösse  mit  einer  der  freien  Bewegung  und  Ernährung  entsprechend  modilicirten 
Gestaltung  (Anguilluliden,  Khabditiden  etc.)  Dieselben  müssen  umso 
zuversichtlicher  als  der  Mutterboden,  aus  welchem  die  parasitischen  Nema- 
toden, die  Spulwürmer  und  Verwandten,  entsprungen  sind,  in  Anspruch  ge- 
nommen werden,  als  nicht  nur  die  gleiche  Form  und  Lebensweise  in  den 
Jugendzuständen  einer  Keihe  von  iVewatotiew,  welche  im  geschlechtsreifen  Zustand 
als  Parasiten  leben  {Strongyliden),  wiederkehrt,  sondern  auch  im  heterogenen 
Lebenscyclus  ein  und  derselben  Art  freilebende  Geschlechtsgenerationen  mit  para- 
sitischen, von  diesen  verschieden  gestalteten  Generationen  regelmässig  alte- 
niren  (Bhabdonema  nigrovenosum ^  strongyloides^  Leptodera  appendiculaia  etc.) 
Und  in  gleicher  Weise  lässt  sich  aus  der  grossen  Uebereinstimmung,  welche 
die  Saugwürmer  oder  Trematoden  in  ihrer  Körperform  und  Organisation  mit  den 
freilebenden  Strudelwürmer  verbindet,  als  in  hohem  Grade  wahrscheinlich  dar- 
thun,  dass  dieselben  ihrem  Ursprünge  nach  auf  parasitisch  gewordene  Strudel- 
würmer (Turbeüaria)  zurückzuführen  sind  und  ihrerseits  wieder  unter  Ver- 
einfachung ihrer  inneren  Organe,  insbesondere  Rückbildung  des  Darmcanales 
und  Quergliederung  des  in  der  Längsachse  enorm  ausgedehnten  Leibes  zur 
Entstehung  der  Bandwürmer  oder  Cestoden  geführt  haben. 

Gewisse  Eingeweidewürmer  haben  eine  sehr  weite  Verbreitung,  einige 
scheinen  Kosmopoliten  zu  sein,  einzelne  dieser  sind  in  bestimmten  Ge- 
genden, deren  klimatische  Bedingungen  und  Lebensverhältnisse  ihrer  Ent- 
wicklung besonders  günstig  sind,  ausserordentlich  häutig  und  eine  wahre  Plage 
der  Bevölkerung.  Andere  Arten  beschränken  sich  in  ihrem  Vorkommen  auf 
gewisse  Klimate  und  Ländergebiete,  von  denen  aus  sie  sich  über  benachbarte 
Gegenden  ausgebreitet  haben  oder  auch  nur  gelegentlich  in  diese  verschleppt 
wurden.  Vornehmlich  sind  es  die  Tropenländer,  die  von  einer  grosser  Zahl 
gefährlicher,  ihrer  Lebensgeschichte  nach  leider  noch  ungenügend  erforschter 
Eingeweidewürmer  heimgesucht  werden.  Zuerst  wurde  Egypten  durch  die 
Entdeckung  mehrerer  diesem  Lande  eigenthümlichen  (Bilharzia  haematobia, 
laenia  nana,  Dochmius  duoäenalis)  Helminthen  und  der  durch  diese  verursachten 


EINGEWEIDEWÜKMER  DES  MENSCHEN. 


465 


(Kg.  1). 

Jugendliches  Distomum  nach  La  Va- 
lette. 0  Mund  mit  Mundsaugnapf, 
P  Pharynx,  D  Darm,  6'  Saugnapf  in 
der  Mitte  der  Bauchfläehe,  Ex  Längs- 
stämme des  Wassergefässystems,  Ep 
Excretionsporus. 


endemischen  Krankheiten  (Haematurie,  egyptische  Chlorose)  berüchtigt.  Auch 
Ostindien,  Japan  und  China  bergen  mehrere  eigenthümliche  Wurmarten.  Ausser 
einzelnen  grossen  Distomeen  des  Darmcanales  (Di- 
stomum crassum)^  der  Leber  (D.  spathulatum)  und 
Lunge  (J).  pulmonale)  sind  es  besonders  Filariden, 
welche,  unter  der  Haut  und  im  Jugendstadium  im 
Blute  lebend,  in  den  Tropenländern  zu  lästigen  und 
oft  schmerzhaften  Erkrankungen  mit  lethalem  Aus- 
gange Anlass  geben. 

Die  Eingeweidewürmer  des  Menschen  vertheileu 
sich  auf  zwei  Classen  und  innerhalb  derselben  auf  je 
zwei  Ordnungen,  welche  bereits  zu  einer  Zeit,  wo 
die  Helminthen  als  besondere  Wurmclasse  galten,  als 
Ordnungen  derselben  unterschieden  wurden.  Es  sind  in 
der  Classe  der  Plattwürmer  (PlathelmintJies)  die 
Ordnungen  der  Saugwürmer  oder  Trematoden  und 
Bandwürmer  oder  Cestoden,  in  der  Classe  der 
Rundwürmer  (Nemathelminihes),  die  Ordnungen  der 
Fadenwürmer  oder  Nematoden  und  Kratzer- 
würmer oder  Acanthocephalen. 

I.  Trematoden,  Saugwürmer.   Unter  den  durch 
einen  blattförmigen  Leib  und  den  Besitz  eines  gabelig 
gespaltenen    afterlosen  Darmes  charakterisirten  Saug- 
würmern kommt  ausschliesslich  diejenige  Gruppe  von 
Formen  in  Betracht,  welche  sich  mittels    Generations- 
wechsels (Heterogonie)  entwickeln  und  höchstens  mit  zwei  Sauggruben,  einer  mund- 
ständigen   und    einer    ventralen,    bewaffnet   sind,  die  Unter- 
ordnung der  Distomeen.    Dieselben  sind  wie  die  meisten  Tre- 
matoden Hermaphroditen,  deren  beiderlei  Geschlechtsorgane 
nicht  weit  vom   vorderen    durch  die    Lage  des   Mundes  und 
dessen   Sauggrube  bezeichneten  Körperende    an    der  Bauch- 
seite dicht  neben  oder  hinter  einander  ausmünden.  In  gleicher 
Weise  wie  der  mit  muskulösem  Schlünde  (Pharynx)  beginnende 
Darmcanal  und  die  beiden  am  hintern  Körperende  nach  aus- 
sen  führenden   Excretionscanäle  (sog.  Wassergefässe)  liegen 
auch  die  Geschlechtsorgane  in  einem  bindegewebigen  Paren- 
chym    eingebettet,    welches    den  Saugwürmern,    sowie  über- 
haupt   den    Plathelminthen    eigenthümlich   ist   und  dieselben 
als  parenchymatöse  Würmer  ohne  Leibeshöhle  charak- 
terisirt.     Dieses  meist  grosszellige  Grundgewebe    des  Leibes 
wird   von  einem  Netze  feiner   mit  Wimperkölbchen    (Excre- 
tionszellen)  beginnender  Röhrchen  durchsetzt,  welche  das  dem 
Harne  höherer  Thiere  vergleichbare  Excretionsproduct,  eine 
wasserhelle,   hier   und   da  körnige    Concretionen   enthaltende 
Flüssigkeit,    in  die    beiden    seitlichen  Längscanäle    des  sog. 
Wassergefässsystems  überleiten  (Fig.  1  ^).    Die  Körperbeklei- 
dung besteht  aus  einer  Cuticula  und  subcuticulären  vielleicht 
als  Matrix  zu  betrachtenden  Zellenlage.  Dazu  kommen  tiefer 
liegende  Hautdrüsen,  welche  im  Larvenleben  oft  zur  Ausschei- 
dung    einer     erhärtenden    Cyste    (encystirte    Jugendformen)   Nervensystem" von  Discomam 
dienen.    Der  kräftig  entwickelte  Hautmuskelsclilauch,  welcher  ^'""^  Bau^nel^ten.'^^sr's^euTn- 
neben   den  Saugmuskeln    die   Locomotion    ermöghcht,    lässt    ''^^^^'^'^^^^^^^f^Zpf^^^''' 
eine  äussere  Ringfaser  schiebt,  eine  mittlere  Lage  von  Längs- 

1)  Im  Einverständnisse  mit  dem  Autor  dieses  Artikels  (Hofr.  Prof.  Claus)  sind  die 
beigegebenen  Abbildungen  zum  Theil  aus  dessen  „Lebrbuche  der  Zoologie"  (Elvert  sehe 
Yerlagsbuchbandlung,  Marburg  1891)  entlehnt. 

BibL  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  <J^ 


466 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


muskelu  und  eine  tiefere  Lage  mehr  diagonal  ver- 
laufender Ringmuskeln  unterscheiden,  zu  denen  noch 
dorsoventral   verlaufende   Parenchymmuskeln  hinzu- 
kommen.    Das  Nervensystem  ist  ein  dem  Schlünde 
aufliegendes    Doppelganglion,    von    welchem   ausser 
mehreren   kleineren  Nerven   zwei   nach  hinten  ver- 
laufende grössere  ventrale  Stämme  austreten.  Diese 
stehen    durch    Anastomosen    mit    zwei   viel   schwä- 
clieren  dorsalen  und  ebenso  vielen  seitlichen  Längs- 
nerven in  Verbindung.  (Fig.  2).  Augenflecken  treten 
lediglich  im  jugendlichen  Leben  im  Körper  auf  der 
Wanderung  begriffener  Larven  auf.  Die  Geschlechts- 
organe nehmen  vornehmlich  die  mittlere  und  hintere 
Körperhälfte  ein,  die  erst  mit  Ausbildung  der  schon 
im  Jugendzustande  vorhandenen  Anlage  zu  ansehn- 
licher Grösse  gelangen.  Zwei  bohnenförmige,  gelappte 
oder  verästelte  Hoden  entsenden  ebensoviele  Samen- 
leiter, welche    sich  zur  Bildung  eines  uupaaren  Ab- 
schnittes vereinigen,  dessen  Endstück  von  einem  mus- 
culösen  Sacke,  dem  Cirrusbeutel  umschlossen  als 
Girr  US  aus  der  männlichen  Geschlechtsöffnung  vor- 
gestülpt werden  kann.  Die  Eier  bereitenden  Drüsen 
bestehen  aus  einem  Ovarium  (Keimstock)  und  zwei 
sog.  Dotterstöcken.    Das  erstere  liegt  in  der  Regel 
als  länglich  rundücher    Körper  vor  dem  Hoden  und 
erzeugt    die    primären    Eizellen,    die    Dotterstöcke 
breiten  sich  dagegen  als  vielfach  ramificirte  Schläuche 
in  den  Seitentheilen  des  Körpers  aus  und  secerniren 
Ballen  von  Nahrungsdotter  (Fig.  3.)  Die  Ausführungs- 
gänge des  Dotterstockes  treffen  mit   dem  des  Ova- 
riums  in  dem  median  gelegenen  Ootyp,  dem  erwei- 
terten   Anfangsabschnitte    des   Eileiters    zusammen. 
In    diesem  Ootyp,  dessen  drüsenreiche  Wandung  das  zur 
Bildung  der  Eischalen  dienende  Secret  absondert,  begegnen 
sich  Dotterballen    und    Eikeime    oder    primäre    Eizellen. 
Jede  Eizelle   wird  von   mehreren   Dotterballen   umlagert, 
um    nach    der    Befruchtung    von  dem  durch  die  Schalen- 
drüsen gelieferten  zur  Eischale  erhärtenden  Secret  umhüllt 
zu  werden.   In  das  Ootyp  führt  aber  noch  ein  besonderer, 
am  Rücken  nach  aussen  mündender  (Laurer' scher)  Canal, 
den   man   häufig  als  Begattungsgang  oder  Scheide  betrach- 
tet hat.       Im   weiteren   Yerlaufe    des    vielfach    geschlän- 
gelten,   als   Fruchtbehälter    fungirenden   Eileiters   häufen 
sich    die    fertig    gestellten   Eier  oft  in  grosser  Menge  an 
und  durchlaufen  dann   nicht    selten   die  Furchung  bereits 
im   mütterlichen  Körper,    um   in  verschieden  vorgeschrit- 
tenen   Stadien    der   Embryonal entwicklung    abgesetzt    zu 
werden. 

Die  aus  der  dicken  meist  mittelst  Deckel  verschlosse- 
nen Eischale  ausgeschlüpften  Embryonen  durchlaufen  bei  den 
Distomeen  einen  complicirten  mit  Metamorphose  verbundenen  Generationswechsel, 
der  in  neuerer  Zeit  als  Heterogenie  gedeutet  wird.  Die  überaus  contractilen  oft 
mit  einem  x-förmigen  Augenfleck  versehenen,  meist  bewimperten  Embryonen 
(Fig.  4  a,  b.)  suchen  auf  dem  Wege  selbständiger  Wanderung  in  ein  neues  Wohn- 
thier  zu    gelangen.    In  der    Regel  ist  es  eine  Wasserschnecke,  in  deren  Inneres  sie 


Kg.  3 
Distomum  hepaticum  unter  starker  Lupen- 
vergrösserung   0  Mund,  D  Darm,  <S  Bauch- 
sangnapf,    T  Hoden,     Do   Dotterstöcke, 
Ov  Oviduct,  Dr  Ovarium, 


b 


P4-^k 


7? 


\ 


Fig  4 
a  Embryo  von  Amphistomum, 
Z)  Darm,  Ex  Wassergefässsystem. 
b  Embryo  von  Monostomum  mu- 
tabile.  p  Augenflecken,  R  die 
Eedie  im  Innern. 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


476 


C— 


Fig.  5. 

a  Der  aus  dem  Distomum-Embryo  hervorgegangene  Keimschlauch 

(Sporocyste)   mit  Cercarienbrut  (c)  gefüllt ;    B  Bohrstachel  einer 

Cercarie.     b  Kedie,     0  Mund,   Ph  Pharynx,    D  Darm,    Ex  Excre- 

tionsorgan.     c  Cercarie,    S  Saugnapf,    D  Darm, 

Ex  Excretionsorgan. 


«indringen,    um  nach  Verlust  der 
Bewimperung  und  des  Augenflecks 
zu     einfachen     oder     verästelten 
Keimschläuchen,     Sporocysten 
(ohne  Mund  und  Darm),  Redien 
(mit  Mund  und  Darm)  —  auszu- 
wachseu  (Fig.   5  a  b),    Dieselben 
erzeugen  durch  sog.  Keimkörner, 
welche    wahrscheinlich    Eikeimen 
■der     Ovarialanlage     entsprechen, 
•eine    neue    Generation,    die  Cer- 
carien  oder  auch  eine  Tochter- 
larut  von  Keimschläuchen,  welche 
dann    erst    die    Cercarien  her- 
vorbringen   (Fig.   6).    Diese   Cer- 
carien  sind    die  Distomeenlarven, 
welche  oft  erst   nach  einer  zwei- 
mahgen  activen  und  passiven  Wan- 
derung   an   den    definitiven    Auf- 
enthaltsort  der   Geschlechtsthiere 
gelangen.     Mit    überaus  bewegli- 
chem Schwanzanhang,  häutig  auch 
mit    Mundstachel,     seltener     mit 
Augen  ausgestattet,  zeigen  sie  in 
ihrer    Organisation    bis    auf    den 
Mangel      der     Geschlechtsorgane 
l)ereits  grosse  Uebereinstimmung  mit 
den  ausgebildeten  Distomeen.    In  sol- 
cher Form  verlassen  die  jugendlichen 
Cercarien  selbständig  den  Leib  ihres 
Trägers  und  bewegen  sich  theils  krie- 
chend, theils  schwimmend  im  Wasser 
umher.    Die    meisten  gehen  wohl  in 
kurzer  Zeit  zu  Grunde,  einzelne  aber 
treffen   mit    einem  grösseres  Wasser 
bewohnenden      Thiere       (Schnecke, 
Wurm,  Insectenlarve,  Krebs,    Fisch, 
Batrachier)    zusammen,    in    das    sie 
unter  Bohrbewegungen  des  vorderen 
Körperendes,    unterstützt    durch  den 
kräftig  schwingenden  Schwanzanhang 
eindringen,  um  nach  Verlust  des  letz- 
teren und  sonstiger  Larvenorgane  zu 
encystiren.    (Fig.  7)    Die   im  Innern 
der    Schnecke   von   den  Keimschläu- 

cheu  aufgesammelte  Cercarienbrut  zerstreut  sich  somit  auf 
eine  grössere  Zahl  von  Trägern  und  gestaltet  sich  in  diesen 
2u  jungen  geschlechtslos  bleibenden  Distomeen,  von  denen 
wiederum  einzelne  mit  dem  Fleische  ihres  Trägers  in  den 
Magen  des  definitiven  Wirthes  und  von  ihrer  Cyste  befreit 
in  den  Darm,  die  Leber,  Lunge,  Harnblase  etc.  gelangen, 
in  welchem  sie  zu  geschlechtsreifen  Thieren  werden.  Es 
kommen  somit  in  der  Regel  drei  verschiedene  Thiere  als  Trä- 
ger von  ebenso  vielen  zu  einer  Distomumspecies  gehörigen 
Entwicklungsphasen  (des  Cercarien  erzeugenden  Keimschlauchs, 


Fig.  6. 
Cercarien   von  Dlstomum  hepaticum   in   verschiedenen 
Contractionszuständen . 


Fig.  7. 

Encystirte  Jugendform   von 

Distomum  hepaticum. 

30* 


468 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


der  kleinen  encystirten  Jugendform  und  des  ausgewachsenen  gesclilechtsreifen 
Distomum)  in  Betracht.  Die  Uebergänge  von  der  einen  zur  andern  werden  theils 
durch  selbständige  Wanderungen  (Embryonen,  Cercarien),  theils  durch  passive 
Uebertragung  (encystirtes  Distomum)  vermittelt.  Indessen  können  von  diesem  wohl 
für  die  Mehrzahl  der  Distomeen  giltigen  Entwicklungsgang  mannigfache 
Abweichungen  eintreten.  Complicirter  wird  die  Entwicklung  für  die  erste 
Phase  sein,  wenn  sich  wie  bei  Distomum  hepaticum  die  in  Schnecken  (Lymnaeus 
minutus)  eingewanderten  Embryonen  zu  Sporocysten  ausbilden  und  Redien  erzeugen, 
in  welchen  erst  die  Cercarienbrut  entsteht.  Dagegen  ergibt  sich  in  demselben  Falle 
durch  den  Ausfall  des  zweiten  Zwischenträgers  eine  Veremfachung,  indem  die  aus 
den  Sumpfschnecken  auswandernden  Cercarien  an  Pflanzen  encystü-en  und  zugleich 
mit  diesen  von  dem  Träger  des  späteren  Geschlechtsthieres  aufgenommen  werden. 
Eine  ähnliche  Vereinfachung  kann  auch  dadurch  veranlasst  werden,  dass  die  aus- 
schlüpfende Cercarie  sogleich  durch  selbständige  Einwanderung  {Cercaria  makrocerca 
—  Distomum  cygnoides  der  Frösche)  oder  passiv  durch  die  als  Nahrung  aufgenom- 
menen Schnecken  an  den  Wohnort  des  Geschlechtsthieres  gelangen.  Im  letzteren 
Falle  kann  auch  die  Büdung  des  Cercarienschwanzes  ganz  in  Wegfall  kommen  (Leuco- 
cJiloridium  aus  der  Bernsteinschnecke  —  Distomum  holostomum  der  Singvögel). 

1.  Leberegel. 

In  den  europäischen  Ländergebieten  gibt  es  nur  wenige  Distomeen 
welche  im  Körper  des  Menschen  leben.  Ueberdies  finden  sich  dieselben 
im  Ganzen  selten  und  dann  meist  nur  als  in  wenigen  Exemplaren  vorkommende 
Gäste,  während  sie  in  pflanzenfressenden  Hausthieren  sehr  häufig  und  in  grosser 
Zahl  angetroffen  werden  und  die  sog.  Leberfäule  veranlassen. 


Fig.  8. 

Leberegel  in  natürlicher 

Grösse. 


Fig.  9. 

Embryo  von  Distomum 

hepaticum. 


Fig.  10. 

Entwicklungszustände  von  Distomum  hepaticum,     a    Sporocyste,. 

C  Cercarie,  &  Redien  (ö  Darm,  R  Redie,  c  Cercarie 

K  sog.  Keimkörner. 


Der  grosse  Leberegel,  Distomum  hepaticum L.  (Fig.  3  und  8)  mit  breitem, 
blattförmigem,  nahezu  3  cm  langem  Leibe,  dessen  überaus  bewegliches  Yorderende 
kegelförmig  hervortritt,  ist  ausgezeichnet  durch  den  Besitz  kleiner,  cuticularer 
Stachelschuppen,    welche    in   dichter  Anordnung   die  Oberfläche    der  Haut  bekleiden 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


469 


und  bei  der  Bewegung  im  Lumen  enger  Canäle  (Gallengänge)  einen  Reiz  auf  die 
Wand  derselben  ausüben.  Saugnäpfe  verhältnismässig  schwach,  der  hintere  grössere 
dem  vordem  bedeutend  genähert.  Darmschenkel  mit  Seitenzweigen  besetzt,  schwärz- 
lich gefärbt,  Hoden  vielfach  verästelt,  das  Mittelfeld  des  Leibes  durchsetzend  (Fig.  3). 
Die  Entwicklungsgeschichte  wurde  neuerer  Zeit  durch  die  Untersuchungen  von 
E.  Leuckart  und  sodann  auch  von  A.  P.  Thobias  ziemlich  vollständig  aufgeklärt.  Die 
Eier  gelangen  mit  dem  Inhalt  der  Gallengänge  in  den  Darm  und  von  da  nach  aussen, 
;um  an  sumpfigen  Oertlichkeiten  im  Wasser  im  Laufe  einiger  Wochen  die  Embryonal- 
«entwicklung  zu  durchlaufen.  Der  langgestreckte,  continuirlich  bewimperte  mit  Kopf- 
zapfen und  x-förmigem  Augenfleck  versehene  Embryo  (Fig.  9)  dringt  in  gewisse 
.Sumpfschnecken  {Lijmnaeus  minutns  und  trimcatulus)  ein  und  gestaltet  sich  hier  zu 
■einer  Redien  erzeugenden  Sporocyste  (Fig.  10  a).  In  den  Redien 
(Fig.  10  b)  entstehen  wiederum  Redien  oder  sogleich  Cercarien 
(Fig.  10  c),  welche  nach  ihrem  Auswandern  in  der  Schnecke  und 
Abwerfen  des  Schwanzes  aus  besonderen  Hautdrüsen  eine  Sub- 
stanz ausscheiden,  mittelst  deren  sie  an  fremden  Gegenständen, 
besonders  an  kleineren  Pflanzentheilen  encystiren.  Wahrscheinlich 
werden  diese  eingekapselten  Jugendformen  (Fig.  7),  ohne  in  einen 
3ieuen  Zwischenträger  zu  gelangen,  mit  der  Pflanzenkost  direct  in 
den  Träger  des  Gescldechtsthieres  aufgenommen,  aus  dessen  Darm 
sie  aus  der  Cyste  freigeworden  in  den  Gallengang  überwandern. 
In  derselben  Weise  dürfte  die  Infection  (vielleicht  durch  den 
■Genuss  der  Brunnenkresse)  auch  beim  Menschen  erfolgen,  in  wel- 
chem der  grosse  Leberegel  nicht  nur  in  den  europäischen  Län- 
dern, sondern  auch  in  Egypten,  Indien,  Australien  und  Amerika 
I)eobachtet  wurde.  Indessen  ist  das  Vorkommen  desselben  im 
Menschen  ein  relativ  seltenes;  auch  wurden  in  der  Mehrzahl 
der  sicher  constatirten  Fälle  immer  nur  wenige  Exemplare  beob- 
achtet und  die  durch  dieselben  veranlassten  pathologischen  Yer- 
änderungen  dann  meist  nur  geringfügig  befunden.  In  einzelnen  Fällen 
sind  jedoch  auch  tiefer  greifende  Störungen  nachgewiesen  worden, 
vrelche  den  durch  den  Leberegel  veranlassten  Krankheitserschei- 
nungen der  Hausthiere  entsprechen,  und  es  kann  wohl  keinem 
JZweifel  unterliegen,  dass  bei  einer  grösseren  Zahl  dieser  Parasiten 
•ein  der  Leberfäule  ähnlicher  Symptomencomplex  auftreten  würde. 
DieDiagnose  erscheint  erst  durch  den  Nachweis  der 
Eier  des  Leberegels  bei  mikroskopischer  Unter- 
suchung der  Fäces  gesichert. 

Der  kleine  Leberegel  (Distomum  lanceolatum  Mehlis), 
■von  lanzetförmiger,  vorn  stärker  verschmälerter  Körperform,  8  bis 
9  mm  lang  mit  einfachen  unverästelten  Darmschenkeln  und  glatter 
Körperoberfläche  (Fig.  11),  bewohnt,  mit  D.  hepaticum  oft  vergesell- 
schaftet, die  grösseren  Gallengänge  und  die  Gallenblase  derselben 
Thiere.  Die  Entwicklungsgeschichte  ist  bislang  nicht  vollständig 
bekannt  geworden.  Man  weiss  nur,  dass  sich  die  Embryonen  schon 
im  Innern  des  ungewöhnlich  langen  Fruchtbehälters  entwickeln,  in 
■den  abgelegten  nach  aussen  gelangten  Eiern  im  Wasser  frei 
werden  und  hinter  einem  bestachelten  Kopfzapfen  an  der  vor- 
•deren  Körperhälfte  sehr  lange  Wimpern  tragen  (Fig.  12  ab), 
•dagegen  des  x-förmigen  Augenfleckes  entbehren.  Ueber  die  wei- 
teren Schicksale  derselben  konnte  ebenso  wenig,  wie  über  die 
Natur  des  Zwischenwirthes,  in  welchem  die  Cercarienbrut  erzeugt 
wird,  etwas  Bestimmtes  ermittelt  werden.  Vom  Vorkommen  des 
.kleinen  Leberegels  im  menschlichen  Körper  sind  bislang  nur  wenige 
IFälle  bekannt  geworden. 


Fig.  11. 
Distomum  lanceolatum 
(Eückenlage.) 


\z  a. 

Ausgeschlüpftes  Em- 
bryo von    Distomum 
lanceolatum    mit  zu- 
.rückgezogenem 
Kopfstachel . 


Eig 

Derselbe  mit  vor- 

gestossenem  Kopf- 

Btachel. 


470 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


Von  weit  grösserer  medicinischer  Bedeutung  sind  die- 
in  Ostindien,  China  und  Japan  verbreiteten  Leberegel,  welche 
von  CoBEOLD  als  Distomum  sinense,  von  K.  Leuckaet  alS' 
Distomum  spathulahim  bezeichnet  worden  sind.  Dieser  Saug- 
wurm ist  dem  kleinen  Leberegel  ähnlichgestaltet,  jedoch 
grösser  und  ausgewachsen  bis  13  mm  lang.  Charakteristisch 
ist  die  bedeutendere  Stärke  des  Mundsaugnapfes,  die  Länge 
der  beiden  Darmschenkel,  das  breitlappige  Ovarium  und  die: 
Lage  der  verästelten  Hodenschläuche  im  hinteren  Viertel  des. 
Leibes.  Cirrus  und  Cirrusbeutel  fehlen  (Fig.  13).  lieber 
die  Entwicklung  ist  lediglich  bekannt,  dass  der  mit  Wimpern: 
besetzte  Embrj^o  nicht  im  Freien  die  Eihüllen  verlässt,  son- 
dern erst  im  Darm  eines  Zwischenträgers,  wahrscheinlich  einer 
Schnecke  (vielleicht  eine  Melauia-Art)  ausschlüpft.  Am  mei- 
sten verbreitet  ist  das  durch  diesen  Parasiten  bedingte  Leber- 
leiden, welches  mit  der  sogen.  Leberfäule  unseres  Horn- 
viehes grosse  Aehnlichkeit  hat,  in  den  Küstendistricten 
Mitteljapans,  besonders  unter  den  Bewohnern  Okyoamu's,  von 
denen  mehr  als  10  Procent  an  der  oft  lethal  endenden  Krank- 
heit leiden.  Eine  ähnliche  etwas  kleinere  Art,  welche  mit, 
Distomum  conjunctum  Cobb.  aus  der  Leber  des  amerikanischen: 
Fuchses  identisch  sein  soll,  lebt  in  der  Leber  der  ostindi- 
schen Strassenhunde  und  wurde  in  Calcutta  gelegentlich  auch, 
bei  Obductionen  in  der  Leber  des  Menschen  (von  Lewis. 
und  Cünnigham)  aufgefunden. 

Distomum  Rathouisi  Poir  Distomum  crassum  Busk.  Mit, 
breitem,  länglich  ovalem  Körper  von  25  mm  Länge.  Haut. 
glatt,  unbestachelt ,  Darmschenkel  unverzweigt.  Beiderlei 
Geschlechtsorgane  denen  von  D.  hepaticum  ähnlich  gestaltet. 

Mehrmals  von  leberkranken  Chinesen  in  grösserer  Zahl  ei-brochen  oder  im  Stuhlgang; 

entleert,  daher  wahrscheinlich  Parasit  der  Leber. 

Distomum  heterophyes  von  Sieb.  Der  länglich  ovale,  hinten  gerundete  Körper- 
ist an  der  vordem  Hälfte  mit  Spitzen  besetzt  und  erreicht  kaum  eine  Länge  von 
1^/2  mm.  Der  hintere  ovale  Saugnapf  liegt  ziemlich  in  der  Mitte  des  Körpers,  vor 
demselben  spaltet  sich  der  lange  Oesophagus  in  die  beiden  einfachen,  hinten  blasen- 
artig erweiterten  Darmschenkel.  Das  Ovarium  sowie  die  Hoden  von  kugliger  Form^ 
die  Geschlechtsöflfnungen  liegen  von  einem  musculösen  Kingwulste  umgeben,  hinter 
dem  grossen  Bauchsaugnapf.  Entwicklung  und  Lebensweise  des  Wurmes,  der  bis- 
lang nur  einmal  von  Bilharz  im  Darm  einer  Knabenleiche  in  Kairo  massenhaft  ange- 
troffen wurde,  zur  Zeit  noch  unbekannt.  Obwohl  dieser  Wurm  bislang  ebensowenig  wie 
D.cras.mm  der  Chinesen  in  der  Leber  nachgewiesen  wurde,  bleibt  doch  zur  Zeit 
die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen,  dass  beide  Distomeen  nicht  Bewohner  des  Darmes^ 
sondern  der  Leber  sind,  aus  der  sie  in  den  Darm  gelangen. 


'Fig.  13 

Distomum  sinense 

(spathulatum). 


2.  Lungenegel. 

Distomum  pulmonale  Bäiz  {Distomum  Westermanni  Kerb.)  Körper  dick  und  breit,, 
gedrungen  eiförmig,  bräunlichroth  gefärbt,  8- — 10  mm  lang,  mit  Stachelschuppen. 
bekleidet,  beide  Saugnäpfe  klein,  auch  der  vordere  liegt  etwas  baucliständig,  der- 
hintere  etwas  grössere  nahe  der  Körpermitte.  Hinter  demselben  münden  die  bei- 
derlei Geschlechtsorgane  in  gemeinschaftlicher  Oeffnung  aus.  Darmschenkel  mit 
schwachen  Ausbuchtungen  und  unregelmässig  welligem  Verlaufe,  Ovarium  und  Hoden 
von  gelappter  Form.  Cirrus  und  Cirrusbeutel  fehlen  (Fig.  14).  Ueber  die  Entwick- 
lung ist  bislang  festgestellt,  dass  sich  der  bewimperte  Embryo  erst  nach  dem  Ab- 
legen des  Eies  entwickelt  und  eine  Zeitlang  frei  im  Wasser  schwimmt.    Das  weitere:; 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


471 


Fig    14 

Distomum  pulmonale 

(Von  der  Ventralseite  gesehen  ) 


Schicksal  derselben  ist  ebenso  wenig  bekannt, 
als  die  Art,  wie  die  Art,  in  welcher  die  Ein- 
wanderung der  Keime  in  die  Lungen  erfolgt. 
Lebt  in  cavernenartigen  Hohlräumen,  die  an 
der  Peripherie  der  Lungen  sitzen  und  eine 
röthliche  aus  zerfallenden  Gewebstheilen,  aus 
Blutkörperchen  und  Distomeeneiern  beste- 
hende Masse  enthalten.  Die  Eier  gelangen  aus 
den  Cavernen  in  die  Bronchien  und  werden 
in  dem  mit  Blut  untermengten  Sputum  aus- 
geworfen. Das  als  Wur m-Haemoptoe  zu 
bezeichnende  Leiden  ist  über  ganz  Japan, 
besonders  in  der  Provinz  Okoayama  (Mittel- 
japan) verbreitet.  Wahrscheinlich  ist  das 
in  den  Lungen  des  Tigers  lebende  Distomum 
Westennanni  Kerb,  mit  dem  Lungenwurm 
des  Menschen  identisch. 

3.  Im  Blute  lebende  Saugwürmer. 

Büharzia  haematohia  v.  Sieb.  {Distomum 
haematohium   v.  Sieb).    Körper  langgestreckt, 
Nematodenähnlich  mit  vorgelegenem   und  mit 
bauchständigem,  dicht  hinter  jenem  folgenden 
Saugnapfe,  getrennt  geschlechtlich.  Das  männ- 
liche Thier  mit    viel    kräftigeren  Saugnäpfen 
und  rinnenförmig  nach  der  Bauchseite  umge- 
schlagenen Seitenflächen,  welche  einen  „Canalis 
gynaecophorus"    zur  Aufnahme   des  schmäch- 
tigen cylindrischen  Weibchens  bilden.    Darm- 
canal  mit  Schlund  und  zwei  Darmschenkeln,  welche  sich  hinter 
dem  Ovarium,  beziehungsweise  den    Hodenblasen  zu    einem   un- 
paaren  Schlauche  wieder  vereinigen  (Fig.  15).  Leben  paarweise 
vereint    in    der    Pfortader,    den    Darm-    und   Blaseuvenen    des 
Menschen   in  Abyssinien  und  setzen   ihre    Eier  in  die  Schleim- 
hautgefässe    der    Harnleiter,     Harnblase    und    des   Dickdarmes 
ab.     Hiedurch  werden   Stauungen  des  Blutabflusses,   Entzündun- 
gen   und    Geschwüre    der    Schleimhaut  erzeugt,    welche  die  in 
Egypten  endemische  Haematurie  zur  Folge  haben.    Die  be- 
wimperten Embryonen  dürften  bei  Blutungen  nach  aussen  gelan- 
gen   und    unter  günstigen  Bedingungen    in  einen  Zwischenwirth 
übergeführt    werden,    über  dessen  Natur  ebensowenig  wie  über 
die    weiteren  Schicksale  der  Jugendzustände    und    die  Art    der 
Einwanderung    derselben   in    den    menschlichen    Körper  bislang 
Näheres  ermittelt  werden  konnte. 

Das  ein  einzigesmal  in  der  Linsenkapsel  des  Kindes 
beobachtete  Distomum  opJitalmobium  Dies,  bezieht  sich  ebenso 
wie  das  nur  einmal  gefundene  Monostomum  lentis  v.  Nordm. 
auf  den  unreifen  Jugendzustand  einer  nicht  weiter  bestimm- 
baren Distomumart. 

IL  Cestoden,  Bandwürmer.  Die  Bandwürmer  sind 
langgestreckte,  meist  quergegliederte  Plattwürmer,  ohne  Mund 
und  Darmcanal,  mit  Haftorganen  an  dem  als  Kopf  unterschiedenen  Yorderende. 
Nachdem  die  Vorstellung  der  Alten  widerlegt  worden  war,  nach  welcher  diese  Wür- 
mer durch  Verkettung  der  isolirten  Glieder  oder  Proglottiden  entstanden  seien,  wurden 
dieselben  bis  in  das  vierte  Decennium  dieses  Jahrhunderts  fast  allgemein  für  Einzel- 
thiere  mit  sich  abtrennenden  Theilstücken  gehalten.  Erst 'seit  Steenstkup's  Abhand- 


Fig.  15. 

Büharzia  liaematobia  v. 

Sieb   Männchen  mit  dem 

Weibchen  im  Canalis 

gynaecophorus 

jS  Bauchsaugnapf. 


472 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


Fig    16. 

Kopfeade  voa  Taenia  solium. 


Pig.  17. 
Taenia  media  canellata  (saginata). 


lung  über  den  Generationswechsel  kam  die  Auffassung  zur 
Geltung,  welche  in  dem  Bandwurm  eine  Kette  von  Einzel- 
thieren,  einen  Thierstock,  dagegen  in  dem  einen  selbstän- 
digen Geschlechtsapparat  enthaltenden  Bandwurmgliede,  der 
Proglottis,  das  Individuum  zu  erkennen  glaubte.  Nun 
gibt  es  aber  zahlreiche  Bandwürmer,  deren  Glieder  überhaupt 
nicht  zur  Trennung  gelangen;  und  man  lernte  einzehie  Arten 
kennen,  welche  derselben  überhaupt  entbehren  und  einen 
relativ  kurzen,  den  Saugwürmern  ähnlichen  Leib  mit  nur 
einem  einzigen  Geschlechtsapparat  besitzen  (Cartjophi)llaeiis). 
Xach  diesen  Befunden  wurde  die  letztere  Anschauung  un- 
haltbar. Zum  Verständnis  des  gegliederten  Bandwurmes  mit 
in  den  Proglottiden  sich  wiederholenden  Geschlechtsapparaten, 
wird  man  von  der  einfachen,  dem  Saugwurm  ähnlichen  Form 
auszugehen  haben  und  diese  als  den  ursprünglichen,  aus  dem 
reducirten,  des  Darmapparates  verlustig  gegangenen  Tre- 
matodenleib  abzuleitenden  Formzustand  betrachten  müssen, 
aus  welchem  sich  jener  im  Zusammenhang  mit  der  einfachsten 
Organisation  und  den  günstigen  Ernährungsbedingungen  im 
Darm  der  Wirbelthiere  durch  Wachsthum  in  der  Längs- 
achse mit  nachfolgender  Quergliederung  und  dieser 
entsprechender  Wiederholung  des  Geschlechtsappa- 
rates erst  secundär  entwickelt  hat.  Man  wird  dem 
gemäss  zu  der  älteren  Auffassung  zurückkehren 
müssen  und  die  Individualität  des  gesammten  Band- 
wurmleibes aufrecht  zu  erhalten  haben,  zugleich 
aber  innerhalb  derselben  die  morphologisch  unter- 
geordnete Individualitätsstufe  der  Proglottis  aner- 
kennen müssen. 

Der  vordere  verschmälerte  Körpertheil  des 
Bandwurmes  vermag  sich  mit  seinem  knopfartig 
angeschwollenen  Ende,  dem  Bandwurmkopf,  anzu- 
heften und  ist  an  demselben  mit  Haftorganen 
bewaffnet.  (Fig.  16.)  Häufig  endet  der  Kopf  mit 
einem  Zapfen  (Rostellum),  welchem  ein  doppelter 
Kranz  von  Haken  aufsitzt,  während  vier  Saug- 
gruben die  Seitenflächen  einnehmen.  Oder  es  sind 
lediglich  die  letzteren  Haftapparate  vorhanden.  Wäh- 
rend diese  Bewaffnung  für  die  Taenia  den  charak- 
teristisch ist,  finden  sich  bei  den  Bo thrioce- 
phaliden  nur  zwei  schwache  Gruben  vor.  Der 
auf  den  Kopf  folgende,  oft  als  Hals  bezeichnete 
Abschnitt  zeigt  die  ersten  Spuren  beginnender  Quer- 
gliederung. Die  anfangs  noch  undeutlich  abgesetzten 
Querringel  werden  zu  kurzen,  dann  in  contiuuir- 
licher  Folge  längeren  und  breiteren  Gliedern,  welche 
sich  mit  ihrer  Entfernung  vom  Kopfe  bestimmter 
abgrenzen  und  schliesslich  am  hinteren  Körperende 
den  grössten  Umfang  erreichen,  um  sich  als  Pro- 
glottiden zu  trennen.   (Fig.   17.) 

Die  innere  Organisation  entspricht,  von  dem 
Mangel  des  Darmcanales  abgesehen,  vollkommen  der 
des  Saugwurmes.  Dieselben  Schichten  der  Haut 
und  Muskulatur,  das  gleiche  bindegewebige  Paren- 
chym,    in    welchem    die    Organe    eingelagert    sind. 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


473 


Auch  findet  sich  das  feine  Canalsystam  des  Excretionsapparates  mit  dem  Wimper- 
kölbchen  (Fig.  18  a,  b)  im  Leibesparenchym  wieder,  ebenso  die  Längsstämme  des- 
selben, welche  an  den  Seiten  des  Wurmes  verlaufen,  in  den  einzelnen  Gliedern  durch 


Fig.  18,  b 

Wimperkölbchen   mit    der 

flackernden  Geissei  von 

Phyllobothrium. 


Fig   18,  a. 

Jüin  Stück    des   "Wassergefässsystems    von    Caryophyllaeus   mutabilis. 

(Nelken wurm)     Kr  Körperrand,    Wh  Wimperkölbchen. 


Fig.  19. 

Kopf  einer  Taenie  mit  den  Schlingen 

[des  "Wassergefässsystemes. 


<5uerstämme  verbunden  sind  und  am  Hinterende 
genähert  mittelst  gemeinsamen  Porus  ausmünden.  Im 
Kopfe  sind  dieselben  durch  Schlingen  verbunden. 
(Fig.  19.)  Das  Nervensystem  besteht  aus  zwei 
seitlichen,  an  der  äusseren  Seite  der  Wassergefäss- 
stämme  verlaufenden  Seitennerven,  deren  Vorder- 
enden durch  eine  gangliöse  Querbrücke  im  Kopfe 
verbunden  sind.  (Fig.  20.) 

Auch  der  hermaphroditische  Geschlechts- 
apparat  schliesst  sich  seinem  Baue  nachdem  der 
Trematoden  eng  an,  wiederholt  sich  aber  in  den 
aufeinander  folgenden  Quergliedern,  den  Proglotti- 
den,  welche  daher  in  gewissem  Sinne  als  die  Ge- 
neration der  Geschlechtsthiere  betrachtet  werden 
konnten.  Die  beiden  Hoden  des  Saugwurmes  finden 
wir  als  Drüsenbäumchen  in  eine  grosse  Zahl  kugel- 
förmiger Hodenbläschen  aufgelöst,  welche  der  Dor- 
salseite zugekehrt  sind  und  ihren  Inhalt  durch 
baumförmig  verzweigte  Vasa  efferentia  in  ein  gemein- 
sames Vas  deferens  ausführen.  Der  geschlängelte 
Endabschnitt  desselben  liegt  in  einem  musculösen 
Sack  (dem  Cirrusbeutel)  und  kann  als  Cirrus  aus 
der  Geschlechtsöffnung  vorgestülpt  werden.  Die  weib- 
lichen Geschlechtsorgane  bestehen  aus  dem  Ovarium, 
Dotterstock  (Eiweissdrüse)  Oviduct  oder  Frucht- 
behälter, Schalendrüse  und  Vagina  (Begattungscanal  nebst  Eeceptaculum),  welche 
letztere  in  der  Regel  unterhalb  der  männlichen  Geschlechtsöffnung  meist  in  einem 
gemeinsam    umwallten  Geschlechtsporus    nach  aussen  mündet.  Entweder  liegt  dieser 


Fig.  20. 

Nervensystem  von  Taenia  perfoliata. 

N  Nervenstämme.  (Längsschnitt  durch 

den  Kopf.) 


474 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


Fig.  22. 
Proglottis  von  Taenia 
cucumerina. 
Kg.  21. 
Proglottis  von,  Taenia  mediocanellata  im  Stadium  männlicher  und  weib- 
licher  Eeife    0«  Ovarium,  Ds  Dotterstock,  Sd  Schalendrüse,   Ut  Uterus, 

T  Hodenbläschen,    Vd  Vas  deferens,  Cb  Cirrusbeutel,  K  Kloake, 
Va  Vagina  (Begattungscanal)    Wc  Wassergefässstamm,  N  Nervenstrang 

auf  der  Fläche  (Ventralseite)  des  Gliedes  ( Bothriocephaliden)  oder  am  Seiten- 
rande und  dann  alternirend  bald  rechts  bald  links  {Taenia.  Fig.  21.).  Indes- 
sen soll  es  auch  vorkommen,  dass  beide  Greschlechtsöffnungen  im  weiten  Abstand  von 
einander  getrennt  liegen  und  dass  die  männliche  Oeffnung  am  Seitenrande,  die 
weibliche  flächenständig  mündet.  Auch  kann  sich  der  Geschlechtsapparat  in  den 
Seitenhälften  der  Proglottiden  paarig  wiederholen,  in  welchem  Falle  die  Oeffnungen 
rechts  und  links  am  Rande  hegen  (Taenia  cucumerina  Fig.  22.).  Bei  vielen 
Bothriocephaliden  besitzt  auch  noch  der  Fruchtbehälter  seine  besondere,  von 
der  Oeffnung  der  Vagina  wohl  zu  unterscheidende  Ausmündung,  und  nur  in  diesem 
Fall  gelangen  die  Eier  meist  vor  Beginn  der  Embryonalentwicklung  aus  dem  Leibe 
der  Proglottis  nach  aussen.  Die  einzelnen  Glieder  des  Bandwurmleibes  stehen  keines- 
wegs auf  gleicher  Stufe  geschlechtlicher  Ausbildung,  sondern  enthalten  alle  aufein- 
ander folgenden  Phasen  derselben  in  continuirhcher  Reihenfolge,  indem  mit  der 
Grössenzunahme  der  Glieder,  welche  mit  der  Entfernung  vom  Kopfe  allmälig  zu- 
nehmen, die  Entwicklung  der  Geschlechtsorgane  von  vorne  nach  hinten  fortschreitet. 
Wohl  allgemein  tritt  die  männliche  Geschlechtsreife  etwas  früher  als  die  weibliche 
ein,  dann  erfolgt  die  Begattung  und  mit  ihr  die  AnfüUung  des  Receptaculums  mit. 
Samenfäden  und  erst  nachher  die  volle  Reife  der  weiblichen  Geschlechtsorgane.  Im 
Laufe  dieser  Vorgänge  werden  die  Eier  befruchtet  und  in  den  Uterus  übergeführt,, 
welcher  erst  nach  voller  Füllung  mit  Eiern  seine  charakteristische  Form  und  Grösse 
erreicht,  während  sich  die  Hoden,  Ovarien  und  Dotterstöcke  wieder  zurückgebildet 
haben.  Nur  die  hinteren,  zur  Trennung  reifen  Proglottiden  haben  sämmtliche  Phasen 
der  geschlechthchen  Entwicklung  durchlaufen,  und  die  im  Innern  ihres  Fruchtbehälters 
angehäuften  Eier  enthalten  meist  den  zum  Ausschlüpfen  reifen  Embryo. 

Die  Eier  sind  von  drehrunder  oder  ovaler  Form.  Ihre  Schale  ist  einfach  oder 
aus  mehreren  dünnen  Hüllen  gebildet  oder  stellt  sich  als  feste,  dicke  Kapsel  dar, 
welche  aus  dicht  neben  einander  stehenden,  durch  eine  Zwischensubstanz  verkitteten 
Stäbchen  gebildet  wird.  Im  letzteren  Falle,  der  für  Cysto taenieu  gilt,  wird  die 
Embryonalentwicklung  im  Fruchtbehälter,  im  ersteren  meist  ausserhalb  desselben  im 
Wasser  durchlaufen.  Mit  den  Proglottiden  gelangen  die  Eier  aus  dem  Träger  des 
Bandwurmes  auf  Düngerhaufen,  an  Pflanzen  oder  in  das  Wasser  und  von  hier  aus. 
auf  passivem  Wege  mit  der  Nahrung  in   den    Magen  pflanzenfressender   oder  omni- 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


475 


Pig    23^ 
Entwicklungsgeschichte  von  Taenia  Solium    bis    zum  Cysticercus,  a  Ei  mit 
Embryo,  6  frei  gewordenes  Embryo,    c  Hohlz.apfen  an  der  "Wand  der  Blase, 
Anlage    des  Kopfes    und    d  Finne   mit    eingestülptem  Kopfe,    e  dieselbe  mit 
ausgestülptem  Kopfe,  d  und  e  etwa  4mal  vergrössert 


vorer  Thiere.     Nachdem 
die  Eihaut  durch  die  Ein- 
wirkung des  Magensaftes 
verdaut  worden  ist,  bohrt 
sich  der  im  Magen  oder 
Darm      frei     gewordene 
Embryo     mittelst    sechs 
(oder     vier)      Häkchen, 
deren  Spitzen    über    die 
Peripherie    des    kleinen, 
kugligen     Embryonallei- 
bes einander  genähert  und 
wieder    entfernt    werden 
können  (Fig.  23  a,  b),  in 
die  Magen-  oder  Darm- 
gefässe  ein.  In  diesen  wer- 
den die  Embryonen  pas- 
siv mit  der  Blutwelle  fortgetrie- 
ben und  in  den  Capillaren  der 
verschiedensten    Organe,    vor- 
nehmlich der  Leber,  dann  der 
Lunge,     auch     der    Bindesub- 
stanz, Muskeln,  Gehirn  u.  s.  w. 
abgesetzt    und    wachsen    dann 
nach    Verlust   ihrer   Häkchen, 
in  der  Regel  von  einer  binde- 
gewebigen   Cyste    umschlossen, 
zu    Bläschen    mit    wandständi- 
gem,   contractilem   Parenchym 
und  wässerigem  Inhalt  aus.  Die 
Blase    gestaltet    sich    allmälig 
zum  B 1  a  s  e  n  w  u  r  m  ,  der  F  i  n- 
n  e,  um,  indem  von  ihrer  Wand 
in  das  Innere  eine  {Cysticercus) 
oder     zahlreiche      (Coenurus), 
Hohlknospen  einwachsen,  welche 
im  Grunde  ihrer  Höhlung   die 
Bewaffnung    des    Bandwurmes 
in  Form   von   vier  Saugnäpfen 
und  doppeltem  Hakenkranz  ge- 
winnen    (Fig.    23    c,    d,    e.). 
Stülpt     sich     die    Hohlknospe 
nach  aussen  um,    so    dass    sie 
als  äusserer  Anhang  der  Blase 
erscheint,  so  zeigt  sie  die  Form 

und  Bewaffnung  des  Bandwurmkopfes  nebst  Hals  und  bereits  sich  gliederndem  Band- 
wurmleib. Es  kann  aber  auch  der  Fall  eintreten,  dass  die  unregelmässig  sich  gestal- 
tende Blase  von  ihrer  Wandung  aus  in  das  Innere  Tochter-  und  Enkelblasen 
bildet,  an  denen  die  Bandwurmköpfchen  in  besonderen,  kleinen,  von  der  Wand  jener 
erzeugten  Brutkapseln  ihren  Ursprung  nehmen  (Echinococcus,  Fig.  24,  a,  b,  c,  d). 
Dann  ist  natürlich  die  Zahl  der  von  einem  Embryo  erzeugten  Bandwurmköpfe 
eine  enorm  grosse,  und  die  aus  demselben  hervorgegangene  Mutterblase  kann  einen 
sehr  beträchtlichen  Umfang  erreichen,  dabei  in  Folge  des  in  verschiedenen  Richtungen 
ungleichen  Wachsthums  eine  unregelmässige,  verästelte  Form  gewinnen.  Dafür  bleibt  aber 
der  zugehörige  Bandwurm  sehr  klein  und  bildet  meist  nur  eine  reife  Proglottis  (Fig.  25.). 


Fig.  24. 
Echinococcus,    a    Brutkapsel    in  der    Bildung  begriffenen  Köpf- 
chen,   h   Brutkapseln    mit    fertigem  Köpfchen,    c   Echinococcus 
Köpfchen    an    der  V^and   der  Brutkapsel,    das    eine  ausgestülpt, 
Vc  Excretionscanäle, 


476 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


Im  Finnenzustand  scheint  der  Bandwurmkopf,  auch  wenn  er  aus  der  Blase  vor- 
gestülpt weiter  wächst  und  sich  zu  gliedern  beginnt  {Cysticercus  fasciolaris 
der  Maus)  niemals  zum  geschlechtsreifen  Bandwurm  zu  werden.  Vielmehr  muss  derselbe 
in  den  Magen  und  Darm  eines  neuen  Trägers  eintreten,  damit  der  von  der  Wandung 
des  verdauten  Blasenkörpers  getrennte  in  diesem  Zustand  als  Scolex  beschriebene 
Bandwurmlfopf  sich  zum  geschlechtsreifen  Bandwurm  entwickeln  kann.  Diese  üeber- 
tragung  erfolgt  auf  passivem  Wege  durch  den  Genuss  des  finnigen  Fleisches  und 
der  mit  Blasenwürmern  behafteten  Organe,  vermittelt  durch  die  Wechselbeziehun- 
gen zwischen  den  frei  in  der  Natur  lebenden  Thierarten.     Es  sind  daher  vornehm- 


t«^« 


Kg.  26. 

Cystioercoid  von  Taenia  sinuosa 

aus  Grammarus  pulex. 


Fig.  27. 

Cystioercoid  von  Taenia  cueu- 

mtrina,   etwa  60mal  vergrössert. 


Kg.  25. 

Taenia. 

Echinococcus 

lieh  Raubthiere,  Insectenfresser  oder  Omnivore,  welche  mit  dem  Leibe  bestimmter, 
zu  ihrer  Ernährung  dienender  Thiere  die  in  diesen  vorhandenen  Blasenwürmer  in 
sich  aufnehmen  und  die  aus  denselben  entstehenden  Bandwürmer  beherbergen.  Der 
vorgestülpte,  nach  der  Verdauung  der  Blase  frei  gewordene  Scolex  tritt  in  den  Darm 
ein,  heftet  sich  an  der  Darmwand  fest  und  wächst  unter  allmäliger  Gliederung  zu 
dem  Bandwurm  aus,  welcher  als  Strobila  bezeichnet  wurde  und  den  Schein  einer 
Thierkette  vortäuscht,  in  Wahrheit  aber  nur  ein  der  Proglottis  übergeordnetes  Indivi- 
duum repräsentirt.  Die  Entwicklung  des  Bandwurmes  ist  daher  als  eine  durch  Indi- 
vidualisirung  der  Theilstücke  desselben  charakterisirte  Metamorphose  zu  be- 
trachten und  kann  in  denjenigen  Fällen  als  Generationswechsel  gedeutet  werden, 
in  welchen  die  Jugendform  {Coenurus,  Echinococcus)  zahlreiche  Bandwurmköpfe  erzeugt. 
Indessen  durchlaufen  nicht  alle  Bandwürmer  die  grossblasige  Cysticercusform.  Viel- 
mehr ist  diese  Form  lediglich  für  die  Metamorphose  der  sogenannten  Blasen-Bandwürmer 
(Cystotaenien)  charakteristisch.  Bei  vielen  Taeniaden  (Mikrotaenien)  wird  der 
Cysticercus  durch  das  Cys ticer  coid  vertreten,  eine  kleine,  kuglige,  des  wässerigen 
Inhalts  entbehrende  Form,  an  welcher  sich  meist  ein  noch  die  Embryonalhäckchen 
tragender,  schwanzähnlicher  Anhang  von  dem  den  eingestülpten  Scolex  enthaltenden 
Körper  abhebt.  (Fig.  26  und  27.)  Cysticercoiden  werden  vornehmlich  in  wirbellosen 
Thieren,  in  Gammariden,  Cyclops,  Insecten  (Mehlwurm,  Silpha,  Ohrwurm,  Floh, 
Hundelaus),  Nacktschnecken  und  Regenwürmern  gefunden.  In  seltenen  Ausnahmsfällen 
können  dieselben  auch  im  Körper  des  Bandwurmträgers  vorkommen,  indem  die 
Entwicklung  ohne  Zwischenwirth  erfolgen  soll.  (Taenia  murlna  im  Darm  der  Ratte  mit 
dem  Cystioercoid  in  den  Darmzotten  der  Ratte,  Grassi).  Im  Vergleiche  zum 
Cysticercus  dürfte  das  Cystioercoid  einem  m^sprünglichen  Formzustand 
entsprechen,  dessen  Beziehung  zu  der  Distomeenlarve  in  dem  Cercarien  ähnlichen 
Schwanzanhang  unverkennbar  hervortritt,  während  der  Körper  des  Cysticercoids  eine 
darmlose   Cercarie  mit  eingestülptem  Vorderleib  repräsentiran  würde. 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


477 


Eine  wesentliche  Vereinfachung  nimmt  der  Entwicklungsgang  bei  den  Bothrio- 
cephaliden,  indem  der  Embryo  direct  unter  Ausfall  der  Blasenbildung  zum 
Scolex  auswächst.  Auch  die  vom  Scolex  erzeugten  Glieder  zeigen  dann  einen  gerin- 
geren Grad  der  Individualisirung.  Die  Proglottiden  trennen  sich  in  grösserer  Zahl  vereint 
als  zusammenhängende  Abschnitte,  vom  Bandwurmleib  ab,  ohne  als  Individuen  zu 
leben.  Noch  weiter  schreitet  die  Reduction  der  Individualisirung  bei  den  Liguliden, 
deren  Leib  zwar  noch  eine  Wiederholung  des  Geschlechtsapparates  aufweist,  einer 
jeden  äusseren  Gliederung  aber  entbehrt.  Endlich  gibt  es  Formen  wie  der  Nelken- 
wurm {Caryophyllaeus)  mit  einheitlichem  Geschlechtsapparat  von  Trematoden- 
ähnlicher  Gestaltung,  deren  Entwicklung  sich  als  eine  an  demselben  Individuum  in 
zwei  verschiedenen  Trägern  ablaufende  Metamorphose  darstellt  und  deren  Larven 
in  Cercarien-ähnlicher  Form  mit  Schwanzanhang  (Archigetes  Sieholdii  E,.  Lkt.) 
geschlechtsreif  werden  können. 


dst    . 


Fig.  29. 

Geschlechtsorgane  einer  reifen  Proglottis  ,von 

Bothriocephalus  latvs  von  der  Bauchseite  dargestellt 

Ov  ÖTarium,    Ut  Uterus,  Sd  Schalendrüse, 

Dst  Dotterstöcke,   Va  Vagina  mit  Oeffnung, 

Cb  Cirrusbeutel. 


Fig.  28.  ■  '^^''~ 

Bothriocephalus  latus.  Ov 

Fig.  30 
Dieselbe  von  der  Rückenseite"^der  Proglottis  dar- 
gestellt, /'  Hoden,    Vd  Vas  deferens. 

1.  Farn.  Bothriocephaliden.  Mit  zwei  schwachen,  spaltförmigen  Gruben  an 
den  Schmalseiten  des  Kopfes,  mit  kurzen,  sehr  breiten  Gliedern,  auf  deren  Ventral- 
fläche die  Geschlechtsöffnungen  münden.    Blasenwurmstadium  in  Fischen  durch  einen 


478  EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 

eingekapselten  Scolex  repräsentirt.  B.  latus  Brems.  Der  grösste  menschliche  Band- 
wurm, mit  keulenförmigem  Kopfe,  von  24  bis  30  Fuss  Länge,  vornehmlich  an  grossen 
Flüssen  und  Landseen  in  der  Schweiz,  südlichem  Frankreich  und  Russland  verbreitet. 
(Fig.  28.)  Die  geschlechtsreifen  Glieder  sind  bei  einer  Länge  von  3  —  5  mm  10 — 12 
mm  breit.  Von  den  beiden  vom  Genitalwall  umgebenen  Oeffnungen  führt  die  obere 
grössere  in  den  männlichen  Geschlechtsapparat;  zunächst  in  einen  musculösen,  vom 
Cirrusbeutel  umschlossenen,  als  Cirrus  ausstülpbaren  Eudabschnitt  des  Samenleiters. 
Dieser  verläuft  mehrfach  geschlängelt  in  der  Längsrichtung  des  Gliedes  au  der 
Rückenfläche  (Fig.  30)  und  spaltet  sich  in  zwei  Seiteuäste,  welche  die  Ausführungs- 
gänge der  zarten,  in  den  Seitenpartien  des  Mittelfeldes  gelegenen  Hodensäckchen 
aufnehmen.  Die  unterhalb  des  Cirrusbeutels  befindliche  Oeffnung  führt  in  die  häufig 
mit  Samen  erfüllte  Yagina,  welche  ziemlich  gerade  an  der  Bauchfläche  herabläuft 
und  durch  ein  enges  kurzes  Canälchen  mit  der  Schalendrüse  in  Verbindung  steht. 
(Fig.  29.)  In  weitem  Abstände  von  den  beiden  umwallten  Oeffnungen  liegt  die 
Oeifnung  des  schlauchförmigen  Fruchtbehälters,  dessen  rosettenförmige  Faltung  in 
der  Mitte  des  Gliedes  eine  eigenthümliche  Figur  (Wappenlilie,  Pallas)  erzeugt. 
Nahe  am  Hinterrande  des  Gliedes  münden  in  den  engen,  gewundenen  Anfangstheil 
des  Uterus  die  Ausführungsgänge  der  in  den  Seitenfeldern  als  gelbe  Körnerhaufen 
ausgebreiteten  Dotterstöcke,  sowie  der  unpaare  Ausführungsgang  der  beiden  Ovarien 
oder  Keimstöcke  in  die  Schalendrüse  ein.  Die  aus  dem  Fruchtbehälter  abgesetzten 
Eier  entwickeln  sich  im  Wasser  und  springen  mittelst  eines  Deckels  am  oberen  Pole 
der  Eischale  auf.  Der  ausschlüpfende,  mit  einem  Flimmerepithel  bekleidete  Embryo 
entwickelt  sich  in  Fischen,  insbesondere  im  Hecht  und  der  Quappe  zu  dem  6 — 8  mm 
langen,  eingekapselten  Scolex.  (Fig.  31.)  Mit  dem  Fleische 
des  Hechtes  gelangt  der  Scolex  in  den  Darm  des  Men- 
schen, wo  er  in  wenigen  Wochen  (ebenso  wie  im  Darm 
der  Katze  und  des  Hundes)  zum  geschlechtsreifen  Wurm 
auswächst. 

B.  cordatus  R.  Lkt.  Mit  grossem,  herzförmigem  Kopfe, 
circa  1  —  3  Fuss  lang,    im    Darm    des  Menschen  und  des 
Hundes  in   Grönland.     B.  ligaloides  Cobb.  Jugendform  von 
20  cm  Länge  im  subperitonealen  Bindegewebe  des  Menschen 
Fig.  31.  in  China  und  Japan. 

Larve  aus  dem  üo.'TtriocepTia-  2.  Fam.  Taeiiiaden.  Kopf  mit  vier  musculösen  Saug- 

lus  latus  aus  dem  Stint.  '■  ° 

näpfen,  mit  oder  ohne  Rostellum,  welchem  dann  in  der 
Regel  ein  doppelter  Hakenkranz  aufsitzt.  Die  Proglottiden  mit  randständiger  Geschlechts- 
öffnung und  geschlossenem  Fruchtbehälter,  trennen  sich  einzeln  vom  Bandwurm. 
Die  Jugendformen  leben  als  Cysticercoiden  in  Wirbellosen  oder  sind  Blasenwürmer 
in  den  Geweben  der  warmblütigen  Wirbelthiere. 

a)  Mikroiaeniae.  Bandwürmer  von  geringer  Grösse  ohne  Rostellum  oder  mit 
zahlreichen  kleinen  Häkchen  an  demselben.  Die  cysticercoiden  Jugendformen  meist 
in  Wirbellosen. 

T.  cucumerina  Rud.,  circa  20  cm  lang  mit  gurkenähnlichen  Proglottiden, 
welche  einen  doppelten,  an  beiden  Rändern  mündenden  Geschlechtsapparat  (Fig.  20) 
enthalten,  im  Darm  der  Stubenhunde  und  Katzen  {T.  elUptica  Batsch),  gelegent- 
lich im  menschlichen  Darm.  Das  Cysticercoid  lebt  (nach  R.  Leuckaet  und  Melni- 
koff)  in  der  Leibeshöhle  der  Hundelaus  und  (nach  Geassi)  auch  des  Flohes.  (Fig.  27). 
Die  Infection  geschieht  dadurch,  dass  der  Hund  den  ihn  belästigenden  Parasiten 
verschluckt.  Auch  Kinder  sind  als  Spielgenossen  des  Stubenhundes  der  Infection 
mit  dem  Cysticercoid  dieses  Bandwurmes  ausgesetzt. 

T.  nana.  v.  Sieb.,  im  menschlichen  Darm.  AVurde  von  Bilhaez  in  Abys- 
sinien  entdeckt  und  von  Geassi  auch  in  Sicilien  gefunden,  etwa  von  Zollange. 
Nach  Geassi  und  Rovelli  mit  T.  murin a  identisch,  deren  Cysticercoid  ohne  Zwi- 
schenwirth  in  den  Darmzotten  der  Ratten  sich  entwickelt. 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


479 


T.  ftavopunctata  Weinl.  von  Weinland  in  Nordamerika  entdeckt  und  später 
von  Geassi  in  Italien  beobachtet,  soll  mit  T.  leptocephala  Crepl.  aus  dem  Darm 
der  Eatte  identisch  sein. 

b)  Cystotaeniae^  Blasenbandwürmer.  Mit  Rostellum  und  meist  doppeltem  Haken- 
kranze. Die  Jugeudformen  sind  Blasenwürmer,  welche  in  Omnivoren  und  pflanzen- 
fressenden Wirbelthieren  leben. 

T.  soliuin  Rud.  {T.  pellucida  Göze.)  Yon  circa  3  Meter  Länge,  mit  26  Haken 
an  dem  ansehnlich  entwickelten  Stirnzapfen.  (Fig.  16.)  Die  reifen  Proglottiden  sind 
etwa  10  mtn  lang  und  halb  so  breit.  Der  Fruchtbehälter  derselben  bildet  7  —  10 
dendritische  Seitenzweige.  (Fig.  32.)  Lebt  im  Darm  des  Menschen  und  ist  besonders 
in  solchen  Gegenden  verbreitet,  in  welchen  man  j 

auf  die  Zubereitung  der  Fleischspeisen  keine 
grosse  Sorgfalt  verwendet.  Die  Jugendform,  der 
Cysticercus  cellulosae  der  älteren  Helmin- 
thologen,  ist  die  bekannte  Finne  und  findet  sich, 
von  dem  gelegentlichen  Vorkommen  in  den  Mus- 
keln des  Rehes,  Hundes  und  der  Katze  abge- 
sehen, vornehmlich  im  Unterhautzellgewebe  und 
in  den  Muskeln  des  Schweines,  welche  von  diesen 
querovalen  Blasen  so  massenhaft  durchsetzt  sein 
kann,  dass  dasselbe  ein  froschlaichartiges  Aussehen 
gewinnt.  Die  Uebertragung  geschieht  durch  den 
Genuss  rohen  oder  ungenügend  gekochten  oder 
geräucherten  Fleisches.  Indessen  inficirt  sich 
der  Mensch  auch  durch  Einwanderung  der  Em- 
brj^onen,  welche  sich  in  seinen  Muskeln,  Auge, 
Gehirn  etc.  zu  Finnen  entwickeln.  Im  Gehirn 
■kann  die  Finne  in  blasig  ausgebuchtete  Stränge, 
welche  keine  Kopfzapfen  bilden,  auswachsen. 
Auch  die  Finne  einer  im  Darm  des  Hundes  lebenden  Taenie 
{T.  marglnata),  welche  als  Cysticercus  tenuicollis 
.  von  der  Grösse  eines  Gänseeies  in  Milz,  Lunge  und  Leber 
der  Wiederkäuer  und  Schweine  ihren  Sitz  hat,  ist  in  der 
.  Leber    des  Menschen  gefunden  worden. 

T.  mediocanellata  Kuchenm.,  der  feiste  Bandwurm 
des  Menschen  (Fig.  17),  mit  vier  kräftigen  Sauggruben, 
aber  rudimentärem,  des  Hakenkranzes  entbehrenden  Rostel- 
lum von  4  Meter  Länge.  Die  Proglottiden,  circa  18  mm 
lang  und  7  —  8  mm  breit,  mit  zahlreichen,  wohl  jederseits 
20  bis  30  dichotomisclien  Seitenzweigen  des  Uterus.  (Fig. 
■33.)  Dieser  vornehmlich  in  den  wärmeren  Klimaten  der 
alten  Welt  verbreitete  Bandwurm  wurde  schon  von  den 
älteren  Helminthologen  und  von  Göze  als  Varietät  von 
T.  Solium^  als  T.  saginata,  unterschieden,  jedoch  als  besondere 
Art  erst  in  neuerer  Zeit  erkannt,  nachdem  man  festgestellt 
hatte,  dass  es  das  Rind  ist,  mit  dessen  Fleisch  der  Mensch 
den  Keim  dieses  Bandwurmes  aufnimmt.  Da  der  Genuss  von  rohem,  gehackten  Rind- 
fleisch aus  diätetischen  Gründen  vielfach  empfohlen  wird,  erscheint  das  häufige, 
aber  vereinzelte  Vorkommen  dieses  Bandwurmes  begreiflich,  welches  den  Namen 
als  solitärer  Bandwurm  rechtfertigt.  Im  menschlichen  Körper  ist  die  Rindsfinne 
(Fig.  34),  die  man  durch  Verfütterung  der  Proglottiden  au  Kälber  massenhaft 
gezogen,  unter  natürlichen  Verhältnissen  jedoch  nur  in  spärlicher  Zahl  und  mehr 
vereinzelt  in  den  Muskeln  des  Rindes  gefunden  hat,  bis  jetzt  nicht  beobachtet 
worden. 


Fig.  32. 

Zur  Trennung    reife 

Proglottis  von 

Taenia  Solium. 

Wc  "Wassergefäss 

schwach  vergrössert. 


Fig.  33. 
Eeife  Proglottis  von 
Taenia     mediocanel- 
lata, schwach  ver- 
grössert. 


Fig.  34. 

Cysticercus  der  Taenia 

mediocanellata  aus  dem  Rinde 

6  bis  8mal  vergrössert 


480 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN- 


I.  (Echinococcifer)  echinococcus  von  Sieb.  Bandwurm  mit  zahlreiclien  kleinen 
Häkchen  am  Kopfe,  und  nur  wenigen  Gliedern,  von  denen  ausscMiesslich  das  letzte  zur 
Trennung  reif  ist,  von  3  —  4  mm  Länge,  im  Darm  des  Hundes.  (Fig.  25.)  Der  als 
Echinococcus  bekannte  Blasenwurm  besitzt  eine  ausserordentlich  dicke  Cuticula  und 
erzeugt  eine  grosse  Zahl  von  Köpfchen  in  besonderen  Brutkapseln,  welche  entweder 
an  der  "Wand  der  Mutterblase  (scolicipariens)  oder  erst  an  Tochter-  und  Enkel- 
blasen (altricipariens)  erzeugt  werden.  (Fig.  24.)  Die  erstere  Form,  früher  irrthüm- 
Hch  als  besondere  Art  betrachtet,  ist  die  kleinere  Varietät,  etwa  von  der  Grösse  einer 
wälschen  Nuss  und  ündet  sich  vornehmlich  in  der  Leber  und  Lunge  der  Hausthiere, 
daher  auch  als  E.  veterinorum  bezeichnet.  Die  zweite  Varietät  erlangt  eine 
viel  bedeutendere  Grösse  und  gewinnt  häufig  durch  secundäre  Aussackungen  eine 
unregelmässige,  verzweigte  Gestalt.  Diese  von  der  ersten  keineswegs  scharf  abzugren- 
zende Varietät  kommt  vornehmlich  m  der  Leber  und  der  Lunge,  seltener  in  anderen 
Organen  (Muskeln,  Nieren,  Milz,  Gehirn  etc.)    des   Menschen   vor    und  war  deshalb 

als  E.  hominis  unterschieden.  Ihre  Zurückführung 
auf  die  erstere  Form  erklärt  sich  aus  dem  unregel- 
mässigen Wachsthum  in  Verbindung  mit  nachträgli- 
cher Umgestaltung  von  Brutkapseln  zu  Tochterblasen, 
wie  andererseits  auch  steril  bleibende  Blasen  (ohne 
Scolexerzeugung,  sog.  Acephalocysten)  nicht  sel- 
ten beobachtet  werden.  Eine  dritte  Varietät  ist  der 
lange  Zeit  her  als  Alveolarcolloid  beurtheilte 
multiloculäre  Echinococcus,  welcher  durch  eine 
Gruppe  dicht  gehäufter,  steril  bleibender  Bläschen 
gebildet  wird,  die  durch  das  bindegewebige  Stroma  zu 
einer  geschwulstähnlicheu  Blase  von  Faustgrösse  zusam- 
mengehalten werden.  In  manchen  Gegenden,  in  denen 
die  Viehzucht  stark  betrieben  wird,  ist  der  Echino- 
coccus unter  den  Menschen  und  Hausthieren  sehr 
verbreitet,  z.  B.  in  Australien  und  in  Island,  wo  in 
früheren  Jahren  ein  guter  Theil  der  Bevölkerung  an 
der  Echinococcuskrankkeit  {Hydatidenseuche)  zu 
Grunde  ging.  Erst  seit  der  Feststellung  der  Naturge- 
schichte des  Wurmes  und  der  durch  diese  nachgewiesenen 
Art  der  Infection  haben  sich  die  prophylaktischen  Mass- 
nahmen ergeben,  durch  welche  der  Procentsatz  des 
Leidens  bedeutend  herabgesetzt  worden   ist. 

III.  Nematoden,  Fadenwürmer,  Dieselben  sind 
kenntlich  an  ihrem  drehruuden  schlauch-  oder  faden- 
förmigen Leib  und  dem  Besitz  eines  Darmcanales,  wel- 
cher in  gerader  Richtung  die  mit  Haemolymphe 
gefüllte  Leibeshöhle  durchsetzt.  Die  am  vordem  Kör- 
perende gelegene  Mundöffnung,  häufig  von  drei  lippen- 
artigen Erhebungen  und  Papillen  umgeben,  führt  durch 
eine  enge,  in  ihrem  Verlaufe  häufig  bulbös  (Pharynx) 
angeschwollene  Speiseröhre  in  das  mit  Drüsenzellen 
bekleidete  Darmrohr,  welches' nicht  weit  vom  Hinterende  ventralwärts  in  der  After- 
öffnung nach  aussen  mündet.  (Fig.  35).  Die  äussere  Körperbedeckung  wird  durch 
eine  helle,  oft  mehrfach  geschichtete  Cuticula  und  eine  unterliegende  feinkörnige 
Subcuticularschicht,  welche  die  Matrix  Jener  sein  dürfte,  charakterisirt.  Auf  diese  folgt 
nach  innen  der  ansehnliche,  aus  spindelförmigen  oder  bandförmig  ausgezogenen 
Längsmuskeln  bestehende  Hautmuskelschlauch,  welcher  in  zwei  seitlichen  Längsstrei- 
fen, den  sog.  Seitenlinien,  durch  die  Excretionsorgane  unterbrochen  ist. 
Diese  enthalten  jederseits  einen  hellen  Canal,  welcher  in  der  vordem  Körperge- 
gend   mit    dem    der  andern   Seite  verbunden,    durch    einen    gemeinsamen    medianen 


Fig.  35  b. 
Männchen  der- 
selben. 


Kg.  35  a. 
Weibchen  der 
Rhabdiies  Genera- 
tion von  Rhab- 
donema  nigro- 
venosum. 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


481 


Bn- 


Porus  ausmündet.  Ausserdem  unterscheidet  man  noch  als  Unterbrechungen 
der  Musculatur  eine  Medianlinie.  Das  Nervenssystem  (Fig.  36)  besteht  aus 
einem  gangliösen,  den  Oesophagus  umziehenden  Ring,  welcher  nach  hinten  zwei, 
nach  vorn  sechs  Nerven  entsendet.  Jene  verlaufen  in  den  Medianlinien  als 
Rücken-  und  Bauchnerv  bis  zur  Schwanzspitze,  diese  zu  den  Tastpapillen  im  ümlcreis 
des  Mundes.  Die  Nematoden  sind  von  vereinzelten  Ausnahmen  abgesehen,  getrennten 
Geschlechts.  Zu  den  Ausnahmen  gehört  die  parasitische  Generation  von  Rhabdonema 
strongyloides  {Angiiillula  intestinalis)  aus  dem  Darm  des  Menschen,  sowie  die  gleiche 
Generation  von  Bhabdonema  nigrovenosum  aus  den  Lungen  der  Kröten  und  Frösche,  in 
deren  Keimdrüse  sich  zuerst  Zoospermien,  später  Eier  entwickeln.  Beiderlei  Geschlechts- 
organe sind  einfache  oder  paarige  Röhren,  welche  in  ihrem  obern  Abschnitte  die 
Keimzellen  erzeugen  und  in  ihrem  untern  Theile  die  Leitungswege  und  Behälter  für 
jene  darstellen.  Die  meist  paarigen  Ovarialröhren  enthal- 
ten in  ihrem  Endabschnitte  die  Eikeime,  welche  weiter  ab- 
wärts in  der  Peripherie  eines  centralen  Dotterstranges 
(Rhochis)  gelagert,  an  Umfang  zunehmen  und  schliesslich 
als  reife  Eier  von  den  bei  der  Begattung  aufgenommenen 
hutförmigen  Samenzellen  befruchtet  werden.  Auf  die  beson- 
ders bei  grösseren  Formen  in  mehrfache  Abschnitte  geglie- 
derten Ovarialröhren  folgt  eine  relativ  kurze  Vagina,  welche 
ventral  meist  nicht  weit  von  der  Mitte  des  Körpers,  selten 
dem  hinteren  Leibesende  genähert  ausmündet.  Dagegen 
erweist  sich  der  Geschlechtsapparat  des  beträchtlich  kleineren 
Männchens  fast  allgemein  als  unpaarer  Schlauch  und  mündet 
nahe  dem  oft  gekrümmten  Körperende  mit  dem  Darme  aus. 
Häufig  enthält  der  gemeinsame  Kloakenabschnitt  in  einer 
taschenförmigen  Ausbuchtung  zwei  spitze  Chitinstäbe,  sog. 
Spicula,  welche  durch  einen  besonderen  Muskelapparat 
hervor-  und  wieder  eingezogen  werden  können  und  zur 
Fixirung  bei  der  Begattung  dienen.  Die  Nematoden  legen 
meist  Eier  ab,  und  nur  selten  sind  lebendig  gebärende  Ar- 
ten. Die  Eier  besitzen  meist  eine  harte  Schale  und  kön- 
nen in  verschiedenen  Stadien  der  Embryonalentwicklung 
selbst  mit  fertigem  Embryo  (ovovivipar)  oder  auch  vor 
Beginn  derselben  abgesetzt  werden.  Bei  lebendig  gebären- 
den Formen  haben  die  Eier  ihre  in  diesem  Falle  zarte 
EihüUe  schon  im  Fruchtbehälter  des  Mutterthieres  verloren 
(T ri c h i n a,  F i  1  a r i a).  Der  fertig  entwickelte  Embryo  liegt 
in  mehreren  Wandungen  innerhalb  der  Eischale  eingerollt  und 
besitzt  bereits  die  Nematodenform,  sowie  Mund  und  Darm, 
Nervenring  und  Excretionsorgane,  verhält  sich  jedoch  zum 
ausgebildeten  Thiere  durch  die  besondere  Form  des  Mund- 
und  Schwanzendes  (Bohrzahn,  Schwanzfortsatz)  fast  stets  als 
Larve.  Die  postembryonale  Entwickelung  ist  eine  Metamor- 
phose,   die  oft  dadurch  complicirt  wird,  dass    sie    nicht    an 

dem  Wohnorte  des  Mutterthieres  zum  Ablauf  kommt.  In  der  Regel  haben  die 
Jugendzustände  einen  anderen  Aufenthaltsort  als  die  Geschlechtsthiere,  indem 
verschiedene  Organe  desselben  Thieres  (Trichine:  in  der  Musculatur  und  im 
Darm)  viel  häufiger  aber  verschiedener  Thiere  die  jugendlichen  und  die  geschlechtsreifen 
Nematoden  beherbergen.  Die  ersteren  leben  meist  in  parenchymatösen  Organen  frei  oder 
encystirt,  die  letzteren  vorwiegend  im  Darm  und  in  dessen  adnexen  Organen.  Indessen 
können  die  Jugendformen  auch  frei  im  schlammigen  Wasser  oder  in  der  Erde  ihren 
Aufenthaltsort  haben  (Strongyliden)  und  erst  als  Parasiten  die  Geschlechtsreife  er- 
langen. Freilich  gibt  es  Fälle,  in  denen  die  freilebenden  Formen  geschlechtsreif 
werden  und  erst  in  ihren  Nachkommen  zu  parasitischen  Geschlechtsthieren  hinführen 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  oL 


Fig.  36. 
Nervensystem  der  Ne- 
matoden, scheraatisch. 
G  Seitenganglien  am 
Nervenring,     N  vordere 
Seitennerven,     Sm    Sub- 
mediannerven,     Sl    Sub- 
lateralnerven,  Bn  Bauch- 
nerv, Rn  Eückennerv, 
Ag  Analganglien, 
.4  After. 


482 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


so  dass  zweierlei  GescMecMsgenerationen,  eine  parasitische  (Heterogonie),  und  eine 
freilebende  regelmässig  alterniren.  Da  nun  kleinere  den  letzteren  verwandte  IST  e  m  a- 
t öden- Arten  in  grosser  Zahl  das  Wasser  und  den  Humus  bewohnen  (Anguilluli- 
den,  Enopliden  etc.)  so  ist  es  wahrscheinlich,  dass  diese  der  ursprünglichen  Ge- 
staltung und  Lebensweise  entsprechen,  und  dass  von  denselben  die  in  Pflanzen  und 
Thieren  parasitischen  Formen  erst  secundär  ihren  Ursprung  nahmen. 

1.  Fam,  Anguilluliden.  Nematoden  von  sehr  geringer  Grösse  mit  doppelter 
Pharyngealanschwellung,  in  schlammigem  Wasser  und  feuchter  Erde  oder  in  organischen 
Flüssigkeiten  (Essigälchen),  in  Pflanzen  (Weizenälchen)  und  auch  in  Thieren  lebend, 
in  diesen  jedoch  nur  in  einer  veränderten  Generation,  welche  mit  einer  frei  lebenden 
alternirt  (Heterogonie)  Rhabdonema.  Rh.  strongyloides  R.  Lkt.  Die  Rhab- 
ditisgeneration  1  mm  lang,  als  Rhabditis  stercoralis  Bavay  beschrieben, 
alternirt  mit  der  grösseren,  2  wm  langen,  parasitischen  Anguillula  intestinalis 
Bavay,  welche  in  ungeheurer  Menge  (durch  den  Genuss  verunreinigten,  die  Brut 
von  Rh.  stercoralis  enthaltenden  Trinkwassers  eingeführt  in  den  menschlichen  Darm 
übertreten  und  dann  zu  heftigen  Diarrhöen  und  selbst  intensiveren  Darmaffectionen, 
Anaemie  etc.  Anlass  geben  kann.  Häufig  in  der  Lombardei  und  in  Cochinchina, 
auch  beim  Baue  des  St.  Gotthard-Tunnels  beobachtet.  {St.  Gotthard- Krankheit) 
Nicht  ohne  praktische  Bedeutung  ist  die  schwierig  zu  ent- 
scheidende Frage,  ob  sich  die  Nachkommen  der  parasiti- 
schen Ä.  intestinalis  stets  ausserhalb  des  Trägers  zu 
Rh.  stercoralis  entwickeln  oder  nicht  auch  im  Darm  des 
Trägers  direct  zur  Gestalt  des  hermaphroditischen  Parasiten 
entwickeln  können,  ob  mit  andern  Worten  das  Alterniren 
beider  Generationen  ein  unregelmässiges,  blos  facultatives 
(ähnlich  wie  bei  Leptodera  appendicidata  der  Wegschnecke) 
oder  ein  regelmässig  nothwendiges  (wie  bei  Ehahdonema 
nigrovenosum  aus  der  Batrachierlunge)  ist.  Während  R. 
Leuckaht  die  letztere  Ansicht  vertritt,  hält  Grassi  den 
erstem  Vorgang  für  den  zutreffenden,  in  welchem  Falle  zahl- 
reiche parasitische  Generationen  mit  Embryonen  oder  Lar- 
ven der  frei  lebenden  Rh.  stercoralis  entstehen  würden  und 
demgemäss  eine  einmalige  Infection  mit  einer  relativ  gerin- 
gen Zahl  dieser  Jugendformen  ausreichen  würde,  Millionen 
der  A.  intestinalis  zu  erzeugen  und  die  selbst  letal 
ausgehende  Erkrankung,  als  deren  Ursache  freilich  auch 
der  gleichzeitig  vorhandene  Dochmius  duodenalis  nicht  aus- 
geschlossen ist,   hervorzurufen. 

2.  Fam.  Strongyliden.  Charakterisirt  durch  das 
schirmförmig  verbreiterte  mit  randständigen  Tastpapillen 
besetzte  Hinterleibsende  des  Männchens,  die  sogen.  Bursa, 
in  deren  Grunde  die  Geschlechtsöffnung  nebst  den  Spicula 
liegt.  Die  Rhabditisähulichen  Larven  leben  im  schlammigen 
Wasser,  aus  dem  sie  in  den  definitiven  Wirth,  seltener 
zuvor  in  einen  Zwischenträger  gelangen.  Yiele  Strongyliden 
sind  Blutsauger  und  besitzen  eine  erweiterte  mit  Zähneu 
bewaffnete  Mundhöhle. 

Dochmius  {Ancylostomum  duodenale)  Dub.  Ein  nur 
10 — 18  mm  langer  Nematod,  in  dessen  Mundkapsel  an  der  Ventralseite  sich  zwei 
Zahnplatten  erheben,  denen  gegenüber  an  der  Rückenwand  eine  kegelförmige  Spitze 
schräg  nach  vorn  vorragt.  (Fig.  37.)  Derselbe  lebt  im  Dünndarm  des  Menschen 
und  beisst  mit  Hilfe  seiner  starken  Bewaffnung  in  die  Blutgefässe  der  Darmhaut, 
so  dass  Blutungen  entstehen,  die  bei  Vorhandensem  einer  grösseren  Anzahl  dieser 
kleinen  Würmer  allmälig  zu  beträchtlichem  Blutverlust  und  anämischen  Erscheinun- 
gen führen.  In  Egypten  ist  dieser  Parasit  von  Bilhaez  und  Geiesinger  als  die  Ursache 


Fig.  37. 

Dochiraus  duodenalis 

B  Männchen,  0  Mund, 

a  Bursa,   6  Weibchen, 

o  Mund,  A  After,    V  Vulva. 


EINaEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


483 


Mg.  38. 

Sclerostomum  tetracanthum 

eingekapselt . 


der  ägyptischen-  Chlorose  erkannt  worden. 
Auch  in  andern  wärmeren  Ländern  und  zwar  nicht 
nur  der  alten  Welt,  sondern  auch  der  neuen 
Welt  wird  derselbe  gefunden.  Von  Italien  aus 
wird  er  gelegentlich  auch  in  unsere  Gegenden 
verschleppt.  Beiläufig  mag  bemerkt  sein,  dass 
eine  ganz  ähnliche  Dochmius-Art  im  Darm  des 
Hundes  (D.  trigonocephalus)  und  eine  grössere 
Art  einer  verwandten  Gattung  (Sclerostomum 
equinum,  armatum,  tetracanthum)  im  Pferde  leben 
und  die  Ursache  von  Aneurysmen  der  Darmgefässe, 
Thrombenbildung  und  der  Kolik  bei  Pferden 
werden  (Fig.  38). 

Eustrongijlus  gigas  Rud.  Palissadenwurm. 
Ein  im  weiblichen  Geschlecht  fast  meter-,  im  männlichen  nur 
fusslanges  Strongylid  mit  6  warzenförmigen  Papillen  im  Um- 
kreis der  Mundöffnung  und  Papillenreihen  auf  den  Seitenlinien, 
mit  becherförmiger  unbewaffneter  Mundhöhle  und  glockenförmig 
geschlossener  Bursa,  in  deren  Grunde  nur  ein  borstenförmiges 
Spiculum  hervorragt.  (Fig.  39).  Durch  Balbiani  wurde 
bekannt,  dass  die  Embryonalentwicklung  in  feuchter  Erde  oder 
Wasser  abläuft  und  wahrscheinlich  gemacht,  dass  die  Embryo- 
nen erst  im  Darme  von  Zwischenwirthen  aus  der  Eischale  frei 
werden.  Da  man  encystirte  Stronygliden  in  Fischen  gefunden 
hat  {Filaria  piscium  Ptud.)  und  der  Palissadenwurm  vornehmlich 
in  dem  Nierenbecken  fischfressender  Carnivoren  (Robben,  Fisch- 
ottern, Nasua,  aber  auch  in  Hunden  und  Wölfen)  gefunden  wird, 
ist  wohl  anzunehmen,  dass  es  Fische  sind,  in  deren  Darm  die 
Larven  frei  werden,  um  in  die  Gewebe  einzudringen  und  hier 
bis  zu  einem  gewissen  Stadium  der  Entwicklung  zu  gelangen, 
in  welchem  sie  mit  dem  Fleisch  des  Fisches  in  den  Körper 
jener  Carnivoren  übertreten.  Das  Yorkommen  dieses  fuss- 
langen  nur  bis  1  cm  dicken  Nematoden  im  Nierenbecken  des 
Menschen  ist  jedenfalls  ein  äusserst  seltenes,  und  nur  wenige 
Fälle  aus  älterer  Zeit  liegen  vor,  die  mit  einiger  Sicherheit  auf 
den  Palissadenwurm  zu  beziehen  sind  (Blasius,  Rutsch). 

Strongylus  longevaginatus  Dies.  Mit  sechs  Mundpapillen 
und  zwei  konischen  Halspapillen  auf  den  Seitenlinien,  im  männlichen  Geschlecht  mit 
schirmförmiger  und  vollkommen  geschlossener  Bursa,  in  deren  Grunde  zwei  Spicula 
vorstehen.  An  dem  grösseren,  2V2  ^»^  langen  Weibchen  mündet  die  Geschlechts- 
öffnung nicht  weit  vom  hintern  Körperende.  Wurde  in  zahlreichen  Exemplaren 
nur  einmal  in  der  Lunge  eines  6jährigen  Knaben  gefunden.  Verwandte  Arten  wer- 
den in  den  Bronchien  der  Schafe  (St.  filaria),  der  Schweine  (St.  paradoxus) 
häufig  angetroffen. 

3.  Fam.  Ascariden.  Nematoden  von  gedrungen  walzenförmigem  Körper  mit 
drei  papillentragenden  Mundlippen  und  ventral  eingekrümmtem  Hinterleibsende  des 
Männchens.  Die  im  Wasser  ihre  Entwicklung  abschliessenden  Embryonen  scheinen 
stets  im  Innern  der  Eischale  ohne  Vermittlung  eines  Zwischenträgers  in  den  defi- 
nitiven Wohnort  des  Geschlechtsthieres  übertragen  zu  werden. 

Oxyuris  vermicularis  IL,  Pfriemenschwanz,  Madenwurm,  mit  kuglig  er- 
weitertem Pharynx  am  Ende  der  Speiseröhre,  im  weiblichen  Geschlecht  von  etwa 
10  mm  Körperlänge,  mit  langem,  pfriemenförmig  ausgezogenem  Schwanzanhang,  wel- 
chen das  kaum  halb  so  lange  Männchen  entbehrt.  Das  aufgeblähte  Schwanzende  des 
letzteren  ist  mit  6  Papillenpaaren  besetzt  und  mit  nur  einem  stabförmigen  au  der  Spitze 

31* 


Kg.    39. 

Männchen  von 

Eustrongylus  gigas  in 

natürUcher  Grösse, 


484 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


Fig.  40. 

Oxyuris  vermieularis  der  Maden- 

wurm.    a  "Weibchen,   0  Mund, 

A  After,     V  G-enitalöffnung. 

a  Männchen  mit  gekrümmtem 

Hinterende,  c  Hinterleibsende 

stark  vergrössert,    <Sp  Spiculum, 

d  Ei  mit  eingeschlossenem 

Embryo. 


S-förmig  gebogenem  Spiculum  versehen.  (Fig.  40.)  Der 
Madenwurm  ist  neben  dem  Spulwurm  der  häufigste  aller 
Helminthen  und  als  Kosmopolit  über  alle  Länder  verbrei- 
tet. Derselbe  lebt  gesellig  meist  in  grosser  Menge  im 
Dickdarm  vornehmlich  jugendlicher  Individuen  und  nährt 
sich  vom  Koth.  Aus  dem  Colon  gelangt  derselbe  aber 
auch  in  den  Blinddarm  und  in  die  untersten  Partien  des 
Dünndarms,  sowie  viel  häufiger  in  den  Mastdarm,  aus  dem 
er  gelegentlich  durch  den  After  auswandert  und  in  die 
Vagina,  selbst  Uterus  eindringt.  Meist  geschieht  diese 
Auswanderung  in  den  Abendstunden  und  veranlasst  ein 
unter  Umständen  unerträglich  werdendes  Kitzeln,  zu  dem 
sich  bei  reizbaren  Individuen  Eeflexerscheinungen  man- 
cher Art  hinzugesellen.  Die  männlichen  Thiere  treten  an 
Zahl  hinter  den  Weibchen  beträchtlich  zurück,  sind  aber 
wegen  der  geringeren  Grösse  und  weil  sie  zwischen  den 
Schleimhautfalten  versteckt  liegen,  auch  nicht  so  leicht 
aufzufinden,  wie  sie  denn  auch  viel  später  als  diese 
(Sömbieeing)  entdeckt  wurden.  Obwohl  sich  die  Embryo- 
nen schon  im  Innern  des  Uterus  entwickeln  und  die  ab- 
gesetzten Eier  fertige  Embryonen  enthalten,  können  sie 
doch  nicht  im  Dickdarm  ausschlüpfen,  vielmehr  scheint 
zur  Sprengung  der  Eischale  die  Einwirkung  des  Magen- 
saftes erforderlich.     Die    Infection  mit  der  Brut  geschieht 


a 


Pia—-' 


Sp 


Eig.  41. 
Ascaris  lumbricoides.  a  Hinterleibsende  des  Männchens  mit  der  Spicula 
{Sp),  h  Vorderende  von  der  Kückseite  mit  der  dorsalen  zwei  Papillen 
tragenden  Mundlippe,  c  dasselbe  von  der  Baiichseite  mit  den  beiden 
seitlichen  ventralen  Mundlippen,  P  Excretionssporus,  d  Ei  mit  der  aus 
hellen  Kügelchen  gebildeten  AussenhüUe. 


demnach  nicht  direct  an  Ort  und  Stelle,  sondern  erst  indirect  durch  Aufnahme  mit 
Eiern  verunreinigter  Nahrungsstoffe.  Unreinlichkeit  und  der  Genuss  roher  Vegeta- 
bilien,  ungeschälten  Obstes  etc.  sind  die  vornehmlichen  Ursachen  der  Infection. 

Ascaris  lumbricoides  Cloq.  Spulwurm,  mit  drei  starken  scharfrandigen  Mund- 
lippen, von  denen  die  dorsale  zwei,  die  beiden  ventralen  je  eine  Papille  tragen,  ohne 
pharyngeale  Anschwellung  des  Oesophagus  von  1  bis  l^/g  Fuss  Länge.  Das  umge- 
krümmte Hinterende  des  kleinern  Männchens  mit  zwei  Spicula  bewaffnet  (Fig.  41). 
Der  neben  dem  Madenwurm  häufigste,  schon  im  Alterthum  bekannte  Eingeweide- 
wurm des  Menschen  bewohnt  vornehmlich  den  Dünndarm  und  zuweilen  bei  Kindern  in 
so  grosser  Menge,  dass  diese  Würmer  den  Dünndarm  ganz  erfüllen  und  unwegsam 
machen.  Auch  kommt  derselbe  im  Rinde  und  als  kleinere  Varietät  (A.  suilla)  im 
Schweine  vor.  Die  Infection  erfolgt  direct  ohne  Zwischenträger  (Grassi)  durch  Auf- 
nahme der  embryonenhaltigen  Eier,  welche  im  Wasser  oder  in  feuchter  Erde  die 
Embryonal-Entwicklung  durchlaufen  haben,  also  wohl  wie  beim  Madenwurm  mittelst 
verunreinigter  Speisen,    oder   mit   der  Schale   genossenen  Obstes  etc.    in   den  Darm 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


485 


kommen.  Aus  dem  Dünndarm  gelangen  die  Würmer  in  das  Colon  und  von  da  bei 
normaler  Auswanderung  durch  Rectum  und  After  nach  aussen.  Indessen  treten  sie 
auch  nicht  selten  in  den  Magen  über  und  werden  dann  mit  dem  Mageninhalt  erbrochen. 
Gelegentlich  wandern  kleine  Exemplare  vom  Dünndarm  aus  in  den  Gallengang  und  in 
die  Leber  ein,  ja  es  sind  einzelne  Fälle  bekannt  geworden,  in  denen  Spulwürmer  die 
Darijiwand  durchbrochen,  und  in  die  Leibeshöhle  eingedrungen  waren.  Auch  sind  in 
nicht  geringer  Zahl  Fälle  vom  Wurmabscessen  an  der  Bauchwand  beschrieben  worden, 
zu  denen  der  Vorfall  eines  Darmabschnitts  mit  nachfolgender  Perforation  Anlass  ge- 
geben haben  mag.  Endlich  wurde  die  Entleerung  von  Spulwürmern  aus  den  Harn- 
wegen, in  welche  dieselben  durch  Fistelgänge  vom  Darme  aus  gelangt  waren,  mehrfach 
beschrieben.  Zur  sicheren  Constatirung  des  Vorhandenseins  von  Spulwürmern  im  Darme 
ist  der  Abgang  des  Wurmes,  beziehungsweise  der  Nachweis  der  charakteristisch  ge- 
stalteten Eier  (Fig.  41  d)  in  den  Fäces  erforderlich. 

4.  Farn.  Trichoti'acheliden.  Merkmale  dieser  Nematodenfamilie  sind  der  hals- 
artig dünne  lange  Vorderkörper  und  die  eigenthümliche  Form  des  in  demselben  ver- 
laufenden Oesophagus,  welcher  als  enge  Eöhre  von  einem  perlschnurähnlichen  Zellen- 
strange umlagert  wird. 

TricJiocephalus  dispar.  Rud.,  der 
Peitschenwurm.  Von  4 — 5  cm  Länge  mit 
geisseiförmig  ausgezogenem  Vorderleib  (Fig. 
42  a,  b,  c),  auf  welchen  der  walzenförmig 
aufgetriebene  Darm  und  die  Geschlechtsor- 
gane enthaltende  Hinterleib,  dem  Stiele 
einer  Peitsche  vergleichbar,  folgt.  Im  männ- 
lichen Geschlecht  ist  derselbe  eingerollt 
und  mit  vorstülpbarem  Kloakrohr  und 
grossem  stumpf  endenden  Spiculum.  Die 
weibliche  Geschlechtsöffnung  liegt  an  der 
Grenze  zwischen  Vorderleib  und  Hinter- 
leib. Die  hartschaligen  citronenförmigen 
Eier  (Fig.  42  a)  gelangen  mit  den  Fäces  in 
das  Wasser)  und  bedürfen  hier  geraumer 
Zeit  bis  zur  vollen  Entwicklung  des  Em- 
bryos, welcher  von  der  Eischale  umgeben 
mit  dem  Wasser  oder  verunreinigter  Speise 
in  den  Darm  des  Menschen  übertragen  wird, 
in  dessen  Schleimhaut  der  Wurm  mit  dem 
fadenförmigen  Vorderleibe  eingegraben  liegt. 
(Fig.  42  o).  In  der  ersten  Zeit  haarförmig 

und  trichinenähnlich,  gewinnt  der  junge  Peitschenwurm  erst  im  Verlaufe  der  weitern 
Entwicklung  den  Gegensatz  von  Vorderleib  und  Hinterleib,  Derselbe  findet  sich  meist 
nur  in  wenigen  Exemplaren  im  Darm,  ist  aber  häufig  und  über  alle  Welttheile  verbreitet. 

Trichina  spiralis  Owen.  Körper  in  ganzer  Länge  haardümi,  Weibchen  3  bis 
4  mm  lang,  mit  weit  nach  vorn  gerückter  Geschlechtsöffnung,  lebendig  gebärend. 
Männchen  nur  etwa  2  mm  lang,  am  Hinterleibsende  mit  2  konischen  Zapfen,  zwi- 
schen denen  die  Kloake  vorgestülpt  wird,  ohne  Spiculum.  (Fig.  43  a,  b).  Die  spi- 
ralig gewundene,  encystirte  Jugendform,  welche  in  den  Muskeln  lebt,  ward  bereits 
1835  von  James  Paget  entdeckt  und  von  R.  Ovten  als  Trichina  spiralis 
beschrieben,  die  aus  derselben  hervorgehende  geschlechtsreife  Darmtrichine  aber 
erst  1860  durch  die  sich  ergänzenden  Untersuchungen  R.  Leückaht's  und  Virchow's 
als  solche  erkannt  und  gezüchtet.  Gleichzeitig  beschrieb  Zenker  den  ersten  Fall 
von  Trichinose.  Die  Darmtrichine  wird  schon  einige  Tage  nach  der  Aufnahme 
der  Muskeltrichinen  mit  dem  Genüsse  trichinösen  Fleisches  im  Darm  der  Säuge- 
thiere  und  des  Menschen  geschlechtsreif.  Die  viviparen  Weibchen  beginnen  etwa 
8  Tage  nach  dem  Eintritt    in    den    Darm  Embryonen    abzusetzen    (Fig.  44  a)    und 


Fig.  42. 

TricJiocephalus    dispar,     Peitschenwurm,  a  Ei, 

b  Weibchen,     c  Männclien    mit    dem  Vorderleib 

in  die  Darmscbleimliaut    eingegraben, 

Sp  Spiculum. 


486 


EIXGEWEIDEVÜEMER  DES  MENSCHEN. 


Kg.  43. 

Trichina  spiralis.  a  ■sveibliche  DarmtricMne, 

Ov  Ovarinm,  G  Genitalöffnung,  E  Embryonen 

6  Männchen,   T  Hoden. 


Kg.  44. 
a  Trichinen-liarTe  (Embryo),  h  Derselbe 

in  eine  Muskelfaser  eingewandert, 
bereits   beträchtlich   ge'svachsen,    c  Der- 
selbe zur    spiralgerollten  Muskeltrichine 
entwickelt,    bereits  mit  beginnender 
Encystirung. 


verweilen  etwa  6 —  8  Wochen  im  Darme,  -wähi-end  die  Männclieu  bald  nach  der 
Begattung  zu  Grunde  gehen.  Die  in  grosser  Zahl  erzeugten  Embryonen  durchsetzen 
die  Darmwandung  und  Leibeshöhle  des  Trägers  und  gelangen  durch  selbständige 
Bewegungen  in  den  Bindegewebszügen,  theilweise  wohl  auch  mit  Hilfe  der  Blutwelle 
in  die  ciuergestreiften  Muskeln,  in  deren  Primitivbündeln  sie  nach  Durchbohi'ung  des 
Sarcolemmas  eincMngen.  Hier  wachsen  sie  bei  allmäliger  Degeneration  der  Muskel- 
substanz unter  lebhafter  Wucherung  der  Muskelkerne,  eine  schlauchförmige  Auf- 
treibung der  Muskelfaser  erzeugend,  (Fig.  44  b,  d)  innerhalb  eines  Zeitraumes  von 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN.  487 

etwa  14  Tagen  zu  spiralig  zusammengerollten  Würmchen  aus,  um  welche  sich  unter 
dem  Sarcolemm  und  dessen  Bindesubstanzumhüllung  aus  der  degenerirten  Muskel- 
substanz giashelle  Kapseln  von  citronenähnlicher  Form  ausscheiden.  In  dieser  anfangs 
sehr  zarten,  bald  aber  durch  neue  Schichten  verdickten  und  erhärtenden,  mit  der 
Zeit  allmälig  verkalkenden  Cyste  kann  sich  die  spiralgerollte  Jugendform  Jahre  lang 
erhalten.  Wird  dieselbe  mit  dem  Fleische  des  Trägers  in  den  Darm  eines  Warm- 
blüters übergeführt,  so  streckt  sie,  durch  die  Wirkung  des  Magensaftes  aus  der 
Cyste  befreit,  ihren  Leib  und  bringt  die  bereits  ziemlich  weit  entwickelten  Geschlechts- 
anlagen rasch  zur  Reife.  Schon  3  —  4  Tage  nach  der  Einfuhr  ist  die  Muskel- 
trichine zur  geschlechtsreifen  Darmtrichine  geworden. 

Während  die  meisten  Nematoden  Eier  legen,  sind  die  Trichinenweibchen  leben- 
dig gebärend.  Diese  scheinbar  geringfügige  Abweichung  ist  aber  für  die  Weiter- 
wanderung der  Brut  im  Körper  des  Trägers,  sowie  für  den  sich  mit  jener  ent- 
wickelnden Krankheitsprocess  von  der  grössten  Bedeutung.  Wären  die  Trichinen, 
wie  die  Ascariden  und  Verwandten  ovipar,  so  würden  die  abgelegten  Eier  aus  dem 
Darm  nach  aussen  geführt  werden,  und  die  in  denselben  zur  Entwicklung  gelangten 
Embryonen  der  Einfuhr  in  den  Magen  desselben  oder  eines  zweiten  Trägers  bedürfen, 
um  durch  die  Wirkung  des  Magensaftes  von  der  Schale  befreit,  den  weiteren  Ent- 
wicklungsgang zu  durchlaufen.  Dieser  Umweg  fällt  für  die  Trichinen  hinweg,  und  es 
inficiren  sich  der  Mensch  und  die  Thiere  mit  dem  Grenuss  trichinösen  Fleisches  zu- 
gleich mit  der  Brut  dieser  Parasiten,  von  deren  Wanderung  und  Fortentwicklung  in  den 
Geweben  die  als  Trichinose  bekannte  Krankheit  veranlasst  wird.  Es  sind  vornehm- 
lich zwei  Organsysteme,  welche  von  den  Eingriffen  unserer  nach  Millionen  zählender 
Parasiten  beeinflusst  werden  und  daher  den  Sitz  der  Erkrankung  bilden,  der  D ärm- 
canal  und  die  quergestreifte  Musculatur,  jener  besonders  in  der  ersten 
Woche  der  Infection,  bevor  die  lebendig  geborene  Brut  in  das  Fleisch  einwandert. 
Aber  auch  die  Blutgefässe  und  nach  neueren  Untersuchungen  auch  das  Lymphgefäss- 
system  scheinen  mehr  oder  minder  betheiligt,  das  letztere  in  Folge  der  Ueberwan- 
derung  befruchteter  Trichinenweibchen  in  die  Peyerschen  Follikel  und  in  die 
sogen.  Gekrösganglien,  in  denen  sie  vielleicht  Embryonen  absetzen,  welche  von  hier 
aus  in  das  Gefässsystem  gelangen.  (P.  Cebfontabste.) 

Als  vornehmlicher  Träger  der  Trichinen  ist  die  Hausratte  hervorzuheben, 
welche  die  Cadaver  des  eigenen  Geschlechtes  nicht  verschont  und  die  Trichinen- 
infection  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  unterhält.  Auch  Raubthiere  (Fuchs,  Katze, 
Marder  etc.)  und  omnivore  Säugethiere  werden  oft  Träger  der  Trichinen,  unter 
den  letzteren  das  Schwein,  indem  es  trichinöse  Cadaver  von  Mäusen  oder  Ratten 
frisst.  Auf  diesem  Seitenwege  erfolgt  auch  die  Infection  mit  Trichinen  im  mensch- 
lichen Körper. 

5.  Farn.  Filariadae.  Körper  fadenförmig  verlängert  mit  mindestens  6  Mund- 
papillen und  langer,  enger  Speiseröhre.  Hinterende  des  Männchens  eingerollt  mit 
vorspringenden  Seitenfirsten,  vier  präanalen  Papillenpaaren  und  zwei  ungleichen  Spi- 
cula;  meist  in  serösen  Höhlen   oder  im  Bindegewebe  lebend. 

Filaria  (Dracunculus)  medinensis  L.  Guinea.  Yon  der  Form  einer  etwa 
6  mm,  dicken  Darmseite,  2 — 3  Fuss  lang,  hinten  in  eine  centralwärts  eingekrümmte 
Spitze  auslaufend,  mit  Brut  gefülltem  Uterus,  nur  in  weiblichem  Geschlecht  bekannt. 
Vorn  abgerundet,  ohne  Scheide  und  Geschlechtsöffnung,  in  den  Tropen  der  alten 
Welt  weit  verbreitet,  bewohnt  der  Guineawurm  vornehmlich  das  Unterhautbindegewebe 
und  veranlasst  durch  das  Andrängen  an  die  Haut  die  Entstehung  eines  schmerzhaften 
Abscesses,  der  erst  nach  Extraction  des  Wurmes  geheilt  wird.  (Fig.  45,  46,  47.) 
Die  Entwicklung  des  Guineawurmes  ist  derzeit  nur  ganz  unvollständig  bekannt.  Von 
Feschensko  ist  nachgewiesen  worden,  dass  die  Embryonen  (Fig.  46  c)  ins  Wasser 
gelangen,  in  Cyclo piden  einwandern  und  im  Körper  dieser  kleinen  Süsswasser- 
copepoden  eine  Häutung  bestehen,  mit  welcher  der  pfriemenähnliche  Schwanzanhang 
verloren  geht,  und  die  Larve  eine  der  Larve  von  Spiroptera  murina  ähnliche 
Form  gewinnt.  Ob  die  Larve  später  mit  dem  Leib  ihres  Trägers  durch  den  Genuss 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


des  Wassers  in  den  Kör- 
per des  Menschen  über- 
tragen wird  oder  auf 
anderem  Wege  in  den- 
selben gelangt,  konnte 
bislang  nicht  festgestellt 
werden. 

Filaria  Bankrofti 
Cobb.  Yon  nur  8  —  15 
cm  Länge,  ebenfalls  in 
den  Trojien  zu  Hause, 
in  lymphatischen  Ge- 
schwülsten. Die  Brut 
derselben  gelangt  in  das 
Blut  und  ist  mit  der  als 
Filaria  sanguinis  homi- 
nis Lew.  beschriebenen 
Form  identisch,  welche 
bei  einer  Länge  von 
0"35  mm  zu  Millionen 
das  Blut  erfüllt,  und 
durch  die  Nieren  in  den 
Harn  gelangt,  der  eine 
milchige  oder  blutige 
Beschaifenheit  erhält.  Die 
in  den  Tropen  der  alten 
und  neuen  Welt  verbrei- 
tete Haematurie  hat  somit 
nicht  nur  inBilharzia 
haematobia,  sondern 
auch  in  dem  Yorkom- 
meu  dieser  blutbewoh- 
nenden Filarienlarven 
ihre  Ursache.  (Wuche- 
rer, Creveaux,  Lewis.) 
Filaria  loa  Guyot. 
Von  circa  3  cm  Länge, 
unter  der  Conjunctiva  der 
Neger  am  Congo  und 
Gabon  beobachtet,  wan- 
dert bisweilen  unter  der 
Haut  der  Nasenwurzel 
von  einem  zum  anderen 
Auge  und  erzeugt  eine 
schmerzhafte  Conjuncti- 
vitis. 

Filaria  labialis  Paue. 
Strongylidenähnlich  von 
3  cm  Länge,  mit  nur  4 
Mundpapillen  und  weit 
nach  hinten  gelegener 
Geschlechtsöffnung.  Nur  einmal  in  Neapel  gefunden,  aus  der  Oberlippe  extrahirt, 
von  dem  lange  Zeit  vorher  von  Leidy  in  Philadelphia  als  Filaria  hominis  oris 
beschriebenen  Nematoden,  der  ein  junger  Dracunculus  gewesen  sein  dürfte,  wohl  zu 
unterscheiden.  Endlich  mögen  als    zweifelhafte    der    von    Treutler    als    Hamularia 


Fig.  46. 
Filaria  medinensis,  Medinawurm,  a  Vorderende 

von  der  Mundfläche  gesehen,  0  Mund, 

P  Papillen,  b  Trächtiges  "Weibchen  (mehr  als  um 

die  Hälfte  verkleinert),  c  Embryonen  sehr 

stark  vergrössert. 


Fig.  45. 

Dracunculus 

(Filaria  medinensis). 


Querschnitt  durch  den  Körper  des  Medinawurmes. 

Uterus  mit  Embryonen,    rechts  Darm  und 

Ovarium. 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


489 


lymphatica  beschriebene,  von  Rudolfi  Füaria  hroncJüalis 
genannte  Nematod  von  2"5  cm  aus  den  Bronchialdrüsen  eines 
Phthisikers  und  die  ebenfalls  unzureichend  bekannte  noch 
geschlechtsunreife  Füaria  oculi  humanl  Nordm.  und  Füaria 
lentis  Diesing  aus  dem  menschlichen  Auge  Erwähnung  finden. 
Vielleicht  ist  die  letztere  mit  der  im  Auge  der  Rinder  und 
Pferde    nicht    selten    auftretenden    Füaria   papulosa   identisch. 

IV.  Acanthocephalen.  Kratzer.  Schlauchförmige,  darmlose 
"Würmer ,  deren  vorderer  Leibesabschnitt  mit  Widerhaken 
bewaffnet  ist  und  als  Rüssel  durch  Retractoren  in  eine  Scheide 
zurückgezogen  werden  kann.  (Fig.  48,  49.)  Von  den  Nema- 
toden, denen  sie  in  der  äusseren  Körperform  ähnlich .  sehen, 
weichen  die  Echinorhynchen,  wie  die  Acanthocephalen  auch 
nach  der  einzigen  Gattung  Echinorhynchus  genannt  werden, 
im  inneren  Baue  wesentlich  ab.  Das  Nervencentrum  liegt 
als  einfaches,  grosse  Ganglienzellen  enthaltendes  Ganglion  im 
Grunde  der  Rüsselscheide  und  entsendet  seitliche  Nervenstämme 
durch  die  Retractoren  nach  der  musculösen  Körperwand.  Sinnes- 
organe fehlen,  ebenso  Mund,  Darm  und  After.  Die  ernährenden 
Säfte  werden  wie  bei  den  Bandwürmern  durch  die  äussere  Haut 
aufgenommen,  welche  in  ihrer  weichen  Subcuticularschicht  ein 
complicirtes  System  von  Körnchen  führenden  Lacunen  ein- 
schliesst,  die  sich  in  zwei  zu  den  Seiten  der  Rüsselscheide  gelegene 
Fortsätze  der  Körperwand  (Lemnisci)  einstülpt.  Die  Geschlechts- 
drüse und  deren  Ausführungsgänge  liegen  am  hinteren  Ende  der 
Rüsselseheide  durch  ein  Ligament  in  der  Leibeshöhle  befestigt. 
Die  kleineren  Männchen  besitzen  zwei  Hoden,  deren  Ausfüh- 
rungsgänge in  ein  gemeinsames,  mit  6  Kittdrüsen  (sog.  Prostata- 
Schläuche)  behaftetes  Vas  deferens  einmünden.  Dieses  öffnet 
sich  am  hinteren  Körperende  auf  kegelförmigem  Penis  im  Grunde 
einer  glockenförmigen,  vorstülpbaren  Bursa.  (Fig.  48  und  49). 
Die  Weibchen  besitzen  dementsprechend  zwei  Ovarien  und  einen 
medianen  Eileiter,  welcher  glockenförmig  mit  freier  Mündung 
in  der  Leibeshöhle  beginnt  (Uterusglocke)  und  in  verschiedene 
Abschnitte  gegliedert  am  Hinterende  ausmündet.  Mit  der  fort- 
schreitenden Grössenzunahme  lösen  sich  die  Ovarien  in  Eiballen 
auf,  aus  welchen  reife  Eier  im  Leibesraum  frei  werden,  welche 
nach  der  Befruchtung  von  Hüllen  bekleidet  die  Embryonalent- 
wicklung durchlaufen  und  dann  durch  den  Leitungsweg  nach 
Aussen  abgelegt  werden.  Die  mit  Stachelkranz  bewaffneten 
Embryonen  (Fig.  50)  gelangen  in  den  Darm  von  Amphipoden, 
Isopoden,  selten  Insecten  (Echinorht/nchus  gigas  in  dem  Enger- 
ling), schlüpfen  aus  den  EihüUen  und  durchbohren  die  Darm- 
wandung, um  in  der  Leibeshöhle  des  neuen  Trägers  nach  Ver- 
lust der  Embryostacheln  zu  länglich  gestreckten  Echinorhynchen- 
Larven  (Fig.  51)  zu  werden,  welche  Puppen  vergleichbar  mit 
eingezogenem  Rüssel  von  ihrer  äusseren  Haut  wie  von  einer 
Cyste  umschlossen  in  dem  Zwischenträger  verharren,  bis  sie  mit 
diesem  in  den  Darm  von  Fischen  und  Wasservögeln,  seltener 
Säugethieren  gelangen  und  hier  in  der  Darmwand  eingebohrt 
zu  geschlechtsreifen  Thieren  auswachsen. 

Von  zahlreichen  Arten    der  einzelnen  Gattung    Echino- 
rhynchus   leben    die    meisten    im  Darm  der  Fische,    dessen 
Wand    sie    mittelst    des  sich  vorstülpenden  Rüssels  zu  durchbohren   vermögen.    Das 
Vorkommen    von  Echinorhynchen    im  menschlichen  Darm    ist    ein   äusserst  seltenes. 


Fig.   48. 
Männchen    von    Echino- 
rhynchus angustatus. 
R  Rüssel,  Bs  Eüssel- 
scheide,   Le  Ijemnisoi, 
Li  Ligament,  G  Ganglioa 
T  Hoden,    Vd  Vas  defe- 
rens,   Pr  Prostata- 
schläuche,    De  Ductus 
ejaculatorius,  P  Penis, 
B  eingestülpte  Bursa. 


Fig.  49. 
Vorderer  Körpertheil 
eines  Echynorhynchus, 
stärker    vergrössert. 
R  Rüssel,     Rs  Küssel- 
scheide,    (?  Ganglion, 
L  Lemnisci,    R  Reti- 
nacula. 


490 


EINGEWEIDEWÜRMER  DES  MENSCHEN. 


Fig.  50. 
Ei  mit  dem  ein- 
geschlossenen Em- 
bryo von  Echinorhyn- 
chus  gigas. 


Lambl  fand  im  Dünndarm  eines  an  Leukaemie  verstorbenen  Kindes 
einen  kleinen,  noch  niclit  geschleclitsreifen  Echinorliynclius. 
In  jüngster  Zeit  inficirte  sich  Calandruccio  mit  den  Jugendformen 
des  E.  monüiferus  der  im  Darm  des  Siebenschläfers,  der 
Feldmaus  und  des  Hamsters  gefunden  wird  und  trieb  sich  acht 
Wochen  nach  der  Aufnahme  der  Jugendformen  33  Echinorhyn- 
chen  ab. 

Anhang.  Zu  den  Eingeweidewürmern 
wurden  früher  auch  die  L  i  n  g  u  a  t  u  1  i  d  e  n 
oder  Zungenwürmer  gestellt,  deren  einzige 
Gattung  Pentastomum  lange  Zeit  als  ein  den 
Polystomeen  verwandter  Platyhelminth  galt. 
Trotz  der  Aehnlichkeit,  welche  diese  Para- 

d 


Fig    51. 
Larven  von  Echinorhynchus  proteus   aus    Gammarus    pulex.     a  Aus 

den  EihüUen  frei  gewordener  Embryo,    Ek  Embryonalkern, 

h    älteres  Stadium  mit  breitem  differenzirten  Embryonalkern,    c  em 

iunger    weiblicher    V^urm,     Ov  Ovarium,     d  ein   junger  männlicher 

Wurm,  T  Hoden. 


Fig.  52. 

Fentastomum  dentieulatum. 

Jugendform  von  P.  taenioides. 

0  Mund,  Hf  Die  4  Haken, 

D  Darm,  A  After. 


siten  in  der  äusseren  Körperform  und  der  Entwicklungsweise  mit  den  Helminthen 
zeigen,  gehören  dieselben  einer  ganz  anderen  Thierclasse  an  und  sind  durch 
regressive  Metamorphose  und  Anpassungen  parasitischer  Lebensweise  umgestaltete 
Arachnoideen.  Der  langgestreckte,  häufig  abgeflachte  Leib  derselben 
ist  geringelt  und  am  vorderen  Ende  in  der  Umgebung  des  Mundes  mit  zwei 
Paaren  von  Klammerhaken  bewaffnet,  welche  auf  Chitinstäben  gestützt  in  ebenso- 
viel Hauttaschen  liegen  und  aus  diesen  hervorgestreckt  werden.  Das  Nervensystem 
beschränlit  sich  auf  einen  Schlundring,  mit  einfachen  subösophagealem  Ganglion. 
Ein  Darmcanal  ist  vorhanden.  Augen,  Respirations-  und  Circulationsorgane  fehlen. 
Männchen  und  Weibchen  unterscheiden  sich  durch  ihre  Grösse  und  abweichende 
Lage  der  Geschlechtsöffnungen.  Die  aus  den  Eiern  ausschlüpfenden  Larven  sind 
wie  manche  Acarinenlarven  mit  zwei  kurzen,  Klauen  tragenden  Fusstummeln 
versehen,  die  mit  der  weiteren  Metamorphose  abgeworfen  werden.  Im  geschlechts- 
reifen  Zustand  leben  die  Zungenwürmer  in  Lufträumen,  Lunge,  Trachea  von 
Carnivoren  und  Reptilien,  im  Jugendzustande  in  der  Leber  und  Leibeshöhle.  Am 
genauesten  ist  die  Entwicklung  von  Pentastomum  taenioides  Rud.  und 
dessen  in  der  Leber  des  Hasen,  sowie  der  Ziegen,  des  Rindes  und  Pferdes  und 
auch  des  Menschen  lebenden,  als  Pentastomum  dentieulatum  unterschiedenen  Jugend- 
form durch  R.  Leuckaet  bekannt  geworden.  (Fig.  52)  Das  im  weiblichen  Geschlecht 
8 — 9  cm  lange  Thier  findet  sich  in  der  Nase  und  Stirnhöhle  des  Hundes  und 
Wolfes  und  veranlasst  einen   heftigen   Katarrh.     Mit   dem  Schleimauswurf  gelangen 


EINHEIMISCHE  CHOLERA.  '  491 

die  embiyohaltigen  Eier  nacli  aussen  mit  Pflanzen  und  mit  diesen  in  den  Magen 
der  Leporiden  und  gelegentlich  auch  des  Menschen.  Die  Embryonen  durchsetzen 
mit  ihrem  Bohrapparat  und  Hakenpaaren  die  Darmwand  und  wandern  in  die  Leber 
ein,  wo  sie  encystiren  und  nach  mehrfachen  Häutungen  im  Laufe  von  etwa  sechs 
Monaten  zu  der  Form  des  P.  denticulatum  auswachsen.  In  dieser  circa  1'5  cm 
langen  Form  besitzen  sie  zahlreiche  fein  gezähnelte  Ringel  des  Integuments  und 
vier  Muudhaken,  sind  aber  noch  nicht  geschlechtsreif  und  wandern  nach  Durch- 
bohrung der  Cyste  im  Körper  des  Zwischenträgers  durch  die  Leber  in  die  Leibes- 
höhle, um  hier  von  neuem  eingekapselt  zu  werden.  Bei  grösserer  Zahl  vermögen 
sie  den  Tod  des  Zwischenträgers  zu  veranlassen.  Gelaugen  sie  zu  dieser  Zeit  in 
die  Rachenhöhle  der  Carnivoren,  so  dringen  sie  von  da  in  die  benachbarte  Nasen- 
und  Stirnhöhle  und  werden  im  Laufe  von  2 — 3  Monaten  geschlechtsreif.  Man  hat 
in  der  Leber  der  Neger  die  Jugendform  einer  zweiten  als  P.  constrictum  v.  Sieb, 
bezeichneten  Art  gefunden,  über  deren  weitere  Entwicklung  und  geschlechtsreife 
Form  nichts  Näheres  bekannt  ist.*)  c.  claus. 

Einheimische  Cholera  (Cholera  nostras).  Die  einheimische  Cho- 
lera führt  eine  grosse  Anzahl  Namen,  welche  zwar  vielfach  recht  alten  Ur- 
sprungs sind,  aber  doch  auch  noch  in  der  Neuzeit  in  Anwendung  stehen;  so 
findet  man  in  der  alten  Literatur  die  einheimische  Cholera  bezeichnet  als 
Cholerrhagie,  Passio  cholerica,  weisse  Kuhr ;  die  Neuzeit  benutzt  mit  Vorliebe 
im  Gegensatz  zur  Cholera  asiatica  die  Bezeichnung  Cholera  nostras  oder  Cho- 
lera indigena;  auch  bezeichnet  man  sie  als  Brechruhr,  Brechdurchfall,  als 
Gastroenteritis  catarrhalis  acutissima,  als  Cholera  sporadica,  und  mit  Rücksicht 
auf  die  Jahreszeit,  in  welcher  sie  besonders  häufig  vorkommt,  als  Cholera 
aestiva,  Sommerbrechruhr ;  sehr  unzweckmässig  ist  für  die  Cholera  nostras  die 
Bezeichnung  Cholera  europaea,  die  europäische  Cholera,  weil  es  den  Anschein 
erweckt,  als  ob  diese  Art  der  Cholera  nur  in  Europa  vorkomme ;  thatsächlich 
ist  dieses  nicht  der  Fall,  sondern  sie  findet  sich  bei  den  Bewohnern  aller  Erd- 
theile. 

Die  Cholera  nostras  ist  so  alt,  als  die  medicinische  Geschichte  überhaupt 
zurückreicht;  schon  im  Buche  Sirach  des  alten  Testamentes  ist  sie  bemerkt, 
die  Schriften  des  Hippocrates  erwähnen  sie ;  Celsus,  Aretaeus,  Caelius  Au- 
RELiANüS,  Alexander  von  Tralles  nehmen  auf  sie  Bedacht  (Rossbach),  wie 
auch  das  Mittelalter  durch  Forestus,  Rivierus  und  viele  Andere  von  ihr  spricht. 
Man  bezeichnet  mit  Cholera  nostras  einen  in  sich  abgeschlossenen  Symp- 
tomencomplex,  welcher  ausser  mehr  oder  minder  schweren  allgemeinen  Er- 
scheinungen wesentlich  unter  dem  Bilde  einer  acuten,  heftigen  Erkrankung  des 
Magendarmcanals  aufritt  und  dadurch  der  Cholera  asiatica  so  sehr  ähnlich  wird, 
dass  man  bei  der  einfachen  klinischen  Untersuchung  die  Krankheitsbilder  viel- 
fach nicht  von  einander  unterscheiden  kann.  Vor  der  Entdeckung  des  Kocn'schen 
Kommabacillus  ist  es  keine  Seltenheit  gewesen,  dass  die  Cholera  nostras  für  ihren 
schlimmeren  Verwandten,  die  Cholera  asiatica,  gehalten  wurde,  und  umgekehrt 
die  asiatische  Form  für  die  einheimische.  Man  stützte  sich  wesentlich  zur 
Diagnose  auf  Cholera  nostras  auf  die  Erfahrung,  dass  die  einheimische  Cholera 
im  Ganzen  einen  weniger  heftigen  Verlauf  zeigt  und  vor  allem  seltener  zum 
Tode  führt,  dass  sie  nicht  die  Neigung  zeigt,  sich  über  grössere  Bezirke  fort- 
zupflanzen, sondern  sich  auf  mehr  abgeschlossene  Districte  abgrenzt ;  diese  Er- 
fahrung, so  werthvoll  sie  auch  ist,  war  und  ist  gleichwohl  nicht  im  Stande, 
vor  Irrthümern  zu  schützen,  zumal  es  vorkommt,  dass  die  Cholera  nostras  und 
asiatica  zu  gleicher  Zeit  in  demselben  Orte  auftreten.  Die  bacteriologische  Unter- 


*)  Bezüglich  der  durch  die   Eingeweidewürmer  veranlassten  Krankheiten,    ihrer 
Symptome  und  Therapie  vergleiche  den  Artikel  „Helminthiasis". 


492  EINHEIMISCHE   CHOLERA. 

suchung  auf  die  von  Koch  als  Ursache  der  Cholera  asiatica  aufgefundenen 
Kommabacillen  vermag  frühzeitig  den  Entscheid  zu  liefern.  Zweifelsohne  aber 
wird  auch  heute  noch  bei  Epidemien  der  Cholera  asiatica,  wenn  die  Seuche 
die  bacteriologische  Untersuchung  durch  die  zahlreichen  Erkrankungen  un- 
möglich macht,  mancher  Erkrankungsfall  mit  Unrecht  der  einen  oder  der  andern 
Choleraform  zugeschrieben. 

Unter  dem  Namen  Cholera  nostras  versteht  man  wahrscheinlich  eine 
Gruppe  von  Erkrankungen,  welche  nur  das  äussere  Bild  mit  einander  gemein 
haben,  sonst  aber  weit  von  einander  unterschieden  sind,  vor  Allem  was  das 
Wesen  der  Erkrankung  anlangt.  Eine  strenge  Unterscheidung  der  Cholera 
nostras  in  zwei  Hauptgruppen  muss  dahin  zielen,  eine  Form  aufzustellen,  welche 
auf  einer  Infection  beruht  und  eine  Form,  welche  nicht  auf  infectiöser  Basis 
aufgebaut  ist ;  diese  Unterscheidung  muss  einmal  gemacht  werden,  wenn  auch 
zur-  Zeit  die  absolut  klare  Beantwortung  der  Frage  noch  nicht  möglich  ist. 

Das  Vorkommen  der  Cholera  nostras  hängt  zum  Wesentlichen  ab  von 
der  Jahreszeit;  der  Spätsommer,  zumal  die  heissen  Monate  Juli  und  August 
sind  vorwiegend  die  Zeit  für  diese  Erkrankungen  bei  uns  in  Europa,  es  ist 
aber  auch  die  Cholera  nostras  zu  anderen  Jahreszeiten,  ja  selbst  im  Winter 
beobachtet  worden,  jedenfalls  aber  begünstigt  die  heisse  Sommerzeit  ihr  Auf- 
treten ungemein. 

In  ursächlichen  Zusammenhang  mit  der  Cholera  nostras  bringt 
man  frische  Verdauungsstörungen,  den  Genuss  von  Obst,  zumal  von  unreifem 
Obst,  den  allzu  reichlichen  Genuss  von  Bier,  das  Trinken  von  kalten  Getränken, 
von  verdorbenem  Wasser,  gährenden  Flüssigkeiten,  zersetzter  Milch,  den  Genuss 
von  verdorbenem  Fleisch,  Erkältungen,  kurz  alle  aetiologischen  Momente,  welche 
wir  überhaupt  in  der  Aetiologie  der  acuten  Magen-Darmkatarrhe  aufführen. 
Ob  nun  diese  Gelegenheitsursachen  die  Cholera  nostras  selbst  schaffen  oder 
ob  sie  nur  den  günstigen  Boden  für  eine  folgende  Infection  bereiten,  ist  schwer 
zu  entscheiden,  solange  wir  den  Namen  Cholera  nostras  nur  nach  dem  Symp- 
tomencomplex  willkürlich  stellen ;  jedenfalls  gibt  es  zahlreiche  Fälle  von  Er- 
krankungen, welche  wir  in  das  Capitel  „Cholera  nostras"  reihen,  welche  von 
vorneherein  den  Gedanken  an  eine  Infection  nahe  legen. 

Es  ist  nun  von  uns  und  Finkler  im  Jahre  1888  bei  fünf  Fällen  unter 
29,  welche  an  ausgesprochener  Cholera  nostras  litten,  und  im  Jahre  1885  noch 
bei  sechs  Fällen  ein  echter  Kommabacillus  gefunden  worden,  welcher  im  mikro- 
skopischen Bilde  allein  mit  Sicherheit  von  dem  Kommabacillus  Koch's  nicht 
unterschieden  werden  kann  und  in  seinem  biologischen  Verhalten  dem  Kocn'schen 
Kommabacillus  sehr  nahe  steht ;  er  ist  wie  der  Kocn'sche  Bacillus,  wenn  auch 
weniger  energisch,  pathogen.  Die  Thatsache,  dass  in  Fällen  von  Cholera  nostras 
und  zwar  sowohl  in  absolut  frischen  Darmentleerungen,  wie  älteren  Entleerungen 
der  FiNKLEE-PRiOR'sche  Kommabacillus  aufgefunden  worden  ist,  steht  fest  und 
seine  Bedeutung  kann  auch  nicht  herabgesetzt  werden,  wenn  er  von  Anderen 
in  Fällen  von  Cholera  nostras  nicht  gefunden  worden  ist;  denn  die  Cholera 
nostras  ist  kein  aetiologisch  einheitlicher  Begriff,  sie  ist  nur  die 
Beschreibung  eines  bestimmten  Krankheitsbildes,  welches  aetiologisch  die  ver- 
schiedensten Quellen  hat ;  jedenfalls  ist  der  PRiOR-FiNKLER'sche  Vibrio  im 
Stande,  bei  Thieren  choleraähnliche  Erkrankungen  zu  machen,  was  auch  Koch 
und  seine  näheren  Schüler  bestätigen,  und  dass  er  und  seine  biologischen  Aeusse- 
rungen  Cholera  nostras-Bilder  beim  Menschen  schaffen  können,  lehrt  unsere 
Beobachtung  in  Bonn. 

Wenn  wir  im  Folgenden  von  Cholera  nostras  sprechen,  so  haben  wir  dabei 
nur  das  Symptomenbild  im  Auge ;  dieses  befällt  beide  Geschlechter  gleich- 
massig,  die  Männer  sind  etwas  häufiger  befallen,  weil  sie  häufiger  den  Ge- 
legenheitsursachen ausgesetzt  sind  als  die  Frauen ;  die  Erkrankung  überrascht 


EINHEIMISCHE  CHOLERA.  493 

jedes  Lebensalter ;  von  Kindern  werden  vor  Allem  diejenigen  ergriffen,  welche 
künstlich  ernährt  werden  oder  schon  von  der  Mutterbrust  entwöhnt  sind. 

Die  Cholera  nostras  leitet  sich  häutig  mit  allgemeinem  Unbehagen,  Mü- 
digkeit, Appetitlosigkeit,  Leibschmerzen,  Kollern  in  den  Därmen,  Brechneigung 
und  leichten  Durchfällen  ein ;  oft  aber  tritt  sie  plötzlich  ein  mit  heftigem  Er- 
brechen und  Durchfällen.  Das  Erbrochene  besteht  anfangs  aus  den  genossenen 
Speisen,  dann  aber  folgen  gallige,  gelbliche,  gräuliche  Massen  und  endlich  er- 
folgt nur  Erbrechen  von  schleimig-wässeriger  Flüssigkeit ;  ging  anfangs  das 
Erbrechen  ziemlich  leicht  von  Statten,  so  ist  es  später  sehr  mühsam,  so  dass 
der  Patient  erschöpft  zurücksinkt  und  von  lebhaften  Schmerzen  gequält  wird. 
Das  Erbrechen  wiederholt  sich  rasch,  es  kann  in  kurzer  Zeit  sich  10  Mal  und 
mehr  einstellen,  selbst  20 — 30  Mal  innerhalb  einer  Stunde  kommt  es  zu  Stande; 
nachher  können  noch  häufige  Brechbewegungen  mühseliger  Art  folgen,  ohne 
dass  überhaupt  noch  etwas  entleert  wird.  Mittlerweile  nehmen  die  Leib- 
schmerzen zu,  heftige  Darmkoliken  können  das  Krankheitsbild  erweitern  und 
Durchfälle  treten  ein.  Die  Darmentleerung  fördert  im  Beginne  Stuhl  faecu- 
lenter  Beschaffenheit  zu  Tage,  welcher  dünnbreiig  ist,  häufig  stark  riecht  und 
von  vielen  Gasen  begleitet  wird.  Die  Entleerungen  folgen  rasch  unter  leb- 
haften Darmschmerzen  auf  einander,  die  Entleerung  selbst  wird  immer  dünn- 
flüssiger, wässeriger,  die  faeculente  Beschaffenheit  verschwindet,  sie  wird  ge- 
ruchlos und  farblos,  enthält  zahlreiche  Flocken  und  Fetzen  von  Darmschleim- 
hautepithelien,  und  nimmt  schliesslich  in  prägnanten  Fällen  die  Beschaffenheit 
der  Keiswasserstühle  an.  Die  Entleerungen  sind  häufig  sehr  copiös  ;  sie  folgen 
oft  so  rasch  aufeinander  und  in  solcher  Häufigkeit,  dass  der  Patient  nicht  zur 
Ruhe  kommt ;  man  beobachtet  10 — 20  Entleerungen  innerhalb  einer  oder  we- 
niger Stunden.  Wenn  Darmentleerungen  wiederholt  stattgefunden  haben,  so 
lässt  öfters  der  heftige  Leibschmerz  nach,  häufig  aber  folgen  auch  heftige 
Schmerzen  kolikartig  Schlag  auf  Schlag.  Mittlerweile  ist  das  Allgemeinbefinden 
des  Befallenen  erheblich  geschädigt  worden.  Das  Bild  hochgradigster  Er- 
schöpfung prägt  sich  in  dem  Gesichtsausdruck  aus,  die  Lippen  sind  bläulich, 
die  Wangen  eingefallen,  die  Augen  unruhig  und  matt,  die  Stimme  ist  schwach, 
höher,  klanglos,  häufig  zur  Vox  cholerica  umgewandelt ;  grosses  Angstgefühl, 
Praecordial- Angst  begleitet  die  Erkrankung,  unlöschbarer  Durst  stellt  sich  ein, 
die  Zunge  wird  trocken  und  das  Schlucken  mühsam.  Der  Kranke  wirft  sich 
ruhelos  hin  und  her  und  klagt  über  schmerzhafte  Krämpfe  in  den  Muskeln, 
welche  vorwiegend  die  Wadenmusculatur  befallen,  aber  auch  die  Arm-  und 
Brustmuskeln  befallen  können.  Schreitet  die  Erkrankung  weiter  fort,  so  tritt 
das  Bild  des  Collapses  deutlich  hervor ;  das  Gesicht  illustrirt  die  Facies  Hi])- 
pocratica,  die  Haut  wird  zumal  im  Gesicht  und  an  den  Extremitäten  bläulich 
und  kühl,  der  Patient  wird  theilnahmlos,  die  Augen  stehen  halboffen,  die 
Athmung  ist  beschleunigt  und  flach,  die  Pulse  sind  vermehrt  an  Zahl  bis  120 
und  mehr  in  der  Minute,  aber  die  Welle  ist  sehr  klein,  die  Herztöne  sind 
sehr  leise ;  in  besonders  heftigen  Fällen  schwindet  rasch  der  Puls  an  der  Ra- 
dialis. Der  Patient  schreit  in  seinem  Collaps  bisweilen  auf,  wenn  neue  Waden- 
krämpfe sich  einstellen ;  man  sieht  auch  gelegentlich  Muskelzuckungen. 

Hat  im  Beginn  der  Erkrankung  Temperatursteigerung  bestanden,  so 
sinkt  rasch  die  Eigenwärme  tief  unter  die  Norm,  so  dass  Temperaturen  von 
-j-  34,  35,  36*^  Celsius  nicht  selten  sind.  Die  Harnproduction  ist  sehr  vermin- 
dert und  oft  sistirt  sie  ganz;  die  Harnblase  ist  leer.  Der  entleerte  Harn 
hat  ein  hohes  specifisches  Gewicht  und  enthält  öfters  Eiweiss  und  Cy linder; 
gelegentlich  auch  ist  er  schwach  bluth altig. 

Der  Ausgang  der  Erkrankung  ist  gewöhnlich  die  Genesung.  Das 
Erbrechen  und  die  Durchfälle  lassen  nach  24 — 48  Stunden  nach,  das  All- 
gemeinbefinden hebt  sich,  der  Puls  wird  kräftiger,  die  Muskelschmerzen  ver- 
schwinden, die  Haut  wird  wieder  warm  und  feucht,  ihr  Turgor  kehrt  zurück 


'494  JEINHEIMISCHE  CHOLERA. 

und  reichliche  Harnentleerung  tritt  ein;  zunächst  ist  die  Harnraenge  noch 
spärlich,  schwach  sauer  reagirend  und  oft  noch  eiweisshaltig;  auch  findet  man 
verfettete  Nierenepithelien  und  Nierencylinder;  ich  habe  gefunden,  dass  in 
solcheiti  Harn  der  Stickstoffgehalt  sehr  herabgesetzt  ist  und  ebenso  der  Gehalt 
an  Kochsalz;  rasch  aber  kehrt  der  Harn  zur  normalen  Beschaffenheit  zurück, 
der  Eiweissgehalt  ist  schon  in  der  zweiten  Entleerung  verschwunden,  sehr 
häufig  ist  die  Harnmenge  über  die  Norm  vermehrt.  Der  Kranke  fühlt  sich 
zwar  sehr  matt  und  angegriffen,  hat  aber  das  Gefühl  des  Wohlbehagens  und 
der  Zufriedenheit;  die  vollständige  Genesung  tritt  in  wenigen  Tagen  ein; 
es  kann  aber  auch  die  Reconvalescenz  sich  über  eine  Woche  und  länger  hin- 
ziehen, öfters  auch  bleibt  eine  allgemeine  Schwäche  und  grosse  nervöse  Er- 
schöpfung für  mehrere  Monate  zurück.  Selbst  in  den  Krankheitsfällen,  in 
welchen  man  den  Tod  fast  augenblicklich  erwartet,  darf  man  nicht  verzweifeln, 
weil  auch  hier  noch  rasche  Besserung  möglich  ist  und  thatsächlich  auch  die 
Genesung  die  Ptegel  ist.  Wenn  aber  kein  Nachlass  der  Krankheitssymptome 
eintritt,  so  steigert  sich  die  Kühle  der  Haut  bis  zur  Kälte,  die  Herztöne  werden 
schwächer,  kaum  hörbar,  die  Pulsschläge  sind  nicht  mehr  zu  fühlen,  die  Durch- 
fälle und  das  Erbrechen  hören  auf,  Singultus,  welcher  oft  schon  frühzeitig 
besteht  und  quälend  ist,  tritt  in  die  Beobachtung,  die  Kranken  werden  noch 
mehr  benommen,  schliesslich  vollständig  apathisch  und  endlich  tritt  der  Tod 
ein,  welcher  bisweilen  von  leichten  Convulsionen  eingeleitet  wird.  Wenn  ein 
tödtlicher  Ausgang  erfolgt,  so  sind  es  meistens  junge  Kinder,  altersschwache 
Leute  oder  sonstige  schwächliche  Personen,  welche  ihm  verfallen. 

Die  anatomischen  Befunde  der  Cholera  nostras  sind  nicht  sehr  reich; 
man  ist  fast  regelmässig  überrascht  zu  finden,  wie  gering  die  Veränderungen 
sind;  häufig  ist  der  Leichenbefund  gänzlich  negativ,  es  handelt  sich  dann  um 
Fälle,  in  denen  wohl  zu  Lebzeiten  die  Darmschleimhaut  injicirt  gewesen  ist, 
in  andern  Fällen  findet  man  die  anatomischen  Zeichen  eines  heftigen  Katarrhes, 
welcher  vorwiegend  im  Dünndarm  seinen  Sitz  hat;  die  Solitärdrüsen  des 
Jejunum  und  vor  allem  diejenigen  des  Ileum,  sowie  die  Peyer'schen  Plaques 
sind  in  solchen  Fällen  geschwellt  und  treten  über  die  Schleimhautoberfläche 
hervor;  die  Solitärdrüsen,  wie  die  Peyer'schen  Drüsen  sind  bisweilen  fest  infil- 
trirt,  oft  auch  weich,  mit  Flüssigkeit  gefüllt,  so  dass  sie  sich  beim  Anschneiden 
entleeren.  Der  Dickdarm  ist  meistens  unverändert,  so  dass  er  sich  lebhaft 
von  dem  tief  gerötheten  Dünndarm  abhebt.  Der  Magen  ist  fast  stets  un- 
verändert. 

Im  Darme  findet  sich  gewöhnlich  ein  dünnflüssiger  Inhalt,  welcher  bald 
grauweiss  erscheint,  bald  auch  vollkommen  farblos;  der  Inhalt  ist  sehrcopiös 
und  enthält  nur  wenige  Flocken  der  Darmschleimhaut,  reicher  ist  er  an  ab- 
gestossenen  Darmschleimhautepithelien  und  Lymphkörperchen ;  nur  sehr  selten 
ist  er  röthlich  gefärbt.  Bisweilen  findet  man  nur  sehr  geringen  Darminhalt, 
je  nach  dem  Stadium,  in  welchem  der  Patient  gestorben  ist.  Von  sonstigen 
anatomischen  Befunden  heben  wir  hervor,  dass  die  Leber  fast  immer  schlaff 
und  blutleer  ist,  und  die  Gallenblase  wenig  zähe  Galle  enthält.  Die  Milz  ist 
ebenfalls  klein  und  blutleer. 

Die  Nieren  erscheinen  meistens  ganz  unverändert,  öfters  aber  sind  sie 
venös-hyperaemisch,  wenig  geschwellt;  auf  dem  Durchschnitte  ist  die  Mark- 
substanz dunkelroth;  die  Epithelien  sind  körnig  trübe  und  fettig  degenerirt; 
dieses  ist  dann  der  Fall,  wenn  die  Kranken  nicht  in  den  ersten  Stunden, 
sondern  erst  nach  zweitägiger  Dauer  zu  Grunde  gingen  und  die  Harnproduction 
ganz  oder  fast  ganz  versiegt  blieb.  In  dem  Nierenbecken  und  dem  Ureter 
findet  sich  dann  eine  dickliche,  trübe  Flüssigkeit,  welche  reich  ist  an  Cylindern 
und  verfetteten  Epithelien.  Dieselbe  Masse  kann  man  auch  aus  den  Papillen 
ausdrücken.  Die  Blase  ist  meistens  leer  oder  enthält  nur  wenig  trüben  Harn. 


EINHEIMISCHE  CHOLERA.  495 

Die  übrigen  Organe  sind  unbetheiligt,  nur  finden  sich  überall  die  Zeichen 
der  Eindickung  und  Veränderung  des  Blutes,  gelegentlich  auch  lobuläre  Atelec- 
tasen  in  den  Lungen  und  venöse  Hyperaemie  mit  Oedem  der  weichen  Hirn- 
haut. Die  äussere  Beschaffenheit  der  Leichen  lässt  den  grossen  Blutverlust 
öfters  schon  daran  erkennen,  dass  die  Haut  gerunzelt  erscheint,  der  Todte 
zusammengefallen  aussieht,  die  Augen  tief  in  den  Höhlen  liegen,  die  Lippen, 
Fingerenden,  Zehen  stark  bläulich  aussehen  und  die  Leichenstarre  sehr  scharf 
ausgeprägt  ist;  die  Leichenfäulnis  tritt  verhältnismässig  spät  ein. 

Die  Prognose  der  Cholera  nostras  ist  als  eine  gute  zu  bezeichnen. 
Todesfälle  bilden  die  'Ausnahmen  und  erstrecken  sich  fast  nie  auf  sonst  gesunde, 
kräftige  Personen.  Nachkrankheiten  sind  im  Ganzen  selten;  wohl  kann  sich  die 
Reconvalescenz  länger  hinziehen,  aber  doch  ist  die  vollständige  rasche  Genesung 
die  Regel.  Als  Nachkrankheiten  kennen  wir,  abgesehen  von  einer  zurückbleiben- 
den, grossen  Empfindlichkeit  der  Verdauungswege  gegen  Diätfehler  geringer 
Art,  Störungen  im  Bereiche  des  Nervensystems,  welche  sich  in  rascher  Er- 
schöpfung oder  grosser  Reizbarkeit  äussern,  oder  auch  in  Lähmungen  der  einen 
oder  andern  Muskelgruppe  der  Beine  oder  Arme,  Gedächtnisschwäche;  alle 
diese  Erscheinungen  geben  aber  eine  gute  Prognose.  So  selten  wie  diese 
Nachkrankheiten,  sind  auch  Ernährungsstörungen  in  der  Haut,  wie  Furunkel- 
bildungen. Als  Nachkrankheit  der  acuten  Attaque  hat  man  auch  typhoide 
Erkrankung  sich  entwickeln  sehen. 

Die  Diagnose  der  Cholera  nostras  ist  im  Allgemeinen  nicht  schwer. 
Das  häufige,  intensive  Erbrechen,  die  zahlreichen  copiösen  Durchfälle  der  be- 
schriebenen Art,  die  hervorstechenden  Allgemeinerscheinungen  sind  die  Stütz- 
punkte. Es  hat  aber  die  Ditferentialdiagnose  auf  andere  Erkrankungen  Rück- 
sicht zu  nehmen.  Es  ist  zunächst  die  Cholera  asiatica  in  Betracht  zu  ziehen. 
Der  Symptomencomplex  beider  ist  so  nahe  verwandt,  dass  das  klinische  Bild 
einen  entscheidenden  Unterschied  meistens  nicht  zulässt.  Wohl  ist  der  schliess- 
liche  Ausgang  bei  der  Cholera  nostras  ein  hervorragendes  Unterscheidungsmal, 
aber  der  hygienischen  Vorsichtsmassregeln  willen  ist  es  nothwendig,  sobald 
wie  möglich  die  Unterscheidung  festzusetzen.  Findet  sich  der  Kocn'sche 
Kommabacillus  und  erweist  die  Plattencultur  sicher  seine  Anwesenheit,  so  ist 
der  Beweis  der  Cholera  asiatica  geliefert.  In  allen  Fällen  von  Cholera  und 
Cholera  ähnlichen  Erkrankungen  hat  man  mit  Rücksicht  auf  den  Finkler-Prior'- 
schen  Kommabacillus  vor  Allem  die  Unterschiede  in  Wachsthum  und  der 
vitalistischen  Eigenschaften  zu  prüfen,  jedenfalls  soll  man  sich  in  keinem  Falle 
auf  das  einfache  mikroskopische  Bild  verlassen,  sondern  Züchtungsversuche 
ausführen.  Kann  man  nun  die  asiatische  Cholera  durch  bacteriologische  Unter- 
suchung ausschalten,  so  ist  hiermit,  wenn  der  Prior-Finkler' sehe  Bacillus  fehlt, 
die  Diagnose  auf  Cholera  nostras  noch  nicht  sicher,  weil  gleiche  oder  ähn- 
liche Bilder  durch  Vergiftungen  mit  Arsenik,  Tartarus  stibiatus,  Sublimat 
geschaffen  werden  können;  in  verdächtigen  Fällen  wird  man  das  Erbrochene 
oder  die  Stuhlentleerung  chemisch  auf  diesen  Stoff  hin  untersuchen  müssen. 
Auch  organische,  noch  unbekannte  Gifte,  welche  in  der  Wurst,  Fischen, 
Fleisch,  Muscheln  gelegentlich  enthalten  sind,  setzen  die  nämlichen  Symptome; 
es  muss  die  Anamnese  auch  auf  diese  Punkte  Rücksicht  nehmen. 

Die  Behandlung  der  Cholera  nostras  ist  von  dem  Gesichtspunkte 
aus  zu  leiten,  dass  wir  ein  Specificum  gegen  diese  Erkrankung  nicht  kennen. 
Meine  Versuche,  durch  Tannin-  oder  ÄZo^Einläufe  den  Verlauf  abzukürzen, 
sind  ohne  besondere  Resultate  geblieben.  Man  hat  daher  im  Ganzen  bei  der 
Cholera  nostras  symptomatisch  zu  verfahren,  vor  Allem  frülizeitig  zu  ver- 
suchen, dem  Collaps  vorzubeugen  und  der  grossen  Blutwasserentziehung 
möglichst  Einhalt  zu  thun  oder  ihre  Folge  auszugleichen.  Man  bringt  also 
den  Kranken  zu  Bette,  bedeckt  den  Leib  mit  grossen  Cataplasmen.  Dann 
nehme  man  seine  Zuflucht  zu  dem    Opium,   welches  man  als    Opium  purum 


496  EINHEDIISCHE  CHOLERA. 

0,03,  1 — 2  stell,  ein  Pulver,  Extractum  opii  0,05,  4mal  täglich  verordnen  kann, 
oder  in  Tropfenform  als  Tindura  opii  simplex,  als  Tinctura  opii  crocata,  10 
bis  20  Tropfen  mehnnals  des  Tages;  einer  grossen  Beliebtheit  erfi^euen  sich 
die  sog.  russischen  Choleratropfen,  von  welchen  man  1 — 2  stdl.  20  Tropfen 
verabreicht:  man  verordnet  Tincturae  Valerianae  aethereae  10,0;  Vini  Ipecacu- 
anhae  5,0;  Tincturae  opii  crocatae  1,0;  Olei  menthae  piperitae  gut.  V.  Auch 
findet  man  die  Verordnung  Pulveris  Ipecacuanhae  opiali  0,3,  2  stdl.  ein  Pulver, 
vielfach  im  Gebrauch.  Man  muss  im  gegebenen  Falle,  wenn  der  Magen  alles 
erbricht,  Opiumtropfen  per  Klysma  einzuverleiben  suchen.  Meistens  gelingt 
es,  durch  die  Opiumpräparate  rasch  das  Erbrechen  und  die  Dui'chfälle  zu 
stillen.  Das  Erbrechen  und  das  quälende  Durstgefühl  erfordern  weiterhin  die 
Yerabfolgung  von  Eisstückchen,  den  Durst  suche  man  auch  durch  Trinken 
von  kalten,  schleimigen  Getränken  zu  stillen.  Grössere  Flüssigkeitsmengen, 
nach  welchen  der  Patient  verlangt,  verschulden  häufig  eine  Zunahme  des  Er- 
brechens. Bei  heftigem  Erbrechen  mit  starkem  Angstgefühl,  bewährt  sich 
öfters  eine  Morpkiuminjection  in  die  Magengegend  als  zweckmässig.  Stellen 
sich  die  ersten  Zeichen  von  CoUaps  ein,  so  säume  man  nicht,  zu  den  Ätialeptica  zu 
greifen.  Man  flösse  dem  Kranken  kalten  Champagner  ein.  verabreiche  schweren 
AYein  und  Cognac.  Fängt  die  Haut  an  abzukühlen,  so  hülle  man  den  Patien- 
ten in  warme  Tücher,  lege  ihm  Wärmflaschen  an  die  Seiten  und  die  Füsse 
und  reibe  sanft  die  Haut.  In  noch  vorgeschritteneren  Fällen  mache  man 
Injectionen  xoti  Kampher,  Aether,  Moschus,  suche  starken,  warmen  Kafi'ee  und 
Thee  zu  verabreichen.  Gegen  die  Singultus  hat  man  mit  zweifelhaftem  Erfolge 
Sinapismen  empfohlen.  Die  schmerzhaften  AYadenkrämpfe  flnden  dm'ch  Mor- 
pjhiumeinspritzungen  an  der  Stelle  des  Krampfes  Erleichterung.  Auch  von  heissen 
Bädern  bei  sinkender  KörpeiTsärme.  mit  und  ohne  nachfolgende  kalte  Ueber- 
giessung  zur  Hebung  des  Collapses  macht  man  Gebrauch,  wie  man  auch  der 
Hautreize  nicht  stets  entbehi'en  kann. 

Yon  sonstigen  inneren  Mitteln,  von  welchen  das  Bismuthum  subnitricum 
oder  salicglicum,  das  Argentum  nitricum,  der  Liquor  ferri  sescpdchlorati,  das 
Chinin,  Salicijlsäure,  Kreosot,  Thijmol,  Creosol,  Naphtol  und  viele  Andere  em- 
pfohlen wurden,  hat  man  nicht  viel  gesehen,  ebenso  kommt  man  meistens  zur 
Behandlung  mit  Calomel  zu  spät.  Dagegen  lohnt  sich  der  Yersuch,  ^ie  ich 
aus  Erfahrung  weiss,  sich  der  Hypoderrnoclyse  (4,0  grm  Chlornatrium,  3  gr  Na- 
trium auf  1000  gr  Wasser,  sterilisirt  durch  Zoc/;^»;)  zu  bedienen  oder  noch  besser 
der   intravenösen  Injection   der   sterilisirten  Kochsalzlösung    (von   0,6  :  100,0.) 

"Wenn  die  bedrohlichen  Erscheinungen  der  Cholera  nostras  geschwunden 
sind,  so  lässt  man  baldmöglichst  die  Opiate  weg  und  legt  den  Hauptwerth  auf 
eine  zweckmässige  Ernährung.  Als  solche  empfehlen  sich  die  Fleischbrühe, 
Schleimsuppen,  welchen  man  ein  Eidotter  beifügen  kann:  man  thut  gut,  wenn 
man  in  den  ersten  Tagen  noch  keine  feste  Xahrung  gibt,  sondern  erst  lang- 
sam zu  ilu'  übergeht.  Als  Getränk  bewährt  sich  ein  leichtes  Mineral- 
wasser, wie  Fachinger,  Giesshübler,  Pioisdorferwasser,  oder  säuerliche  Limo- 
nade; man  darf  auch  vom  Weine  mit  und  ohne  Yerdünnung  Gebrauch  machen. 
Etwaige  Xacherki'ankungen  erfordern  eine  gesonderte  Behandlung.  Die 
Prophylaxis  der  Cholera^nostras  erheischt  zumal  im  Hochsommer  die  grösste 
Yorsicht  in  der  Lebensweise,  die  Yermeidung  jeder  Unmässigkeit;  die  geringste 
Yerdauungsstörung  lasse  man  nicht  unbeachtet.  Tritt  alier  in  einem  Hause 
ein  Fall  von  Cholera  nostras  auf,  so  muss  man  genau  nach  der  L'^rsache  for- 
schen. Denn  man  findet  häufig,  dass  in  einer  Familie,  in  einem  Gebäude 
zahlreiche  Fälle  rasch  hintereinander  vorkommen,  so  dass  der  Gedanke  an 
einen  gemeinsamen  Ursprung  nahe  liegt.  So  spielte  sich  1885  die  von  uns 
beobachtete  Häufung  der  Cholera  nostras  in  einer  gut  geleiteten,  geschlossenen 
Anstalt  ab;  wir  kennen -auch  kleinere  und  grössere  Endemien,  in  welchen  eine 


ELEKTRODIAGNOSTIK.  497 

jauchige  Verunreinigung  des  Trinkwassers  wochenlang  alltäglich  neue  Fälle 
hervorrief. 

Weiterhin  halten  wir  es  für  dringend  nothwendig,  dass  die  grösste  Sorg- 
falt auf  die  Desinfection  der  Stuhlentleerung  und  des  Erbrochenen,  der  Leib- 
wäsche, Bettwäsche,  Kleidungsstücke  zu  legen  ist.  Zweifellos  sind  viele  Fälle 
der  Cholera  nostras  auf  infectiösem  Boden  entstanden.  Die  Möglichkeit,  dass 
durch  die  Stuhlmasse  oder  die  beschmutzte  Wäsche  der  Keim  der  Cholera 
nostras  übertragen  und  weiter  verpflanzt  werden  kann,  liegt  sehr  nahe;  für  die- 
jenigen Fälle,  in  welchen  der  Bacillus  Finkler-Prior  vorkommt,  ist  wegen 
dessen  pathogener  Eigenschaften  und  langer  Lebensdauer  mit  erhaltener  Infec- 
tionsfähigkeit  an  der  Uebertragbarkeit  der  Erkrankung  nicht  zu  zweifeln. 

PRIOR. 

ElektrodtagnOStik.  inmitten  aller  andern  diagnostischen  Methoden, 
der  Inspection,  Palpation,  Auscultation,  Percussion  u.  s.  w.  hat  auch  die  Fest- 
stellung der  Reaction  der  Gewebe  auf  den  elektrischen  Strom, 
die  sogen.  Elektrodiagnostik,  einen  gewissen  Werth.  Wir  nehmen  an,  es  handle 
sich  um  einen  Fall  von  Atrophie  und  Lähmung  verschiedener  Muskeln  beider 
Arme;  die  aetiologischen  Momente,  der  Verlauf  der  Krankheit,  die  Ausdehnung 
der  Atrophie  an  den  einzelnen  Muskeln  u.  s.  w.  sind  bereits  festgestellt,  ohne 
dass  der  eigentliche  Krankheitsherd  dieser  Atrophieen  hat  bestimmt  werden 
können,  und  es  wird  die  Frage  dringend:  Welches  ist  der  Ausgangspunkt  für 
dieses  Leiden?  Wo  sitzt  die  primäre  Störung?  Wie  ist  die  Prognose? 

In  solchem  Falle  tritt  die  Elektrodiagnostik  helfend  ein,  denn  durch 
diese  wissen  wir,  dass  Muskeln,  welche  durch  eine  Krankheit  der  nervöseü 
Centralorgane  oder  peripheren  Nerven  gelähmt  worden  sind,  eine  ganz  andere 
elektrische  Reaction  haben  wie  idiopathisch  gelähmte  und  atrophirte  Muskeln. 

In  andern  Fällen  ist  es  zweckmässig,  den  faradischen  Strom  als  Reiz- 
sonde  für  die  Empfindungsnerven  anzuwenden,  die  sogen,  elektrocutane 
Sensibilität  an  gesunden  und  kranken  Theilen  zur  vergleichsweisen  Prüfung 
festzustellen. 

Schliesslich  dürfte  es  auch  öfters  wissenschaftlich  und  praktisch  interessant 
sein,  den  Leitungswiderstand  der  Haut  gegenüber  dem  elektrischen 
Strom  kennen  zu  lernen,  um  daraus  Schlüsse  auf  die  Functionen  der  Haut 
und  der  darunter  liegenden  Organe  zu  ziehen. 

1.  Elektrodiagiiostische  Prüfung  von  Nerven  und  Muskeln. 

Um  die  elektrische  Reaction  kranker  Nerven  und  Muskeln  richtig  zu 
beurtheilen,  ist  es  nothwendig,  dass  man  das  Verhalten  der  gesunden 
Nerven  und  Muskeln  des  menschlichen  Körpers  bei  verschiedenen  Indivi- 
duen kennt.  Die  motorischen  Nerven  des  Menschen  haben  fast  sämmtlich  in 
ihrem  Verlauf  eine  oder  mehrere  Stellen,  wo  sie  der  Hautoberfläche  ausser- 
ordentlich nahe  liegen  und  so  dem  elektrischen  Strom  leicht  zugänglich  werden. 

An  diesen  Stellen,  welche  man  motorische  Punkte  genannt  hat,  und 
welche  insbesondere  von  v.  Ziemssen  in  sehr  sorgfältiger  Weise  studirt  und 
])ezeichnet  worden  sind,  wird  die  prüfende  Elektrode  aufgesetzt.  Daher  ist  es 
nothwendig,  dass  man  sich  vor  Beginn  jeder  elektrodiagnostischen  Prüfung  genau 
über  diese  Punkte  orientirt.  Man  findet  Abbildungen  und  genaue  Beschrei- 
bungen derselben  in  allen  elektrotherapeutischen  Lehrbüchern  (Pierson-Sperling, 
Erb,  Lewandowski  u.  s.  w.)  Eine  Wiedergabe  derselben  an  dieser  Stelle  würde 
über  die  Aufgabe  dieses  im  Wesentlichen  orientir enden  Artikels  hinausgehen. 

Vorausgesetzt  also,  dass  die  motorischen  Punkte  bekannt  sind,  so  hat 
man  folgendennassen  vorzugehen,  wenn  es  sich  beispielsweise  um  die  elek- 
trodiagnostische    Exploration  eines  Falles   von  rechtsseitiger  Radialis- 

Bibl.  med.  Wissenscbaften.   I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  O^ 


498 


ELEKTRODIAGNOSTIK. 


parese  (vulgo  Schlaf lähmimg)  handelt:  Der  Kranke   entblösst  den  Oberkörper 
und  setzt  sich  auf  einen  Stuhl,  an  dessen  Lehne  er  mit  dem  Rücken  die  eine, 
die  sogen,  indifferente  Elektrode  andrückt.     Im  Laufe  der  Untersuchung  wech- 
selt dieselbe  den  Platz  von  den  ersten  Brustwirbeln  bis  zum  Gefäss   abwärts. 
Mit    der    anderen   Leitungsschnur   wird    der   Unterbrechungselektrodenhalter 
verbunden,  welcher  eine  Elektrodenplatte  von  3  cm'^  Fläche  (Sti:n'tzing's  Normal- 
elektrode)  trägt.  Die  Leitungsschnüre  kommen  von  der  mit  nicht  zu  dünnem 
Draht  besponnenen  secundären  Rolle  des  Inductionsapparates.     Wälzend  nun 
die  Unterbrechungselektrode  bei  geöffnetem  Strom  auf  den  motorischen  Punkt 
für  den   gesunden    nerv,    radialis    aufgesetzt   wird,    wird    der  Strom  durch 
Hinaufschieben  der  secundären  Rolle  über  die  primäre  allmälig  verstärkt  und 
durch  Aufdrücken  und  Fallenlassen  des  Hebels  an  der  Elektrode  in  ziemlich 
rascher  Reihenfolge   bald   geöffnet   bald   geschlossen,    bis   eine   ganz    leichte 
Zuckung,  wie    sie   für    die    Function    des   radialis    charakteristisch   ist,    auf- 
tritt, —  die  Minimalzuckung.  Und  darum  handelt  es  sich  nunmehr  immer, 
die  Minimalzuckung  hervorzubringen;  der  Rollenabstand,    welcher   zu    diesem 
Zweck  nothwendig  war,  wird  in  einer  Tabelle  notirt,  welche  schliesslich  den 
elektrodiagnostischen   Gesammtbefund  vereinigt.     Nachdem    die  Reaction  des 
gesunden  radialis  festgestellt  ist,  kommt  die  Prüfung  des  kranken  an  die 
Reihe,   bei  welchem  wahrscheinlich  ein  geringerer  Rollenabstand,    d.  h.    eine 
geringere  Reizempfänglichkeit  zu  notiren  sein  wird.     Dann  folgen  die  vom  ra- 
dialis versorgten  Muskeln,  die  Extensoren,  zuerst  die  des  gesunden,  dann  die 
des  kranken  Armes;   die  Punkte,  an  welchen  dieselben  am  besten  dem  elek- 
trischen Reiz  entsprechen,    lernt  man  durch  Uebung    sehr  bald  kennen;    sie 
liegen  im  Allgemeinen  nahe  den  Ursprungsstellen  der  Muskeln.  Hat  man  nun 
die  Rollenabstände,    bei  welchen  die  Minimalzuckung  eintrat,   jedesmal   sorg- 
fältig notirt,   so  ist   es  beim  Schluss  der  Untersuchung  eine  verhältnismässig 
einfache  Sache,  das  Resultat  zu  ziehen.  Wir  finden  dasselbe  durch  Vergleichung 
der  Rollenabstände  der  gesunden  und  der   kranken  Seite  für  jeden  einzelnen 
Nerv,  bezw.  Muskel,  und  wenn  wir  die  Rollenabstände  der  gesunden  Seite  für 
die  normale   Reaction   ansehen,    so  ist  jede  Abweichung  davon   —   im   All- 
gemeinen —  als  eine  Folge  des  Krankheitszustandes  zu  betrachten.    Die  ge- 
naueren Angaben  folgen  später.     Nach  Vollendung  der  Prüfung  mit  dem  fa- 
radischen Strom  wird  an  demselben   oder   am   folgenden   Tage    die   Unter- 
suchung mit  dem  galvanischen  Strom  angeschlossen.  Die  Vorbereitungen 
dazu  sind  die  beschriebenen.  Auch  hierbei  wird  zuerst  immer  die  gesunde  Seite 
untersucht.  Der  Strom  muss  mittelst  des  Rheostaten  eine  allmälige  Verstärkung 
erfahren;  das  Galvanometer  ist  eingeschaltet.  Während  die  Kurbel  des  Rheo- 
staten langsam  gedreht  wird,  wird  der  Strom  bald  geöffnet,  bald  geschlossen, 
und  sobald  die  Minimalzuckung  bemerkt  ist,  wird  halt!  gerufen  und  die  Stellung 
der  Magnetnadel    am    Galvanometer   schnell    abgelesen.     Nach    Ausschaltung 
des  Stromes  folgt  die  Prüfung  des  kranken  nerv,  radialis,  dann  der  Muskeln 
u.  s.  w.  Die  Resultate  werden  in  dieselbe  Tabelle  eingetragen. 

Tabelle   für   elektro  diagnostische  Untersuchung. 


Links 


galv. 


farad. 


Rechts 


farad. 


galv. 


2,0  MA. 


3,1 
2,9 


25  RA. 


45 
40 


ne7^v.  radialis 
ext.  digit. 
ext.  pollic. 


15  RA. 

30    — 

27    — 


3,5  MA. 


4,2 
3,7 


ELEKTRODIAGNOSTIK.  499 

Sitzt  die  Krankheit  einseitig,  so  dient  die  elektrische  Reaction  des  ge- 
sunden Gliedes  als  willkommenes  normales  Vergleichsobject.  Wie  aber,  wenn 
z.  B.  beide  Arme  von  derselben  Affection,  z.  B.  einer  Radialislähmung,  be- 
fallen sind,  wie  ich  es  thatsächlich  in  einem  Falle  gesehen  habe !  Wie  con- 
struirt  man  sich  dann  das  Vergleichsobject? 

Stintzing  hat  es  dankenswertherweise  unternommen,  an  einer  grossen 
Anzahl  gesunder  Menschen  die  verschiedenen  Nerven  und  Muskeln  auf  ihre 
faradische  und  galvanische  Reaction  zu  prüfen  und  hat  diese  Resultate  in 
Tabellen  für  elektrodiagnostische  Grenzwerthe  niedergelegt,  welche 
abgesehen  von  dem  Original  (Deutsch.  Arch.  f.  klin.  Med.  Bd.  39.  S.  26  ff.) 
auch  z.  B.  in  meinem  Lehrbuch  Pierson-Speeling  wiedergegeben  sind.  Diese 
Tabellen  geben  z.  B.  an,  dass  die  Minimalzuckung  des  nerv,  medianus  einen 
Rollenabstand  gebraucht,  der  zwischen  120  und  90  mm  schwankt  und  im  Mittel 
105  mm  beträgt,  und  dass  zwischen  beiden  Seiten  desselben  Individuums  eine 
Maximaldifferenz  von  1 5  m^n  vorkommt.  Freilich  muss  man,  wenn  man  sich 
auf  diese  STiNTZiNG'schen  Werthe  als  Normalwerthe  beziehen  will,  vorher  ermit- 
teln, welcher  Rollenabstand  des  eigenen  Inductionsapparates  ungefähr  dem  von 
Stintzing  gebrauchten  entsprechen  dürfte.  In  ähnlicher  Weise  ist  auch  die 
Feststellung  für  den  galvanischen  Strom  gemacht  und  gefunden  worden,  dass 
z.  B.  für  den  nerv,  radialis  normalerweise  0-9 — 2'7  MA  zur  Erregung  der 
Minimalzuckung  nothwendig  sind,  und  dass  unter  Umständen  Extreme  nach 
unten  und  oben  von  0-7  und  o'O  vorkommen  können.  Die  relativ  geringsten 
Stromstärken  brauchen  galvanisch:  der  nerv.  musc.  cutcm.,  accessorius  und 
ulnaris,  die  relativ  grössten  n.  frontalis,  radialis,  facialis;  faradisch:  relativ 
am  wenigsten  accessorius,  musc.  cutan.,  mentalis,  am  meisten  cruralis,  tibialis, 
radialis.  Nach  diesen  Tabellen  wird  man  sich  in  zweifelhaften  Fällen  unge- 
fähr Orientiren  können,  ob  der  gefundene  Werth  normal  ist,  oder  die  Norm 
nach  oben  oder  unten  überschreitet. 

Beim  galvanischen  Strom  prüft  man  immer  zuerst  mit  der  Kathode, 
weil  bereits  das  PFLüGEü'sche  Zuckungsgesetz  die  Thatsache  festgestellt  hat, 
dass  die  Kathodenschliessungszuckung  in  allen  Fällen  zuerst  auftritt.  So  ist 
es  bei  den  blossgelegten  Froschnerven  sowohl  wie  bei  dem  durch  die  Haut 
gereizten  Nerven  des  Menschen. 

Indessen  erleidet  im  letzteren  Falle  das  physiologische  Zuckungsgesetz 
eine  Ausnahme,  insofern,  als  die  AnOZ  hinter  der  AnSZ  auftritt,  d.  h.  grössere 
Stromstärken  wie  diese  erfordert.  AnOZ  wurde  von  Stintzing,  am  facialis 
unter  31mal  nur  einmal  früher  wie  AnSZ  gefunden,  am  ulnaris  nur  in  20°/o, 
am  peroneus  in  2170  und  am  medianus  in  29''/o  der  diesbezüglichen  Prüfungen. 

Bei  dem  beschriebenen  Verfahren  der  elektrodiagnostischen  Untersuchung 
kommt  es  darauf  an,  eine  Zuckung  in  dem  betreffenden  Nerv  oder  Muskel  hervor- 
zubringen. Das  Zustandekommen  dieser  Zuckung  ist  beim  galvanischen 
Strom  an  ganz  bestimmte  Eigenschaften  desselben  gebunden:  die  Stromstärke 
muss  mit  einer  gewissen  Geschwindigkeit  bis  zur  höchsten  Höhe  ansteigen, 
und  es  muss  der  Strom  neben  der  erforderlichen  Stromstärke  (Zahl  der 
Milliampere)  auch  eine  Spannung  (elektromotorische  Kraft)  haben,  die  nicht 
unter  7  Volt  beträgt  (Dubois  in  Bern).  Es  ist  also  nothwendig,  zur  elektro- 
diagnostischen Untersuchung  mindestens  fünf  Elemente  einzuschalten,  um  aus 
dieser  Elektricitätsquelle  die  zur  Minimalzuckung  erforderliche  Stromstärke  zu 
gewinnen,  da  ein  Daniell-Element  etwa  1  ^2  Volt  hat.  Indessen  ist  es  rathsam, 
mit  höheren  Spannungen  zu  arbeiten  und  aus  einem  Vorrath  von  15 — 20  Ele- 
menten mittels  der  Widerstands- Ausschaltung  durch  den  Rheostaten  das  Erfor- 
derliche zu  entnehmen,  schon  allein  aus  dem  Grunde,  weil  das  Bedürfnis  nach 

32* 


500  ELEKTRODIAGNOSTIK. 

der  für  die  Minimalzuckimg  nöthigen  Stromstärke  durch  fünf  Elemente  eben- 
falls nicht  für  alle  Fälle  gedeckt  wird  und  es  sich  empfiehlt,  bei  allen  elek- 
trodiagnostischen  Prüfungen  stets  wieder  dieselbe  Zahl  von  Elementen  einzu- 
schalten, damit  man  heute  mit  derselben  Spannung  wie  morgen  arbeitet  und 
wenigstens  in  dieser  Beziehung  dem  Vergleich  der  einzelnen  Eesultate  nichts 
im  Wege  steht.  Es  ist  wohl  überflüssig,  erklärend  hinzuzufügen,  dass  bei 
Einschaltung  von  z.  B.  10  Elementen  die  elektromotorische  Kraft  die  gleiche 
bleibt,  nämlich  etwa  15  Volt,  ob  ich  davon  0*5  oder  15"0  MA  entnehme. 

Der  faradische  Strom  ändert  seine  physiologische  Leistungsfähigkeit,  je 
nachdem  die  secundäre  Rolle  einen  sehr  langen,  dünnen  Draht  mit  sehr  vielen 
Windungen  enthält,  oder  ob  dieser  Draht  verhältnismässig  kurz  und  dick  ist; 
der  letztere  steht  dem  Strom  der  primären  Rolle  nahe  oder  gleich. 

Schon  Duchenne  wusste  darüber  Folgendes: 

1.  Der  Strom  der  primären  Rolle  erregt  lebhafter  die  Sensibilität  ge- 
wisser unter  der  Haut  gelegener  Organe,  der  Nerven,  der  Muskeln,  des  Rectum, 
des  Hodens,  der  Epididymis,  des  Samenstranges; 

2.  der  Strom  der  secundären  Rolle  wirkt  mächtiger  auf  die  Sensibilität 
der  Haut,  auf  die  Sensibilität  der  retina  und  dringt  tiefer  in  die  Gewebe  ein. 

Der  Strom  der  secundären  Rolle  mit  langem,  dünnen  Draht  und  vielen 
Wickelungen  verliert  deshalb  so  sehr  an  seiner  physiologischen  Leistungsfähig- 
keit gegenüber  den  tiefer  gelegenen  Organen,  weil  er  durch  die  in  der  Rolle 
stattfindende  sehr  starke  Selbstinduction  (Bildung  von  Extracurrenten)  an  seiner 
Quantität  sehr  geschädigt  wird,  während  er  die  hohe  Spannung  beibehält.  Die 
primäre  Rolle  bezw.  die  sekundäre  Rolle  mit  kurzem,  dickem  Draht  bei  ver- 
hältnismässig wenig  Windungen  ist,  deshalb  physiologisch  so  viel  leistungs- 
fähiger, weil  bei  relativ  geringerer  Spannung  doch  sehr  wenig  durch  die 
Selbstinduction  verloren  geht  und  dadurch  an  Quantität  das  Meiste  beibehalten 
wird  (DuBOis-Bern). 

Zur  elektrodiagnostischen  Untersuchung  der  Nerven  und  Muskeln,  wobei 
es  darauf  ankommt,  die  Haut  mit  ihrem  grossen  Widerstand  dem  elektrischen 
Strom  gegenüber,  möglichst  auszuschalten,  verwendet  man  am  besten  den 
hochgespannten  Strom  der  Rolle  mit  dünnem  Draht  und  vielen  Windungen, 
lim  dagegen  auf  innere,  tiefer  gelegene  Organe  zu  wirken,  die  Rolle  mit  dickem 
Draht  und  wenig  Windungen. 

Die  eben  skizzirten  Kenntnisse  vorausgesetzt,  kann  man  nunmehr  den 
Versuch  machen,  auch  schwierigere  Fälle  elektrodiagnostisch  zu  prüfen  und 
das  Beobachtete  zu  deuten.  Dabei  befolge  man  durchaus  das  Gebot,  niemals 
einem  System  zu  Liebe  eine  Beobachtung  zu  modeln,  sondern  sich  streng  an 
das  Beobachtete  zu  halten  und  so  aufzuzeichnen.  Es  kommen  Fälle  vor,  in 
denen  es  schwer  ist,  das  wahrgenommene  Phänomen  richtig  zu  beschreiben; 
gelingt  das  nicht  im  ersten  Falle,  so  glückt  es  vielleicht  im  zweiten,  dritten 
und  vierten.  Passt  die  Beobachtung  schliesslich  nicht  in  das  althergebrachte 
Dogma  und  ist  die  Deutung  unmöglich,  so  ist  es  schliesslich  besser  so,  als 
den  Thatsachen  Zwang  anzuthun.  Ein  Zwangsverfahren,  wie  es  leider  viel- 
fach geübt  wird,  hat  der  Wissenschaft  schon  unendlich  geschadet. 

Bei  kranken  Nerven  und  kranken,  verletzten,  atrophischen  Muskeln  muss 
man  häufig  stärkere  Ströme  verwenden,  um  die  Minimalzuckung  auszulösen,, 
wie  in  normalen  Fällen,  sowohl  faradisch  wie  galvanisch.  Eine  solche  Herab- 
setzung der  elektrischen  Erregbarkeit  kommt  besonders  vor  bei  allen 
Inactivitäts-Lähmungen   und  Atrophieen,  wie  man   sie  z.  B.   nach  zu  festen 


ELEKTRODIAGNOSTIK.  501 

Verbänden  beobachtet;  solche  Fälle  sind  der  Typus  für  diese  Veränderung  der 
elektrischen  Reaction. 

Viel  seltener  sieht  man  eine  Erhöhung  der  elektrischen  Erreg- 
barkeit. Aber  auch  dies  kommt  vor,  und  zwar  im  Beginn  rheumatischer 
Lähmungen,  bei  der  Tetanie,  in  gewissen  Fällen  von  Myelitis  und  Tabes; 
im  Allgemeinen  dürfte  sie  prognostisch  als  kein  besonders  günstiges  Zeichen 
aufgefasst  werden. 

Die  Entartuiigsreactioii.  (EaR.) 

In  den  meisten  der  Fälle,  welche  man  elektrodiagnostisch  prüft,  wird 
man  jedoch  ausser  den  genannten  (quantitativen)  Veränderungen  der  Reaction 
der  Nerven  und  Muskeln  gegen  den  elektrischen  Strom  auch  noch  andere 
Phänomene  zu  beobachten  haben. 

Sehr  häufig  nämlich  kommt  es  vor,  dass  die  durch  den  elektrischen  Reiz 
hervorgebrachte  Zuckung  den  Charakter  des  Plötzlichen,  Blitzartigen,  wie  es 
normalerweise  sein  sollte,  verliert  und  eine  mehr  träge,  undulirende,  mehr 
local  beschränkte  Form  annimmt,  welche  auch  sehr  treffend  mit  der  trägen 
Bewegung  eines  Wurmes  verglichen  und  deshalb  —  freilich  sehr  unglücklich  — 
als  wurmförmig  bezeichnet  worden  ist.  Jedenfalls  ist  der  Eindruck  einer 
solchen  trägen  Zuckung  ein  so  auffallender  und  charakteristischer,  dass  wohl 
Niemand  sie  vergessen  dürfte,  der  sie  nur  einmal  gesehen  hat. 

Solche  „träge"  Zuckungen  kommen  vor  bei  der  Prüfung  mit  dem  fara- 
dischen, dem  galvanischen,  auch  mit  dem  franklinschen  Strom,  —  nicht  nm', 
wie  es  früher  fälschlich  angenommen  wurde,  allein  bei  dem  galvanischen  Strom, 
allein  bei  den  Muskeln  und  allein  bei  einem  elektrodiagnostischen  Prüfungs- 
bilde, welches  von  Erb  als  „Entartungsreaction"  (EaR)  beschrieben  worden  ist. 
Das  Gebäude  der  EaR,  wie  es  von  dem  ersten  Erbauer  aufgerichtet  worden, 
war  leider  zu  schematisch  und  musste  zu  Gunsten  der  spätem  Erkenntnis 
fallen,  dass  die  Natur  niemals  schematisirt,  sondern  stets  individualisirt. 

Aus  diesem  Grunde  stellt  sich  heute  die  Lehre  von  der  EaR  erheblich 
anders  dar,  und  auch  die  aus  ihr  gezogenen  Schlüsse  bedürfen  einer  weit- 
gehenden Modification.  Den  ersten  Anstoss  zu  den  Forschungen  über  die 
EaR  gab  die  Beobachtung  Baierlacher's,  dass  gewisse  kranke  Muskeln  in 
anderer  Weise  auf  den  galvanischen  wie  auf  den  faradischen  Strom  reagiren, 
und  zwar  nach  Erb's  Untersuchungen  so,  dass  die  Reaction  des  Nerven 
gegen  beide  Ströme  und  die  Reaction  des  Muskels  gegen  den  fara- 
dischen Strom  vollkommen  aufgehoben  ist.  Gegen  den  galvani- 
schen Strom  reagirt  der  Muskel  hingegen  mit  der  oben  beschrie- 
benen „trägen"  Zuckung  und  mit  erhöhter  Erregbarkeit.  Dies  ist 
das  Bild  der  „completen  EaR",  der  Typus  der  EaR.,  welcher  indes  in 
tadelloser  Reinheit  nur  selten  gefunden  wird.  Meistens  zeigt  das  Bild  der 
EaR.  einen  lebhaften  Farbenwechsel,  so  dass  auch  vom  Nerven  aus  diirch 
den  galvanischen  Strom  träge  Zuckungen  ausgelöst  werden,  während  faradisch 
sowohl  Nerv  wie  Muskel  träge  reagiren  können.  So  schiebt  sich  denn  die 
eine  oder  andere  Variation  in  jenes  Bild  ein  und  macht  zuweilen  eine  Coni- 
position,  die  selbst  für  den  Geübten  schwer  zu  deuten  ist.  Deshalb  hat  es 
Stintzing  unternommen,  das  Chaos  einigermassen  zu  ordnen,  indem  er  vier 
Gruppen  der  EaR  unterscheidet: 

I.  Gruppe:  (höchste  Grade)  EaR  mit  totaler  Unerregbarkeit  des  Nerven 
(complete  EaR.). 

IL  Gruppe  (hohe  Grade):  EaR  mit  partieller  Erregbarkeit  vom  Nerven 
aus  (d.  h.  der  Nerv  reagirt  auf  eine  der  beiden  Stromesarten). 


502  ELEKTRODIAGNOSTIK. 

III.  Gruppe  (mittlere  Grade):  EaE  mit  erhaltener  Erregbarkeit,  aber 
faradischer  Zuckungsträgheit  vom  Nerven  aus. 

IV.  Gruppe  (niedrige  Grade):  EaK  mit  prompter  Zuckung  vom  Nerven 
aus  (partieller  EaR.). 

In  den  verschiedenen  Stadien  eines  Falles  von  peripherer  Lähmung  z.  B. 
kann  man  die  elektrische  Reaction  von  Gruppe  zu  Gruppe  wechseln  sehen, 
und  zwar  meistens  in  der  Weise,  dass  im  Beginn  die  niedrigen  Grade  gefunden 
werden,  die  nun  allmälig  ansteigen,  bis  auf  der  Höhe  der  Krankheit  sich 
auch  der  höchste  Grad  der  EaR,  die  complete  EaR.,  einstellt.  Geht  der  Fall 
nunmehr  allmälig  in  Heilung  über,  so  legt  auch  die  elektrische  Reaction 
den  gleichen  Weg  rückwärts  zurück. 

Aus  dieser  Betrachtung  geht  bereits  hervor,  dass  es  der  mehr  oder 
weniger  entwickelte  pathologisch-anatomische  Process  ist,  welcher  der  elek- 
trischen Reaction  diese  oder  jene  Form  gibt,  und  dass  man  auch  umgekehrt 
von  der  elektrischen  Reaction  auf  die  zu  Grunde  liegende  pathologisch-ana- 
tomische Störung  schliessen  darf.  Betrachten  wir  beides  vergleichsweise  bei- 
spielsweise an  Nerven,  so  entspricht  das  Sinken  der  faradischen  und  galvani- 
schen Erregbarkeit,  welches  sich  vom  2.  bis  3.  Tage  nach  Verletzung  eines 
peripheren  Nerven  zeigt,  der  Degeneration  des  peripheren  Nervenabschnittes. 
Die  vollendete  Degeneration  des  Nerven  mit  zerfallenen  Markscheiden  und 
Achsencylindern  kündigt  sich  an  durch  völlige  Unerregbarkeit,  welche  bereits 
in  der  zweiten  Krankheitswoche  einzutreten  pflegt.  Beginnt  dann  die  Rege- 
neration des  Nerven,  so  treten  allmälig  Spuren  wiederkehrender  Reaction 
auf,  jedoch  so,  dass  dieselbe  noch  lange  Zeit  herabgesetzt  bleibt,  auch  wenn 
sich  die  Function  schon  wiederhergestellt  hat.  Dagegen  bleibt  der  Nerv  dauernd 
völlig  unerregbar,  wenn  sich  eine  totale  Degeneration  und  bindegewebiger 
Ersatz  der  Nervensubstanz  ausgebildet  hat. 

Aehnliche  Verhältnisse  bietet  der  gelähmte  Muskel. 

Es  fragt  sich  nun,  welche  Schlüsse  man  aus  der  EaR.  von  Nerv  und 
Muskel  zu  ziehen  berechtigt  ist.  Es  hat  lange  Zeit  unwidersprochen  die  Lehre 
geherrscht,  dass  die  „träge"  Zuckung,  das  am  meisten  charakteristische  Kenn- 
zeichen der  EaR.,  nur  die  Folge  sein  kann  einer  Erkrankung,  bezw. 
Zerstörung  des  peripheren  Nerven,  wobei  man  zu  dem  Begriff  des 
peripheren  Nerven  auch  seine  Ursprungsstellen,  die  grauen  Kerne  in  der  me- 
dulla,  der  medulla  oblongata  und  dem  cerebrum,  sowie  andererseits  die  Ner- 
venendplatten zu  rechnen  hat.  Demnach  dürfte,  abgesehen  von  den  Fällen 
rein  pheripherer  Lähmung  im  engern  Sinne,  also  Verletzungen,  Durchschnei- 
dungen des  Nerven  u.  s.  w.,  EaR.  noch  vorkommen  bei  Poliomyelitis  anterior 
acuta  und  chronica,  bei  der  amyotrophischen  Lateralsklerose,  bei  Bulbärpara- 
lyse,  gelegentlich  bei  multipler  Sklerose,  und  allen  anderen  Processen,  welche 
die  besagten  Bahnen  geschädigt  haben.  Nicht  zu  vergessen  sind  auch  die 
toxischen  und  infectiösen  Nervenlähmungen,  wie  sie  durch  Blei,  Arsenik  und 
das  virus  der  Diphtherie  veranlasst  werden. 

Die  neuere  Literatur  hat  indessen  diese  Lehren  bereits  durchbrochen  und  nachge- 
wiesen, dass  auch  bei  primärem  Muskelschwund,  bei  Trichinosis,  bei  hysterischen  Läh- 
mungen EaR  beobaclitet  werden  kann,  was  natürlich  der  Bedeutung  der  EaR  erheblichen 
Abbruch  thut. 

Ausserdem  darf  ich  es  hier  nicht  unerwähnt  lassen,  dass,  seitdem  mir 
die  Bedeutung  der  sehr  schwachen  galvanischen  Ströme  von  0-5 — 0'2  MA  füi- 
die  Therapie  klar  geworden,  mir  zu  gleicher  Zeit  Bedenken  aufstiegen,  ob  nicht 
die  starken  in  der  Elektrodiagnostik  verwandten  faradischen  und  galvanischen 
Ströme  auf  den  Krankheitsverlauf  einen  unheilvollen  Einfluss  ausübten.  Fiü.' 
einige  Fälle,  in  welchen  wiederholte  solche  Prüfungen  vorgenommen  wurden, 


.  ELEKTRODIAGNOSTIK.  503 

möchte  ich  es  mit  Bestimmtheit  behaupten,  doch  möchte  ich  die  Frage  damit 
noch  nicht  als  generell  entschieden  ansehen.  Es  sind  eben  weitere  Beobach- 
tungen darüber  abzuwarten. 

2.  Elektrodiagnostische  Prüfling  der  Hautsensibilität. 

(Elektrocutane  Sensibilität.) 

Gelegentlich  kann  dieselbe  wohl  zweckmässigerweise  herangezogen  werden, 
wenn  es  gilt,  genaue  Vergleiche  der  Hautsensibilität  an  symmetrischen  Körper- 
stellen zu  machen,  oder  ihre  Verschiedenheit  an  dem  gleichen  Körpertheil  zu 
verschiedenen  Zeiten  nachzuweisen. 

Die  elektrodiagnostische  Prüfung  der  Hautsensibilität  muss  stets  mit  den 
subjectiven  Angaben  des  zu  prüfenden  Menschen  rechnen,  steht  daher  in  ihrem 
Innern  Werth  der  objectiven  Prüfung  der  elektrischen  Reaction  der  Nerven  und 
Muskeln  erheblich  nach. 

Ihre  Ausführung  geschieht  in  der  Weise,  dass,  nachdem  die  indifferente 
Elektrode  demPtücken  des  Patienten  angelegt  ist,  der  Sensibilitätsprüfer  nach  Erb 
mit  der  zweiten  Leitungsschnur  des  Inductionsapparates  verbunden,  zuerst  den  ent- 
sprechenden gesunden  und  dann  den  zu  prüfenden  kranken  Körpertheilen 
aufgesetzt  wird.  Unter  allmäliger  Verstärkung  des  Stromes  wird  der  Patient 
ersucht,  anzugeben,  wann  er  jedesmal  eine  erste  Empfindung  und  wann  er 
eine  Schmerzempfindung  spürt.  Die  gewonnenen  Zahlen  der  Piollenab stände 
werden  mit  einander,  bezw.  mit  den  zu  späteren  Zeiten  gefundenen  verglichen. 

Der  Sensibilitätsprüfer  nach  Erb  besteht  aus  einer  mit  Handgriff  ver- 
sehenen runden  Metallplatte  von  etwa  1,5  cm  im  Durchmesser,  welche  mit 
dichten  Kreuz-  und  Quereinkerbungen  versehen  ist.  In  die  dadurch  ent- 
stehenden Fugen  ist  eine  isolirende  Ebonitmasse  eingegossen,  so  dass  eine 
grosse  Anzahl  kleiner  Metallquadrate  als  leitende  Fläche  übrig  bleibt. 

3.  Elektrodiagiiostische  Prüfung    des  Leitiingswiderstandes  der  Haut 

und  der  inneren  Organe. 

Legt  man  die  mit  den  Leitungsschnüren  einer  galvanischen  Batterie 
verbundenen  Elektroden  an  einander  und  schaltet  eine  beliebige  Stromstärke 
ein,  so  bekommt  man  —  sagen  wir  einen  Nadelausschlag  von  7,5  MA.  Nunmehr 
bringt  man  zwischen  die  beiden  Elektroden  einen  Theil  des  menschlichen 
Körpers:  dann  reducirt  sich  der  Nadelausschlag  auf  1,75  MA.  Die  Erklärung 
dieses  Vorganges  liegt  darin,  dass  die  auf  einander  gepressten  Elektroden  dem 
elektrischen  Strom  einen  sehr  geringen  Widerstand  bieten.  Der  menschliche 
Körper  dagegen  besitzt  vorzugsweise  in  der  Haut  ein  Organ,  welches  dem 
galvanischen  Strom  sehr  grosse  Leitungswiderstände  entgegensetzt;  daher  der 
kleine  Ausschlag  der  Galvanometernadel. 

Sehr  bald  ist  durch  das  Experiment  festgestellt  worden: 

1.  dass  es  eben  vorzugsweise  die  Haut  ist,  von  welcher  für  den  Wider- 
stand der  Löwenantheil  geliefert  wird, 

2.  dass  dieser  Widerstand  von  physiologischen  Verhältnissen  abhängig 
ist  und  sich  mit  dem  Eintritt  pathologischer  Störungen  ändert. 

Diese  Erkenntnis  hat  dann  bald  den  Versuch  wachgerufen,  die  Be- 
stimmung des  Leitungswiderstandes  elektrodiagnostisch  zu  verwerthen,  d.  h. 
aus  dem  mehr  oder  weniger  grossen  Widerstand  auf  die  Circulationsverhält- 
nisse  der  von  dem  Strom  bei  der  Messung  desselben  durchflossenen  Organe 
zu  schliessen.  In  wie  weit  diese  Schlüsse  berechtigt  sind,  das  werden  fernere 
Untersuchungen  feststellen.  Jedenfalls  ist  darüber  heutzutage  Folgendes 
bekannt : 


504  ELEKTRODIAGNOSTIK. 

Ä)  Der  Leitungswiderstand,  der  Haut  gegen  den  galva- 
nischen Strom  ist  an  verschiedenen  Körperstellen  ungleich,  er  schwankt 
wenig  zwischen  symmetrischen  Stellen  beider  Körperhälften,  er  ist  grösser  bei 
Erwachsenen  wie  bei  Kindern,  am  grössten  bei  Greisen.  Der  Leitungswider- 
stand vermehrt  sich  mit  der  Dicke  des  Corium  und  der  Epidermis,  und  scheint 
merkwürdigerweise  mit  der  Zahl  der  Schweissdrüsen  abzunehmen.  Leute, 
die  viel  baden  und  schwitzen,  haben  relativ  geringeren  Leitungswiderstand. 
Vermehrten  Leitungswiderstand  finden  wir  bei  erhöhter  Körpertemperatur, 
im  Fieber;  vermindert  wird  der  Leitungswiderstand  durch  Antipyretica  und 
Pilocarpin,  ganz  gleich,  ob  sie  die  Temperatur  herabsetzen  oder  nicht,  Schweiss 
erregen  oder  nicht.  Keineswegs  soll  der  Leitungswiderstand  als  Maassstab  für 
vasomotorische  Vorgänge  angesehen  werden  (Silva  und  Pescarolo). 

In  pathologischen  Fällen  hat  man  eine  Erhöhung  des  Leitungs- 
widerstandes an  den  anästhetischen  Stellen  Hysterischer  und  bei  nicht  sehr 
veralteten  Paralysen,  eine  Verminderung  bei  Morbus  Basedowi  constatirt 
(ViGOUROux),  ohne  dass  man  sich  über  den  eigentlichen  Grund  dieser  Ver- 
änderungen eine  klare  Vorstellung  zu  machen  im  Stande  ist.  Am  Kopfe  wurde 
bei  anämischen  Zuständen  Vermehrung,  bei  hyperämischen  Verminderung  des 
Leitungswiderstandes  gefunden  (Eulenbueg). 

Dabei  ist  vorausgesetzt,  dass  sich  immer  nur  diejenigen  Widerstands- 
messungen mit  einander  vergleichen  lassen,  bei  welchen  die  Massanordnung 
dieselbe  gewesen:  gleich  grosse  und  gleichdurchfeuchtete  Elektroden,  mit  der- 
selben Kraft  dem  Körper  angedrückt,  gleiche  Stromstärke,  gleichmässige  Ab- 
lesung u.  s.  w. 

Zu  ganz  genauen  Widerstandsbestimmungen,  die  allen  Anfor- 
derungen der  Wissenschaft  genügen,  gehört  ein  sehr  gutes  absolutes 
Galvanometer,  ein  tadelloser  Rheostat  und  womöglich  der  Gärtn er- 
sehe Pendelschlüssel,  welcher  sehr  kurze  Stromschliessungen  ge- 
stattet. Alle  diese  Apparate  sind  sammt  der  galvanischen  Batterie  in  Form 
der  sogen.  Wheatstone'schen  Brücke  angeordnet. 

Eine  Beschreibung  einer  solchen  Messung  findet  man  u.  a.  im  Deutsch.  Arch.  f.  klin. 
Med.  1887,  Bd.  40,  in  einer  grösseren  Arbeit  von  Stintzustg  und  Graeber. 

Indessen  gestattet  schon  jede  galvanische  Batterie  mit  Galvanometer 
und  Rheostat  die  Bestimmung  von  Widerständen  des  menschlichen  Körpers. 
Dies  macht  man  beispielsweise  so,  dass  die  beiden  Elektroden  von  50  cm^ 
dem  Kopf  des  zu  Untersuchenden  angelegt  werden,  worauf  man  mittels  des 
Rheostaten  3'0  MA  einschaltet,  so  lange  wartet,  bis  eine  Constanz  des 
Widerstandes  erreicht  ist,  d.  h.  bis  die  Nadel  bei  einer  gewissen  Einstellung 
des  Rheostaten  genau  3*0  MA  anzeigt,  die  Zahl  der  eingeschalteten  Wider- 
stände abliest  und  dann  den  Strom  ausschaltet.  Nehmen  wir  an,  wir 
müssten  bei  dem  Rheostat  im  Hauptschluss  zu  diesem  Zweck  20.000  Ohm 
ausschalten.  Um  dagegen  ohne  Einschaltung  von  Widerständen  (des  mensch- 
lichen Körpers)  in  die  Stromleitung  die  Galvanometernadel  auf  o"0  MA  zu 
stellen,  brauchen  wir  nur  15.000  Ohm,  d.  h.  der  Körper  kommt  einem 
Widerstand  von  5000  Ohm  gleich. 

Thatsächlich  kommt  man  zu  ganz  verschiedenen  Zahlen,  je  nachdem  man 
sich  der  oben  erwähnten  exacten  Methode  bedient  oder  der  letzteren,  die  den 
Vorzug  hat,  von  jedem  Besitzer  einer  galvanischen  Batterie  ausgeführt  werden 
zu  können.  Die  erstere  hat  am  menschlichen  Körper  Widerstände  bis  zu 
600.000  Ohm  gegeben,  die  Zahlen  der  letzteren  gehen  kaum  über  6000  Ohm 
hinaus. 

Der  Grund  für  diese  auffallende  Verschiedenheit  der  Resultate  liegt  darin, 
dass  jene  exacte  Methode  den  sogenannten  „Anfangswiderstand"  bestimmt,  d.  h. 
den  Widerstand  in  dem  Momente  des  Stromschlusses.  Nun  aber  besitzt  der 
galvanische  Strom  erfahrungsgemäss  die  Eigenschaft,  durch  seine  Einwirkung 


ELEKTRODIAGNOSTIK.  505 

den  Hautwiderstand  herabzusetzen,  und  zwar  bei  Strömen  von  0*5  bis  5-0  MA. 
derart,  dass  schon  nach  wenigen  Minuten  eine  relative  Constanz  desselben 
erreicht  wird  (Stinzing).  Es  ist  klar,  dass  nach  dem  eben  Gesagten  der  Haut- 
widerstand in  der  Phase  dieser  relativen  Constanz  erheblich  geringer  sein 
muss,  wie  der  Anfangswiderstand,  aber  es  genügt,  besonders  für  praktische 
Zwecke,  ebensowohl,  sich  dieser  Bestimmungsmethode  zu  bedienen. 

B)  Der  Leitungswiderstand  der  Haut  gegenüber  dem  faradischen 

Strom. 

Der  faradische  Strom  besitzt  eine  viel  höhere  Spannung  (grössere  elektro- 
motorische Kraft)  als  der  galvanische  Strom,  daher  überwindet  er  den  Wider- 
stand der  Haut  im  allgemeinen  besser  als  jener,  oder  mit  anderen  Worten: 
der  Widerstand  der  Haut  gegenüber  dem  faradischen  Strom  ist  so  gering, 
dass  er  fast  gar  nicht  in  Betracht  kommt. 

Jedoch  muss  man  sich  gegenwärtig  halten,  dass  der  Inductionsstrom  sich 
aus  einem  fortwährenden  Wechsel  von  zwei  Strömen,  dem  Oeffnungs-  und  dem 
Schliessungs-Inductionsstrom  zusammensetzt,  und  man  muss  wissen,  dass  der 
grössere  Theil  der  physiologischen  Wirkungen  dem  Oeffnungsstrom  zuzuschrei- 
ben ist.  W^orauf  die  physiologische  Ueberlegenheit  des  Oeffnungsstromes 
eigentlich  zurückzuführen  ist,  das  ist  noch  zweifelhaft,  vermutlich  liegt  sie  an 
den  besonderen  Verhältnissen  des  Ueberganges  des  Stromes  von  der  Elektrode 
zum  Körper  und  einer  im  allgemeinen  grösseren  Spannung  des  Oeffnungs- 
stromes. 

Jedenfalls  ist  so  viel  sicher,  dass  der  Widerstand  der  Haut  um  so  kleiner 
wird,  je  mehr  die  Spannung  durch  Hinüberschieben  der  secundären  über  die 
primäre  Kolle  vermehrt  wird. 

Eine  Herabsetzung  des  Hautwiderstandes  durch  längere  Einwirkung  des 
Stromes  —  ähnlich  wie  beim  galvanischen  Strom  —  findet  durch  denfara- 
dischen  Strom  nicht  statt. 

4.  Die  elektrodiagnostische  Prüfung-  mit  dem  Franklin'scheii  Strom. 

Von  allen  elektrodiagnostischen  Methoden  am  allerwenigsten  ausgebildet, 
dürfte  die  Anwendung  des  FRANKLiN'schen  Stromes  in  der  Elektrodiagnostik 
ebenso  selten  sein  wie  der  ärztliche  Besitz  der  dazu  gehörigen  Apparate  — 
können  sich  doch  nur  wenige  Universitätskliniken  desselben  rühmen. 

Vielleicht  ist  indessen  die  diagnostische  Wichtigkeit  des  Franklin'schen 
Stromes  gar  nicht  gering  anzuschlagen;  ich  habe  selber  Fälle  gesehen,  in 
denen  bei  der  Prüfung  mit  allen  drei  Stromesarten  nur  der  Franklin'sche  Strom 
eine  Abweichung  von  der  normalen  Pteaction  anzeigte,  während  faradischer 
und  galvanischer  Strom  sich  normal  verhielten ;  und  doch  war  aus  vielen  An- 
zeichen mit  Sicherheit  der  Schluss  zu  ziehen,  dass  die  betreffenden  Nerven  und 
Muskeln  bereits  erkrankt  waren.  (Vgl.  meine  Mittheilung  über  einen  Fall  von 
Dystrophia  muscularis  progressiva  im  Neurol.  Centralbl.  1889,  Nr.  3). 

Die  Untersuchung  mit  dem  Franklin'schen  Strom  kann  sich  einer  doppelten 
Methode  bedienen:  1.  mit  dem  Funken  ström, 

2.  mit  der  „dunklen  Entladung". 

Bei  1.  lässt  man  die  Funken  des  positiven  oder  negativen  Poles,  der 
mit  einer  Knopfelektrode  armirt  ist,  auf  die  betreffenden  motorischen  Punkte 
der  Nerven  und  Muskeln  niederschlagen  und  beobachtet  genau  den  Effect  der 
Reizung ;  der  Isolirschemel,  auf  welchem  der  Kranke  sitzt,  ist  mit  dem  anderen 
Pol  verbunden. 

Im  Allgmeinen  wird  es  sich  nur  darum  handeln  zu  constatiren :  Zuckung 
oder  Nichtzuckung,  oder  event.  stärkere  oder  schwächere  Zuckung  nach  der 
Pieaction  des  gesunden  Organs  abzuschätzen.  Jedoch  sind  neuerdings  auch 
qualitative  Veränderungen  in  Gestalt  träger  Zuckungen  beobachtet  worden,  so 


506  ELEKTRODIAGNOSTIK. 

dass  man  auch  berechtigt  wäre,  von  einer  Franklin'schen  Entartungsreaction  zu 
sprechen.  (Bernhardt). 

Bei  2.  werden  die  Franklin'schen  Tafeln  oder  sonstigen  Condensatoren 
eingeschaltet,  und  während  die  Conductorenkugeln  auf  einander  liegen,  setzt 
man  die  Knopfelektrode  auf  den  motorischen  Punkt  des  zu  prüfenden  Nerven 
oder  Muskels  fest  auf.  Wälirend  nun  die  Maschine  in  Gang  gesetzt  wird 
(Vgl.  den  Artikel:  Elektromedicinische  Apparate),  entfernt  man  ganz  allmä- 
lig  die  Conductorenkugeln  von  einander  und  beobachtet,  bei  welchem  Abstand 
derselben,  in  mm  ausgedrückt,  die  Minimalzuckung  auftritt. 

Anhang. 

Die    elektrodiagnostische  Prüfung  des  Gehörorgans. 

Normalerweise  kann  nur  in  den  seltensten  Fällen  eine  Reaction  des  Acusti- 
cus  hervorgerufen  werden ;  sie  tritt  erst  bei  Stromstärken  ein,  die  im  übrigen 
schädliche  Einflüsse  auf  das  benachbarte  Gehirn  ausüben  müssen;  die  Erreg- 
barkeit des  Acusticus  muss  pathologisch  gesteigert  sein,  um  auf  den  elektrischen 
Strom  mit  Gehörssensationen  zu  antworten.  (Gradenigo  Arch.  f.  Ohren- 
heilk.  XYE.) 

Reagirt  also  ein  Acusticus  bei  2*0  bis  4*0  MA  dmxh  KaS.  (Kathoden- 
schliessung) mit  einer  Gehörssensation,  so  spricht  man  von  einer  Uebererreg- 
barkeit.  des  YIII,  d.  h.  einem  pathologischen  Symptom,  welches  auf  schwere 
hyperämische  oder  P^eizzustände  (Entzündungs-Processe)  des  Gehörorgans  hin- 
deutet. Der  Grad  der  Uebererregbarkeit  geht  indes  nicht  vollkommen  dem 
Grade  der  Entzündung  parallel. 

Gradenigo  hält  es  für  walirscheinlich,  dass  der  YIII.  in  seinem  Stamm, 
nicht  in  seinen  Yerästelungen  von  dem  elektrischen  Strom  getroffen  werde, 
denn  auch  die  schwerste  Otitis  interna  kann  gute  Reaction  geben;  bei  voll- 
kommener Intactheit  des  Gehörorgans  kann  sich  eine  Steigerung  der  Re- 
action geltend  machen,  wenn  eine  entzündliche  endokranielle  Erkrankung  vor- 
liegt; und  schliesslich  genügt  eine  Erkrankung  des  äusseren  Ohres  bereits,  um 
Uebererregbarkeit  des  YIII.  hervorzubringen,  wenn  sie  nur  von  schweren 
hyperämischen  Zuständen  begleitet  ist. 

Rückblick. 

Der  Werth  der  Elektrodiagnostik  für  die  Erkennung  und  Heilung 
der  Krankheiten  ist  besonders  in  letzterer  Zeit  vielfach  angezweifelt  worden,  und 
sicher  nicht  ohne  Grund.  So  selir  interessant  die  Lehren  derselben  auch  sein 
mögen,  —  eine  ausschlaggebende  Bedeutung  hat  sie  sich  nicht  zu  erringen 
vermocht.  Die  Resultate  derselben  sind  unsicher,  zweifelhaft,  für  den  Un- 
geübten schwer  zu  deuten,  und  es  dürften  für  den  geübten  Diagnostiker  wohl 
wenig  Fälle  übrig  bleiben,  bei  denen  er  ohne  elektrodiagnostische  Prüfung  sich 
ein  weniger  sicheres  Urtheil  über  den  Fall  zu  bilden  im  Stande  wäre. 

Jedoch  ist  bei  alledem  zu  bedenken,  dass  die  Anwendung  der  Elektricität 
in  der  Medicin,  sei  es  in  der  Diagnostik  oder  in  der  Therapie,  kaum  den 
Kinderschuhen  entstiegen  ist.  Der  gewaltigen  Entwickelung  der  Elektrotechnik 
gegenüber  müssen  wir  den  zurückgebliebenen  Standpunkt  der  elektromedici- 
nischen  Wissenschaft  beklagen.  Indessen  können  wir  ahnen,  dass  auch  der 
letzteren  eine  ähnliche  Bedeutung  zukommen  wird.  Emsige  Forschung  thut  noth! 

ARTHUR   SPERLING. 


ELEKTROMEDICINISCHE  APPARATE.  507 

ElektromediciniSChe  Apparate.  Es  ist  nicht  der  Zweck  dieses  Auf- 
satzes, die  Apparate,  welche  die  Elektrotherapie  gebraucht  hat  und  braucht, 
so  zu  beschreiben,  dass  kein  Stöpsel  und  keine  Scliraube  daran  fehlt.  Diese 
Zeilen  machen  es  sich  vielmehr  zur  Aufgabe,  den  Arzt  darüber  zu  belehren, 
wäe  die  zu  elektromedicinischen  Zwecken  zu  verwendenden  Apparate  beschaffen 
sein  müssen,  um  ihm  diejenigen  Dienste  zu  leisten,  die  er  von  ihnen  ver- 
langen kann  und  soll. 

1.  Die  galvanischen  Batterien. 

Es  müsste  bei  jedem  Arzt  der  Besitz  einer  galvanischen  Batterie  voraus- 
gesetzt werden.  Die  verhältnismässig  geringen  Kosten  derselben  werden 
vollauf  aufgewogen  durch  die  trefflichen  Dienste,  die  er  damit  seinen  Kranken 
leisten  kann. 

Eine  sogenannte  transportable  Batterie,  wie  sie  so  vielfach  im 
Gebrauch  ist,  genügt  vollkommen:  ein  kubischer  Holzkasten  mit  10,  20,  höch- 
stens 30  Elementen,  enthaltend  ausserdem  als  unentbehrliche  Requisiten: 
Stromivender,  Rheostat  und  absolutes  Galvanometer.  Ein  Apparat  ohne  diesen 
Inhalt  muss  als  al)solut  ungenügend  für  medicinische  Zwecke  erklärt  werden. 
Die  Kosten  dieser  Batterie  dürften  sich  auf  höchstens  150  Mark  belaufen. 

Die  Elemente  bestehen  entweder  aus  Zink-Kohle  mit  Chromsäurefüllung 
(Add.  chrom.  5-0,  add.  sulf.  10-0,  htjdrarg.  bisulf.  2-0;  aq.  commun.  90),  oder 
es  sind  sogenannte  Trocken-Elemente,  bei  welchen  die  Erregungsflüssigkeit  in 
eine  Gelatinemasse  umgestaltet  ist.  Sie  haben  vor  allem  den  Vorzug  der 
Sauberkeit,  erhalten  sich  sehr  lange  wirksam  und  bedürfen  absolut  keiner 
Pflege.  Eine  Firma,  welche  sich  schon  seit  vielen  Jahren  mit  der  Fabrication 
solcher  Trocken-Elemente  für  transportable  galvanische  Batterien  beschäftigt, 
ist  Blänsdorf  in  Frankfurt  ajM. 

Die  Elemente  müssen  einzeln  nacheinander  einzuschalten  sein  nnd  zwar  so,  dass 
möglichst  alle  Combinationen  der  Einzelelemente  verwendet  werden  können,  nm  deren 
Strom  theilweise  oder  ganz  mittels  des  Rheostaten  dem  Körper  einzuverleiben.  Man  achte 
auf  eine  sorgfältige  Construction  der  Schiebe-  oder  Kurbelvorrichtungen;  man  prüfe  auch 
den  gefächerten  Hartgummikasten,  der  zur  Aufnahme  der  Erregungsflüssigkeit  dient,  welcher 
so  hoch  sein  muss,  dass  eine  Füllung  zur  Hälfte  ausreichend  ist,  um  die  Elemente  genü- 
gend weit  eintauchen  zu  lassen. 

Der  Stromwender,  welcher  auch  Oeffnung  und  Schliessung  des  Stromes 
gestatten  muss,  ist  von  so  einfacher  Construction,  dass  an  derselben  kaum  je 
ein  Fehler  gemacht  w^erden  kann. 

Schwieriger  liegt  die  Sache  mit  dem  Rheostaten.  Der  Rheostat  hat 
den  Zweck,  einen  Strom  von  beliebiger  Stärke  ohne  Stromschwankungen  in 
den  Körper  einschleichen  zu  lassen,  d.  h.  praktisch  so  viel:  hat  man  etwa  5  Ele- 
mente im  Stromkreis,  während  die  Elektroden  irgend  einem  Körpertheil  an- 
liegen, so  muss  die  Galvanometernadel  ganz  langsam  und  ohne  jegliche 
Schwankungen  bis  zu  dem  Strich  der  Scala  vorrücken,  als  man  Milliamperes 
oder  Bruchtheile  davon  einschalten  will. 

Jede  Construction,  welche  dieses  Ziel  erreicht  und  sich  leicht  in  dem 
transportablen  Batteriekasten  unterbringen  lässt,  erfüllt  ilu-en  Zweck. 

Als  passend  haben  sich  erwiesen  die  Kurbelrheostaten,  bei  welchen 
die  Widerstände  entweder  durch  Neusilberdrähte  oder  durch  Kaolin  (Porcellan- 
erdej  gebildet  werden.  Erstere  sind  die  theuersten,  haben  aber  den  Vortheil, 
dass  der  Draht  jeder  Widerstandsrolle  genau  abgemessen  und  in  absolutem 
Mass,  in  Ohm  ausgedrückt  werden  kann,  so  dass  diese  Rheostaten  für  \\  ider- 
standsmessungen  am  menschlichen  Körper  die  einzig  brauchbaren  sind. 

Die  Kaolin-Rheostaten  (nach  Gärtner,  Wien)  sollen  sich  in  der  Praxis  gut 
bewähren;  ich  habe  leider  keine  eigene  Erfahrung  darüber. 

Die  sogenannten  Flüssigkeitsrheostaten,  bei  welchen  die  Widerstände 
durch  Flüssigkeiten  irgend  welcher  Art  gebildet  werden,  haben  noch  nicht  das 


508  ELEKTROMEDICINISCHE  APPARATE. 

Ideal  einer  Construction  erreicht.  Am  meisten  Yersprechend  scheint  der 
neuerdings  von  Blas  ins- Hirschmann  construirte  zu  sein:  Ein  10  cm  langer 
Uförmig  gebogener  Kautschiikschlauch  enthält  eine  angesäuerte  Flüssigkeit,^ 
in  welche  an  beiden  Enden  Platindrähte  tauchen,  welche  mit  den  Batteriepolen 
in  Verbindung  stehen.  Der  Schlauch  wird  durch  eine  Pelotte  und  Schraube 
langsam  zusammengedrückt  und  auf  diese  Weise  der  Flüssigkeits-Widerstand 
ganz  allmälig  erhöht,  so  dass  schliesslich,  wenn  die  Wände  des  Schlau- 
ches an  einander  gedrückt  sind  und  die  Flüssigkeit  verdrängt  ist,  gar  kein 
Strom  mehr  hindurch  gelassen  wird.  Freilich  muss  es  erst  abgewartet  werden, 
wie  sich  dieser  Rheostat,  der  sich  durch  Einfachheit  und  Billigkeit  auszeichnet, 
in  der  Praxis  bewähren  wird. 

Die  Strom  w  a  a  g  e  von  K  o  h  1  r  a  u  s  c  h,  l)ekanntlich  auf  der  Erfahrung  beru- 
hend, dass  eine  Drahtspirale,  durch  welche  der  elektrische  Strom  hindurch  ge- 
schickt wird,  einen  über  ihr  an  einer  Spirale  hängenden  Eisenstab  in  sich  hinein- 
zieht, und  zwar  umso  tiefer,  je  stärker  der  Strom,  hat  sich  für  transportable 
Apparate  nicht  bewährt.  Feinere  Messungen  der  Stromstärke  von  Vio  MA  und 
weniger  lassen  sich  auch  mit  diesem  Instrument  nicht  ausführen. 

Ob  der  Rheostat  in  der  Batterie,  welche  man  sich  anschaffen  will,  im 
Haupt-  oder  Neb enschluss  eingeschaltet  ist,  das  ist  bei  guter  Construction 
für  die  Function  des  Apparates  gleichgiltig:  es  muss  die  Möglichkeit  vorhan- 
den sein,  einen  Strom  von  3,  5  oder  10  Elementen  ohne  grosse  Stromschwankun- 
gen (bezw.  Schwankungen  der  Magnetnadel)  in  den  menschlichen  Körper  ein- 
zuschleichen. Für  den  PJieostaten  im  Xebenschluss  genügen  5  bis  10  Ohm 
Widerstände  vollkommen;  je  mehr  davon  eingeschaltet  wird,  desto  grösser 
wird  im  Körper  die  Stromstärke,  während  der  ganze  Strom  durch  die  ISTeben- 
leitung,  in  welcher  sich  der  Rheostat  befindet,  hindurchgeht,  wenn  die  Kurbel 
auf  0  steht.  Der  Rheostat  im  Hauptschluss  dagegen  vermehrt  die  Stromstärke 
dm-ch  Abnahme  der  Widerstände,  zu  welchem  Zweck  50000  Ohm  und  mehr 
gebraucht  werden. 

Das  dritte,  für  jede  galvanische  Batterie  unerlässliche  Instrument  ist 
das  absolute  Galvanometer.  Dieses  Instrument  gestattet,  die  Strom- 
stärke in  absoluten,  d.  h.  nicht  willkürlich,  sondern  nach  den  Einheiten  von 
Meter,  Gramm,  Secunde  berechnetem  Masse  (Gauss-Webee)  zu  messen,  welches 
für  die  medicinische  Elektrotechnik  ein  Milliampere  d.  h.  der  tausendste  Theil 
eines  Ampere  ist. 

Wenn  der  durch  den  menschlichen  Körper  gehende  Strom  1  oder  2 
oder  5  MA  beträgt,  so  bedeutet  dies  soviel,  dass  eine  ganz  bestimmte  Stromstärke 
in  der  Secunde  den  Stromkreis  passirt,  welche  mit  einer  Geschwindigkeit  fort- 
bewegt wird,  die  einerseits  von  der  treibenden  Kraft  (Spannung,  elektromo- 
torischen Kraft)  und  andrerseits  von  den  mehr  oder  weniger  grossen  Wider- 
ständen des  Körpers  abhängig  ist.  Elektromotorische  Kraft  (E)  und  Strom- 
stärke (J)  werden  von  den  Elementen  geliefert  und  stehen  mit   den  Wider- 

F 

ständen  (W)  dem  OnM'schen  Gesetz  nach  in  dem  Verhältnis,  dass  J  =  —      ist , 

d.  h.  die  Stromstärke  wächst  mit  der  Zunahme  der  elektromotorischen  Kraft 
und  mit  der  Abnahme  der  ^Widerstände. 

Das  absolute  Galvanometer  gestattet  unter  Einschaltung  der  gleichen 
Zahl  von  Elementen,  bei  einer  Reihe  von  Galvanisationen  jedesmal  einen 
Strom  von  gleicher  elektromotorischer  Kraft  und  gleicher  Stromstärke  anzu- 
wenden. Das  war  früher  nicht  möglich,  ist  aljer  ebenso  wichtig  wie  die  Mög- 
lichkeit, einem  Kranken  heute  die  gleiche  Dosis  Morphium  wie  morgen  ver- 
ordnen zu  können.  Die  alte  Methode  richtete  sich  bei  der  Anwendung  des 
galvanischen  Stromes  nach  der  Zahl  der  Elemente  oder  nach  dem  Gefühl 
des  Kranken;  beides  sollte  heutzutage  als  ein  überwundener  Standpunkt  be- 
trachtet Averden. 


ELEKTROMEDICINISCHE  APPARATE.  509 

Ein  anderer  Yortlieil  des  absoluten  Galvanometers  ist  der,  dass  die  Be- 
handlung der  Kranken  bei  Benützung  desselben  brauchbare  Krankengeschichten 
liefert,  die,  gleichgiltig,  wo  die  Beobachtungen  gemacht  sein  mögen,  unter 
einander  verglichen  werden  können.  Die  Art  und  Weise  der  galvanischen 
Behandlung  lässt  sich  so  genau  beschreiben,  dass  A  in  X  genau  wissen  kann, 
wie  B  in  Y  es  gemacht  hat,  um  Erfolge  oder  Misserfolge  zu  erzielen. 

Demnach  ist  wohl  die  Bitte  an  die  Adresse  derjenigen  Collegen,  welchen 
die  wissenschaftliche  und  praktische  Förderung  der  Medicin  am  Herzen  liegt, 
berechtigt,  die  Elektricität  als  ein  für  Kranke  sehr  differentes  Heil- 
mittel zu  betrachten,  welches  ebenso  sorgfältig  abgemessen  und  abgewogen 
werden  muss  wie  Digitalis  und  Morphium.  Daher  keine  galvanische  Batterie, 
keine  Galvanisation   ohne  absolutes  Galvanometer. 

Das  Galvanometer  soll  so  geaiclit  sein,  dass  Vio  ^^^  noch  abgelesen  werden  kann, 
und  nach  der  andern  Seite  soll  es  Ströme  bis  etwa  20  MA  anzeigen. 

Man  achte  darauf,  dass  die  Nadel  beim  Einschleichen  des  Stromes  in 
den  Körper  nicht  sprungweise,  sondern  langsam  und  stetig  vorrückt,  und  dass 
es  bei  plötzlichem  Stromschluss,  wie  er  in  der  Elektrodiagnostik  angewandt 
wird,  nicht  zu  lange  dauert,  bis  die  Nadel  sich  einstellt;  man  sagt  in  einem 
solchen  Fälle,  das  Galvanometer  hat  eine  gute  oder  schlechte  Dämpfung. 

Ein  für  eine  transportable  Batterie  bestimmtes  Instrument  muss  auch  eine  Ein- 
richtung besitzen,  um  die  Nadel  für  die  Zeit  des  Transportes  festzustellen  {Arrctirung}, 

Bezüglich  der  minutiösen  Aichung  des  Einzel-Apparates  und  der 
Ausführung  der  Magnetnadel,  der  Suspensions-Vorrichtung,  der  nöthigen  Wider- 
standsrollen u.  s.  w.  muss  man  sich  auf  die  Reeliität  und  Gediegenheit  des 
Mechanikers  verlassen.  Instrumente,  welche  den  eben  aufgestellten  Anfor- 
derungen entsprechen,  werden  in  grösster  Vollkommenheit  von  Edelmann 
in  München,  Hirsch  mann  in  Berlin  und  andern  Firmen  geliefert. 

Das  grosse  Horizontal-Galvanometer  von  Edelmann  kann  schon  zu  exac- 
testen  wissenschaftlichen  Untersuchungen  dienen,  ebenso  wie  die  von  Desprez 
d'Arsonval  und  Thompson  construirten  vortrefflichen  Instrumente,  die  dem- 
gemäss  auch  entsprechend  theuer  sind.  Für  die  Zwecke  des  praktischen 
Arztes  genügen  die  kleineren  Galvanometer  von  Edelmann,  das  Horizontal- 
galvanometer von  Hirschmann  („mit  schwimmender  Magnetnadel,  Anker"). 
und  andere  im  Preise  von  100  Mark  abwärts  vollkommen.  Die  Beschreibung 
der  Construction  derselben  findet  man  in  allen  elektrotherapeutischen  Lehr- 
büchern. 

Ein  alter  galvanischer  Apparat,  der  nur  die  Einrichtung  der  Einzel-Einschaltung  der 
Elemente  hat,  kann  leicht  in  der  Art  modernisirt  werden,  dass  sich  der  Besitzer  einen 
Rheostaten  und  ein  Galvanometer  anschafft  ipid  mit  der  Batterie  in  Verbindung  setzt,  was 
in  sehr  einfacher  Weise  geschehen  kann.  Der  Kostenpunkt  einer  solchen  Neueinrichtung 
dürfte  sich  auf  etwa  80  Mark  stellen. 

Für  Specialisten,  Krankenhäuser  und  Aerzte,  denen  die  Mittel  zur  Ver- 
fügung stehen,  sind  die  sogenannten  stationären  Apparate  empfehlenswerth,  im 
Preise  von  400  bis  800  Mark  und  mehr  schwankend,  besonders  auch  für  die- 
jenigen, welche  dem  Glauben  huldigen,  dass  der  Kranke  schon  hall)  geheilt 
ist,  wenn  er  nur  eines  so  schönen  Apparates  ansichtig  wird. 

Wenn  ich  auch  durchaus  der  Meinung  bin,  dass  ein  verständiger  Elektro- 
therapeut  mit  den  unscheinbarsten  Werkzeugen  mehr  erreicht  wie  ein  Anderer 
mit  clen  glänzendsten  Apparaten,  so  vertrete  ich  doch  wieder  die  Auffassung, 
dass  der  Arzt  mit  den  allerbesten  Instrumenten  arbeiten  soll,  die  ihm  von  der 
Technik  zur  Verfügung  gestellt  werden. 

Abgesehen  davon  sind  die  Bequemlichkeiten,  welche  die  stationären  Ap- 
parate bieten,  nicht  zu  unterschätzen.  Galvanometer,  Piheostat  u.  s.  w.  sind, 
wenn  sie  gut  gearbeitet,  unverwüstlich.  Was  die  Elemente  anlangt,  so  be- 
dürfen sie  fast  gar  keiner  Pflege :  alle  3  bis  6  Monate  Nachfüllen  von  Wasser 


510  ELECTEOMEDICINISCHE  APPARATE. 

und  von  Kupfer-Titriol-Stlickclien  bei  den  Daniell-Siemens  Elementen,  von 
Salmiak  bei  den  Leclanche-Elementen,  das  ist  alles.  Füi^  die  gewöhnlichen 
therapeutischen  Anwendungen  reichen  zehn  Elemente  vollkommen  aus,  für  dia- 
gnostische Zwecke  muss  man  30  Elemente  zui  Verfügung  haben. 

Die  stationären  Apparate  werden  heute  so  gearbeitet,  dass  sie  in  einem 
Schränkchen  die  Elemente  aufnehmen.  Das  Schränkchen^  dessen  Decke  Eheo- 
stat,  Galvanometer  u.  s.  ^^\  trägt,  hat  einen  nach  vorn  dm^h  einen  Deckel 
verschliessbaren  Aufsatz,  welcher  seinerseits  event.  zur  Aufnahme  der  Influenz- 
maschine eingerichtet  ist.  Ein  solcher  Apparat  hat  den  Preis  von  ungefähr 
1100  Mark. 

Leittmgssehnüre  und  Elektroden 

(zugleich  für  den  faradischen  Strom). 

Die  Leitungssclinüre  müssen  l^/a  bis  Im  lang  nnd  zum  Schutze  gegen  Staub, 
Feuchtigkeit  und  Verletzungen  mit  einem  Gummiscblaucli  überzogen  sein;  zweckmässig 
wählt  man  den  einen  Gummischlauch  schwarz,  den  andern  roth,  um  den  einen  stets  mit 
dem  -f-  Pol,  den  andern  stets  mit  dem  —  Pol  der  Batterie  in  Verbindung  zu  bringen.  Auf 
diese  AYeise  ist  man  über  die  Pole  der  am  Körper  sitzenden  Elektroden  nie  im  Zweifel, 
auch  wenn  die  Schnüre  verwickelt  oder  verknotet  sein  sollten. 

Als  Elektroden  braucht  man  für  den  Anfang  zwei  biegsame  Drahtgeflecht-  oder 
Bleiplatten  von  50  cw^  Fläche,  welche  mit  einer  Klemmschraube  versehen,  mit  Moos  oder 
Schwamm  gefüttert  und  mit  ungewachster  Leinwand  bezogen  sind.  Diese  beiden  Elektroden 
bilden  für  mich  fast  das  einzige  Geräth  zur  Anwendung  des  galvanischen  Stromes.  Ist  man 
ein  Freund  des  Wechsels,  so  möge  man  sich  eine  Anzahl  grösserer  und  kleinerer  solcher 
Platten  anschaffen  und  mit  denselben  je  nach  der  Ansatzstelle  variiren.  Vielleicht  macht 
sich  später  einmal  das  Bedürfnis  nach  einer  Mastdarm-  oder  Vaginalelektrode  und  nach 
Zinnbougies  zur  Einführung  in  die  Urethra  geltend. 

Zur  allgemeinen  Faradisation  verwendet  man  am  besten  eine  an  ein  kleines  Brett 
geschraubte  steife  Plattenelektrode,  welche  von  dem  Patienten  mit  dem  Piücken  gegen  die 
Stuhllehne  angedrückt  mrd,  und  eine  an  einen  bequem  in  der  Hand  zu  haltenden  Kegel- 
griff geschraubte  Platte  von  20 — SOQcj«,  mit  welcher  der  Körper  bestrichen  wird.  Für 
den  letzteren  Zweck  gebraucht  man  auch  die  sogenannte  Massirrolle  oder  eine  Drahtbürste. 

Zu  elektrodiagnostischen  Untersuchungen  ist,  abgesehen  von  der  eben  beschriebenen 
Eückenelektrode.  ein  Unterbrechungsgrifi'  und  eine  Elektrodenplatte  von  3  cm*  Querschnitt 
nothwendig. 

2.  Die  Iiidiictions- Apparate. 

Die  Inductions- Apparate,  welche  den  faradischen  Strom  liefern  funter- 
brochener  Strom,  Wechselstrom),  sind  ja  bezüglich  des  Princips  ihrer  Eimich- 
tung  hinlänglich  bekannt ;  im  üebrigen  muss  auf  den  Art.  „Elektrophysik" ,  bezw. 
die  Beschreibung  in  den  Lehrbüchern  der  Elektrotherapie,  Pieeson-Speelik'G, 
Lewaxdov\"Ski  u.  s.  w.  verwiesen  werden. 

Was  indes  noch  nicht  in  das  Bewusstsein  der  mit  dem  faradischen  Strom 
behandelnden  Aerzte  übergegangen  zu  sein  scheint,  ist  die  Thatsache,  dass 
derselbe  ganz  verscliiedene  physiologische  Wirkungen  auslöst,  je  nachdem  der 
Strom  der  primären  Eolle  verwandt  wird,  oder  der  der  secundären,  oder  ob 
die  letztere  mit  grobem  oder  feinem  Draht  umwickelt  ist ;  auch  macht  es  einen 
Unterschied,  ob  die  Unterbrechungen  schnell  oder  langsam  erfolgen. 

Ganz  in  Kürze  gesagt,  liegt  die  Sache  so : 

1.  Je  dünner  der  Draht  {0'26 mm  im  Durchmesser  und  darunter)  der 
sekundären  Piolle,  desto  mächtiger  die  Einwirkung  auf  die  Haut ;  es  tritt  sehr 
leicht  Schmerzempfindung  ein ;  der  Widerstand  der  Haut  wird  gut  überwunden, 
daher  eignet  sich  dieser  Strom  für  elektrodiagnostische  Untersuchungen. 

2.  Der  primäre  Strom  und  der  Strom  aus  der  secundären  Eolle  mit 
dickem  Draht  wirken  lebhafter  auf  die  unter  der  Haut  liegenden  Organe, 
Nerven,  Muskeln  u.  s.  w. 

3.  Die  Wirkung  des  Stromes  mit  dünnem  Draht  wird  verstärkt  dmxh 
viele  Umwickelungen  (3000  und  mehr,  ..grosse  TourenzahV^')  und  schnelle 
VnteThiechwigeJi{,,sch7ie]lscMägic/e)'  Incluctionsstro?n''),  während  der  dicke  Draht 
von  beiden  weniger  beansprucht. 


ELEKTROMEDICINISCHE  APPARATE.  511 

Der  Inductions- Apparat,  welcher  nach  diesen  Erörterungen  für  alle  Zwecke 
ausreicht,  wird  am  besten  mit  zwei  secundären  Rollen,  die  eine  mit  dickem, 
die  andere  mit  dünnem  Draht  geliefert.  Die  ganz  kleinen  Apparate  im  Preise 
von  20  Mark  und  darunter  sind  deshalb,  weil  sie  auf  ihren  secundären  Rollen 
der  Raumersparnis  halber  ungemein  dünnen  Draht  haben,  unzweckmässig. 
Man  achte  auch  darauf,  dass  der  NEEF'sche  Hammer  den  sogenannten  „Meyee'- 
schen  Kugelunterbrecher"  hat,  welcher  nach  Belieben  die  schnelle  und  lang- 
same Stromunterbrechung  gestattet. 

Zum  Betrieb  genügen  ein  oder  zwei  Elemente,  am  besten  nach  dem 
System  Leclanche  oder  Trocken-Elemente.  Eine  Anlage  von  60  bis  70  Mark 
dürfte  für  einen  gut  ausgestatteten  Inductionsapparat  erforderlich  sein. 

3.  Die  Infliieiizmaschiiie. 

Selbst  in  manchen  Lehrbüchern  der  Elektrotherapie  kann  man  lesen, 
dass  der  faradische,  galvanische  und  Franklin'sche  Strom  keine  verschiedene 
therapeutischen  Effecte  haben ;  man  könne  mit  dem  einen  Strom  dasselbe  wie 
mit  dem  andern  ausrichten.  Das  ist  nicht  wahr.  Jedermann,  dem  nur  ein 
wenig  Beobachtungsgabe  vergönnt  ist,  kann  sich  an  seinen  Kranken  davon 
überzeugen,  dass  der  eine  Strom  da  hilft,  wo  der  andere  im  Stich  lässt  und 
umgekehrt.  Daher  ist  der  Besitz  einer  Influenzmaschine  auch  eine  schöne 
Sache,  und  ich  denke,  dass  es  wenig  Elektrotherapeuten  gibt,  die  nicht  an 
der  Behandlung  mit  dem  Franklin' sehen  Strom  Freude  erlebt  hätten. 

Wer  also  Interesse  hat  an  der  Elektrotherapie  und  ein  reichliches  Kran- 
kenmaterial, den  dürfte  es  nicht  gereuen,  sich  die  Kosten  für  eine  Influenz- 
maschine auferlegt  zu  haben. 

Ich  arbeite  seit  vielen  Jahren  mit  einer  von  Hirschmann-Berlin  bezogenen 
Maschine,  und  muss  sagen,  dass  ich  mit  deren  Leistungen,  Ausstattung  u.  s.  w. 
ausserordentlich  zufrieden  bin,  so  dass  der  hohe  Preis  von  ca.  450  Mark,  den 
ich  dafür  gezahlt,  mich  nicht  gereut.  Billigere  Maschinen  liefert  Blänsdorf 
in  Frankfurt  a./M.,  noch  billigere,  nach  anderem  Princip  construirte,  Gläser 
in  Wien  und  andere  Firmen,  so  dass  event.  für  den  Preis  von  150  Mark  be- 
reits eine  brauchbare  Influenzmaschine  zu  haben  sein  kann.  In  Frankreich 
und  England  sind  die  Maschinen  von  Carre  und  Wims  hur  st  viel  im  Gebrauch 
und  bewähren  sich  gut. 

Die  Forderungen,  welche  der  Arzt  an  die  praktische  Brauchbarkeit  einer 
Influenzmaschine  zu  stellen  berechtigt  ist,  sind  ungefähr  folgende: 

1.  Die  einzelnen  Theile,  Glasscheiben,  Conductoren,  Isolatoren  u.  s.  w. 
müssen  dauerhaft  sein  und  düiien  im  jahrelangen  Gebrauch  keinen  Schaden 
leiden; 

2.  die  Maschine  muss  selbsterregend  sein,  d.  h.  keiner  besondern  ausser- 
halb derselben  liegenden  Elektricitätsquelle  bedürfen,  um  sie  in  Gang  zu 
bringen; 

3.  sie  muss  von  der  Witterung,  vorzugsweise  von  dem  Feuchtigkeits- 
gehalt der  Luft  einigermassen  unabhängig  sein,  so  dass  sie  dm'chaus  in  iln-er 
Function  nicht  gestört  wird,  wenn  das  Hygrometer  zwischen  60*^  und  70" 
anzeigt;  insbesondere  muss  sie  in  einem  Wohnzimmer,  das  reichlich  gelüftet 
und  auch  an  feuchten  Tagen  nicht  geheizt  wird,  jederzeit  in  Gang  zu  bringen 
sein ; 

4.  es  müssen  Eimichtungen  vorhanden  sein  zur  bequemen  Befestigung 
der  Leitungskabel  und  deren  Verbindung  mit  Isolierschemel  und  Elektroden, 
zur  beliebigen  Verstellung  der  Conductorenkugeln  gegen  einander,  womöglich 
mittelst  einer  Mikrometerschraube; 

5.  sehrwünschenswerth  ist  die  Verbindung  der  Maschine  mit  einem  Wasser- 
oder Elektromotor,  um  dem  Arzt  das  Selbstdrehen  der  Maschine  zu  ersparen. 
Gasmotoren  haben  sich  nicht  bewährt,   Elektromotoren   bisher   auch   nur   im 


Ö12  ELEKTEOTHEKAPIE. 

Anschliiss  an  eine  grössere  Elektricitätscjuelle.     AVassermotoren  dagegen  sind, 
wenn  Wasserleitung  mit  hohem  Druck  vorhanden,  selu'  empfelilenswerth; 

6.  es  muss  eine  Yomchtung  A^orhanden  sein,  um  Franklin"sche  Tafeln 
oder  andere  Condensatoren  in  den  Stromkreis  der  Maschine  einzuschalten,  um 
sich  besonders  zu  diagnostischen  Zwecken  der  ..diinklen  EnÜadung-  bedienen 
zu  können; 

7.  die  Leitungskabel  müssen  in  dicken  Gummischläuchen  laufen,  welche 
fi-eilich  immer  noch  keine  tadellose  Isolation  herbeiführen  diü'ften: 

8.  als  Elektrodengiifie  dienen  lange  durchbohrte  Glas-  oder  Ebonitstangen, 
an  deren  einem  Ende  die  Elektrode,  am  anderen  der  Leitungskabel  fest- 
gesteckt wii'd; 

9.  als  Elektroden  seilest  l)raucht  man  1.  den  Isolirschemel,  einen  auf 
Glasfüssen  stehenden  Tisch,  oder  eine  Isolier-Gummiplatte  mit  Metallbeschlag; 
beide  müssen  zu  einem  Stuhl,  auf  welchem  der  Kranke  Platz  nimmt,  Eaum 
]ia])en;  2.  eine  Knopfelektrode  zm'  Application  des  Funkenstromes,  in  Gestalt 
eines  Metallknopfes  von  etwa  10  mm  im  Dmx-hmesser;  3.  eine  Spitzenelektrode 
zui-  Anwendung  des  Btischelstromes:  4.  eine  ovale  Messingplatte  von  100  cm^ 
Flcäche  zm-  Ableitung  des  im  Köi^ier  l)efindlichen  Stromes;  5.  event.  einige 
Holzplatten  oder  Holzkugeln  für  den  gleichen  Zweck. 

Mit  diesen  Utensilien  dürfte  man  vollkommen  ausreichen,  denn  sie  ge- 
nügen, um  allen  Modificationen  der  Anwendung  des  Franklin" sehen  Stromes 
gerecht  zu  werden. 

Die  Batterien,  Apparate  und.  Instrumente,  welche  für  Cla Ivanoka u st ik,  Elektro- 
therapie der  Franenkrankheiten.  Elektrolyse  und  elektrische  Beleuchtung 
nothwendig  sind,  werden  in  den  betreffenden  Capiteln  Beschreibung  finden. 

AKTHUR    SPERLIXG. 

Elektrotherapie. 

A.  Allgemeine  Elekti^otherapie. 

Einleitung. 
..Was  Elektricität  ist,"  sagt  Kuxdt.  der  Physiker  der  Berliner  Hoch- 
schule, in  einer  Ptede,  „wissen  wir  so  wenig,  wie  derjenige,  der  im  fernen 
Alterthum  zufällig  ein  Stückchen  Bernstein  rieb  und  zuerst  sah,  dass  das  ge- 
riebene Stück  leichte  Fäserchen  anzog.  Den  letzten  Grund  der  Dinge  zu  er- 
forschen ist  nicht  Sache  der  Wissenschaft,  deshalb  nicht,  weil  uns  dieser 
immer  unzugänglich  bleiben  whxl.  Die  Erscheinungen  zu  verfolgen  wissen, 
sie,  wie  es  Kirchhofe  in  seiner  Mechanik  ausspricht,  möglichst  einfach  und 
präcise  zu  besclu'eiben,  ist  das  Wesen  der  Forschung." 

■^"ir  wissen  nicht  die  Erscheinung,  welche  wir  Elektricität  nennen,  in  ihrem  innersten 
Wesen  zu  erklären,  und  dennoch  wendet  sie  die  ärztliche  Kunst  als  Heilmittel  an!  Eine 
seltsame  Thatsache,  die  indess  im  CTrunde  nicht  wunderbarer  ist,  als  jene,  dass  der  Techniker, 
der  ebenfalls  mit  dieser  ungenügenden  Erkenntnis  zu  rechnen  hat.  sich  dadurch  nicht 
hindern  lässt.  die  Kraft  der  Kohle,  des  Wassers,  des  Windes  durch  geeignete  Maschinen  in 
Elektricität  umzusetzen.  An  wissenschaftlich  nicht  vollkommen  erforschte  und  begründete 
Thatsachen  hat  sich  ein  Culturfortschritt  ersten  Ranges  geknüpft.  Die  Praxis  ist  der 
Wissenschaft  vorausgegangen.  So  ist  es  immer  gewesen,  und  so  wird  es  immer 
bleiben,  in  der  Technik,  in  der  Industrie  —  nicht  weniger  auch  in  der  Medicin. 

Öder  sollten  wir  Aerzte  uns  des  Versuches  enthalten,  die  Nervenkranken  zu 
heilen,  sie  ihrer  Familie,  ihrem  Beruf  wieder  zuzuführen,  weil  uns  der  intime  Vorgang  in 
den  Zellen  eines  hysterischen,  neurasthenischen  oder  epileptischen  Organismus  unbekannt 
ist?  Das  wird  Niemand  ernstlich  verlangen.  Es  ist  vielmehr  die  Aufgabe  der  Medicin.  die 
Wirkung  der  verschiedenen  Mittel,  die  wir  empirisch  als  Heilmittel  erkannt  haben,  zu  be- 
obachten, den  Kreis  und  Umfang  der  Wirkung  eines  Einzelmittels  wie  der  Elektricität  an 
einer  grossen  Anzahl  von  Krauken  zu  erproben  und  den  untrüglichen  Beweis  zu  liefern, 
dass  dieses  Mittel  in  einer  ganz  bestimmt  anzugebenden  Form  für  diese  und  jene  Indivi- 
dualität von  Kranken  und  von  Krankheiten  passt.  d.  h.  heilend  wirkt.  Solche  als  positive 
Thatsachen  zusammengestellte  Kranken-Beobachtungen  mögen  dann  zur  Basis  dienen  für 
Theorien  über  alles  das.  was  uns  bisher  unbekannt  geblieben  ist. 


ELEKTROTHERAPIE.  513 

Jeder  Arbeiter  auf  diesem  Gebiete  miiss  die  Grenzen  unseres  Wissens 
kennen.  Für  die  Elektricität  liegen  dieselben  in  der  von  Faraday  und 
Maxwell  theoretisch  construirten  und  von  Hertz  in  Bonn  experimentell 
erwiesenen  Thatsachen,  dass  das,  was  wir  elektrischen  Strom  nennen,  eine 
Wellenbewegung  des  Aethers  ist,  ähnlich  wie  die  des  Schalles,  des 
Lichtes  und  der  Wärme.  Die  elektrischen,  bezw.  elektromagnetischen  Aether- 
wellen  pflanzen  sich  mit  derselben  Geschwindigkeit  fort  wie  die  des  Lichtes 
(300.000  km  in  der  Secunde),  aber  die  einzelnen  Wellen  sind  erheblich  länger. 
Die  längste  Wellenlänge,  auf  die  die  Retina  unseres  Auges  in  der  Weise 
reagirt,  dass  eine  Lichtempfindung  ausgelöst  wird,  beträgt  Viooo  ^^'*:  während 
die  kürzeste  bisher  erhaltene  elektromagnetische  Welle  etwa  Vi  ^^^  lang  ist. 
Im  übrigen  folgen  diese  Wellen  den  Gesetzen  der  Reflexion,  Brechung  und 
Absorption  ebenso  wie  die  Lichtwellen,  so  dass  es  z.  B.  möglich  ist,  den  elek- 
trischen Funken  eines  Liductionsapparates  durch  geeignete  Reflectoren  auf  der 
Strecke  zwischen  Funken  und  Reflectoren  gleichsam  zu  reconstruiren. 

Aber  am  wichtigsten  für  die  Auffassung  über  die  Wirkung  des  elek- 
trischen Stromes  auf  den  menschlichen  Körper  scheint  mir  die 
durch  die  neuesten  Forschungen  gewonnene  Ueberzeugung,  dass  wir  es 
bei  den  mannigfach  vorkommenden  Uebertragungen  des  elektrischen  Zustandes 
von  einem  Körper  auf  den  anderen,  z.  B.  bei  der  Stromübertragung  von  der 
primären  zur  secundären  Rolle  des  Inductionsapparates,  nicht  mit  einer 
Fern  Wirkung  zu  thun  haben,  wäe  man  früher  annahm,  sondern  mit  einer 
unmittelbaren  Uebertragung  des  elektrischen  Zustandes  von  Körper  zu  Körper 
vermittels  der  Aetherschwingungen.  Und  der  Leitungsdraht,  der  den  Strom 
von  einem  Element  zum  anderen  führt,  ist  nur  gewissermassen  als  der  greif- 
bare Mittelpunkt  aufzufassen,  in  welchem  sich  der  veränderte  elektrische  Zu- 
stand des  Aethers  concentrirt.  Wenn  wir  uns  den  unter  den  Einfluss  des 
elektrischen  Stromes  gesetzten  menschlichen  Körper  ganz  allgemein  als  eine 
Veränderung  des  Molekular-,  bezw.  Atomzustandes  vorstellen  wollen,  so  müssen 
wir  nach  der  neuen  Auffassung  verstehen,  dass  sich  die  Wirkung  des  beispiels- 
weise durch  eine  Hand  geleiteten  Stromes  nicht  allein  auf  die  Hand  beschränkt, 
sondern  sehr  weit,  auch  auf  die  entferntesten  Körpertheile  seine  Wellen  aus- 
breitet, wir  müssen  verstehen,  dass  der  Magnet  eine  elektrische  Atmosphäre, 
das  sogen,  magnetische  Feld  um  sich  hat,  und  dass  jeder  Theil  des  mensch- 
lichen Organismus,  der  in  dieses  magnetische  Feld  gebracht  wird,  eine  mehr 
oder  weniger  grosse  Veränderung  seines  elektrischen  Zustandes  erleiden  muss. 
Wir  w^erden  uns  daran  gewöhnen  müssen,  die  Sonne  als  eine  ungeheure  elek- 
trische Quelle  anzusehen  und  jeden  Sonnenstrahl,  der  den  Menschen  trifft,  als 
ein  Mittel  zur  Veränderung  des  elektrischen  Zustandes  seiner  Moleküle.  Die 
uns  umgebende  Luft  ändert  fortwährend  ihren  elektrischen  Zustand,  je  nach- 
dem sie  trocken  oder  feucht,  ruhig  oder  bewegt  ist  und  mit  ihr  der  Mensch 
in  seinem  subjectiven  Wohlbefinden,  seiner  Lust  oder  Unlust,  seiner  Stimmung, 
seiner  Neigung  zu  Schmerzanfällen,  Schleimhautentzündungen  u.  s.  w.,  Vor- 
gängen, die  wir  doch  in  ihrem  ersten  Beginn  als  molekulare  Veränderungen 
inmitten  des  Organismus  aufzufassen  haben  —  eine  Theorie,  die  mit  den  Er- 
fahrungen des  praktischen  Lebens  durchaus  im  Einklang  steht. 

Auf  viele  Menschen  üben  die  genannten  Mittel  gar  keinen  Einfluss  aus, 
d.  h.  unsere  physikalischen  und  chemischen  Reactionen  reichen  nicht  aus,  um 
einen  solchen  zu  erweisen;  auch  die  subjective  Empfindung  eines  veränderten 
Zustandes  bleibt  aus,  und  wir  sagen,  das  Mittel  wirkt  nicht.  So  geschieht  es 
sehr  häufig  bei  der  Anwendung  der  Elektricität  zu  Heilzwecken,  dass  wir  uns 
über  die  Tragweite  unseres  Eingriffes  täuschen,  wenn  der  Kranke  von  dem 
elektrischen  Strom  wenig  gespürt  hat  und  ein  so  schlechter  Beobachter  ist, 
dass  er  sich  über  eine  Veränderung  oder  Nichtveränderung  seines  Zustandes 
keine  Rechenschaft  zu  geben  vermag  und  alle  diesbezüglichen  Fragen  negativ 

Bibl.  med.   WiBsenscliaften.   I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  06 


514  ELEKTROTHERAPIE. 

beantwortet.  Aus  der  Beobachtung  einer  Anzahl  solcher  Fälle  mag  wohl  die 
Ansicht  mancher  Aerzte  hervorgegangen  sein,  dass  die  Elektricität  ein  wir- 
kungsloses Mittel  sei,  zum  mindesten  ein  unsicheres  und  zweifelhaftes,  sehr 
gut  durch  bessere  ersetzbar.  Ich  möchte  hier  die  entgegengesetzte  Ansicht 
verfechten. 

Aus  der  sehr  umfangreichen  elektrotherapeutischen  Literatur  geht  für 
jeden  Unbefangenen  zur  Genüge  hervor,  dass  es  eine  grosse  Anzahl  der  ver- 
schiedenartigsten Erkrankungen  gibt,  bei  welchen  die  Elektricität  ein 
vortreffliches,  vielleicht  durch  nichts  anderes  zu  ersetzendes 
Heilmittel  ist.  Wenn  neben  den  Erfolgen  auch  Misserfolge  stehen  und 
neben  den  vergnügten  Elektrotherapeuten  auch  missvergnügte,  so  sind  mehrere 
Ursachen  daran  Schuld. 

Erstens:  Das  „Elektrisiren"  will  gelernt  und  mit  Verstand  betrieben 
sein.  Weder  der  Student  noch  der  Arzt  findet  eine  genügende  Ausbildung 
darin.  Das  auf  der  Universität  in  der  Elektrotherapie  gesammelte  Wissen  ist 
höchst  mangelhaft, 

Zw^eitens:  Auch  die  Ausbildung  des  angehenden  Arztes  in  den  sogen. 
Nervenkrankheiten,  bei  welchen  die  Elektrotherapie  ihre  Triumphe  feiert, 
ist  nicht  so  wie  sie  sein  sollte.  Die  Auffassung,  das  Interesse  für  diese  Art 
von  Kranken  fehlt,  was  zum  Theil  daran  liegt,  dass  keine  objectiven  physika- 
lischen und  chemischen  Hilfsmittel  für  die  Diagnose  so  grob  und  klar  zu  Tage 
treten. 

Drittens:  Man  arbeitet  im  allgemeinen  mit  zu  jämmerlichen  Apparaten, 
so  ist  z.  B.  das  absolute  Galvanometer  noch  sehr  wenig  unter  den  Aerzten  ver- 
breitet. 

Viertens:  Der  wissenschaftliche  Pessimismus,  der  sich  besonders  in  den 
letzten  Jahren  der  wissenschaftlichen  Welt  bemächtigt  hat,  gefällt  sich  ganz 
besonders  in  der  ergiebigen  Ausnützung  des  Wortes  „Suggestion."  Man  sagt, 
die  Wirkung  der  Elektricität  beruht  auf  Suggestion,  d.  h.  der  Elektricität 
kommt  keine  Eigenwirkung  auf  den  menschlichen  Organismus  zu,  sondern  es 
wirkt  dieselbe  psychisch,  indem  der  Kranke  durch  das  mysteriöse  Aussehen 
der  elektrischen  Apparate,  durch  Schmerzempfindung,  durch  Schreck  u.  s.  w^ 
in  eine  psychische  Erregung  versetzt  wird,  und  diese  soll  es  in  den  meisten 
Fällen  sein,  welche  event.  die  Heilung  herbeiführt. 

Die  wissenscliaftlicheii  Vertreter  dieser  Richtung  riben  insofern  einen  sehr  schädlichen 
Einfiuss  ans,  als  sie  die  Aerzte  zu  dem  Glauben  veranlassen,  dass  das  wo'?  und  wie?  der 
Elektrisation  gleichgiltig  ist,  dass  die  Hauptsache  immer  bleibt,  dem  Kranken  Furcht  und 
Schrecken  einzujagen.  Man  wird  dabei  an  die  rohen  Mittel  der  mittelalterlichen  Tortur 
erinnert  und  kann  nur  auf's  tiefste  bedauern,  dass  die  psychologische  Bildung  selbst  bei 
vielen  wissenschaftlichen  Vertretern  der  Medicin  auf  so  niedriger  Stufe  steht.  Die  Vertreter 
der  Suggestions-Richtung  in  der  Elektrotherapie  zeigen,  dass  sie  entweder  sehr  schlechte 
Elektrotherapeuten  oder  sehr  schlechte  Psychologen  sind,  jedenfalls  sind  sie  miserable 
Beobachter. 

Fünftens:  Die  Elektrotherapie  beschäftigt  sich  viel  zu  wenig  mit 
frischen  Krankheitsfällen,  z.  B.  wenige  Tage  alten  Neuralgien  u.  a.  Schmerz- 
zuständen, weil  man  der  Gewohnheit  folgt,  zuerst  alle  anderen  Mittel  durch- 
zuprobiren,  bevor  man  Elektricität  anwendet.  Aber  gerade  in  solchen  frischen 
Fällen  zeigt  der  elektrische  Strom  seine  grösste  Leistungsfähigkeit. 

Sechstens:  Die  wissenschaftliche  und  praktische  Auffassung  der  so- 
genannten Nervenkrankheiten  ist  bisher  eine  durchaus  verkehrte.  Man  glaubt 
es  mit  sehr  groben  Processen  dabei  zu  thun  zu  haben  und  heilt  nach  dem 
Princip:  „Auf  einen  groben  Klotz  gehört  ein  grober  Keil."  Diese  Ansicht 
müssen  wir  verlassen  und  zu  der  Auffassung  übergehen,  dass  eine  beginnende 
Nervenkrankheit,  z.  B.  eine  beginnende  Neurasthenie  oder  Hysterie  durch- 
aus feine,  molekulare  Veränderungen  der  Nervensubstanz  zur  Basis  hat.  Es 
bedarf  nur  der  kleinsten  Anregungen  und  der  minimalsten  Eingriffe,  um  diese 


ELEKTROTHERAPIE.  515 

Vorgänge  zu  ändern,  bezw.  zu  heilen.  Ein  Spinngewebe  darf  man  nicht  mit 
einer  Feuerzange  fassen,  ein  kleiner  Windhauch  genügt  schon,  um  es  zu 
zerreissen. 

Siebentens:  Die  Kunst  des  Individualisirens  der  Kranken  und  der 
Krankheiten  ist  zu  wenig  ausgebildet.  Die  Grobschmied-Naturen  werden 
ebenso  wie  die  Sclmeider-Naturen  behandelt  und  umgekehrt.  Ein  grosser  Theil 
der  letzteren  geht  dabei  zu  Grunde.  Das  Schematisiren  hat  über  das  Indivi- 
dualisiren  die  Oberhand  gewonnen,  ganz  besonders  auch  in  der  Elektrotherapie; 
es  ist  viel  bequemer. 

Achtens:  Schliesslich  kann  es  nicht  genug  gerügt  werden,  dass  kein 
klinisches  Universitäts-Institut  in  die  Lage  gesetzt  wird,  die  Elektricität  und 
deren  Wirkung  auf  den  menschlichen  Organismus  auf  breiter  Basis  zu  stu- 
diren,  um  die  errungenen  Fortschritte  dann  den  nach  Wissen  und  Können 
durstigen  Aerzten  mitzutheilen. 

1.  Die  Eigenschaften  der  verschiedenen  Stromarten. 

Die  zu  medicinischen  Zwecken  gebrauchte  Elektricität  wird  auf  drei- 
fache Weise  erzeugt:  durch  chemische  Action  von  Metallen  und  Flüssigkeiten  in 
den  sogenannten  Elementen  (galvanischer,  constanter  Strom),  —  durch  Induction, 
d.  h.  durch  die  Eigenschaft  eines  kurzen,  galvanischen  Stromes,  der  in  einem 
geschlossenen  Leiter  kreist  (primäre  Rolle),  in  einem  zweiten  geschlossenen 
Leiter  (secundäre  Rolle)  einen  ebenso  kurzdauernden  Strom  hervorzurufen, 
welcher  in  der  Summirung  der  einzelnen  Inductionsströme  uns  als  fara- 
disclier  oder  Wechselstrom  bekannt  ist,  —  durch  Influenz,  einen  ver- 
wickeiteren Vorgang  (vgl.  „EleUrophysik"),  zu  welchem  Zwecke  die  Influenz- 
maschine dient;  dieser  Strom  wird  als  franklinscher  Strom  oder  Span- 
nungsstrom bezeichnet. 

Diese  drei  Arten  der  Elektricität  haben  ganz  verschiedene  physikalische 
und  physiologische  Eigenschaften.  Um  von  den  physikalischen  zuerst  zu 
sprechen,  so  ist  der  galvanische  Strom  ausgezeichnet  durch  eine  relativ 
grosse  Elektricitätsmenge,  die  durch  eine  verhältnismässig  geringe  elektro- 
motorische Kraft  (Druck,  Spannung)  fortbewegt  wird.  Der  galvanische  Strom 
gleicht  einem  Wasserstrahl  von  ziemlich  grosser  Dicke,  welcher  langsam,  d.  h, 
unter  geringem  Druck,  aus  einer  Röhre  ausfliesst.  Ganz  anders  sind  die 
Eigenschaften  des  franklinschen  Stromes;  die  Elektricitätsmenge  des- 
selben ist  ausserordentlich  gering,  die  Kraft,  mit  der  sie  fortbewegt  wird,  un- 
geheuer gross;  sie  gleicht  einem  sehr  dünnen  mit  kolossaler  Kraft  aus  einer 
Röhre  ausgepressten  Wasserstrahl.  In  der  Mitte  zwischen  Beiden  steht  der 
faradische  Strom;  bezüglich  der  mitgeführten  Elektricitätsmenge  nähert 
er  sich  dem  galvanischen  Strom,  w^ährend  die  Spannung,  unter  welcher  jene 
fortbewegt  wird,  der  des  franklinschen  Stromes  ähnlich  ist. 

Entsprechend  diesen  physikalischen  Verschiedenheiten  sind  die  phy- 
siologischen Wirkungen  der  drei  Ströme  durchaus  verschieden,  eine 
Thatsache,  welche  merkwürdigerweise  auch  in  neueren  Lehrbüchern  der  Elektro- 
therapie nicht  gehörig  gewürdigt  wird.  Der  galvanische  Strom,  ohne 
grosse  Stromschwankungen  und  Wendungen,  passt  vorzugs- 
weise für  krankhafte  Zustände  mit  dem  Charakter  der  Erre- 
gung {Schmerzzustände,  Neuralgien^  Ermndungsvorgänge,  sogen.  Beschäftigungs- 
neurosen, nervöse  Ilagen-  und  Darmaffectionen).  Dabei  soll  gleich  erwähnt 
werden,  dass  es  Erkrankungen  gibt  mit  so  hochgradiger  Erregung  des 
Nervensystems,  dass  auch  die  Anwendung  des  galvanischen  Stromes  dabei  ver- 
boten werden  muss,  z.  B.  alle  Formen  von  epileptischen  und  hystero-epi- 
leptischen  Krämpfen.  Der  franklinsche  Strom  ist  in  Gestalt  der  fran- 
klinschen Funken  oder  der  dunklen  Entladung  das  stärkste  Reizmittel,  welches 

33* 


516  ELEKTEOTHERAPIE. 

die  Medicin  in  ihrem  Heilschatz  aufzuweisen  hat,  und  vorzüglich  geeignet  zur 
Beseitigung  von  alten  chronischen  nach  Erkältungen  und  Neiu-algien  zurück- 
bleibenden Anästhesien,  auch  alte  torpide  Muskelatrophien  werden  zuweilen 
noch  unter  der  Einwirkung  dieses  mächtigen  Reizes  gebessert.  In  der  Mitte 
zwischen  Beiden  steht  der  mit  der  Bürste  applicirte  faradische  Strom, 
ebenfalls  bei  cutanen  Anästhesien,  bei  torpider  schlecht  functionirender  Haut 
verwendbar. 

Faradischer,  sowie  galvanischer  Strom  können  indessen  auch  in  anderer  Form  ange- 
wandt werden,  indem  man  mit  der  Knopfelektrode  Mnskeln  nnd  Nerven  reizt.  Hierbei 
werden  die  Wirkungen  beider  ähnlich.  In  der  Elektrotherapie  sollte  diese  Methode  mir 
ganz  ausnahmsweise  angewandt  werden.  —  Die  Indicationen  für  das  franklinsche  Bad  und 
den  Büschelstrom  sollen  später  noch  besprochen  werden. 

Ueber  die  physiologischen  Wirkungen  (im  engeren  Sinne)  der  elektrischen 
Ströme  empfiehlt  es  sich  am  besten  mit  Stillschweigen  hinwegzugehen.  Trotz 
sehr  verdienstlicher  Arbeit  auf  diesem  Gebiete  ist  unsere  Kenntnis  der  physio- 
logischen Veränderungen,  welche  sich  unter  dem  Einfluss  der  Elektricität  im 
Organismus  vollziehen,  ganz  ausserordentlich  mangelhaft.  Wir  wissen  eben 
nur  das  all  ergröbste;  die  feineren  Vorgänge  sind  und  bleiben  unserem  wissen- 
schaftlichen Späherauge  verborgen. 

2.  Methoden  der  Galvanisation. 

Die  alte  Methode  der  Galvanisation  elektrisü'te  nach  dem  Gefühl  des 
Patienten,  d.  h.  der  Strom  wurde  so  lange  verstärkt,  bis  er  dem  Kranken 
mehr  oder  weniger  unangenehm  fühlbar  wurde.  Die  einzelnen  Sitzungen 
wurden  bis  auf  zehn  und  mehr  Minuten  ausgedehnt  und  täglich  viele  Wochen 
hindurch  wiederholt.  Wenn  auch  mit  dieser  Methode  in  den  Händen  genialer 
Aerzte  wie  R.  Remak,  Erb  u.  a.  in  manchen  Fällen  vortreffliches  geleistet  wurde, 
so  musste  sie  in  den  Händen  des  rohen  Praktikers  mehr  Schaden  wie  Nutzen 
stiften;  und  diesen  Vorwurf  muss  sich  diese  Art  roher  Elektrotherapie  wohl 
oder  übel  gefallen  lassen. 

Eine  Besserung  trat  ein  mit  der  Erkenntnis,  dass  der  elektrische  Strom 
kein  indifferentes  Mittel  ist,  dass  er  ebenso  gut  wie  Digitalis  und  Morphium 
in  übermässigen  Dosen  auch  schaden  kann.  Deshalb  stellte  man  die  Forderung 
auf,  —  am  energischsten  that  es  C.  W.  Müller  in  Wiesbaden  —  dass  der 
galvanische  Strom,  der  therapeutisch  zur  Anwendung  kommt,  genau  dosirt 
werden  müsse.  Diesem  Zwecke  dient  das  absolute  Galvanometer.  Ohne 
ein  solches  soll  überhaupt  keine  Galvanisation  vorgenommen  werden.*) 

Das  absolute  Galvanometer,  welches  daher  seinen  Namen  hat,  dass 
es  das  elektrische  Maass  in  den  Normen  des  absoluten  Maasssystems  (Meter- 
Gramm,  Secunde)  angibt,  (Conferenz  der  Elektriker  in  Paris  1871)  zeigt  die 
Stromstärke  in  Milliamperes  (MA)  an;  d.  h.  der  durch  das  Galvanometer 
hindurch  geleitete  Strom  lenkt  eine  Magnetnadel,  an  welcher  er  vorbeikreist, 
derart  von  ihrer  Ruhelage  ab,  dass  aus  der  Ablenkung  auf  diejenige  Elek- 
tricitätsmenge  geschlossen  werden  darf,  welche  in  der  Secunde  den  Schliessungs- 
bogen  (eventuell  den  menschlichen  Körper)  passirt. 

Wir  bezeichnen  eine  solche  Elektricitätsmenge  mit  Stromstärke  (Inten- 
sität, I)  und  wissen,  dass  dieselbe  einmal  von  der  elektromotorischen  Kraft 
der  Elemente  (E)  und  zweitens  von  dem  durch  den  menschlichen  Körper  ge- 
botenen Widerstand  (W)  in  dem  Verhältnis  I  —  =^  abhängig  ist.  Bei  der 
gleichen  Anzahl  von  Elementen  müssen  wir  also  verhältnismässig  mehr  Strom 
einschalten,  um  beispielsweise  0-5  MA  zu  erhalten,  wenn  der  W  des  Körpers 


*)  Das  erste  Lehrbuch,  welches  diese  Forderung    mit    aller  Consequenz  durchführte, 
war  das  1890  erschienene  von  Pierson-Sperling  (Leipzig,  Ambr.  Abel). 


ELEKTROTHERAPIE.  517 

gross  ist  (z.  B.  an  den  Kniegelenken)  und  weniger,  wenn  er  klein  ist 
(z.  B.  am  Gesicht).  Immerhin  wird  es  beim  Gebrauch  des  absoluten  Galvano- 
meters möglich;  z.  B.  bei  der  Galvanisation  des  nerv,  supraorb.  heute  soviel 
MA  einzuschalten  wie  morgen  und  zu  wissen,  dass  der  Nerv  von  der 
gleichen  Stromstärke  getroffen  worden  ist.  Durch  die  Angaben  in  MA 
lassen  sich  auch  die  Beobachtungen  verschiedener  Elektrotherapeuten  ohne 
weiteres  mit  einander  vergleichen.  Die  Einschaltung  der  erforderlichen  Zahl 
von  MA  geschieht  mittels  des  Rheostaten  (vgl.  „ Elektro medicin.  Apparate"). 

Indessen  ist  für  die  Dosirung  des  galvanischen  Stromes  noch  ein  anderes 
Moment  in  Rechnung  zu  ziehen.  Denkt  man  sich  nämlich  den  elektrischen 
Strom  aus  einer  grossen  Anzahl  einzelner  Stromfäden  bestehend,  so  ergibt  eine 
einfache  Betrachtung,  dass  es  nicht  gleichgiltig  sein  kann  für  den  dem  Strome 
ausgesetzten  Körpertheil,  ob  er  von  den  auf  eine  Elektrodenfläche  von  10  cm- 
zusammengedrängten  Stromfäden  getroffen  wird,  oder  ob  die  Stromfäden  die 
Gelegenheit  haben,  sich  über  eine  Fläche  von  100  und  mehr  cm^  auszudehnen. 

Wir  bezeichnen  dieses  Verhältnis  von  Stromstärke  zur  Elektrodengrösse 

mit  Stromdichte  (D),  und  drücken  dasselbe  durch  die  Form  eines  Bruches 

0'5 
aus.    "Wir  wissen  also  nunmehr,   dass,  wenn  es  heisst,   es  ist  mit  D  =  — 

50 

galvanisirt  worden,  dies  bedeutet,  dass  Elektroden  von  50  cm^  bei  einer  Strom- 
stärke von  0*5  MA  verwandt  worden  sind.  Nach  unserer  heutigen  Anschauung  ist 
der  physiologische,  bzw.  therapeutische  Effect  von  der  Stromdichte  abhängig;  jede 
Beschreibung  einer  elektrotherapeutischen  Behandlung  muss  die  Stromdichte 
angeben. 

C.  W.  Müllers  Methode  der  Galvanisation  besteht  darin,  dass  er  durch- 
schnittlich eine  Stromdichte  von  ^/^g  verwendet;  da  seine  Elektroden  in  der  Grösse  von 
9  bis  etwa  120  cm'^  wechseln,  so  müssen  dabei  Stromstärken  von  05  bis  7  MA  einge- 
schaltet werden.  ,  Eine  geringere  Stromdichte  kommt  bei  der  Galvanisation  des  Gehirns 
in  Betracht,  D  =^n  —  4^,  sowie  bei  allen  frischen,  acut  entzündlichen,  erethischen  Fällen, 
z.  B.  Neuritis,  frischen  Neuralgien,  Myelitis  und  Neurosen  mit  Reizerscheinungen,  während 
bei  torpiden  Processen,  alten  chronischen  Gelenksentzündungen  z.  B.,  sowde  bei  einer  ge- 
wissen Behandlung  der  Migräne,  welche  Müller  eingeführt  hat,  bis  auf  ,'f ,  ^'g,  ja  \  herunter- 
gegangen werden  kann. 

Soll  die  elektrische  Behandlung  einen  verhältnismässig  geringen  Reiz  ausüben,  dann 
muss  die  Behandlung  stabil  sein,  d.  h.  die  Elektroden  werden  dem  Kranken  an  den  ge- 
eigneten Stellen  aufgesetzt,  und  dann  wird  der  Strom  mittels  des  Rheostaten  eingeschlichen, 
d.  h.  langsam  verstärkt,  so  dass  er  allmählich  in  den  Körper  eindringt.  Hierbei  mag 
bemerkt  werden,  dass,  wenn  man  z.  B.  mit  20  Elementen  arbeitet  und  einen  mehr  oder 
w'eniger  grossen  Bruchtheil  derselben  in  den  Körper  hineinschicken  will,  dieser  Bruchtheil 
immer  mit  einem  Druck,  mit  einer  Spannung  von  20  Elementen  fiiesst,  also  von  etwa 
30  Volt,  ganz  gleich,  ob  ich  schliesslich  die  Stromstärke  auf  0"5  oder  20  MA  gesteigert  habe. 

Will  Müller  beispielsweise  bei  Galvanisation  des  Rückenmarks  mehrere  Punkte  treffen, 
so  lässt  er  eine  Elektrode  „wandern,"  d.  h.  nachdem  er  sie  ^ji  Minuten  über  dem  Halsmark 
gehalten,  schiebt  er  sie  auf  den  oberen  Theil  des  Brustmarks  herunter  und  nach  weiteren 
^/4  Minuten  auf  das  Lendenmark,  so  dass  dann  die  ganze  Sitzung  die  Zeit  von  3  x  ^U 
Minuten  in  Anspruch  nimmt.  Diese  Methode  des  „ stationsweise "  Elektrisirens  ist  bei  der 
Behandlung  von  Neuralgien,  insbesondere  der  Ischias  beliebt  und  auch  wirklich  empfehlens- 
werth.  Als  Ansatzpunkte  der  Elektroden  bei  der  letzteren  sucht  man  sich  die  Schmerz- 
druckpunkte auf. 

Nach  dem  Grundsatze  „breve,  leve,  saepe,  semper  in  loco  morbi"  wiederholt  Müller 
die  Sitzungen  häufig,  wohl  nicht  selten  sogar  täglich,  und  zwar  unter  Umständen  viele 
Monate  hindurch,  je  nach  der  Natur,  bzw.  der  Hartnäckigkeit  des  Leidens. 

Eine   bedeutende    Vereinfachung    von   Müller's   Methode   ist 

meine    eigene,    welche    ich    in    meinen     „Elektrotherapeutischen    Studien" 

(Leipzig,  Fernau,  1892)  beschrieben  habe.     Derselben  liegt  die  Thatsache  zu 

Grunde,  dass  schon  Ströme  von  0*5  MA  und  darunter  bei  einer  Stromdichte 

0'5 
von    -—  und  weniger  einen  grossen  therapeutischen  Einfluss  auszuüben  im 

0\J 


518  ELEKTROTHERAPIE. 

Stande  sind.  Demnach  beriilit  die  Methode  darin,  dass  die  Grösse  der  Elek- 
troden stets  dieselbe  bleibt,  nämlich  50  aw^,  und  die  Sitzungsdauer  die  gleiche, 
nämlich  eine  Minute,  während  die  Stromstärke  von  O'ö  bis  0*2  oder  sogar 
O'l  MA  wechselt.  Es  hat  einige  Mühe  gekostet,  die  Collegen  davon  zu  über- 
zeugen, dass  man  mit  dieser  Methode  wirklich  prächtige  therapeutische  Erfolge 
erzielt,  viel  bessere  wie  mit  der  alten.  Zuerst  wurde  dieselbe  von  vielen 
Seiten  ungeprüft  abgewiesen,  erst  in  der  letzten  Zeit  mehren  sich  die  Stim- 
men, welche  meine  Angaben  bestätigen.  Ich  selber  bediene  mich  aus- 
schliesslich meiner  Methode  und  bin  mit  meinen  therapeutischen  Erfolgen 
sehr  zufrieden. 


Bei  einem  Ueberblick  über  die  Methoden  der  Galvanisation  frappirt  uns 
deren  Verschiedenheit.  Die  früheren  Elektrotherapeuten  benutzten  sehr  starke 
Ströme,  so  dass  die  Kranken  oft  ach  und  weh  schrieen;  Müller's  Ströme 
waren  schon  kaum  fühlbar;  0"5  bis  0°1  MA  sind  es  nur  in  den  seltensten 
Fällen,  bei  sehr  empfindlichen  Individuen.  Und  dabei  rühmen  sich  alle 
elektrotherapeutischer  Erfolge!  Wie  reimt  sich  das  zusammen?  Lügen  sie 
alle,  oder  haben  sie  alle  Recht?  Sie  haben  alle  Recht! 

Soweit  ich  dieses  Gebiet  überschaue,  hat  man  es  heute  in  der  Elektro- 
therapie vorzugsweise  mit  zwei  maassgebendeuFactoren  zu  thun;  dieselben  be- 
treffen den  Kranken,  und  heissen:  Individualität  des  Kranken  und 
Individualität  der  Krankheit.  Der  beste  Elektrotherapeut  ist  der- 
jenige, welcher  beide  mit  Verständnis  zu  schätzen  weiss  und  danach  seine 
Maassnahmen  einrichtet. 

Da  die  Individualität  des  Kranken  sowohl  wie  die  der  Krankheit  theo- 
retisch als  etwas  einzelndastehendes  angenommen  werden  muss,  welches  nicht 
seines  gleichen  findet,  so  müsste  man  auch  theoretisch  zu  d^m  Schluss  be- 
rechtigt sein,  dass  eine  jede  Individualität  eine  absolut  individuelle  Be- 
handlung verlangt,  d.  h.  soviel  Kranke  und  Krankheiten,  soviel  verschiedene 
Elektrodengrössen,  soviel  verschiedene  Milliampere  u.  s.  w.  Die  Theorie  ist 
sicherlich  richtig,  aber  es  ist  aus  ganz  klarliegenden  Gründen  unmöglich, 
dieselbe  in  die  Praxis  umzusetzen;  wir  sind  gezwungen,  mit  einer  beschränkten 
Zahl  von  Apparaten  zu  arbeiten  und  müssen  mit  einer  Methode  zufrieden 
sein,  welche  der  grösseren  Anzahl  der  Fälle  zu  genügen  verspricht. 

Nehmen  wir  einmal  an,  wir  hätten  eine  grössere  Anzahl  von  Kranken 
• —  sagen  wir  dreissig  vor  uns,  welche  alle  an  Neuralgie  des  nerv,  supraorbitalis 
leiden,  und  dass  alle  diese  Neuralgien  mit  dem  galvanischen  Strom  geheilt 
werden  können.  Wenn  wir  in  diesem  Falle  die  Individualität  der  Krankheit 
ausschalten  dürfen,  so  bleibt  die  Individualität  des  Kranken  zu  berücksichtigen, 
und  es  müsste  nach  der  vorhin  aufgestellten  Theorie  für  jeden  Kranken  eine 
besondere,  eine  individuell  angepasste  Stromstärke,  Stromdichte,  Sitzungs- 
dauer u.  s.  w.  ausfindig  gemacht  werden,  um  einem  jeden  Falle  wissen- 
schaftlich zu  genügen  und  ihn  praktisch  so  schnell  wie  möglich  zu  heilen. 

Die  Klippe  der  Unmöglichkeit  können  wir  indess  umschiffen,  indem  wir 
uns  die  Sache  vom  physiologisch-biologischen  Standpunkte  aus  betrachten. 
Jede  Galvanisation  in  diesen  30  Fällen  haben  wir  als  einen  Reiz  des  nerv, 
supraorbitalis  anzusehen,  durch  welchen  der  frühere  neuralgische  Zustand  —  wir 
haben  angenommen,  dass  alle  diese  Fälle  mit  dem  galvanischen  Strom  zu  heilen 
sind  —  in  den  Normalzustand  verwandelt  wird.  Für  den  einen  Nerv  wird 
ein  geringerer,  für  den  anderen  ein  grösserer  am  zweckmässigsten  sein,  aber 
schliesslich  wird  die  Anpassungsfähigkeit  des  Organismus  den  elektrischen  Ein- 
griffen soweit  zu  Hilfe  kommen,  dass  auch  ein  relativ  zu  starker  oder  zu 
schwacher  Reiz  mit  einer  Normalstellung  der  Moleküle  beantwortet  wird,  in 
dem  einen  Falle  früher,  in  dem  anderen  später,  wie  es  sich  aus  meinen  Beob- 


ELEKTROTHERAPIE.  519 

achtungen  über  die  erste  und  zweite  Reaction  nacli  elektrotherapeutisclien 
Eingritfen  ergeben  hat.  Demnach  dürfte  man  nicht  fehlgehen,  wenn  man  für 
diese  30  Fälle  die  gleiche  Stromstärke,  bezw.  Stromdichte  zur  Anwendung  für 
berechtigt  hält.  Eine  Correctur  der  in  einem  Fall  zu  schwachen,  im  anderen 
Fall  zu  starken  Elektrisation,  kann  man  bei  guter  Beobachtung  der  Kranken 
dadurch  eintreten  lassen,  dass  man  die  elektrischen  Eingriife  mehr  oder  we- 
niger häufig  auf  einander  folgen  lässt. 

Aus  diesen  Betrachtungen  ergibt  sich,  dass  man  für  eine  grössere  An- 
zahl von  Kranken,  bezw.  von  Krankheits-Individualitäten  mit  dergleichen  Strom- 
stärke, bezw.  Stromdichte  auskommt;  es  fragt  sich  nur:  welches  ist  diese 
Stromstärke?  bezw.  zwischen  welchen  Grenzen  liegt  die  für  die  Elektrothera- 
pie verwendbare  Stromstärke? 

Nach  meinen  neuesten  Erfahrungen  muss  ich  entschieden  sagen,  dass 
eine  Stromstärke  von  0"5  bis  0-2  MA  fiü'  die  allermeisten  Fälle,  für  welche 
überhaupt  eine  galvanische  Behandlung  angezeigt  ist,  genügen  wird,  denn  es 
hat  sich  gezeigt,  dass  ebensowohl  der  nerv,  supraorbitalis,  wie  der  ischiadicus, 
wie  die  Magennerven  auf  diesen  anscheinend    sehr  geringen   Reiz    reagiren. 

Dabei  ist  es  durchaus  nicht  ausgeschlossen,  dass  für  diesen  und  jenen  Fall 
eine  grössere  Stromstärke  im  Sinne  von  MtJLLER  oder  sogar  der  alten  Elektro- 
therapeuten  durchaus  zweckmässig  ist  und  denselben  in  kürzerer  Zeit  heilt 
wie  der  schwache  Strom.  Es  gibt  eben  Grobschmied-  und  Schneidernaturen; 
was  die  ersteren  heilt,  bringt  den  letzteren  den  Tod.  Hierin,  glaube  ich,  liegt 
die  Erklärung  dafür,  dass  sowohl  sehr  starke  elektrische  Eingriffe  wie  ganz 
minimale  heilend  wirken  können. 

Im  allgemeinen  muss  ich  jedoch  nach  meiner  bisherigen  Erfahrung  die 
Meinung  vertreten,  dass  — ■  mit  wenigen  Ausnahmen  —  die  sehr  geringen 
Ströme  (0'5 — 0*2  MA)  dem  menschlichen  Organismus,  bezw.  dem  Zustand  der 
acut  oder  chronisch  krankhaft  veränderten  Organsubstanz  inclusive  Nerven, 
Muskeln  etc.  mehr  entsprechen  wie  die  starken,  in  dem  Sinne,  dass  die 
Grösse  des  Reizes  der  Intensität  der  Veränderung  mehr  adäquat  ist,  und  dass 
der  Organismus,  worauf  manche  Erscheinungen  hindeuten,  Vorrichtungen  be- 
sitzt, um  die  Wirkung  grösserer  Reize  zu  paralysiren,  ihr  Eindringen  in  den 
Organismus  zu  hindern,  durch  alarmirende  Symptome  die  Uebergrösse  des 
Reizes  für  den  Beobachter  zu  kennzeichnen. 

3.  Die  Behandlung  mit  dem  faradischen  Strom. 

Die  werthvollste  Anwendung  findet  der  faradische  Strom  vorzugsweise  in 
drei  Fällen: 

a)  Zur  localen  Reizung  von  Muskeln,  welche  aus  irgend  einem 
Grunde  atrophisch  geworden  sind,  insbesondere  bei  Druck-  und  Inactivitäts- 
atrophien,  welche  nach  festen  Verbänden  zurückzubleiben  pflegen.  In  solchen 
Fällen  hebt  sich  Volum-  und  Functionsfähigkeit  des  Muskels  ausserordentlich 
schnell  unter  dem  Einfluss  des  faradischen  Stromes,  jedoch  beachte  man  auch 
hierbei,  dass  die  kleinen,  bezw.  mittelstarken  Reize  die  besten  sind.  Zehn  bis  höch- 
stens fünfzehn  Contractionen,  die  in  jedem  der  gelähmten  Muskeln  hervorgerufen 
werden,  mögen  genügen,  besonders  in  der  ersten  Zeit  und  bei  schwächlichen 
und  älteren  Personen.  Sehr  empfehlenswerth  ist  diejenige  Art  der  Reizung, 
welche  unter  dem  Namen  des  „schwellenden  Stromes"  (Feommhold)  bekannt 
ist:  während  die  Elektroden  fest  am  Körper  sitzen,  die  eine  auf  einer  indif- 
ferenten Stelle,  z.  B.  dem  abdomen,  die  andere  auf  dem  zu  reizenden  Muskel, 
wird  der  anfangs  kaum  fühlbare  Inductionsstrom  durch  Hinüberschiel )en 
der  secundären  Rolle  über  die  primäre  bis  zur  Maximalcontraction,  bezw.  bis 
zur  Steigerung  des  Schmerzes  ins  unerträgliche  verstärkt,  dann  wieder  allmäh- 
lich ausgeschaltet,  aufs  neue  verstärkt  und  sofort  etwa  zehnmal  hinterein- 
ander für  jeden  Muskel. 


520  ELEKTROTHERAPIE. 

Die  zur  Reizung  dienende  Elektrode  sei  nicht  zu  klein,  etwa  20  cm'^ 
und  im  ersteren  Fall  an  eine  Untersuchungselektrode,  welche  beliebiges  Oeffnen 
und  Schliessen  des  Stromes  gestattet,  angeschraubt.  Man  bringe  alle  Theile 
des  Muskels  mit  dem  Strom  in  Berührung,  was  auch  zweckmässig  durch  Ueber- 
streichen  des  Muskels  mit  der  Elektrode  (labile  Behandlung)  geschieht. 

b)  Zur  allgemeinen  Faradisation.  Diese  zuerst  von  Beaed  und 
Rockwell  empfohlene  Behandlungsmethode  ist  ungemein  werthvoll  in  vielen 
Fällen  von  Neurasthenie,  besonders  solchen,  die  einen  mehr  torpiden  Cha- 
rakter haben  und  w^eniger  Reizerscheinungen  als  Zeichen  von  trägem  Verlauf 
des  Stoffwechsels  und  aller  Lebenserscheinungen  aufweisen.  Unter  Umständen 
eignen  sich  dafür  Reconvalescenten  nach  schweren  Krankheiten  oder  solche, 
die  durch  Ernährungsstörungen  bei  mangelhafter  Function  der  Verdauungs- 
organe stark  heruntergekommen  sind. 

In  einer  etwas  vereinfachten  Form  wende  ich  die  allgemeine  Faradisation 
so  an,  dass  die  indifferente  Elektrode  von  100  cm^  bald  auf  den  Bauch,  bald 
auf  die  Nates  gesetzt  wird,  w^ährend  man  mit  der  anderen  Elektrode  von 
20 — 30  cw^,  an  EEß'schem  Kugelgriff  festgeschraubt,  allmählich  einen  Körper- 
theil  nach  dem  anderen  bestreicht.  Die  Stromstärke  muss  an  den  verschie- 
denen Körpertheilen  wechseln,  z.  B.  am  Hals  geringer  sein  wie  an  den  Armen, 
am  Rücken  dürfen  relativ  die  stärksten  Ströme  angewandt  werden.  Die  vom 
Strom  getroffenen  Muskeln  sollen  in  leichte  Zuckungen  gerathen  und  die  Zeitdauer 
der  ersten  Sitzung  von  5  bis  6  Minuten  auf  alle  Körpertheile  gleichmässig  ver- 
theilt  werden.  Die  Sitzungen  mögen  in  der  Woche  zwei-  bis  höchstens  drei- 
mal stattfinden  und  die  Dauer  derselben  allmählich  auf  10  Minuten  und  mehr 
gesteigert  werden. 

c)  Zur  sogen,  faradischen  Pin  seiung  bei  Haut- Anästhesien,  die  nach 
Neuralgien  zurückbleiben,  bei  Durchnässung  und  Erkältung  der  Haut  zuweilen 
auftreten  und  sich  in  ausgedehntem  Maasse  besonders  an  den  unteren  Extre- 
mitäten bei  der  Tabes  und  verwandten  Erkrankungen  vorfinden.  Wenn  ich 
auch  in  solchen  Fällen  die  franklinschen  Funken  bei  weitem  vorziehe,  so  be- 
währt sich  doch  auch  die  faradische  Pinselung  häufig  so  gut,  dass  Rumpf  eine 
Methode  der  Behandlung  der  Tabes  darauf  gegründet  hat.  Danach  wird  der 
ganze  Körper,  ein  Körpertheil  nach  dem  anderen;  allmählich  der  Einwirkung 
der  faradischen  Bürste  unterzogen.  Der  Strom  muss  so  stark  sein,  dass  deut- 
liche Empfindung,  wenn  nicht  sogar  Schmerzgefühl  ausgelöst  wird. 

Auch  zur  Behandlung  von  frischen  Neuralgien,  z.  B.  der  Ischias,  verwen- 
det man,  zuweilen  in  recht  grausamer  Weise,  die  faradische  Bürste. 
V.  FßANKL-HocHWAET  hat  ciue  Doppelpinsel-Elektrode  construirt  zur  Behand- 
lung der  Trigeminus-Neuralgien.  Der  faradische  Strom  ist  besonders  im  Gesicht 
ganz  ausserordentlich  schmerzhaft;  ganz  abgesehen  davon,  gebe  ich  bei  Neu- 
ralgien dem  galvanischen  Strom  bei  weitem  den  Vorzug.  Die  Methode  wird 
späterhin  geschildert  werden. 

4.  Die  Behandlung  mit  dem  franklinschen  Strom. 

Am  häufigsten  kommen  folgende  beiden  Methoden  zur  Anwendung: 
a)  Das  frank  lins  che  Bad  mit  oder  ohne  Ableitung.  Der  Kranke  nimmt 
auf  dem  Isolirtisch  Platz,  mit  welchem  der  eine  Pol  der  Influenzmaschine  in 
Verbindung  gesetzt  ist  und  wird  nunmehr  zwei,  drei,  fünf  Minuten  lang  mit 
Elektricität  geladen.  Die  Entladung  vollzieht  sich  entweder  durch  die  um- 
gebende Luft,  oder  sie  wird  künstlich  bewerkstelligt  durch  eine  Spitzen-  oder 
Plattenelektrode  oder  durch  die  Hand  des  Arztes,  und  zwar  gewöhnlich  an 
denjenigen  Körperstellen  des  Kranken,  welche  der  Sitz  eines  Schmerzes  oder 
einer  Lähmung  sind.  Ist  die  ableitende  Elektrode  mit  dem  anderen  Pol  der 
Influenzmaschine  verbunden,  so  vollzieht  sich  der  Ausgleich  der  aus  dem  Körper 


ELEKTROTHERAPIE.  521 

des  Kranken  strömenden  Elektricität  mit  der  der  Elektrode  entströmenden 
unter  gewissen  Licliterscheinungen  und  man  spricht  dann  von  einem  Büscliel-, 
bezw.  einem  Funkenstrom.  Wird  der  Büschelstrom  auf  den  Kopf  dirigirt, 
so  hat  der  Kranke  ein  Gefühl,  welches  an  eine  Luft-  oder  Winddouche  erin- 
nert, daher  bezeichnet  man  diese  Art  der  Franklinisation  mit  dem  Namen  der 
franklinschen  Douche. 

Den  einzelnen  Sitzungen  wird  von  den  verschiedenen  Elektrothera- 
peuten  eine  verschiedene  Dauer  zugemessen;  manche  begnügen  sich  mit  fünf 
Minuten,  andere  bringen  es  auf  eine  halbe  Stunde.  Meine  eigenen  Erfah- 
rungen gehen  dahin,  dass  man  mit  ganz  geringen  und  kurzen  Einwirkungen 
mit  dem  franklinschen  Strom  die  besten  Erfolge  erzielt  —  ganz  analog  dem 
Verhalten  des  galvanischen  Stromes.  Es  hat  sich  mir  sogar  das  Bedürfnis 
herausgestellt,  die  Ladung,  welche  die  Influenzmaschine  bei  ganz  auseinander- 
gestellten Conductorkugeln  liefert,  noch  zu  verringern,  da  ich  beobachtet  habe, 
dass  diese  Ladung  auf  gewisse  feinorganisirte  Naturen  zu  intensiv  wirkt.  Zu 
diesem  Zweck  stelle  ich  die  Conductorkugeln  auf  eine  Entfernung  von  5  mm 
von  einander,  so  dass  bei  functionirender  Maschine  ein  fast  ununterbrochener 
Funken  überspringt.  Der  grösste  Theil  der  entwickelten  Elektricität  gleicht 
sich  so  durch  die  Conductoren  wieder  aus,  und  der  auf  den  Kranken  über- 
gehende Strom  ist  nur  ein  kleiner  Bruchtheil  des  Ganzen.  Will  man  ableitend 
wirken,  so  legt  man  die  Hand  auf  den  betreffenden  Körpertheil  des  Kranken, 
in  welchem  Falle  ein  leises,  durch  den  unterbrochen  überspringenden  Strom 
erzeugtes  Vibriren  gespürt  wird,  oder  eine  grossplattige  Elektrode,  welche  durch 
ein  langes  Kabel  mit  dem  Erdboden  in  Verbindung  steht.  Diese  Methode, 
welche  an  dieser  Stelle  meines  Wissens  zum  erstenmal  beschrieben  worden 
ist,  und  welche  ich  als  abgeschwächte  Franklinisation  bezeichnen 
möchte,  hat  mir  bei  allerhand  Schmerzzuständen  vortreflliche  Dienste  geleistet. 
Auch  ein  Fall  von  nervöser  Schwerhörigkeit,  welcher  mit  der  alten  Methode 
der  Franklinisation  lange  Zeit  behandelt  und  bedeutend  gebessert  worden  war, 
nunmehr  aber  einen  Stillstand  erfahren  hatte,  machte  unter  der  neuen  Me- 
thode plötzlich  wieder  erhebliche  Fortschritte. 

Für  die  Behandlung  mit  dem  franklinschen  Bade  und  den  eben  an- 
geführten Variationen,  welche  man  auch  alle  unter  dem  Namen  der  „all- 
gemeinen Franklinisation"  zusammenfassen  könnte,  eignen  sich  die  meisten 
der  Neurosen,  insbesondere  Hysterie  und  Neurasthenie,  und  alle  mehr  oder 
weniger  von  diesen  abhängige  Schmerzzustände.  Einen  bisher  kräftigen  Mann 
z.  B.  der  sich  geistig  überarbeitet  hat  und  an  Kopfschmerzen  leidet,  würde 
ich  2  Minuten  lang  dem  franklinschen  Bade  aussetzen,  von  welcher  Zeit  V2 
Minute  auf  die  Kopfdouche  entfallen  dürfte.  Eine  durch  Sorgen  aller  Art,  event. 
Blutverluste  oder  Krankheiten  in  dem  Ernährungszustand  stark  herabgekom- 
mene Frau  könnte  mit  1  Minute  langem  franklinschen  Bade  und  während 
dieser  Zeit  auf  alle  Körpertheile  geleiteten  Büschelstrom  behandelt  werden. 
Dagegen  würde  ich  bei  sehr  geschwächten  Individuen  und  alten  Neuralgien, 
Schmerzzuständen  aller  Art  u.  s.  w.  die  abgeschwächte  Franklinisation  gebrauchen. 
Die  Sitzungen  dürften  mit  Pausen  von  2  bis  3  Tagen  wiederholt  werden. 

h)  Die  franklinschen  Funken.  Während  den  eben  beschriebenen 
Methoden  der  Franklinisation  sämmtlich  die  Idee  des  franklinschen  Bades, 
d.  h.  einer  allgemeinen  Franklinisation  des  ganzen  Körpers  zu  Grunde  liegt, 
wobei  der  gleichfalls  verwandte  Funken-  oder  Büschelstrom  oder  die  ableitende 
Hand  nur  Nebenrollen  spielen,  werden  die  franklinschen  Funken  im  besondern 
dazu  verwandt,  um  entweder  in  torpiden  Muskelatrophien,  die  durch  Druck, 
Traumen,  Ueberanstrengung  u.  s.  w.  entstanden  sind,  den  Lebensprocess  an- 
zuregen, oder  um  Haut-Anästhesien,  wie  sie  nach  Durchnässungen  und  Er- 
kältungen entstehen,  nach  Neuralgien  zurückbleiben  oder  im  Gefolge  von  cen- 
tralen Nervenleiden  auftreten,  zu  beseitigen. 


522  ELEKTROTHERAPIE. 

In  den  genannten  Fällen  düiite  es  kaum  ein  besseres  Heilmittel  geben, 
wie  die  franklinsclien  Funken.  Ich  habe  es  in  einem  Falle  von  Atrophie  und 
Lähmung  des  Adductor  pollicis  der  rechten  Hand,  die  bei  einem  Schlosser  durch 
Druck  und  Ueberanstrengung  entstanden  war,  gesehen,  wie  durch  eine  energische 
locale  Funkenbehandlung,  die  bis  zu  6  und  mehr  Minuten  ausgedehnt  wurde, 
eine  locale  Entzündung  der  Haut  und  des  darunter  liegenden  Muskels  hervor- 
gerufen wurde,  die  sich  noch  zwei  Tage  nach  der  Franklinisation  durch  Röthe 
und  so  starke  Schwellung  auszeichnete,  dass  die  den  Adductor  pollicis  früher 
einnehmende  Grube  mehr  wie  ausgefüllt  erschien.  Dabei  war  die  Schwellung 
wenig  schmerzhaft  und  störte  das  Allgemeinbefinden  nicht.  Als  sie  sich  nach 
etwa  drei  Tagen  verloren  hatte,  zeigte  sich  die  Kraft  der  Hand  um  mehrere 
Grade  des  Dynamometers  erhöht.  Durch  mehrere  solche  in  langen  Zwischen- 
räumen erfolgte  energische  Reizungen  gelang  es  allmählich,  die  kranke  Hand 
zwar  nicht  bis  zur  normalen  Function,  aber  doch  bis  zur  Arbeitsfähigkeit 
zurückzuführen. 

5.  Wahl  der  Stromesart  und  Engelskjön's  Methode. 

Die  Gesetze  über  die  im  einzelnen  für  elektrische  Behandlung  überhaupt 
geeigneten  Krankheitsfall  anzuwendende  Stromesart  sind  noch  so  wenig  wissen- 
schaftlich festgestellt,  dass  schliesslich  ein  jeder  Elektrotherapeut  auf  die  eigene 
Beobachtung  und  Erfahrung  verwiesen  werden  muss.  In  welchen  Fällen  die 
Wahl  der  Stromesart  keinem  Zweifel  unterliegt,  das  soll  noch  im  nächsten 
Abschnitt  angegeben  werden;  aber  die  Schwierigkeit,  in  den  complicirten  chro- 
nischen Fällen  von  Neurasthenie,  Hirn-  und  Rückenmarkskrankheiten  das 
richtige  zu  treffen,  kann  durch  diese  Zeilen  kaum  vermindert  werden. 

Und  gesetzt  nun,  der  Locus  morbi  wäre  unzweifelhaft  erkannt  und 
bestimmt,  so  ergeben  sich  für  die  Wahl  der  Stromesart  noch  andere  Schwierig- 
keiten, die  durch  die  Ursache  bedingt  sind,  dass  die  centralen  Theile  des 
Organismus  in  ihrer  Beziehung  zum  elektrischen  Strom  zu  den  peripheren 
Theilen  in  einem  gewissen  Gegensatz  stehen.  Diese  Thatsache,  welche,  soviel 
ich  weiss,  zuerst  von  Engelskjöx  (Christiania)  präcisirt  worden  ist,  und  die 
jeder  beolDachtungsfähige  Elektrotherapeut  wieder  constatiren  kann,  hat  von 
Seiten  der  Physiologen  noch  gar  keine  Beachtung  gefunden,  und  dennoch  ist 
sie  im  höchsten  Maasse  derselben  werth. 

Ich  habe  einen  acuten  Fall  von  Schwäche,  An-  nnd  Parästhesien  der  unteren  Ex- 
tremitäten gesehen,  der  durch  Erkältung  entstanden  war  nnd  sich  durch  eine  einmalige 
Galvanisation  beider  Beine  (durch  das  Kniegelenk,  O'ö  MA  jederseits  1  Minute)  in  ganz  auf- 
fallender Weise  besserte.  Während  nunmehr  eine  abwartende  Behandlung  das  richtige  ge- 
wesen wäre,  event.  eine  Wiederholung  der  gleichen  Application  drei  bis  vier  Tage  später, 
elektrisirte  ich  am  zweiten  Tage  danach  die  Lendengegend  mit  0'2  stabil  eine  Minute, 
und  die  Folge  davon  war  eine  fast  sofortige  Verschlechterung  des  Zustandes,  welche 
späterhin  nur  sehr  schwer  wieder  gut  zu  machen  war.  Aehnliche  Fälle,  bei  denen  bei  an- 
scheinend centralem  Sitz  des  Leidens  eine  periphere  Galvanisation  erfolgreich  war,  könnte 
ich  in  grosser  Zahl  anführen,  aber  auch  das  umgekehrte  ist  der  Fall,  wie  schon  die  älteren 
Elektrotherapeuten,  insbesondere  Benedikt  beobachtet  haben. 

ExGELSKJöx  glaubte,  ein  ziemlich  sicheres  Criterium  für  die  richtige 
Stromwahl  in  einer  G  e  s  i  c  h  t  s  f  e  1  d  p  r  ü  f  u  n  g  gefunden  zu  haben.  Der  richtige 
Strom  sollte  das  Gesichtsfeld  verengern,  der  falsche  erweitern.  (Ärch.  f.  Psych. 
1884,  XV.  und  XVI.)  Ich  kann  die  Angaben  Engelskjön's  weder  bestätigen 
noch  bestreiten,  da  ich  keine  diesbezüglichen  Untersuchungen  gemacht  habe. 
Keinesfalls  genügen  so  oberflächliche  Nachprüfungen,  wie  sie  die  von  Ziejissen- 
sche  Schule  für  gut  befunden  hat,  um  so  langjährige  Arbeit  wie  die  von 
Engelskjön  zu  vernichten.  Die  Sache  hat  so  grosse  Wichtigkeit,  dass  eine 
erneute  Bearbeitung  der  Mühe  werth  wäre. 


ELEKTROTHERAPIE.  523 

B.  Specielle  Elektrotherapie. 

(Elektrotherapie  der  einzelnen  Krankheiten.) 

1.  Die  IVetiralgien. 

Es  ist  von  der  grössten  Wiclitigkeit,  die  Diagnose  der  Neuralgie,  d.  h.  einer 
nicht  auf  organischen  Processen  basirenden  Erkrankung  sicher  zu  haben.  Man 
vergesse  ja  nicht,  dass  im  Yerlaufe  der  Tabes  Symptome  vorkommen,  die  denen  der 
genuinen  Neuralgien  auf  ein  Haar  gleichen.  Auch  Hirn-  und  Rückenmarks-Tumoren, 
syphilitische  Osteophyten,  Diabetes  u.  s.  w.  können  ähnliche  Symptome  hervorbringen. 
Es  soll  damit  nicht  gesagt  sein,  dass  man  diese  symptomatischen  Neuralgien  nicht 
ebenso  wie  die  genuinen  in  der  zu  schildernden  Weise  behandeln  kann,  aber  die 
Prognose  ist  eine  schlechtere  ;  der  Gedanke,  dass  das  Grundleiden  die  Neuralgie 
unterhält,  muss  die  Auffassung  der  Wirkungsbreite  des  elektrischen  Stromes  be- 
herrschen. 

Die  für  die  Elektrotherapie  günstigsten  Neuralgien  sind 
diejenigen,  welche  nach  Durchnässungen  und  Erkältungen  ent- 
stehen, und  welche  Personen  betreffen,  die  im  allgemeinen  nicht 
zu  den  Constitutionell-Kranken  (Diabetes,  Syphilis,  Scrophulose  etc.)  zu 
rechnen  sind.  Liegen  indess  constitutionelle  Erkrankungen  vor,  so  müssen  die 
uns  zur  Verfügung  stehenden  betreffenden  anti-constitutionellen  Mittel  der  Elektri- 
cität  zur  Hilfe  kommen. 

a)  Die  Trigeminus-Keuralgie.  Der  häufigste  Sitz  derselben  ist  der  nerv, 
supraorbitalis  oder  der  nerv,  infraorbitalis.  Im  erstem  Falle  findet  man  zur  Zeit  der 
Anfälle  oder  auch  ausserhalb  derselben  einen  typischen  Schmerzdruckpunkt  an  der 
Stelle  der  Incisura  supraorbitalis,  bei  der  letztern  über  dem  Foramen  infraorbitale, 
durch  welches  der  Nerv  an  die  Oberfläche  des  Gesichtes  tritt.  Diese  beiden  Punkte 
wählt  man  zur  Application  der  differenten  Elektrode,  als  welche  ich  mir  bei  Neu- 
ralgien meist  die  Anode  ausersehe,  obwohl  auch  die  Kathode  oftmals  heilend  wirkt. 
Beide  Elektroden  haben  die  Grösse  von  50  cni^  und  müssen  biegsam  und  mit  weichem 
Moos  gepolstert  sein.  Die  Kathode  wird  dem  Nacken  angelegt,  die  Anode  dem  betreffen- 
den Theil  des  Gesichtes  angebogen  und  angedrückt,  so  dass  der  betreffende  Schmerzpunkt 
unter  ihr  liegt.  Alsdann  wird  bei  Einschaltung  von  3  bis  6  Elementen  die  Kurbel 
des  Rheostaten  so  lange  gedreht,  bis  das  Galvanometer  0'2  MA  anzeigt.  Die  Hand 
des  Arztes  bleibt  au  der  Kurbel,  um  bei  Yerminderung  des  Widerstandes  der  Haut 
den  Rheostaten  so  zu  dirigiren,  dass  die  Stromstärke  0-2  MA  nicht  überschreitet. 
Die  Sitzung    dauert  eine  Minute    und  wird  frühestens  am  zweiten  Tage  wiederholt. 

Bei  der  Reaction  des  Organismus  auf  den  elektrischen  Strom  kommt  es  vor, 
dass  eine  Steigerung  der  Beschwerden  eintritt  und  lange  Zeit  andauert.  Wenn  diese 
Steigerung,  welche  ich  in  meinen  „Elektrotherapeutischen  Studien"  als  „erste  Reac- 
tion" bezeichnet  habe,  länger  als  etwa  12  Stunden  gedauert  haben  sollte  oder  sogar 
an  dem  für  die  zweite  Sitzung  bestimmten  Tage  noch  bestehen  sollte,  so  thut  mau 
gut,  dieselbe  noch  einen  oder  zwei  Tage  aufzuschieben  und  dann  erst  wieder  in  der 
angegebenen  Art  zu  elektrisiren. 

Keinesfalls  darf  in  solchen  Fällen  eine  folgende  Elektri- 
sation  früher  ausgeführt  werden,  ehe  nicht  die  erste  Reaction  der 
vorhergehenden  Elektrisation  seit  geraumer  Zeit  (etwa  24  Stun- 
den) abgeklungen  ist.  Die  strenge  Befolgung  dieser  eine  genaue  Kranit en- 
Beobachtung  voraussetzenden  minutiösen  Regel  kann  nicht  dringend  genug  geratheu 
werden.  —  Die  Resultate  der  Galvanisationen  mit  stärkeren  Strömen  als  etwa  0*2 
(gegen  Modificationen  zwischen  0'5  und  0*1  MA  ist  nichts  einzuwenden),  wie  sie  die 
ältere  Methode  anwandte,  sind  bei  weitem  nicht  mit  den  therapeutischen  Erfolgen 
dieser  minimalen  galvanischen  Ströme  zu  vergleichen. 

h)  Die  Ischias.  Seltsamerweise  reagirt  auch  die  Ischias  in  den  allermeisten 
Fällen  ebenso  vorzüglich  auf  diese  minimalen  Ströme  von  etwa  0"2  MA,   am  besten 


524  ELEKTROTHERAPIE. 

in  den  acuten,  aber  ganz  zufriedenstellend  auch  in  den  chronischen  Fällen,  so  dass 
ich  bereits  in  der  Lage  gewesen  bin,  ganz  chronische  Fälle,  die  länger  wie  ein  Jahr 
gedauert  hatten,  in  verhältnismässig  kurzer  Zeit  mit  dieser  Methode  zu  heilen. 
Fast  unglaublich  klingen  diese  Angaben,  aber  es  mehi'en  sich  bereits  die  Be- 
stätigungen meiner  Beobachtungen  von  Seiten  anderer  Autoren ;  wer's  nicht  glaubt, 
enthalte  sich  lieber  aller  theoretischen  Erwägungen  für  und  wider  und  schreite  zum 
Yersuch. 

Als  Ansatzstelle  für  die  Anode  wähle  ich  mir  immer  die  Schmerzdruckpunkte 
aus,  welche  im  Verlauf  des  Ischiadicus  und  der  Peronei  zuweilen  in  grosser  Zahl 
gefunden  werden.  Man  mache  es  sich  zur  Regel,  in  jeder  Sitzung  die  Behandlung 
nur  eines  Schmerzpunlvtes,  welcher  gerade  der  bedeutendste  zu  sein  scheint,  vor- 
zunehmen. Der  galvanische  Strom  von  0'5  bis  O'l  MA  Stromstärke  und  einer  Minute 
Dauer  scheint  seltsamerweise  gerade  hinreichend  stark  zu  sein,  um  der  krankhaft 
veränderten  Nervensubstanz  einen  so  grossen  Anstoss  zu  geben,  dass  damit  eine 
normale  Lagerung  der  Moleküle  angebahnt  wird.  Die  erste  Modification  wird  viel- 
leicht durch  den  zweiten  elektrischen  Eingriff  befestigt  oder  verstärkt;  keinesfalls 
möge  man  auf  die  Idee  kommen,  im  weiteren  Verlauf  der  Behandlung  die  Strom- 
stärke zu  erhöhen.     Das  Gegentheil  wäre  richtiger. 

In  ganz  ähnlicher  Weise  behandelt  man  die  weniger  häufigen,  an  Brust,  Bauch 
und  den  Ober-Extremitäten  vorkommenden  Neuralgien:  auf  den  spontan  oder 
auf  Druck  am  meisten  schmerzenden  Punkt  setzt  man  die  Anode,  die  Kathode  auf  irgend 
einen  indifferenten  Körpertheil,  schaltet  2  MA  ein  und  lässt  den  Strom  eine  Minute  lang 
wirken. 

Der  Bereich  der  Wirksamkeit  dieser  Methode  erstreckt  sich  auch  auf  andere  schmerz- 
hafte Zustände,  welche  zwar  nicht  den  reinen  Charakter  der  Neuralgie  mit  den  Schmerz- 
intervallen u.  s.  w.  tragen,  aber  bezüglich  der  Entstehung  durch  rheumatische  Ursachen 
oder  durch  Ueberanstrengung  der  Theile  gewisse  Analogien  dazu  bieten.  Dazu  gehören  z.  B. 
alle  rheumatische  Affectionen  der  Kopfhaut,  bezw.  der  Kopfnerven,  derNerven 
des  Nackens  und  der  Schulter,  welche  in  dem  Register  der  schmerzhaften  Krankheiten 
eine  so  grosse  Rolle  spielen.  Wer  sich  die  eben  beschriebene  Methode  und  ihre  innere  Be- 
deutung eingeprägt  hat,  kann  bei  der  Behandlung  dieser  Zustände  kaum  einen  Fehlgriff 
thun.  Sollten  sich  die  schwachen  galvanischen  Ströme  einmal  nicht  bewähren,  so  gehe  man 
zum  franklinschen  Bad  über  und  lasse  den  Büschelstrom  etwa  eine  Minute  auf  den  schmer- 
zenden Theil  einwirken. 

Die  schmerzhaften  Affectionen  in  Nerven,  Muskeln,  Bändern,  welche  nach  Ueber- 
anstrengung in  Folge  des  Hebens  zu  schwerer  Lasten  oder  durch  einseitige  Hantirung  mit 
denselben  Instrumenten  (Plätteisen,  Hammer,  Federhalter,  Violinbogen)  auftreten,  also  die 
sensiblen  Formen  derjenigen  Zustände,  welche  man  als  coordinatorische  Beschäftigungs- 
neurosen bezeichnet,  sind  gleichfalls  dankbare  Objecte  für  die  Behandlung  mit  diesen,  sehr 
schwachen  Strömen.  Man  hüte  sich,  die  Elektrisationen  zu  schnell  auf  einander  folgen  zu 
lassen,  und  mache  lieber  Pausen  von  1,  2  und  mehr  Tagen  zwischen  den  einzelnen 
Sitzungen. 

Es  ist  bereits  erwähnt  worden,  dass  es  der  Mühe  werth  ist,  auch  die  sympto- 
matischen Neuralgien  und  neuralgiformen  Schmerzen  z.  B.  bei  der  Tabes  der  gleichen 
Behandlung  zu  unterziehen.  Ich  habe  in  dieser  Beziehung  prächtige  Erfolge  zu  verzeichnen, 
die  mir  früher  unerhört  erschienen  wären.  Sobald  es  gut  geht,  setze  man  für  einige 
Zeit,  etwa  acht  bis  zehn  Tage,  die  Elektrisationen  aus  und  beginne  dann  vorsichtig  von 
neuem.  Zur  Faradisation  mit  der  Bürste,  etwa  nach  der  Methode  von  Frankl-Hochwart,  die 
man  u.  a.  in  meiner  Elektroteraphie  beschrieben  findet,  kann  ich  nur  dann  rathen,  wenn 
die  Galvanisation  und  Franklinisation  fehlgeschlagen  haben  sollten  ;  immerhin  hat  auch 
diese  Methode  viel  für  sich.     Duchenne  leistete  mit  ihr  ausserordentliches. 

2.  Die  peripheren  Lähmungen. 

Die  grössere  Leistungsfähigkeit  der  schwachen  galvanischen 
Ströme  (0"5 — 0'2  MA)  bei  den  peripheren  Lähmungen  gegenüber  den 
früher  gebrauchten  stärkeren  Strömen  (ro  MA  und  mehr)  darf  ins- 
besondere für  die  frischen  Fälle  als  erwiesen  betrachtet  werden; 
für  die  alten  torpiden,  welche  sich  selbst  überlassen  waren,  werden 
stärkere  Ströme  zweckmässiger  sein,  für  diejenigen  alten  Fälle 
aber,    welche    von    Anfang    an     eingreifenden    Elektrisations- ■  und 


ELEKTROTHERAPIE.  525 

Massagecuren  unterzogen  wurden,  wird  sich  vielleicht  die  Noth- 
wendigkeit  der  Anwendung  noch  geringerer  Ströme  herausstellen. 
Bei  ganz  frischen  Fällen,  ganz  gleich,  ob  dieselben  durch  ein  Trauma  (Radialis- 
vulgo  Schlaflähmung,  Lähmung  nach  Schulterluxation,  durch  feste  Verbände,  Wunden 
u.  s.  w.  oder  durch  rheumatische  Einflüsse  (rheumatische  Facialislähmung)  oder 
durch  Intoxication  (Bleilähmung)  entstanden  sind,  kann  vor  einer  rigorosen  Behand- 
lung, ganz  gleich,  ob  dieselbe  mit  dem  schmerzhafte  Zuckungen  auslösenden  fara- 
dischen Strom  oder  von  den  rohen  Händen  eines  übereifrigen  Masseurs  ausgeführt 
wird,  gar  nicht  genug  gewarnt  werden.  Ich  habe  eine  Reihe  von  Lähmungen  des 
Plexus  brachialis  nach  Schulterluxation  und  festem  Yerband  gesehen,  welche  sofort 
nach  Beseitigung  des  Verbandes  eine  energische  Massage  erfuhren.  Nunmehr  ist 
Jahr  und  Tag  darüber  hingegangen,  die  betreffenden  Glieder  sind  immer  noch  ge- 
lähmt und  werden  es  wahrscheinlich  auch  bleiben ;  bisher  hat  mir  auch  der  elek- 
trische Strom  in  solchen  künstlich-schwersten  Fällen  seine  Hilfe  versagt.  Dagegen 
sah  ich  bei  einem  Officier,  der  sich  durch  Sturz  mit  dem  Pferde  eine  Luxation  des 
linken  Schultergelenks  und  eine  totale  Lähmung  des  linken  Armes  zugezogen  hatte, 
imter  der  nachher  zu  beschreibenden  sehr  gelinden  galvanischen  Behandlung  inner- 
halb von  vier  Wochen  (fünf  Wochen  nach  dem  Sturz)  eine  derartige  Besserung  der 
Function,  dass  die  linke  Hand,  die  am  ersten  Tage  das  Dynamometer  nicht  zu 
bewegen  vermocht  hatte,   125°  drücken  konnte. 

Etwas  ähnliches  ist  von  den  rheumatischen  Facialisparesen  zu  sagen. 
Hierbei  wird  gewöhnlich  nicht  massirt  sondern  elektrisirt.  Der  alte,  staubige  Induc- 
tionsapparat  wird  hervorgeholt,  und  Arzt  und  Patient  haben  ihre  Freude  daran, 
wenn  die  Muskeln  recht  energisch  zucken.  Einer  geringen  Besserung  in  den  näch- 
sten Tagen  folgen  bald  Schmerzen  und  eine  Verschlechterung  der  Function ;  der 
Zustand  ist  schlimmer  wie  je.  Mögen  doch  diese  Zeilen  zur  Warnung  dienen  vor 
solchen  schweren,  gar  nicht  zu  verantwortenden  Eingriffen.  Es  darf  nicht  in  Abrede 
gestellt  werden,  dass  sich  gewisse  dieser  Fälle  auch  für  die  Behandlung  mit  dem 
faradischen  Strom  eignen,  und  ein  geschickter  Elektrotherapeut  wird  sicherlich  auch 
damit  seine  Erfolge  haben.  Mein  Rath  geht  indessen  dahin,  den  faradischen  Strom 
bei  Facialislähmungen  ganz  bei  Seite  zu  lassen  und  sich  der  folgenden  Me- 
thode einer  stabil-labilen  Galvanisation  zu  bedienen: 

Ist  die  gelähmte  Gesichtshälfte  deutlich  entzündet,  oder  zeigt  sie  durch  spon- 
tane oder  Druck-Schmerzhaftigkeit  kleinere  tieferliegende  Entzündungen  an,  so  em- 
pfiehlt sich  eine  stabile  Behandlung  des  Facialis-Stammes  unterhalb  der  Ohrmuschel: 
Dort  erhält  die  Anode  ihren  Platz,  die  Sitzung  dauert  bei  0-2  MA  eine  Minute  und 
wird  nach  zwei  Tagen  wiederholt.  Sind  alle  Reizerscheinungen  geschwunden,  so 
kann  man  allmählich  zu  einer  labilen  Behandlung  übergehen,  und  zwar  derart,  dass 
man  die  Kathode  von  50  cm ^  auf  das  geschlossene  kranke  Auge  setzt  (die  Anode  ruht 
im  Nacken),  einen  Strom  von  0'2  MA  einschaltet  und  dann  einige  langsame,  kreis- 
förmige Striche  über  dem  Auge  und  dessen  Umgebung,  Stirn  und  Wange  ausführt. 
Die  Sitzung  dauert  eine  Minute  und  wird  mit  Pausen  von  2  Tagen  wiederholt. 

Auf  diese  Weise  habe  ich  viele  Facialisparesen  in  sehr  kurzer  Zeit  heilen  gesehen. 
Erwähnen  muss  ich  dabei,  dass  ich  es  in  neuester  Zeit  absichtlich  unterlasse,  der  Behand- 
lung eine  elektrodiagnostische  Untersuchung  vorauszuschicken,  weil  ich  die  Erfahrung  ge- 
macht habe,  dass  der  mit  jener  verbundene  starke  Reiz,  welcher  die  kranken  Nerven  trifft, 
auf  den  Gang  der  Heilung  einen  unheilvollen  Einfluss  ausübt.  Vielleicht  ist  es  sogar  nicht 
unberechtigt,  die  Frage  auf  zuwerfen,  ob  nicht  manche  jener  Fälle  von  schwersten  Formen 
der  Entartungsreaction  ein  Kunstproduct  zu  eifriger  elektrodiagnostischer  Untersuchungen 
sein  könnten ;  ich  habe  nach  ganz  bestimmten  Erfahrungen  grosse  Neigung,  diese  Frage 
mit  „ja"  zu  beantworten. 

Die  gleiche  Methode  der  stabil -labilen  Galvanisation  passt  für  die  oben 
angeführten  Formen  der  Lähmung  an  den  Extremitäten  ;  die  Anode  wird  am  besten 
dem  Haupt-Nervenstamm  oder  dem  Theil  des  Rückenmarks  aufgesetzt,  zu  welchem 
das  zu  behandelnde  kranlie  Nervengebiet  gehört.  Gegenüber  dieser  Methode  der 
Galvanisation  halten  andere  Methoden  der  Faradisation  und  Franklinisation,  wie  sie 


526  ELEKTROTHERAPIE. 

bei  den  peripheren  Lälimungen  angewandt  wurden  und  werden,  bezüglicli  der  Wirli- 
samkeit  keinen  Vergleich  aus.  Sollte  man  sich  doch  zu  deren  Anwendung  versucht 
fühlen,  so  halte  man  jedenfalls  an  dem  Princip  dieser  Methode  fest :  sehr  schwache 
und  kurze  Ströme,  seltene  Sitzungen. 

3.  Die  koordinatorischen,  sogenannten  Bescliäftigungsneurosen. 

Die  Ursachen  dieser  Neurosen  und  ihre  verschiedenen  Erscheinungsformen  müssen 
als  bekannt  vorausgesetzt  werden.  Auch  dies  darf  wohl  als  bekannt  gelten,  dass 
diese  besagten  Neurosen  als  eine  Crux  medicorum  aufgefasst  wurden,  welche  gewöhn- 
lich allen  Behandlungsmethoden  trotzten,  und  dass  eine  gewisse  Laienkunst  sich  aus- 
gebildet hat,  welche  durch  Gymnastik  und  Massage  respectable  Erfolge  in  diesen 
Fällen  erzielt. 

Der  Elektricität  konnte  man  bisher  bezüglich  ihrer  Wirksamkeit  bei  Beschäf- 
tigungsneurosen wie  Schreibkrampf  u.  dgl.  wenig  rühmliches  nachsagen.  Umso 
grösser  ist  meine  Freude,  diesen  unscheinbaren,  sehr  schwachen  galvanischen  Strömen 
auch  bei  diesen  Leiden  eine  ausserordentliche  Leistungsfähigkeit  nachrühmen  zu 
können.  Man  halte  sich  ganz  an  die  eben  geschilderte  Methode,  und  lasse  sich 
nicht  zu  stärkeren  Eingriffen  verführen.  Gerade  in  den  sehr  schwachen  Reizen  liegt 
das  Geheimnis  der  Wirkung.  Eine  Enthaltung  von  der  gewohnten  Beschäftigung, 
welche  die  Krankheit  hervorgebracht  hat,  ist  dem  Patienten  jedenfalls  zu  empfehlen. 

4.  Gewisse  Magenaffectionen. 

Die  Methode  der  Behandlung  ist  die:  Anode  von  50 cw^  über  dem  Magen, 
Kathode  gegenüber  auf  der  unteren  Brustwirbelsäule,  0'5 — 0'2  MA,  eine  Minute, 
einen  bis  zwei  Tage  Pause  zwischen  den  einzelnen  Sitzungen.  Die  Wirkung  dieser 
Behandlung  bei  passenden  Fällen  ist  überraschend.  Leider  ist  es  mir  bis  heute  nicht 
möglich,  ganz  bestimmte  Bilder  von  Magenerkrankungen  auszumalen,  für  welche  der 
galvanische  Strom  angezeigt  ist;  dieses  ganze  Gebiet  bedarf  sehr  der  Erforschung; 
jeder  damit  zu  behandelnde  Fall  muss  vorher  bezüglich  des  Chemismus  und  der  Ver- 
dauungsfälligkeit des  Magens  untersucht  werden,  um  allmählich  eine  Uebersicht  da- 
rüber zu  bekommen,  in  welchen  Fällen  sich  dieser  galvanische  Strom  wirksam  erweist 
und  in  w^elchen  nicht. 

Vor  der  Hand  möchte  ich  rathen,  den  galvanischen  Strom  in  der  geschilderten 
Weise  in  folgenden  Fällen,  und  zwar  vor  allen  anderen  Mitteln  anzuwenden: 

1.  Bei  leichten  Verdauungsstörungen  nervöser  Natur,  ohne  Veränderung  des 
Chemismus,  Magendrücken  bei  geringster  Nahrungsaufnahme,  Luftaufstossen,  Parästhe- 
sien   des  Magens, 

2.  bei  Neuralgien  und  neuralgiformen  Schmerzen,  zu  versuchen  auch  bei  den 
Crises  gastric_[ues  der  Tabüver, 

3.  bei  allen  Atonien  der  Magen-  und  Darm-Musculatur  bei  den  verschiedensten 
Formen  der  Magen-  und  Darm-Ektasien,  wie  sie  bei  Viel-Essern  und  -Trinkern, 
nach  acuten  Magen-  und  Darrakrankheiten,  Typhus,  Ruhr  u.  s.  w.  vorkommen.  — 
Die  Erfolge,  welche  ich  bei  den  genannten  Erkrankungen  mit  dem  galvanischen 
Strom  erzielt  habe,  gehören  zu  den  schönsten,  die  mir  die  Elektrotherapie  überhaupt 
geboten  hat.  Liegt  einer  Obstipation  eine  Darm-Atonie  zu  Grunde,  so  kann  auch 
diese  durch  die  winzigen  galvanischen  Eingriffe,  oft  in  wenigen  Wochen,  gehoben 
werden. 

Es  muss  hierbei  noch  bemerkt  werden,  dass  Störungen  wie  die  eben  genannten 
in  dem  Gesammtbilde  der  Neurasthenie  vorkommen ;  man  thut  wohl  auch  nicht  Un- 
recht, dieselben  als  neurasthenische  Symptome  zu  bezeichnen.  Thatsächlich  liegt  in- 
dessen das  Verhältnis  nicht  selten  so,  dass  in  Magen  und  Darm  die  auch  oft  noch 
so  unscheinbare  Primärkrankheit  steckt,  welche  den  gewohnten  robusten  Mitteln,  die 
gegen  solche  Leiden  gewöhnlich  angewandt  werden,  mit  Hartnäckigkeit  trotzt,  aber 
gegen  diese  feinen  galvanischen  Ströme  vortrefflich  reagirt.  So  habe  ich  neulich 
noch  ein  Bild  der  Neurasthenie,  welches  seit  einer  vor  4  Jahren  durchgemachten 
schweren  Ruhr   bestand,    und   welches   von    Seiten   der  Digestionsorgane    leicht  ein- 


ELEKTROTHERAPIE.  527 

tretende  Dj'spepsie,  Ueberempfindliclikeit  gegen  gewisse  Speisen  und  Getränke,  be- 
sonders gegen  Alkoholika,  zuweilen  Magendrücken,  Ructus,  unregelmässigen  Stuhl, 
meist  Obstipation,  öfters  mit  Diarrhoe  abwechselnd,  darbot,  unter  diesen  minimalen 
Strömen,  auf  Magen  und  Darm  angewandt,  in  wenigen  Wochen  in  den  Hauptzügen 
verschwinden  gesehen.  Ohne  besondere  Behandlung  schwand  gleichzeitig  der  Kopf- 
druck, über  den  der  Kranke  geklagt  hatte,  das  lästige  Ohrensausen,  die  Empfindlichkeit 
der  Augen  gegen  helles  Licht  und  einige  andere  Symptome,  welche  wohl  als  reflec- 
torisch  gedeutet  werden  müssen. 

5.  Die  Neurasthenie  und  einige  Symptome  der  Neui-asthenie. 

Es  gibt  eine  Elektrisationsmethode,  welche,  ähnlich  der  Hydrotherapie,  die 
Neurasthenie  als  Ganzes  auffasst  und  sie  auch  als  Ganzes  behandelt :  das  ist  die 
allgemeine  Faradisation.  Die  Art  ihrer  Anw^endung  ist  bereits  auf  p.  520 
beschrieben  worden.  Besonders  schlechtgenährte  oS^eurastheniker  mit  schlaffer  Haut 
und  Muskulatur  und  träger  Verdauung  passen  für  die  allgemeine  Faradisation,  bei 
welcher  ohne  Anstrengung  des  Willens  von  Seiten  des  Kranken  die  Muskeln  in 
Function  gesetzt  werden,  wodurch  eine  energische  Anregung  der  Circulation  und  des 
Stoffwechsels  veranlasst  wird. 

Aber  auch  auf  Neurastheniker  anderer  Constitution  mit  anscheinend  guter 
Ernährung  wirkt  die  allgemeine  Faradisation  zuweilen  vortrefflich,  so  dass  bei  ihrem 
Einfluss  auf  die  Störungen  im  Centralnervensystem  einige  Momente  mitspielen  müssen, 
welche  unserem  forschenden  Auge  verborgen  sind.  Vorläufig  helfen  wir  uns  damit, 
dass  wir  solche  unerklärlichen  Wirkungen  auf  Reflexvorgänge  zurückführen,  die  von 
dem  elektrischen  Strom  in  den  Nervenendigungen  der  Haut  und  der  Muskeln  aus- 
gelöst und  weiter  getragen  werden. 

Bei  allen  subjectiven  Störungen  des  Wohlbefindens,  welche  w'ii'  als  neura- 
sthenische  Symptome  zu  bezeichnen  gewohnt  sind,  müssen  wir  uns  stets  die 
Frage  vorlegen,  ob  dieselben  nicht  auf  ein  Grundleiden  zurückgeführt  w^erden  können. 
Es  ist  dies  schon  vorhin  an  einem  Beispiel  gezeigt  worden.  Mancher  Kopfschmerz 
widersteht  jeder  elektrischen  Behandlung,  w^eil  er  ein  Reflexsj'^mptom  von  Seiten  des 
Magens  oder  bei  Frauen  von  den  Genitalorganen  ist.  Lassen  sich  solche  Beziehungen 
nicht  auffmden,  hat  man  es  also  mit  einem  wie  auch  immer  gearteten  Kopfschmerz 
zn  thun,  der  etwa  durch  Ueberanstrenguug  derjenigen  Theile  entstanden  ist,  in  welche 
man  den  Sitz  des  Leidens  verlegt,  so  wird  eine  Galvanisation  des  Kopfes  in  der 
bekannten  Weise  —  Anode  im  Nacken,  Kathode  auf  der  Stirn,  je  nach  Lage  von  Schmerz- 
punkten event.  wechselnd  —  vortreffliche  Dienste  thun.  Oft  genügt  dann  schon  eine 
einzige  Galvanisation,  um  das  üebel  auf  lange  Zeit  zu  verscheuchen. 

Findet  man  für  die  Schlaflosigkeit  keine  besondere  Ursache,  so  kann 
man  die  „Galvanisation  am  Halse"  versuchen,  indem  man  bei  0'5 — 0"2  MA 
die  Anode  im  Nacken,  die  Kathode  (50  cm^)  vorn  am  Halse  aufsetzt.  Ich  habe  Fälle 
gesehen,  wo  dieses  Mittel  vortrefflich  wirkte. 

Sehr  wirksam  finde  ich  auch  diese  schwache  Galvanisation  bei  jener  Erregung 
des  Herzens,  welche  als  Herzklopfen  (nervöses  Herzklopfen)  dem  Krauken  un- 
geheuer lästig  wird.  0^2  MA  ist  für  diesen  Fall  schon  fast  zuviel;  Die  Anode  steht 
im  Nacken,  die  Kathode  über  dem  Herzen;  ja  keine  zu  schnell  auf  einander  folgende 
Sitzungen!  Jedoch  soll  hier  nochmals  darauf  aufmerksam  gemacht  werden,  dass  die 
Herzpalpitationen  nicht  selten  ein  Reflexsymptom  von  Seiten  der  kranken  Digestions- 
organe sind. 

Was  die  Impotenz  anlangt,  so  mag  man  in  denjenigen  Fällen,  wo  nach 
jahrelanger  Masturbation  Schlaff'heit  von  Penis  und  Scrotum,  sowie  eine  mehr  oder 
minder  ausgeprägte  Anästhesie  eines  Theils  dieser  Organe  vorliegt,  die  Galvanisation, 
die  gelinde  faradische  Bürste,  die  abgeschwächte  P'ranklinisation  (vgl.p.  521)  gebrauchen. 
Das  wichtigste  indess  scheint  mir  in  solchen  Fällen  die  körperliche  und  geistige 
Diätetilv,  welche  dem  Kranken  anzuempfehlen  ist.  Nach  jahrelangen  Excessen  in 
venere   längere    Enthaltsamkeit,    vorsichtige    Wahl  des  Gegenstandes  der  Liebe,  der 


528  ELEKTROTHERAPIE. 

Zeit  und  des  Ortes  des  Liebesgemisses.  Es  gibt  unendlich  viele  junge  Leute,  und 
ich  rechne  dieselben  sogar  zu  den  feiner  organisirten,  denen  es  unmöglich  ist,  mit 
der  ersten  besten  Prostituirten,  die  sie  auf  der  Strasse  finden,  den  Coitus  zu  voll- 
führen. Geistig  sehr  occupirte  Leute  sind  häufig  psychisch  impotent  —  man  sagt, 
Newton  wäre  es  gewesen.  Nicht  jeder  Ort,  nicht  jede  Tageszeit  gibt  die  zur  Be- 
gattung erforderliche  Stimmung.  Man  suche  seine  diesbezügliche  individuelle  Anlage 
zu  erforschen  und  handle  danach!  Der  Arzt  kann  in  solchen  Fällen  mehr  durch  seinen 
Kath  als  durch  seine  Mittel  wirken,  wenngleich  ich  sagen  muss,  dass  ich  einige  Fälle 
kenne,  in  denen  die  Elektrisation  den  Kranken  vortreffüche  Dienste  geleistet  hat. 

6.  Gehirn-  und  Rückenniarkskranklieiten. 

Nach  meinen  Erfahrungen  ist  die  Elektricität  immerhin  noch  eines  der  besten 
Mittel,  welche  wir  kenneu,  bei  diesen  Krankheiten.  Aber  nicht  dringend  genug 
kann  ich  vor  einer  übertriebenen  Anwendung  derselben  warnen;  besonders  die  direct 
auf  Gehirn  oder  Rückenmark  applicirten  Ströme,  seien  sie  galvanisch,  faradisch  oder 
franklinisch;  sind  mit  grösster  Vorsicht  zu  gebrauchen.  Eine  einzige  unbedachte  zu 
starke  Elektrisation  kann  mehr  schaden,  als  eine  halbjährige  Behandlung  nachher 
wieder  gut  zu  machen  im  Stande  ist. 

Vor  einiger  Zeit  behandelte  ich  eine  Dame  mit  ausgesprochener  Tabes.  Sie 
litt  besonders  an  sehr  starken,  lancinirenden  Schmerzen  in  den  Beinen  und  einem 
unsicheren,  ataktischen  Gang.  Ich  wandte  die  Galvanisation  durch  beide  Kniee  an 
und  hatte  die  Freude,  dass  die  Schmerzen  bereits  nach  den  ersten  Sitzungen  auf- 
hörten. Obwohl  die  Patientin  in  Folge  dessen  bessere  Nächte  hatte,  so  war  ihr 
Allgemeinbefinden  doch  nicht  so  wie  ich  es  wünschte,  und  ich  beschloss,  demselben 
durch  ein  franklinsches  Bad  (vgl.  p.  520)  zu  Hilfe  zu  kommen.  Dasselbe  dauerte 
einschliesslich  einer  kurzen  Anwendung  des  Büschelstromes  auf  den  ganzen  Körper 
zwei  Minuten.  Wenige  Stunden  nach  dieser  unglücklichen  Franklinisation  stellten 
sich  die  alten  Schmerzen,  welche  bereits  gegen  vier  Wochen  ausgeblieben  waren,  mit 
vorher  nicht  gekannter  Heftigkeit  wieder  ein.  Die  Patientin  musste  das  Bett  hüten, 
litt  unsäglich  und  durfte  sich  erst  nach  etwa  acht  Tagen  das  Zugeständnis  machen, 
dass  sie  die  Attaque  überwunden  hätte.  Aehnliche  Fälle  mögen  wohl  öfters  in  der 
Praxis  der  Elektrotherapeuten  und  der  praktischen  Aerzte  vorkommen.  Wie  viele 
der  Fälle,  die  uns  als  schreckliche  Leiden  imponiren,  mögen  durch  zu  robuste  ärzt- 
liche Eingriffe  künstlich  entstanden  sein!    Also  Vorsicht! 

Die  erwähnte  Dame,  welche  schwächlich  und  offenbar  sehr  elektrosensitiv  ist, 
behandle  ich  nunmehr  mit  Galvanisation  der  Kniee,  die  etwa  alle  acht  Tage  vor- 
genommen wird,  und  schiebe  hin  und  wieder  eine  abgeschwächte  Franklinisation  ein. 
Auf  diese  W^eise  hebt  sich  ihr  Allgemeinbefinden  und  Gehfähigkeit  von  Woche  zu  Woche 
und  ich  darf  wohl  schliesslich  auf  ein  relativ  befriedigendes  Endresultat  hoffen. 

Diese  Galvanisation  der  Kniee  (Anode  Kniekehle,  Kathode  über-  oder  unter- 
halb der  Patella,  50  cm^,  1  Min.,  0*2  MA)  kann  ich  in  den  mit  lancinirenden  Schmerzen 
verbundenen  Fällen  von  Rückenmarks-Krankheiten  sehr  empfehlen.  Aber  man  lasse 
es  dann  bei  dieser  einen,  bezw.  zwei  Applicationen  bew^enden.  In  Pausen  von  acht 
Tagen  kann  man  dann  auch  eine  centrale  Galvanisation  einschieben.  Für  die  Be- 
handlung von  Gehirnkrankheiten  wird  man  sich  aus  diesen  Angaben,  welche  meinen 
augenblicklichen  Standpunkt  m  dieser  Frage  kennzeichnen,  unschwer  die  Regel  ab- 
leiten können,  wenn  man  meiner  Methode  folgen  will. 

7.  Die  Hysterie. 

Vor  mehreren  Jahren  habe  ich  einen  Fall  schwerster  Hystero-Epilepsie  bei 
einem  jungen  Mädchen  durch  das  frauklinsche  Bad  in  etwa  zehn  Sitzungen  vollkommen 
geheilt.  Auch  in  anderen  ähnlichen  Fällen  schien  mir,  ganz  analog  den  Beobachtungen 
von  Chaecot  und  Vigoiiroux,  das  frauklinsche  Bad  sehr  nützlich  zu  sein;  jedoch 
hüte  man  sich  vor  zu  häufigen  AViederholungen!  Die  vierte  imd  fünfte  Franklinisation 
kann  den  Erfolg    der    drei    ersten  umwerfen.     Im  allgemeinen  wird  es  vorzuziehen 


ELEKTROTHERAPIE.  529 

sein,  sich  des  Verfahrens  der  „abgeschwächten  Franklinisation"  bei  der  Hysterie  zu 
bedienen,  wenn  man  dieses  oder  jenes  Symptom,  wie  den  Globus  und  Clavus  und 
die  Ovarie  mit  dem  frankUnschen  Strom  behandeln  will;  was  den  galvanischen  Strom 
anlangt,  so  ist  der  schwächste  Strom  noch  nicht  schwach  genug,  so  dass  mit  0"1  und 
0'2  MA  das  beste  erreicht  werden  kann,  wenn  überhaupt  etwas  zu  erreichen  ist. 
Die  Behandlung  der  hysterischen  Aphonie  mit  der  faradischen  Bürste,  die  dann  von 
den  Vertheidigern  dieses  Verfahrens  so  schmerzhaft  wie  möglich  angew-andt  wird, 
glückt  zuweilen,  im  Ganzen  wohl  selten.  Die  Eoheit,  welche  in  dieser  Behandlungs- 
weise  liegt,  stimmt  so  wenig  mit  meinen  therapeutischen  Grundsätzen  überein,  dass 
ich  dieselbe  unmöglich  empfehlen  kann.  Die  Behandlung  der  Hysterie  und  hyste- 
rischer Symptome  stellt  die  allerschwierigsten  Anforderungen  an  den  Elektrothera- 
peuten,  der  sich  von  Fall  zu  Fall  zur  Anwendung  dieser  oder  jener  Elektricität, 
dieser  oder  jener  Form  derselben  entschliessen  muss.  Die  Behandlung  der  Hysterie 
ist  im  wahrsten  Sinne  des  Wortes  eine  Kunst,  die  sich  nicht  in  eine  jedem  Jünger 
Aeskulaps  einzuprägende  wissenschaftliche  Schablone  hineinpressen  lässt. 

8.  Verschiedene  Krankheiten  und  Symjjtome. 

Wiederholentlich  sah  ich  Formen  von  Gelen kkrankheiten,  z.  B.  von 
Arthritis  nodosa,  von  der  chronischen  Arthritis,  die  zu  Ankylose  der  Geleulce  führt, 
der  periartikulären  Schwellungen  u.  s.  w.,  auf  welche  der  galvanische  Strom  einen 
unverkennbar  günstigen  Einfluss  ausübt,  so  dass  dessen  Anwendung  in  solchen  Fällen, 
vielleicht  in  Verbindung  mit  Massage  und  der  schwedischen  Douche  oder  anderen 
Wasser-Proceduren  sehr  zu  empfehlen  sein  dürfte.  Der  Strom  wird  entweder  durch 
das  kranl\;e  Gelenk  selber  oder  oberhalb  desselben  hindurchgeschickt;  so  habe  ich 
z.  B.  in  einem  Falle  von  Arthritis  nodosa  der  Finger  die  Galvanisation  der  Hand- 
gelenke erfolgreich  angewandt. 

Bei  Morbus  Basedowii  habe  ich  bisher  wenig  mit  dem  elektrischen  Strom 
auszurichten  vermocht,  ebensowenig  bei  Paralysis  agitans.  Für  diese  Krank- 
heiten müssen  wir  noch  andere  Heilmittel  suchen.  Auch  bei  der  Chorea  muss 
man  immer  vorsichtig  sein  und  die  clirecte  Elektrisation  der  nervösen  Central- 
organe  wo  möglich  ganz  vermeiden.  Epileptiker  und  Hystero-Epileptik  er 
vertragen  durchaus  keine  Galvanisation  des  Kopfes!  Eine  allgemeine  Faradisation 
oder  Franlvlinisation  mit  Ableitung  des  Stromes  an  den  peripheren  Theilen  kann  unter 
Umständen  angezeigt  sein.  In  der  Augenheilkunde  habe  ich  bisher  wenig  oder 
gar  keine  Erfolge  der  Elektrotherapie  gesehen.  Andere  Autoren  sind  glücklicher 
darin.  Jedenfalls  darf  der  Versuch,  etwas  darin  zu  leisten,  nicht  aufgegeben  werden. 
(BoucHEEON,  Essai  d'Electrotherapie  oculaire  1876.  Dr.  Pannier.  L'Electricite 
en  therapeutique  oculaire,  Nouveau  Montpellier  medical,  Janvier  1893.)  In  der 
Ohrenheilkunde  scheint  sich  bei  nervösen  Ohrgeräuschen  und  nervöser  Schwer- 
hörigkeit der  franklinsche  Strom  und  vorzugsweise  in  der  Form  der  „abgeschwächten 
Franklinisation"  am  meisten  bewähren  zu  wollen.  Jedenfalls  gehört  derselbe  zu  den 
wenigen  Mitteln,  die  dabei  noch  des  Versuchs  der  Anwendung  werth  sind.  Die 
Gynäkologie  hat  von  der  Methode  der  intrauterinen  Galvanokaustik  des  Dr. 
Apostoli  in  Paris  sehr  profitirt.^)  Die  Indicationen  dafür  bedürfen  noch  einer  exacten 
Feststellung,  jedoch  hat  sich  die  Meinung  darüber  in  den  letzten  Jahren  schon  be- 
deutend geklärt. 

* 

Dies  in  kurzen  Zügen  ein  Bild  der  Leistungsfähigkeit  der  Elektrotherapie, 
wie  sie  sich  gegenwärtig  dem  Verfasser  darstellt,  zusammengefügt  in  einer 
der  praktischen  Tendenz  dieser  „Bibliothek"  entsprechenden  Art.  Ein  jedes 
Jahr  bringt  Veränderungen  und  Fortschritte,  wodurch  die  achtunggebie- 
tende Stellung  der  Elektricität  in  der  allgemeinen  Therapie  sich  immer 
mehr  befestigen  wird.    Das  ist  mit  Sicherheit  zu  erwarten. 

ARTHUR    SPERLING. 


^)  Vergl.  „Gynaekoelektrotherapie" :  Bd.  Geburtshilfe  und  Gynaekologie. 

Bibl.  med.  Wissenschaften.    I.  Interne  Medicin  nnd  Kinderkiaukbeiteu.  o4: 


530  EMBOLIE  DER  ARTERIEN. 

Embolie  der  Arterien.     Unter   Embolie    (abgeleitet   von   s;xßaUsiv) 

verstellt  man  im  Gegensatz  zur  Thrombose  das  Hineingelangen  embolischen 
Materials  (sog.  Emboli)  in  die  arteriellen  Gefässe,  einschliesslich  der  Pfort- 
ader. Das  embolische  Material  kann  verschiedenen  Ursprungs  sein  und  aus 
der  verschiedenartigsten  organischen  Materie  bestehen.  In  den  überaus  meisten 
Fällen  handelt  es  sich  um  Emboli,  welche  aus  dem  linken  Herzen 
stammen  und  in  die  Arterien  des  grossen  Kreislaufs  eingeschleppt  werden, 
wo  sie  so  lange  dem  Blutstrom  folgend  weiter  wandern;  bis  sie  an  einer  Stelle 
des  Gefässes,  dessen  Durchmesser  geringer  ist,  als  der  des  Embolus,  fest  ein- 
gekeilt haften  bleiben.  Diejenigen  Emboli  dagegen,  welche  in  die  arteriellen 
Gefässe  des  Lungenkreislaufes  gelangen  und  in  den  Lungen  haften  bleiben, 
stammen  fast  ausnahmslos  aus  den  Venen  der  Hohlvenengebiete, 
u.  zw.  ganz  vorzugsweise  aus  der  ve7i.  femoraUs  beim  Vorhandensein  einer 
Phlegmasia  alba  dolens  oder  aus  den  Venen  der  breiten  Mutterbänder  bei 
thrombotischen  Processen  im  Puerperium.  Nur  in  seltenen  Fällen  kommt  es 
vor,  dass  bei  einer  Endocarditis  des  rechten  Herzens,  sei  es  der  Vorhofs-  oder 
der  Ventrikularklappen  sich  Partikel  ablösen,  in  den  Lungenkreislauf  gelangen 
und  hier  als  Emboli  wirken. 

Die  Emboli  im  grossen  Kreislauf  verdanken  ihre  Entstehung  fast 
immer  einer  Endocarditis  des  linken  Herzens,  sei  es,  dass  es  sich  um 
eine  ganz  frische  entzündliche  Auflagerung  auf  den  Klappen  handelt,  wie  sie 
so  häufig  beim  acuten  Gelenkrheumatismus  und  vielen  anderen  acuten  und 
chronischen  Infectionskrankheiten  (besonders  der  Pneumonie,  dem  Abdominal- 
typhus, der  Scarlatina,  der  Chorea  u.  a.)  vorkommt,  oder  um  einen  chronischen 
Klappenfehler  der  Mitral-  oder  Aortenklappen  mit  und  ohne  recidivirende 
Nachschübe.  In  anderen  Fällen  gelangen  bei  einer  bestehenden  Atheromatose 
der  Aorta  mit  Geschwürsbildung  losgelöste  Kalkplättchen,  welche  so  häufig 
neben  der  Geschwürsbildung  angetroffen  werden,  in  die  abgehenden  Aeste  der 
Aorta,  wo  sie  zunächst  ihres  spröden  Materials  wegen  sich  dem  Gefässlumen 
nicht  so  weit  adaptiren  können,  um  dasselbe  völlig  zu  verschliessen;  erst  all- 
mälig  wird  der  Verschluss  durch  das  aus  dem  Blut  sich  ausscheidende  und 
an  den  Fremdkörper  sich  ansetzende  Fibrin  zu  einem  vollständigen.  Auch 
das  thrombotische  Material,  welches  sich  an  die  atheromatösen  Geschwüre  der 
Aorta  ansetzt,  kann  Ursache  von  Embolien  in  den  Aesten  der  Aorta  werden. 
Da  bekanntlich  die  atheromatösen  Veränderungen  der  Aorta  häufig  zu  Aneu- 
rysmenbildungen  führen,  und  in  diesen  sich  geschichtete  Thromben  bilden, 
so  kann  es  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  auch  hierin  eine  Quelle  embolischen 
Materials  für  die  abgehenden  Aeste  der  grossen  Pulsader  gegeben  ist. 

Viel  häufiger  aber  und  sich  in  der  Häufigkeitsscala  der  Endocarditis 
unmittelbar  anschliessend,  bilden  die  Thromben  des  linken  Herzens 
Ursachen  von  Embolien  im  grossen  Kreislauf,  u.  zw.  handelt  es  sich  dabei 
um  Thromben,  welche  in  allen  Abschnitten  des  linken  Herzens  vorkommen 
und  ihre  Entstehung  derjenigen  Blutverlangsamung  verdanken,  wie  sie  ent- 
weder bei  chronischen  Muskel-  und  Klappenerkrankungen  des  Herzens  oder 
bei  allgemeiner  Verlangsamung  der  Blutströmung  in  Folge  von  allen  mög- 
lichen Erkrankungen,  namentlich  bei  langdauernden  Erschöpfungskrankheiten 
bettlägeriger  Kranken  angetroffen  wird.  Diese  Herzthromben  oder  Polypen, 
wie  sie  auch  genannt  werden,  können  sowohl  aus  dem  linken  Herzohr,  als 
auch  aus  dem  linken  Vorhof  oder  Ventrikel,  wo  sie  sich  in  den  tiefgelegenen 
Zwischenräumen  zwischen  dem  Gewirr  der  Kammmuskeln  einfilzen,  oder  von 
den  Kugelthromben,  die  gewöhnlich  an  der  Spitze  des  linken  Herzens  gefun- 
den werden,  herstammen.  Auch  die  sich  zuweilen  an  die  Chordae  tendineae 
der  Mitralklappensegel  ansetzenden  Vegetationen  können  Ursache  einer 
Embolie  werden.     Ferner  wäre  noch  das  Hineingelangen  von  C  est  öden"")  in 

*)  Vörgl.  „Eingeweidewürmer  des  Menschen'^  von  Hofr.  Prof.  C.  Claus,  ds.  Bd.  pag. 
471  u.  ff. 


EMBOLIE  DER  ARTERIEN.  531 

die  Arterien   unter  den   ätiologischen  Ursaclien    der  Embolien  namhaft  zu 
machen,  vor  allem  die  Blasen  der  Finnen  (Cysticerken  und  Echinococcen). 

So  habe  ich  u.  a.  einen  vollständigen  Verschluss  beider  vom  Stamm  der  Art.  pul- 
monalis  abgehender  Hauptäste  dieser  Arterie  durch  lebende  Echinococcen  beobachtet;  eine 
abgestorbene  Echinococcenblase  fand  ich  in  einem  anderen  Fall  im  Anfangstheil  der  oberen 
Grekrösader,  dieselbe  ebenfalls  vollständig  verstopfend  und  dahinter  einen  hämorrhagischen 
Infarct  des  gesammten  Dünndarms. 

Schliesslich  wären  noch  die  Luft-  und  Fettembolien  zu  erwähnen, 
welche  vorzugsweise  ihren  Sitz  im  capillären  Theil  des  Gefässapparates  haben, 
und  von  denen  die  letzteren  vorzugsweise  bei  Knochenbrüchen  angetroffen 
werden,  während  die  Luftembolien  vorzugsweise  bei  Eröffnung  von  Yenen  zu 
Stande  kommen,  indem  die  eingetretenen  Luftblasen  weiter  in  die  Arterien 
hineingelangen. 

Die  Embolien  im  Lungenarteriensystem  verdanken  ihren  Ur- 
sprung hauptsächlich  der  Endocarditis  des  rechten  Herzens  und  den 
Thromben  der  Körpervenen,  sowie  den  im  rechten  Herzen  unter  den 
gleichen  Bedingungen,  wie  links,  vorkommenden  Blutgerinnungen  (sog.  Herz- 
thromben).  Auch  Thromben,  welche  sich  auf  rauhen,  atheromatösen  Stellen 
der  Intima  von  Pulmonalarterienästen  gebildet  haben,  was  bei  Klappenfehlern 
der  Mitralis  vorkommt,  können  in  den  Blutstrom  gelangen  und  an  einer  en- 
geren Stelle  des  Lungenarteriensystems  stecken  bleiben,  wo  sie  als  Emboli  wirken. 

In  ganz  seltenen,  bisher  nur  von  Cohnheim  und  Litten  beobachteten  und  beschrie- 
benen Fällen  kommt  bei  offenem  Foramen  ovale  eine  sog.  Ueb  er  Wanderung  eines 
Embolus  aus  dem  linken  in  den  rechten  Vorhof  vor,  wobei  man  einem  Embolus,  event. 
einem  hämorrhagischen  Infarct  in  der  Lunge  begegnet,  ohne  dass  in  den  Körpervenen 
Thromben  oder  im  rechten  Herzen  embolisches  Material  nachgewiesen  werden  kann. 

An  welcher  Stelle  des  Gefässverlaufes  der  Embolus  haften  bleibt, 
hängt  vollständig  von  der  Beschaffenheit  des  Gefässes  und  seiner  Verästelung 
ab.  Meistens  verlieren  die  Arterien  bei  der  Abgabe  von  Aesten  oder  an 
Theilungsstellen  so  sehr  an  Weite,  dass  der  Embolus  gern  an  einer  solchen 
Stelle  haften  bleibt,  u.  zw.  meistens  so,  dass  er  reitend  auf  dem  Sporn  der 
Arterie,  an  einer  Theilungsstelle  aufsitzt,  in  beide  abgehenden  Arterienäste 
mit  dem  unteren  Theil  hineinragend,  einem  zweiwurzligen  Backzahn  nicht 
unähnlich.  Verschliesst  der  Embolus  das  Lumen  der  Arterie  nicht  vollständig, 
so  dauert  es  gewöhnlich  nicht  lange,  bis  die  sich  ausnahmslos  ansetzenden 
Fibringerinnsel  den  Verschluss  zu  einem  vollständigen  machen.  Niemals  aber 
kommt  es  vor,  dass  die  aus  den  beschriebenen  Quellen  herstammenden  Emboli 
in  Capillären  hineingelangen,  oder  selbst  dieselben  durchwandern  und  bis  in 
die  Venen  vordringen. 

Am  häufigsten  werden  von  den  Arterien  des  grossen  Kreislaufes 
die  von  der  Aorta  unmittelbar  abgehenden  Aeste  der  Sitz  embolischen  Ver- 
schlusses, der  Pieihenfolge  nach  etwa  in  folgender  Anordnung:  am  häufigsten 
die  art.  renalis  und  lienalis,  dann  die  Gehirnarterien  (art.  fossae  St/lm, 
corporis  callosi,  basüaris),  die  art.  meseraiccc  sup.^  art.  meseraica  inf.,  art. 
coeiiaca ;  viel  seltener  werden  die  peripheren  Arterien  der  Sitz  von  Embolien, 
und  hier  ist  wohl  die  art.  brachialis  diejenige,  welche  relativ  am  häufigsten 
betroffen  wird.  Häufiger  aber  als  alle  genannten  Arterien  wird  die  art.  pul- 
monalis  der  Sitz  dieser  Erkrankung,  und  dies  hat  seinen  Grund  in  der  Häufig- 
keit von  Thromben  der  peripheren  Venen,  sowie  von  umschriebener  Sclerose 
der  Aeste  der  Lungenarterie,  welche  die  Folge  der  grösseren  Reibung  und 
vermehrten  Widerstände  im  Pulmonalarteriensystem  bei  Stenose  und  InsuÖicienz 
der  Mitralklappen  ist.  Die  mit  diesen  Processen  zusammenhängende  cir- 
cumscripte  Atheromatose  der  Lungenarterie  und  deren  Aeste  führt  erfah- 
rungsgemäss  zur  Thrombose  der  letzteren,  namentlich  bei  der  Verlang- 
samung der  Circulation,  wie  sie  mit  den  Mitralfehlern  verbunden  ist.  Von 
diesen  thrombotischen  Auflagerungen  können,  falls  die  Arterie  nicht  vollständig 

34* 


532  EMBOLIE  DER  ARTERIEN. 

obliterirt  ist,    Partikel   weiter    in  die  Circiüation  gelangen  nnd  an  einer  ent- 
lernten Stelle  des  Lungenarteriensystems  als  Emboli  festhaften. 

Gelangt  nun  ein  Embolus  von  der  oben  beschriebenen  Beschaffenheit  in 
eine  Arterie,  so  sind  die  weiteren  Störungen  lediglich  von  der  dadurch 
bedingten  Circulationsunterbrechung  abhängig.  Bleibt  der  Embolus  an  irgend 
einer  Stelle  im  Verlauf  des  Ai'terienrohres  haften,  oder  bleibt  er  rittlings  an 
einer  Theilungsstelle  der  Arterie  stecken,  so  wird  der  Verschluss,  falls  er  Yon 
Anfang  an  kein  vollständiger  war,  allmälig  aber  sehr  bald  durch  sich  daran 
niederschlagende  Fibringerinnungen  zu  einem  vollständigen.  Sobald  dies  ge- 
schehen ist,  kann  selbstverständlich  kein  circulirendes  Blut  an  ihm  vorbei  in 
die  peripheren  Abschnitte  der  Arterie  gelangen.  Damit  ist  aber  keineswegs 
ausgesprochen,  dass  nun  überhaupt  kein  Blut  mehr  in  die  peripher  von  dem 
Embolus  gelegenen  Gefässabschnitte  eintreten  kann.  Vielmehr  ist  es  sehr  gut 
möglich  und  kommt  oft  genug  vor,  dass  arterielle  Aeste  oberhalb  und  unter- 
halb des  Embolus  abgehen,  welche  durch  Anastomosen  mit  einander  in  Ver- 
bindung stehen.  Alsdann  würde  die  Circulation  mit  Umgehung  des  emboli- 
sirten  Gefässabschnittes,  auf  dem  Wege  der  von  derselben  Arterie  abgehenden 
Seitenäste,  oder  auf  dem  Wege  collateraler  ^Anastomosen,  wobei  benachbarte 
Arterien  unterhalb  der  verstopften  Stelle  in  die  embolisii'te  Arterie  einmünden 
und  dieser  arterielles  Blut  in  reichlicher  Menge  zuführen,  fortbestehen,  und 
es  würde  nur  eine  Störung  in  der  km^zen  Strecke  des  Hauptrohi's,  in  welcher 
der  Embolus  haftet,  d.  h.  zwischen  den  beiden  zunächst  gelegenen  Seitenästen, 
zwischen  denen  der  Pfropf  festsitzt,  eintreten.  Dieselbe  hat  aber  erfahrungs- 
gemäss  in  blutreichen  Organen,  in  welchen  zahlreiche  Anastomosen  bestehen, 
fast  gar  keine  Bedeutung,  wie  namentlich  in  den  reich  mit  arteriellen  Gefässen 
versehenen  Muskeln  der  Extremitäten,  in  der  Haut,  dem  Fettgewebe  und 
Unterhautbindegewebe.  Ganz  anders  und  viel  verhängnisvoller  gestalten  sich 
die  Störungen,  wenn  es  sich  um  die  Verstopfung  einer  Arterie  handelt;  welche 
in  letzter  Instanz  die  alleinige  Ernährung  und  Versorgung  des  betreffenden 
Organs  oder  Organabschnittes  mit  arteriellem  Blut  zu  leisten  hat. 

Solche  Arterien,  welche  mit  anderen  benachbarten  nicht  durch  collaterale 
Aeste,  sondern  nur  durch  Capillaren  in  Verbindung  stehen,  und  von  denen 
jede  dem  betreffenden  Gewebsabschnitt  in  letzter  Instanz  allein  arterielles 
Blut  zuführt,  hat  Cohxheim  als  „Endarterien"  bezeichnet.  Der  physio- 
logische Werth  derselben  besteht  darin,  dass  der  zu  ihnen  gehörige  Gewebs- 
abschnitt nach  Ausschaltung  derselben  nicht  mehr  genügend  ernährt  mrd  und 
abstirbt.  Diejenigen  Arterienstämme,  welche  Endarterien  darstellen,  verästeln 
sich  auch  während  ihres  ganzen  Verlaufes  so,  dass  jeder  abgehende  Arterien- 
ast nun  wieder  eine  Endarterie  bildet,  also  mit  den  benachbarten  nicht  durch 
arterielle  Anastomosen  in  Verbindung  steht.  Derartige  Endarterien  gibt  es  nach 
CoHiSTHEi^i  mehrere :  die  art.  centralis  retinae,  die  art.  Uenalis,  art.jpulmonalis,  renalis 
und  die  Gehirnarterien.  Streng  genommen  gehören  die  art.  pulmonalis  und 
renalis  nicht  vollständig  in  diese  Gruppe,  da  die  art.  pulmonalis  sowohl  mit 
Aesten  der  Bronchialarterie,  als  namentlich  der  pleuralen,  ösophagealen  und 
diaphragmatischen  Gefässen  anastomosirt,  und  für  die  art.  renalis  gilt  das 
Gleiche,  da  die  IS^iere  naclL  Unterbindung  der  art.  und  ven.  renalis  sehr  be- 
deutend an  Grösse  und  Gewicht  zunimmt,  was  auf  die  arteriellen  Zuflüsse  zu 
beziehen  ist,  welche  die  Mere  von  der  Kapsel  und  dem  Ureter  her  erhält.  — 
Da  nach  embolischer  Verstopfung  einer  der  genannten  Endarterien  das  be- 
treffende Organ,  resp.  nach  Verstopfung  eines  Astes  derselben  der  betreffende 
Organabschnitt  nicht  mehr  genügend  arterielles  Blut  erhält,  um  ernährt  zu 
werden,  so  wird  eine  Gewebsnecrose  und  Verlust  der  Function  die  unmittel- 
bare Folge  sein.  Nirgends  sieht  man  die  Functionsstörung  prägnanter,  als  bei 
einer  Embolie  einer  grossen  Hirnarterie  oder  der  art.  centralis  retinae,  während 
die  Gewebsveränderungen  von  verschiedenen  Umständen  abhängig  sind,  am 


EMBOLIE  DER  ARTERIEN.  533 

meisten  von  der  Natur  des  embolischen  Materials.  —  Die  gewöhnlichste 
Form,  unter  welcher  wir  das  Gewebe  in  Folge  embolischen  Arterienverschlusses 
absterben  sehen,  ist  die  Keilform,  in  welcher  sich  die  embolische  Necrose 
meistens  präsentirt.  Die  Spitze  des  Keiles  ist  nach  der  verstopften  Stelle 
der  zuführenden  Arterie,  d.  h.  nach  dem  Embolus  hin  gerichtet,  während  die 
Basis  des  Keiles  nach  der  Peripherie  des  Organs  hin  gerichtet  ist.  Solchen 
embolischen  Necrosen  oder  „Infarcten"  begegnet  man  am  häufigsten  in  der 
Milz,  den  Lungen  und  den  Meren,  sehr  selten  im  Herzen  und  der  Leber. 
Da  sich  in  der  Peripherie  des  Infarctes  in  den  meisten  Fällen  eine  starke 
Blutung  findet,  und  diese  häufig  umfangreicher  ist,  als  der  in  der  Mitte 
sitzende  necrotische  Herd,  welcher  sich  weiss  ausnimmt,  so  hat  man  die 
Blutung  für  die  primäre,  dem  embolischen  Verschluss  zunächst  nachfolgende 
Veränderung  angesehen  und  den  Herd  daher  als„hämorrhagischenInfarct" 
bezeichnet;  da  man  ferner  annahm,  dass  die  Blutung  allmälig  aufgesogen  und 
an  Stelle  derselben  ein  weiss  aussehendes  necrotisches  Gewebe  trete,  so  hat 
man  ein  zweites  Stadium  der  hämorrhagischen  Infarcte,  das  der  Entfärbung 
unterschieden  und  solche  Herde  als  „entfärbte"  hämorrhagische  Herde 
bezeichnet.  Diese  Entstehungsweise  ist  durchaus  unrichtig,  wie  ich  experimen- 
tell und  anatomisch  nachgewiesen  habe;  vielmehr  ist  der  Zusammenhang  so, 
dass  auf  den  Verschluss  einer  als  Endarterie  anzusehenden  Arterie  die  em- 
bolische Necrose  unmittelbar  folgt,  und  dass  die  periphere  Blutung  nur  ein 
accidentelles,  durch  Compression  der  abführenden  Venen  in  Folge  der  Gewebs- 
schwellung bedingtes  Ereignis  darstellt.  Von  einer  „Entfärbung"  des  früher 
hämorrhagischen  Infarctes  kann  schon  deshalb  keine  Rede  sein,  weil  1.  der 
weisse  Herd  der  Blutung  vorangeht,  wie  man  dies  u.  a.  auch  im  Augenspiegel 
am  lebenden  Menschen  und  experimentell  beim  Thier  an  der  Niere  beobach- 
ten kann,  und  2.  weil  man  in  dem  weissen  (sc.  entfärbten)  Gewebe  keine  Spuren 
von  Blutbestandtheilen  nachweisen  kann.  Derartige  embolische  Necrosen 
können,  wie  ich  dies  experimentell  gezeigt  habe,  sich  in  den  Nieren  schon 
24  Stunden  nach  Embolisirung  der  betreffenden  Arterien  bilden,  während  die 
Epithelien  der  Harncanälchen  schon  nach  kürzester  Zeit  absterben. 

Wirkliche  echte  hämorrhagische  Infarcte,  als  Folge  embolischen 
Verschlusses  von  Arterien,  finden  sich  ganz  vorzugsweise  in  der  Milz  und 
Lunge.  Sie  bilden  keilförmige  oder  mehr  rundliche,  stark  prominirende  Herde, 
in  welchen  das  Gewebe  mit  Blutkörperchen  durchweg  prall  infarcirt  ist:  eine 
Zertrümmerung  des  Gewebes  durch  das  ergossene  Blut,  wie  sie  bei  einer 
Apoplexie  gefunden  wird,  kommt  dabei  niemals  vor.  An  der  Basis  des  hämorrha- 
gischen Herdes  findet  sich  gewöhnlich  eine  circumscripte  Entzündung  der 
Serosa  (Pleuritis  oder  Perisplenitis).  Diese  Herde  entfärben  sich  nach  einiger 
Zeit,  wenn  die  per  diapedesin  hindurchgetretenen  Blutbestandtheile  resorbirt 
werden.  Bei  diesen  echten  hämorrhagischen  Infarcten  kann  man  also  mit 
voller  Berechtigung,  im  Gegensatz  zu  jenen  primären  embolischen  Necrosen, 
von  einem  Stadium  der  Entfärbung  sprechen. 

Nach  den  schönen  Untersuchungen  von  Cohnheim  sollen  diese  hämorrha- 
gischen Infarcte  durch  venösen  ßückfluss  zu  Stande  kommen,  w^elcher 
einsetzt,  sobald  die  Circulation  von  arterieller  Seite  aufhört.  Meiner  Meinung 
nach  kommt  dieser  venöse  Rückfluss  bei  Warmblütern  nicht  zu  Stande  da 
der  Druck  im  Venensystem  nicht  so  gross  wird,  um  ein  Einströmen  von  Blut 
in  das  embolisirte  Gebiet  von  venöser  Seite  her  zu  gestatten. 

Die  Diagnose  derEmbolie  einer  grossen  Arterie  in  den  inneren 
Organen  fällt  fast  mit  derjenigen  des  hämorrhagischen  Infarctes  zusammen, 
da  es  fast  niemals  gelingt,  das  Hineingelangen  des  embolischen  Pfropfes  in 
die  Arterie  selbst  nachzuweisen,  sondern  erst  die  Bildung  des  embolischen 
Herdes  zu  constatiren.  Schmerz,  Schüttelfrost,  aufgehobene  Function,  vor 
Allem  aber  die  Plötzlichkeit  des  Eintrittes,  sowie  der  Nachweis  des  Vorhanden- 


534  EMBOLIE  DER  ARTERIEN. 

seins  embolischen  Materials  (meistens  durch  den  Nachweis  einer  Endocarditis 
oder  Yenenthrombose)  sind  die  liauptsächliclisten  diagnostischen  Anhaltspunkte. 
In  den  Extremitäten  kommen  embolische  Infarcte  nicht  zu  Stande,  nach 
CoHNHEiM,  weil  die  Venenklappen  den  Rückfluss  verhindern.  Meist  ist  die 
Embolie  einer  Extremitätenarterie  ein  Ereignis  von  geringer  Bedeutung,  weil 
die  Anastomosen  und  CoUateralen  sehr  zahlreich  sind.  Wird  jedoch  eine 
grosse  Arterie,  wie  die  art.  brachialis  oder  femoralis  vollständig  verstopft,  so 
wird  die  Extremität  kühl,  pulslos,  cyanotisch,  und  nicht  selten  deuten  Pete- 
chien auf  das  Vorhandensein  des  embolischen  Verschlusses. 

Von  grösster  Bedeutung  für  die  weiteren  Folgen  einer  Embolie  ist 
die  Natur  des  Materials,  aus  w^elchem  die  Pfropfe  bestehen.  Wir  hatten  bis 
jetzt  bei  der  Beschreibung  ausschliesslich  die  sogenannten  „blanden"  Em- 
boli im  Sinne,  welche  aus  denjenigen  Gewebsbestandtheilen  bestehen,  die 
ausschliesslich  unter  physiologischen  Bedingungen  im  Organismus  vorkommen, 
dJhV  also  namentlich  aus  fibrinösem  und  bindegewebigem  Material.  Dem 
gegenüber  findet  sich  eine  andere  Gruppe  embolischer  Erkrankungen,  welche 
zurückzuführen  sind  auf  Infection  durch  phlogogene  Stoffe  enthaltende  Em- 
boli oder  auf  pathogene  Microorganismen,  welche  entweder  allein  oder  zum 
grossen  Theil  den  Inhalt  der  durch  Emboli  verschleppten  Krankheitserreger 
bilden.  —  Der  cardinale  Unterschied  zwischen  jenen  blanden  und  diesen  in- 
fectiösen  Emboli  besteht  darin,  dass  die  ersteren  lediglich  und  ganz  aus- 
schliesslich an  die  Arterien  gebunden  sind,  während  die  letzteren,  da  sie  zum 
grossen  Theil  aus  Micrococcen  bestehen,  die  Capillaren  durchwandern.  Es 
kann  daher  unter  diesen  Umständen  von  einer  so  stricten  Trennung  zwischen 
links-  und  rechtsseitigen  Herzerkrankungen  und  zwischen  Embolien  des  grossen 
und  Lungenkreislaufes  keine  Rede  sein.  Wenn  wir  beispielsweise  irgendwo  im 
Körper  einen  Infectionsherd  haben,  welcher  pathogene  Microparasiten  enthält, 
so  kann  aus  diesem  durch  die  Blutgefässe,  namentlich  die  Venen,  infectiöses 
Material  fortgespült  werden;  da  dasselbe  aber  die  Capillaren  durchwandert,  lässt 
sich  vorher  auch  nicht  annähernd  bestimmen,  in  welchen  Capillaren  dasselbe 
stecken  bleiben  wird.  So  kann  bei  einer  septischen  Pelveoperitonitis  die 
Infarcirung  der  Capillaren  mit  septischen  Coccen  ebenso  gut  zu  multiplen 
septischen  Abscessen  in  den  Lungen  führen,  als  auch  zu  einer  sog.  metasta- 
tischen PanOphthalmitis  oder  zu  multiplen  Abscessen  in  den  Nieren,  da  das 
kleinkalibrige,  embolische  Material  ebensowohl  die  Capillaren  der  Lungen 
passiren  und  in  denen  der  Chorioidea  oder  der  Nieren  haften  bleiben  kann, 
wie  es  bereits  in  den  Lungen  selbst  festen  Fuss  fassen  und  dort  die  Infection 
hervorrufen  kann."") 

Welcher  Art  das  embolische  Material  in  dieser  letzten  Gruppe 
von  Fällen  ist  und  sein  mag,  ist  principiell  gleichgiltig.  Staphylo-,  Strepto- 
Gonococcen,  Spirochaeten,  Davaine'sche  Stäbchen,  Aspergilli,  Tuherkelhacillen^ 
Äctinomyces  und  —  wie  sonst  immer  ihr  Name  ist,  ■ —  die  Hauptsache  ist  und 
bleibt  ihre  infectiöse  Natur,  vermöge  welcher  sie  in  anderen,  vom  ur- 
sprünglichen Erkrankungsherd  z.  Th.  weit  entfernten  Organen  sog.  meta- 
statische Herde  von  der  gleichen  Beschaffenheit  erzeugen,  welche  durch 
die  Circulation  (Blut-  und  Lymphgefässe)  vermittelt  werden.  Die  durch 
diese  infectiösen  Emboli  erzeugten  Herde  unterscheiden  sich  von  den 
blanden  Embolien  vor  Allem  durch  ihre  hohe  Infectiosität  und  die  Abscess- 
form,  wobei  sich  multiple  miliare  Abscesse  von  Hirsekorn-  bis  Kirschkerngrösse 
und  darüber  bilden,  wälirend  bei  den  sogenannten  blanden  Emboli  meist  ein  ein- 
zelner Herd  von  Keilform  gefunden  wird.  In  den  ersteren  Fällen  sind  die 
betroffenen  Organe  vollständig  durchsetzt  mit  miliaren  Abscessen,   welche 


*)  Ich    habe    auf   diese    Verhältnisse    sehr    ausführlich   in    meiner  Abhandlung  über 
septische  Processe  (Zeitschrift  für  klinische  Medicin  Bd.  IL  1881)  Rücksicht  genommen. 


EMPFINDÜNGSSTÖRUNGEN.  535 

mit  einem  chocoladenfarbenen,  ganz  dünnen,  meist  zerfliessenden  Inhalt  erfüllt 
sind.  Wenn  beispielsweise  ein  Tripperkranker  eine  specifische  Endocarditis, 
ganz;  gleich  welcher  Klappe  und  welchen  Herzabschnittes,  acquirirt  und  davon 
Metastasen  in  den  Nieren  davonträgt,  so  findet  man  in  den  miliaren  Abscessen 
der  Niere  dieselben  Gonococcen,  welche  die  Auflagerungen  der  erkrankten 
Herzklappen  enthalten  und  dieselben  Coccen,  welche  das  Secret  der  Urethra  ent- 
hielten. Nicht  anders  gestalten  sich  die  Verhältnisse  bei  Abscessen  der  Lungen, 
welche  eine  septische  Wöchnerin  davonträgt.  Dieselben  Strepto-  oder  Sta- 
phylococcen,  welche  in  den  Auflagerungen  der  septischen  Endometritis  gefun- 
den werden,  können  von  den  Auflagerungen  des  Herzens  oder  aus  den  Abscessen 
der  Lungen  dargestellt  werden.  Dabei  ist  es  durchaus  nicht  nothwendig,  wie 
ich  1.  c.  nachgewiesen  habe,  dass  die  Erkrankung  der  Herzklappen  jedesmal  das 
Mittelglied  zwischen  der  primären  Erkrankung  und  den  sogenannten  Metastasen 
bildet.  Die  Hauptsache  ist  der  directe  Import  des  Giftes  vom  ursprünglichen 
atrium  morbi  nach  dem  Ort  der  sogenannten  Metastasenbildung,  und  wir  können 
mit  Bezug  darauf  keine  bessere  Analogie  anführen,  als  die  sogenannten  Krebs- 
metastasen, welche  ebenfalls  auf  directer  Verschleppung  des  Krebsseminium  durch 
die  Blut-  und  Lymphgefässe  beruhen. 

Zum  Schluss  möchten  wir  noch  die  sogenannten  „weissen  Infarcte"  in 
der  Milz,  viel  seltener  in  den  Nieren  erwähnen,  welche  in  zahlreichen  Fällen  von 
Recurrens  und  gelegentlich  bei  der  Cholera  auftreten  und  in  einer  keilförmigen 
Necrose  des  Gewebes  bestehen.  Den  sorgfältigsten  Untersuchungen  von 
PoNFiCK,  Weigert  und  Litten  ist  es  bisher  weder  gelungen,  als  Ursache 
dieser  Infarcte  arterielle  Emboli,  noch  Einwanderung  specifischer  Organismen 
in  die  Capillaren  nachzuweisen.  Ponfick  hält  es  nicht  für  unwahrscheinlich, 
dass  die  Venen  dabei  ursächlich  nicht  unbetheiligt  sind.  litten, 

Empfindungsstörungen.  Wenn  wir  in  irgend  einem  Empfindungs- 
gebiete, sei  es  an  der  äusseren  Haut  oder  einem  der  höheren  Sinne,  eine  Reihe 
von  verschieden  abgestuften  Reizen  in  Anwendung  bringen,  so  machen  wir  vor 
Allem  die  Beobachtung,  dass  erst  bei  einer  gewissen  Stärke  des  objectiven 
Reizes,  welche  nach  der  Individualität  der  untersuchten  Person,  nach  dem 
Orte,  an  dem  wir  den  Reiz  appliciren,  endlich  nach  dem  durch  verschiedene 
wechselnde,  meist  unbekannte  Umstände  veranlassten  Zustand  des  Seelen- 
organes,  den  wir  mit  dem  Namen  der  Reizbarkeit  desselben  bezeichnen,  schwankt, 
eine  Empfindung  zum  Bewusstsein  kommt.  Wir  nennen  denjenigen  objectiven 
Reiz,  der  eben  hinreicht  eine  Empfindung  auszulösen,  die  „Reizschwelle"  des 
betreffenden  Empfindungsgebietes.  Steigern  wir  von  der  Reizschwelle  ange- 
fangen die  Stärke  des  angewandten  Reizes,  so  finden  wir,  dass  wiederum  eine 
Steigerung  der  jeweilig  angewandten  Reizstärke  um  ein  gewisses  Maass  noth- 
wendig ist,  um  eine  von  der  ursprünglich  gegebenen  Empfindung  deutlich  unter- 
scheidbare neue  Empfindung  auszulösen.  Wir  nennen  diese  kleinste  Reiz- 
differenz, welche  eben  hinreicht,  um  eine  Differenz  der  Empfindungsintensität 
erkennbar  zu  machen,  die  „Unterschiedsschwelle"  des  betreffenden  Empfin- 
dungsgebietes. Dass  die  Reizschwelle  nach  der  Lage  der  gereizten  Stelle 
sehr  verschieden  ist,  zeigt  die  alltägliche  Erfahrung.  Eine  Fliege,  die  über 
das  Gesicht  oder  gar  über  die  Lippen  kriecht,  ruft  eine  sehr  lebhafte 
Empfindung  hervor,  während  sie  an  der  Haut  des  Arms  oder  gar  des  ent- 
blössten  Rückens  wenig  empfunden  wird;  der  schrille  Pfiff  der  fliegenden 
Fledermäuse  wird  von  vielen  sonst  normal  hörenden  Personen  nicht  gehört, 
und  richten  wir  gar  unsere  Aufmerksamkeit  auf  die  Thierwelt,  so  werden 
die  Differenzen  in  der  Stärke  der  Reizschwellen  ausserordentlich  auffallend. 
So  genügt,  wie  ich  mit  Münzer  Gelegenheit  hatte  zu  beobachten,  die  durch  einen 
feinen  über  den  Erdboden  hingleitenden  Bindfaden  erzeugte  Erschütterung 
der  Luft,  welche  im  feinsthörenden  Menschenohr  keine  Schallempfindung  zu 


536  EMPFINDUNGSSTÖRUNGEN. 

erregen  im  Stande  ist,  bei  einer  geblendeten  Katze  vollständig  nicht  nur  zu 
einer  Empfindung  überhaupt,  sondern  zu  einer  so  genau  und  fein  localisirten 
Empfindung,  dass  bei  dem  Haschen  nach  dem  schallerregenden  Object  das 
Fehlen  des  Gesichtssinnes  nicht  die  geringste  Störung  in  der  Vollkommenheit 
und  Sicherheit  der  hiezu  nothwendigen  Bewegungen  mit  sich  bringt.  Aehnliche 
Differenzen  mögen  in  der  Grösse  der  Unterschiedsschwelle  bestehen.  Wenn 
auch  diesbezüglich  keine  so  eclatanten  Thatsachen  vorliegen,  so  macht  eine 
andere  Reihe  von  Erscheinungen  dies  sehr  wahrscheinlich.  Es  ist  erfahrungs- 
mässig  festgestellt  und  ist  auch  für  die  klinische  Untersuchung  von  Wichtig- 
keit, dass  die  Empfindlichkeit  des  Seelenorganes  für  schwache  Reize  durch  das, 
was  wir  „Uebung"  nennen,  also  in  unserem  Falle,  häufig  wiederholte  mit  Auf- 
merksamkeit vorgenommene  Untersuchung  schwacher  Reize,  im  Stande  ist  sowohl 
die  Reizschwelle  als  die  Unterschiedsschwelle  wesentlich  herabzusetzen.  Es 
ist  dies  eine  Erscheinung,  die  sowohl  bei  systematisch  vorgenommenen  physio- 
logischen Versuchsreihen  wahrgenommen  wird,  als  auch  bei  Individuen  zur 
Beobachtung  kommt,  die  sich  berufsmässig  mit  einer  bestimmten  Gruppe  von 
Empfindungen  abgeben  müssen.  Die  grosse  Empfindlichkeit  der  Maler  für 
Farbennuancen,  der  Musiker  für  Tonnuancen,  endlich  der  Thee-  und  Wein- 
koster  für  unmerklich  abgestufte  Geruchs-  und  Geschmacksempfindungen,  ist 
eine  banale  Thatsache  und  ähnliche,  wenn  auch  nicht  so  grosse  Differenzen 
mögen  auch  bezüglich  der  Unterschiedsschwelle  von  vorneherein  unter  den 
Organismen  bestehen. 

Eine  genaue  Prüfung  der  Empfindlichkeit  am  Krankenbette  müsste 
nun  sowohl  die  Reizschwelle  als  die  Unterschiedsschwelle  festzustellen  trachten, 
es  müsste  also  die  Grösse  des  eben  merklichen  Reizes,  sowie  die  des  eben 
merklichen  Reizunterschiedes,  sowohl  in  dem  normalen  als  auch  in  dem  Em- 
pfindungsgebiet festgestellt  werden,  in  dem  eine  Störung  vorhanden  ist  oder 
vermuthet  v^ird.  Man  hätte  dann  in  den  an  dem  normalen  Empfindungsgebiet 
gewonnenen  Zahlen  eine  exacte  Grundlage  zur  sicheren  numerischen  Beur- 
theilung  der  Grösse  der  untersuchten  Empfindungsstörung.  Einer  solchen 
exact- wissenschaftlichen  Untersuchung  der  Empfindungsstörungen  stellten 
sich  indess,  wenn  auch  ihre  Durchführbarkeit  im  einzelnen  Falle  nicht  geleug- 
net werden  soll,  grosse  Schwierigkeiten  entgegen.  Für  die  gewöhnliche  ärzt- 
liche Praxis  sind  die  hiebei  in  Betracht  kommenden  Proceduren  zu  kompli- 
cirt  und  langwierig,  um  überhaupt  anwendbar  zu  sein,  aber  auch  in  der 
klinischen  Praxis  kommt  man  bald  zur  Ueberzeugung,  dass  in  der  Mehr- 
zahl der  Fälle  die  rasch  ermüdende  Aufmerksamkeit,  sowie  die  geringe 
Intelligenz  der  Kranken  eine  weniger  exacte  als  rasch  zur  Orientirung 
führende  Untersuchungsmethode  erfordert. 

Wir  wollen  nun  in  Kürze  die  bei  der  Prüfung  der  Hautempfindlichkeit 
üblichen  Methoden  einer  näheren  Besprechung  unterziehen.  Die  empfindende 
Fläche  der  Haut  mit  der  Aussenwelt  in  Berührung  gebracht;  gibt  uns  in 
mehrfacher  Weise  Auskunft  über  dieselbe,  wir  empfinden  die  einfache  Be- 
rührung eines  Objectes  (wobei  der  Ausdruck  Object  nur  relativ  zu  nehmen 
ist,  da  es  auch  ein  Theil  des  eigenen  Körpers  sein  kann,  dessen  Berührung 
empfunden  wird),  wir  unterscheiden  ferner,  dass  verschiedene  Punkte  unserer 
Hautoberfläche  und  welche  berührt  werden,  wir  haben  ferner  je  nach  der 
Temperatur  des  berührenden  Körpers  die  Empfindung  der  Wärme  oder  Kälte, 
endlich  wissen  wir,  dass  wenn  der  objective  Druckreiz  oder  Temperaturreiz 
eine  gewisse  Höhe"  erreicht  oder  wenn  der  Druck  mit  einem  Körper  ausgeübt 
wird,  dessen  Beschaffenheit  auch  bei  geringer  Kraftanwendung  genügt,  mecha- 
nische Trennung  des  Hautgewebes  herbeizuführen  (Nadelspitze),  eine  neue 
Empfindungsqualität  zum  Bewusstsein  kommt,  die  wir  Schmerz  nennen.  Wir 
haben  also  bei  der  Prüfung  der  Hautempfindlichkeit  die  Berührungsempfindung, 


EMPFINDUNGSSTÖRUNGEN.  537 

den  Ortssinn,   die  Temperaturempfindung  und  die  Schmerzempfindung  geson- 
dert einer  Prüfung  zu  unterziehen. 

1.  Die  Prüfung  der  Berührungsempfindung  geschieht  am  ein- 
fachsten durch  möglichst  leise  Berührung  mit  der  Fingerkuppe.  Wenn  auch 
der  Drucksinn  in  den  verschiedenen  Partieen  der  menschlichen  Haut,  wie 
schon  oben  erwähnt,  regionäre  Differenzen  in  der  Grösse  der  Pteizschwelle 
zeigt,  so  genügt  erfahrungsgemäss  eine  sanfte  Berührung  mit  der  Fingerkuppe 
beim  normalen  Menschen  doch,  um  von  allen  Hautgebieten  aus  eine  eben  merk- 
liche Empfindung  hervorzurufen.  Wird  eine  solche  sanfte  Fingerberührung,  die 
der  Untersuchende  selbst  deutlich  wahrnimmt,  von  dem  Untersuchten  nicht 
wahrgenommen,  so  kann  in  dem  entsprechenden  Hautgebiet  eine  Herabsetzung, 
respective,  wenn  auch  bei  Steigerung  des  Druckes  (Aufheben  einer  Hautfalte) 
die  Empfindung  fehlt,  eine  Aufhebung  der  Druckempfindung  angenommen 
werden.  Man  pflegt  auch  die  Berührungsempfindung  durch  einfache  Berührung 
mit  einem  Pinsel  oder  Federbart  zu  prüfen,  wobei  man  indess  auf  die  Controle 
durch  die  eigene  Empfindung  verzichtet.  Das  abwechselnde  Berühren  mit 
Nadelspitze  oder  Kopf  ist  keine  reine  Prüfung  der  Berührungsempfindung,  da 
sowohl  der  Raumsinn  als  die  Schmerzempfindung  dabei  mit  in  Betracht  kom- 
men. Der  Wunsch,  einen  numerischen  Ausdruck  für  die  Grösse  der  vorhandenen 
Empfindungsstörung  zu  haben,  hat  zur  Construction  von  Apparaten  geführt,  die 
eine  solche  numerische  Taxirung  des  applicirten  Reizes  oder  wenigstens  die 
Einreihung  desselben  in  eine  empirisch  festgestellte  Reihe  gestatten.  Der 
ersteren  Anforderung  entspricht  das  EuLENBUßG'sche  Barästhesiometer.  Eine 
Pelotte,  welche  mit  einer  Spiralfeder  in  Verbindung  steht,  wird  mit  verschie- 
dener Stärke  an  die  Haut  angedrückt.  Die  Stärke  des  angewendeten  Druckes 
kann  an  einer  uhrzifferblattähnlichen  Scala  direct  abgelesen  werden,  man  erhält 
also  einen  absoluten  numerischen  Ausdruck  für  die  Grösse  der  etwaigen  Empfin- 
dungsstörung. Einen  besonders  für  die  Finger  brauchbaren  Apparat  zur  Prüfung 
der  Empfindlichkeit  des  Drucksinnes  hat  Hering  angegeben:  Auf  12  cylin- 
drischen  Stäbchen,  von  denen  eines  glatt  ist,  ist  Neusilberdraht  von  0"1  bis 
VOmm  Dicke  aufgewickelt,  so  dass  der  tastende  Finger  verschiedene  Grade 
von  Rauhigkeit  empfindet.  Je  nach  dem  Grade  der  Empfindungsstörung  werden 
Stäbchen  als  glatt  empfunden,  die  der  normale  Finger  noch  rauh  empfindet, 
und  es  kann  also  der  Grad  der  Empfindungsstörung  empirisch  nach  der  Num- 
mer des  Stäbchens  bezeichnet  werden.  Es  handelt  sich  bei  dieser  Methode 
indess,  wie  leicht  ersichtlich,  nicht  um  eine  reine  Prüfung  der  Druckempfind- 
lichkeit, da  bei  der  Beurtheilung  der  Rauhigkeit  eines  Objectes  jedenfalls  die 
Ortswahrnehmung  mit  in  Betracht  kommt  und  da  bei  Beurtheilung  der  höheren 
Stufen  der  Scala  der  Finger  über  das  Object  hingleiten  muss,  also  wahr- 
scheinlich auch  Bewegungsgefühle  mit  in  Frage  kommen. 

2.  Die  Prüfung  des  Ortssinnes  der  Haut  (Ortswahrnehmung,  Raum- 
sinn) geschieht  mittelst  des  SiEWEKiNG'schen  Tasterzirkels.  An  einer  mit 
Millimeterscala  versehenen  horizontalen  Schiene  befindet  sich  eine  fixe  und  eine 
horizontal  verschiebliche  Zirkelspitze.  Man  stellt  den  geringsten  Abstand  der 
Zirkelspitzen  fest,  der  eben  noch  als  zwei  räumlich  gesonderte  Empfindungen 
zum  Bewusstsein  kommt,  wobei  zu  berücksichtigen  ist,  dass  in  der  Längsrich- 
tung der  Körperaxen  die  Zirkelspitzen  weiter  entfernt  sein  müssen,  als  in  der 
Querrichtung.  Da  man  immer  nur  aus  einer  längeren  Versuchsreihe,  aus  der 
man  das  Mittel  zieht,  Schlüsse  ziehen  kann,  ist  die  exacte  Anwendung  der 
Methode  am  Krankenbett  schwierig. 

Der  Ortssinn  kann  ferner  in  Bezug  auf  die  richtige  Localisation  der 
angewendeten  Reize  geprüft  werden.  Bei  geschlossenen  Augen  des  Krauken 
wird  die  Haut  desselben  berührt.  Der  normale  Mensch  ist  im  Stande,  den 
berührten  Punkt  genau  mit  dem  Finger  zu  bezeichnen.  Kranke  mit  Sensibili- 
tätsstörungen begehen  einen  grösseren  oder  kleineren  Fehler,  aus  welchem  ein 


538  EMPFINDÜNGSSTÖRÜNGEN. 

Ptückschluss  auf  die  Grösse  der  vorhandenen  Störung  statthaft  ist.  Hering 
hat  im  Anschluss  an  Versuche  C.  H.  Weber's  „Tastbolzen"  construiren  lassen, 
die  sich  vielleicht  zur  klinischen  Prüfung  des  Kaumsinnes  der  Haut  gut  eignen 
dürften.  An  Metallbolzen  sind  Ansätze  befestigt,  welche  auf  dem  Durchschnitt 
verschiedene  geometrische  Figuren,  Dreiecke,  Quadrate,  Kreise  darstellen. 
Es  soll  nach  dem  Aufdrücken  des  Bolzens  bei  geschlossenen  Augen  die  Figur 
desselben  angegeben  werden.  Da  diese  Figuren  in  verschiedenen  Durchmessern 
angefertigt  sind,  so  könnte  auch  hier  eine  empirische  Scala  gewonnen  werden 
zur  Bestimmung  der  Grösse  der  Empfindungsstörung.  Ein  Theil  der  Bolzen 
ist  ferner  massiv,  ein  Theil  derselben  trägt  blos  den  Contour  der  zu  erkennen- 
den Objecte,  so  dass  auch  dieser  Umstand  zur  Prüfung  herangezogen  werden 
kann."'^")  Es  bildet  diese  Methode  den  Uebergang  zu  der  Prüfung  des  soge- 
nannten „stereognostischen  Vermögens",  der  Fähigkeit  nämlich,  körperliche 
Objecte  durch  den  Tastsinn  richtig  zu  erkennen.  Wir  besitzen  über  diesen 
Gegenstand  eine  äusserst  umfangreiche  und  mühsame  Untersuchung  von 
Hoffmann,  welche  zeigt,  dass  es  sich  da  um  eine  sehr  complicirte  Function 
handelt,  welche  gestört  oder  erhalten  sein  kann  bei  Erhaltung  oder  Störung 
der  übrigen  hier  in  Betracht  kommenden  Functionen  der  Hautempfindlichkeit 
(Drucksinn,  Muskelsinn).  Die  Prüfung  geschieht  am  besten  so,  dass  man  dem 
Patienten  Objecte  von  bekannter  Gestalt  (Ring,  Schlüssel)  bei  geschlossenen 
Augen  in  die  Hand  legt  und  dieselbe  benennen  lässt. 

3.  Die  Prüfung  des  Temperatursinnes  geschieht  am  einfachsten 
durch  Aufsetzen  von  warmen  und  kalten  Objecten  (Eprouvetten  mit  warmem 
und  kaltem  Wasser).  Exacte,  aber  complicirte  und  zeitraubende  Methoden  haben 
Nothnagel  und  Eulenbueg  angegeben.  Nach  Nothnagel  werden  mit  ver- 
schieden temperirtem  Wasser  gefüllte  Holzkästchen,  deren  Boden  aus  dünnem 
Kupferblech  besteht  und  welche  mit  Thermometern  versehen  sind,  nach  ein- 
ander auf  die  zu  prüfenden  Hautpartieen  aufgesetzt  und  auf  diese  Weise  die 
eben  noch  erkennbare  Temperaturdifferenz  bestimmt.  Das  EuLENBURG'sche 
Thermaesthesiometer  besteht  aus  zwei  Thermometern,  die  an  einem  Hartgummi- 
stativ angebracht  sind  und  von  denen  das  eine  verschiebbar  ist.  Das  Quecksilber- 
gefäss  des  stabilen  Thermometers  ist  mit  Platindraht  umwickelt  und  kann 
durch  einen  in  demselben  kreisenden  galvanischen  Strom  erwärmt  werden. 
Nachdem  das  verstellbare  Thermometer  aufgesetzt  worden  ist  und  Hauttem- 
peratur angenommen  hat,  wird  das  zweite  durch  den  galvanischen  Strom  unter 
oder  über  die  abgelesenen  Temperaturen  erwärmt  und  constatirt,  ob  dabei 
eine  Kälte-  oder  Wärmeempfindung  zum  Bewusstsein  kommt.  Chaecot 
benützt  ein  Thermometer  mit  flachem  Quecksilbergefäss,  welches  in  zwei  über- 
einander gelegten  Metallhülsen  befindlich  ist.  Die  äussere  kann  abgenom- 
men werden,  die  innere  ist  mit  Kupferspänen  gefüllt,  um  wenigstens  für  kurze 
Zeit  auf  einer  gleichmässigen  Temperatur  erhalten  zu  werden.  Die  äussere 
Hülle  wird  an  einer  Spiritusflamme  erwärmt.  Endlich  hat  Goldscheider 
eine  Methode  angegeben,  welche  von  seiner  durch  grössere  Versuchsreihen 
gestützten  Ansicht  ausgeht,  dass  Kälte-  und  Wärmeempfindung  von  ganz  ge- 
sonderten und  bestimmten  Punkten  der  Haut  ausgelöst  werden.  G.  hat  eine 
Reihe  von  Stellen  bestimmt,  die  sich  durch  grosse  Constanz  und  Empfindlich- 
keit auszeichnen  sollen,  und  prüft  nun  an  diesen  die  Kälte-  resp.  die  Wärme- 
empfindlichkeit durch  Aufsetzen  von  abgekühlten  resp.  erwärmten  Metallbolzen. 
Die  Kältepunkte  sind  in  12,  die  Wärmepunkte  in  8  Empfindlichkeitsstufen 
getheilt  und  durch  Vergleich  mit  den  entsprechenden  Punkten  der  normalen 
Seite  kann  man  etwaige  Störungen  des  Temperatursinnes  leicht  in  eine  em- 
pirische Scala  bringen.  Es  darf  nicht  verschwiegen  werden,  dass  die  von 
Blix  und  Goldscheider  aufgestellte  Theorie   der   specifischen  Wärme-   und 


*)  Zu  beziehen  beim  Mechaniker  Rothe  in  Prag. 


EMPFINDÜNGSSTÖRÜNGEN.  539 

Kältepunkte  mit  der  HERiNG'schen  Theorie  des  Temperatursinnes  in  Wider- 
spruch steht  und  eine  nochmalige  Prüfung  dieser  Frage  sehr  wünschenswert 
erscheint. 

4.DiePrüfungder  sogenannten„elektrokutanenSensibilität"*) 
geschieht  entweder  nach  Letden  so,  dass  die  Drähte  eines  Inductionsapparates 
mit  den  oben  isolirten  Spitzen  eines  Zirkels  verbunden  werden  und  der 
Kollenabstand  notirt  wird,  bei  welchem  eben  das  Prickeln  des  Inductionsstromes 
gefühlt  wird,  oder  bequemer  mit  der  ERB'schen  Elektrode.  In  einer  Hart- 
gummihülseist ein  Bündel  oben  glatt  abgeschliffener  Kupferdrähte  eingeschlossen. 
Es  wird  der  Rollenabstand  gesucht,  bei  welchem  eben  eine  merkliche  Empfin- 
dung auftritt. 

5.  Prüfung  der  Schmerzempfindung.  Alle  bisher  untersuchten 
Empfindungsqualitäten  haben  die  Eigenthümlichkeit,  dass  die  ihnen  zu  Grunde 
liegenden  Reize,  bis  zu  einem  gewissen  Grade  gesteigert,  Schmerzempfindung 
hervorrufen.  Man  prüft  die  letztere  gewöhnlich  durch  leichte  Nadelstiche. 
Eine  exacte  Prüfung  sollte  das  BjöRNSON'sche  Algesimeter  gestatten.  Dasselbe 
besteht  aus  zwei  zangenartig  verbundenen  Metallplatten,  deren  Druck  auf 
einer  gefassten  Hautfalte  an  einer  Scala  abgelesen  werden  kann.  Besser 
eignet  sich  zu  einer  quantitativen  Prüfung  die  Untersuchung  mit  dem  Induc- 
tionsstrome.  Man  notirt  den  Rollenabstand,  bei  dem  der  Strom  eine  deutliche 
Schmerzempfindung  auslöst.  Es  kann  ferner  der  Temperaturgrad  einer  mit 
heissem  Wasser  gefüllten  Eprouvette,  bei  welchem  eben  eine  Schmerzempfindung 
zum  Bewusstsein  kommt,  zur  Prüfung  derselben  benützt  werden. 

6.  Die  letzt  zu  besprechende  Prüfung,  klinisch  eine  der  wichtigsten, 
ist  die  des  sogenannten  „Muskelsinnes".  Wenn  auch  die  viel  umstrittene 
Frage  der  sensiblen  Muskelnerven  in  letzter  Zeit  in  positivem  Sinne  dahin 
entschieden  zu  sein  scheint,  dass  man  sensible  an  der  Oberfläche  der  Muskeln 
sich  verästelnde  Nerven  annimmt,  so  bildet  doch,  was  wir  Muskelsinn  nennen, 
eine  ziemlich  complicirte  Function,  welche  sich  wahrscheinlich  aus  den  von 
der  Haut,  den  Fascien,  Bändern,  Gelenken  und  Muskeln  dem  Centralorgane 
zugeleiteten  sensiblen  Erregungen  zusammensetzt. 

Man  prüft  ihn  erstens  durch  die  Vornahme  passiver  Bewegungen  an  den 
Gelenken.  Das  zu  untersuchende  Gelenk  wird  mit  beiden  Händen  oberhalb 
und  unterhalb  gut  fixirt  und  es  werden  demselben  ganz  leichte  Bewegungen 
ertheilt,  die  der  Kranke  zu  erkennen,  resp.  mit  dem  entsprechenden  Gelenk 
der  anderen  Seite  zu  wiederholen  hat.  Goldscheider  hat  einen  Apparat  an- 
gegeben, welcher  durch  einen  an  einem  getheilten  Sector  spielenden  Pendel 
gestattet,  die  Grösse  der  Excursionen  direct  abzulesen.  Man  prüft  ihn  ferner 
unter  der  Form  des  „Kraftsinnes",  indem  man  verschiedene  schwere  Gewichte 
in  ein  Tuch  gehüllt  heben  lässt  und  die  Differenz  der  Gewichte  angeben 
lässt.  Hitzig  benützt  zu  diesem  Zwecke  eine  Reihe  äusserlich  gleicher  Holz- 
kugeln, die  eine  verschieden  grosse  Bleifüllung  haben  und  entweder  mit  der 
Hand  oder  mit  dem  Fuss  in  einer  am  Strumpf  angestrickten  Seitentasche  ge- 
hoben werden.     Störend  ist  bei  diesem  Prüfungsmodus  der  Drucksinn. 

Endlich  prüft  man  ihn  durch  die  sogenannten  „Lagevorstellungen". 
Man  gibt  einer  Extremität  des  Kranken  (bei  geschlossenem  Auge)  oder  den 
Fingern  desselben  eine  bestimmte  Lage.  Der  Kranke  soll  dieselbe  richtig  be- 
zeichnen. Dies  geschieht  am  besten  durch  Wiederholung  der  einer  Extre- 
mität passiv  ertheilten  Lage  mit  der  normalen  Extremität.  Oder  man  lässt 
mit  der  normalen  Extremität  nach  bestimmten  Punkten  (z.  B.  Daumen) 
der  erkrankten  Extremität,  welcher  man  bei  geschlossenen  Augen  des  Kranken 
verschiedene  Lagen  ertheilt,  hinweisen.  Bei  normalen  Individuen  geschieht  dies 


*)  Vergl.  den  Artikel  „Elelctrodiagnostik"  von  Dr.  A.  Sperling,  pag.  503  ds.  Bd. 


540  EMPFINDUNGSSTÖRUNGEN. 

mit  grösster  Präcision,    bei  vorhandener  Empfindungsstörung   wird  ein  grös- 
serer oder  kleinerer  Fehler  begangen. 

Wenden  wir  uns  zur  Betrachtung  der  Empf  in  düng  s  Störungen,  wie 
sie  als  Symptome  der  Erkrankung  des  Nervensj^stems  aufzutreten 
pflegen,  so  können  von  den  durch  Application  äusserer  Reize  erkennbaren 
objectiven  Empfindungsstörungen,  die  wir  gleich  näher  zu  besprechen 
haben  werden,  die  subjectiven  unterschieden  werden,  bei  denen  von  den 
Kranken  in  diesem  oder  jenem  Erapfindungsgebiet  Sensationen  der  verschie- 
densten Art  angegeben  werden.  Die  gewöhnlichste  derselben,  der  Schmerz, 
bildet  ein  so  allgemein  verbreitetes,  bei  Krankheiten  der  verschiedensten 
Art  beobachtetes  Symptom,  dass  er  unter  der  Rul)rik  der  Empfindungsstörungen 
selten  abgehandelt  wird.  Doch  bietet  derselbe  allein  oder  mit  anderen  Stö- 
rungen verbunden  häufig  wichtige  diagnostische  Anhaltspunkte.  Derselbe  kann 
in  bestimmten  Nervengebieten  localisirt  sein  oder  seinen  Ort  wechseln,  kann 
durch  Druck  gesteigert  werden,  so  bei  den  sogenannten  Schmerzpunkten 
der  Neuralgieen,  bei  gewissen  Formen  des  Rückenschmerzes  der  Neiirasthe- 
niker,  bei  peripherer  Neuritis.  Er  kann  ferner  ganz  bestimmte  klinische 
Erscheinungsformen  annehmen,  welche  für  bestimmte  Krankheiten  charak- 
teristisch sind,  so  der  eigenthümlich  localisirte  Schmerz  der  Hemikranie,  die 
lancinirenden  Schmerzeh  der  Tahes.  Besonders  im  Beginne  verschiedener 
Nervenerkrankungen  sind  Empfindungsstörungen  häufig,  welche  sich  entweder 
durch  das  nicht  durch  äussere  Reize  veranlasste  Auftreten  von  Wärme-  oder 
Kälteempfindung  charakterisiren  oder  eigenthümliche  Tastempfindungen  dar- 
stellen, wie  sie  sonst  im  normalen  Leben  nur  durch  complicirte  Eingriffe  der 
Aussenwelt  hervorgerufen  werden  können  und  die  man  gewöhnlich  mit  dem 
Namen  der  Parästhesieen  zusammenfasst.  Pathologische  Kälteempfindungen 
kommen  oft  in  den  Extremitäten,  besonders  häufig  den  unteren  bei  Tabes 
Neurasthenie,  mit  Hitzegefühl  (und  Schmerz)  abwechselnd  bei  vasomotorischen 
Neurosen  vor,  im  letzteren  Fall  einhergehend  mit  entsprechenden  Aenderungen 
der  Hautcirculation  (Erythromelalgie).  Wärmeempfindung  über  den  ganzen 
Körper  verbreitet  bildet  ein  höchst  peinliches  und  charakteristisches  Symptom 
bei  Paralysis  agitans,  in  Form  von  aufsteigender  mit  Schweissen  einhergehender 
Wärme  bei  Morbus  Basedow.  Die  Parästhesieen  (sensu  strictiori  können  auch 
die  abnormenWärme-  und  Kälteempfindungen  als  Parästhesieen  aufgefasst  werden), 
treten  am  häufigsten  ebenfalls  in  den  Extremitäten  auf.  Die  bekannteste  Form 
derselben  bildet  das  sogenannte  Ameisenlaufen,  dessen  gesteigerte  Form  das 
Gefühl  von  zahllosen  Nadelstichen  hervorrufen  kann  (needles  and  pins  der 
englischen  Autoren),  das  Gefühl  von  Würmerkriechen,  Kitzel,  Jucken,  endlich 
das  Gefühl  des  Angeschwollenseins,  der  abnormen  Länge  und  Kürze.  Alle 
diese  abnormen  Empfindungen  können  sowohl  durch  Erkrankungen  des  peri- 
pheren als  des  centralen  Nervensystems  bedingt  sein  und  sind  besonders  häufig 
bei  verschiedenen  spinalen  Erkrankungen.  Gewisse  Formen  von  Parästhesien 
sind  charakteristisch  durch  ihr  Auftreten  in  ganz  bestimmten  Gebieten  und 
sind  für  manche  Erkrankungen  beinahe  pathognomonisch,  so  das  Gürtelgefühl 
bei  Tabes,  das  Gefühl  des  Clavus  bei  Hysterie.  Gewissermassen  den  Ueber- 
gang  zu  den  objectiven  Enipfindungsstörungen  bilden  diejenigen  Formen  der 
subjectiven,  in  denen  die  Kranken  in  diesem  oder  jenem  Gebiet,  meist  betrifft  es 
die  Ober-  oder  Unterextremitäten,  eine  Herabsetzung  der  tactilen  Empfindung 
angeben,  ohne  dass  die  objective  Prüfung  etwas  Abnormes  entdecken  kann. 
Es  sind  dies  die  Fälle,  wo  das  Gefühl  des  Taubseins,  des  Abgestorbenseins 
von  den  Kranken  augegeben  wird.  Sie  werden  besonders  häufig  bei  Grosshirn- 
erkrankimgen  in  den  oberen  Extremitäten  beobachtet.  Besonders  bemerkens- 
werth  ist,  dass  während  bei  den  erwähnten,  die  Kranken  oft  sehr  belästigenden 
Formen  von  Parästhesieen  die  genaueste  Untersuchung  keinerlei  Defect  der 
Empfindung  nachweisen  kann,   andererseits   die  hochgradigsten  Formen  von 


EMPFINDUNGSSTÖRUNGEN.  541 

objectiver  Empfindungsstörung,  wie  sie  z.  B.  bei  Hysterie  vorkommen,  den 
Kranken  gar  nicht  zum  Bewusstsein  kommen,  wenn  sie  ihnen  nicht  durch  eine 
zufällige  Verletzung  (meist  sind  es  Verbrennungen)  oder  durch  eine  ärztliche 
Untersuchung  bekannt  wird,  ein  Umstand,  der  mit  darauf  hinweist,  dass  es 
sich  bei  den  ersteren  wohl  meistens  um  centrale  Reizzustände  handelt,  wofür 
auch  das  Auftreten  derselben  im  Beginne,  das  Verschwinden  derselben  und 
Ersetztwerden  durch  Anästhesie  im  weiteren  Verlaufe  der  Erkrankung  spricht. 

Zur  Bezeichnung  der  objectiven  Empfindungsstörungen  ge- 
braucht man  im  Allgemeinen  die  Ausdrücke  Anästhesie,  Hypästhesie  und 
Hyperästhesie.  Unter  Anästhesie  versteht  man  diejenigen  Fälle,  in  denen  durch 
Application  eines  äusseren  adäquaten  Reizes  auch  in  maximaler  Stärke  keine 
Empfindung  ausgelöst  wird,  unter  Hypästhesie  diejenigen,  bei  welchen  die 
„Reizschwelle"  eine  abnorm  hohe  ist,  zur  Erzeugung  einer  normalen  Empfin- 
dung also  abnorm  starke  Reize  nöthig  sind.  Hyperästhesie  würde  eigentlich 
den  entgegengesetzten  Zustand  bedeuten,  nämlich  die  Erregung  von  Empfin- 
dungen durch  abnorm  schwache  Reize,  also  eine  Herabsetzung  der  „Reiz- 
schwelle". Gewöhnlich  gebraucht  man  diesen  Ausdruck  aber  promiscue  mit 
dem  der  Hyperalgesie,  den  Zustand  bezeichnend,  in  welchem  bereits  schwache 
Reize  Schmerzempfindung  hervorrufen,  oder  man  bezeichnet  einen  abnorm  psy- 
chischen Zustand  damit,  in  welchem  bei  schwachen  objectiven  Reizen,  welche 
sonst  mit  keinem  ausgesprochenen  „Gefühlston"  verbunden  sind,  lebhafte  Unlust- 
gefühle  auftreten.  Eine  echte  pathologische  Hyperästhesie  im  obigen  Sinne 
des  Wortes  scheint  überhaupt  nicht  beobachtet  worden  zu  sein,  wenn  ich  eine 
Beobachtung  Beaids  ausnehme,  in  welcher  eine  hypnotisirte  Patientin  durch 
mehrere  Zimmer  hindurch  den  Geruch  verschiedener  duftender  Substanzen 
richtig  erkannt  haben  soll. 

Was  nun  die  Anästhesie  und  die  Hypästhesie  betrifft,  so  kann  dieselbe 
eine  totale  oder  partielle  sein.  Total  nennen  wir  dieselbe,  wenn  sämmt- 
liche  Empfindungsqualitäten,  also  Drucksinn,  Schmerzempfindung,  Temperatur- 
empfindung, Muskelsinn  u.  s.  f.  gleichmässig  von  der  störenden  Ursache  ge- 
litten haben,  also  eine  gleiche  Herabsetzung  oder  gleichmässige  Auslöschung 
zeigen,  partiell  wenn  bei  vollständigem  oder  theilweisem  Erhaltensein  der  einen 
oder  anderen  Qualität  die  anderen  fehlen.  Dieser  letzte  Typus,  die  Disso- 
ciation  der  Sensibilität,  wie  sie  von  Chaecot  genannt  wird,  ist  nicht  nur  klinisch, 
sondern  auch  theoretisch  von  grosser  Wichtigkeit.  Wie  es  scheint,  wurde 
man  auf  die  Thatsache,  dass  die  Schmerzempfindung  aufgehoben  sein  könne, 
bei  erhaltener  Tastempfindung  zuerst  bei  der  Einführung  der  Aethernarcose 
aufmerksam,  ferner  wurde  dieser  Zustand  bei  der  Bleilähmung  zuerst,  von  Kean, 
dann  von  einem  schweizerischen  Arzt  Vieusseux,  „der  an  einer  Erkrankung 
des  Centralnervensystems"  litt,  an  sich  selbst  beobachtet  (Citat  nach  Schiff, 
Lehrbuch  der  Physiologie).  Schiff  hat  dann  durch  scharfsinnige  Experimente 
den  Nachweis  geliefert,  dass  Thiere,  denen  die  graue  Substanz  des  Rücken- 
markes bei  Schonung  der  weissen  Hinterstränge  durchschnitten  wurde,  an  ihrem 
Hinterkörper  Verlust  der  Schmerzempfindung  bei  erhaltener  Tastempfindung 
zeigen.  Spätere  klinische  Untersuchungen,  besonders  von  Schulze  und  Kahler, 
haben  eine  weitere  Form  der  „Dissociation"  kennen  gelehrt,  welche  besonders 
für  die  Syringomyelie  charakteristisch  ist,  und  daher  von  Chaecot  geradezu 
als  Dissociation  syringomyelique  bezeichnet  wurde.  Bei  dieser  Form  ist  bei 
vollständigem  Erhaltensein  des  Tastsinnes,  Herabsetzung  oder  Aufhebung  der 
Schmerzempfindung  und  der  Temperaturempfindung  vorhanden.  Besonders 
charakteristisch  in  Verbindung  mit  anderen  Symptomen  (Muskelatrophie)  füi' 
letztgenannte  Krankheit  ist  dieser  Typus  übrigens  auch  bei  der  Hysterie  aber 
auch  bei  peripheren  Nervenerkrankungen  (Neuritis),  insbesonders  bei  Lepra 
beobachtet  worden.  Theoretisch  wichtig  sind  diese  Thatsachen,  weil  sie  für 
eine  anatomische    Trennung   der  Bahnen   für  Tastsinn,  Temperatursinn  und 


542  EMPFINDUNGSSTÖRÜNGEN. 

Schmerzgefühl  sprechen.  Eigenthümliche  Combination  von  Anästhesie  mit  Hy- 
peralgesie  und  normaler  Empfindlichkeit  zeigen  die  von  Leyden  als  „relative 
Hyperästhesie"  bezeichneten  Fälle,  in  denen  die  Kranken  gegen  schwächere 
Keize  anästhetisch  sind,  bei  Steigerung  der  Reizstärke  aber  von  einem  ge- 
wissen Punkt  abnorm  intensive  Empfindungen  haben,  ferner  die  von  Berger 
beschriebenen  von  B.  Stern  als  „relative  Anästhesie"  bezeichneten,  wo  schwache 
Reize  normal  oder  schmerzhaft,  excessive  gar  nicht  empfunden  werden.  Beide 
Störungen  kommen  nicht  gar  zu  häufig  bei  Tabes  vor. 

Die  Vertlieilimgsweise  der  Anästhesie,  resp.  der  Hyperästhesie  be- 
treffend, welche  für  die  richtige  Diagnose  der  zu  Grunde  liegenden  Erkran- 
kung natürlich  von  grösster  Wichtigkeit  ist,  sind  in  erster  Linie  diejenigen 
Fälle  zu  nennen,  in  welchen  dieselbe  mehr  oder  weniger  genau  dem  Aus- 
breitungsgebiet eines  bestimmten  Nerven  entspricht,  wie  dies  also  bei  Durch- 
schneidung oder  neuritischer  Erkrankung  der  betreffenden  Nerven  vorkommen 
kann.  Wir  sprechen  nur  von  der  Möglichkeit  dieses  Typus,  denn  sowohl 
chirurgische  als  experimentelle  Erfahrungen  der  neueren  Zeit  (Arloing  und 
Tripier)  haben  gelehrt,  dass  im  Trigeminusgebiet  sowohl,  als  an  den  Extre- 
mitäten, besonders  den  Spitzen  derselben  nach  einer  Nervendurchschneidung 
die  Anästhesie  entweder  ganz  fehlen  oder  in  relativ  kurzer  Zeit  verschwinden 
kann,  dass  ferner  das  anästhetische  Gebiet  häufig  durchaus  nicht  der  anatomi- 
schen Ausbreitung  des  durch  trennten  Nerven  entspricht,  sondern  ein  viel  kleine- 
res Gebiet  einnimmt  (Collateralinnervation),  indem  die  einzelnen  Innervations- 
gebiete  in  einander  überzugreifen  scheinen.  Das  letztere  gilt  nicht  für  die  nach 
Durchtrennung  einzelner  hinterer  Wurzeln  beobachteten  Empfindungsstörungen. 
Man  hat  erst  in  jüngster  Zeit  den  Anfang  gemacht,  an  der  Hand  geeigneter 
Fälle  und  Thierversuche  die  hiebei  auftretenden  anästhetischen  Partieen  ge- 
nauer zu  bestimmen,  sie  scheinen  genau  begrenzte,  nie  in  einander  übergrei- 
fende Hautgebiete  darzustellen,  für  welche  das  Phänomen  der  „Collateralinner- 
vation" nicht  gilt. 

Querdurchtrennung  des  Rückenmarks  oder  derselben  entspre- 
chende Erkrankung  setzen  complete  Anästhesie  der  unterhalb  gelegenen  Par- 
tieen, halbseitige  Durchtrennung  erzeugt  Hemianästhesie  der  gekreuzten,  unter 
der  Verletzung  gelegenen  Körperhälfte.  Häufig  ist  auch  an  der  nicht  ge- 
kreuzten Körperhälfte  eine  schmale  anästhetische  Zone  nachweisbar,  welche  sich 
in  der  Form  eines  Gürtels  um  den  Körper  erstreckt  und  das  unterhalb  der- 
selben gelegene  motorisch  gelähmte  und  hyperästhetische  Gebiet  begrenzt. 
Dieselbe  erklärt  sich  durch  Verletzung  der  betreffenden  hinteren  Wurzel. 
Meist  erstreckt  sich  diese  Form  der  Anästhesie  bis  zur  Medianlinie,  doch  hat 
schon  Brown  Sequard  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  vorn  und  hinten 
nahe  der  Medianlinie  ein  Raum  von  etwa  einem  Zoll  sich  befindet,  innerhalb 
dessen  auf  der  Seite  der  Läsion  die  Hyperästhesie,  auf  der  anderen  jeder  höhere 
Grad  von  Anästhesie  fehlen  kann.  Diese  Erscheinung  erklärt  sich  durch  das 
Uebergreifen  der  sensiblen  Nerven   der  beiden  Seiten  über  die  Medianlinie. 

Gekreuzte  Hemianästhesie  ist  ferner  beobachtet  worden  bei  Lä- 
sionen in  der  Gegend  der  Schleife  und  der  Olivenzwischenschicht  der  Brücken- 
region in  Uebereinstimmung  mit  den  neueren  Forschungen  über  den  anato- 
mischen Verlauf  der  Bahnen  der  Hautsensibilität,  welche  bekanntlich  aus  den 
Hinterstrangkernen  in  die  gekreuzte  Schleifenbahn  eintreten.  Gekreuzte  He- 
mianästhesie tritt  ferner  auf  nach  Läsionen  des  hinteren  Drittels  des  hinteren 
Schenkels  der  inneren  Kapsel,  hier  zum  erstenmale  verbunden  mit  Empfindungs- 
störungen im  Gebiet  der  höheren  Sinnesnerven.  (Sensorische  Anästhesie.)  Ana- 
tomische, physiologische  und  klinische  Beobachtungen  drängen  nämlich  dahin, 
ein  Durchtreten  sämmtlicher  Empfindungsbahnen  auf  ihren  Wegen  zur  Hirn- 
rinde durch  diese  weisse  Fasermasse  anzunehmen,  und  in  der  That  sind  in  den 
entsprechenden  Fällen  mit  der  gekreuzten  Anästhesie  der  Haut  und  der  Schleim- 


EMPFINDUNGSSTÖRÜNGEN.  543 

häute,  Fehlen  des  Geruchssinnes  (Änosmie)  und  Gehörssinns  (Anahusie)  der 
gekreuzten  Seite  und  Störungen  des  Gesichtssinnes  (Amhlyopie),  angeblich  eben- 
falls der  gekreuzten  Seite  beobachtet  worden.  Indess  bietet  der  letztere  Punkt 
Anlass  zu  begründetem  Zweifel.  Es  ist  nämlich  ausser  allem  Zweifel,  dass 
Läsionen  im  Gebiete  der  Occipitalhirnrinde  nicht  gekreuzte  Amblyopie,  sondern 
homogene  Hemiopie  an  beiden  Augen  hervorrufen  und  es  ist  eine  fast  un- 
abweisliche  Forderung,  dass  dies  auch  bei  Läsionen  des  Stabkranzes  des  Occi- 
pitalhirns  nach  und  während  seines  Durchtrittes  durch  die  innere  Kapsel  er- 
folgen muss.  Da  die  bisherigen  Beobachtungen,  wie  schon  erwähnt,  nur  von 
gekreuzter  Amblyopie  sprechen,  so  erscheint  eine  Neuuntersuchung  dieser  Frage 
an  geeigneten  Fällen  im  höchsten  Grade  wünschenswerth. 

Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  eine  ausgedehnte  Rindenläsion  im  Gebiet 
der  Centralwindungen  mit  Hemianästhesie  der  gekreuzten  Körperhälfte  sich 
verbinden  würde,  doch  sind  derartige  Fälle  bisher  nicht  beobachtet  worden,  hin- 
gegen konnten  Teipier  und  Andere  nach  Läsionen  der  Hirnrinde  gekreuzte 
Sensibilitätsstörung  von  verschiedener  Ausdehnung  constatiren.  Am  häufigsten 
erscheint  die  Hemianästhesie  als  Begleiterscheinung  von  functionellen  Stö- 
rungen des  Nervensystems,  in  erster  Linie  der  Hysterie,  für  welche  sie  lange 
Zeit  geradezu  als  pathognomonisches  Zeichen  aufgefasst  wurde.  In  der  That 
bildet  totale  Hemianästhesie  vorwiegend  der  linken  Körperhälfte  sämmtlicher 
Hautsinnesqualitäten,  verbunden  mit  Anästhesie  der  betreffenden  Schleimhäute 
und  mit  totalem  oder  partiellem  Verlust  des  Gehörs,  Geruchs,  Geschmacks  und 
Gesichts  der  erkrankten  Seite,  eines  der  stabilsten  Symptome  der  „grossen  Neu- 
rose". Die  Störung  des  Gesichtssinns  bildet  dabei  entweder  complete  Amau- 
rose oder  nur  Amblyopie,  gewöhnlich  mit  bedeutender  Einengung  des  Gesichts- 
feldes (niemals  Hemiopie)  mit  oder  ohne  Dyschromatopsie.  Die  Hemianästhesie 
kann  total  sein,  kann  aber  auch  den  „dissociirten  Typus"  annehmen  und  eine 
oder  die  andere  Function  des  Hautsinns  vorwiegend  betreffen.  Die  hysterische 
Hemianästhesie  kann  dauernd  sein,  durch  Monate  und  Jahre  bestehen,  oder  sie 
bildet  ein  wechselndes  Symptom,  welches  besonders  häufig  die  sogenannten 
„Krisen",  d.  i.  die  Anfallsgruppen  als  prämonitorisches  Symptom  einleitet 
und  einige  Zeit  nach  dem  Aufhören  der  Anfälle  wieder  verschwindet.  Während 
die  Hemianästhesie  mit  Betheiligung  der  höheren  Sinne  von  der  französischen 
Schule  als  ausschliesslich  der  Hysterie  angehörig  betrachtet  wird,  soll  dieselbe 
nach  Untersuchungen  deutscher  Autoren  nicht  derselben  allein  eigenthümlich 
sein,  sondern  auch  bei  anderen  Neurosen,  besonders  bei  der  sogenannten  Un- 
fallsneurose, vorkommen  können.  Der  Streit  über  diese  Frage  ist  nicht  ab- 
geschlossen, da  die  französischen  Kliniker  die  letzteren  Fälle  ebenfalls  zur  Hy- 
sterie rechnen. 

Erstreckung  der  Anästhesie  auf  einzelne  Körpertheile,  insbe- 
sonders  Extremitäten,  wobei  die  Abgrenzung  nicht  nach  Nervengebieten,  sondern 
meist  durch  verticale  Linien  erfolgt,  kommt  vor  bei  Läsionen  der  Hirnrinde, 
Hysterie,  aber  insbesonders  nach  den  Untersuchungen  von  Oppenheim  und 
Thomsen  auch  bei  anderen  functionellen  Nervenkrankheiten  sowie  bei  organi- 
schen Nervenerkrankungen  als  accessorische  functionelle  Störung.  Bei  der  Hyste- 
rie bildet  diese  Form  der  Sensibilitätsstörung  jenen  eigenthümlichen  Ausdeh- 
nungsmodus der  Anästhesie,  welchem  von  Charcot  der  sehr  bezeichnende  Namen 
der  „Anesthesie  par  segments  geometriques"  gegeben  wurde.  Sie  schliesst  sich 
häufig  an  hysterische  Lähmungen  der  entsprechenden  Extremität  an,  oft  mit 
directer  Beziehung  auf  den  traumatischen  Ursprung  der  Läsion,  so  z.  B.  in 
dem  Falle,  wo  die  verticale  Begrenzungslinie  der  Anästhesie  der  Stelle  ent- 
sprach, wo  ein  Wagenrad  über  die  Unterextremitäten  wegging.  Auch  diese 
nach  Körpertheilen  begrenzten  Anästhesien  vereinigen  sich  oft  mit  sensorischen 
Störungen  und  kommen  ausser  bei  Hysterie  bei  anderen  functionellen  Neu- 
rosen vor,  regelmässig  vereint  mit  gewissen  psychischen  Anomalien,  Bewusst- 


544  EMPFINDUNGSSTÖEUNGEN. 

Semstrübungen,  Hallucinations-, Traum-  und  Dämmerzuständen,  abnormer  Reiz- 
barkeit oder  Depression  und  Angstzuständen.  Es  besteht  übrigens  auch  hier 
bezüglich  der  Auffassung  dieser  Fälle  die  oben  erwähnte  Differenz  zwischen 
der  französischen  und  deutschen  Schule.  Im  Anschluss  an  neuere  Unter- 
suchungen hat  ferner  Chakcot  eine  ähnliche  Yertheilung  der  Sensibilitäts- 
störung auch  bei  Syringomyelie  beschrieben. 

Ein  fernerer  Vertheilungsmodus  der  Anästhesie  ist  das  Auftreten  der- 
selben in  isolirten  Inseln.  Unregelmässig  über  den  ganzen  Körper 
zerstreut  finden  sich  mehr  weniger  grosse  anästhetische  Hautpartieen.  Diese 
können  entweder  constant  sein  oder  ihre  Ausdehnung  und  Lage  wechseln. 
In  einem  CHARCOT'schen  Falle  wurde  gleichsam  der  Zerfall  einer  Hemi- 
anästhesie  in  solche  anästhetische  Inseln  beobachtet.  Was  das  Vorkommen 
dieser  Form  bei  anderen  Erkrankungen  des  Nervensystems  betrifft,  so  gilt  für 
sie  das  oben  von  den  hysterischen  Anästhesien  Gesagte. 

Endlich  gibt  es  Fälle,  in  denen  sich  die  Anästhesie  über  den  ganzen 
Körper  erstreckt,  manchmal  mit  weitgehender  Betheiligung  der  höheren 
Sinnesorgane.  Während  es  sich  in  einzelnen  dieser  Fälle  wohl  zweifellos  um 
eine  über  den  ganzen  Körper  sich  erstreckende  hysterische  Anästhesie  handelt, 
bilden  die  anderen  in  der  Literatur  beschriebenen  Fälle  eine  Gruppe  für  sich. 
Einer  der  älteren  derselben,  der  zur  anatomischen  Untersuchung  gelangte  (Fall 
Späth),  gehört  wahrscheinlich  in's  Gebiet  der  Syringomyelie.  Die  anderen 
sind  meist  mit  psychischen  Störungen  verbunden  und  stellen,  wie  die  anato- 
mische Untersuchung  einzelner  derselben  lehrt,  functionelle  Erkrankungen  des 
Nervensystems  dar,  deren  Einreihung  in  bestimmte  klinische  Rahmen  heute 
noch  nicht  möglich  ist. 

Dass  eine  echte  Hyperästhesie  klinisch  nicht  bekannt  ist  und  die  als  solche 
beschriebenen  Fälle  wohl  meist  in  das  Gebiet  der  Hyperalgesie  gehören, 
wurde  schon  erwähnt.  Die  Art  und  Weise  des  Auftretens  kann  ganz  analog 
dem  der  Anästhesie  sein.  Von  klinisch  genauer  bestimmten  Formen  wäre 
besonders  zu  erwähnen  die  an  der  derVerletzung  gleichnamigen  motorisch  ge- 
lähmten Seite  auftretende  Hyperalgesie  bei  der  BBOwx-SEQUARD'schen  Lähmung, 
sowie  die  Hyperalgesieen  bei  Hysterie.  In  sehr  seltenen  Fällen  betrifft 
diese  die  ganze  Körperoberfläche  und  äussert  sich  ausser  in  schmerzhafter 
Empfindung  einfacher  Berührungen  der  Haut  in  höchst  qualvollen  subjectiven 
Empfindungsstörungen,  Kriebeln,  Prickeln  u.  s.  f.,  in  anderen  ebenso  seltenen 
Fällen  constatirt  man  eine  Hemihyperalgesie.  Viel  häufiger  sind  die  hyper- 
algetischen  Hautpartien  unregelmässig  über  den  Körper  vertheilt  oder  sie 
sind  wie  die  Anästhesieen  in  „geometrisch  begrenzten"  Segmenten  angeordnet. 
Im  letzteren  Falle  scheint  die  Regel  zu  gelten,  dass  die  Hyperalgesie  ebenso 
wie  die  Anästhesie  einer  Störung  der  Function  superponirt  erscheint. 
So  wie  also  die  hysterische  Anästhesie  in  geometrischen  Segmenten  meist  einer 
Lähmung  der  unterliegenden  Muskeln  superponirt  ist,  so  ist  die  Hyperalgesie 
in  geometrischen  Segmenten  meist  Contracturen  der  betreffenden  Musculatur 
superponirt. 

Eine  fernere  wichtige  hieher  gehörige  Form  bildet  die  Hyperalgesie, 
welche  bei  hysterischen  Arthralgieen  die  über  dem  erkrankten  Gelenke  ge- 
legene Haut  in  verschiedener  Ausdehnung  betrifft  und  häufig  noch  nach 
Wiederherstellung  der  Function  des  Gelenkes  fortbesteht.  Auf  eigenthüm- 
liche  Formen  der  Hyperalgesie  der  Haut  hat  neuerdings  H.  Head  aufmerk- 
sam gemacht.  Sie  treten  bei  verschiedenen  schmerzhaften  Erkrankungen  inne- 
rer Organe  auf  und  decken  sich  in  ihrem  Ausbreitungsgebiet  mit  dem  von 
den  verschiedenen  Formen  des  Herpes  Zoster  eingenommenen  Hautterritorien. 
Schliesslich  sind  noch  die  unregelmässig  über  den  Körper  verbreiteten  hyper- 
algetischen  Plaques  bei  der  Hysterie  zu  erwähnen,  welche  als  hysterogene 
Zonen  bezeichnet  werden  und  die  Eigenthümlichkeit  zeigen,  dass  durch  deren 


EMPHYSEM  DER  LUNGEN.  545 

Berührung  oder  länger  dauernde  mechanische  Erregung  hysterische  Anfälle 
ausgelöst,  aber  auch  coupii't  werden  können. 

Zum  Schlüsse  müssen  wir  noch  einiger  eigenthümlichen  Formen  von  Em- 
pfindungsstörungen gedenken,  welche  insbesondere  dem  klinischen  Krankheits- 
biide  der  Tabes  eigenthümlich  sind  und  theils  wahrscheinlich  auf  Störungen 
der  Empfindungsleitung  beruhen,  theils  aber  bisher  einer  ausreichenden  Er- 
klärung nicht  zugänglich  erscheinen.  Hieher  gehört  vor  Allem  die  einfache 
Yerlangsamung  der  Empfindungsleitung,  gewöhnlich  1 — 3  Secunden  betragend 
und  alle  Emptindungsqualitäten  gleichmässig  betreffend.  Häufiger  findet  sich 
die  Yerlangsamung  der  Schmerzempfindung  gegen  die  Tastempfindung,  wobei 
z.  B.  nach  Application  eines  Nadelstiches  zuerst  die  einfache  Berührung  und 
nach  einem  deutlichen  Intervall  erst  die  Schmerzempfindung  wahrgenommen 
wird.  In  ähnlicher  Weise  kommt  eine  Incougruenz  der  Tast- Wärmeempfin- 
dung vor. 

Als  Doppelemp findung  wird  jene  Empfindungsanomalie  bezeichnet, 
bei  welcher  auf  einen  Nadelstich  hin  zwei  Schmerzeindrücke  empfunden  werden, 
welche  sich  in  einem  kurzen  Zeiträume  folgen,  am  selben  Orte  localisirt  werden 
und  von  denen  der  zweite  gewöhnlich  der  stärkere  ist  (Nauxyx).  In  anderen 
Fällen  wurde  die  zweite  Empfindung  2 — 3  cm  entfernt  von  dem  ursprünglichen 
Stiche  localisirt.  Dieselbe  Erscheinung  wurde  auch  auf  dem  Gebiet  des  Tast- 
sinnes beobachtet  und  mit  dem  Xamen  der  Polyästhesie  bezeichnet. 

Mit  dem  Xamen  der  Allocliirie  wurde  ein  selten  beobachtetes  und 
ausser  bei  Tabes  auch  bei  Hysterie  und  multipler  Sklerose  vorkommendes 
Symptom  benannt,  welches  darin  besteht,  dass  ein  an  eine  Extremität  des 
Kranken  applicirter  Pieiz  an  der  anderen  empfunden  wird. 

Unter  dem  Xamen  der  paradoxen  oder  perversen  Temperatur- 
empfindung bezeichnet  man  die  Erscheinung,  dass  Application  eines  Kälte- 
reizes Wäiineempfindung  hervorruft.  Alle  diese  Symptome  sind,  wie  schon 
erwähnt  wurde,  besonders  der  Tabes  eigenthümlich.  Bei  der  Hysterie  hat 
PiTEES  unter  dem  Xamen  der  Haphalgesie  ein  Symptom  beschrieben,  das 
darin  besteht,  dass  nach  der  Application  ganz  bestimmter  Metalle  auf  sonst 
anästhetische  Hautpartien  schmerzhafte  Empfindungen  auftreten,  welche  selbst 
zu  Contracturen  Veranlassung  geben  können.  Täuschung  von  Seite  der 
Kranken  soll  ausgeschlossen  sein. 

Auf  schneller  Ermüdung  der  Sensibilität  beruht  endlich  die  Erscheinung, 
dass  nach  Application  eines  Reizes  ('faradischer  Pinsel,  Wärme)  die  Empfin- 
dung nach  einiger  Zeit  erlischt,  dann  schwächer  wiederkehrt,  um  dann  defini- 
tiv zu  erlöschen.  sixger. 

Emphysem  der  Lwn^^n  (Emphysema pulmonum).  Seit  Laexxec  unter- 
scheidet mau  ein  Emphysema  alveolare  s.  vesiculare  und  ein  Empjhysema 
interlolulare  s.  interstitiale.  Da  nur  das  erstere  als  selbständige  Krankheit 
auftritt,  so  ist  es  dieses,  auf  das  sich  die  nachfolgenden  Ausführungen  beziehen. 

Das  interstitielle  Empliysein  stellt  jene  Yeränderimg  der  Lunge  oder  einzelner  Lungen- 
partien dar,  bei  welcher  durch  Zerreissung  der  Alveolarwandungen  ein  Luftaustritt  in  das 
interlobuläre  Bindegewebe  stattfindet.  -Luftcanäle"  trennen  die  einzelnen  Lobuli  von  einan- 
der, die  Luft  dringt  einerseits  zur  Pleura  vor  und  hebt  dieselbe  in  Fonn  von  Blasen  ab, 
andererseits  bahnt  sich  die  Luft  einen  Weg  ins  mediastinale  und  Zellgewebe  des  Halses  und 
erzeugt  daselbst  subcutanes  Emphysem. 

Man  findet  das  interstitielle  Lungenemphysem  als  meist  nebensächlichen  Leichenbefund 
bei  verschiedenartigen  Veränderungen  des  Lungengewebes,  meist  mechanisch  dadurch  er- 
zeugt, dass  durch  starke  Husten-  und  Pressbewegungen,  seltener  durch  ulcerative  Vorgänge 
oder  durch  Traumen  auf  den  Thorax,  eine  Zerreissung  der  Alveolarwände  und  hiedurch 
bedingter  Luftaustritt  zustande  kommt.  So  hat  man  namentlich  bei  Croup  interstitielles 
Lungenemphysem  häufig  gefunden.  Bei  Neugeborenen  kommt  das  interstitielle  Lungen- 
emphysem dadurch  zustande,  dass  man  den  asphyktisch  Geborenen  gewaltsam  Luft  einzu- 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  oO 


546  EMPHYSEM  DER  LUNGEN. 

pressen    versucht.     Dass    ein   interstitielles  Lungenemphysem    geringeren  G-rades  sich  voll- 
ständig rückbilden  kann,  ist  wohl  leicht  begreiflich. 

Das  Empliysema  alveolare  ist  nicht  nur  pathologisch-anatomisch,  sondern 
auch  klinisch  ein  selbständiger  Krankheitsbegriff.  Es  besteht  in  einer  Er- 
weiterung der  Alveolarräume,  die  mit  Schwund  und  Atrophie  der 
A 1 V  e  0 1  a  r  w  a  n  d  u  n  g  e  n  einh  ergeht . 

Die  mit  den  eben  genannten  Worten  gegebene  Charakteristik  des  Lun- 
genemphysems passt  nicht  für  alle  Grade  und  Formen  desselben.  Es  existirt 
zunächst  eine  einfache  Ausdehnung  der  Alveolarräume  ohne  Veränderung  ihrer 
Wand  (Älveolarectasie)  und  diese  Veränderung  ist  es,  die  vrii  bei  allen  jenen 
Zuständen  finden,  wo  wir  von  einer  a  c  u  t  e  n  L  u  n  g  e  nb  1  ä  h  u  n  g  ( Volumen  pul- 
monum aiidum)  zu  sprechen  pflegen. 

Alle  jene  Vorgänge,  welche  zur  Verengerung  der  Bronchien  und  Bron- 
chiolen führen,  sei  es  nun,  dass  Fremdkörper,  Neoplasmen,  Struma  durch  Druck 
von  aussen  deren  Lumen  comprimiren,  sei  es,  dass  fibrinöse  Exsudationen 
oder  durch  Katarrh  bedingte  Anhäufungen  von  Secreten  von  innen  her  das 
Lumen  der  Bronchialverästigungen  obturiren,  führen  zu  Älveolarectasie  und 
bei  dauernder  Stabilität  zu  jenem  Zustande,  den  wir  als  chronische 
Lungenblähung  bezeichnen  wollen.  Alle  jene  Bewegungen  ferner,  bei  denen 
der  intraalveoläre  Binnendruck  excessiv  gesteigert  wird,  erzeugen,  wenn  dies 
auch  nur  zeitweilig  geschieht,  durch  die  oftmaligen  Wiederholungen  dieses 
Vorganges,  ebenfalls  chronische  Lungenblähung.  Es  sind  zumeist  gewisse  Be- 
schäftigungen, wie  das  Spielen  von  Blasinstrumenten,  das  anhaltende  Schreien 
und  Singen,  die  Glasbläserei  u.  a.  In  demselben  Zusammenhange  steht  nach 
der  hergebrachten  Lehre  die  Entwicklung  der  chronischen  Lungenblähung 
bei  Leuten,  welche  ihrer  Beschäftigung  nach  übermässig  Treppen  steigen, 
schwere  Lasten  heben,  bei  Individuen,  welche  an  chronischer  Obstipation 
leiden  u.  s.  f. 

Eine  besondere  Art  der  Lungenblähung  ist  die  vicariirende  (sog. 
compensatorisches  Emphysem  der  Autoren).  Wenn  der  intraalveoläre  Druck 
in  den  durch  Stenosirung  oder  vollständige  Obliteration  einzelner  Bronchial- 
äste  functionsuufähig  gemachten  Lungenpartien  bedeutend  sinkt,  so  steigt  er 
andererseits  wieder  in  den  bisher  gesunden  Lungentheilen  und  erzeugt  derart 
Älveolarectasie.  So  ist  die  vicariirende  Lungenblähmig  eine  der  häu- 
figsten Begleiterscheinungen  der  Tuberculose.  Während  die  Lungenspitzen  in- 
filtrirt  erscheinen,  sind  die  unteren  und  hinteren  Lungenpartien  stark  gebläht, 
der  Schallimt erschied  über  ersteren  und  letzteren  ist  überaus  auffällig,  Leber- 
und Herzdämpfung  sind  nach  abwärts  gerückt  —  alle  Erscheinungen  des  Emphy- 
sems sind  in  diesen  Fällen  oft  so  auffällige,  dass  man  bei  der  ersten  flüch- 
tigen L'ntersuchung  weit  leichter  der  Diagnose  eines  Emphysems  (Empliysema 
substantialej,  als  der  einer  Lungentuberculose  zuneigen  wird. 

Es  wird  diese  irrthümliche  Annahme  durch  das  makroskopische  Aussehen 
des  Sputums  in  vielen  Fällen  oft  noch  bekräftigt,  da  bei  inveterirter  Lungenspitzen- 
phthise  die  Expectoration  spärlich  ist  und  oft  nur  eine  Folge  des  das  Emphysem  in  den 
unteren  Lungenpartien  begleitenden  nicht  bacillären  Catarrhs^  bildet  Selbst  eine  mikro- 
skopische Untersuchung  und  eine  Färbung  des  Sputums  bietet  oft  ganz  dieselben  Zell- 
elemente (grobgranulirte.  eosinorphile  Zellen),  wie  wir  sie  bei  singulärem  Emphysem  und  bei 
Bronchialasthma  finden.  (.J.  ^YEISS.  E.  Maxdybur.) 

Pathogenese  mid  pathologische  Anatomie. 

Die  Beschäftigung  einerseits,  das  Alter  anderseits  werden  allgemein 
als  die  wichtigsten  prädisponirenden  Momente  des  Emphysems  angegeben. 

Die  althergebrachte  Lehre,  dass  gewisse  Beschäftigungen  das  Zustande- 
kommen von  Emphysem  veranlassen,  hat  namentlich  Forlaxixi  in  einer  sehr 
interessant  gescliriebenen  Arbeit  zu  widerlegen  gesucht.     Bei  Bergbewohnern, 


EMPHYSEM  DER  LUNGEN.  547 

Sängern  und  Bläsern  fand  Forlaxini  nicht  nur  keine  Abnahme  der 
Athmungsgrösse,  sondern  geradezu  eine  Verstärkung  der  Athmungs- 
kraft.  Sehr  deutlich  zeigte  sich  dies  auch  bei  den  Trompetern  der  Bergtrup- 
pen, welche  gleichsam  Bergbewohner  und  Bläser  in  einer  Person  darstellten. 
Die  Zunahme  der  In-  und  Exspirationskraft  l)ei  Sängern  wurde  übrigens 
schon  früher  durch  die  Untersuchungen  von  Lagrange  und  jene  von  Was- 
siLjEw  unzweifelhaft  bewiesen. 

Zur  Prüfung  dieser  Angaben  habe  ich  an  296  Fällen  von  Emphysema  pulmo- 
num, die  in  den  Jahren  1887 — 1893  auf  der  Abtheilung  des  Herrn  Hofrath.  Dräsche  in 
Spitalspfiege  gestanden  waren,  Untersuchungen  angestellt.  Das  Resultat  meiner  Erhebun- 
gen war  folgendes: 

21 — 30  Jahre  alt  waren       8  Fälle 
.      31—40      ..        .,        ^         17      .. 

41—50      ..        .,        „  64      ., 

51—60      ,.        „        .,         80      ;, 

61—70      „        „        ,.  94      , 

71—80      „        „        '..         32      '„ 

81—90  „  „  ,  _  IFall 
296  Fälle. 
Die  Durchsicht  jener  Fälle,  welche  im  Alter  von  21 — 40  Jahren  gestanden  (25),  ergab  die 
jedenfalls  bemerkenswerthe  Thatsache.  dass  in  9  Fällen  obsolete  Spitzeninfiltration  vorhanden 
war,  die  jedenfalls  zur  Entwicklung  des  Emphysems  beigetragen  hatte.  In  2  dieser  Fälle 
war  bedeutende  Kyphoscoliose,  in  2  anderen  chronische  Hautausschläge  (Eczeme)  conco- 
mittirend;  inwiefern  das  erste  Moment  zur  Entwicklung  von  Emphysem  Veranlassung 
bietet,  liegt  wohl  klar  zu  .Tage,  ob  dies  auch  bezüglich  der  Hautaifectionen  behauptet 
werden  kann,  erscheint  zweifelhaft ;  immerhin  muss  auf  das  combinirte  Vorkommen  von 
Bronchialasthma  mit  consecutivem  Emphysem  und  Hautausschlägen  verwiesen  werden. 

Unter  den  296  Fällen  unserer  Statistik  befanden  sich  79  Weiber,  ein  relativ  geringer 
Percenttheil,  nämüch  26'7°/o. 

Was  die  Beschäftigung  der  215  männlichen  Personen  betriift.  so  waren  hie  von: 

Tagiöhner 64 

Pfründner 28 

Schlosser 10 

Schneider 10 

Diener 10 

Tischler 8 

Kutscher 6 

Schuster 5 

Bäcker     4 

Beamte 4 

Steinmetz 4 

Drechsler 3 

Hausierer 3 

Je  zwei  Personen  entfielen  auf  die  Berufsarten:  Dienstmann,  Fabriksarbeiter,  Maurer, 
Pflasterer,  Schmied,  Strassenkehrer.  Wirth. 

Je  eine  Person  betraf  die  Beschäftigung:  Agent,  Bergmann,  Buchbinder,  Büchsen- 
macher, Commis,  Diurnist,  Färber,  Feuerbursch.  Fleischhauer,  Fremdenführer.  Hausbesorger, 
Hausknecht,  Heizer,  Lederer,  MaurerpoUer,  Mechaniker,  Müller,  Musiker,  Oblatenerzeuger, 
Optiker,  Posamentierer,  Schimimacher,  Schleifer,  Schriftgiesser,  Schriftsetzer,  Seidenzeug- 
macher, Sesselflechter,  Silberpolier,  Strumpfwirker,  Taschner,  Wagenlackierer,  Weber, 
Werkmeister. 

In  Berücksichtigung  dieser  Verhältnisse  ergeben  sich  ungezwungen  fol- 
gende Schlüsse:  1.  Das  Emphysem  ist  vorwiegend  eine  Krankheit  des  Alters, 
am  häutigsten  betrifft  es  Individuen  der  Altersdekade  61 — 70,  fast  ebenso 
zahlreich  Personen  zwischen  dem  51.  und  60.  Jahre;  2.  dagegen  ist  das  Em- 
physem selten  bei  Individuen  bis  zum  41.  Jahre  und  tragen  in  solchen  Fällen 
meist  besondere  Momente  zur  frühzeitigen  Entwicklung  des  Emphysems  bei; 
3.  das  weibliche  Geschlecht  prädisponirt  für  die  Krankheit  in  viel  ge- 
ringerem Maasse,  was  damit  zusammenhängen  mag,  dass  erstens  die  Arbeit 
weil^licher  Personen  eine  viel  weniger  beschwerliche  und  dass  sie  meist  unter 
anderen  Verhältnissen  ausgeführt  wird  (keine  staubige,  rauchige  Atmosphäre 
in  den  Arbeitsräumen,  keine  Inhalation  fester  und  gasiger  Stoffe,  welche 
Bronchialaffectionen  erzeugen);  4.  bei  einer  über  Spitalspatienten  aufgestellten 

35* 


548  EMPHYSEM  DER  LUNGEN. 

Statistik  zeigt  sich  kein  wesentliclier  Einfluss  einer  speciellen  Beschäftigung: 
auf  die  Entwicklung  des  Emphysems,  gehört  doch  das  Krankenmaterial  des 
Spitales  fast  durchaus  der  schwer  arbeitenden  Classe  an;  5.  die  Ansicht 
LiEBEEMEiSTEES,  dass  das  Emphysem  vorzugsweise  bei  Individuen  auf- 
trete, welche  ..sich  häufig  den  Unbilden  der  Witterung  aussetzen  und  Er- 
kältungen erleiden",  ist  nach  unseren  Beobachtungen  nicht  gerechtfertigt. 

Die  Befunde^  welche  die  pathologischen  Anatomen  mittheilen, 
lauten  seit  Rokitansky  vollkommen  übereinstimmend.  PiOkitaxskt  hat  als 
der  erste  die  Earefication  des  Lungengewebes  als  Charakteristicum 
hervorgehoben.  Es  bildet  das  „Wesen  des  Emphysems."  Bei  der  Er- 
öffnung des  Thorax  cbängen  sich  die  Lungen  vor,  sind  von  vergrössertem 
A^olum  und  dabei  von  auffallend  geringem  Gewicht.  Beim  Einschneiden  ver- 
nimmt man  ein  starkes  Knistern  ;  schon  makroskopisch  bemerkt  man  erbsengi^osse 
(und  darüber)  namentlich  an  den  Ptändern  sichtbare  Alveolarectasien.  Mi- 
kroskopisch zeigen  sich  die  Zwischenwände  der  Lungenalveolen  geschwunden 
oder  es  sind  nur  leistenartige  Ueben'este  vorhanden. 

Beachtenswertli  erscheint  diesbezüglicli  die  Meinung  von  P.  Grawitz.  wonach  der 
Vorgang  der  Emphysembildnng  die  Piückkehr  des  Bindegewebes  auf  den  embryo- 
nalen Znstand  demonstrirt.  ,Man  'sieht,"  sagt  Grawitz,  ..schon  in  frühen  Stadien  (des 
Emphysems),  dass  die  Saftspalten  sich  erweitern,  dass  ans  langen,  perlschnurartigen  Pigment- 
körnciien  wieder  Spindelzellen  werden,  dass  diese  den  Saftcanal  erfüllen  und  fortwan- 
dern, dass  die  schwarzen,  sternförmigen  Pigmentklümpchen,  die  im  ruhenden  Lungen- 
gewebe wie  für  die  Ewigkeit  festgelagert  erschienen,  wieder  erwachen,  sich  als  den  Inhalt 
einer  anfangs  spindeligen,  dann  rundlichen  Zelle  erkennen  lassen  und  mit  dieser  Zelle  in 
die  Lymphwege  übertreten."  Zur  Stütze  seiner  Hypothese  weist  Grawitz  darauf  hin,  dass 
Milz  und  Leber  bei  Emphysematikern  einen  reichlichen  Gehalt  von  Kohlenpigment  besitzen 
und  erklärt  dies  mit  der  Annahme:  .die  mit  Kohlenpigment  beladenen  Zellen,  welche  die 
Lungen  in  den  gesunden  Theilen  erfüllen,  sind  auf  dem  Wege  der  Lymphbahn  aus  den 
emphysematösen  Partien  derselben  in  das  Gewebe  von  Leber  und  Milz  angeschwemmt 
worden " 

Man  spricht  von  sogenannten  Emphysemtheorien,  es  deutet  dies 
das  Bestreben  einen,  wie  immer  in  der  Natur,  durch  eine  Concurrenz  von 
Bedingungen  entstandenen  Zustand  mit  einem  einzigen  Syllogismus  zu  er- 
klären. Man  hat  keine  Berechtigung  anzunehmen,  dass  nur  ein  ein- 
ziger Vorgang  (forciite  In-  und  Exspirationen,  Yerknöcherung  der  Pdppen- 
knorpel,  atheromatose  Veränderung  der  Gelasse  etc.)  ziu-  Entwicklung  von 
Emphvsem  him-eiche. 

Der  pathologische  Histolog  findet  Veränderungen,  die  er  als  Schwund 
(Atrophie)  kennzeichnet.  Und  nun  stellt  sich  die  Frage  so:  Vermögen  jene 
Momente,  welche  in  oben  gegebener  Darstellung  zur  chronischen  Lungen- 
blähung (Alveolarectasie)  führen,  secundär  histologische  Veränderungen  zu 
erzeugen,  oder  sind  es  nur  Hilfsursachen,  welche  die  Disposition  zur  Earefica- 
tion des  Lungengewebes  (Rückkehr  des  Bindegewebes  zum  embryonalen  Zu- 
stand?) zui' Auslösung  bringen,  sie  gleichsam  fördern  und  begünstigen  ?  Würde 
man  zu  dem  Schlüsse  kommen,  die  ersterwähnte  Frage  zu  verneinen,  — 
LiEBERMELSTER  Sagt  ..vielleicht"  —  so  wäre  es  passend,  die  Zustände  chro- 
nischer Lungenblähung  vom  Emphysem  zu  trennen.*) 

Unzweifelhaft  ist  es  hingegen  anderseits,  dass  primäre  anatomische 
Veränderungen  des  Alveolargewebes  existiren,  welche  den  Verlust  der 
normalen  Elasticität  zu  Folge  haben.  Dass  gerade  das  Alter  so  hervorragend 
an  dem  Procentsatz  der  Emphysemki^anken  betheiligt  ist,  spricht  wohl  sehr  für 
die  Häufigkeit  des  primären  Charakters  der  Lungenveränderungen,  unbeein- 
flusst  von  mechanischen  Ursachen. 

Eine  besondere  pathologisch-anatomische   Veränderung    ist    die  Lungenatrophie. 

Scheinbar    ist    dieser  letztgenannte  Zustand,   der   sich   durch    Verkleinerung  des 

Lungenvolums  und   durch  hochgradigen  Schwund  der  Alveolen  mit  Atelektase 


In  vorliegender  Darstellung  bin  ich  zum  Theil  diesem  Gedanken  gefolgt. 


EMPHYSEM  DER  LUNGEN.  549 

ihres  Lumens  kennzeichnet,  der  Gegensatz  zum  Emphysem  der  Lunge.  Anderseits  stellt 
das  Emphysem,  entstanden  durch  Schwund  der  elastischen  Elemente  innerhalb  der 
Alveolarwandungen,  gleichsam  wieder  eine  besondere  Art  oder  yielleicht  ein  Vorstadium  der 
Lungenatrophie  vor.  Treifend  unterscheidet  deshalb  Orth  folgende  Arten  von  alveola- 
rem Emphysem:  einfaches  Emphysem  (abnorme  Ausdehnung  der  Alveolen  noch  in- 
nerhalb physiologischer  Grenzen),  ectatisches  Ephysem  (mit  einer  dieselben  weit  über- 
schreitenden Alveolarectasie  und  Erniedrigung  der  dem  einzelnen  Alveolus  zugehörigen 
Leisten),  endlich  atrophisches  Emphysem  (mit  Schwund  des  Parenchyms).  Diese  Ein- 
theilung  ist  wohl  nur  schematisch,  zumal  auch  Orth  zugibt,  dass  eine  scharfe  Trennun» 
dieser  Emphysemformen  nicht  existirt. 

Symptome. 

Die  Inspection  zeigt  uns  zunächst  Störungen  der  Athmungsmechanik. 
Da  der  Exspirationsact  vornehmlich  von  der  Activität  der  elastischen  Kräfte 
abhängig  ist,  so  wird  bei  dem  Verluste  der  letzteren  zuerst  die  Exspiration 
erschwert  sein,  während  die  Inspiration  noch  ganz  ungestört  von  statten  geht. 
Orthopnoe,  Lufthunger  und  hochgradige  Cyanose  sind  nicht  allein 
Folge  der  gestörten  Lungenventilation,  sondern  solche  der  gleichzeitig 
pathologisch  gewordenen  Blutbewegungen.  Abnormaler  Wechsel  von  Expansion 
und  Retraction  übt  einen  fördernden  Einfluss  auf  die  Circulation  in  den  Lungen- 
capillaren.  Dieser  fehlt  beim  Lungenemphysem  und  so  ist  das  erste  Moment 
gegeben,  um  die  Circulation  in  den  Lungengefässen  zu  verlangsamen.  Ein 
zweites  Moment  ist  die  Steigerung  des  alveolaren  Binnendruckes,  womit  die 
in  den  Alveolarwänden  verlaufenden  Capillaren  direct  comprimirt  werden. 
Berücksichtigt  man  ferner,  dass  die  histologischen  Veränderungen  in  den 
Alveolarwänden  auch  einen  ihrer  Hauptbestandtheile  —  die  Capillaren  nämlich  — 
betreffen,  und  dass  es  endlich  auch  eine  Arteriosclerose  der  Lungengefässe 
gibt,  welche  sehr  häufig  das  Emphysem  combinirt,  wenn  nicht  gar  ein  dis- 
ponirendes  Moment  bildet,  so  wird  man  es  begreiflich  finden,  wie  hochgradig 
die  Störungen  der  Blutcirculation  bei  Emphysem  werden  können. 

Als  äusseres  Kennzeichen  des  Emphysems  wird  ferner  der  bekannte 
fassförmige  Thorax  angeführt:  Das  Sternum  ist  stark  vorgewölbt,  die 
Rippen  markiren  sich  sehr  scharf  unter  der  Haut  ab,  die  Intercostalräume  sind 
beträchtlich  erweitert,  die  Wirbeisäule  ist  nach  hinten  vorgewölbt. 

Nach  Freund  soll  eine  Veränderung  des  Thoraxskelettes  (Verknöcherung  der  Rippen- 
knorpel) als  veranlassendes  Moment  für  Emphysem  zu  betrachten  sein.  Ueber  den  Werth 
derartiger  Annahmen  wurde  bereits  oben  geurtheilt. 

Keineswegs  ist  jedes  Emphysem  durch  fassförmigen  Thorax  charakterisirt. 
Die  am  häufigsten  zu  constatirende  Difformität  ist  die  Erweiterung  der  Inter- 
costalräume. Der  fassförmige  Thorax  kommt  bei  Individuen  vor,  welche  an 
chronischer  Bronchitis  leiden  und  ist  dadurch  bedingt,  dass  der  Thorax  dau- 
ernd in  Inspirationsstellung  verharrt.  (A.  Fraenkel.) 

Die  P  alpation  bietet  eine  vermehrte  Thoraxresistenz,  eine  Abschwächung 
des  Stimmfremitus  und  eine  Abschwächung  oder  Fehlen  des  normalen  Herz- 
spitzenstosses.  Statt  dessen  fühlt  man,  wenn  man  unterhalb  des  Processus 
xiphoides  tastet,  den  Anprall  des  bei  jeder  Systole  sich  vorwölbenden  hyper- 
trophischen Ventrikels.  An  dieser  Stelle  gewahrt  man  eine  Pulsatio  epigastrica, 
die  fast  stets  zum  klinischen  Bilde  eines  ausgesprochenen  Emphysems  gehört. 

Die  Percussion  ergibt  eine  auffällige  Lautheit  und  Tiefe  des  Schalles 
{Schachtelton).  Sehr  häufig  ist  jedoch  gerade  das  Gegentheil  zu  constatiren : 
eine  Abschwächung  des  Percussionsschalles  und  eine  Verkürzung  seiner  Dauer. 
Diese  Abschwächung  ist  oft  so  markant,  dass  man  an  eine  Infiltration  zu  den- 
ken sich  versucht  fühlt  (Liebermeister).  Fraglich  erscheint  es  mir,  ob  Fälle 
mit  diesem  Percussionsbefund  als  „Lungenemphysem"  aufzufassen  wären,  oder 
ob  nicht  jener  pathologische  Zustand  vorliegt,  den  man  als  „Lungenatrophie" 
bezeichnet.  Die  Leberdämpfung  ist  nach  abwärts  gerückt  und  beginnt  statt 
am  unteren  Rand  der  6.  erst  am  unteren  Rand  der  7.  oder  gar  der  8.  Rippe. 


550  EMPHYSEM  DER  LUNGEN. 

Ist  die  Leber  durcli  secundäre  Stauimg  vergrössert,  dann  überschreitet  der 
gedämpfte  Schall  den  freien  Rippenrand  um  2 — 3  Querlinger.  Die  Herz- 
dämpfung ist  verkleinert  oder  in  extremen  Fällen  nur  relativ.  Der  halb- 
mondförmige Raum  ist  in  seinem  Höhendurchmesser  reducirt.  Die  Unter- 
schiede des  Percussionsschalles  an  den  Lungenrändern  sind  nur  undeutlich 
oder  fehlen  völlig. 

Handelt  es  sich  um  ein  yicariirendes  Emphysem,  dann  findet  man  selbstver- 
ständlich die  Lautheit  und  Tiefe  des  Schalles  nur  im  Bereiche  der  Yorderen,  unteren  und 
der  hinteren  Partien,  während  an  anderen  Stellen  abgeschwächter  Percussionsschall  zu 
constatiren  ist.  Andererseits  ist  bei  stärkerer  Secretanhäufung  in  den  seitlichen  und  unteren 
Lungenpartien   daselbst  wieder  etwas  verkürzter  Schall  aufzufinden. 

Die  Auscultation  ergibt  in  jenen  Fällen,  wo  der  das  Emphysem  ge- 
wöhnlichbegleitende Bronchialkatarrh  fehlt,  ein  unbestimmtes  Athmungsgeräusch, 
ja  oft  ist  dasselbe  kaum  wahrnehmbar.  Durch  die  Secretanhäufung  in  den 
Bronchien  und  durch  die  starke  Schwellung  der  Bronchialschleimhaut  kommen 
die  verschiedenartigsten  Nuancen  trockener  und  feuchter  Rasselgeräusche 
zu  Stande  (Giemen,  Pfeifen,  Schnurren,  mittelgrossblasiges,  feuchtes  Rasseln). 
Bei  gleichzeitig  bestehender  Lungenatrophie  kommt  es  durch  den  Alveolarcollaps, 
resp.  durch  die  vom  eindringenden  Luftstrom  bedingte  Auseinanderreissung 
der  Alveolarwände  zu  sehr  charakteristischen  knarrenden  und  knisternden  Rassel- 
geräuschen. Die  Auscultation  des  Herzens  ergibt  auffällig  leise,  dumpfe 
Herztöne,  deren  stärkster  der  mehr  oder  minder  accentuirte  Pulmonalton  als 
Zeichen  der  bestehenden  Hypertrophie  des  rechten  Ventrikels  zu  sein  pflegt. 
Sind  irgendwelche  Geräusche  über  dem  Herzen  hörbar,  so  kann  dies  ein 
Zeichen  einer  complicirenden  Myocarditis  sein,  die  sich  sehr  häufig,  na- 
mentlich unter  der  Form  der  Fettdegeneration,  zum  Emphysem  hinzugesellt. 
Desgleichen  können  Geräusche  der  Ausdruck  einer  relativen  Tricuspidal- 
oder  Mitral  in  sufficienz  sein,  wie  dies  bei  Hypertrophie  und  Dilatation 
des  rechten,  resp.  linken  Ventrikels  erklärlich  ist. 

Die  Hypertrophie  des  linken  Ventrikels,  die  sich  durch  die  andauernden 
Störungen  im  Circulationsgebiet  langsam  ausbildet,  ist  percutorisch  nicht  nachweisbar,  son- 
dern nur  aus  der  übermässigen  Spannung  des  Radialpulses  bei  auffälliger  Weite  und  Füllung 
der  Arterien  (A.  Fraenkel)  zu  constatiren. 

Das  Sputum  bietet  bei  primärem  Emphysem  —  wie  ich  im  Gegen- 
satze zu  anderen  Autoren  hervorheben  möchte  —  ein  ziemlich  charak- 
teristisches Aussehen.  Es  ist  spärlich,  zähe  und  glasig,  der  Spuckschale  an- 
haftend und  zeigt  schon  makroskopisch  zahlreiche  Pigmentpartikelchen.  Die 
mikroskopische  Untersuchung  und  die  Färbung  nach  den  EHRLicn'schen  Prin- 
cipien  zeigt  vorwiegend  polymorphkernige  Zellen  mit  grossem,  sich  homogen 
färbenden  Protoplasmaleib.  Von  diesen  Zellen  heben  sich  sehr  typisch  jene 
ab,  welche  deutliche  Granula,  Eosin  intensiv  aufnehmend,  in  der  Grundsub- 
stanz ihres  Zellleibes  bergen,  (vergl.  Fig.  1.)  Diese  letztgemeinten,  eosinophi- 
len Zellen  sind  ein  charakteristisches  Kennzeichen  des  Emphysemsputums. 
Sie  finden  sich  auch  in  jenen  Fällen,  wo  das  Emphysem  vicariirend  zu  Lun- 
genspitzentuberculose  hinzutritt. 

Anderseits  habe  ich  bei  Emphysematikern  zuweilen  Sputumbilder  bekommen,  in  denen 
die  mononuclearen  Zellen  die  überwiegenden  waren,  Zellen,  mit  zumeist  aber  nicht  durch- 
wegs glatten,  grossen  Zellleibern  und  scharf  contourirtem.  rundem,  intensiv  gefärbtem  Kern. 
Die  schleimige  Grundlage,  in  der  sich  die  Zellen  erwähnter  Kategorie  befanden,  erwies 
sich  als  hämatoxylinophil,  was  an  das  Verhalten  des  Zwischenknorpelgewebes  bei  Tinction 
von  Tracheaknorpelschnitten  erinnert. 

Ich  vertrete  die  Ansicht  und  habe  dieselbe  bereits  wiederholt  kundgegeben,  dass  die 
überwiegende  Mehrzahl  der  Sputumelemente  nicht  aus  dem  Blute  stamme,  sondern  in 
der  Bronchialschleimhaxit  selbst  ihre  Ursprungsstätte  finde.  Hierin  habe  ich  bezüglich 
der  grobgranulirten  eosinophilen  Elemente  nur  theilweise  Zustimmung  bei  Leyden  und 
Neusser,  vollständige  bei  A.  D.  Schmidt  gefunden. 


EMPHYSEM  DER  LUNGEN.  551; 

In  jenen  Fällen  von  Emphysem,  bei  denen  reichliche  Anhäufung  von 
Secret  in  den  Bronchien  stattfindet,  was  aber  keineswegs  die  Regel  ist,  ändert 
das  charakteristische  Sputum  sein  Bild,  indem  auch  eitrige  Bestandtheile  den 
früher  vorwiegend  schleimigen  sich  beigesellen. 

Eine  häufige  Beschwerde  der  Emphysematiker,  die  ich  oftmals  zu  con- 
statiren  Gelegenheit  habe,  ist  die  Klage  über  Druckgefühl  im  Epigastriura, 
Aufgetriebensein  der  oberen  Bauchgegend  und  unliebsame  Sensationen  im 
1.  Hypochondrium,  namentlich  nach  dem  Essen.  Diese  Beschwerden  sind  es 
oft,  welche  die  Emphysematiker  zuerst  zum  Arzte  führen,  und  man  lässt  sich 
da  wohl  verleiten,  nach  einem  Magen-Darmübel  zu  fahnden.  Objectiv  consta- 
tirt  man  trommelartigen  Percussionsschall  der  oberen  Bauchgegend  bei  sicht- 
barer Auftreibung  dieser  ganzen  Region.  Jedenfalls  ist  daran  wohl  nicht  allein 
der  Magen,  sondern  auch  der  Darm  betheiligt.  Die  Erklärung  suche  ich  in 
der  Immobilität  des  Zwerchfells  nach  oben,  wodurch  dasselbe  sich  nach  unten 
vorbaucht  und  die  benachbarten  Intestina  nach  vorne  drängt;  dass  gerade  in 
den  Stunden  der  Verdauung  diese  Beschwerden  stärker  werden,  ist  wohl 
begreiflich.  Der  objective  Befund  ist  meist  ziemlich  auffallend,  weil  die  Con- 
figuration  des  Bauches  eine  charakteristische  ist,  indem  die  geblähten  oberen 
Partien  gegen  die  übrigen  „treppenartig"  abfallen,  was  durch  die  starke 
Krümmung  der  Rippenbogen  nach  auswärts  noch  deutlicher  wird.  („Trep- 
penbauch.''' ) 

Die  Symptome  der  secundären  Stauung  näher  zu  schildern,  kann 
wohl  als  überflüssig  betrachtet  werden.  In  manchen  Fällen  erreichen  diesel- 
ben in  der  That  einen  hohen  Grad  und  man  findet  dann  Leber-  und  Milz- 
tumor, Ascites,  Anasarca,  hochgestellten  Harn  mit  oft  bedeutender  Eiweissmenge. 

Das  Blut  von  Empliysemkranken  ist  meines  Wissens  bisher  keines  näheren 
Studiums  gewürdigt  worden.  Meine  eigenen  Untersuchungen  ergaben,  dass 
die  Zahlenverhältnisse  der  rothen  und  weissen  Blutkörperchen  nicht  von  den 
normalen  Schwankungen  abweichen.  Dagegen  unterscheiden  sich  die  histo- 
logischen Blutbilder  wesentlich  von  jenen,  die  wir  beim  nervösen  Bron- 
chialasthma finden.  Untersucht  man  das  Blut  eines  Emphysematikers,  so  findet 
man,  gleichgiltig,  ob  dies  zur  Zeit  asthmatischer  Anfälle  oder  zu  anderer  Zeit 
geschieht,  eine  Leukocytose,  in  der  die  polynuclearen  Leukocyten  mit 
homogen  sich  färbendem  Protoplasma  überwiegen.  Färbt  man  hin- 
gegen das  Blut  eines  mit  Asthma  bronchiale  behafteten  Patienten,  so  findet 
man  unmittelbar  nach  den  Anfällen  ein  Vorherrschen  der  grobgranu- 
lirten  eosinophilen  Zellen  im  Blutbilde.  Jedenfalls  muss  diese  Thatsache 
als  diagnostisches  Merkmal  betrachtet  werden,  ob  Volumen  pulmonum  auctum 
und  dyspnoischer  Anfall  bei  Asthma  nervosum  oder  asthmatischer  Anfall  bei 
Emphysem  vorliege    .(Vergl.  Fig.  2  a  und  b.) 

Der  Harn  bietet  bei  Emphysemkranken  keine  typischen  Abnormitäten. 
Er  ist  häufig  ein  Stauungsharn:  saturirt,  stark  sauer  und  von  hohem  speci- 
fischen  Gewicht.  Die  Untersuchung  auf  Eiweiss  fällt  in  den  meisten  Fällen 
positiv  aus,  zuweilen  erreicht  die  Albumenmenge  eine  erstaunliche  Höhe  — 
ich  beobachtete  bis  S%o  (vide  pag,  553)  ^ — ohne  dass  wir  mehr  als  Stauungs- 
niere diagnosticiren  können,  wenigstens  zeigt  dies  der  Verlauf,  indem  die  Eiweiss- 
menge wieder  vollkommen  bis  auf  kaum  nachweisbare  Spuren  schwindet.  Auch 
das  Vorhandensein  von  hyalinen  Cylindern  im  Sedimente  hat  keine  schwer- 
wiegende Bedeutung. 

Während  bei  Bronchialasthma  der  Harn,  der  während  nnd  nach  den  asthmatischen 
Anfällen  gelassen  wird  (heller  Harn  von  niedrigem  specifischen  Gewicht)  ein  auffällig  differentes 
Verhalten  zu  dem  während  der  übrigen  Tageszeit  entleerten  (saturirter  Harn  von  bedeutend 
höherem  specifischen  Gewicht)  darbietet,  konnte  ich  ein  gleiches  Verhalten  während  der 
asthmatischen  Anfälle  von  Emphysemkranken  niemals  beobachten. 

Die  Haut  der  Emphysematiker  bietet  ein  gebräuntes  Colorit  —  im 
Gegensatz  zu  der  gewöhnlich  blendend  weissen  „durchscheinenden'  Haut  der 


552  EMPHYSEM  DER  LUNGEN. 

Phthisiker  und  zeigt  eine  auffällige  Neigung  zur  Acnebildung.  Die  Haut  der 
Unterschenkel  ist  nicht  selten  der  Sitz  von  chronischen  Eczemen,  welche  nach 
ihrer  zeitweiligen  Heilung  Pigmentation  zurücklassen;  so  ist  auch  der  ödema- 
tösen  Schwellung  der  Beine  im  Gegensatz  zu  den  Oedemen  der  Nephritiker 
ein  gewisses  Charakteristikon  aufgeprägt.  Die  beobachtete  Bildung  von  Haut- 
emphysem an  den  Prädilectionsstellen  (Hals  und  Brusthaut)  ist  auf  eine  Ruptur 
von  ausgedehnten  Lungenalveolen  zu  beziehen. 

Diagnose  und  Prognose. 

Nothnagel  kennzeichnet  die  Diagnose  Emphysem  als  eine  jener  Dia- 
gnosen, welche  am  häufigsten,  aber  gleichzeitig  auch  am  häufigsten  irrthümlich 
gestellt  werden.  Nebst  den  Ergebnissen  der  Percussion  und  Auscultation  mag 
nochmals  der  charakteristische  Sputumbefund  hervorgehoben  werden.  Häufig 
entsteht  die  Frage,  ob  ein  primäres  substantielles  Emphysem  oder  nur  ein 
vicariirendes  vorhanden  ist.  In  solchen  Fällen  entscheidet  der  Nachweis  einer 
Lungenspitzendämpfung,  der  Befund  von  Tuberkelbacillen,  endlich  die  Con- 
statirung  irgendwelcher  Ursachen,  die  zu  einer  partiellen  Atelektase  einzelner 
Lungenpartien  führen.  In  den  gebräuchlichen  Handbüchern  wird  gewöhnlich 
von  der  Differentialdiagnose  zwischen  Emphysem  und  Pneumothorax,  zwischen 
Emphysem  und  Aneurysma  gesprochen.  Einem  sorgfältigen  Diagnostiker 
dürfte  es  aber  schwerlich  passiren,  die  metallischen  Erscheinungen  bei  der 
Percussion  und  Auscultation,  die  für  Pneumothorax  charakteristisch  sind,  zu 
übersehen.  Was  das  Aortenaneurysma  betrifft,  so  ist  es  ja  bekannt,  dass  die- 
ses Leiden  oft  ganz  latent  bleibt;  die  charakteristischen  Symptome  fehlen 
und  so  nimmt  man  nun,  namentlich,  wenn  eine  leichte  Bronchitis  vorhanden 
ist,  sehr  gerne  an,  dass  die  Dyspnoe  auf  ein  Emphysem  zurückzuführen 
ist.  Viel  häufiger  kommt  aber  der  Arzt  in  die  Lage,  zu  entscheiden,  ob  nicht 
eine  primäre  Herzveränderung  {Myocarditis,  Arteriosclerose,  Fettherz)  und  die 
Lungen erscheinungen  (Bronchitis  mit  secundärer  Lungenblähung)  erst  als  secun- 
där  zu   betrachten  sei,    oder  ob    nicht  beide  Organe  coordinirt  erkrankt  sind. 

Der  Verlauf  des  primären  substantiellen  Emphysems  kann,  soweit  der 
Patient  die  Weisungen  des  Arztes  befolgt,  jahrelang  ohne  besonders  schwere 
Folgen  anhalten.  Erst  von  dem  Momente  an,  wo  die  Herzveränderungen  die 
Störungen  des  Kreislaufes  nicht  mehr  zu  compensiren  vermögen,  treten  schwere 
Stauungssymptome  ein,  der  Herzmuskel  erlahmt  endlich  völlig  und  es  kommt 
schliesslich  zum  letalen  Exitus.  Berücksichtigt  man  aber,  dass  das  Emphy- 
sem vorzugsweise  ein  Leiden  des  höheren  Alters  ist,  so  kann  man  sagen,  dass 
die  Zeit  des  letalen  Endes  dem  Alter  der  durchschnittlichen  Sterblichkeit  ent- 
sprechen dürfte. 

Therapie. 

Die  Prophylaxe  wird  darauf  zu  achten  haben,  dass  alle  jene  Beschäf- 
tigungen, die  im  höheren  Alter  erfahrungsgemäss  Emphysem  erzeugen,  mit 
gewissen  Pausen  der  Ruhe  verbunden  seien,  sofern  dies  eben  nach  den  äusseren 
Verhältnissen  möglich  ist.  Daraus  folgt,  dass  Personen  der  wohlhabenderen 
Stände,  die  sich  leichter  eine  Schonung  gönnen  können,  viel  leichter  sich  den 
Schädlichkeiten  zu  entziehen  vermögen,  als  Leute  der  ärmeren  Classen. 

Unter  den  Behandlungsmethoden  des  Emphysems  wird  die  Pneu- 
matotherapie  viel  gerühmt.  Die  Ausathmung  in  verdünnte  Luft  ist  nicht 
nur  theoretisch  berechtigt,  —  die  Luft  wird  gewissermassen  aus  der  Lunge  her- 
ausgesogen (Liebekmeister)  —  sondern  zeigt,  praktisch  angewandt,  auch  wirk- 
liche therapeutische  Erfolge.  Man  nimmt  an,  dass  die  methodischen  Ath- 
mungsübungen  mit  transportablen  pneumatischen  Apparaten  (Biedert,  Schnitz- 
ler, Waldenburg)  und  in  pneumatischen  Cabineten  zu  einer  Stärkung 
der  Contractilität  und  Elasticität  des  Lungengewebes  führen. 


EMPHYSEM  DER  LUNGEN.  553 

Bekannt  ist  der  Vorschlag  Gerhardt's,  den  Kranken  anzuweisen,  seinen  Thorax  während 
der  Exspiration  durch  die  aufgelegten  Hände  zu  comprimiren.  Auf  demselben  Princip 
beruht  der  Athmungsstuhl  von  Rossbach. 

Die  oben  erwähnten  Untersuchungen  Forlaninis  haben  darauf  hinge- 
wiesen, dass  entgegen  der  herrschenden  Ansicht  gerade  Individuen,  welche  ihre 
Lungen  ziemlich  stark  anstrengen,  eine  gestärkte  Athmungskraft  erwerben. 
Bei  Neigung  oder  Gefahr  der  Emphysementwicklung  und  in  den  ersten  Stadien 
desselben  wird  man  aus  diesem  Grunde  mit  Recht  kräftige  Athmungsübungen 
(Lungengymnastik)  und  Arbeit  an  Zander'schen  Maschinen  oder  am  Ergostat 
{Mechanotherapie)  zu  empfehlen  haben;  letztere  veranlassen  indirect  kräftige 
In-  und  Exspirationen.  Dass  derartige  Massnahmen,  um  nicht  den  entgegen- 
gesetzten Effect  zu  erreichen,  mit  Vorsicht  undMaass  betrieben  werden 
müssen,  erscheint  wohl  selbstverständlich. 

Sind  Stauungs  er  scheinungen  vorhanden  (Leber-  und  Milzschwellung, 
Hydrops  etc.)  so  ist  die  erste  Bedingung  absolute  Ruhe.  Der  Patient  wird 
hochgelagert  - —  in  der  Privatpraxis  in  einem  luftigen,  lichten  Zimmer,  wo- 
möglich so,  dass  das  Gesicht  gegen  das  Fenster  sieht,  —  als  Medicament 
erhält  er  Digitalis  (0-5 — 1*0  :  200*0),  combinirt  mit  Diuretin  (.3-0 — 5*0)  oder 
Liquor,  kali  acetici  (lO'O  — 30'0).  Im  Verlaufe  der  Krankheit  variirt  man  die 
tägliche  Arznei,  man  verordnet  als  Adjuvans  einen  expectorirenden  Stoff  (Liqu. 
amon.  anis.),  man  gibt  als  Laxans  ein  Bittersalz  oder  Bitterwasser,  man 
ersetzt  das  Digitalis-Infus  durch  Strontium  lacticum  (2 5*0  :  L50"0  Aqu.  dest., 
3  Esslöftel  täglich),  das  in  solchen  Fällen  seine  diuretische  Wirkung  zuweilen 
prompt  äussert.  Als  Diät  bekommt  der  Kranke  anfangs  nur  Milch  ('^ — 1  Liter 
pro  die)  und  eine  geringe  Quantität  kräftigen  Wein,  später  leichte  Fleisch- 
speisen. 

Unter  dieser  Behandlung  habe  ich  erst  kürzlich  bei  einem  Fall  von  Emphysem  mit 
hochgradigsten  Stauungserscheinungen  innerhalb  drei  Wochen  die  letzteren  vollkommen 
schwinden  gesehen.  Der  Eiweissgehalt  des  Harnes  fiel  von  S^/oo  Essbach  auf 
kaum  nachweisbare  Spuren.  Die  hyalinen  Cylinder,  die  im  Sediment  reichlich  vor- 
handen waren,  schwanden  völlig. 

Mit  der  Einleitung  des  diaphoretischen  Verfahrens  mittelst  heisser 
Bäder  (37 — 39*^  C.)  kann  man  einen  Versuch  machen,  der  oft  von  Erfolg  be- 
gleitet sein  wird,  muss  aber  immer  auf  den  Zustand  des  Herzens  Bedacht  haben. 

Fehlen  Stauungserscheinungen,  so  ist  die  Behandlung  symptomatisch 
wesentlich  gegen  den  Bronchialkatarrh  gerichtet.  Der  Reihe  nach 
kommen  die  Expectorantien  zur  Verordnung.  Bezüglich  deren  Wirk- 
samkeit hat  sich  neuester  Zeit  von  verschiedenen  Seiten  her  ein  bedeutender 
Widerspruch  erhoben.  Juegensen  nennt  die  Wirkung  des  Salmiaks  sehr  frag- 
würdig, Rossbach  glaubt  nicht  an  den  Nutzen  von  Ipecacuanha,  Nothnagel  ver- 
pönt Stibium  sulfurantiacum  und  nebst  Gerhardt  ist  es  namentlich  Hoffmann, 
der  daran  zweifelt,  dass  mit  den  üblichen  Expectorantien  viel  ausgerichtet 
werden  könne.  Am  meisten  Anerkennung  findet  noch  das  Apomorpkin  und 
die  Senega  mit  oder  ohne  Liquor  amonii  anisatus. 

Ich  möchte  mir  nur  die  Bemerkung  erlauben,  dass  nach  eigenen  Beobachtungen  ge- 
rade das  Senega- Infus  von  manchen  Emphysematikern  schlecht  vertragen  wird.  Die 
Patienten  geben  mit  Bestimmtheit  an,  diss  sie  wohl  häufig  zum  Husten  gereizt  würden, 
dass  aber  der  Auswurf  selbst  sehr  spärlich  sei,  sie  verlangen  direct    „Ipecacuanha"  zurück. 

Beliebt  ist  die  Verordnung  alkalischer  Mineralwässer  (Selters,  Biliner, 
Wieshadner,  Kissinger,  Emser  u.  a.)  am  zuträglichsten  frühmorgens  mit  Milch 
gemengt.  Die  Kranken  finden  in  der  Frühe  am  häufigsten  Zeit,  etwas  für 
ihre  Gesundheit  zu  thun  und  gehen  mit  einer  gewissen  Selbstberuhigung  an 
die  Tagesarbeit.  Auch  treten  die  Beschwerden  frühmorgens  oft  am  heftigsten 
auf,  das  Secret  hat  sich  während  des  Schlafes  angesammelt,  so  dass  die  Be- 
feuchtung des  ausgetrockneten  Rachens  allein  schon  etwas  Erleichterung  schafft. 
Seltener  kommt  man  in  die  Lage,  Balsamica  zu  verschreiben,  ist  ja  die  Ex- 
pectoration  viel  häufiger  stockend,  denn  reichlich. 


554  ENDOCARDITIS. 

Der  Gebrauch  des  Inlialationsapparates  wäre,  obwohl  Inhalationen 
die  erkrankte  Bronchialschleimhaut  nicht  zu  beeinflussen  vermögen,  immerhin 
anzurathen,  einerseits,  weil  die  Zerstäubung  von  Wasserdampf  die  Luft  feucht 
erhält,  anderseits,  weil  meist  complicirende  Pharyngitis  und  Laryngitis  mit 
den  Inhalationen  behandelt  wird. 

Die  Medication  von  Narcotica  erfordern  hochgradig  entwickelte 
Dyspnoe,  asthmatische  Anfälle,  anhaltende  Schlaflosigkeit,  eventuell  auch 
heftiger  Hustenreiz,  der  bei  Anwesenheit  von  spärlichem  Secret  in  den  Bron- 
chien den  Kranken  ungemein  belästigt. 

Flor.  Benzoes  mit  Campher  {äa  Ol  pro  dosi)  oder  grosse  Gaben  von 
Plumb.  aceticum  wird  man  bei  drohendem  Eintritt  von  Lungenödem  mit 
Erfolg  verwenden  können.  Ist  die  Gefahr  momentan,  besteht  apoplectiformer 
Status  mit  auffälliger  Cyanose,   so  gehe  man  ohne  Zagen  an  den  Aderlass. 

An  der  Behandlung  des  Emphysems  haben  aber  nicht  blos  Mechano-  und 
Pharmakotherapie,  sondern  auch  die  Hydrotherapie  ihren  Antheil.  Wenn 
die  Kranken  von  dem  begleitenden  Bronchialkatarrh  arg  geplagt  werden,  so 
erreicht  man  oft  melu'  durch  Anwendung  hydriatischer  Proceduren,  als  durch 
medicamentöse  Behandlung.  Man  applicirt  sogenannte  „erregende  Brustum- 
schläge" (WiNTEENiTz)  in  Form  von  Kreuzbinden.  Die  Procedur  ist  ganz  ein- 
fach: eine  achselbreite,  in  kaltes  Wasser  getauchte  Binde  wird  schräg  über  die 
beiden  Schulterhöhen  und  den  Brustumfang  gelegt  und  darüber  in  gleicher 
Weise  eine  trockene  Binde  laufen  gelassen.  Ein  derartiger  Brustumschlag 
löst  durch  seinen  thermischen  Reiz  tiefe  Inspirationen  aus.  Allmälig  erwärmen 
sich  die  Binden  und  der  Thorax  befindet  sich  in  einem  blutwarmen  Dunstbade, 
welches  die  Blutgefässe  der  Haut  zur  Erweiterung  bringt  und  die  Circulation 
in  denselben  beschleunigt.  Xach  Winternitz  wird  hiedurch  ein  Hustenreiz  be- 
ruhigender, Athembeschwerden  mässigender,  das  Secret  verflüssigender  und 
dadurch  die  Expectoration  erleichternder  Einfluss  auf  die  Schleimhaut  der  Re- 
spirationsorgane geübt.  JUL.  WEISS. 

EndOCarditiS  {E.  verrucosa  s.  granulosa  s.  simplexi)  Die  Endocarditis 
verrucosa  ist  eine  Entzündung  des  Endocards,  die  in  Entwickelung  kleiner 
Eftlorescenzen  in  Form  von  Wärzchen,  Körnchen  bald,  was  am  häufigsten  zu 
sein  pflegt,  auf  den  Klappen  selbst  und  Scheidewänden,  bald  auf  dem  die  Höhle 
auskleidenden  Endocard  besteht.  Diese  Efflorescenzen  sind  von  grauer  oder 
grauröthlicher  Farbe,  sind  ziemlich  hart,  etwas  elastisch,  kaum  einige  mm 
breit  und  hoch,  können  hier  und  da  zerstreut  oder  dicht  neben  einander  stehen. 
An  den  zwei-  oder  dreizipfligen  Klappen  treten  dieselben  hauptsächlich  in 
einer  gewissen  Entfernung  von  den  freien  Rändern  derselben  auf  an  Stellen, 
an  denen  die  Klappen  während  der  Herzsystole  einander  berühren  —  an  den 
Semilunarklappen  localisiren  sich  dieselben  ebenfalls  in  der  Nähe  der  freien 
Ränder,  eine  Art  von  Festonen  bildend.  So  kommt  es,  dass  die  Klappen  nicht 
im  Stande  sind,  dicht  zu  schliessen,  was  die  Bildung  einer  Insufficienz  zur 
Folge  hat.  Dieselben  können  in  Folge  von  Fibrinalllagerungen  aus  dem  Blute, 
wie  ebenfalls  des  Zusammenfliessens  der  warzigen  Efilorescenzen  eine  bedeu- 
tende Grösse  erreichen  und  verschiedene  Formen  annehmen  (die  Form  von 
Condylomen,  Himbeeren,  Blumenkohl,  Hahnenkämmen  u.  s.  w.)  Zuweilen 
verlängern  sich  dieselben  und  ragen  in  die  Herzhöhlen  als  Polypen  hinein 
(End.  polyposa),  eine  Stenose  des  Ostium  herbeiführend. 

Am  häufigsten  entwickelt  sich  die  Endocarditis  in  der  linken  Herzhälfte: 
an  der  zweizipfligen  und  an  den  Semilunarklappen  der  Aorta,  seltener  im 
rechten  Herzen:  an  der  dreizipfligen,  ungemein  selten  an  den  Klappen  der 
Pulmonalis,  an  den  Herzwandungen  und  an  den  Papillarmuskeln.  Vermittelst 
des  Blutstromes  können  Fibrinpartikelchen  oder  Partikelchen,  von  den  Excres- 
cenzen  selbst  stammend,  abgerissen  und  in  näher  oder  weiter  gelegene  Gefäss- 


ENDOCAEDITIS.  555 

districte  verschleppt  werden,  zu  Embolien  Veranlassung  gebend.  Am  häutig- 
sten begegnen  wir  denselben  in  den  Nieren,  der  Milz,  den  Lungen,  im  Gehirn, 
seltener  in  den  Gefässen  der  Extremitäten.  Jedoch  besitzen  diese  Embolien, 
im  Gegensatz  zu  denen  bei  E.  septica,  keinen  infectiösen  Charakter,  rufen 
keine  Eiterung  hervor  und  werden  nur  von  mechanischen  Störungen  gefolgt 
(anämische  Nekrosen,  hämorrhagische  Infarcte). 

In  p  a  t  h  0 1 0  g  i  s  c  h  -  a  n  a  1 0  m  i  s  c  h  e  r  Beziehung  dürfen  die  in  Rede  ste- 
henden Excrescenzen  als  wahre  Auswüchse  des  Gewebes  des  Endocardiums  selbst 
betrachtet  werden.  Es  bildet  sich  an  den  dem  Krankheitsprocesse  anheimgefal- 
lenen Stellen  zuerst  ein  Granulationsgewebe,  das  später  mit  den  gewöhnlichen 
Veränderungen  des  im  entzündlichen  Zustande  sich  befindenden  Bindegewebes 
einhergeht,  d.  i.  immer  mehr  fibrös,  narbig  wird,  schrumpft,  was  schliesslich 
zu  einer  Verdickung  des  freien  Klappenrandes  führt.  Die  mikroskopische  Unter- 
suchung zeigt  als  erste  Veränderung  eine  Ansammlung  von  Zellen  in  den 
oberen  Schichten  des  Endocards,  die  stellenweise  eine  grössere  ist,  was  Anlass 
zur  Entstehung  kleiner  Efflorescenzen  gibt.  Erst  später  bildet  sich  in  dem 
Maasse,  als  die  Anzahl  der  angesammelten  Zellen  eine  grössere  wird,  das  oben 
erwähnte  Granulationsgewebe  heraus.  Eine  genaue  Grenze  zwischen  den  warz- 
artigen Eölorescenzen  und  den  dieselben  bedeckenden  Fibrinschichten  existirt 
nicht.     Die  Bindegewebszellen  fliessen  allmälig  mit  dem  Fibrin  zusammen. 

Bei  leichten  Graden  kann  es  zur  Pvesorption  der  entzündlichen  Producte  — 
restitutio  ad  integrum  —  kommen,  gewöhnlich  aber  geht  diese  Form  in  die 
sclerotische  Form  über,  die  zur  Bildung  von  Klappenfehlern  führt.*) 

Was  den  Antheil  der  Mikroorganismen  an  dem  oben  geschilderten  Processe 
anlangt,  so  sind  noch  die  Meinungen  getheilt.  Die  Mehrzahl  der  Autoren  rechnet  jedoch  die 
Endoc.  verrucosa  zu  den  durch  Bacterien  hervorgerufenen  Krankheiten  und  betrachtet  die- 
selbe als  eine  Infectionskrankheit.  nur  soll  dieselbe  milderer  Natur  sein  als  die  E.  septica. 
Es  ist  jedoch  nicht  in  allen  Fällen  von  End.  granulosa  der  Nachweis  von  Mikrooi'ganismen 
gelungen.  Klebs,  Koester  und  Ziegler  gehörten  zu  den  ersten,  welche  der  Ansicht  waren, 
dass  alle  Entzündungen  des  Endocards.  celbst  die  warzenartigen,  auf  Entwickelung  von 
Mikroorganismen  beruhen.  Hamburger,  Orth,  Wyssokowitsch,  Bramwell,  Prudden  theilen 
diese  Ansicht  nicht,  da  sie  in  den  von  ihnen  untersuchten  Fällen  von  End.  verrucosa  Mikro- 
organismen nachzuweisen  nicht  im  Stande  waren. 

Dagegen  sprechen  die  letzten  Untersuchungen  von  Weichselbaum,  E.  Fränkel 
und  A.  Sänger,  die  nicht  blos  die  entzündlichen  Producte  des  Endocards  mikroskopisch 
untersuchten,  sondern  auch  Culturen  anstellten,  sehr  für  die  infectiöse  Natur  der  in  Rede 
stehenden  Krankheit.  Am  häufigsten  fanden  dieselben  Staphylococcus  pyogenes  aureus, 
seltener  Staphylococcus  pyogenes  albus.  Staphylococcus  cereus  albus  Passet  Zuweilen 
wurden  in  demselben  Falle  zwei  oder  drei  Arten  von  Mikroorganismen  gefunden.  Einige 
Autoren  (Heller)  haben  sogar  bei  End.  verrucosa  von  an  Tuberculose  leidenden  Individuen 
Koch's  Bacillen  in  den  oberen  Schichten  der  Efflorescenzen  aufgefunden. 

Aetiologie.  Fälle  von  idiopathischer  in  Folge  eines  Trauma  oder  einer 
Erkältung  entstandenen  Endocarditis  sind  äusserst  selten.  Am  häufigsten  ist 
die  Endocarditis  ein  secundärer  Process  und  tritt  dann  im  Verlaufe  eines 
Gelenk-,  zuweilen,  wenn  auch  seltener,  eines  Muskelrheumatismus  auf.  Auf 
diese  Thatsache  wurde  zuerst  von  Bouillond  aufmerksam  gemacht.  Es  wurde 
auch  ein  inniger  Zusammenhang  zwischen  diesen  beiden  Krankheiten  aufgesucht 
und  man  glaubte,  es  circulire  im  Blute  eine  Art  materia  peccans,  die,  indem 
sie  sich  in  die  Gelenke  ausscheidet,  den  Rheumatismus  und  an  den  serösen 
Häuten  am  Endocard,  Pericard,  an  der  Pleura  ihnen  entsprechende  Ent- 
zündungen hervorrufe.  Als  eine  solche  Materie  wurde  eine  Zeit  lang  Milch- 
säure angesehen.  Nach  den  jetzigen  Anschauungen  muss  angenommen  Averden, 
dass  diese  bösartige  Substanz  die  Mikroorganismen  sind,  die,  indem  sie  sich 
in  den  Gelenken  oder  an  den  serösen  Häuten  einnisten,  die  Entzündung  ver- 
anlassen. 

Vielleicht  spielt  bei  der  Entstehung  von  Endocarditis  die  locale  Dispo- 
sition des  Gewebes,  d.  h.  sog.  locus  minoris  resistentiae  eine  wichtige  Rolle, 


*)  Vergl.  ,.Herzkkq)penfehler"  von  Prim.  Doc.  Dr.  KovÄcs. 


556  ENDOCARDITIS. 

wofür  die  scliönen  von  Orth  und  Wyssokowitsch  an  Tliieren  angestellten 
Yersuclie  sprechen.  Diese  Autoren  haben  sich  überzeugt,  dass  die  ins  Blut 
hineingebrachten  Mikrococcen  nur  dann  ihre  deletäre  Wirkung  auf  das  Endo- 
card  ausüben,  so  bald  dieses  bereits  früher  beeinträchtigt  wurde.  Was  die 
Häufigkeit  der  einen  Gelenks rheumatismus  complicirenden  Endocarditis 
anlangt,  so  soll  dieselbe  nach  Bambeeger  auf  circa  -20°Iq,  nach  Jaccoud 
auf  25 — 28%  angenommen  werden.  Xicht  immer  steht  die  Intensität  des 
acuten  Rheumatismus  in  einem  geraden  Verhältnisse  zur  Häufigkeit  der  Er- 
krankung des  Endocards,  zuweilen  verläuft  ein  sehr  starker  Eheumatismus, 
der  viele  Gelenke  befiel,  ohne  Endocarditis  und  umgekehit,  es  kommt  vor, 
dass  eine  leichte  rheumatische  Affection  der  Gelenke,  oder  selbst  eines  einzigen 
Gelenkes,  durch  einen  entzündlichen  Process    am  Endocard    compliciit   wird. 

Wir  haben  selbst  mehrmals  die  Gelegenheit  gehabt,  festzustellen,  dass  bei 
Kindern,  die  von  Eltern  stammen,  welche  ein  Herzleiden  haben  oder  bei  rha- 
chitischen  Kindern  auch  ein  leichter  mit  sehr  geringem  Fieber  verlaufender 
Muskelrheumatismus  dmxh  eine  Endocarditis  complicirt  wuiile. 

Die  Endocarditis  gesellt  sich  dem  Rheumatismus  gewöhnlich  am  Ende 
der  ersten  oder  zweiten  Krankheitswoche  hinzu. 

Es  kommen  jedoch  Fälle  vor,  in  denen  die  Endocarditis  sich  latent  ohne 
jede  Mitbetheiligung  nicht  nur  eines  Rheumatismus,  sondern  überhaupt  irgend 
welcher  ernsten,  fieberhaften  Erkrankung,  entwickelt.  Wir  haben  dies  mehrmals 
bei  mit  einem  Herzfehler  behafteten  Individuen  festgestellt,  bei  denen  eine  noch 
so  genau  aufgenommene  Anamnese  nicht  im  Stande  war,  die  Quelle  dieser  Er- 
krankung zu  ermitteln,  besonders  war  dies  bei  Frauen  mit  Stenosis  ostii  venosi 
sin.  der  Fall.  Desgleichen  entwickelt  sich  zuweilen  bei  Kindern  eine  Endo- 
carditis, ohne  dass  auch  die  geringsten  weder  sul^jectiven  noch  objectiven 
Symptome  vorhanden  sind. 

Die  verrucöse  Endocarditis  tritt  zuweilen  als  Folge  entzündlicher  Processe 
des  Pericards  und  des  Herzmuskels  hervor  —  in  diesen  Fällen  greift  der  ent- 
zündliche Process  per  continuitatem  über. 

Es  kommt  auch  vor,  dass  die  End.  verrucosa  sich  zu  chronischen 
Gelenksentzündungen  (arthritis),  wenn  auch  selten,  hinzugesellt. 

Ausserdem  tritt  die  End.  verrucosa  im  Verlaufe  von  Pyämie,  Puer- 
peralfieber, überhaupt  im  Verlaufe  infectiöser  Krankheiten:  Diph- 
therie,  Scharlach,  Masern,  Ti/j^hus.  Pneumonie,  Pleuritis,  Erysipel,  ja  sogar 
Tripper  (Endocarditis  Uenorrhoica)  auf.  Zuweilen  tritt  dieselbe  zu  einer  acuten 
oder  chronischen  Nierenentzündung,  zu  Chorea,  Erythema  nodosum  hinzu. 

Obgleich  die  Endocarditis  auch  während  des  foetalen  Lebens  vorkommen 
kann,  (die  rechte  Herzhälfte  ist  dann  Sitz  der  Afiection,)  so  kommt  dieselbe  im 
kindlichen  und  reifen  Lebensalter  am  meisten  vor.  Dass  dieselbe  bei  Männern 
häufiger  vorkommt  als  bei  Frauen,  scheint  von  der  häufigeren  Erkrankung  der 
ersteren  an  Rheumatismus  abhängig  zu  sein. 

Symptome.  Localisirt  sich  die  Entzündung  nicht  auf  den  Klappen, 
sondern  auf  dem  Höhlenendocard,  so  kann  dieselbe  ohne  irgendwelche  sowohl 
percutorische  wie  auscultatorische  Erscheinungen  verlaufen.  Da  Endocarditis 
am  häufigsten  die  zweizipflige  Klappe  befällt  ■ —  so  wird  ein  leichtes,  sanftes 
systolisches  Geräusch  an  und  für  sich  oder  auch  neben  dem  Ton  an  der 
Herzspitze  wahrgenommen.  Es  rührt  das  davon  her,  dass  die  obgleich  noch 
schlussfähige  Klappe  infolge  der  Veränderungen,  mögen  dieselben  noch  so  un- 
bedeutend sein,  (kleinzellige  Infiltration,  kleine  warzenartige  Eftlorescenzen)  ihre 
Elasticität  und  die  Fähigkeit  zu  normalen  Schwingungen  bereits  eingebüsst  hat. 

Erst  nach  einer  gewissen  Zeit  gewinnt  die  Diagnose  der  End.  an  Si- 
cherheit, sobald  es  infolge  der  entstandenen  Insufficienz  der  Mitralis  zu  einer 
Stauung  im  linken  Vorhof  und  überhaupt  im  kleinen  Kreislauf  kommt.  In- 
folgedessen wird  der  2.   Pulmonalton  verstärkt  und  die  Herzdämpfung  nimmt 


ENDOCAEDITIS.  557 

in  querer  Richtung  an  Extensität  zu.  Sobald  sich  eine  Insufiicienz  heraus- 
bildet, wird  das  systolische  Geräusch  stärker  und  erleidet  bezüglich  seiner 
Intensität  geringere  Schwankungen,  als  es  anfangs  der  Fall  war,  oder  ver- 
schwindet gleich  mit  den  übrigen  Erscheinungen,  sobald  der  Krankheitsprocess 
einen  günstigen  Verlauf  annimmt.  Zuweilen  tritt  ausser  dem  systolischen  auch 
ein  diastolisches  Geräusch  auf,  wenn  die  warzartigen  Efflorescenzen  infolge  von 
Fibrinablagerungen  gi'össer  werden  und  das  atrio-ventriculare  Ostium  verengen. 

Localisirt  sich  der  entzündliche  Process  auf  der  Tricuspidalis,  so  stösst 
die  Diagnose  auf  noch  gi'össere  Schwierigkeiten,  als  es  bei  der  Mitralis  der 
Fall  zu  sein  pflegt.  Infolge  der  schwächeren  Musculatur  der  rechten  Kammer 
sind  die  von  der  Klappen-Insufficienz  oder  Stenose  des  atrio-ventricularen  Os- 
tium abhängigen  Geräusche  (im  unteren  Abschnitt  des  Sternum  und  an  dessen 
rechtem  Rande)  im  Allgemeinen  schwächer,  weniger  deutlich,  ausserdem  treten 
an  der  Auscultationsstelle  derselben  Klappe  accidentelle  und  fortgeleitete  Ge- 
räusche auf.  Schliesslich  tritt  Endocarditis  v.  triscuspid.  am  häufigsten  gleich- 
zeitig mit  End.  v.  bicuspid.  auf,  was  natürlich  die  genaue  Diagnose  schwie- 
riger macht.  Die  Endocarditis,  die  sich  auf  den  Semilunarklappen  der  Aorta 
oder  der  Pulmonalis  localisirt,  macht  sich  durch  ein  systolisches,  seltener  durch 
ein  diastolisches  Geräusch,  und  dies  erst  im  weiteren  Verlaufe  des  Krankheits- 
processes,  kund,  sobald  die  destructiven  Processe  an    den  Klappen    auftreten. 

Die  Herzthätigkeit  wird  im  Beginn  der  Krankheit  etwas  beschleunigt, 
der  Puls  frequenter,  zuweilen  arythmisch,  die  Kranken  klagen  häufig  über 
Herzklopfen,  Beengungsgefühl  oder  über  Kurzathmigkeit,  häufig  aber  fehlen 
auch  die  geringsten  subjectiven  Symptome.  Die  zuweilen  von  den  Patienten 
wahrgenommenen  Schmerzen  sind  am  häufigsten  auf  die  gleichzeitige  Pericar- 
ditis  und  Pleuritis  zurückzuführen.  Die  Körpertemperatur'  ist  erhöht,  besitzt 
die  dem  acuten  Gelenkrheumatismus  eigenthümlichen  Charaktere,  zeigt  keine 
grossen  Schwankungen,  beträgt  durchschnittlich  ca  38'5 — 39"0°,  seltener  über- 
schreitet dieselbe  39*5°  C.  Höhere  Temperaturgrade  und  ein  intermittirender 
Typus  weisen  auf  den  bösartigen  Charakter  der  Entzündung  hin. 

Von  den  secundären  Erscheinungen  sollen  die  Metastasen  hervor- 
gehoben werden,  welche  Anlass  zu  Infarcten  in  der  Milz  (heftige  Schmerzen, 
Vergrösserung  derselben)  in  den  Nieren  (Hämaturie),  in  den  Lungen  geben. 
Die  Verstopfung  der  Gehirngefässe  führt  gewöhnlich  zu  einer  Hemiplegie,  die 
Verstopfung  der  grösseren,  die  Extremitäten  versorgenden  Stämme  zu  Gangrän. 
Embolien  der  Haut-  und  Schleimhautgefässe  verursachen  Blutextravasate, 
erysipelatöse  Entzündungen,  Fui'unkeln. 

Die  Diagnose  stösst  manchmal  auf  grosse  Schwierigkeiten.  Xicht  jedes 
über  der  Herzspitze  im  Verlaufe  eines  Gelenkrheumatismus  auftretende  Ge- 
räusch kann  für  ein  endocardiales  sensu  strictiori  angesehen  werden.  Häufig 
treten  nicht  nur  im  Verlaufe  eines  Rheumatismus,  sondern  tiberhaupt  im  Ver- 
laufe fieberhafter  Krankheiten  functionelle  auf  die  beschleunigte  Herzaction, 
schwache  Spannung  der  Papillarmuskeln,  auf  die  Anämie  u.  s.  w.  zurück- 
zuführende Geräusche  auf,  wobei  sogar  auch  eine  Herzdilatation  bestehen  kann, 
was  als  Folge  einer  Erschlaffung,  einer  Abschwächung  des  Herzmuskels,  her- 
vortritt. 

Die  Diagnose  gewinnt  an  Sicherheit,  sobald  neben  dem  systolischen  Ge- 
räusche der  zweite  Pulmonalton  accentuirt  wird  und  die  Herzdämpfung  in  querer 
Richtung  nach  rechts  an  Dimension  zunimmt.  Fttr  die  Endocarditis  spricht 
gewissermaassen  das  Fortbestehen  eines  Geräusches,  wenn  das  Fieber  bereits 
geschwunden  ist.  Ein  wichtiges  diagnostisches  Merkmal  ist  das  Auftreten  von 
diastolischen  Geräuschen,  die  bekanntlich  selten  functioneller  Xatui'  sind. 

Die  Diagnose  wird  zuweilen  sehr  schwierig,  sobald  das  mit  einem  acuten 
Rheumatismus  behaftete  Individuum  bereits  früher  an  einem  Herzfehler  gelitten 
hat  oder  wenn  auf  der  Basis  alter  endocardialer  Veränderungen  —  eine  Exa- 


558  ENDOCARDITIS. 

cerbation  des  entzündlichen  Processes  eintritt.  In  solchen  Fällen  werden  wir 
vor  uns  Zeichen  des  bereits  seit  früher  existirenden  Herzfehlers  mit  dessen 
Folgen  haben  ( Vergrösserung  der  Herzdimensioneu,  Stauungen  in  den  inneren 
Organen),  ausserdem  werden  uns  manche  Anhaltspunkte  von  der  Anamnese  selbst 
geliefert,  schliesslich  spricht  der  wechselnde  Charakter  der  Intensität  der  Ge- 
räusche und  das  Auftreten  neuer  Geräusche  mehr  für  eine  acute,  als  für  eine 
chronische  Form. 

Die  oben  erwähnte  Bildung  von  Embolien  erleichtert  uns  im  Allgemeinen 
die  Diagnose  der  acuten  Fonn. 

Gesellt  sich  einer  Endocarditis  auch  eine  Pericarditis  hinzu,  so  kann  die 
Orientirung  anfangs  eine  schwierige  sein,  da  die  endocardialen  Geräusche  A'on 
den  pericardialen  übertönt  werden.  Die  pericardialen  Geräusche  fallen  mit 
dem  1.  und  2.  Herztone  nicht  genau  zusammen,  wodurch  sie  sich  von  den  endo- 
cardialen unterscheiden,  ausserdem  gewinnen  diesell)en,  bei  einem  mit  dem 
Stethoskop  auf  die  Herzgegend  ausgeübten  Druck,  an  Intensität. 

Die  Prognose  ist  im  Allgemeinen  im  Bezug  auf  die  Heilung  eine  schwie- 
rige, da  die  Piesorption  der  entzündlichen  Producte  sehr  selten  zu  Stande 
kommt,  am  häufigsten  führen  dieselben  zu  Verdickungen,  Verwachsungen,  kurz 
zu  Klappenfehlern  oder  gehen  per  continuitatem  auf  den  Herzmuskel  über. 
Zuweilen  kann  der  Zustand  einen  l)edrohlichen  Charakter  annehmen,  mit  Rück- 
sicht auf  eine  Embolie  der  Hirngefässe. 

Therapie.  AVir  besitzen  bis  jetzt  kein  Mittel,  das  im  Stande  wäre,  die 
Entwickelung  von  Endocarditis  im  Verlaufe  eines  Piheumatismus  zu  verhüten. 
Früher  wendete  man  als  Prophylacticum  die  antiphlogistische  Methode  an  (all- 
gemeine und  locale  Blutentziehungen,  Calomel,  Quecksilbereinreibungen,  Dar- 
reichung von  Kali  etXatrium  nitricum).  Die  Erfolge  waren  jedoch  sehr  zweifelhaft. 

Sehen  yäv  als  Ausgangspunkt  der  Entzündung  Mikroorganismen  an,  so 
haben  wir  ebenfalls  kein  Mittel,  das  dieselben  zu  tödten  oder  die  Entwicke- 
lung derselben  zu  hemmen  im  Stande  wäre.  Es  bleibt  uns  also  nichts  als 
eine  symptomatische  Behandlung  übrig.  Vor  Allem  ist  Buhe  indicirt;  bei 
Auftreten  von  Schmerzen,  Beengungsgefühl,  Herzklopfen  werden  kalte  und  Eis- 
umschläge auf  der  Herzgegend,  zuweilen  locale  Blutentsiehungen  in  Form  von 
blutigen  Schröpfüöpfen  oder  Blutegeln.  Veskatoria.  Brompräparaten,  Codein  oder 
Morphium,  Digitalis  in  Betracht  kommen.  *)  Von  Nutzen  können  auch  Abführ- 
mittel sein,  bei  hohem  Fieber  vorsichtige  Chiningaben,  Xatr.  salicylicum.  Bei 
abgeschwächter  Herzthätigkeit  wird  man  Tonica  und  Analeptica:  CofEein, 
Campher,  Aether,  Wein,  schwarzen  Kaffee,  Thee  u.  s.  w.  verordnen,  zur  Un- 
terstützung der  Xierenfunction  —  reichliche  Getränke  und  selbst  diuretische 
Mittel  darreichen. 

Die  Venaesectio  kann  zuweilen  indicirt  sein,  nicht  so  mit  Rücksicht 
auf  den  localen  Process,  als  vielmehr  auf  die  das  Leben  bedrohende  Ueber- 
füUung  des  kleinen  Kreislaufs. 

Um  die  entzündlichen  Producte  zur  Resorption  zu  bringen,  hat  Prof. 
Gerhardt  Inhalationen  von  1 — l'ö^/o  Lösung  vonXatr.  bicarbon.  verordnet  und 
will  damit  vortrefiliche  Erfolge  erzielt  haben.  Andere  Autoren  konnten  dies  nicht 
bestätigen,  auch  nicht  die  Erfolge  der  von  englischen  Aerzten  gepriesenen  Dar- 
reichung von  Salmiak.  Das  Gleiche  lässt  sich  über  den  von  Prof.  Jaccoud  ge- 
reichten Brechiceinstein  (0-2 — 0'4  :  200' 0  Äqu.  destill.  2stündlich  1  Esslöfel, 
2—3  Flaschen)  behaupten,  der,  durch  seine  Brechwirkung  und  abführenden 
Eigenschaften,  nach  Ansicht  des  Autors,  die  Beschränkung  des  entzündlichen 
Processes  sehi-  günstig  beeinflussen  soll.  Jedoch  wird  eine  solche  Behandlung 
nicht  immer    durchzuführen    sein  mit  Rücksicht    auf  Collaps,    der  leicht  ein- 


*)  Yergl.  die  Artikel  ..Digitalis^-  (v.  Oefelei  und  yCarJiacu"  i Pawikski")  :  Bd.  ,.Phar- 
macoloffie  und  Toxicoloaie-. 


ENDOCARDITIS  SEPTICA.  559 

treten  kann.  In  diesem  letzten  Eall  räth  Jaccoud  den  Gebrauch  von  Alkalien 
in  grossen  Gaben. 

Um  die  constanten  in  Form  von  Verdickungen  an  den  Klappen  hinter- 
bliebenen  Veränderungen  zu  beseitigen,  wurde  der  Gebrauch  von  Jod,  Jodeisen 
vorgeschlagen,  jedoch  ist  der  Erfolg  ein  zweifelhafter.  j,  pawinski. 

EndOCardJtiS  Septica.  (E.  idcerosa,  s.  maligna,  s.  diphtheroides.)  Die 
Endocarditis  septica  ist  in  engem  Sinne  eine  Infectionskrankheit.  Dieselbe 
beruht  auf  Ansiedelung  von  Mikrokokken  auf  dem  Endocard,  die,  indem  sie 
das  Gewebe  zerstören,  Gangrän  und  Eiterung  hervorrufen  —  daher  die  Namen 
Endocarditis  diphtheroides,  ulcerosa  u.  s.  w.  Diese  Pilze  gehören  vorwiegend 
der  Gruppe  von  Schizomyceten  an  (staphylococcus  pyogenes  aureus,  sirejJtococcus 
pjogenes,  diplococcus  pneumoniae  u.  s.  w.)  Dieselben  pflegen  in  das  Herz  aus 
den  anderen  Organen  mit  dem  Blutstrom  zu  gelangen;  zuweilen  ist  es  jedoch 
selir  schwierig,  die  Quelle,  woher  dieselben  im  Organismus  stammen,  zu  er- 
mitteln. Die  oben  erwähnten  Miki-oorganismen  siedeln  sich  vorwiegend  in 
der  linken  Herzhälfte  und  dies  häufiger  an  der  zweizipfligen,  als  an  den 
Aortenklappen  an;  es  kommen  jedoch  Fälle  vor,  wo  auch  die  rechte  Herz- 
liälfte  den  Sitz  derselben  bildet.  Desgleichen,  wenn  auch  seltener  als  auf  den 
Klappen,  localisiren  sich  dieselben  auf  dem  Endocardium  parietale.  Ihre 
Lieblingsstelle  an  den  Klappen  ist  der  freie  Rand,  zuweilen  aber  ergreifen 
sie  den  mittleren  Theil  oder  die  Basis  der  Klappen. 

Pathologische  Anatomie  und  Pathogenese.  Im  Beginn  stellen 
sich  die  krankhaften  Veränderungen  makroskopisch  als  kleine  gelbliche 
Fleckchen  (Inseln)  mit  etwas  unebener  Oberfläche  vor  —  es  sind  dies  nekro- 
tisirte,  mit  Mikroorganismen  durchsetzte  und  besetzte  Partikelchen. 

Diese  Fleckchen  bedecken  sich  späterhin  mit  Fibringerinnseln,  die  Form  von 
unebenen  Efllorescenzen  von  grauröthlicher  Farbe  annehmend.  Die  mikroskopische 
Untersuchung  weist  in  den  weichen  Fibrinablagerungen  die  Anwesenheit  einer 
unzählbaren  Menge  von  Schizomyceten  nach.  Diese  Mikroorganismen  sammeln 
sich  anfangs  in  den  oberflächlichen  Schichten  des  Endocardiums  in  Form  von 
die  Oberfläche  der  Klappen  überragenden  Ablagerungen  an,  dann  dringen  sie 
tiefer,  indem  sie  die  normalen  Elemente  der  Membran  zerstören,  (weshalb  es 
zu  einem  Substanz verlust  bald  in  Form  von  Gangrän  oder  Ulceration  kommt). 
Dringt  der  durch  Mikroorganismen  hervorgerufene  Zerstörungsprocess  in  die 
Tiefe  des  Gewebes,  so  kann  es  zu  Perforation  der  Klappe  kommen,  geht  der 
Process  langsamer  vor  sich,  so  kann  sich  ein  Aneurysma  herausbilden,  sobald 
der  übrige,  im  Zustande  einer  entzündlichen  Infiltration  sich  befindende  Ab- 
schnitt der  Klappe  nachgiebiger  wird  und  dem  Blutdrange  einen  Widerstand 
zu  leisten  nicht  im  Stande  ist.  So  buchtet  sich  die  genannte  Stelle  immer 
mehr  und  mehr  in  einer  dem  Blutstrome  entgegengesetzten  Ptichtung  aus, 
also  an  den  Atrio-ventricularklappen  in  der  Piichtung  nach  dem  Vorhofe  zu,  an 
den  Semilunarklappen  in  der  Richtung  nach  dem  Ventrikel  zu.  Später  kann 
es  zur  Perforation  des  aneurysmatischen  Sackes  kommen  —  an  den  Rändern 
der  so  entstandenen  Oeff'nung  lagern  sich  Fibringerinnsel  al)  und  verdecken 
dieselbe  zuweilen  vollständig,  so  dass  man  die  Perforation  erst  nach  Besei- 
tigung der  Gerinnsel  nachweisen  kann.  Da  der  Krankheitsprocess  bei  E.  septica 
nicht  immer  eine  so  genaue  Localisation  wie  die  E.  verrucosa  in  der  Nähe 
der  Klappenränder  zeigt,  sondern  den  mittleren  Theil  oder  die  Basis  der 
Klappen  oder  die  chordae  tendineae  befällt,  so  kann  es  leicht  zur  Abreissung 
der  Klappe  kommen,  was  eine  acute  Insufticienz  zur  Folge  hat.  Zuweilen 
greift  der  Process  von  den  Semilunarklappen  der  Aorta  auf  die  benachbarte 
zweizipflige  Klappe  auf  mechanischem  Wege  ülier  vermittels  der  polypenartigen 
Excrescenzen,    die   während  der  Bewegungen   der  Klappen   die   Mitralklappen 


560  ENDOCARDITIS  SEPTICA. 

berühren  und  so  die  lieber  Siedlung  der  Mikrokokken  von  einer  Klappe  auf 
die  andere  vermitteln. 

Dauert  der  Process  länger  —  was  selten  zu  sein  pflegt,  da  der  Tod 
schon  früher  wegen  allgemeiner  Infection  eintritt,  dann  kann  es  zu  Kalksalzab- 
lagerungen in  den  Fibrinmassen  kommen  oder  es  findet  ein  Regenerationsprocess 
statt  in  Gestalt  von  Bildung  eines  Bindegewebes,  wie  es  bei  Endocarditis  ver- 
rucosa der  Fall  zu  sein  pflegt.  So  kommen  die  gemischten  Formen  zu 
Stande.  Die  obengenannten  Veränderungen  können  in  seltenen  Fällen  zur  rela- 
tiven Heilung  führen. 

Was  die  Frage  anbetrifft,  auf  welchem  Wege  die  pathogenen  Mikro- 
organismen vom  Blute  zu  den  Klappen  hin  gelangen,  so  behaupten  die  meisten 
Pathologo-Anatomen,  dass  dieselben  sich  direct  aus  dem  Blute  ansetzen  und 
nicht,  wie  es  Köster  behauptet,  auf  indirectem,  embolischen  Wege  — 
durch  Hineingelangen  in  die  Coronargefässe. 

Warum  sich  die  Mikroorganismen  hauptsächlich  an  den  Klappen  an- 
setzen, obgleich  sie  sich  in  stetiger  Bewegung  befinden,  darüber  finden  wir  leicht 
Erklärung  darin,  dass  hier  bereits  früher  Unebenheiten,  Verdickungen  u.  s.  w\ 
vorhanden  waren  und  die  Klappenränder  aneinander  stossend  das  Eindringen 
der  Mikrokokken  aus  dem  Blute  in  das  Gewebe  der  Klappen  erleichtern.  — 
Diese  Krankheit  kommt  häufiger  bei  Frauen,  als  bei  männlichen  Individuen 
vor,  was  vielleicht  auf  die  häufigere  Erkrankung  der  Frauen  an  Puerperalfieber 
zurückzuführen  ist. 

Die  Bösartigkeit  des  Krankheitsprocesses  selbst  beschränkt  sich  nicht 
auf  die  localen  Veränderungen  allein:  es  können  kleine  Partikelchen  des 
mortificirten  Gewebes  oder  durch  Mikrokokken  durchsetzte  Fibrinpartikelchen 
mit  dem  Blutstrom  leicht  in  andere  Organe  (Gehirn,  Milz,  Nieren  u.  s.  w.) 
verschleppt  werden,  eine  Embolie  und  dies  bösartiger  Natur  veranlassend. 
Am  Herzmuskel  werden  auch  derartige  mycotische  Embolien  angetroffen,  Sie 
stellen  theils  kleine  rundliche,  blassgraue  Herde  vor,  w^elche  meist  von 
einem  blaurothen  Hofe  umgeben  sind.  '') 

E.  septica  ist  für  gewöhnlich  ein  secundäres  Leiden,  gesellt  sich  am 
häufigsten  einem  Puerperalfieber,  einer  Parametritis,  Pyämie,  wie  ebenfalls 
anderen  Infectionskrankheiten:  einem  acuten  Gelenksrheumatismus,  einer 
Diphtherie,  Scharlach,  Erysipel,  Typhus,  einer  Lungenentzündung  (Endocar- 
ditis pneumonica)  hinzu  —  zuweilen  geben  scheinbar  geringfügige  Verän- 
derungen zu  Endocarditis  Anlass.  Es  kommen  jedoch  Fälle  von  sog.  Endocar- 
ditis idiopathica  vor,  in  denen  die  Quelle,  aus  der  die  Mikroorganismen  stammen, 
nicht  zu  eruiren  ist  —  es  ist  dann  anzunehmen,  dass  dieselben  an  der 
Eintrittsstelle  in  den  Organismus  —  sehr  wahrscheinlich  ist  diese  in  den 
Lungen  —  keine  krankhaften  Veränderungen  hervorgerufen  haben. 

Symptomatologie.  Die  die  Krankheit  begleitenden  Erscheinungen 
kann  man  in  drei  Gruppen  eintheilen:  1.  in  die  das  Herz  selbst  betreffenden, 
2.  in  solche,  welche  auf  die  Embolien  zurückzuführen  sind  und  3.  in  Allgemein- 
erscheinungen,   welche  von  der  Infection  selbst  abhängig   sind. 

Ad  1.  Ist  die  Intensität  des  Processes  eine  sehr  bedeutende,  so  kann  der 
Tod  infolge  allgemeiner  Infection  des  Organismus  eintreten,  noch  bevor  sich 
nennenswerthe  Veränderungen  am  Endocardium  herausgebildet  haben.  In  einem 
solchen  Falle  können  physikalische  Veränderungen  seitens  des  Herzens  voll- 
ständig fehlen.  Die  Töne  können  ganz  rein  und  die  Dimensionen  der  Herz- 
dämpfung normal  sein.  Das  Gleiche  gilt,  wenn  der  Entzündungsprocess  sich  nicht 
auf  die  Klappen,  sondern  auf  das  Endocardium  parietale  beschränkt.  Verläuft 
der  Process  langsamer,  so  haben  wir,  je  nachdem  diese  oder  jene  pathologisch- 
anatomische    Veränderung     vorwiegt,     verschiedene    physikalische    Zeichen. 


*)  Vergl.  „Embolie  der  Arterien",  von  Prof.  Dr.  Litten,  eis.  Bd.  pag.  530  u.  ff. 


ENDOCARDITIS  SEPTICA.  561 

Im  Allgemeinen  kann  man  behaupten,  der  Wechsel  und  das  rapide  Ein- 
treten von  Geräuschen  ist  der  septischen  Entzündung  des  Endocards  eigen- 
thümlich,  was  sich  leicht  durch  die  Natur  des  Krankheitsprocesses  erklären 
lässt.  So  kann  unerwartet  eine  Klappe  abreissen,  eine  Insufficienz 
derselben  herbeiführend,  was  sich,  je  nach  der  Art  der  Klappe, 
durch  das  Auftreten  eines  systolischen  oder  eines  diastolischen 
Geräusches  geltend  macht.  Das  Gleiche  kann  durch  eine  Perforation  der 
Klappe  hervorgerufen  werden.  Eine  Ablagerung  von  Gerinnseln  an  den  ver- 
änderten Klappen  ruft  häufig  eine  plötzliche  Verengerung  des  Ostiums  hervor. 

Selbstverständlich  werden  die  diastolischen  Geräusche  in  diagnostischer 
Beziehung  mehr  zu  verwerthen  sein,  als  die  systolischen,  die  bei  gesteigerter 
Herzaction  und  bei  Fieber  functioneller  Natur  sein  können. 

Die  Dimensionen  der  Herzdämpfung  anlangend,  so  können  dieselben 
besonders  im  Anfange  trotz  vorhandener  Veränderungen  an  den  Klappen  keine 
Abweichungen  darbieten  —  es  ist  nämlich  wohl  bekannt,  dass  das  Herz  sich 
leicht  anpasst  und  mittelst  seiner  Keservekraft  die  Circulationshindernisse  über- 
windet. Erst  nach  einem  gewissen  Zeitablauf  bildet  sich  eine  Hypertrophie 
oder  Dilatation  mancher  Herzabschnitte  heraus  je  nach  der  Art  des  entstan- 
denen Herzfehlers,  also  in  querer  Richtung  bei  Affection  der  Mitralklappe  und 
des  linken  Atrio-ventricularostium  oder  in  Längsrichtung  bei  Affection  der 
Klappen  und  des  Ostiums  der  Aorta. 

Besitzt  der  Herzmuskel  im  Allgemeinen  wenig  Lebenskraft,  oder  greift 
der  Krankheitsprocess  vom  Endocardium  auf  die  Muskelschicht  über,  so  können 
leicht  die  Erscheinungen  einer  acuten  Herzdilatation  auftreten. 

Der  Puls  zeigt  nichts  Charakteristisches;  derselbe  pflegt,  je  nach  der 
Körpertemperatur  und  der  Bösartigkeit  der  Infection,  mehr  oder  weniger  be- 
schleunigt, zuweilen  unregelmässig  zu  sein.  Sobald  der  destructive  Process 
eine  Insufficienz  der  Semilunarklappen  zu  Stande  kommen  lässt,  wird  der  Puls 
frequent  und  hüpfend. 

Die  zweite  Gruppe  von  Erscheinungen  ist  auf  Embolien  zurückzufüh- 
ren, welche  die  Diagnose  bestätigen,  manchmal  sogar  bringen  uns  dieselben  allein 
bei  Mangel  von  Erscheinungen  der  ersten  Gruppe  auf  den  Gedanken,  dass 
es  sich  um  eine  septische  Entzündung  des  Endocards  handle.  Gelangt  ein  Em- 
bolus in  die  Hirngefässe,  so  hat  derselbe  des  häufigsten  eine  Hemiplegie  oder 
Aphasie  zur  Folge,  eine  Embolie  der  art.  lienalis  wird  sich  durch  Empfindlich- 
keit und  Anschwellung  der  Milz  kundgeben,  eine  Embolie  der  art.  renalis  wird 
Hämaturie  herbeiführen.  Auf  einen  Lungeninfarct  weist  die  circumscripte 
Dämpfung  des  Percussionsschalls  und  die  Hämoptoe  hin.  Die  Netzliaut  ist 
ebenfalls  Sitz  von  Extravasaten  embolischer  Natur  (Litten).  Auf  der  Haut 
und  den  Schleimhäuten  entstehen  ebenfalls  Extravasate  derselben  embolischen 
Natur.  Gelangt  der  Embolus  in  einen  der  grösseren  Arterienstämme  der  Ex- 
tremitäten, so  kann  derselbe  Gangrän  der  unterhalb  des  Embolus  sich  befin- 
denden Abschnitte  veranlassen.  Im  Allgemeinen  zeigen  diese  Embolieen  einen 
bösartigen  Charakter  und  rufen,  wie  bereits  erwähnt,  Eiterung  und  Gangrän 
hervor. 

Zur  dritten  Gruppe  gehören  die  Allgemeiner  scheinungen,  welche  jeder 
fieberhaften  Infectionskrankheit  eigenthümlich  sind  und  an  und  für  sich  nichts 
Charakteristisches  haben.  Aus  diesem  Grunde  zeigen  manche  Fälle  von  Endo- 
carditis  septica  eine  grosse  Aehnlichkeit  mit  dem  Typhus,  besonders  bei 
Mangel  von  Erscheinungen  seitens  des  Herzens.  Die  Benommenheit  des  Sen- 
soriums,  die  Milzvergrösserung,  welche  jedem  infectiösen  Process  eigenthümlich 
sind,  scheinen  in  solchen  Fällen  für  den  Typhus  zu  sprechen,  um  so  mehr, 
als  zuweilen  bei  E.  septica  Erscheinungen  seitens  des  Verdauungskanals,  wie 
Meteorismus,  Diarrhoe  u.  s.  w.,  manchmal  sogar  mit  einer  Ptoseola  verbunden 
auftreten. 

Bibl.  med.  Wissenscbafteu.    I.  Interne  Mediciu  uud  Kinderkrankheiten.  oo 


562  ENTERITIS  ACUTA  ET  CHRONICA. 

In  anderen  Fällen  treten  wiederum  im  Verlauf  der  Krankheit  pyä- 
mische  Erscheinungen  auf,  also  Schüttelfröste  mit  nachfolgendem  heftigen 
Fieber  und  Schwitzen,  was  zuweilen  zur  Annahme  einer  Malaria  Veranlassung 
geben  kann,  besonders  wenn  die  Temperaturremissionen  bedeutend  sind. 

Die  Diagnose  bietet  häufig  grosse  Schwierigkeiten.  Für  E.  septica 
spricht  der  Wechsel  der  auscultatorischen  Erscheinungen,  die  hohe  Intensität 
des  Fiebers  —  hauptsächlich  die  embolischen  Processe,  besonders  Netzhaut- 
blutungen, die  mittelst  des  Augenspiegels  zu  constatiren  sind. 

Die  Prognose  ist  eine  schlechte,  der  Tod  tritt  im  Laufe  einiger 
Tage  oder  erst  nach  Ablauf  einiger  Wochen  ein.  Es  kommen  jedoch  chro- 
nische, etwas  weniger  bösartig  scheinende  Fälle  vor,  welche  erst  nach  Ablauf 
vieler  Monate  zum  Tode  führen.  In  diesen  Fällen  erreicht  das  Fieber  nicht 
eine  so  hohe  Intensität,  wie  es  bei  E.  septica  acuta  stricte  der  Fall  zu 
sein  pflegt,  kann  jedoch  mit  kleinen  Remissionen  selbst  6 — 7  Monate  an- 
halten, bis  der  Tod  unter  den  Erscheinungen  eines  nicht  compensirten  Herz- 
fehlers eintritt. 

Die  Therapie  ist  gewöhnlich  ohnmächtig,  da  wirkeine  Mittel  besitzen, 
die  direct  auf  das  Krankheitswesen,  d.  i.  auf  die  Zerstörung  der  pathogenen 
Mikroorganismen  einzuwirken  im  Stande  wären.  Wir  müssen  uns  auf  die  Er- 
haltung der  Kräfte  des  Patienten,  also  auf  die  Verstärkung  seiner  Resistenz- 
fähigkeit im  Kampfe  mit  den  Mikroorganismen  und  auf  eine  symptomatische 
Behandlung  beschränken.  Wir  füllen  die  erste  Aufgabe  aus,  indem  wir  dem 
Patienten  eine  geeignete  Nahrung  (Milch,  Eier,  Bouillon,  Wein,  Alcohol)  reichen. 

Die  zweite  Indication  bezieht  sich  auf  die  Beseitigung  drohender  oder 
unangenehmer  Symptome,  es  werden  also  bei  lioher  Körpertemperatur  Chinin, 
Natr.  salicyUcum,  bei  Beengungsgefühl:  Digitalis  allein  oder  mit  Brom,  kalte 
Umschläge,  Eisblase,  trockene  und  sogar  blutige  Schröpfköpfe,  Abführmittel, 
selbst  subcutane  Morphiuminjection  angewendet.  Excitantia,  wieÄether,  Coffein^ 
Valeriana,  Campher,  Moschus  sind  bei  abnehmender  Herzthätigkeit  indicirt. 

J.    PAWINSKI. 

Enteritis  acuta  et  chronica-  (Acuter  und  chronischer  Darmkatarrh.) 
Im  Folgenden  soll  nur  die  Enteritis  der  Erwachsenen  besprochen  werden, 
während  die  Enteritis  der  Kinder  an  anderer  Stelle  abgehandelt  wird. 

I.  Enteritis  acuta.  Aetiologie.  Eine  grosse  Reihe  innerer  und 
äusserer  Noxen  können  zu  acuter  Enteritis  führen;  von  jenen  steht  in  erster 
Reihe  Aufnahme  unzweckmässiger  Nahrungsmittel  (besonders  unreifen  Obstes) 
oder  verdorbenen  an  Bacterien  oder  organischen  Substanzen  reichen  Trink- 
wassers oder  Milch,  wovon  Gaffky  neuerdings  ein  instructives  Beispiel  mit- 
getheilt  hat,  ferner  der  Gebrauch  oder  vielmehr  Missbrauch  gewisser  Arznei- 
mittel, besonders  Drastica,  oder  toxischer  Substanzen,  wie  Mercur,  Arsen, 
Brechwein  u.  A.  Von  äusseren  Mitteln  werden  Erkältungen  häufig  angeschul- 
digt, ob  mit  Recht  mag  dahingestellt  bleiben.  Häufig,  besonders  in  den  heissen 
Monaten,  werden  Fälle  infectiöser  Enteritis  beobachtet,  wobei  ganze  Familien, 
Insassen  von  Kasernen,  Gefängnissen  erkranken.  Offenbar  handelt  es  sich 
auch  hier  um  bisher  noch  unbekannte  Infectionserreger,  die  entweder  mit 
dem  Trinkwasser  oder  den  Nahrungsmitteln  dem  Körper  einverleibt  werden. 
Schliesslich  kommt  acute  Enteritis  als  Theilerscheinung  anderer  Krankheiten, 
des  Typhus,  der  Cholera  im  prämonitorischen  Stadium,  der  Dysenterie  u.  A. 
vor.  Dieselben  finden  ihre  Berücksichtigung  bei  den  Krankheiten,  die  sie 
einleiten  oder  compliciren. 

Das  anatomische  Bild  der  acuten  Enteritis  zeigt  die  üblichen  Er- 
scheinungen aller  acuten  Katarrhe:  Röthung  und  Schwellung  der  Darmschleim- 
haut, besonders  an  den  Zotten  und  Falten,  abnorme  Secretion,  ferner 
Schwellung    der    von    einem    hyperämischen  Hof   umgebenen   Lymphfollikel, 


ENTERITIS  ACüTx\  ET  CHRONICA.  563 

endlich  Intumescenz  der  Mesenterialdrüsen.  Nur  in  besonders  acuten  Fällen 
kommt  es  zur  Bildung  mehr  oder  weniger  oberflächlicher  Erosionen,  die  theils 
auf  ulcerirte  Darmfollikel,  theils  auf  Schleimhautgeschwüre  zurückzuführen 
sind.  Nur  in  sehr  seltenen  Fällen  greift  der  Process  über  die  Mucosa  und 
Submucosa  hinaus. 

Die  Symptomatologie  der  acuten  Enteritis  wird  fast  ausschliesslich 
durch  die  Folgezustände  der  Darmentzündung  und  deren  Wirkungen  auf  das 
Allgemeinbefinden  beherrscht.  Es  kommt  plötzlich  zum  Ausbruch  mehr  oder 
weniger  häufiger  Durchfälle,  denen  die  üblichen  Erscheinungen  im  Darmcanal, 
Kollern  und  Poltern  im  Leibe,  kolikartige  Schmerzen,  Tenesmus  vorausgehen. 
Im  Anfang  sind  die  Stühle  noch  leidlich  gebunden,  verlieren  aber,  je  mehr  sie 
sich  häufen  an  Consistenz.  Auch  die  Farbe  und  der  Geruch  ändert  sich  all- 
mälig  mit  der  Zahl  der  Stühle.  Anfangs  noch  braun,  bezw.  gelbgrün  gefärbt, 
werden  sie  mit  der  Zahl  der  Stühle  immer  heller,  schliesslich  wasserhell  und 
erhalten  dabei  ein  reiswasserähnliches  Aussehen,  ähnlich  dem  bei  der  asia- 
tischen Cholera.  Hiermit  nimmt  pari  passu  die  Putrescenz  der  Stühle  ab,  die 
einen  faden,  spermaähnlichen  Geruch  annehmen.  Die  Reiswasser-Stühle  zeich- 
nen sich  in  Folge  der  reichlichen  Transsudatbildung  durch  hohen  Eiweiss- 
gehalt  aus.  In  anderen  Fällen,  namentlich  den  mit  starkem  Tenesmus  einher- 
gehenden, ist  den  Stühlen  nicht  selten  Blut  beigemischt,  so  dass  sie  das  Aus- 
sehen von  Ruhrstühlen  annehmen  können. 

Die  mikroskopisclie  Untersuchung  der  Fäces*)  ist  im  Ganzen  ohne  wesentliches  Inter- 
esse, man  findet  im  Allgemeinen  keine  für  die  acute  Enteritis  charakteristischen  Bilder; 
dass  jedoch  in  einzelnen  Fällen  bestimmte  mit  der  Nahrung  oder  dem  Trinkwasser  auf- 
genommene Mikroorganismen  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  eine  aetiologische  Rolle  spie- 
len, zeigt  die  interessante  Beobachtung  Gaffky's,  der  in  zwei  durch  Milchgenuss  her- 
vorgerufenen Fällen  acuter  Enteritis  sowohl  in  den  Dejectionen  der  Erkrankten,  als  auch 
denen  der  Kuh,  von  der  die  Milch  stamnrte,  einen  für  Mäuse  hochgradig  pathogenen  kurzen, 
lebhaft  beweglichen  Bacillus  entdeckte. 

Mit  dem  Ausbruch  der  Durchfälle  parallel  steigert  sich  die  Darmunruhe, 
um  sich  erst  mit  dem  Beginn  der  Convalescenz  zu  verlieren.  Dabei  ist  der 
Appetit  reducirt,  der  Durst  dagegen  in  den  ausgesprochenen  Fällen  lebhaft 
gesteigert.  Umgekehrt  ist  die  Diurese  ausserordentlich  geringfügig,  und  der 
spärliche  Urin  ist  dunkel,  reich  an  Uraten  und  enthält  gelegentlich  selbst 
kleine  Eiweissmengen  (Fischl). 

In  Fällen  von  Enteritis  infectiösen  Ursprunges  kann  sich  zu  diesem 
Symptomencomplex  mehr  oder  weniger  hohes  Fieber  (bis  39'^  und  darüber) 
gesellen  und  einige  Tage  anhalten;  es  hat  in  der  Regel  einen  remittirenden 
Charakter.  Gelegentlich  kann  auch  Milztumor  (Fischl,  Stiller)  vorhan- 
den sein. 

Das  Allgemeinbefinden  ist  in  leichteren  Fällen  nur  wenig  beein- 
trächtigt, in  schwereren  Formen  oder  bei  Individuen  mit  zarter  Disposition 
oder  im  vorgerückten  Alter  kann  es  zu  bedrohlichen  Symptomen,  selbst  zum 
Exitus  kommen.  Die  Krankheitsdauer  erstreckt  sich  auf  nur  wenige  Tage,  doch 
kann  die  Reconvalescenz  bei  stark  erschöpften  Organismen  längere  Zeit  in 
Anspruch  nehmen. 

Die  Diagnose  der  acuten  Enteritis  ist  gewöhnlich  nicht  schwierig;  doch 
kann  im  Anfang  die  Unterscheidung  zwischen  Enteritis  acuta  und  Abdominal- 
typhus, bezw.  Cholera  asiatica,  bei  Herrschen  einer  Epidemie  Schwierigkeiten 
machen.  Abdominaltyphus  kann  in  der  Regel  wegen  des  Fehlens  der  staffei- 
förmigen Temperaturcurve,  des  Mangels  an  Milztumor,  Roseola,  dem  Fehlen 
von  Prodromalerscheinungen  ausgeschlossen  werden.  Schwieriger  ist  die 
Unterscheidung  von  heftiger  Enteritis  und  Cholera  asiatica.  Gelegentlich  der 
letzten  Choleraepidemie  in  Deutschland  hat  es  sich  gezeigt,  dass  einmal  Fälle 


*)  Vergl.  „Faeces  und  Faecesuntersuchung"  (R.  Stern),  ds.  Bd.  der  „Bibliothek". 

36* 


564  ENTERITIS  ACUTA  ET  CHRONICA. 

heftiger  Enteritis  ohne  Kommabacillen  gefunden  werden  (Fürbringek),  dass 
auf  der  anderen  Seite  Cholera  asiatica-Fälle  ganz  unter  dem  Bilde  einer  ein- 
fachen Diarrhoe  verlaufen  können  (P.  Guttmanx).  Nur  die  Untersuchung^ 
auf  Cholerabacillen    schützt   hier   in   zweifelhaften   Fällen  vor  Täuschungen. 

Die  acute  Enteritis  diagnostisch  auf  gewisse  Darmabschnitte  zu  localisiren 
hat  unseres  Dafürhaltens  nach  weder  ein  praktisches  noch  ein  theoretisches 
Interesse,  zumal  auch  niemals  der  Process  sich  scharf  auf  einen  bestimmten 
Darmabschnitt  beschränkt. 

Die  Prognose  ist  im  Allgemeinen  als  gut  zu  bezeichnen,  jedoch  kann 
ein  acuter  Darmkatarrh  von  chronischer  Enteritis  gefolgt  sein.  In  sehr  sel- 
tenen Fällen  —  wohl  immer  auf  toxischer  oder  infectiöser  Basis  —  kann  der 
Ausgang  ein  letaler  sein. 

Die  Therapie  hat  in  erster  Linie  gewisse  prophylaktische  Massregeln 
zu  beachten:  im  Sommer  ist  der  Genuss  unreifen  Obstes,  ungekochter  oder  in 
milchsaurer  Gährung  begriifener  Milch  zu  verbieten,  desgleichen  muss  man 
bei  starker  Hitze  den  Genuss  eiskalter  Getränke  und  Genussmittel  untersagen. 
Im  Uebrigen  ist  die  Therapie  in  den  leichteren  Fällen  eine  rein  exspectative. 
Man  reicht  bei  Vorliegen  eines  Diätfehlers  ein  schnell  und  sicher  wirksames 
Laxans:  Ol.  Piicini  oder  Calomel  (1  Gabe  ä  0*o)  und  setzt  den  Patienten  auf 
Abstinenzdiät,  d.  h.  nährt  ihn  mit  Gerstenschleimsuppen,  Cacao,  verdünntem 
Rothwein,  kühlem  Thee  mit  Saccharin,  Milch  passt  im  Allgemeinen  nicht, 
da  es  die  Durchfälle  zu  vermehren  pflegt.  Wo  es  sich  um  sehr  schwächliche 
Kranke  handelt,  kann  man  einen  Versuch  mit  Milch-Mondaminsuppen  machen, 
wobei  man  am  besten  sterilisirte  Milch  wählt. 

Sehr  zweckmässig  sind  gleichmässige  Bettwärme  und  heisse  Umschläge 
um  den  Leib,  die  calmirend  wirken.  Ich  pflege  seit  längerer  Zeit  hierzu  den 
Filzschwamm  zu  verwenden. 

Bei  dem  grossen  Durst  müssen  wir  dem  Verlangen  des  Patienten  nach 
Getränken  entgegenkommen.  Zu  gestatten  sind:  Cognac  mit  Wasser,  Eier- 
eiweisswasser,  Haferschleim  mit  Bouillon,  Salepabkochungen  u.  A.  Saure 
Limonaden  sind  zu  verbieten,  desgleichen  im  Allgemeinen  Milch  (s.  o.). 

Sobald  der  Darm  ruhig  ist,  die  Stühle  sistiren,  der  Appetit  wiederkehrt, 
kann  man  vorsichtig  zu  consistenterer  Kost  übergehen. 

In  hartnäckigen  Fällen  sind  Stopfmittel  nicht  zu  umgehen:  hier  empfiehlt 
sich  eine  einmalige  kräftige  Opiumdosis  am  meisten:  Pip.  Extr.  Opii  0'03  — 
O'o,  Sacch.  0'5.  M.  f.  pulv.  d.  dos.  X.  Ds.  3-stündl.  1  Pulver.  Sehr  zweckmässig- 
ist  eine  Verbindung  von  Opium  mit  Wismuthsalicylat.  Ep.  Extr.  Opii  CfOS, 
Bism.  salicylic.  0'5,  Sacch.  0'3.  M.  f.  pulv.  d.  t.  dos.  XV.  Ds.  3-stündl.  1 
Pulver .j  oder  Ccdcar.  carhon.  Calcar.  phosphor.  ää  25' 0,  Bism.  salicylic.  3'0,. 
Extr.   Opü  O'l.  M.  f.  pulv.  d.  in  scat.  I).  S.  3-stündl.  1  Theelößel. 

Bei  Persistiren  der  Durchfälle  oder  Reconvalescenz  eignet  sich  besonders 
die  letztgenannte  Vorschrift  für  längeren  Gebrauch. 

Bei  heftigem  Tenesmus  empfehlen  sich  Suppositorien  aus  Opiumextract 
(0"5)  und  Extr.  Belladonnae  (0"02 — 0-03),  davon  3-stündl.  ein  Suppositorium 
zu  appliciren.  Statt  Opium  kann  man  auch  Codein  (0'05 — O'OS  pro  suppositorio) 
in  Anwendung  ziehen. 

IL  Enteritis  chronica.  (Chronischer  Darmkatarrh.)  Aetiologisch  kann 
man  primäre  und  secundäre  Enteritis  unterscheiden.  Die  erstere  kann  im 
Anschluss  an  eine  acute  Enteritis  entstehen,  dann  aber  auch  die  Folge  einer 
chronischen  Gastritis  darstellen.  Auch  durch  Darmparasiten  verschiedener 
Art  kann  ein  chronischer  Darmkatarrh  verursacht  oder  unterhalten  werden. 
Secundär  kann  ein  chronischer  Darmkatarrh  durch  Stauungszustände  im  Pfort- 
aderkreislauf, also  durch  Krankheiten  der  Leber  und  der  Galle  unterhalten 
werden.  Aber  auch  bei  Stauungszuständen  in  Folge  von  Lungen-,  Herz-,  Nieren- 
krankheiten können  Darmkatarrhe  die  Folge  sein. 


ENTERITIS  ACUTA  ET  CHRONICA.  565- 

Man  unterscheidet  passend  Dünn-  und  Dickdarmkatarrhe.  Innerhalb 
dieser  Darmabschnitte  noch  gewisse  Strecken  symptomatologisch  zu  fixiren,  ist 
schon  deshalb  ohne  jeden  praktischen  Werth,  weil  schon  die  blosse  Fest- 
stellung; ob  Dünn-  oder  Dickdarm  Sitz  des  Uebels  sind,  der  Diagnose  nicht 
unbeträchtliche  Schwierigkeiten  bereitet. 

Da  der  chronische  Dickdarmkatarrh  bereits  unter  Colitis  behandelt 
ist,  so  beschränken  wir  uns  im  Folgenden  auf  die  Erörterung  des  Dünndarm- 
katarrhes. 

Anatomisch  prägt  sich  der  Dünndarmkatarrh  je  nach  dem  Stadium, 
in  welchem  er  sich  befindet,  verschieden  aus:  im  Anfang  prävaliren  Hyper- 
ämie, Schwellung  der  Mucosa  und  der  solitären  Lymphfollikel,  der  Mesenterial- 
drüsen  und  der  Peyer'schen  Plaques.  Bei  länger  bestehendem  Katarrh  findet  man 
—  als  zweites  Stadium  —  zunächst  oberflächliche,  dann  allmälig  tiefer  gehende 
Schleimhauterosionen,  die  schliesslich  zu  wirklichen  Darmgeschwüren  führen. 
Diese  Geschwüre  können  unter  günstigen  Verhältnissen  unter  Narbenbildung 
heilen,  in  anderen  persistiren  und  durch  Confluenz  grösser  werden.  In  ein- 
zelnen, weit  vorgeschrittenen  Fällen  —  drittes  Stadium  —  kommt  es  zu  Atrophie 
der  Drüsenschleimhaut,  so  dass  die  charakteristischen  Elemente  der  Schleim- 
hautstructur  auf  ganze  Strecken  hinaus  ausfallen. 

Symptomatologisch  bilden  das  hervorragendste  Zeichen  des  Dünn- 
darmkatarrhs die  Stuhlveränderungen.  Nach  den  Erfahrungen  von  Nothnagel 
besteht  bei  ausschliesslicher  Betheiligung  des  Dünndarmes  Stuhlträgheit,  kommt 
aber  zu  dem  Dünn-  ein  Dickdarmkatarrh  hinzu,  so  kann  anhaltender  Durch- 
fall bestehen.  Die  übrigen  subjectiven  Symptome:  Flatulenz,  kolikartige 
Schmerzen,  Borborygmi  etc.,  theilt  der  Dünndarmkatarrh  mit  der  Enteritis 
überhaupt.    Auch  können  diese  Symptome  gelegentlich  fehlen. 

Die  wesentlichste,  wenn  allerdings  auch  nur  zum  Theil  sichere  Stütze 
gewährt  die  mikroskopische  Untersuchung  der  Fäces.  In  dieser  Beziehung 
sprechen  nach  Nothnagel  für  Dünndarmkatarrh:  durch  Zellenpigment 
gefärbte  sogen.  Schleimkörner;  allerdings  kommen  letztere  auch  bei 
Katarrh  des  Dünn-  und  Dickdarmes,  niemals  aber  kommen  sie  bei  isolirtem 
Dickdarmkatarrh  vor. 

Desgleichen  weisen  galliggefärbte  Schleimfetzen,  sowie  die  in  jenen  ein- 
gebetteten Epithelien  auf  einen  Dünndarmkatarrh  hin.  Hierbei  ist  aber  Vor- 
aussetzung, dass  die  Fortbewegung  im  Dickdarm  eine  abnorm  schnelle  ist, 
d.  h.  es  muss  sich  um  dünne  Entleerungen  handeln.  Das  Vorkommen  von 
grösseren  Fettmengen  im  Stuhl  hat  nur  dann  eine  gewisse  Bedeutung,  wenn 
der  Kranke  nicht  grössere,  das  normale  Mittel  überschreitende  Quantitäten 
genossen  hat  und  wenn  die  Function  der  Leber  und  des  Pancreas  als  normal 
vorausgesetzt  werden  darf  (Nothnagel).  Das  Vorkommen  von  Muskelfasern 
in  den  Stühlen  ist  nur  unter  ganz  umschriebenen  Umständen  (Fehlen  von 
Fieber,  Schleim  im  Stuhl)  und  einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit  für  die  Dia- 
gnose Dünndarmkatarrh  zu  verwerthen. 

Die  Diagnose  des  Dünndarmkatarrhes  ergibt  sich  aus  den  genannten 
Zeichen,  denen  wir  aus  eigener  Erfahrung  das  folgende  beizählen  möchten: 
Bei  Dickdarmkatarrh  zeigen  sich  bei  sorgfältiger  Durchspülung  des  Darmes 
nach  der  Entleerung  stets  mehr  oder  weniger  grosse  Mengen  von  Schleim- 
fetzen; dieses  Symptom  würde  darauf  hinweisen,  dass  mindestens  auch  der 
Dickdarm  Sitz  der  Erkrankung  ist,  während  das  negative  Ergebnis  für  die 
Localisirung  des  Processes  im  Dünndarm  sprechen  würde. 

Bei  der  Therapie  ist  zunächst  festzustellen,  ob  eine  primäre  Grund- 
lage des  Darmkatarrhes  (Lungen-,  Leber-,  Herz-,  Nierenleiden)  zu  eruiren  ist. 
In  diesem  Falle  hat  man  zunächst  letztere  zu  berücksichtigen,  bezw.  sobald 
dies  nicht  angängig,  symptomatisch  zu  verfahren.  Bei  primärem  Dünndarm- 
katarrh kommt,  da  es  sich  in  den  allermeisten  Fällen  um  Obstipationszustände 


566  ENTERITIS  MEMBRANACEA. 

handelt,  darauf  an,  den  Stuhl  zu  regeln.  Soweit  sich  dies  nicht  durch  eine 
geeignete  Diät  ermöglichen  lässt  —  was  immer  zu  versuchen  ist,  —  muss  man 
zu  Purgativmitteln  greifen.  Man  vermeide  hierbei  thunlichst  die  drastisch 
wirkenden,  wie  Coloquinthen,  Gummi-Gutti,  Scammonium  und  beschränke 
sich  auf  den  Gebrauch  von  Rheum,  Podophyllin,  Tamarinden,  Pulvis  Liqidr. 
composit.,  die  Frangidarinde,  die  Cascara  sagrada. 

Zu  vorübergehendem  Gebrauch  eignet  sich  das  Karlshader  Salz  (Morgens 
1  Theelöffel  auf  V4  Liter  warmes  Wasser)  und  die  Bitterwässer  {Hunyadi  Jänos, 
Saidschütz,  FriedricJishaller,  u.  A.);  von  letzteren  lasse  man  Morgens  nüchtern 
1 — 2  Weinglas  voll  gebrauchen.  Von  vielen  Seiten  werden  Trinkcuren 
gegen  Dünndarmkatarrh  gerühmt:  in  Betracht  kommen  bei  sehr  hartnäckiger 
Obstipation  die  Glaubersalzquellen  von  Marienbad,  Elster,  Tarasp, 
Rohitscli,  Franzenshad ;  bei  Neigung  zu  Diarrhoeen  dagegen  kommen  entweder 
die  Kochsalz  quellen  von  Kissingen  oder  Homburg  oder  Wiesbaden  oder 
noch  besser  die  Thermalquellen  von  Ems  oder  Karlsbad  (besonders  ge- 
rühmt der  Sprudel)  zur  Verwendung.  Bei  Darmkatarrh  auf  anämischer  Grund- 
lage würden  Badecuren  in  den  Stahl b ädern  von  Sckwalbach,  Pyrmont, 
Franzensbad,  Elster,  Driburg,  Spaa,  Bocktet,  Rheinerz  zu  empfehlen  sein. 

Ausser  den  genannten  Brunnen  hat  man  in  einzelnen  Fällen  vorzügliche 
Erfolge  N0B.lli2iVih^nQ.ViY%\im  Meran,  Dürckheim,  Wiesbaden,  Gries,  Montreux 
beobachtet. 

Schliesslich  hat  man  wie  bei  allen  Formen  der  Obstipation  auch  bei  dem 
mit  Stuhlverstopfung  einhergehenden  Dünndarmkatarrh  Massage  angewendet 
und  in  einzelnen  Fällen  gute  Resultate  erzielt.  Desgleichen  wü-d  von  manchen 
Seiten  die  Faradisirung  der  Bauchdecken  (starke  Ströme,  breite  Elektroden) 
oder  die  intrarectale  Faradisation  als  erfolgreich  gerühmt. 

BOAS. 

Enteritis  membranaceä.  (Synon.  Colitis  memhranacea,  Colica  mucosa 
(N0THNAC4EL),  Enteritis  crouposa  s.  fihrinosa  (Leyden),  mucous  disease  (White- 
head).  Das  Krankheitsbild  der  Enteritis  membranacea  ist  charakterisirt  durch  die 
zeitweilige  Entleerung  eigenthümlicher,  membranöser  oder  cylindrischer,  fester 
und  festweicher  Gebilde,  die  gewöhnlich  unter  lebhaften  Schmerzen,  und  zwar 
isolirt,  die  Fäces  nicht  umhüllend,  ausgestossen  werden.  Die  Krankheit  kommt 
besonders  häufig  beim  weiblichen  Geschlechte  vor,  doch  finden  sich  in  der 
Literatur  auch  Beobachtungen  von  Enteritis  membranacea  bei  Männern  und 
selbst  bei  Kindern  (Loxguet,  Löv^^eisStein).  Meist  handelt  es  sich  um  nervöse, 
hysterische  Personen;  doch  spielt  zweifellos  in  diesen  Fällen  die  habituelle 
Obstipation,  mit  welcher  die  Enteritis  membranacea  aufiallend  häufig  verknüpft 
ist,  eine  mehr  als  accidentelle  Piolle.  Bei  einer  grossen  Zahl  von  Patienten 
halDe  ich  Dislocationen  der  Baucheingeweide  (Enteroptose)  nachweisen  können, 
ein  Moment,  das  für  das  Zustandekommen  der  eigenthümlichen  Krankheitsform 
nicht  unberücksichtigt  bleiben  darf. 

Symptomatologie:  Die  Anfälle  treten  in  Intervallen  von  Wochen  und 
Monaten  auf.  Die  classischen  Anfälle  zeigen  das  Bild  exquisiter  Darmkoliken; 
oft  wird  von  den  Kranken^  selbst  das  Colon,  namentlich  das  Colon  descendens 
als  Sitz  der  Krankheit  bezeichnet.  Im  Verfolg  der  schmerzhaften  Darmcon- 
tractionen  werden  dann  die  oben  erwähnten  membranösen  Massen  entleert. 
Darauf  tritt  eine  mehr  oder  weniger  lang  anhaltende  Euphorie  ein.  Von  diesem 
Typus  kommen  aber  verschiedene  Variationen  vor:  einmal  können,  wie  dies 
Krysinski,  Jaqües  Meyer,  Löwenstein  angeben  und  ich  bestätigen  kann, 
kolikartige  Schmerzen  ganz  fehlen;  ferner  kann  der  paroxystische  Charakter 
des  Leidens  verwischt  sein  durch  den  fast  ununterbrochenen  Abgang  theils 
lamellöser,  theils  mucinöser  Massen.  Endlich  sind  Fälle  beobachtet,  wo  der 
Abgang  der  in  Frage  stehenden  Membranen  sich  überhaupt  symptomlos  voll- 


ENTERITIS  MEMBRANACEA.  567 

zieht;  doch  gehört  dies  zu  den  Ausnahmen.  Desgleichen  ist  Fieber,  wie  es  in 
einem  Falle  von  Löwenstein  bei  einem  dreijährigen  Kinde  beobachtet  ist, 
zweifellos  den  seltenen  Complicationen  zuzurechnen. 

Das  makroskopische  Aussehen  der  entleerten  Membranen  ist  kein  ganz 
einheitliches:  es  handelt  sich  meist  um  bandartige,  röhrige,  häutige  oder  fetzige 
Gebilde  von  verschiedener  Länge  und  Dicke.  Kitagava  unterscheidet 
2  Grundformen:  eine  membranöse,  der  Croupmembran  ähnelnde  und  eine 
solide,  cylindrische,  dem  fibrinösen  Bronchialgerinsel  vergleichbare.  Beide 
Formen  können  unter  Umständen  gleichzeitig  auftreten;  mit  ihnen  zugleich 
auch  glasige,  sagoähnliche  Schleimmassen.  Die  Farbe  der  Membranen  ist 
gleichfalls  verschieden,  bald  w^eiss  wie  Croupmembranen,  sehen  sie  in  anderen 
Fällen  tiefbraun,  etwa  tabakbraun  aus,  offenbar  bedingt  durch  Durchtränkung 
mit  verändertem  Gallenfarbstoff.  In  einem  Falle  meiner  Beobachtung  waren 
die  Membranen  exquisit  grün,  wie  die  chemische  Prüfung  ergab,  durch  Bei- 
mengung frischer  Galle.  Nach  Nothnagel  können  die  Membranen  durch 
Blut  röthlich  gefärbt  sein.  Im  Ganzen  sind  die  Membranen  leicht  zerreissbar. 

Die  chemische  Beschaffenheit  der  Gebilde  ist  noch  nicht 
völlig  klargestellt.  Man  nahm  früher,  irregeleitet  durch  die  Aehnlichkeit  der 
Membranen  mit  Croupausgüssen  an,  dass  die  wesentliche  Substanz  Fibrin  sei. 
Allein  genauere  Untersuchungen,  namentlich  die  mit  dem  WEiGERT'schen 
Fibrinreagens  haben  ergeben,  dass  Fibrin  so  gut  wie  vollkommen  fehlt.  Im 
Ganzen  dürfte  die  Hauptmasse  der  Membranen  nach  den  jüngsten  Forschungs- 
ergebnissen (Nothnagel,  Krysinski,  Kitagava,  Kossel)  aus  Nudeoalhumin 
und  Mucin  bestehen.  Im  Uebrigen  scheint  es,  als  ob  eine  ganze  Pteihe  ver- 
schiedenartiger Eiweisskörper  an  dem  Aufbau  der  Membranen  participirt  und 
zwar  bei  den  verschiedenen  Gebilden,  wie  es  scheint  in  ungleich  vertheiltem 
Maasse.    Hierüber,  müssen  weitere  Untersuchungen  Klarheit  bringen. 

Das  mikroskopische  Verhalten  der  Membranen  ist  gleichfalls  in  manchen 
Punkten  noch  controvers.  Am  eingehendsten  studiert  ist  es  von  Nothnagel,  Krysinski  und 
Kitagava.  Der  erstgegenannte  Forscher  weist  darauf  hin,  dass  man  nicht  immer  das 
gleiche  Bild  bei  der  mikroskopischen  Untersuchung  findet.  In  einem  Falle,  wo  es  sich  um 
derbe,  solide,  baumförmige,  grauweisse  Gerinsel  handelte,  zeigte  sich  unter  dem  Mikroskop 
eine  streifige  Grundsubstanz,  in  dieser  nur  spärliche,  kleine,  rundliche,  schwer  zu  definirende 
körnige  Gebilde  eingebettet.  Daneben  ganz  vereinzelt  ein  paar  Cholestearinkrystalle.  Cylinder- 
epithelien,  bezw.  Trümmer  von  diesen  fehlen  fast  ganz,  nur  in  einigen  Präparaten  sind  die- 
selben ziemlich  dicht  gedrängt  zu  beobachten.  In  einem  zweiten  Falle,  wo  die  Massen  mehr 
lamelHrt  waren,  fand  Nothnagel  in  einer  schwach  streifigen  Grundsubstanz  ungemein  zahl- 
reiche Cylinderepithelien,  meist  verschollt  m.it  kaum  sichtbarem  Kern,  daneben  wieder 
einige  Cholestearinplatten,  aber  keine  zweifellosen  Rundzellen.  In  einem  dritten  Falle, 
wo  gleichfalls  lamellenartige  Gebilde  vorlagen,  „fanden  sich  geradezu  unglaubliche  Massen" 
meist  verschonter  Cylinderepithelien,  so  dass  unter  diesen  die  streifige  Grundsubstanz  ganz 
verschwand.  Die  Epithelien  sind  oft  noch  reihenförmig  angeordnet,  in  ihrer  Mehrzahl  wohl 
erhalten,  andere  stark  gebläht,  mit  riesigen  Vacuolen,  wieder  andere  Gruppen  geschrumpft 
und  verschollt.  Rundzellen  und  Cholestearinplatten  wurden  hier  vermisst.  Im  vierten 
Falle  bestanden  die  Gebilde  theils  aus  Gerinseln,  theils  aus  Fetzen.  Neben  Tripelphosphat- 
krystallen  ergab  die  mikroskopische  Untersuchung  auch  hier  ausserordentlich  zahlreiche 
Epithelien,  theils  sonst  normal,  theils  in  den  verschiedensten  Formveränderungen ;  daneben 
auch  zahlreiche  Rundzelien,  bald  einzeln,  bald  in  grösseren  Gruppen  zusammenliegend. 

Mit  diesen  Befunden  Nothnagel's  stimmen  im  Ganzen  die  von  Krysinski  und  Kita- 
gava überein.  Nur  in  einigen  Details  weicht  der  letztgenannte  Autor  von  den  beiden  an- 
deren ab:  Er  unterscheidet  3  Gruppen:  Erstens:  lamellöse  Massen,  deren  Grundsubstanz 
durch  Essigsäure  etwas  getrübt  und  streifiger  wurde,  zweitens:  lamellöse  Massen,  deren 
Grundsubstanz  durch  Essigsäure  sich  eher  aufhellte,  •drittens:  solide,  strangartige,  netzför- 
mig communicirende,  oft  mit  gewöhnlichem  Schleim  zusammen  auftretende  Massen,  deren 
Grundsubstanz  durch  Essigsäure  streifiger  und  undurchsichtiger  wurde.  In  den  beiden 
erstgenannten  Gruppen  bestanden  die  Massen  vorwiegend  aus  zelligen  Elementen  und  spär- 
licher Grundsubstanz,  während  in  der  dritten  Gruppe  bedeutend  weniger  Epithelien  gegen- 
über einem  erheblicheren  Ueberwiegen  der  Grundsubstanz  zu  beobachten  waren. 

Eine  wesentliche  Klärung  der  Aetiologie  der  Enteritis  membranacea  verdanken  wir 
M.  Rothmann,  welcher  in  einem  Falle  von  multipler  Hirnnervenlähmuug  in  Folge  von  Car- 
cinom  der  Schädelbasis  als  Nebenbefund  den  Abgang  von  Membranen  beobachtete.  Bei  der 
Section  fanden  sich  im  Colon  transversum  und  descendens  zwischen  den  Falten  der  stark 


568  ENTEROPTOSE. 

injicirten  SchleimliaTit  weissliche.  theils  membranartige,  theils  strangförmige  Ausgüsse.  Ein 
Theil  der  Membranen  wurde  frisch,  untersucht.  Die  Membranen  bestanden  aus  einer  leicht 
streifigen  Grundsubstanz,  in  der  ganz  vereinzelt  weisse  Blutkörperchen  zu  finden  waren;  da- 
gegen keine  Darmepithelien.  keine  Krystalle.  In  Uebereinstimmung  mit  Kitagava  fand  auch 
EoTHM.^^'5;  als  Hauptbestandteil  der  Membranen  Mucin.  Eothmanx  hat  Stücke  vom  Colon  trans- 
versum  in  Alkohol  absol.  gehärtet,  in  Celloidin  gebettet,  geschnitten  und  mit  Thionin  gefärbt. 
Hierbei  zeigten  sich  die  Drüsenschläuche,  wenigstens  zum  Theil  stark  erweitert.  Auf  der  Darm- 
oberfläche lagen  an  mehreren  Stellen  ziemlich  derbfaserige  Massen,  die  den  Epithelüberzug 
anscheinend  völlig  verdrängt  hatten.  Dieselben  dringen  nach  abwärts  in  die  erweiterten  Drüsen- 
lumina hinein  und  erstrecken  sich  bis  zum  Funclus  derselben,  dabei  nach  den  Seiten  feine 
Ausläufer  aussendend,  die  in  die  Drüseuzellen  einzudringen  scheinen.  Dazwischen  Zell- 
vermehrung und  Verbreiterung  der  Mucosa.  Die  beschriebenen  Massen  erwiesen  sich  auf 
Grund  der  genannten  Thioninfärbung  als  Schleim. 

Diagnose:  Die  Diagnose  Enteritis  membranacea  ist.  wenn  man  die 
eigenartigen  Gebilde  einmal  gesehen  hat,  nicht  sch-wer:  doch  hat  man  sich  zu 
hüten  die  Membranen  mit  ähnlichen,  in  den  Dejecten  vorkommenden  Producten 
(Apfelsinenschläuchen,  Spargelstengeln,  Wursthaut,  Speckhäuten)  zu  verwechseln. 
In  zweifelhaften  Fällen  genügt  wohl  die  chemische  Untersucliung  mit  Kalilauge 
und  nachträglichem  Zusatz  von  Essigsäure,  wobei  sich  eine  deutliche  Trübung 
von  Mucin  bildet,  die  bei  einem  Alkalizusatz  sich  wieder  löst.  Auch  die  mi- 
ki'oskopische  Untersuchung  erzielt  ziemlich  sichere  Anhaltspunkte  füi'  die 
Diagnose. 

Therapie:  Die  Ansichten  über  die  Therapie  der  Enteritis  membranacea 
sind  je  nach  der  Auffassung  des  Ki^ankheitsbildes  sehi'  verschieden:  Nimmt  man 
als  Krankheitsursache  eine  Secretiousnem'ose  an,  wie  die  meisten  Beobachter 
wollen,  so  gibt  man  von  vornherein  jeden  ernsthaften  Versuch  einer  reellen  Thera- 
pie auf.  In  der  That  hat  man  von  diesem  Gesichtspunkte  das  grosse  Heer  der 
Xervina  mit  sehi'  ungleichem,  meist  negativem  Erfolg  ins  Treffen  geführt.  Auch 
die  Yerquickung  der  Enteritis  membranacea  mit  Hysterie  und  Hypochondrie 
hindert  a  priori  eine  ernsthafte  therapeutische  Initiative.  Xach  meinem  Ermessen 
liegt  der  Schwerpunkt  des  Krankheitsbildes  in  der,  zu  einem  eigenartigen  KataiTh 
führenden  habituellen  Obstipation.  Hier  muss  der  Hebel  angesetzt 
werden.  Der  Stuhlgang  ist  theils  durch  geeignete  Diät,  theils  durch  Massage 
und  Faradisirung  der  Bauchdecken,  theils  endlich  durch  milde,  pflanzliche 
Aperientien  (falls  obige  Maassnahmen  nicht  zum  Ziele  führen)  zu  re- 
guliren.  Wo  sich  ein  Tiefstand  des  Magens  und  Dickdarms  findet,  ist  durch 
eine  passende  Bandage  füi'  x\ufrichtung  der  Baucheingeweide  Sorge  zu  tragen, 
event.  muss  durch  Vornahme  einer  Mast  cur  versucht  werden,  den  gesunkenen 
Tonus  der  Unteiieibsmusculatur  zu  verbessern.  Die  locale  Behandlung  mittelst 
adstringirender  oder  schleimlösender  Mittel  hat  schon  deshalb  keinen  Werth. 
weil  dadurch  nicht  die  Ursache,  sondern  die  Producte  der  Krankheit  getroffen 
werden.  boas. 

EnteroptOSe,  Descensus,  Ptosis,  Prolapsus  viscerum,  Eingeweidevorfall. 

Der  Xame  Enteroptose  stammt  von  Glexabd  her,  der  zuerst  im  Jahre 
1885  das  eigenthümliche  Krankheitsbild  erörterte  und  es  als  „entite  morbide" 
klinisch  begründete.  Die  Thatsache,  dass  Lageveränderungen  der  Eingeweide 
vorkommen,  war  allerdings  bereits  den  älteren  Aerzten,  z.  B.  Euysch,  dp:  Haex, 
Peter  Fraxck  u.  A.,  bekannt  gewesen.  Virchow  hat  ferner  schon  vor  40  Jahi-en 
(1853)  auf  die  Lageanomalien  der  Eingeweide  hingewiesen  und  als  Ursache 
hierfüi'  local-peritonitische  Processe  angeschuldigt.  Endlich  hat  Kussmaul  im 
Jahre  1880  in  seinem  Vortrage  ..I'eber  die  peristaltische  Unruhe  des  Magens" 
auf  das  Vorkommen  von  Magentiefstand  und  die  Möglichkeit  letzteren  von  der 
eigentlichen  Magenerweiterung  zu  unterscheiden,  deutlich  hingewiesen.  Trotz- 
dem ist  das  eigenartige  Krankheitsbild  der  Enteroptose  erst  dm'ch  Glexard 
geschaffen  und  entwickelt. 

Pathologische  Anatomie:  Geringe  Lageveränderungen  im  Bereich 
der  Bauchhöhle  sind  so  häutige  Vorkommnisse,  dass  sie  gewöhnlich  kaum  be- 


ENTEROPTOSE.  569 

achtet  werden,  häufig  treten  dieselben  auch  an  der  Leiche  —  das  gilt  z.  B.  von 
den  Nieren  —  hinter  denen  intra  vitam  zurück.  Trotzdem  findet  man  auch  bei 
Autopsien  nicht  selten  ausgesprochene  Lageveränderungen. 

So  wurde  von  Krez  in  einem  ausgesprochenen,  bereits  intra  vitam  constatirten  Fall 
von  Enteroptose  doppelseitige  Wanderniere,  Tiefstand  des  Magens,  Herabgesunkensein  des 
Colon  transversum  constatirt.  Die  von  Glenard  als  Corde  colique  transverse  bezeichnete 
Resistenz  erwies  sich  als  das  normale  Pancreas. 

Aetiologie:  Ueber  die  Aetiologie  der  Enteroptose  sind  die  Ansichten 
vielfach  getheilt,  nur  soviel  ist  sicher,  dass  die  allerverschiedensten  ursäch- 
lichen Momente  in  Betracht  kommen.  In  einzelnen,  wenn  auch  zweifellos  sel- 
tenen Fällen  ist  die  Dislocation  congenitaler  Natur ;  unter  den  Ursachen  der 
erworbenen  Lageveränderungen  spielt  die  Erschlaffung  der  Bauchdecken  nach 
häufigen  Geburten  (Landau,  Senator,  Litten)  eine  wichtige  Rolle.  Damit  stimmt 
tiberein,  dass  das  Leiden  in  ausgeprägter  Form  fast  nur  bei  Frauen  vor- 
kommt. Von  sonstigen  Ursachen,  die  in  dem  einzelnen  Falle  mehr  oder  we- 
niger scharf  hervortreten,  erwähnen  wir  die  folgenden:  Schwund  des  Fettes 
durch  depotenzirende  Krankheiten  oder  durch  acute  Entfettung,  starkes 
Schnüren,  Lockerung  der  Bauchpresse  bei  Hängebauch,  Traumen,  Missbrauch 
von  Abführmitteln  u.  A.  Zu  diesen  Ursachen  muss  aber  noch  eine  gewisse, 
in  der  Schwäche  der  Ligamente  und  Mesenterien  zu  suchende  Prädisposition 
hinzukommen. 

Symptomatologie:  Bei  unbedeutenden  Dislocationen  können  charak- 
teristische Symptome  ganz  fehlen ;  ja  selbst  ausgesprochene  Enteroptose  habe 
ich  mehrfach  symptomlos  verlaufen  sehen.  Li  den  meisten  Fällen  führt  aber 
die  Enteroptose  zu  mehr  oder  weniger  ausgesprochenen  Krankheitssymptomen. 
Die  Symptome  charakterisiren  sich  einmal  in  Störungen  der  Magen-Darm- 
sphäre, welche  so  stark  ausgeprägt  sein  können,  dass  hierdurch  der  Gesammt- 
ernährungszustand  mehr  oder  weniger  ungünstig  beeinflusst  sein  kann,  ferner 
in  solchen  des  Nervensystems. 

Was  die  Verdauungsanomalien  betrifft,  so  bestehen  sie  zunächst  in  Alte- 
rationen des  Appetites  verschiedenen  Grades :  die  Esslust  kann  quantitativ  re- 
ducirt  sein,  oder  sie  kann  auf  besondere  Nahrungsmittel  gerichtet  sein;  es 
können  ferner  Zeiten  guten  mit  solchen  verminderten  Appetites  wechseln.  Die 
Speisezufuhr  selbst  ist  in  der  Regel  mit  Beschwerden  verbunden ;  es  besteht 
Druck,  Völle,  Aufgetriebensein  des  Magens,  häufiges  Luftaufstossen,  das  zu- 
weilen auch  einen  säuerlichen  Beigeschmack  haben  kann.  Die  Digestions- 
beschwerden stellen  sich  entweder  bald  oder  erst  einige  Zeit  nach  der  Lige- 
stion  ein. 

Der  Stuhlgang  ist  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  angehalten, 
doch  kann  auch  normale  Stuhlentleerung  bestehen;  gelegentlich  kann  Obsti- 
pation und  Diarrhoe  alterniren.  Als  Begleiterscheinung  der  Darmstörungen 
beobachtet  man  häufig  Flatulenz.  In  einem  grossen  Procentsatz  von  Ente- 
roptose konnte  ich  das  Vorhandensein  von  Enteritis  membranacea  feststellen 
(s.  d.  Artikel!).  Als  Ursache  derselben  müssen  wahrscheinlich  die  durch  die 
abnormen  Knickungen  und  Flexuren  bedingten  partiellen  Kothstagnationen  an- 
gesehen werden.  Aus  den  genannten  Verdauungsstörungen  resultiren  allmälich 
Beeinträchtigungen  des  Ernährungszustandes:  das  Körpergewicht  sinkt,  die 
vitale  Kraft  des  Organismus  verringert  sich,  die  Kranken  fühlen  sich  matt  und 
elend,  so  dass  man  an  das  Bestehen  einer  consumptiven  Krankheit  zu  denken 
geneigt  ist. 

Die  nervösen  Svmptome  haben  eine  ausserordentliche  Aehnlich- 
keit  mit  denen  der  Neurasthenie  und  Hysterie.  Die  Stimmung  der  Kranken 
ist  bald  gedrückt,  bald  gehoben,  der  Schlaf  ist  häufig  unregelmässig,  unter- 
brochen, Kopfdruck  kommt  bald  vorübergehend,  bald  constant,  vor.  Auf  die 
Magen-Darmsphäre  weisen  das  Gefühl  von  Schwere  im  Unterleib,  die  leichte 


570  ENTEROPTOSE. 

Ermüdung  beim  Gehen,  die  zeitweilig  auftretenden  Magen-  und  Kreuzschmerzen, 
die  Pulsation  der  Aorta  abdominalis  hin.  Die  Gesichtsfarbe  der  Patienten  ist 
häufigem  Wechsel  unterworfen.  Es  alterniren  Perioden  guten,  mit  solchen 
ungünstigen  Befindens. 

Der  Verlauf  der  Krankheit  ist  ein  chronischer:  Ruhe,  günstige  äussere 
Verhältnisse  üben  einen  salutären  Einfluss  auf  die  Krankheitserscheinungen 
aus,  während  umgekehrt  starke  körperliche  Anstrengungen,  unzweckmässige 
Lebensweise  das  Leiden  steigern.  Bei  Dislocation  der  rechten  Niere  oder 
beider  können  Störungen  der  Diurese  beobachtet  werden.  In  seltenen  Fällen 
bietet  eine  dislocirte  Niere  Gelegenheit  zur  Entwicklung  intermittirender  Hy- 
dronephrose  (L.  Landau). 

Die  objectiven  Zeichen  der  Enteroptose.  Das  Charakteristische 
ist  der  Nachweis  der  Dislocation  von  Darmabschnitten  oder  anderen  in  der 
Bauchhöhle  gelegenen  Organen :  in  erster  Reihe  der  Nieren,  der  Leber,  der 
Milz;  häufig  verbindet  sich  mit  einem  Prolaps  der  Eingeweide  auch  ein  solcher 
des  Uterus. 

Am  häufigsten  und  frühesten  tritt  ein  Prolaps  der  rechten  Niere  ein  und 
zwar  in  verschiedenem  Grade.  Im  ersten  Stadium  kann  man  nur  etwa  ^/g  der 
Niere  fühlen,  die  Niere  ist  respiratorisch  beweglich  und  lässt  sich  mit  den 
Händen  verschieben  (1,  Grad).  Im  2.  Stadium  ist  die  Niere  in  ihrem  vollen 
Umfange  palpabel,  ist  leicht  verschieblich  und  liegt  der  vorderen  Bauchwand 
an  oder  lässt  sich  ihr  nähern  (2.  Grad),  3.  Die  Niere  liegt  in  der  Bauchhöhle 
ist  verschoben  und  fixirt  (3.  Grad). 

Man  hat  früher  die  letztgenannte  Nierendislocation  als  Wanderniere  bezeichnet  nnd 
in  demselben  Sinne  auch  von  Wanderleber  nnd  Wandermilz  gesprochen.  Da  es  sich  aber 
nicht  um  active  Locomotionsveränderungen,  sondern  um  passive  Senkungszustände  handelt, 
so  ist  die  frühere  Nomenclatur,  als  den  Thatsachen  nicht  entsprechend,  nunmehr  aufzugeben. 

Glexard  hat  nun  die  Theorie  aufgestellt,  dass  der  Descensus  ren.  dextri 
nothwendigerweise  mit  dem  Descensus  der  übrigen  Baucheingeweide  in  Zu- 
sammenhang steht.  Das  ist  indessen  unhaltbar,  da  zweifellos  Fälle  von 
Enteroptose  ohne  Dislocation  der  Nieren  vorkommen,  obgleich  dies  zu  den  selte- 
nen Erscheinungen  gehört.  Nach  Glenaed  soll  nun  der  Werdegang  des  Visceral- 
descensus  folgender  sein:  Es  kommt  zuerst  zu  einem  Prolaps  des  Quercolons 
und  zwar  in  der  Gegend  der  Flexura  colico-hepatica;  das  an  sich  schon  schwache 
Ligamentum  colico-hepaticum  lockert  sich,  die  Uebergangsstelle  zwischen  Colon 
ascendens  und  descendens  verliert  an  Halt  und  damit  ist  die  erste  Lage- 
veränderung eingeleitet;  es  folgt  eine  Lockerung  der  übrigen  Ligamente,  bezw. 
Mesenterien  und  damit  eine  Ptose  der  an  letzteren  fixirten  Eingeweide,  des 
Magens,  der  Leber,  der  Niere,  der  Milz:  schliesslich  zu  einer  vollkommenen 
Splanchnoptose.  In  Folge  der  Verlagerung  des  Quercolons  soll  es  nach  Gle- 
naed zu  localen  Abknickungen  und  demzufolge  consecutiven  Kothstauungen 
kommen:  in  ausgesprochenen  Fällen  dieser  Art  soll  das  Quercolon  als  solider 
Strang  (Corde  colique  transverse)  zu  fühlen  sein.  Diese  Erklärung  ist  un- 
richtig; ist  doch  die  vermeintliche  Corde  colique  transverse  nichts  anderes  als 
die  bei  sehlafien  Bauchdecken  durchzufühlende  Bauchspeicheldrüse;  auch 
sonst  steht  die  Glenaed 'sehe  Vorstellung  von  der  Entwicklung  der  Visceral- 
ptose  nicht  auf  dem  Boden  der  Thatsachen.  Die  Frage  nach  dem  Ausgangs- 
punkte der  Krankheit  bleibt  also  zunächst  noch  offen. 

Falls  der  Prolaps  des  Magens  und  der  Därme  insbesondere  des  Dick- 
darmes längere  Zeit  besteht,  wird  der  Tonus  derselben  herabgesetzt,  sie  werden 
insufficient;  daher  die  häufige  Atonie  des  Magens  und  Dickdarmes;  bei  starken 
Winkelbildungen  des  letzteren  kann  es  auch  zu  einem  echten  Dickdarm- 
catarrh  kommen. 

Verlauf  und  Ausgang:  Im  Beginn  des  Leidens  pflegen  charakteristische 
Symptome  zu  fehlen;  die  Kranken  haben  ein  unbehagliches  Gefühl  des  Druckes 


ENTEROPTOSE.  571 

und  der  Schwere  im  Leib,  das  sich  besonders  bei  starken,  körperlichen  An- 
strengungen kundgibt,  bei  Euhe  aber  wieder  schwindet.  Zuweilen  können 
Jahrelang  bestehende  Nieren-,  Magen-  undLeberdislocationen  symptomlos  bleiben. 
Im  Uebrigen  ist  der  Verlauf  ein  exquisit  schleichender;  es  wechseln  gute  und 
schlechte  Tage  oder  Wochen.  Einen  grossen  Einfluss  hierauf  hat  die  Art 
der  Thätigkeit.  Müssen  Frauen  mit  Enteroptose  schwer  arbeiten,  viel  gehen 
oder  stehen,  heben  oder  tragen,  so  wachsen  die  Beschwerden  ausserordentlich, 
während  solche,  die  sich  den  Luxus  der  Bequemlichkeit  und  Schonung  zu 
gönnen  in  der  Lage  sind,  von  leichten  Beschwerden  abgesehen,  sich  erheblich 
wohler  fühlen.  Sehr  bemerkenswerth  ist  der  —  wenn  auch  vorübergehende 
Einfluss  der  Gravidität,  während  deren  aus  leicht  begreiflichen  Gründen  die 
Belästigungen  fast  völlig  sistiren,  um  nach  der  Entbindung  von  Neuem  wie- 
der einzusetzen. 

Diagnose  und  Differentialdiagnose.  Die  Diagnose  kann  häufig 
schon  auf  Grund  einer  sorgfältig  erhobenen  Anamnese  gestellt  werden:  die 
Art  der  Störungen,  die  ungünstige  Beeinflussung  körperlicher  Anstrengungen, 
das  Schwankende  in  dem  Symptomencomplex,  die  nervös-dyspeptischen  Er- 
scheinungen geben  dem  Erfahrenen  ein  recht  charakteristisches  Bild.  Immer- 
hin ist  das  Wesentliche  die  objective  Analyse.  Man  palpirt  in  der  be- 
kannten Weise  bimanuell  beide  Nieren,  die  Leber  und  Milz.  Die  Lage  des 
Magens  kann  man  bei  einiger  Uebung  und  schlafien  Bauchdecken  schon  durch 
Inspection  erkennen;  falls  dies  nicht  der  Fall,  muss  man  die  Lage  des  Magens 
durch  Percussion,  COg-,  oder  Luftaufblähung  feststellen.  Für  die  Praxis  sehr 
empfehlenswerth  ist  nach  meiner  Erfahrung  das  folgende  Verfahren:  Man  lässt 
den  Patienten  bei  möglichst  leerem  Magen  etwa  200^  Wasser  nehmen  und 
beobachtet,  ob  und  an  welcher  Stelle  Plätschergeräusche  entstehen,  nachdem 
man  festgestellt  hat,  dass  letztere  vor  der  Wasseraufnahme  fehlten.  Man 
verfolgt  nun  durch  leises  Tapotement  die  Grenzen  dieses  Plätscherbezirkes, 
das  natürlich  nur  dem  Magen  angehören  kann,  nach  oben  und  unten.  Nun 
perkutirt  man  den  gefundenen  Bezirk  und  überzeugt  sich,  ob  innerhalb  des 
Plätscherbezirkes  gedämpft  tympanitischer  Schall  herrscht.  Findet  man 
auf  diese  Weise,  dass  der  Plätscherbezirk  in  der  Mitte  oder  unterhalb  der 
Mitte  der  Lin.  xipho-umbilicalis  beginnt  und  mehrere  Finger  unterhalb  der 
Nabelhorizontalen  endigt,  so  ist  die  Diagnose  Descensus  ventriculi  gesichert. 
Zugleich  kann  man  durch  diese  Methode  auch  den  Nachweis  einer  etwa  vor- 
handenen Atonie  führen.  Ist  der  Magen  descendirt,  so  folgt  daraus  schon, 
dass  auch  das  Quercolon  nach  unten  verschoben  sein  muss.  Man  kann  den 
Nachweis  des  Quercolons,  sowie  der  übrigen  Colonabschnitte  entw^eder  gleich- 
falls durch  Luft-Einblasung  in  den  Mastdarm  mit  Hilfe  einer  in  denselben 
eingeführten  und  mit  Doppelballon  versehenen  Nelaton  -  Sonde  führen  oder 
man  kann  sich  eines  ähnlichen  Verfahrens  wie  für  den  Nachweis  der 
Magenatonie  bedienen,  indem  man  mittelst  Hegar'schen  Trichters  bestimmte 
Mengen  Wasser  in  den  Dickdarm  bringt.  Wenn  man  nämlich  bei  nor- 
maler Lage  des  Quercolons  5 — 600  ccm  Wasser  in  den  Darm  laufen  lässt,  so 
erhält  man  eine  schmale  Plätscherzone,  etwa  2 — 3  Querfinger  breit  oberhalb 
des  Nabels,  desgleichen  bei  Lagewechsel  schwaches  oder  gänzlich  fehlendes 
Succussionsgeräusch.  Bei  Tiefstand  des  Colons  erhält  man  eine  ähnliche 
Plätscherzone  mehr  oder  weniger  tief  unterhalb  des  Nabels;  ist  hiermit  auch 
Atonie  des  Dickdarmes  vorhanden,  so  genügen  schon  2 — 300  ccm,  um  Plätschern 
hervorzurufen,  auch  hat  der  Plätscherbezirk  in  diesem  Falle  eine  räumlich 
erheblich  grössere  Ausdehnung.  In  derselben  Weise  kann  man  auch  Lage- 
veränderungen des  ab-  und  aufsteigenden  Colons  nachweisen.  Von  einer  gewissen 
diagnostischen  Bedeutung  sind  auch  die  häufig  zu  beobachtenden  epigastralen 
und  dorsalen  Druckpunkte.  Die  ersteren,  in  der  Kegel  zwischen  proc.  ensi- 
formis  und  Nabel  gelegen,  sind  besonders  auf  tiefen   Eindi'uck   äusserst  em- 


572  ENTEROPTOSE. 

pfindlich;  es  handelt  sich  hierbei  um  die  sympathischen  Geflechte.  Am  Rücken 
findet  man  unregelmässig  angeordnete  schmerzhafte  Punkte,  häufig  schon  hoch 
oben  am  1.  oder  2.  Brustwirbel,  zuweilen  tiefer,  in  anderen  Fällen  erst  an 
den  Lendenwirbeln  gelegen.  Uebrigens  correspondiren  die  Druckpunkte  auf 
beiden  Seiten  nicht  mit  einander. 

Die  Differentialdiagnose  wird  sich  besonders  nach  der  Richtung 
bewegen,  ob  eine  nervöse  Dyspepsie  auf  der  Basis  allgemeiner  Neurasthenie 
oder  Hysterie  vorliegt  oder  ob  die  nervösen  Symptome  Folgezustände  der 
Splanclmo'ptose  sind.  Thatsächlich  dominiren  die  nervösen  Erscheinungen  in 
dem  Symptomencomplex  so  ausserordentlich,  dass  es  nicht  leicht  ist,  das  Vor- 
liegen einer  functionellen  Neurose  auszuschliessen.  Thatsächlich  werden  diese 
Zustände  auch  von  einzelnen  Forschern  z.  B.  Ewald,  der  nervösen  Dyspepsie 
subsumirt.  Dafür  würde  auch  der  Umstand  angeführt  werden  können,  dass, 
wie  bereits  oben  bemerkt,  der  Descensus  der  Eingeweide  als  solcher  häufig 
symptomlos  bleiben  kann.  Indessen  ist  es  bei  der  innigen  Verbindung,  in 
welcher  die  Visceralorgane  mit  dem  Sympathicussystem  stehen  nicht  von 
der  Hand  zu  weisen,  dass  die  Senkungen  mit  gewissen  Zerrungen  an  letzte- 
rem einhergehen,  die  allerlei  nervöse  Störungen  hervorrufen.  Bis  auf  Wei- 
teres wird  man  also  hier  von  einer  organischen  Grundlage  des  Leidens  kaum 
absehen  können. 

Therapie.  Prophylaktisch  kann  man  bei  Frauen  nach  der  Ent- 
bindung durch  passende  Leibbinden  ein  Hinabsinken  der  Visceralorgane  ver- 
hüten; desgleichen  gelingt  es  in  einzelnen  Fällen,  bei  leichtem  Descensus  der 
Organe  durch  passende  Bandagen  (s.  u.),  sowie  mechanische  Kräftigung  der 
Bauchmuskulatur,  das  weitere  Herabsinken  zu  verhindern.  Wichtig  ist  ferner 
eine  Regelung  des  Stuhlganges. 

Bei  ausgeprägtem  Descensus  intestinorum  werden  durch  passende  Ban- 
dagen in  vielen  Fällen  palliative  Erfolge  erzielt.  Namentlich  vermindert  sich 
die  Schwere  im  Leibe,  die  Kranken  können  besser  laufen,  die  Kreuzschmerzen 
sind  geringer  etc.  Die  Zahl  der  angegebenen  Bandagen  ist  sehr  mannigfaltig: 
von  vielen  Seiten  erprobt  ist  der  Landcm'sche  herzförmig  gestaltete  Gürtel,  die 
TeuffeVsche  Binde,  das  Bardenheuer' sehe  Unterleib scorset.  Auch  andere  ähnliche 
Apparate  mögen  ihrem  Zweck,  die  Eingeweide  zu  iramobilisiren,  mehr  oder 
w^eniger  nahe  kommen. 

Der  zweite  therapeutische  Gesichtspunkt  betrifft  die  Kräftigung  der 
schlaffen  Bauchdecken  durch  mechanische  Mittel,  in  erster  Reihe  Massage 
und  Elektricität,  in  zweiter  durch  hydrotherapeutische  Maassnahmen.  Die 
Elektricität  wird  in  Form  starker  faradischer  Ströme  gebraucht,  die  Hydro- 
therapie wird  in  Gestalt  kräftiger  Frottirungen,  Strahlendouchen,  kalter  Ein- 
wicklungen  angewendet,  bei  der  Massage  endlich  sind  die  Effleurage  und  die 
Petrissage  die  am  meisten  erprobten  Methoden. 

Daneben  handelt  es  sich,  wo  eine  gleichzeitige  Gastroptose  und  Colo- 
ptose  besteht,  um  eine  zweckentsprechende  Diät.  Da  letzterein  den  meisten 
Fällen  mit  Atonie  des  Magendarmcanals  einhergeht,  so  muss  die  Ernährung 
so  geregelt  werden,  dass  häufige,  kleine,  möglichst  wasserarme  Mahlzeiten 
gereicht  werden.  Was  im  Einzelnen  zuträglich  ist,  kann  man  auf  Grund  einer 
oder  mehrerer  Mageninhaltsuntersuchungen  leicht  bestimmen;  liegen  solche 
nicht  vor,  so  wird  man  nicht  umhin  können,  methodisch  zu  probiren.  Für 
eine  regelmässige  Stuhlentleerung  ist  durch  Compots,  Obstweine,  Milch- 
zucker in  grossen  Dosen  (1  Esslöffel  in  Thee,  Milch,  Wein),  Kefir  (2-tägig), 
Buttermilch  u.  A.  zu  sorgen.  Abführmittel  sind,  wenn  irgend  möglich,  zu 
meiden.    Ueber  die  Behandlung  der  Enteritis  memhranacea   s.   diesen  Artikel. 

In  sehr  hartnäckigen,  mit  starker  Prononcirung  hysterischer  Symptome 
einhergehenden  Fällen,  hat  sich  uns  die  „Mastkur"  (Weir  Mitchell  Cur^ 
Playfair   Cur)  als   ein  wichtiges   Heilmittel   erwiesen.     Allerdings   lässt  sich 


ENTEEOSTENOSE.  573 

der  Erfolg  im  Einzelfalle  schwer  voraussehen,  zweifellos  verdient  das  Verfahren 
in  Fällen  von  Enteroptose  mit  Beimischung  stark  nervöser  Symptome  den 
wichtigsten  Platz  in  der  Therapie. 

Gegenüber  diesen  mechanischen  und  diätetischen  Heilpoteuzen  tritt  die  me- 
dikamentöse Behandlung  in  den  Hintergrund.  Höchstens  wird  man  symptoma- 
tisch von  den  Nervinis,  besonders  den  Bromalkalien,  dem  Morphium,  Codein, 
Belladonna  u.  A.  einen  discreten  Gebrauch  machen  können. 

Bei  ausgesprochener  Atonie  des  Magen-Darmcanals  mit  Flatulenz  und 
Gährungsprocessen  haben  sich  uns  das  Besorcin  in  Verbindung  mit  Extr. 
Strychni  und  das  Wismuthsalicylat  häufig  bewährt.  (Rp.  Besorcin.  resublim. 
0'3.  Extr.  Strychni  O'Ol — O'Oo  f.  pulv.  d.  t.  d.  XX.  3-stl.  1  Pulver  n.  d. 
Essen.  Rp.  Bism.  salicyl.  0'3,  Extr.  Strychni  0'03—0'05  f.  pulv.  d.  t.  d.  XX 
3-stl.  1  Pulver  nach  den  Mahlzeiten).  Auch  das  ^-Ncqjhfol,  Benzonaphtol,  die 
Salicylsäure  sind  als  antifermentative  Mittel  eines  Versuches  v/erth. 

In  sehr  obstinaten  Fällen  von  Nephroptose  hat  man  auf  die  Initiative 
Hahn's  die  Fixation  des  dislocirten  Organes  empfohlen  (Nephrorhaphie) 
und  in  einzelnen  Fällen  (nach  Sulzer  in  ca.  56%)  Heilung  der  Beschwerden 
erzielt.  Die  Mortalität  beläuft  sich  auf  ca.  27o-  Ini  Allgemeinen  wird  man  die 
Merenfixation  nur  dann  mit  Aussicht  auf  Erfolg  unternehmen,  falls  nach- 
weislich kein  anderes  Organ  dislocirt  ist  und  falls  die  Beschwerden  als  aus- 
schliesslich von  der  Nierendislocation  herstammend  aufgefasst  werden  müssen. 
Wo  gleichzeitig  Descensus  anderer  Visceralorgane  vorliegt,  wird  man  von  der 
Nierenfixation,  als  hinsichtlich  des  Endeffectes  unsicher,  Abstand  nehmen 
müssen.  Die  von  Keppler  empfohlene  Nephrectomie  als  Heilmittel  einer 
dislocirten  Niere  ist  wohl  als  endgiltig  aufgegeben  anzusehen.  boas. 

EntsrOStenOSe.  Unter  dieser  Bezeichnung  fassen  wir  hier  die  Ver- 
engerungen und  VerSchliessungen  des  Darmlumens  zusammen.  Es  ist  zwar 
gewiss  nicht  ganz  gleichgiltig,  ob  die  A^erlegung  eine  partielle  oder  complete 
ist;  doch  lässt  sich  eine  vollständige  Trennung  dieser  beiden  Formen  nicht 
in  jedem  Falle  mit  Sicherheit  durchführen  und  erscheint  daher  die  gemein- 
schaftliche Behandlung  derselben  geboten.  Ebenso  ist  dies  auch  deshalb  zweck- 
mässig, weil  das  klinische  Bild  trotz  der  Verschiedenartigkeit  des  ätiologischen 
Momentes,  doch  meist  ein  ähnliches  ist. 

xletiologie.  Die  Verengerung  des  Darmlumens  kann  angeboren  und 
erworben  sein.  Von  den  angeborenen  Verschliessungen  kommen  nur  die 
des  Rectum  und  Anus  in  Betracht,  weil  sie  einer  operativen  Reparatur  zu- 
gänglich sind,  während  die  Individuen  mit  angeborenen  Verschliessungen  des 
Dünndarms  und  Colons  bisher  nicht  erhalten  werden  konnten. 

Die  erworbenen  Verlegungen  des  Darmlumens  können  in  dreifacher 
Weise  entstehen:  1.  durch  Obturation,  2.  durch  Compression,  3.  durch  Strictu- 
rirung  in  Folge  Erkrankung  der  Darmwand. 

1.  Die  Obturation  kann  eintreten: 

a)  Durch  den  Darminhalt.  Sie  kann  zustande  kommen  zunächst  durch 
einfache  Kothstauung,  deren  Sitz  am  häufigsten  der  Dickdarm  u.  zw. 
speciell  der  Blinddarm  ist.  Sie  kann  ferner  erfolgen  durch  abnormen  Darm- 
inhalt: Gallen-  oder  Darmsteine,  Fremdkörper  (Obstkerne,  Fruchthülsen  u.  dgl. 
oder  per  os  eingeführte  unverdauliche  Objecto),  endlich  seltener  durch  Con- 
glomerate  von  Darmparasiten.  Zur  Entwicklung  der  Verschliessungserschei- 
nungen  ist  es  weder  erforderlich,  dass  das  Lumen  vollständig  ausgefüllt,  noch 
dass  die  Darmwand  ad  maximum  gespannt  sei.  Es  ist  kaum  zu  bezweifeln,  dass 
es  sich  in  diesen  Fällen  um  eine  Insufficienz  {Atonie)  der  Darmpartie  an  der 
engagirten  Stelle  handelt,  deren  Folgen  durch  die  rasch  hinzutretende  Koth- 
stauung gesteigert  werden. 


574  ENTEROSTENOSE. 

Der  in  den  Darm  gelangte  Fremdkörper  verursacht,  mitunter  erst  mittelbar  den 
Eintritt  der  Enterostenose,  indem  er  zunächst  zu  Ulcerationen  event.  zu  circumscripter 
Peritonitis  führt.     Die  Stenose  ist  dann  die  Folge  letzterer  Veränderungen. 

h)  Durch  den  Darm  seihst  und  zwar  1.  durch  die  Einstülpung  eines  Darm- 
stückes in  das  nächst  untere:  Invagination ;  2.  durch  Tumoren. 

1.  Die  Invagination  entwickelt  sich  meist  ohne  sicherstellbare  Veranlassung,  in 
manchen  Fällen  wird  sie  durch  in  das  Darmlumen  hineinragende  Polypen  herbeigeführt. 
Sie  kommt  bei  Erwachsenen  seltener  vor  als  bei  Kindern*)  und  ist  bei  ersteren  ein  häufiges 
Vorkommnis  in  der  Agonie  und  da  belanglos. 

2.  Tumoren  führen  am  häiifigsten  in  der  Gestalt  von  Polypen  gelegentlich  zur  Ob- 
turation  des  Darmes.  Es  sind  dies  Fibrome,  Myome,  Adenome.  Hier  wären  weiters  noch 
hochsitzende  Hämorrhoidalknoten  als  Occlusionsursache  zu  nennen. 

2.  Die  Compression  eines  Darmstückes  kann  eintreten:  a)  hei  normaler 
Lagerung  des  Darmes  durch  Tumoren  (Cysten,  Neoplasmen,  Exsudate  u.  dgl.), 
dm'ch  Adhäsionen  und  Ligamente,  dm'ch  normale,  jedoch  dislocirte  Organe 
(Wanderniere,  Wandermilz,  Uterus  u.  dgl.) 

h)  Durch  Dislocation  des  Darmes  selbst.  Zu  diesen  gehört  1.  die  Ein- 
klemmung des  Darmes  dui'ch  Bruchbildung  (Incarceration);  2.  die  Achsen- 
drehung und  Yerschlingung  des  Darmes  (Volvidus). 

1.  Incarceration  kann  durch  innere  imd  äussere  Hernien  herbeigeführt  werden,  in 
angeborenen  Falten  und  Spalten  des  Peritoneums  oder  aber  in  erworbenen,  durch  ent- 
zündliche Processe  entstandenen  Bindegewebsträngen,  Fixationen,  Spalten. 

Von  den  inneren  Hernien  erwähnen  wir  z.  B.  die  Hernie  des  Foramen  WinsJoivii 
(H.  hiirsae  omentalis),  der  Plica  duodenojejuncdis  (Treüz'sclie  Hernie),  die  Hernia  retroperi- 
tonealis  in  der  Flexura  sigmoidea.  die  H.  diapliragmatica.  Die  äusseren  Hernien  finden  sich 
in  den  bekannten  Bruchpforten,  mitunter  auch  in  anderen  erworbenen. 

2.  Die  Aclisendrehung  und  "S'erschlingung  ist  eine  durchaus  nicht  seltene  Form  des 
Darmverschlusses,  dessen  Zustandekommen  durch  ein  langes  Mesenterium  besonders  begün- 
stigt wird.  Die  Drehung  erfolgt  in  der  PiCgel  um  die  Mesenterialaxe  des  Darmstückes,  wie 
dies  z.  B.  bei  dem  Volvulus  der  Flexura  sigmoidea  beobachtet  wird,  wenn  deren  Mesenterium 
lang,  die  Basis  desselben  jedoch  sehr  schmal  ist.  Seltener  erfolgt  die  Drehung  um  die  eigene 
Axe.  In  manchen  Fällen  tritt  der  Verschluss  dadurch  ein.  dass  eine  Darmschlinge  sich  um 
ein  anderes  Darmstück  dreht  und  dadurch  das  letztere  abklemmt.  Mitunter  führt  ein  Di- 
vertikel, das  sich  um  eine  Darmschlinge  legt,  einen  solchen  Zustand  herbei. 

3.  Die  Stricturirung  des  Darmlumens.  Diese  wird  Yerursacht: 
a)  durch  Darmgeschiüüre,  b)  durch  jS'eoplasmen,  c)  dm^h  Peritonitis. 

a)  Von  Darmgesclnvlü'en  kommen  vor  allen  die  dysenterischen  in  Betracht.  Sie 
sitzen  im  Dickdarm  und  bilden  entweder  circumscripte  oder  diffuse,  einfache  oder  multiple 
Verengerungen  des  Darmkmiens.  Viel  seltener  als  diese  sind  Stenosirungen  durch  syphi- 
litische (im  Rectum),  tuberculöse  (im  Ileum.  auch  Coecum),  katarrhalische  Geschwüre  (im 
Colon),  am  seltensten  solche  nach  Typhus.  Gelegentlich  führen  Traumen  zu  Stenosirungen 
des  Dai-mes.  Auch  können  Stricturen  nach  Brucheinklemmung  sich  au  den  eingeklemmten 
Stellen  durch  Ulceration  mit  nachfolgender  Narbenbildung  einstellen.  Im  Rectum  speciell 
kommen  neben  den  erwähnten  syphilitischen  Geschwüren  auch  noch  Stricturen  nach  Ver- 
eiterung von  Hämorrhoidalknoten  wie  nach  periproctischen  Entzündungsprocessen  vor. 
Dem  Sitze  nach  befinden  sich  Stricturen  des  Dünndarmes  am  häufigsten  im  Ileum.  u.  zw. 
in  der  unteren  Hälfte  desselben,  im  Colon,  etwa  50%.  in  der  Flexura  sigmoidea.  Der 
Häufigkeit  nach  folgen  die  des  Colon  descendens  und  der  linken  Flexur  und  werden  nach 
oben  hin  seltener. 

Die  Dünndarmstricturen  sind  meist  sohtäre,    die  im  Dickdarm  nicht  selten  multiple. 

1))  Von  dem  Neoplasmen  der  Dai'nuvand  ist  das  häufigste  das  CarL-inom,  u.  zw. 
das  primäre,  welches  zu  Stenosirungen  des  Darmes  führt.  Der  Sitz  desselben  ist  meist  das 
S  Romanum  und  das  Rectum.  Der  Form  nach  ist  es  gewöhnlich  ringförmig  und  führt  in 
Folge  dessen  rasch  zu  VerengeTung  und  Kothstauung.  Nur  das  Adenocarcinom  macht 
eine  Ausnahme,  insoferne  es  zwar  ringförmig  wächst,  jedoch  zu  einer  Erweiterung  des 
Lumens  führt.  Von  anderweitigen  Geschwülsten  kommt  in  Betracht  das  Sarcom  und  der 
Polyp.  Der  letztere  führt  gelegentlich,  wie  erwähnt,  auch  zur  Obturation  oder  zur  Invagina- 
tion (s.  oben),  kann  aber  auch  durch  Abreissung  am  Stiele  spontan  eliminirt  werden. 

c)  Peritoneale  Erki-ankimgen  können  durch  Verlötungen  und  Verwachsungen  zu 
Knickung  des  Darmes  und  Verengerung  des  Lumens  führen.  Hieher  gehören  auch  die  schon 
hervorgehobenen  Veränderungen  des  Peritoneums,  welche  sich  an  der  Einklemmungsstelle 
nach  der  Behebung  der  Incarceration  in  manchen  Fällen  einstellen. 


*)  Vergl.  „Invagination"  (.J.  Loos).  ds.  Bd.  der  „Bibliothel-". 


ENTEROSTENOSE.  575 

Die  Entstehung  der  Verschliessungssymptome  ist  entweder 
auf  einen  absoluten  Verschluss  des  Darmes,  d.  h.  rein  mechanischer  Natur, 
oder  nur  auf  eine  Insufficienz  der  Triebkräfte  zurückzuführen.  Das 
letztere  Moment  kommt  hauptsächlich  bei  den  Verengerungen  in  Betracht  und 
bei  den  einfachen  Kothstauungen  welche  zu  Ileus  führen.  Den  höchsten 
Orad  dieser  Insufficienz  repräsentirt  die  Lähmung,  die  nicht  selten  durch 
Obstipation  oder  durch  Geschwürsprocesse,  am  häufigsten  aber  durch  circum- 
scripte  oder  diffuse  peritoneale  Veränderungen  (Peritonitis)  herbeigeführt  wird. 
{Ileus  paralyticus). 

Es  kann  eine  Stenosirung  daher  längere  Zeit  fortbestehen  ohne  wesent- 
liche Molimina  zu  bereiten,  wenn  der  Darm  sufficient  bleibt  oder  gar  eine 
compensatorische  Hypertrophie  der  nächstoberen  Darmpartie  sich  einstellt. 

Der  Häufigkeit  nach,  insofern  sich  hierüber  überhaupt  etwas  bestimmtes 
sagen  lässt,  sind  Männer  häufiger  in  der  Statistik  der  Enterostenose  ver- 
treten als  Weiber,  u.  zw.  sollen  die  der  arbeitenden  Classe  obenan  stehen. 

Symptome.  Die  Erscheinungen,  welche  die  Enterostenose  macht, 
sind  zunächst  davon  abhängig,  ob  die  Verschliessungserscheinungen  allmälig 
oder  plötzlich  einsetzen. 

a)  Die  chronische  Enterostenose.  Diese  entwickelt  sich  zuerst  unter  dem 
Bilde  einer  Stuhlverstopfung,  welche  gelegentlich  von  Diarrhoeen  (Pteizungs- 
zustände)  unterbrochen  wird.  Dabei  stellt  sich  hartnäckige  Blähung  ein- 
zelner Darmschlingen  neben  Appetitlosigkeit  und  häufigem  Aufstossen  ein.  Die 
geblähten  Darmtheile  zeigen  lebhafte  Peristaltik,  welche  der  Patient  sehr 
schmerzhaft  empfindet  (Kolik)  und  die  sich  oftmals  mit  lautem  hörbarem  Kollern 
vollzieht.  Gleichzeitig  können  auch  spontane  Schmerzen  bestehen,  welche  von 
der  Stenose  selbst  ausgehen.  Nebenbei  wird  auch  Erbrechen  beobachtet. 
Dieses  ist  jedoch,  insofern  es  sich  nicht  um  ein  Anfall  von  Ileus  handelt, 
hier  nur  als  ein  refiectorisches  zu  erklären. 

Sitzt  die  Stenose  tief  (Colon  descendens  oder  Eectum),  so  kann  man  durch 
die  Form  des  Kothes  auf  den  Darmzustand  aufmerksam  werden.  Statt  normal 
geformter  Stühle  kommen  spindelförmige,  plattgedrückte  Fäces  oder  nur  kleine 
Bröckel  (wie  Ziegenkoth)  zum  Vorscheine.  Mit  der  Deutung  dieses  letzteren 
Befundes  muss  man  jedoch  sehr  vorsichtig  sein,  da  man  solche  Stühle  nicht 
selten  bei  dem  atonisch-contrahirten  Dickdarm  beobachten  kann.  Selbstver- 
ständlich schliesst  normale  Stuhlform  nicht  die  Anwesenheit  einer  Stenose  aus. 

Bezüglich  des  Aussehens  der  Fäces ")  ist  noch  auf  Beimengungen,  wie 
Schleim,  Blut,  Eiter,  stinkende  nekrotische  Gewebsfetzen  zu  achten,  von  denen 
namentlich  die  letzteren  auf  jauchigen  Zerfall  von  Ulcerationsflächen  und  so- 
mit z.  B.  den  Verdacht  auf  ein  Ptectumcarcinom  leiten  können. 

Der  Inspectionsbefund  des  Abdomens  zeigt  den  angedeuteten  Me- 
teorismus, an  dem  man  meist  sofort  erkennt,  dass  er  durch  geblähte  Darm- 
schlingen herbeigeführt  wird,  deren  Peristaltik  durch  die  Bauchdecken  hin- 
durch sichtbar  ist.  In  manchen  Fällen  nur  gelingt  es  auch  aus  dem  Aussehen 
der  Schlinge  und  der  Art  der  peristaltischen  Bewegung,  durch  die  Bauchdecken 
hindurch,  zu  bestimmen,  ob  es  sich  um  Dickdarm  oder  Dünndarm  handelt. 
Die  Weite  des  betreffenden  Darmstückes  ist  jedoch  hiebei  nicht  entscheidend, 
da  durch  die  Blähungen  der  Dünndarm  ebenso  breit  werden  kann  wie  der 
Dickdarm. 

Durch  Palpation  kann  man  mitunter  die  Ursache  der  Verengerung 
herausfinden,  z.  B.  wenn  es  sich  um  einen  Tumor  oder  Exsudat  handelt.  Am 
wichtigsten  ist  aber  die  Untersuchung  per  rectum,  bei  der  Frau  auch  die 
Untersuchung  per   vaginam,    durch  welche  man  nicht  selten  und  ganz  uner- 


*)  Vergl.  „Fäces  wid  Fäcesuntersuchung"  (R.  Stern),  ds.  Bd.  der  „Bibliothek." 


576  ENTEROSTENOSE. 

wartete  Aufschlüsse  über  die  Ursache  der  Stenose  erhalten  kann.  In  erster 
Linie  werden  tiefsitzende  Stenosen  des  Rectum  oder  an  dem  S  romanum  aufge- 
deckt werden  können. 

Zur  weiteren  Erforschung  des  Sitzes  des  Hindernisses  werden  auch  noch 
Aufblähung  des  Colon  mitLuft  oder  Wassereingiessung  empfohlen. 
Bezüglich  der  Wassereingiessungen  wäre  hervorzuheben,  dass  man  auf  Eectal- 
stenosen  oftmals  dadurch  aufmerksam  wird,  dass  die  Patienten  finden,  sie  könnten, 
keine  Mastdarmeingiessung  mehr  vornehmen,  da  bereits  nach  einem  Einlauf 
von  3 — öOO  ccm  das  Wasser  zurückfliesst. 

Die  Percussion  ergibt  über  den  geblähten  Schlingen  vollen  tympani- 
tischen  Schall.  Entsprechend  dem  Meteorismus  besteht  Hochstand  des  Zwerch- 
fells. Ist  ein  Tumor  oder  Exsudat  vorhanden,  so  geben  die  betreffenden  Stellen 
natürlich  auch  Dämpfung. 

Die  Auscultation  kommt  bis  auf  die  des  Kollerns  (Borborygmi) 
kaum  in  Betracht. 

Der  Harn  enthält  in  der  Piegel  reichlich  Indican. 

Piücksichtlich  der  Complicationen  ist  Peritonitis,  insbesondere 
perforative,  Abscesse,  bei  längerem  Bestände  Marasmus,  Decubitus,  Sepsis  zu 
befürchten. 

Die  chronische  Stenose  kann  lange  bestehen  und  nur  gelegentlich  zu 
Occlusionserscheinungen  lühreU;  welche  durch  die  Einleitung  entsprechender 
Maassnahmen  wieder  behoben  werden  können,  bis  sich  der  Anfall  wiederholt  und 
nicht  mehr  löst.  Tritt  nun  bei  einer  älteren  Strictur  oder  aus  irgend  einem 
der  anderen  Gründe  absoluter  Verschluss  ein,  so  entwickelt  sich  das  Krankheits- 
bild, welches  wir  als  Ileus  (Passio  iliaca;  von  dlim  verschliessen  oder  zihjuy 
winden)  oder  Miserere  (von  miserere,  erbarmen)  bezeichnen. 

b)  Der   acute  Darmverschluss. 

Das  Bild  des  acuten  Darmverschlusses  zeigt  in  vieler  Beziehung  Aehnlich- 
keit  zum  chronischen,  nur  dass  sich  die  Erscheinungen  beim  acuten  rascher 
entwickeln  und  ebenso  zum  Abschluss  gelangen  können. 

Der  Moment  des  Yerschlusses  ist  in  der  Piegel  durch  den  Eintritt  eines 
heftigen  Schmerzes  markirt,  dessen  Sitz  die  Einklemmungsstelle  ist.  Alsbald 
stellen  sich  krampfartige  Schmerzen  ein,  welche  in  der  Xabelgegend  localisirt 
werden  und  welche  meist  nur  anfallsweise,  in  Intervallen  sich  steigern  (Kolik). 
Die  nächsten  Symptome  sind  Uebelkeit,  Erbrechen  und  stetig  zunehmender 
Meteorismus. 

Je  höher  die  Incarcerationsstelle  umso  rascher  folgen  nun  die  schweren 
Symptome,  während  sie  bei  tiefsitzendem  Verschluss,  etwa  im  S  romanum  selbst. 
Tage  brauchen,  um  den  Höhepunkt  zu  erreichen. 

Das  Erbrochene  besteht  vorerst  aus  Mageninhalt,  später  folgt  Galle. 
Diese  letztere  fehlt  nur  dann,  wenn  die  Stenosirung  oberhalb  der  Mündung  des 
Gallenganges  erfolgt,  also  bei  hoher  Duodenalstenoser)  Das  gallige  Erbrechen 
bringt  den  ganzen  regurgitirten  Duodenalinhalt,  von  dessen  Anwesenheit  man  sich 
auch  durch  den  Nachweis  der  tryptischen  Wirkung  desselben  überzeugen  kann. 
Das  später  Erbrochene  riecht  immer  mehr  und  mehr  fäculent.  Der  fäculente 
Geruch  des  Erbrochenen  (Skatol)  kann  aber  bei  hochsitzenden  Stenosen  ebensa 
vorhanden  sein,  wie  bei  den  tiefen,  da  er  nur  die  Folge  der  Stagnation  und 
Zersetzung  des  Darminhaltes  ist. 

In  Fällen  von  tiefem  Dickdarmverschluss,  kommt  es,  wenn  auch  sehr 
selten,  zu  wirklichem  Erbrechen  von  Fäces.  Das  Erbrechen  wird  theils  reflec- 
torisch,  theils  durch  die  lebhafte  Peristaltik  unterhalten.  Ob  die  Rückbeför- 
derung des  Darminhaltes    auch  durch  Antiperistaltik  erfolgt,    wird  bestritten. 


*)  Vergl.  Artikel  .-Vuodenalstenose-'  (J.  Boas)  pag.  441  ds.  Bd. 


ENTEROSTENOSE.  577 

Gleichzeitig  mit  dem  Eintritt  des  Erbrechens  tritt  Stuhlverhaltung  ein, 
wenn  eine  solche  nicht  von  vornherein  bestanden  hat,  und  sistirt  der  Abgang 
von  Gasen,  in  gleicher  Weise  wie  bei  der  clironischen  Stenose.  Doch  kann  in 
den  ersten  Stunden  nach  dem  Eintritt  der  Incarceration  sowohl  Abgang  von 
Stuhl  als  auch  von  Winden  stattfinden,  namentlich,  wenn  die  Verschlusstelle 
hochsitzt  und  lange  Darmstrecken  sich  noch  ihres  Inhaltes  entleeren  können. 
In  manchen  Fällen  erfolgen  sogar  diese  Entleerungen  in  Form  von  flüssigen 
Stühlen  (Gefässparese  und  gesteigerte  Peristaltik),  so  dass  sogar  das  Gesammt- 
bild  einen  Brechdurchfall   vortäuschen  kann.    Nicht   selten  besteht  Tenesmus. 

Der  Meteorismus  ist  zu  Beginn  des  Anfalls  oft  nur  ein  localer,  auf  die 
abgeschnürte  Schlinge  beschränkt,  wenn  es  sich  z.  B.  um  einen  Volvulus 
handelt.  Später  folgt  die  Blähung  der  oberen  Darmpartien.  Sitzt  der  Ver- 
schluss im  Colon,  so  kann  die  erste  Etappe  nur  zu  einer  Blähung  dieses 
Darmabschnittes  bis  zur  Cöcalklappe  führen.  Die  nächst  höheren  Abschnitte 
werden  erst  geliläht,  wenn  diese  insufficient  wird.  Je  mehr  nun  der  Meteoris- 
mus zunimmt,  umso  grösser  wird  das  Abdomen  und  die  Spannung  desselben 
und  gleichzeitig  die  subjectiven  Beschwerden  des  Kranken. 

Das  Aussehen  des  Patienten  trägt  sehr  bald  das  Gepräge  der  schweren 
Affection.  Er  wird  blass  (Parese  der  Abdominalgefässe),  die  Augen  sind  halo- 
nirt,  die  sichtbaren  Schleimhäute  sind  livid,  auffallend  trocken,  die  Hände  und 
Füsse  kühl  und  mit  kaltem,  klebrigem  Schweiss  bedeckt,  Singultus  tritt  auf,  die 
Pulsfrequenz  steigt,  die  Pulswelle  und  die  Spannung  im  Gefässsystem  sinkt 
herab.  Durch  die  Zunahme  des  Meteorismus  steigert  sich  das  Oppressions- 
gefühl.  In  diesem  Stadium,  dessen  Erscheinungsreihe  von  manchen  als  das 
Product  einer  Autointoxication  und  des  Wasserverlustes  in  Folge  des  reich- 
lichen Erbrechens  hingestellt  wird,  begegnen  wir  noch  Fieber  und  Albuminurie. 
Die  Harnsecretion  erfolgt  nur  spärlich,  kann  auch  nur  auf  wenige  Tropfen 
reducirt  sein.  Der  Harn  ist  dunkel,  enthält  namentlich  bei  hohem  Sitz  der 
Stenose  reichlich  Indican.  Der  Tod  tritt  entweder  im  Collaps,  shockartig 
sofort  nach  Eintritt  der  Incarceration  ein  oder  was  häufiger  der  Fall  ist  unter 
stetem  Kräfteverfall  und  nicht  selten  bei  ungetrübtem  Bewusstsein. 

Besteht  die  Incarceration  längere  Zeit,  d.  h.  mehrere  Tage,  so  bleibt  das 
Krankheitsbild  kein  ungetrübtes.  Es  treten  Complicationen  auf,  welche 
die  Diagnose  sehr  erschweren:  zunächst  Peritonitis,  welche  mitunter  direct 
durch  eine  am  Krankheitsherde  eingetretene  Perforation  herbeigeführt  wird. 
Die  in  Folge  dessen  sich  entwickelnde  Spannung  des  Peritonealraumes  verwischt 
das  Bild  vollends.  Die  geblähten  Schlingen  und  deren  Peristaltik,  Zeichen, 
welche  als  Fingerzeig  zur  Diagnose  führten,  verschwinden,  und  es  bleiben 
nur  zweifelhafte  Symptome,  wie  besondere  Empfindlichkeit  einer  einzelnen 
Bauchpartie  oder  circumscripte  Dämpfung,  kurz  Symptome,  welche  sich  nicht 
mit  Sicherheit  aus  dem  Krankheitsbild  der  Peritonitis  herausheben  lassen. 

Von  den  weiteren  Complicationen  müssen  wir  noch  der  Pneumonie 
( ScJiluckpneummiie)  und  der  Septicopyaemie  gedenken,  welche  als  unmittel- 
bare Todesursache  nicht  selten  in  den  Rahmen  treten. 

Tritt  Lösung,  d.  h.  Permeabilität  des  Darmes  ein,  so  kündigt  sich  diese 
gewöhnlich  durch  den  Abgang  von  Gasen  an,  welchen  bald  Stuhl  und  rasche 
Erholung  der  Kräfte  folgt.  Sind  zur  Lösung  der  Incarceration  Eingiessungen 
gemacht  worden,  so  kommt  es  vor,  dass  Luft  in  den  Darm  eingetrieben  wird, 
deren  Abgang  den  von  Darmgasen  vortäuschen  kann. 

Diagnose.  Die  richtige  Beurtheilung  einer  Enterostenose  lässt  es 
namentlich  bei  acutem  innerem  Darmverschluss  als  sehr  wünschenswerth  er- 
scheinen, den  Kranken  so  früh  als  möglich  nach  Eintritt  der  Erscheinungen 
zu  beobachten.  Je  mehr  wir  uns  von  diesem  Zeitpunkte  entfernen,  umso 
grösser  können  die  Schwierigkeiten  für  die  richtige  Beurtlieilung  des  Falles 
werden. 

Bibl.  med.  Wissenscliaften.   I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  Ol 


578  ENTEROSTENOSE. 

Differentialdiagnostiscli  kommen  in  Betracht  beim  acuten  Ver- 
schluss: in  erster  Linie  acute  Peritonitis,  dann  Gallen-  und  Nierensteinkoliken, 
einfache  Darmkoliken  (bes.  bei  Kindern).  Einklemmungserscheinungen  können 
noch  durch  Einklemmung  irgend  eines  normalen  Unterleibsorganes  (Uterus, 
Wanderniere;  Ovarium,  Hoden)  oder  durch  Stieldrehung  von  Tumoren  (Ova- 
rialcysten),  ferner  durch  Traumen  des  Abdomens  (Darmparalyse  V)  herbeigeführt 
werden.  Ton  anderweitiger  Erkrankung  können  mit  innerer  Einklemmung 
verwechselt  werden:  Brechdurchfälle,  Cholerine,  Cholera,  acute  Vergiftungen, 
Meningitis. 

Von  den  erwähnten  Affectionen  wollen  wir  hier  nur  die  Differentialdiagnose 
der  Peritonitis  besprechen,  indem  wir  bezüglich  der  anderen  Krankheiten 
auf  die  entsprechenden  Artikel  verweisen.  Es  handelt  sich  hier  auch  nur  um 
die  acute  Peritonitis,  die  sowohl  als  diffuse  Erkrankung  durch  allgemeine 
Darmlähmung,  als  auch  in  der  Form  der  circumscripten  Erkrankung  einzelner 
Darmstücke  zu  Ileuserscheinungen  führen  kann.  Als  Beispiel  der  letzteren 
gilt  namentlich  die  Perityphlitis.  Man  darf  jedoch  niemals  ausser  Acht  lassen, 
dass  eine  bestehende  Peritonitis  eine  Complication  eines  Ileus  sein  kann. 
Differentialdiagnostisch  von  Bedeutung  erscheint  das  Verhalten  des  Meteorismus 
und  die  Emptindlichkeit  des  Abdomens  auf  Druck. 

Bei  allgemeiner  Peritonitis  finden  wir  nämlich  einen  gleichmässig  gespannten 
Bauch,  dessen  Decke  sich  auf  die  leiseste  Berührung  ausserordentlich  empfindlich 
erweist.  Bei  der  Incarceration  hingegen  erscheint  der  Meteorismus  nur  durch 
die  Blähung  einzelner  Darmpartien  herbeigeführt.  Die  Spannung  ist,  trotzdem 
sie  dabei  sehr  bedeutend  sein  kann,  doch  eine  ungleichraässige;  überdies  ist 
der  Bauch  auf  allmälig  ansteigenden  massigen  Druck  wenig  empfindlich;  hin- 
gegen für  rasch  ausgeführte  Eindrücke  (daher  oft  auch  bei  der  Percussion) 
sehr  empfindlich.  Diese  letztere  Erscheinung  dürfte  durch  die  excessive  Span- 
nung der  Darmwand  zu  erklären  sein. 

Der  Nachweis  eines  Exsudates  sichert  die  Diagnose  der  Peritonitis,  ebenso 
Temperatursteigerungen,  welche  bei  der  uncomplicirten  Incarceration  gewöhn- 
lich fehlen  (Collaps).  Desgleichen  spricht  auch  das  Ausbleiben  von  fäculentem 
Erbrechen  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  für  Peritonitis.  Grösser  sind  die 
Schwierigkeiten  bei  der  diagnostischen  Trennung  der  circumscripten  Peritonitis, 
Z.B.Perityphlitis,  insofern  nämlich  durch  die  Blinddarmentzündung  sich 
auch  thatsächliche  Occlusion  einstellen  kann.  In  diesen  Fällen  kann  die 
Localisation  des  Schmerzes,  wenn  sie  präcise  in  die  Ileocoecalgegend  ver- 
legt wird,  die  örtliche  Empfindlichkeit,  Oedem,  event.  bei  anhaltendem  Er- 
brechen, wie  später  erwähnt  werden  soll,  eine  Magenausspülung  die  Situation 
klären. 

Eücksichtlich  der  chronisclien  Enterostenose  kommen  differentialdiagnostisch 
in  Betracht  die  chronisch  katarrhalischen  Affectionen  des  Darmes,  sowie  die 
Atonie  des  Colon  (habituelle  Obstipation)  und  dann  functionelle  neurotische 
Störungen  des  Darmes  (Hysterie).  Hier  wird  die  Aufnahme  einer  sorgfältigen 
Anamnese  meist  zum  Ziele  führen. 

Nach  der  Feststellung  der  principiellen  Diagnose  „Darmverschluss"  muss 
nach  dem  Sitz  der  Occlusion  gesucht  werden.  Zu  diesem  Behufe  dient  die 
Palpation  des  Abdomens,  die  Untersuchung  per  rectum,  event.  per  vaginam 
(bimanuell),  dann  die  rectale  Eingiessung  von  Wasser  in  das  Colon,  event.  die 
Eintreibung  von  Luft  mit  Hilfe  des  PacHARDSox'schen  Gebläses  behufs  Auf- 
blähung des  Colon.  Dieser  müssen  sich  anschliessen  die  Stuhl-,  Harnunter- 
suchung und  des  Erbrochenen.  Zur  Orientirung  kann  unter  Umständen  nament- 
lich in  dieser  Richtung  die  frühzeitige  Beobachtung  der  geblähten  Darraschlingen 
von  Belang  sein,  namentlich  in  Fällen  von  Volvulus,  dann  zur  Differenzirung 
von  Dick-  und  Dünndarmocclusionen. 


ENTEROSTENOSE.  579 

Im  Allgemeinen  kann  man  wohl  sagen:  je  tiefer  der  Sitz  der  Stenose,  umso 
später  erreichen  die  Krankheitserscheinungen  ihren  Culminationspunkt.  Am 
deutlichsten  kann  man  dies  bei  den  nicht  so  seltenen  Rectalstenosen  sehen, 
bei  welchen  die  Diagnose  unter  Mithilfe  der  Digitaluntersuchung,  Prüfung  der 
Stuhlbeschaffenheit  sich  überdies  meist  sehr  einfach  gestaltet.  Je  höher  der 
Dickdarmverschluss  aber  ist,  umso  schwieriger  die  Diagnose  und  kann  die 
Trennung  von  tiefem  Dünndarmverschluss,  wenn  nicht  zufällig  die  Aufblähung 
des  Colon  Klarheit  bringt,  ganz  unmöglich  werden. 

Bei  Dünndarmverschluss  können  wir  den  hochsitzenden  des  Duodenums 
so  ziemlich  von  dem  tiefen  des  Jejunums  trennen  (vergl.  „Duodenalstenose"). 
Der  Meteorismus  betrifft  bei  hochsitzender  Dünndarmstenose  häufig  nur  die 
Oberbauchgegend.  Verlässlich  ist  jedoch  dieses  Symptom  nicht,  da  auch  die 
Hernia  bursae  omentalis  ein  ähnliches  Bild  bietet.  Bei  ganz  oben  sitzenden 
Stenosirungen  ist  nach  Eintritt  der  Insufficienz  des  Pylorus  nach  jedesmaligem 
Erbrechen  eine  Entspannung  zu  constatiren.  Das  Kennzeichen  der  Dünndarm- 
stenose ist   der  stürmische  Verlauf,  der  rasch  eintretende  Collaps. 

Am  allerschwierigsten  ist  es  aber  in  der  Regel,  den  Process  festzustellen, 
der  den  Verschluss  herbeigeführt  hat,  namentlich,  wenn  es  sich  um  einen 
acuten  handelt.  Gerade  hier  ist  unser  positives  Können  kein  ausreichendes. 
Vor  allem  ist  es  dringend  geboten,  eine  sorgfältige  Anamnese  aufzu- 
nehmen und  vor  jeder  anderen  Untersuchung  die  usuellen  Bruch- 
pforten sorgfältig  zu  prüfen.  Es  ist  bereits  wiederholt  vorgekommen,  dass 
gewöhnliche  Brucheinklemmungen  übersehen  und  diese  erst  bei  der  Laparatomie 
entdeckt  wurden! 

Am  einfachsten  liegen  die  Verhältnisse,  wenn  festgestelltermassen  ein 
Fremdkörper  in  den  Darmcanal  gelangt  war.  In  ähnlicher  Weise  wäre  die 
Diagnose  naheliegend  bei  Einklemmungserscheinungen  nach  vorangegangenen 
schweren  Gallensteinkoliken.  Darmsteine,  wenn  deren  Fragmente  nicht  abge- 
gangen oder  sie  nicht  palpabel  sind,  können  schwer  erkannt  werden. 

Die  Erkennung  eines  Jleus  durch  Compression  erfordert  die  Constatirung 
eines  Tumors,  einer  Hernie  oder  eines  Volvulus.  Die  Trennung  einer  inneren 
Hernie  von  einem  Volvulus  ist  häufig  undurchführbar.  Für  den  letzteren 
sprechen  die  schon  hervorgehobene  Erscheinung  der  Blähung  einer  einzelnen 
Schlinge,  wie  das  beim  Volvulus  der  Flexura  sigmoidea  beobachtet  wird.  Gleich- 
zeitig besteht  in  diesem  Falle  gewöhnlich  Tenesmus  (in  Folge  der  Peristaltik), 
mitunter  Diarrhoeen.  Die  Füllung  des  Colon  descendens  per  rectum  gelingt 
hier  ebenso  wenig  wie  bei  der  Ptectalstenose.  Für  die  Compression  durch 
Ligamente  ist  eine  vorangegangene  Peritonitis  von  Belang.  Alle  weiteren 
Merkmale  sind  inconstant. 

Rücksichtlich  der  chronischen  Enterostenose  sind  nur  die  anamnestischen 
Momente  die  wichtigsten  Stützen  bei  der  Feststellung  der  Ursache  der  Ver- 
engerung (z.  B.  Dysenterie).  So  werden  wir  bei  älteren  Individuen,  welche 
Zeichen  einer  allmälig  sich  steigernden  Stenose  bieten,  bei  auffallender  Cachexie 
ein  Carcinom  annehmen.  Die  Beschaffenheit  des  Stuhles,  Beimengungen  von 
blutigem  Schleim  u.  dgl.  werden  die  Diagnose  bestätigen,  wenn  kein  Tumor 
tastbar.  Doch  muss  nachdrücklichst  bemerkt  werden,  dass  jede  Stenose  mit 
Kräfteverfall  einhergehen  kann.  Sitzt  die  Strictur  im  Dickdarm,  so  kann  die 
Palpation  die  wechselnde  Füllung  des  nächstoberen  Darmstückes  die  Localisation 
ermöglichen,  ebenso  wie  die  Form  der  Stühle  diese  unterstützen.  Man  darf 
nicht  vergessen,  dass  auch  Obstipation  die  Erscheinung  einer  chronischen  Darm- 
verengerung machen  kann,  ebenso  eine  chronische  Invagination. 

Pathologische  Anatomie.  Im  Allgemeinen  wollen  wir  hier  nur  erwähnen,  dass 
man  bei  der  Obduction  den  oberhalb  der  Stenose  gelegenen  Darmabschnitt  aufgetrieben,  den 
unterhalb  gelegenen  collabirt  und  leer  findet.  War  die  Verengerung  eine  chronische,  so 
findet  man  die  Muscularis  des   nächst  oberen  Darmabschnittes  hypertrophirt.     Meist  findet 

37* 


580  ENTEROSTENOSE. 

sich  durch  die  Kothstauung  die  Schleimhaut  arrodirt  und  stellenweise  in  ulcerösem  Zerfall. 
Gelegentlich  erfolgt  an  einer  solchen  Stelle  eine  Perforation  oder  ausgedehnte  Abscedirung 
(Kothabscess). 

Die  stenosirte  Stelle  ist  gewöhnlich  cyanotisch,  häufig  zeigt  sie  Ecchymosen,  mit- 
unter findet  man  sie  gangränös,  brüchig,  wenn  es  sich  um  Verschluss  durch  Compression 
handelt.  Diese  Gangrän  kann  in  den  Fällen,  in  welchen  ganze  Schlingen  abgeschnürt 
werden,  sich  auf  die  ganze  abgeschnürte  Darmpartie  erstrecken.  Das  Peritoneum  ist  matt, 
injicirt  und  mehr  oder  minder  mit  Exsudatelementen  bedeckt.  Die  übrigen  Organe  zeigen 
meist  auffallende  Trockenheit  in  Folge  des  Wasserverlustes.  In  den  Lungen  findet  sich  häufig 
Schlnckpneumonie. 

Verlauf  und  Prognose.  Der  Verlauf  der  Enterostenosen  ist  ein  sehr  un- 
gleicher. Chronische  Enterostenosen  können  Jahre  bestehen,  während  acute 
innerhalb  einer  Woche  zum  Tode  führen  können,  manche  Fälle  sogar  innerhalb 
weniger  Stunden  (Shock)  zu  Grunde  gehen.  In  etwa  einem  Drittel  der  Fälle  ist 
bisher  Ausgang  in  Heilung  beobachtet,  d.  h.  durch  Zurückgehen  der  Erschei- 
nungen theils  spontan,  theils  unter  Einfluss  entsprechender  therapeutischer 
Maassnahmen.  Der  Verlauf  hängt  von  der  Grundkrankheit  ab,  schon  deshalb, 
weil  in  gewissen  Fällen  diese  allein  zum  Tode,  in  anderen  anfangs  zu  Recidiven, 
schliesslich  durch  Cachexie  etc.  zum  gleichen  Ziele  führt. 

Die  Prognose  ist  unter  allen  Umständen  eine  ernste.  Für  die  Beurtheilung 
des  jeweiligen  Zustandes  des  Patienten  ist  sein  Aussehen,  die  Beschaffenheit 
des  Abdomens  und  des  Pulses  massgebend. 

Therapie.  Die  sicherste  Grundlage  eines  zielbewussten  Vorgehens 
wäre  eine  präcise  Diagnose.  Es  ist  diese  heute  umso  dringender  erwünscht, 
als  eine  erfolgreiche  chirurgische  Behandlung  ein  möglichst  frühzeitiges,  be- 
ziehungsweise rechtzeitiges  Eingreifen  erfordert.  Leider  ist  es  aber  nicht 
immer,  oder  richtiger  nur  selten  möglich,  eine  unzweifelhafte  Diagnose  zu 
stellen  und  kann  die  chirurgische  Behandlung  erst  dann  eingeleitet  werden, 
wenn  die  Aussicht  auf  eine  Heilung  durch  die  sog.  interne  Behandlung  wegfällt. 

Die  interne  Behandlung  erfordert  1.  absolute  Vermeidung  von  Ab- 
führmitteln; 2.  Beruhigung  des  Darmes  durch  Opium.  Die  Wirkung 
des  letzteren  auf  das  subjective  Befinden  sowohl,  als  das  objective  Bild  hat  sich 
meist  vorzüglich  bewährt.  Es  wird,  was  am  wichtigsten  ist,  die  peinliche 
Peristaltik  sistirt.  Die  Darreichung  kann,  insofern  Erbrechen  nicht  besteht,  per 
OS  erfolgen,  sonst  in  Form  von  Suppositorien  oder  Klysmen;  eventuell  Morphin 
subcutan. 

Abführmittel  sind  im  Allgemeinen  zu  verwerfen,  nur  wenn  unz weif  el- 
h  aft  Koprostase  vorliegt,  nicht.  Hier  kann  ein  Infusum  Sennae,  Spec.  laxant. 
St.  Gertnain  in  Combination  mit  Bittersalz,  Ricinusöl  in  Anwendung  gezogen 
werden.  Wir  geben  auch  in  diesen  Fällen  der  Behandlung  per  rectum  den 
Vorzug.  Seit  jeher  wird  zur  Behandlung  dieser  specifischen  Formen  des  Ileus 
(durch  Koprostase)  auch  die  Darreichung  des  regulinischen  Quecksilbers  in 
Dosen  von  200—500,  selbst  bis  1000  gr  vielfach  gelobt.  Der  Effect  wird  nicht 
so  sehr  der  mechanischen  Wirkung,  als  einer  Durchdringung  der  obturirenden 
Kothmassen  zugeschrieben. 

Die  Behandlung  des  Ileus  wird  mit  der  Application  von  reichlichen 
Eingiessungen  (2 — 3  Liter)  mittelst  Irrigator  oder  Trichter,  welche  sich  nament- 
lich bei  tiefsitzender  Occlusion,  bei  Kothstauungen,  wiederholt  ausgezeichnet 
bewährt  haben,  eingeleitet.  Man  führt  zu  diesem  Zwecke  in  den  Mastdarm 
einen  elastischen  Schlauch  (Jacques  Patent  etwa  Nr.  22)  ein,  den  man,  wäh- 
rend das  Wasser  einfliesst  und  somit  die  untersten  Abschnitte  ausdehnt,  all- 
mälig  vorschiebt.  Die  Temperatur  des  Wassers  soll  (mit  Ausnahme  in  Fällen 
von  Invagination)  möglichst  kühl  gewählt  werden,  etwa  von  Zimmertemperatur. 
Von  manchen  Autoren  wird  Eiswasser  empfohlen,  doch  wird  dies  oft  schlecht 
vertragen.  Als  irritirende  Zusätze  ist  Kochsalz,  (1  Esslöffel  jjro  Liter  Wasser), 
Seife,  Glycerin,  Terpentinöl,  Inf.  Sennae  (ev.  Äqu.  laxativa)  u.  dgl.  zu  empfehlen. 


ENTEßOSTENOSE.  581 

Der  Druck  soll  ein  allmälig  ansteigender  sein  und  kann  der  Irrigator  bis  auf 
1-5 — 2  m  über  das  Niveau  des  Rectum  gehoben  werden. 

Wünschenswerth  ist,  dass  der  Patient  die  Flüssigkeit,  welche  sich  im 
Darm  nach  aufwärts  bewegt,  möglichst  lange  bei  sich  behält.  Doch  er- 
tragen die  Patienten  dieselbe  schlecht  wegen  des  ohnehin  bedeutenden  intra- 
abdominellen Druckes.  Die  Patienten  collabiren  leicht  während  der  Eingiessung. 
Je  länger  die  Occlusion  besteht,  umso  vorsichtiger  sind  die  Eingiessungen 
zu  machen,  da  an  der  Occlusionsstelle  auch  Perforation  entstehen  kann. 

Weniger  empfehlenswerth  als  die  Wassereingiessung  ist  Eintreibung  von 
Luft  mit  dem  Bichardson' sehen  Gehläse.  Der  mechanische  Effect  ist  ein 
gleicher  schliesslich  wie  bei  der  Eingiessung.  Die  Luft  soll  durch  den  liegen 
bleibenden  Mastdarmschlauch  wieder  abgehen.  Sehr  häufig  ist  aber  das  eben 
nicht  der  Fall  und  die  Beschwerden  des  Patienten  sind  in  Folge  der  Auf- 
blähung noch  gesteigerte.  Von  der  gleichfalls  vielfach  angewendeten  Methode 
der  Eingiessung  von  Brausepulvermischung  oder  Sodmvasser  hat  die  Luftein- 
blasung insofern  Vortheile,  als  die  Drucksteigerung  bei  der  Kohlensäure- 
Blähung  unberechenbar  ist. 

Ist  Erbrechen  eingetreten,  so  ist  die  Durchführung  einer  Magenaus- 
ivaschung  symptomatisch  von  dem  besten  Erfolg  begleitet.  Sie  wirkt  auf 
den  Kranken,  wenn  auch  im  Momente  der  Application  unangenehm,  nachher 
jedoch  sehr  beruhigend,  und  fühlt  sich  der  Patient  schon  durch  die  Entfernung 
des  zersetzten  stinkenden  Mageninhaltes  wesentlich  erleichtert.  Am  besten 
wird  zu  diesem  Zwecke  die  Ausheberung  in  der  Piückenlage  gemacht.  Zur 
Ausspülung  benützt  man  Wasser  von  Zimmertemperatur.  Es  wird  angegeben, 
dass  in  einzelnen  Fällen  in  Folge  von  reichlichen  Wassereingiessungen  sich 
auch  der  Darmverschluss  gelöst  haben  soll.  Wir  haben  in  manchen  Fällen 
gesehen,  dass  nach  der  Magenausspülung  die  Erscheinungen  soweit  gemildert 
waren,  dass  eine  gründliche  Untersuchung  und  auch  eine  exacte  Diagnose  ge- 
stellt werden  konnte,  was  früher  unmöglich  war.  Von  einzelnen  Autoren  wird 
die  Vornahme  der  Ausspülung  sogar  vor  Eintritt  des  Erbrechens  wärmstens 
empfohlen.  Die  Darreichung  von  Eispillen,  Menthol  oder  Cocain  zur  Stillung 
des  Erbrechens  erweist  sich  in  den  in  Rede  stehenden  Fällen  fast  nutzlos. 
Der  Collaps  ist  nach  den  bekannten  Principien  zu  bekämpfen. 

Von  weiteren  Behandlungsmethoden  erwähnen  wir  Bauchmassage,  Elek- 
tricität  und  Function  des  Darmes.  Die  Bauchmassage  halten  wir  für  viel  zu 
gefährlich  und  könnte  nur  bei  Feststellung  der  Obturation  durch  Kothmassen, 
Steine  u.  dgl.  in  Anwendung  gezogen  werden.  Sie  ist  von  französischen  Au- 
toren empfohlen.  Hingegen  kann  elektrische,  namentlich  intensive  faradische 
Behandlung  bei  Insufticienz  des  Darmes  (Ileus  paralyticus)  und  auch  bei  Ein- 
klemmungen  von  Nutzen  sein.  Zu  diesem  Behufe  wird  einerseits  eine  Mast- 
darmelektrode eingeführt,  andererseits  eine  breite  Elektrode  auf  das  Abdomen, 
bzw.  die  geblähte  Darmschlinge  aufgesetzt.  Die  Faradisation  soll  mit  starken 
Strömen  (allmälig  ansteigend)  und  durch  längere  Zeit,  15 — 20  Minuten,  durch- 
geführt werden.  Auch  der  Galvanisation  mit  10 — 15  Milliampere  (Kathode 
auf  der  Bauchdecke)  werden  Erfolge  zugeschrieben.  Im  äussersten  Falle  bei 
excessivem  Meteorismus  empfiehlt  es  sich  die  Function  des  Darmes  mit 
PßAVAz'schen  Nadeln  vorzunehmen.  Diese  werden  zu  diesem  Zwecke  senk- 
recht auf  die  geblähte  Schlinge  eingestossen  und  bleiben  liegen.  Man  kann 
die  Function  an  mehreren  Stellen  machen.  Die  Nadeln  sollen  weiter  nicht 
berührt  werden,  um  Einrisse  zu  vermeiden.  Soweit  bekannt,  ist  dieses  Ver- 
fahren nicht  besonders  gefährlich,  der  Erfolg  in  manchen  Fällen  ein  über- 
raschend guter  und  wird  sogar  über  Heilungen  berichtet. 

Ist  eine  bestimmte  Diagnose  gemacht  worden  und  die  Aussichtslosigkeit 
einer  weiteren  internen  Behandlung  festgestellt,  hingegen  von  einer  chirur- 
gischen ein  Erfolg  zu  erwarten,   so  tritt  diese  in  ihre  Rechte.    Ebenso  dann, 


582  ENTWÖHNUNG. 

wenn  die  interne  Beliandlimg  resultatlos  geblieben.  Den  Eingriff,  der  vorzu- 
nehmen  ist,    hat  der  Chirurg  zu  bestimmen. 

Die  Behandlung  der  chronischen  Entero  Stenose.  Im  Allgemeinen 
wird  ein  zweckentsprechendes  Regime  eingehalten  werden  müssen,  um  die 
vollständige  Verlegung  der  Stenose  zu  verhüten.  Man  wird  trachten,  eine 
möglichst  nahrhafte  eiweiss-  und  fettreiche  Kost  neben  entsprechenden  Mengen 
von  Kohlehydraten  einzuführen.  Nur  müssen  unverdauliche  Bestandtheile 
(Fruchtschalen,  Kerne  u.  dgl.),  ebenso  wie  cellulosereiche  Kost  ausgeschieden 
werden. 

In  entsprechender  Weise  muss  auf  normalen  Stuhlgang  gesehen  und 
derselbe  eventuell  künstlich  erhalten  werden,  doch  empfehlen  sich  zu  diesem 
Zwecke  weniger  Abführmittel  (von  diesen:  Rheum,  Cascara  sagrada,  Ol.  ricini, 
Tamarinden),  als  hohe  Eingiessungen.  Namentlich  Diarrhoeen  erheischen  be- 
sondere Sorgfalt,  zumal  hinter  diesen  sich  beginnende  Kothstauung  bergen  kann. 
Auch  zur  Behandlung  dieser  empfiehlt  sich  die  Application  von  Eingiessungen. 

Die  Herabsetzung  der  Peristaltik  bewirkt  am  besten  die  Wärme  (Wärm- 
flaschen, Flanellbinden).  Zur  Milderung  der  Schmerzen  kann  auch  Codein, 
event.  Opium  gegeben  werden.  Zur  Beförderung  der  Entleerungen  leisten  hier 
Massage  und  Elektricität  vorzügliche  Dienste. 

Steigern  sich  die  Erscheinungen,  so  tritt  die  Nothwendigkeit  eines  chirur- 
gischen Eingriffes  ein.  In  gewissen  Fällen,  wie  z.  B.  bei  Mastdarmstricturen, 
soll  dieser  möglichst  bald  eingeleitet  werden.  pal. 

Entwöhnung.'")  Ein  gesundes  kräftiges  Kind  von  8 — 9  Monaten,  von  der 
Mutter  oder  einer  entsprechenden  Amme  zu  entwöhnen,  ist,  wenn  das  Kind 
noch  an  keine  andere  Nahrung  gewohnt  war,  immerhin  mit  einigen  Schwie- 
rigkeiten, unter  Umständen  sogar  mit  gewissen  Gefahren  verbunden.  Die 
plötzliche  Absetzung  von  der  Brust  vorzunehmen,  ist  man  leider  wegen  Er- 
krankung der  Mutter  (fieberhafte  Erkrankung,  Pneumonie,  Pleuritis,  Typhus, 
Influenza  etc.,  profuse  Blutungen,  neuerliche  Gravidität)  und  aus  socialen 
Gründen  oft  genug  gezwungen.  In  den  heissen  Sommermonaten  erkranken 
Säuglinge  in  Folge  der  ungewohnten  und  leicht  sich  zersetzenden  Kuhmilch 
vielfach  an  mehr  oder  minder  acuten  Magen-  und  Darmkatarrhen  (Äblactations- 
diarrhoe),  die  erfahrungsgemäss  gerne  einen  colliquativen  Charakter  annehmen 
und  deshalb  für  das  weitere  Gedeihen  und  auch  für  das  Leben  des  Kindes 
von  grosser  Bedeutung  sind.  Durch  die  jetzt  im  Gebrauche  stehenden  Steri- 
lisirungsapparate,  namentlich  jenen  von  Soxhlet,  sind  die  Gefahren  der  Ent- 
wöhnung, sowie  die  der  künstlichen  Ernährung  überhaupt  wesentlich  vermindert 
worden,  doch  muss  man  immerhin  noch  manche  Vorsichtsmassregel  anwenden, 
um  einen  sicheren  Erfolg  zu  erzielen. 

Soll  ein  !■ — 9  Monate  altes  Kind  plötzlich  entwöhnt  werden,  so  ist  es 
zunächst  nothwendig,  dass  die  Nahrung  überhaupt  etwas  eingeschränkt  werde 
und  die  Kuhmilch  dem  Kinde  gehörig  sterilisirt  und  dem  Alter  entsprechend 
verdünnt  gegeben  werde.  Weiter  ist  es  als  ein  Grundsatz  zu  betrachten,  dass 
mindestens  durch  3 — 4  Wochen  an  der  einmal  dargereichten  Nahrung  nichts 
geändert  werde.  Die  Einschränkung  der  Nahrung  und  die  Gleichmässigkeit  der 
einzelnen  Bestandtheile  der  Kost  haben  den  Zweck,  eine  Ueberfüllung  des 
Magens,  sowie  Verdauungsstörungen  möglichst  zu  vermeiden,  da  beide  wäh- 
rend der  Ablactationsperiode  von  eminenter  Bedeutung  für  das  Kind  sind. 
—  Da  man  jetzt  den  Kindern  als  Ersatz  für  die  Mutter-,  resp.  Ammenmilch 
nur  Vollmilch  gibt,  so  muss  dieselbe  dem  Alter  entsprechend  verdünnt  werden. 
Neugebornen  gibt  man  1   Theil  Milch  und  2,  ja  auch  3  Iheile    Wasser,   Kin- 

*)  Vergl.  „AmmemvahV-  (Pott)  und  „Ernährung  der  Säuglinge^  (Biedert),  ds.  Bd. 
der  „Bibliothek'^. 


ENURESIS.  583 

dern  von  3 — 4  Monaten  Milch  und  Wasser  zu  gleichen  Theilen,  von  4 — 6  Mo- 
naten 2  Theile  Milch  und  1  Theil  Wasser  und  erst  von  diesem  Alter  ab  kann 
man  allmälig  zur  Vollmilch  übergehen.  Auch  wenn  ältere  Kinder  plötzlich 
abgesetzt  werden  müssen,  beginne  man  ebenfalls  mit  zu  gleichen  Theilen 
Wasser  verdünnter  Milch  aus  den  oben  angegebenen  Gründen. 

Sicherer  und  fast  ganz  ohne  Gefahr  für  das  Kind  ist  gegenüber  der  plötz- 
lichen die  all  mal  ige  Entwöhnung,  welche  Inder  grössten  Mehrzahl  der  Fälle 
stattfindet. 

Wenn  man  einen  7 — 8  Monate  alten  Säugling  entwöhnen  soll,  so  be- 
ginnt man  damit,  dass  dem  Kinde  durch  eine  Woche  statt  der  Brust  einmal 
des  Tages  Kuhmilch  in  entsprechender  Verdünnung  gegeben  werde.  Ob  nun 
das  Kind  dieselbe  nimmt  oder  nicht,  die  Brust  darf  dem  Kinde  erst  nach  der 
abgelaufenen  Zeit  wieder  gegeben  werden.  In  der  zweiten  Woche  gibt  man 
zweimal  statt  der  Brust  die  Kuhmilch  und  kann  in  der  dritten  Woche, 
vorausgesetzt,  dass  der  Stuhl  nicht  verändert  wird,  ganz  gut  schon  4 — 5mal 
des  Tages  das  Fläschchen  geben.  Von  der  vierten  Woche  angefangen  sind 
die  Kinder  als  halbabgesetzt  zu  betrachten,  und  bleibt  der  Stuhl  während  dieser 
Zeit  normal,  so  kann  man  ein  so  vorbereitetes  Kind  jederzeit  absetzen.  Nach 
dem  Absetzen  darf,  wie  erwähnt,  an  der  Nahrung  durch  längere  Zeit  nichts 
geändert  werden,  und  es  soll  dem  Kinde  nur  etwas  weniger  zugeführt 
werden. 

In  ähnlicher  Weise  geht  man  vor,  wenn  man  Kinder  von  2 — 3  Mo- 
naten von  der  Mutterbrust  wegen  zu  geringer  Milchabsonderung  absetzen 
soll.  Es  gelingt  leicht  bei  gehörig  sterilisirter  Milch  auch  Kinder  in  diesem 
Alter  an  die  künstliche  Nahrung  zu  gewöhnen.  Seit  einer  längeren  Keihe  von 
Jahren  lasse  ich  Kindern,  die  an  einer  milchreichen  Amme  trinken,  vom  dritten 
bis  vierten  Monate  an  täglich  einmal  15 — 20  Kaffeelöjfel  etwas  gesalzener  Rind- 
suppe geben  und  lasse  erst  nach  einer  Stunde  wieder  die  Brust  reichen.  Vom 
4. — 5.  Monate  an  kann  in  die  Suppe  (ohne  sog.  Grünzeug)  etwas  Tapiolm  oder 
Gries  eingekocht  werden.  Die  Kinder  vertragen  ausnahmslos  diese  Beigabe, 
werden  an  eine  andere  Nahrung  schon  frühzeitig  gewöhnt  und  es  wird  das 
Absetzen  wesentlich  erleichtert. 

Es  ist  gleichgiltig,  in  welchem  Vehikel  die  Kuhmilch  gegeben  wird,  ob 
im  Fläschchen,  Schiffchen  oder  mit  dem  Löffel.  Letztere  Art  wäre  die 
zweckmässigste,  erfordert  aber  viel  Zeit  und  Geduld.  Für  alle  -  Arten  gilt 
gleich  die  grösste  Reinlichkeit;  bei  dem  auch  für  minder  bemittelte 
Familien  leicht  verschaftbaren  SoxHLET-Apparat  ist  die  Pteinlichkeit  ohnedies 
eine  Vorbedingung  für  seinen  Gebrauch  überhaupt. 

Tritt  bei  der  Entwöhnung  irgend  eine  Störung  ein,  sei  es  Erbrechen 
oder  dyspeptische  oder  gar  enteritische  Stühle,  so  unterschätze  man  solche 
Erscheinungen  ja  nicht,  da  sie  sehr  gefährlich  werden  können.  Man  ist  leider 
oft  gezwungen  die  Entwöhnung  zu  unterbrechen  oder  aber  nach  derselben  bei 
Beginnen  der  Collapserscheinungen  wieder  eine  Amme  zu  nehmen,  welche 
aber  unter  Umständen  von  dem  Kinde  refüsirt  wird.  Man  hat  es  dann  meist 
mit  hartnäckigen  und  im  Hochsommer  gefährlichen  Darmerkrankungen  zu  thun. 

V.    HtJTTENBRENNER, 

Enuresis  (ivoupr^ai?)  das  Einpissen.  Unter  Enuresis  im  Allgemeinen 
oder  Incontinentia  urinae  versteht  man  das  Abfliessen  von  Harn  wider  Willen 
oder  ohne  Wissen  des  Kranken. 

Die  Ursachen  der  Incontinenz  des  Harnes  sind  mannigfaltig;  dieselbe  kann 
bedingt  sein  durch  alle  jene  Momente,  welche  die  Pieservoirfunction  der  Blase 
beeinträchtigen,  und  man  unterscheidet  dann: 

1.  Enuresis  mechanica;  der  Verschluss  der  Harnblase  ist  aus  mechanischen 
Ursachen    (durch    eingekeilte    Fremdkörper  oder   Steine)  unmöglich.     Weiter 


584  ENURESIS. 

kann  der  Sphincter  vesicae  durch  übermässige  Dehnung  — •  forcirte  Dila- 
tation, durch  Narbenbildungen  nach  operativen  Eingriffen  —  Seitenstein- 
schnitt,  durch  entzündliche  und  ulcerative  Processe,  durch  Tuberculose, 
durch  Neubildungen,  zerstört  werden.  In  gleicher  Weise  werden  Vesico-vaginal- 
fisteln,  sowie  abnorme  Einmündung  des  Ureters  in  die  Harnröhre  oder  in 
der  Nähe  des  Meatus  (bei  Weibern)  Ursache  der  Incontinenz. 

2.  Enuresis  spastica.  Durch  spastische  Contraction  des  M.  detrusor  wird 
der  Blaseninhalt  so  rasch  entleert,  dass  der  Kranke  nicht  im  Stande  ist  den 
Abfluss  zu  hindern. 

3.  Enuresis  'paralytica.  Wenn  der  Verschluss  der  Blase  ein  mangelhafter 
ist,  durch  Atonie  oder  Lähmung  des  Sphincters;  wohl  ist  es  auch  denkbar,  dass 
Detrusorenkrampf  sich  mit  Atonie  des  Sphincters  combinirt. 

Die  Harnincontinenz  ist  theils  eine  symptomatische,  durch  Erkrankun- 
gen des  Harnapparates  bedingte  und  diese  findet  bei  den  betreffenden  Erkran- 
kungen ihre  ausführliche  Schilderung  und  theils  eine  idiopatische  oder  essen- 
tielle und  dieser  wollen  wir  nun  unsere  Aufmerksamkeit  zuwenden.  Unter 
essentieller  Incontinenz  oder  der  Enuresis  im  Besonderen  versteht 
man  den  unwillkürlichen  Abgang  von  Harn  bei  sonst  normalem  Harnapparat. 
Diese  Form  kommt  dem  Kindesalter  zu.  Die  Symptomatologie  ist  gleichmässig  fol- 
gende. Die  sonst  gesunden  Kinder  legen  sich,  nachdem  dieselben  urinirt  haben 
zu  Bett;  nach  kurzer  Zeit  entleert  sich  die  Blase  während  des  Schlafes  unwill- 
kürlich. Manchmal  wiederholt  sich  dies  zum  zweitenmal  gegen  Morgen. 
Häufig  ist  dieses  Bettnässen  allnächtig  —  zuweilen  treten  aber  Pausen  von 
mehreren  Tagen  ein,  besonders  während  des  Sommers  — ,  bei  ungünstiger 
Jahreszeit,  aber  auch  bei  ungünstigen  Wohnungsverhältnissen  (feuchte,  kalte 
Zimmer)  kehrt  das  Bettnässen  alle  Nächte  wieder  (Enuresis  nocturna).  Nicht 
immer  bleibt  es  beim  nächtlichen  Bettnässen  allein,  sondern  es  tritt  auch 
erschwertes  Halten  des  Harnes  bei  Tag  auf.  Die  Kinder  leiden  jetzt  auch  an 
dem  unangenehmeren  ..Schidpissen]'-'  dieselben  fühlen  das  Bedürfnis  zu  uri- 
niren  und,  wenn  sie  dasselbe  nicht  sofort  befriedigen  können,  lauft  unter 
Strampfen  mit  den  Beinen  der  Urin  in  die  Beinkleider.  Das  Kind  ist  eben 
unfähig  den  Harn  zurückzuhalten,  anderen  passirt  es  auch  während  des 
Laufens  und  Springens  oder  auch  beim  Lachen  und  Niessen,  dass  der  Harn 
theilweise  abÜiesst  und  die  Wäsche  durchnässt.  Der  Verlauf  der  Enuresis 
nocturna  ist  ein  chronischer ;  der  Beginn  ist  nicht  immer  festzustellen,  weil 
dieselbe  zumeist  seit  der  frühesten  Kindheit  fortbesteht.  Seltener  tritt  die 
Enuresis  erst  später  auf,  im  5. — 7.  Lebensjahre.  In  der  Regel  verschwindet 
das  Leiden  in  der  Pubertätszeit,  manchmal  erst  gegen  das  20.  Lebensjahr. 
Die  Enuresis  kommt  gleich  häufig  bei  beiden  Geschlechtern  vor. 

Die  Erklärung  der  Enuresis  von  Seiten  der  verschiedenen  Autoren 
ist  eine  verschiedene.  Ultzmaisin's  Ansicht,  der  sich  an  Trousseau  und 
QuERSANT  anschliesst,  ist  folgende:  Im  frühesten  Kindesalter  gehen  die  Harn- 
und  Stuhlentleerungen  unwillkürlich  vor  sich.  Die  leisesten  Contractionen 
der  Blase  und  des  Darmes  genügen,  um  den  Harn  oder  Kotli  zu  Tage  zu 
fördern.  Die  Schliessmuskeln  der  Blase  und  des  Darmes  sind  um  diese  Zeit 
noch  nicht  in  voller  Thätigkelt.  Erst  nach  dem  ersten  Lebensjahr  wird  zu- 
nächst der  Koth,  später  erst  der  Harn  willkürlich  zurückgehalten.  Wenn 
aber  Kinder  nach  abgelaufenem  2.  Lebensjahre  nicht  im  Stande  sind  den  Harn 
zurückzuhalten  und  sonst  gesund  sind  (d.  h.  einen  gesunden  Harnapparat 
haben),  dann  leiden  dieselben  an  Enuresis.  Ultzmann  nimmt  an,  dass  es  sich 
bei  dieser  Form  von  Enuresis  um  eine  Neurose  handle,  —  dass  der  Schliess- 
apparat  der  Blase  viel  zu  wenig  inervirt  sei,  dass  die  Enuresis  gleichsam  ein 
Fortbestehen  des  infantilen  Zustandes  bedeute.  In  einzelnen  Fällen  kann 
es  sich  wohl  auch  um  eine  angeborene  Schwäche  des  Schliessmuskels  —  nach 
QuERSANT  —  handeln. 


ENURESIS.  585 

Allein  nicht  alle  Fälle  lassen  sich  einfach  auf  diese  Art  erklären  und  es 
gibt  ganz  bestimmt  Formen,  die  auf  eine  Hypertonicität  des  Detrusors  beruhen. 
(TßOussEAU.)  Diese  spastische  Form  der  Enuresis  wird  häufig  durch  abnorme 
Mischungsverhältnisse  des  Harnes  hervorgerufen,  Uricacidurie,  Phosphaturie, 
Oxalurie,  Diabetes  mellitus.  Fernerhin  wird  dieselbe  durch  Reflexaction  bei 
verschiedenen  Abnormitäten  der  Genitalien  und  der  Umgebung  hervorgerufen, 
so  z.  B.  durch  Phimose,  durch  abnorme  Enge  des  Meatus,  durch  Smegma- 
anhäufung  und  Verwachsungen  der  Glans  mit  dem  Präputium,  ferner  Entozoen 
im  Darme,  Polypen  und  Fisteln  im  Ptectum,  Eczema  ad  anum;  bei  Mädchen: 
Vulvitis,  Carunkeln  der  Urethra  etc.  Interessant  ist  auch  die  Beobachtung 
der  Coincidenz  der  Enuresis  nocturna  mit  Affectionen  des  Nasenrachenraumes, 
die  mit  Mundathmen  einhergehen,  und  wo  nach  operativer  Entfernung  der 
Adenoidvegetationen  die  Enuresis  sistirte. 

Nicht  zu  vergessen  ist,  dass  zuweilen  Bettnässen  beobachtet  wird  als 
erstes  und  einziges  Symptom  der  Epilepsie,  weiters  bei  Night  terrors  und 
endlich  bei  Chorea  der  Blase.  (Keyes.)  Selbstverständlich  kann  die  Enuresis 
ein  Symptom  einer  Reihe  von  Affectionen  des  Centralnervensystems  sein,  auf 
welche  wir  hier  aber  nicht  eingehen  können. 

Die  Prognose  ist  bei  Enuresis  nocturna  essentialis  im  Allgemeinen  eine 
günstige,  sie  hängt  aber  hauptsächlich  von  den  ursächlichen  Momenten  ab. 
Es  ist  demnach  für  den  praktischen  Arzt  von  allergrösster  Wichtigkeit, 
die  differentielle  Diagnose  zu  stellen,  ob  die  Enuresis  nocturna  eine 
spastische  oder  atonische,  ob  dieselbe  fernerhin  eine  centrale,  cerebrale,  spinale 
oder  periphere  -  reflectorische  ist.  Die  Beantwortung  dieser  Fragen  geschieht 
durch  die  eingehendste  Untersuchung  des  Harnes  und  durch  die  Untersuchung 
des  Kranken  selbst.  Findet  man  einen  Harn,  trübe,  eiterhaltig,  so  ist  von 
vornherein  die  Diagnose  Enuresis  fallen  zu  lassen,  es  liegt  dann  bestimmt  eine 
materielle  Veränderung  des  Harnapparates  vor.  {Pyelitis^  Lithiasis  etc.)  Allein 
auch  ein  anscheinend  normal  aussehender  Harn  muss  genauer  chemisch  und 
mikroskopisch  untersucht  werden.  Nach  vollbrachter  Harnanalyse  schreitet  man 
zur  Untersuchung  des  Kranken,  u.  zw.  zunächst  des  Unterbauches  und  der 
Genitalien,  insbesondere  inspicire  man  die  Harnröhrenmündung  und  bei  Mäd- 
chen das  Vestibulum.  Ergibt  nun  die  Untersuchung  des  Harnes  und  des  Kranken 
normale  Verhältnisse,  dann  kann  man  eine  Neurose  annehmen  im  Sinne  Ultz- 
mann's.  Es  ist  nun  die  weitere  Frage,  haben  wir  es  mit  einer  spastischen  oder 
atonischen  oder  gemischten  Form  zu  thun?  Bei  der  Untersuchung  mit  einem 
Instrumente,  besonders  aber  mit  einer  Bougie  ä  boule,  hat  man  in  der  Gegend 
des  Blasenhalses,  in  der  Pars  membranacea,  das  Gefühl  des  Festgehaltenseins, 
das  einer  gewissen  Kraftanwendung  weicht.  Dieses  Festhalten  ist  auch  mit 
einer  schmerzhaften  Sensation  verbunden.  Bei  der  essentiellen  Enuresis,  die 
durch  Atonie  der  Schliessmuskeln  bedingt  ist,  findet  man  dieses  Gefühl  des 
Festhaltens  nicht,  die  Bougie  gleitet  gleichmässig  vorwärts  bis  in  die  Blase, 
ebenso  ist  das  Schmerzgefühl  ein  geringes  und  kann  auch  ganz  fehlen.  Ferner 
ist  bei  der  Enuresis  noch  die  Entleerung  des  Harnes  zu  beobachten;  der  Harn- 
strahl ist  bei  der  spastischen  Form  ein  kräftiger  Bogen,  während,  wenn  es 
sich  um  die  atonische  Form  handelt,  der  Bogen  gering  ist  —  der  Harnstrahl 
fällt  wie  von  der  Dachrinne  herab  und  dauert  die  Harnentleerung  auch  län- 
gere Zeit. 

In  allerjüngster  Zeit  wurde  von  Freud  in  Wien  auf  ein  Symptom 
hingewiesen,  welches  etwa  in  der  Hälfte  der  Fälle  von  Enuresis  zur  Beobach- 
tung kommt ;  es  ist  dies  die  Steigerung  des  Muskeltonus  der  unteren 
Extremitäten.  —  Man  lässt  das  entkleidete  Kind  auf  einen  Tisch  mit  ausge- 
streckten Beinen  setzen,  fasst  die  Füsse  und  trachtet  nun  die  Beine  so 
weit  als  möglich  von  einander  zu  entfernen :  bei  dieser  Gelegenheit  stellt  sich 
ein  im  Beginne  starker  Widerstand  ein,  der  allmälig  abnimmt.  Dieser  Wider- 


586  ENURESIS. 

stand  ist  durch  die  Contraction  der  Abductoren  bedingt.  Lässt  man  mit  dem 
Abductionsversuch  plötzlicli  nach,  dann  nähern  sich  die  Beine  wieder  krampf- 
artig, so  dass  die  Fersen  mit  einem  oft  hörbaren  Schall  zusammenschlagen. 
Auch  der  Quadriceps  zeigt  gesteigerte  Tonus  und  Feeud  nimmt  an,  dass  in  diesen 
Fällen  auch  der  Tonus  der  Blasenmuskulatur  ein  gesteigerter  ist.  Demnach 
ist  das  FREUD'sche  Symptom  für  die  spastische  Form  ebenso  charakteristisch 
wie  das  Nichtfestgehaltensein  der  Bougie  ä  boule  für  die  atonische  Form. 

Die  Enuresis  ist  nicht  zu  verwechseln  mit  dem  sogenannten  Nachträufeln 
von  Harn  nach  stattgehabter  Harnentleerung  ;  dieser  Zustand  ist  bedingt  durch 
Störungen  der  Function  der  vorderen  Harnröhre,  insbesondere  des  Pars  bulbosa, 
u.  z.  nach  Brik  durch  Herabsetzung  des  Tonus  der  M.  bulbocavernosus  und 
der  glatten,  ringförmigen  als  auch  der  Längsmuskelfasern  der  Harnröhre. 

Die  Behandlung  der  Enuresis  nocturna  ist  eine  allgemeine,  hygienisch- 
medicinische  und  eine  locale.  Günstige  Lebensbedingungen,  gute  trockene 
Wohnung,  Landaufenthalt,  Fluss-  und  Seebäder  sind  wo  möglich  zu  empfehlen. 
Bei  anämischen  Kindern  Eisencuren.  Für  zweckmässige  Ernährung,  Vermeidung 
von  Obstipation  ist  Sorge  zu  tragen.  Häufig  wird  harte  Matratze  sehr  em- 
pfohlen. Vor  Kurzem  wurde  eine  besondere  Lage,  und  zwar  die  Beine  höher 
als  der  Kopf,  zu  dem  Zwecke  wieder  empfohlen,  damit  der  Harn  mehr  gegen  den 
Scheitel  der  Blase  als  gegen  den  Blasenhals  sich  ansammle  und  den  empfind- 
lichsten und  reizbarsten  Theil  der  Blase  nicht  treffe;  früher  schon  wurde 
aus  gleichem  Anlass  die  Bauchlage  als  Präservativ  gegen  Enuresis  angerathen. 
Hyrtl  hat  darüber  Kritik  geübt,  ein  vernünftiger  Grund  für  diesen  Ptath  lasse 
sich  gar  nicht  auffinden. 

Die  medicinische  Behandlung  besteht  in  der  Anwendung  der  Bella- 
donna Seeale  cornutum,  der  Nux  vomica,  der  Rhus  aromatica,  des  Chlorais 
und  des  Lycopodiums.  Am  meisten  hat  sich  die  Belladonna  bewährt;  sie  wurde 
zuerst  von  Trousseau  empfohlen,  u.  z.  vor  dem  Schlafengehen  in  der  Dosis 
von  0-01  Extr.  Belladonnae  aufsteigend,  bis  Erweiterung  der  Pupille  nach- 
weisbar ist.  Trousseau  hat,  wie  bereits  erwähnt,  angenommen,  dass  die 
Enuresis  durch  Hypertonicität  des  Detrusors  bedingt  ist  und  suchte  die  Reiz- 
barkeit der  Blasenschleimhaut  (die  Sensibilität  derselben)  herabzusetzen  und 
hiedurch  die  Heilung  zuwege  zu  bringen.  Diese  Anschauung  hat  gewiss  ihre  Berech- 
tigung, wenn  man  aber  die  "Wirkung  der  Belladonna  von  einem  anderen 
Gesichtspunkte  betrachtet,  so  findet  man  noch  eine  weitere  Erklärung  der 
günstigen  Wirkung  derselben. 

Es  ist  eine  bekannte  Thatsache,  dass  bei  Intoxicationen  sowohl,  als  auch 
bei  medicinischer  Anwendung  der  Belladonna,  spastische  Harnretention  nicht 
selten  zur  Beobachtung  kommt;  Ultzmann  hat  direct  vor  der  Anwendung  der 
Belladonna  bei  mit  Harndrang  einhergehenden  AÖectionen  aus  diesem  Grunde 
gewarnt.  Ferner  ist  die  Belladonna  als  ein  sehr  gutes  Mittel,  um  die  Peri- 
staltik des  Darmes  anzuregen,  bekannt,  wurde  von  Trousseau  zu  diesen 
Zwecken  empfohlen  und  wird  auch  heute  in  diesem  Sinne  mit  Erfolg  gebraucht. 
Wir  halten  die  Belladonna  für  ein  ausgezeichnetes  Tonicum  für  die  mit  glatten 
Muskelfasern  versehenen  Apparate.  Zuweilen  ist  es  auch  zweckmässiger,  die 
Belladonna  in  Form  von  Suppositorien  in  Anwendung  zu  bringen. 

Mit  dieser  Auffassung  der  Wirkung  der  Belladonna  ist  es  auch  im  Ein- 
klang, dass  die  verschiedensten  Formen  der  Enuresis  durch  Belladonnapräparate 
der  Heilung  zugeführt  werden.  Man  kann  ferner  das  Ergotin  subcutan  oder 
auch  im  Supporitorium  geben.  Die  Anwendung  von  Strychnin  und  Seeale 
cornutum  haben  weniger  Erfolg  und  Beliebtheit  gezeigt.  Das  von  Thompson 
warm  empfohlene  Chloralhydrat  ist  nur  in  spastischen  Formen  von  Erfolg.  Das 
Lycopodiiim  ist  ein  empirisches  Mittel  und  scheint  die  Reizbarkeit  des  Blasen- 
halses herabzustimmen.  Es  wird  in  Pulver  oder  als  Tinctm-,  wie  sie  die  Homöo- 
pathen verwenden,   gebraucht  zu  20  Tropfen  mehrmals  täglich. 


ENURESIS.  587 

Bei  den  atonisclien  Formen  der  essentiellen  Enuresis  ist  die  therapeu- 
tische Aufgabe  Steigerung  des  Schliessmuskelreflexes,  beziehungsweise  Kräf- 
tigung des  Muskels.  Diesen  Zweck  erreicht  man  am  besten  durch  die  so- 
genannten physikalischen  Heilmethoden,  und  zwar  durch  ihre  locale  Applica- 
tion, zunächst  durch  die  Elektricität.  Dieselbe  wurde  auch  von  verschiedenen 
Autoren  wiederholt  in  Anwendung  gebracht,  die  locale  Application  wurde 
aber  erst  von  Ultzmann  indirect,  direct  von  Guyon  benützt.  Guyon  verwendet 
elastische  B  o  u  g  i  e  s,  die  mit  einem  Metallmandrin  armirt  sind,  auf  welchem 
anschraubbare  Metalloliven  von  verschiedener  Grösse  befestigt  werden  können. 
Die  so  construirte  flexible  Elektrode  wird  in  die  Harnröhre  in  den  Schliess- 
muskel  vorgebracht,  während  die  zweite  Elektrode  auf  den  Schenkel  aufgesetzt 
wird.  Immer  soll  der  faradische  Strom  benutzt  werden,  weil  der  constante 
Strom  nur  zu  häufig  zu  Folge  seiner  chemischen  Wirkung  zu  einer  Urethritis 
oder  tieferen  Aetzung  Veranlassung  geben  kann. 

Ultzmann  hat,  gestützt  auf  chirurgische  Erfahrungen  den  Synergismus 
der  Blasen  und  Afterschliessmuskulatur  betreffend,  die  indirecte  Reizung  des 
Sphincter  in  Verwendung  gebracht.  U.  bediente  sich  eines  bleistiftdicken, 
7  cm  langen  Metallzapfens;  dieser  wird  in  den  Mastdarm  eingeführt.  Während 
die  Schwamm elektrode  auf  der  Raphe  der  Perineums  bei  Knaben,  in  der  Becken- 
falte bei  Mädchen  liegt  lässt  man  einen  anfangs  schwachen  Strom  durch  5 
Minuten  einwirken.  Später  steigert  man  die  Intensität  des  Stromes  bis  zum 
Erträglichen.  Jede  Sitzung  dauert  5—10  Minuten,  kann  täglich  vorgenommen 
werden  und  wird  durch  4 — 6  Wochen  lang  fortgesetzt. 

Der  Erfolg  der  faradischen  Behandlung  tritt  manchmal  schon  nach  der 
ersten  Sitzung  auf,  und  ist  dies  ein  Beweis,  dass  es  sich  in  diesem  Falle  um 
eine  mangelhafte  Inervation  der  Schliessapparate  der  Blase  gehandelt  hat.  Selir 
einfach  ist  die  Methode  von  Seeligmüllee;  derselbe  führt  eine  1  cm  lange 
Messingzwinge  in  die  Harnröhre,  verbindet  dieselbe  mit  der  Kathode  des  secun- 
dären  faradischen  Stromes  und  applicirt  die  Anode  als  Schwammelektrode 
über  der  Symphyse.  Erb  verwendet  auch  den  galvanischen  Strom,  u.  zw.  Anode 
auf  das  Lendenmark,  die  kleinere  Kathode  über  der  Symphyse,  dann  an  das  Peri- 
neum, ziemlich  starker  Strom  durch  2  Minuten;  zum  Schluss  faradisirt  Erb  mit  der 
Drahtelektrode  durch  1—2  Minuten.  Die  locale  Application  der  Elektricität  ist 
von  selir  gutem  Erfolge,  wo  es  sich  um  reine  essentielle  Incontinenz,  und  zwar 
um  die  atonische  Form  handelt.  Manchmal  treten  nach  der  elektrischen, 
sowie  nach  jeder  anderen  Behandlung  auch  Recidiven  auf,  dann  muss  in 
grösseren  Zwischenpausen,  etwa  alle  2 — 3  Tage,  die  Faradisation  wieder  vor- 
genommen werden. 

Aehnlich  wie  die  Elektricität  wirken  auch  andere  mechanische  oder 
thermische  Eingriffe,  die  direct  den  Schliessapparat  der  Blase  treffen  und 
die  eine  gesteigerte  Action  desselben  hervorrufen.  Hier  ist  in  erster  Reihe  das 
Einlegen  von  Metallkathetern  oder  auch  Bougies  in  die  Harnröhre  zu  erwähnen. 
Es  ist  eine  wiederholt  beobachtete  Thatsache,  dass  eine  lange  andauernde 
Enuresis  durch  den  Explorativ-Katheterismus  geheilt  wurde.  Baudelocque  und 
MoNDiERE  haben  sich  nicht  begnügt  mit  dem  einfachen  Katheterisiren,  sondern 
dieselben  machten  leichte  Bewegungen  mit  dem  Katheter,  um  den  Blasenhals 
zu  reizen. 

Diese  Methode  bildet  den  Uebergang  zur  M  a  s  s  a ge  b  e h  a  n  d  1  u  n g ,  die 
in  neuester  Zeit  nach  Teure  Brandt  ausgebildet  wurde.  Die  Resultate  sind 
auch  bei  dieser  Form  ganz  ausgezeichnete,  es  galt  hier  dieselbe  Beschränkung, 
wie  bei  der  elektrischen  Behandlung  der  Erwachsenen.  Der  Arzt  fühi't  den 
Finger  in's  Rectum,  palpirt  die  Urethra  und  verfolgt  dieselbe  bis  zum 
Blasenhalse.  Die  andere  Hand  liegt  am  Unterleib  und  trachtet  den  im 
Rectum    befindlichen    Finger    zu    tasten.     In    diesem    Momente    führt    der 


588  EPHEMERA. 

im  Rectum  befindliche  Finger  mehrere  Zitterdrückungen.  Ausserdem  sind 
noch  andere  Proceduren  empfohlen:  Widerstandsbewegungen  bei  adducirten  und 
abducirten  Knien,  Csillag  empfiehlt  nebenbei,  bei  grösseren  Kindern  und  Er- 
wachsenen, Contractionen  des  Analsphincters  vornehmen  zu  lassen,  wobei  durch 
den  bekannten  Synergismus  der  Blasen-  und  Mastdarmmuskulatur  eine  Contrac- 
tion,  d.  h.  Gymnastik  des  Schliessmuskels  resultirt.  Bei  der  spastischen  Form 
wird  eine  causale  Behandlung  anzustreben  sein,  also  bei  Phosphaturie:  Säuren, 
be  Uricacidurie :  alkalische  Therapie,  Urocedin  etc.  Abnorme  Enge  des  Urethra, 
Phimosen  und  Verwachsungen  der  Glans  mit  dem  Praeputium  sind  chirurgisch 
zu  entfernen. 

Bei  älteren  Kindern  kann  man  sich  auch,  wenn  man  sich  zu  einer 
directen  intraurethralen  Behandlung  entschliesst,  auch  der  thermischen  Sonde 
bedienen,  indem  man  kaltes   oder  recht  warmes  (33'^  R.)  Wasser  verwendet. 

Bei  sehr  hartnäckigen  Fällen,  die  vorzugweise  nach  localen  Erkrankungen 
der  hinteren  Harnröhre  als  Reflexneurose  zurückbleiben,  sowie  jenen  wohl  selte- 
nen, aber  hartnäckigen  Formen,  die  der  angeführten  Behandlung  widerste- 
hen, wird  nach  Thompson,  Guyon  etc.  durch  Instillationen  von  Nitras  argent. 
in  den  Blasenhals  Hilfe  geschaffen.  brik. 

Ephemere.  Es  gibt  eine  Reihe  krankhafter  Zustände,  die,  in  vielen 
Punkten  von  einander  abweichend,  als  gemeinsames  Haupt  Symptom  ein 
kurzdauerndes,  mehr  weniger  heftiges  Fieber  haben,  welches  bald  ganz  allein 
besteht,  bald  von  leichten  Localaffectionen  begleitet  ist.  Ueber  den  Platz  im 
Krankheitssystem,  an  welchem  diese  Affectionen  einzureihen  sind,  ist  noch 
durchaus  keine  Einigkeit  erzielt,  mithin  sind  auch  die  Bezeichnungen,  unter 
welchen  dieselben  von  verschiedenen  Aerzten  aufgeführt  werden,  sehr  mannig- 
faltige. Ephemera,  fehris  herpetica,  catarrhalis,  rheumatica,  leichte  Erkältungs- 
krankheiten (Seitz),  Status  fehrilis,  Status  gastricus  sind  im  wesentlichen  die 
dafür  gebrauchten  Ausdrücke.  Wir  fassen  aus  praktischen  Rücksichten  alle 
hierhergehörigen  Fälle  unter  der  Ueberschrift  dieses  Artikels  zusammen,  ohne 
sie  jedoch  dadurch  in  ätiologischer  Beziehung  als  einheitlich 
präjudiciren  zu  wollen. 

Die  Erkrankungen  gelangen  häufig  im  Anschluss  an  eine  Erkältung  zur 
Ausbildung,  mitunter  aber  auch,  ohne  dass  eine  äussere  Veranlassung  nach- 
zuweisen ist;  ihre  Entwickelung  geht  ziemlich  rasch  vor  sich.  Zunächst  em- 
pfinden die  Patienten  allgemeines  Unbehagen,  der  Appetit  schwindet,  Be- 
nommenheit im  Kopf,  ziehende  Schmerzen  im  Kreuz,  unangenehme  Sensationen 
in  den  verschiedensten  Gelenken  und  Muskelgebieten  treten  auf,  dazu  gesellt 
sich  eine  eigenthümliche  Empfindlichkeit  der  Haut,  verbunden  mit  Frostgefühl, 
welches,  zumal  wenn  ein  Körpertheil  kühlerer  Temperatur  vorübergehend  aus- 
gesetzt wird,  zu  leichten  Frostschauern  mit  Gänsehaut  und  Zähneklappen  sich 
steigert.  Die  Kranken  suchen  das  Bett  auf,  durch  dessen  gleichmässige  Wärme 
bald  ein  Gefühl  von  Hitze  erzeugt  wird,  welches  von  den  meisten  angenehm 
empfunden  wird.  Die  objective  Untersuchung  ergibt  ausser  belegter  Zunge, 
beschleunigtem  Pulse  und  massiger  Temperatursteigerung  nichts.  Der  Urin 
ist  vermindert,  setzt  beim_  Stehen  ein  ziegelmehlartiges  Sediment  von  harn- 
sauren Salzen  ab,  es  besteht  Widerwillen  gegen  feste  Speisen,  dagegen  häufig 
Durst  und  Neigung  zum  Schwitzen. 

Die  Temperatur  pflegt  38  bis  39^  am  ersten  Abend  nicht  zu  überschreiten, 
bei  Kindern  und  empfindlichen  Individuen  kommen  aber  auch  Steigerungen 
bis  40"  und  darüber  zur  Beobachtung.  In  den  günstigsten  Fällen  bringt  schon 
der  nächste  Tag  völlige  Genesung,  in  den  Morgenstunden  tritt  ruhiger  Schlaf 
ein,  während  dessen  die  Temperatur  unter  starkem  Schweissausbruch  kritisch 
abfällt;  die  Kranken  erwachen  mit  dem  belebenden  Gefühl  der  Gesundheit. 
Oefter  dauert  der  fieberhafte  Zustand  jedoch  noch  während  des  nächsten  Tages 


EPHEMERA.  589 

an  und.  endet  in  der  zweiten  Xaclit  kritisch;   oder  aber  der  Temperaturabfall 
ist  ein  über  mehrere  Tage  sich  hinschleppender,  lytischer. 

Die  Krankheit  kann  sich  auf  die  angefülirten,  durch  das  Fieber  bedingten 
Störungen  des  Allgemeinbefindens  beschränken;  nicht  selten  beobachtet  man 
dann  gegen  den  Abfall  oder  nach  völligem  Verschwinden  der  Temperaturstei- 
gerung das  Auftreten  einer  oder  mehrerer  Gruppen  von  Herpesbläschen  im 
Gesicht,  an  den  Lippen,  dem  unteren  Theil  der  Nase  oder  auf  den  Wangen 
(herpes  facialis,  labialis,  nasalis,  huccalis),  bei  Kindern  erlangen  dieselben  zu- 
Tveilen  eine  erhebliche  Ausdehnung.  Gewöhnlich  ist  jedoch  der  Verlauf  nicht 
so  günstig,  sondern  am  zweiten,  dritten  Tage  kommen  gewissermassen  als 
Localisation  der  Erkrankung  Schnupfen,  leichte  Entzündung  der  Mandeln  und 
der  Gaumenbögen,  geringer  Bronchialkatarrh,  Muskelrheumatismus  oder  ähn- 
liche Affectionen  zur  Entwickelung,  welche  das  Fieber  noch  einmal  zu  einem 
kurzen  Auflodern  bringen  können  und  nach  völligem  Erlöschen  desselben  noch 
einige  Zeit  fortbestehen.  Ja  mitunter  erscheinen  die  Katarrhe  erst,  wenn  die 
Patienten  fieberfrei  sind  und  ihre  Krankheit  ganz  überwunden  zu  haben  glauben. 

Für  die  Therapie  wirkt  die  Erzeugung  eines  starken  Schweisses  oft 
sehr  vortheilhaft.  Dieses  Ziel  erreicht  man  am  einfachsten  durch  Darreichung 
eines  Glases  heissen  Grogs  oder  von  ein  bis  zwei  Tassen  recht  warmen  Thees 
(Pfefferminz-,  Flieder-,  Kamillen-^  Brustthee)  kurz  vor  dem  Einschlafen.  Die 
Anwendung  der  neueren  Antipyretica  ist  ebenfalls  sehr  zu  empfehlen,  so  des 
Antipyrin  (0"5 — 1*0  pro  dosi),  Phenacetin  (0*3),  Antif ehrin  (0"25 — 0"5)  mehr- 
mals täglich,  welche,  besonders  das  Letztere,  nicht  nur  die  Temperatur  schnell 
auf  die  Norm  herabsetzen,  sondern  auch  die  durch  das  Fieber  verursachten 
lästigen  Symptome  zum  Schwinden  bringen.  Die  Localafiectionen  erheischen 
gewöhnlich  keine  besondere  Medication;  wo  eine  solche  nothwendig,  kommt 
man  mit  den  einfachsten  Mitteln  aus,  so  Gurgelungen  bei  Angina;  einem 
leichten  Expectorans  bei  Bronchitis,  Lösung  von  Salzsäure  (l'O  :  200"0)  oder 
einem  Stomachicum  bei  hartnäckigeren  Magenbeschwerden.  Piathsam  ist  es 
jedenfalls,  den  Kranken  Schonung  anzuempfehlen,  damit  die  Heilung  der  Ka- 
tarrhe nicht  durch  neuhinzutretende  Schädigungen  in  die  Länge  gezogen  wird. 

Als  die  wichtigste  Ursache  der  geschilderten  Krankheitszustände 
sind  Erkältungen  anzusehen.  Zwar  werden  dieselben  von  Aerzten  und 
Laien  sehr  häufig  missbräuchlich  genannt,  um  Unkenntnis  und  Unklarheit  zu 
bemänteln;  immerhin  ist  deshalb  der  Schluss  noch  nicht  gerechtfertigt,  dass 
dieselben  als  Krankheitsursachen  überhaupt  nicht  in  Betracht  kommen.  Die 
Thatsache,  dass  lediglich  durch  Erkältung  Krankheiten  entstehen  können,  ist 
durch  hundertfältige  Erfahrungen  aus  dem  alltäglichen  Leben  sichergestellt. 
Kühle  und  zugleich  feuchte  und  bewegte  Luft  begünstigt  das  Entstehen  der- 
selben. Der  unter  ihrem  Einfluss  sich  abspielende  Vorgang  kann  in  einer 
directen  Schädigung  der  betroff'enen  Theile  beruhen;  so  entsteht  beispielsweise 
nach  Erkältungen  der  Haut  des  Nackens  eine  rheumatische  Aff"ection  der 
Nackenmuskulatur,  ein  sogenanntes  „steifes  Genick;"  häufiger  ist  er  jedoch 
ein  reflectorischer,  indem  die  Nerven  der  betroffenen  Hautpartie  in  einen 
Erregungszustand  versetzt  werden,  welcher  nach  dem  Centrum  gelangt  und 
von  hier  einen  Entzündungsreiz  auf  andere  Körpertheile,  mit  Vorliebe  auf  den 
Locus  minoris  resistentiae  des  betreffenden  Individuums  tiberträgt.  Welcher 
Art  die  im  Nerven  ablaufenden  Erregungsvorgänge  sind,  ist  bisher  noch  durch- 
aus unbekannt. 

Für  einen  Theil  der  zu  Ephemera  zu  zählenden  Fälle  ist  eine  Erkältung 
als  Ursache  nicht  nachzuweisen.  Hier  dürften  wir  wohl  mit  der  Annahme 
einer  Infection  durch  einen  seiner  Natur  nach  noch  nicht  näher  bekannten 
KrankheitseiTeger  nicht  fehlgehen.  Dafür  spricht  besonders  die  Aelmlichkeit 
unserer  Krankheit  mit  vielen  während  der  letzten  Epidemien  beobacliteten 
abortiven  Formen  von  Influenza.     Wo  solche  Zustände  im  Verlaufe  einer  aus- 


590  EPILEPSIE. 

gedehnten  Epidemie  vorkommen,  ist  ihre  Aetiologie  ja  ohne  weiteres  klar  und 
mithin  auch  die  Bezeichnung  für  das  Krankheitsbild  gegeben,  bei  sporadischem 
Auftreten  derselben  dürfte  aber  selbst  der  geübteste  Arzt  kaum  eine  andere 
Diagnose  als  Ephemera  stellen  können. 

Bei  vielen  anderen  Infectionskrankheiten  treten  ebenfalls  mitunter  ab- 
norm leicht  verlaufende  Fälle  auf,  bei  welchen  die  charakteristischen  Merk- 
male so  abgeschwächt  und  verwischt  sind,  dass  der  richtigen  Erkenntnis  un- 
übersteigbare  Hindernisse  sich  entgegenthürmen.  Auch  diese  werden  wohl 
meistens  unter  den  obigen  Begriff  subsummirt  werden. 

Ob  der  Grund  für  den  Theil  der  geschilderten  Erkrankungen,  in  deren 
Aetiologie  Erkältung  ausgeschlossen  werden  muss,  stets  in  einer  Ansteckung 
mit  dem  abgeschwächten  Gift  einer  der  bekannten  Infectionskrankheiten  zu 
sehen  ist,  oder  cb  auch  specifische  Mikroorganismen  der  leichten 
Fieberkrankheiten  existiren,  darüber  lässt  sich  zur  Zeit  auch  nicht  ver- 
muthungsweise  ein  Urtheil  fällen.  hilbert. 

EpilepSJG.  Als  Epilepsie  bezeichnen  wir  eine  mit  Anfällen  von  Bewusst- 
seinsstörung  und  meist  auch  Krämpfen  einhergehende  Krankheit.  Aber 
so  charakteristisch  die  Anfälle  als  solche  in  ihrer  äusseren  Erscheinung  sind, 
so  wenig  sind  wir  berechtigt,  aus  einem  einzelnen  Anfalle  sofort  die  Diagnose 
Epilepsie  zu  stellen;  denn  wir  wissen,  dass  gleiche  oder  ähnliche  Anfälle  auch 
bei  anderen  Krankheiten,  allgemeiner  oder  cerebraler  Natur,  vorkommen, 
ohne  dass  man  von  Epilepsie  sprechen  könnte.  Dies  ist  nur  dann  erlaubt, 
wenn  eine  eigenthümliche,  wie  man  auch  sagt,  „epileptische  Veränderung"  des 
Gehirnes  besteht,  der  zu  Folge  periodisch  wiederkehrend  durch  Jahre  und 
Jahrzehnte  immer  wieder  epileptische  Anfälle  auftreten  nebst  anderen,  später 
zu  besprechenden  Symptomen. 

Aetiologie.  Die  Epilepsie  stellt  eine  exquisite  Degenerationsneurose  dar, 
denn  sie  befällt  nie  ein  rüstiges,  sondern  stets  nur  ein  debiles,  geschwächtes 
Nervensystem.  Diese  Debilität  des  Gehirnes  kann  eine  ererbte  sein;  vielleicht 
bei  keiner  anderen  Krankheit  ist  man  mehr  berechtigt  von  hereditären  Ein- 
flüssen zu  reden,  wie  gerade  bei  der  Epilepsie,  wenn  man  nur  berücksichtigt, 
dass  bei  den  Eltern  nicht  gerade  Epilepsie,  sondern  eine  andere  Krankheit 
aus  der  Gruppe  der  Neurosen  vorhanden  gewesen  sein  kann.  Oefters  stellt 
die  Epilepsie  schon  eine  hohe  Stufe  der  Degeneration  in  solchen  Familien  dar. 
Aber  auch  andere  schädliche,  auf  die  Eltern  einwirkende  Momente  sind  von 
Einfluss;  eine  wichtige  Rolle  spielt  hier  chronischer  Alkoholisraus  derselben 
(nach  Einigen  besonders  Rausch  während  des  ZeugungsactesV).  Die  Disposition 
für  die  Epilepsie  kann,  ohne  ererbt  zu  sein,  demnach  angeboren  oder  bei  der 
Geburt  erworben  sein;  z.  B.  durch  Krankheiten  der  Mutter  während  der  Gravi- 
dität, schwere  psychische  Emotionen  derselben,  oder  aber  durch  fötale  Hirnkrank- 
heiten, Geburtstraumen,  z.  B.  durch  Zangengeburt,  Asphyxie  u.  s.  w.  Damit 
hängt  das  häufige  Zusamimentreffen  schwerer  Hirnlähmungen  der  Kinder  mit 
Epilepsie  zusammen.  Die  Disposition  für  die  Epilepsie  kann  aber  auch 
später  durch  Momente  bedingt  werden,  denen  es  gemeinsam  ist,  dass  sie  die 
Ernährung  des  Hirnes  schädigen,  z.  B.  überstandene  Meningitis,  Typhus  ins- 
besondere mit  schweren  cerebralen  Symptomen,  wie  überhaupt  eine  grosse  Zahl 
acuter  Infectionskrankheiten,  Schädeltraumen  u.  s.  w.  Alle  die  genannten 
Schädlichkeiten  führen  meist  nicht  direct  zur  Epilepsie,  sie  bedingen  blos 
eine  eigenthümliche  Veränderung  des  Hirns,  in  Folge  deren  dann  nach  einer 
gewissen  Pause  Epilepsie  auftritt.  Ein  wichtiges  ätiologisches  Moment  ist 
chronischer  Alkoholismus;  insbesondere  scheinen  gewisse  Schnapssorten  einen 
deletären  Einfluss  zu  ül)en  (in  Frankreich  der  beliebte  Absinth,  Absinthepilepsie, 
auch  experimentell  erzeugt).  Aber  auch  die  bei  uns  üblichen  Alkoholsorten 
wirken  in  gleicher  Richtung,  so  dass  auch  bei  uns  die  Alkoholepilepsie  durch- 


EPILEPSIE.  591 

aus  nicht  selten  ist;  ja  man  kann  sagen,  dass  in  jedem  Falle,  wo  die  Epi- 
lepsie erst  in  vorgerücktem  Alter  aufgetreten  ist,  der  Verdacht  auf  chronischen 
Alkoholismus  als  Ursache  derselben  vollauf  berechtigt  ist.  Von  anderen  toxischen 
Substanzen,  die  in  gleicher  Weise  wirken,  wäre  allenfalls  noch  Blei  zu  nennen. 
Von  grosser  ätiologischer  Bedeutung  ist  die  Syphilis,  die  in  mehrfacher  Weise 
zur  Epilepsie  führen  kann,  einmal  in  Form  der  sogenannten  jACKSON'schen 
Epilepsie  durch  circumscripte  Erkrankungen  des  Hirns,  aber  auch  ohne  solche 
in  Folge  der  allgemeinen  Infection,  wie  neuerer  Zeit  gezeigt  wurde.  Bei 
schweren  cerebralen  Läsionen  finden  sich  öfters  epileptiforme  Anfälle,  jedoch 
kommt  ihnen  hier  nur  eine  symptomatische  Bedeutung  zu.  Andere  Momente 
spielen  bei  der  sogenannten  Keflexepilepsie  eine  wichtige  ätiologische 
Rolle;  so  kann  sich  in  Folge  peripherer  Verletzungen,  insbesondere  solcher  der 
Nerven,  dann  auch  durch  andere  Organerkrankungen,  z,  B.  des  Darmes,  des 
Ohres  allmälig  Epilepsie  entwickeln,  die  oft  noch  nach  Entfernung  der 
Ursachen  fortbestehen  bleibt. 

Anderen  oft  genannten  Umständen,  wie  z.  B.  Excessen  in  venere  u.  s.  w. 
kommt  nur  eine  secundäre  Bolle  zu;  sie  wirken  nur  bei  bereits  bestehender 
Disposition.  Noch  mehr  gilt  dies  von  anderen  Schädlichkeiten,  die  wir  direct 
nur  als  gelegentlich  auslösende  Momente  bezeichnen  können.  In  erster  Linie 
wären  hier  zu  nennen  schwere  psychische  Emotionen,  z.  B.  Schreck,  das  Sehen 
eines  Anfalles  u.  s.  w.  Es  ist  unzweifelhaft,  dass  nach  solchen  Affecten  öfters 
der  erste  epileptische  Anfall  auftritt;  dies  geschieht  aber  nur  bei  disponirten 
Individuen,  bei  denen  die  mit  dem  AÖecte,  denselben  oft  noch  lange  über- 
dauernde Alteration  der  Gehirncirculation  den  ersten  Anfall  auslöst.  Damit 
ist  dann  für  die  weiteren  Anfälle  der  Weg  gebahnt. 

Was  das  Alter  betrifft,  in  dem  die  Krankheit  zuerst  auftritt,  so  schwan- 
ken hierüber  die  Angaben.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle  kommt  jedoch  die  Krank- 
heit in  einer  frühen  Altersperiode  zum  Ausbruche,  schon  in  der  Kindheit  ist 
ihr  Auftreten  ein  sehr  häufiges.  Wir  werden  dies  begreiflich  finden,  wenn  wir 
an  die  eben  angegebenen  ätiologischen  Momente,  insbesondere  die  Wichtigkeit 
der  hereditären  Veranlagung  denken.  Dabei  ist  freilich  zu  bedenken,  dass  auch 
bei  hereditärer  Anlage  die  Krankheit  nicht  schon  in  der  Kindheit  auftreten 
muss,  sondern  ihr  erstmaliges  Erscheinen  sich  hinausschieben  kann.  Hier 
spielt  dann  besonders  die  Pubertät  eine  wichtige  Rolle.  Aber  auch  im  späteren 
Alter  ist  das  Auftreten  der  Epilepsie  nicht  gerade  extrem  selten.  Beide 
Geschlechter  dürften  ziemlich  gleich  stark  betroffen  werden,  nach  einigen  An- 
gaben wäre  das  weibliche  Geschlecht  etwas  häufiger  befallen. 

Symptome.  In  der  Beschreibung  der  Symptome  wollen  wir  von  den 
Anfällen  als  dem  schwerwiegendsten  Momente  ausgehen.  Je  nach  der  Schwere 
und  der  äusseren  Form  der  Anfälle  unterscheidet  man  mehrere  Arten  der- 
selben. Bei  demselben  Individuum  wiederholt  sich  meist  dieselbe  Art  von  An- 
fällen, jedoch  wechseln  auch  häufig  genug  Anfälle  verschiedener  Form  unter- 
einander ab. 

Epilepsia  gravis  {Grand  mal).  Darunter  versteht  man  die  vollständig 
ausgebildeten  mit  Bewusstlosigkeit  und  ausgedehnten  Muskelkrämpfen  einher- 
gehenden Anfälle.  Der  Verlauf  derselben  ist  kurz  zusammengefasst  derart,  dass 
nach  einem  kurzen  Vorläuferstadium,  Aura,  der  manchmal  nochProdromalerschei- 
nungen  vorangehen,  der  Kranke  bewusstlos  zusammenstürzt;  es  treten  dann 
Krämpfe,  zuerst  tonischer,  dann  clonischer  Art  auf.  Der  Anfall  schliesst  mit 
einem  soporösen  Stadium,  das  oft  mit  Schlaf,  manchmal  auch  mit  psychischen 
Alterationen  beendigt  wird. 

Im  Einzelnen  betrachtet,  lässt  sich  sagen,  dass  eigentliche  Prodromal- 
er seh  einungen  nicht  gerade  häufig  sind.  Sie  bestehen  in  vagen  Empfin- 
dungen an  verschiedenen  Körpertheilen,  einem  Gefühl  von  Unwohlsein,  manch- 
mal auch  leichten  psychischen   Aenderungen,  Reizbarkeit  u.  s.  w.  Meist  sind 


592  EPILEPSIE. 

die  Prodromalerscheinungen,  deren  Dauer  von  einigen  Minuten  bis  zu  mehreren 
Stunden,  ja  selbst  1 — 2  Tage  wechselt,  bei  demselben  Kranken  vor  jedem  An- 
falle dieselben,  so  dass  derselbe  oft  das  Nahen  eines  Anfalles  merkt.  Be- 
deutungsvoller ist  die  Aura,  die  wir  schon  zum  Anfalle  zu  rechnen  haben. 
(Der  Name  Aura,  Windhauch,  rührt  von  Galenus  her;  manche  der  Kranken 
sollen  einen  vom  Unterleib  zum  Kopfe  aufsteigenden  Hauch  verspüren).  Mcht 
jeder  Anfall  hat  eine  Aura  (nach  Gow^ers  etwa  die  Hälfte);  meist  ist  es  so, 
dass  einzelne  Kranke  bei  jedem  Anfalle  eine  Aura  haben,  andere  wieder 
niemals.  Interessant  und  auch  für  die  Pathologie  des  epileptischen  Anfalles 
wichtig  ist  es,  dass  derselbe  Kranke  beinahe  immer  dieselbe  Aura  hat.  Die 
Erscheinungen  der  Aura  sind  sehr  mannigfach,  wir  können  eine  sensible, 
sensorielle,  vasomotorische,  motorische  und  psychische  Aura  unterscheiden; 
manchmal  freilich  finden  sich  mehrere  Formen  untereinandergemengt.  Zu 
unterscheiden  wäre  noch  eine  einseitige  und  beiderseitige  Aura.  Die  sen- 
sible Aura  besteht  aus  verschiedenartigen,  meist  unangenehmen  Empfindungen 
an  verschiedenen  Körpertheilen,  Parästhesien  an  den  Extremitäten  oder  dem 
Kopfe,  Gefühl  von  Zusammengeschnürtsein,  von  Druck  oder  Schmerz  im  Epi- 
gastrium,  Gefühl  von  Schwindel  u.  s.  w. 

Sehr  häufig  und  interessant  ist  die  sensorielle  Aura,  Erscheinungen 
im  Gebiete  eines,  seltener  mehrerer  Sinnesnerven.  Am  häufigsten  sind 
solche  visueller  Natur,  das  Sehen  von  Feuerschein,  feurigen  oder  farbigen 
Lichtern  und  Kreisen.  Die  Erscheinungen  können  aber  auch  complicirterer 
Natur  sein;  so  sehen  manche  Kranke  Gestalten,  meist  mit  bedrohlichen 
Mienen  und  Gebahren  u.  s.  w.  Ziemlich  häufig  ist  auch  eine  acustische  Aura; 
auch  hier  hören  die  Kranken  entweder  einfache  Geräusche  oder  Töne,  oder 
sie  hören  Worte,  Melodien  u.  s.  w.  Selten  ist  eine  Aura  auf  dem  Gebiete  der 
anderen  Sinnesnerven,  Geruchsempfindungen,  meist  unangenehmer  Natur,  Ge- 
schmacksempfindungen. Als  vasomotorische  Aura  ist  das  Auftreten  von 
vasomotorischen  Störungen,  Erblassen  oder  Erröthen  an  bestimmten  Körper- 
partien, Auftreten  von  Schweiss  u.  s.  w.  zu  bezeichnen.  Die  motorische 
Aura  ist  gekennzeichnet  durch  das  Auftreten  leichter,  einfacher  Bewegungen 
an  den  Extremitäten  oder  der  Kopf-  und  Halsmuskulatur.  In  seltenen  Fällen 
werden  auch  compliciiiere  Bewegungen  ausgeführt,  so  laufen  manche  Kranke 
im  Beginne  des  Anfalles  oder  drehen  sich  um  ihre  Axe  (Epilepsia  cursoria 
et  rotatoria).  Als  psychische  Aura  endlich  bezeichnet  man  Alterationen 
der  Psyche  in  Form  von  Erregungszuständen,  Furcht  und  Angst,  Wahnvor- 
stellungen u.  s.  w. 

Nicht  jeder  Aura  braucht  ein  wirklicher  Anfall  zu  folgen;  manchmal  ist 
derselbe  mit  der  Aura  abgethan.  In  seltenen  Fällen  lässt  sich,  wie  wir  noch 
zu  erwähnen  haben  werden,  durch  gewisse  Manipulationen  der  Anfall  in  der 
Aura  abschneiden. 

Die  Dauer  der  Aura  ist  eine  verschiedene,  meist  ist  sie  jedoch  nur  ganz 
kurz  ;  unter  Umständen  hat  der  Kranke  noch  soviel  Zeit  und  Besinnung,  um 
sich  für  den  beginnenden  Anfall  vorzubereiten.  Der  Kranke  stürzt 
plötzlich  bewusstlos  zusammen.  Das  Hinstürzen  erfolgt  oft  so  plötzlich 
und  vehement,  dass  sich  d_er  Kranke  wegen  der  Bewusstlosigkeit  hiebei  schwer 
verletzen  kann.  Schwere  Gefahren  können  auch  dann  entstehen,  wenn  der 
Kranke  ins  Feuer  stürzt,  sich  verbrüht  oder  ins  Wasser  stürzt;  bei  dem 
bewusstlosen  Zustande  genügt  es  oft,  wenn  er  mit  dem  Gesichte  in  eine  Lache 
fällt,  um  Erstickung  herbeizuführen.  Manche  der  Kranken  stossen  im  Be- 
ginne des  Anfalles  einen  „schrecklichen"  Schrei  aus.  Stets  aber  bedeckt 
Leichenblässe  das  Gesicht  des  Kranken.  Nun  beginnt  das  Stadium  der 
Krämpfe.  Dieselben  sind  zunächst  tonischer  Natur.  Der  Kopf  wird  nach 
hinten  gebeugt,  die  Kiefer  fest  aneinander  gepresst,  manchmal  besteht  conju- 
girte  Abweichung  des  Kopfes  und  der  Augen,  der  Ptumpf  nimmt  Opisthotonus- 


EPILEPSIE.  593 

stelluDg  ein,  die  Extremitäten  sind  meist  gestreckt,  die  Finger  gebeugt,  der 
Daumen  in  die  Hohlhand  gesclilagen.  Auch  die  Respirationsmuskeln  gerathen 
in  tonische  Krämpfe,  wodurch  die  Athmung  stark  behindert  wird  und  die 
anfängliche  Blässe  einer  immer  stärker  werdenden  Cyanose  Platz  macht.  Der 
Stillstand  der  Athmung  kann  ein  sehr  bedrohliches  Aussehen  bedingen,  wie- 
wohl eigentliche  Gefahr  hieraus  beinahe  nie  resultirt.  Nach  verschieden 
langer  Dauer,  die  aber  selten  Vg  Minute  übersteigt,  folgt  ein  Stadium 
clonischer  Krämpfe  der  verschiedensten  Art,  u.  z.  mit  ganz  colossaler 
Heftigkeit,  so  dass  Fracturen  und  Luxationen  erfolgen  können.  Meist  sind 
beide  Seiten  gleich  betheiligt,  jedoch  sind  hier  auch  w^eit gehende  Differenzen 
möglich.  Die  Cyanose  wird  immer  stärker,  es  kann  zu  kleinen  Blutungen 
an  der  Haut  und  den  Schleimhäuten  kommen,  denen  eine  grosse  diagnostische 
Bedeutung  zukommt.  Die  Zunge  wird  kramplliaft  zwischen  den  Kiefern  vor- 
geschoben, wodurch  es  sehr  leicht  zu  Verletzungen  kommt,  der  diagnostisch 
wichtige  Zungenbiss;  es  wird  massenhaft  Schaum,  der  durch  die  Zungen- 
verletzung eine  blutige  Färbung  bekommt,  durch  Mund  und  Nase  entleert. 
Durch  krampfhafte  Contraction  der  Bauch-  und  Blasenmusculatur  kommt  es 
oft  zur  Entleerung  von  Harn  und  Koth.  Bezüglich  der  Pupillen  hat  man  die 
Erfahrung,  dass  deren  Verhalten  zu  Beginn  zu  schwanken  scheint ;  im  Verlaufe 
des  Anfalls  sind  sie  jedoch  dilatirt  und  vollständig  reactionslos.  Es  wäre  noch 
zu  bemerken,  dass  die  beiden  Stadien  der  Krämpfe  nicht  immer  voll  ausge- 
bildet sind  und  manchmal  in  abgekürzter  Form  untereinander  gemengt  sind. 

Nach  einer  Dauer  von  1 — 1^2  Minuten  lassen  im  vollentwickelten  An- 
falle die  clonischen  Krämpfe  allmälig  nach,  der  Kranke  kommt  in  das  so  po- 
röse Stadium.  Es  herrscht  noch  schwere  Bewusstseinstrübung,  aus  der  der 
Kranke  nur  schwer  und  für  kurze  Zeit  etwas  erweckt  werden  kann,  eine  all- 
gemeine Relaxation  der  Glieder  tritt  ein.  Endlich  kommt  der  Kranke  matt 
und  müde  zu  sich,  verfällt  oft  in  einen  mehrstündigen  Schlaf,  aus  dem  er 
dann  bei  vollem  Bewusstsein  erwacht.  Für  den  ganzen  Anfall  vom  Hinstürzen 
bis  zum  Erwachen  besteht  totale  Amnesie.  (Auf  die  im  Gefolge  der  Anfälle 
häufig  auftretenden  psychischen  Anomalien  kommen  wir  später  zu  sprechen.) 

Als  Nachwehen  des  Anfalles  bleiben  noch  längere  Zeit  eine  gewisse  all- 
gemeine Schwäche  und  Unsicherheit,  ein  Gefühl  von  grosser  Müdigkeit  zurück. 
Seltener  sind  vorübergehende  Anästhesien,  leichte  Paresen;  öfters  findet  sich 
vorübergehende  concentrische  Gesichtsfeldeinschränkung.  Die  Körpertemperatur, 
die  während  des  Anfalls  um  0-5*'  steigen  kann,  ist  nach  dem  Anfalle  normal. 
Im  Harne  finden  sich  häufig  Spuren  von  Eiweiss,  das  Vorkommen  von  Zucker 
ist  zweifelhaft. 

Unter  Umständen  ist  es  mit  einem  Anfalle  nicht  abgethan,  sondern  an 
das  soporöse  Stadium  des  ersten  Anfalles  schliesst  sich  ein  zweiter  und  dann 
weitere  an,  Status  epilepticus,  Etat  de  mal.  Man  kann  so  bis  zu  20  und 
noch  mehr  Anfällen  zählen.  Oft  sind  dabei  die  Anfälle  nicht  voll  entwickelt, 
in  den  Zwischenzeiten  ist  der  Kranke  in  tief  soporösem  Zustande.  Der 
Status  epilepticus  ist  ein  gefahrdrohender  Zustand;  es  kommt  hiebei  zu 
Temperatursteigerung  (selbst  bis  zu  40°);  in  schweren  Fällen  tritt  durch 
Erstickung  oder  Erschöpfung  Exitus  letalis  ein.  Aber  auch  bei  günstigem 
Ausgange  bleibt  für  längere  Zeit  eine  starke  Störung  des  Wohll)efindens 
zurück. 

Epilepsia  mitior  (Petit  mal).  Von  vornherein  sei  es  betont,  dass 
diese  Form  der  Epilepsie  prognostisch  dm^chaus  nicht  günstiger  aufzufassen 
ist,  als  die  Epilepsia  gravior;  das  Leiden  ist  gleich  schwer,  wozu  noch  kommt, 
dass  häufig  Anfälle  von  Epilepsia  gravior  und  mitior  miteinander  abwechseln. 
Es  ist  das  umsomehr  zu  beachten,  als  die  Kranken  sich  oft  des  Ernstes  der 
Sachlage  nicht  bewusst  sind,  an  die  Zugehörigkeit  ihrer  Anfälle  zur  Epilepsie 
gar  nicht  denken,  sondern  von   Ohnmächten  oder  Schwindel  reden.     Li   ihrer 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  "O 


594  EPILEPSIE. 

äusseren  Ersclieinung  freilich  sind  die  Anfälle  der  Epilepsia  mitior  viel  milder 
als  die  grossen  Anfälle.  Charakteristisch  für  die  Anfälle  ist  auch  hier  die 
Bewusstlosigkeit,  oft  allerdings  nur  von  ganz  kurzer  Dauer.  Der  Kranke 
hält  plötzlich  in  seiner  Beschäftigung  inne,  lässt  den  Gegenstand,  den  er  trägt, 
fallen,  stockt  mitten  in  der  Rede,  starrt  wie  geistesabwesend  in  die  Luft 
{Ähsence),  oder  er  fährt  ganz  mechanisch  in  seiner  Arbeit  fort  und  macht 
geradezu  unsinnige  Dinge.  Manchmal  finden  sich  während  des  Anfalles  leichte 
Zuckungen  in  verschiedenen  Muskelgebieten,  die  aber  in  nichts  den  Charakter 
der  schweren  Krämpfe  der  Epilepsia  gravior  an  sich  tragen.  Damit  ist  der 
Anfall  vorüber;  nach  kurzer  Dauer  (einige  Secunden)  kommt  der  Kranke  zu 
sich,  schaut  verwundert  umher  und  nimmt  seine  Beschäftigung  da,  wo  er 
sie  unterbrochen,  wieder  auf.  Die  Zwischenzeit  ist  eine  vollständige  Lücke 
für  ihn.  Manche  der  Anfälle  unterscheiden  sich  wenig  von  einem  gewöhn- 
lichen Schwindel-  oder  Ohnmachtsanfalle. 

Die  Häufigkeit  der  Anfälle  bei  beiden  Formen  wechselt  ungemein.  Es 
gibt  Kranke,  die  zwischen  den  einzelnen  Anfällen  Wochen-,  Monate-,  ja  selbst  ein 
Jahr  lange  Pausen  haben.  Andere  Kranke  haben  wieder  jede  Woche,  jeden 
Tag  einen  Anfall,  selbst  jeden  Tag  mehrere  und  das  bisweilen  durch  län- 
gere Zeit.  Auch  beim  einzelnen  Kranken  ist  die  Häutigkeit  der  Anfälle  oft 
recht  wechselnd,  ohne  dass  sich  ein  genügender  Grund  für  diese  Differenzen 
angeben  Hesse.  Man  weiss  nur,  dass  gewisse  Momente  einen  schädlichen 
Einfluss  ausüben,  vor  Allem  Excesse  in  baccho  und  venere,  das  Auftreten  der 
Periode  beim  weiblichen  Geschlecht;  auch  starke  Barometerschwankungen  hat 
man  in  dieser  Richtung  beschuldigt.  Acute  Krankheiten,  insbesondere  aber  chi- 
rurgische Eingriffe  bewirken  meist  eine  vorübergehende  Verminderung  der  An- 
fälle. Auch  die  Tageszeit,  zu  der  die  Anfälle  auftreten,  wechselt  bei  verschiedenen 
Kranken  und  beim  selben  Kranken  sehr;  manche  der  Kranken  haben  ihre 
Anfälle  nur  Nachts,  was  der  Diagnose  grosse  Schwierigkeiten  machen  kann, 
da  der  Kranke  und  auch  seine  Umgebung  unter  Umständen  nichts  vom 
Vorhandensein  der  Anfälle  wissen. 

Im  Anschlüsse  an  die  geschilderten  typischen  Anfälle  der  Epilepsia 
gravior  und  mitior  sei  noch  kurz  auf  einige  Formen  des  epileptischen  An- 
falles hingewiesen,  von  denen  besonders  eine  in  neuerer  Zeit  grosse  Bedeutung 
erlangt  hat,  es  ist  dies  die  sogenannte  Jacksoirsche  Epilepsie.  Das 
Charakteristische  derselben  liegt  darin,  dass  der  Krampf  stets  in  einem  be- 
stimmten Gliede  beginnt  und  sich  von  hier  aus  in  bestimmter  Weise  aus- 
breitet. Diese  Ausbreitungsweise  stimmt  genau  überein  mit  der  Lage  der 
motorischen  Rindencentra  zu  einander.  Beginnt  z.  B.  der  Krampf  in  einer 
unteren  Extremität,  so  wird  dann  die  obere  Extremität  der  gleichen  Seite,  die 
gleichseitige  Gesichts-  und  Kopfmusculatur  ergriffen,  worauf  allenfalls  noch  die 
andere  Seite  in  die  Krämpfe  einbezogen  wird.     . 

Unter  Umständen  bleibt  aber  der  Krampf  auf  ein  Glied  beschränkt 
(partielle  Epilepsie).  Das  Bewusstsein  bleibt  meist  zu  Beginn  der  Krämpfe 
erhalten  und  geht  erst  im  weiteren  Verlaufe,  manchmal  nur  bei  ausgedehnteren 
Krämpfen  verloren.  Bisweilen  bleibt  nach  dem  Anfalle  eine  Parese  des  zuerst 
befallenen  Gliedes  zurück.  Die  Wichtigkeit  dieser  Form  von  Anfällen  liegt 
nach  der  diagnostischen  und  pathologischen  Seite.  Man  kann  nämlich  annehmen, 
dass  das  motorische  Centrum  jenes  Gliedes,  wo  der  Krampf  beginnt,  pathologi- 
sche Veränderungen  zeigt  u.  zw.  gewöhnlich  grobanatomischer  Natur  (Tumor, 
Erweichungen,  traumatische  Veränderungen  u.  s.  w.);  andererseits  bietet  diese 
Form  grosse  Analogien  zu  der  experimentell  bei  Thieren  durch  elektrische 
Reizung  der  Hirnrinde  erzeugten  Epilepsie.  Die  jACKSOx"sche  Epilepsie  ent- 
spricht also  nicht  der  idiopathischen  oder  genuinen  Epilepsie,  sie  weist  vielmehr 
auf  organische  Erkrankungen  des  Gehirnes,  speciell  der  Gehirminde  hin.  Es 
mag  jedoch  erwähnt  sein,  dass  in  seltenen  Fällen  auch  bei  der  genuinen  Epi- 


EPILEPSIE.  595 

lepsie  oder  bei  Intoxication  (Urämie)  der  Jackson' sehen  Epilepsie  ähnliclie 
Anfälle  auftreten.  Endlich  sei  noch  erwähnt,  dass  es  eine  partielle  Epilepsie 
gibt,  bei  der  das  befallene  Glied  keine  Krämpfe  zeigt,  sondern  l)los  der  Sitz 
sensibler  Reizerscheinungen  ist.  Oefters  combiniren  sich  diese  Formen  mit 
vorübergehender  Ägraphie^  Aphasie,  Migräne  ophthalmique  u.  s.  w.,  die  unter 
Umständen  allein  einen  Anfall  solcher  partieller  Epilepsie  ausmachen  sollen. 

Wir  haben  bereits  erwähnt,  dass  die  epileptischen  Anfälle  allein  nicht  das 
Wesen  der  Epilepsie  ausmachen,  sondern  dass  sie  nur  der  Ausdruck,  das  auf- 
fallendste Kennzeichen  eines  eigenthümlichen  Zustandes  des  Gehirnes  sind, 
der  passender-  oder  unpassenderweise  gewöhnlich  als  epileptische  Veränderung 
bezeichnet  wird.  Dies  wird  uns  erwarten  lassen,  dass  wir  auch  ausserhalb 
der  Anfälle  gewisse  krankhafte  Zeichen  vorfinden  dürften.  Ziemlich  häufig  finden 
sich  körperliche  Degenerationszeichen  bei  Epileptikern,  Schädelmissbildungen, 
Assymetrien  des  Gesichtes,  Anomalien  an  den  Extremitäten,  den  Ohren,  den 
Genitalien,  an  den  Zähnen,  Strabismus  u.  s.  w.  Viele  derselben  sind  freilich 
nicht  der  Ausdruck  der  Epilepsie,  sondern  der  schweren  allgemeinen  Degene- 
ration, sind  mithin  der  Epilepsie  coordinirt.  Bei  jenen  Epileptikern,  bei  denen 
sich  die  Epilepsie  auf  Grundlage  schwerer,  angeborener  oder  erworbener  or- 
ganischer Hirnkrankheiten  entwickelt  hat,  werden  natürlich  die  diesen  Lä- 
sionen entsprechenden  Symptome,  Lähmungen,  Atrophien  u.  s.  w.  vorhanden 
sein. 

Wichtiger  sind  die  psychischen  Veränderungen  derEpileptiker, 
die  selten,  insbesondere  bei  längerem  Bestände  der  Krankheit  fehlen.  (Es  wird 
zwar  stets  auf  einzelne  berühmte  Männer  hingewiesen,  die  Epileptiker  waren 
und  doch  bis  zu  ihrem  Ende  ihre  volle  Intelligenz  behielten;  das  sind  aber 
seltene  Ausnahmen,  bei  einzelnen  derselben,  z.  B.  Mohammed,  ist  übrigens  die 
Epilepsie  sehr  unwahrscheinlich.)  Als  selbstredend  kann  es  gelten,  dass 
Epileptiker  mit  angeborenen  oder  früherworbenen  Hirn-  und  Schädelmiss- 
bildungen psychische  Defecte  aufweisen;  hier  besteht  meist  Idiotie  oder  mehr- 
minder weitgehender  Schwachsinn.  Aber  auch  sonst  stellen  sich  im  Verlaufe 
der  Krankheit  psychische  Anomalien  ein,  und  zwar  wie  es  scheint,  umso  inten- 
siver, je  früher  die  Krankheit  aufgetreten  ist  und  je  zahlreicher  die  Anfälle  — 
gleichgiltig  ob  grand  oder  petit  mal  —  sind.  Dieselben  machen  sich  oft  zu- 
nächst in  der  ethischen  Seite  des  Seelenlebens  geltend.  Die  Kranken  werden 
roh,  feineren  Regungen  des  Gefühlslebens  unzugänglich,  sie  verlieren  oder 
sie  gewinnen  nie  die  Einsicht  in  die  vielfachen  und  complicirten  Beziehungen 
unseres  „secundären  Ichs''  nach  Meynert.  Sie  sind  ausgesprochene  Egoisten, 
die  um  einen  kleinen  Vortheil  zu  erringen,  zu  allem  bereit  sind.  Zugleich 
macht  sich  oft  reizbare  Verstimmung  geltend.  Ihr  Charakter  ist  schwankend, 
unberechenbar.  Freilich  sind  nicht  alle  Epileptiker  so,  wie  eben  geschildert; 
es  gibt  welche  unter  ihnen,  die  durchaus  nicht  ethisch  depravirt  erscheinen, 
sondern  ganz  gut  das  Mittelmaass  erreichen.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle  leiden 
auch  die  intellectuellen  Fähigkeiten,  —  das  Gedächtnis  wird  schwach,  die 
Kranken  sind  nicht  im  Stande,  höhere  psychische  Arbeit  zu  leisten,  in  höheren 
Graden  sind  sie  nicht  mehr  fähig,  ihrer  gewöhnlichen  Beschäftigung  nachzu- 
kommen, was  sich  bis  zu  bedeutenden  Graden  von  Demenz  und  Schwach- 
sinn steigern  kann.  Manchmal  finden  sich  auch  leichte  Wahnvorstellungen, 
Grössenideen  oder  umgekehrt  Verfolgungsideen,  öfters  mit  überwiegender  Be- 
tonung religiöser  Vorstellungen.  Am  meisten  leidet  natürlich  die  Intelligenz 
dann,  wenn  die  Epilepsie  bereits  in  der  Kindheit  aufgetreten  ist,  w^ozu  der 
Umstand  kommt,  dass  bei  solchen  Kranken  sich  meist  der  Schulbesuch  und 
das  Erlernen  irgend  eines  Gewerbes  von  selbst  verbietet.  Solche  Individuen 
gehören  dann  in  eine  Pflegeanstalt,  wo  sie  in  den  einfachen  Verhältnissen  ganz 
brauchbare  Subjecte  darstellen  können. 

38* 


596  EPILEPSIE. 

Pathologische  Anatoniie  und  allgemeine  Pathologie.  Mit  Ausnahme  jener  Fälle, 
die  sich  auf  Grundlage  schwerer  organischer  Hirnveränderungen  entwickeln,  sieht  es  mit 
der  pathologischen  Anatomie  der  Epilepsie  recht  schlecht  aus.  Bei  der  Mehrzahl  der 
Fälle  findet  man  bei  der  Obduction  trotz  sorgfältiger  makro-  und  mikroskopischer  Unter- 
suchiing  nichts,  was  uns  einen  sicheren  Hinweis  auf  das  Wesen  des  Processes  geben 
würde.  In  einzelnen  Fällen  findet  man  gewisse  Veränderungen  leichterer  Art,  auf  die  wir  hier 
nicht  näher  eingehen  wollen,  von  denen  aber  einzelne  z.B.  eine  gewisse  Atrophie  und  Gewichts- 
abnahme des  Gehirnes  mehr  auf  Rechnung  des  Alters  des  Individuums  kommen,  andere 
z.  B.  die  von  Chaslin  behauptete  Sclerose  nevroglique  noch  zweifelhaft  sind.  Welche 
Bewandtnis  es  mit  der  zuerst  von  Meynert  beschriebenen,  relativ  häufig  zu  findenden  Scle- 
rose des  Ammonshornes  hat,  ist  heute  noch  nicht  zu  sagen.  Man  begnügt  sich  für 
gewöhnlich  damit,  zu  behaupten,  die  Epilepsie  sei  eine  functionelle  Erkrankung  ohne  ana- 
tomischen Befund;  ob  aber  dieser  Mangel  an  Befunden  nicht  an  unserer  zu  wenig  entwickel- 
ten histologischen  Technik  liegt,  werden  erst  künftige  Beobachtungen  lehren  können. 

Der  Mangel  einer  pathologischen  Anatomie  macht  sich  auch  bei  Erörterung  der 
Pathologie  der  Epilepsie  fühlbar.  Auch  da  finden  wir  nichts,  als  Hypothese.  Die 
Untersuchungen  haben  in  zwei  Theile  zu  zerfallen:  Welches  ist  die  Pathogenese  des  ein- 
zelnen epileptischen  Anfalles  und  welches  ist  jene  eigenthümliche  Veränderung  des  Hirnes, 
die  die  Wiederkehr  der  Anfälle  bedingt?  Eine  weitverbreitete  Anschauung  wurde  von 
Kussmaul  und  Tenner  begründet.  Sie  fanden,  dass  bei  künstlicher  Verblutimg  Thiere 
bewusstlos  werden  und  Krämpfe  bekommen ;  sie  führten  beides  auf  die  eintretende  Anämie 
der  Hirnrinde  zurück.  Beide  Momente  aber  finden  sich  im  Symptomencomplexe  des  epilep- 
tischen Anfalles,  so  dass  sie  diesen  auf  eine  krampfhafte  Contraction  der  Hirnrindenarte- 
rien und  die  damit  eintretende  Anämie  zurückführten.  Sie  stützten  sich  hiebei  auch  auf  den 
Umstand,  dass  nahezu  constant  im  Beginn  des  Anfalles  das  Gesicht  des  Kranken  leichen- 
blass  ist.  Es  ist  aber  hervorzuheben,  dass  Blässe  des  Gesichtes  durchaus  nicht  ohne 
weiters  auf  Anämie  des  Hirnes  hinweist,  weiters  dass  die  Thiere  bei  der  Verblutung  nicht 
immer  Krämpfe  bekommen,  und  auch  die  auftretenden  Krämpfe  nicht  ganz  den  Charakter 
der  epileptischen  haben.  Nothnagel  führte  denn  auch  unter  Beibehaltung  der  Anämie 
zur  Erklärung  der  Bewusstlosigkeit  die  Krämpfe  auf  Reizung  eines  Krampfcentrums  in 
der  MeduUa  oblong.,  das  er  experimentell  gefunden  hatte,  zurück.  In  neuerer  Zeit 
gewinnt  die  Ansicht  immer  mehr  Anhänger,  wornach  die  Krämpfe  des  epileptischen 
Anfalles  in  der  Hirnrinde  selbst  ausgelöst  werden.  Die  bereits  erwähnte  jACKSON'sche 
Epilepsie,  die  bei  Herden  in  der  motorischen  Rinde  auftritt,  der  Umstand,  dass  sich  bei  Thieren 
epileptiforme  Krämpfe  durch  elektrische  Reizung  der  Hirnrinde  erzeugen  lassen,  weiters 
manche  Formen  der  Aura,  insbesondere  die  sensorielle  und  psychische,  die  nur  durch  Reizung 
der  Hirnrinde  erklärt  werden  können,  sind  die  Momente,  die  für  diese  Ansicht  sprechen.  Ein 
Entscheid  lässt  sich  heute  nicht  treffen,  es  scheint  aber  als  hätte  die  Ansicht  vom  Plirnrinden- 
sitze  mehr  Berechtigung,  wobei  aber  nicht  ausgeschlossen,  vielmehr  sogar  wahrscheinlich  ist, 
dass  beim  Anfalle  nebst  der  Rinde  auch  tiefergelegene  Centra  in  den  Erregungszustand 
mit  einbezogen  werden.  —  Noch  weniger  wie  über  das  Zustandekommen  des  epilept.  An- 
falles, wissen  wir  über  die  „epileptische"  Veränderung  des  Hirnes,  die  periodenweise  immer 
wieder  Entladungen  in  Form  der  Anfälle  bedingt.  Wahrscheinlich  handelt  es  sich  sowohl 
um  einen  Zustand  von  erhöhter  Erregbarkeit,  wie  um  einen  Au?fall  von  Hemmungen. 
Ueber  nähere  Details  fehlen  uns  selbst  Vermuthungen. 

Prognose.  Die  Prognose  der  Epilepsie  quoad  sanationem  ist  eine  sehr 
ernste.  Wirkliche  Heilungen  sind  bei  der  genuinen  Epilepsie  kaum  mit  Sicher- 
heit beobachtet.  Besser  steht  es  um  die  Reflexepilepsie,  Epilepsie  in  Folge 
von  Syphilis  u.  s.  w.  Die  Lebensdauer  der  befallenen  Individuen  braucht  aber 
nicht  beeinträchtigt  zu  werden.  Der  Anfall  selbst  bringt  selten  Lebensgefahr, 
trotz  der  gefahrdrohenden  Erscheinungen.  Dagegen  kann  der  Kranke  im 
Anfalle  durch  das  plötzliche  Hinstürzen,  ebenso  wie  durch  Verbrennung,  Er- 
stickung schwere  Schädigungen  davontragen.  Ernster  ist  der  Status  epilepticus, 
in  dem  unter  Umständen  Exitus  letalis  eintritt.  Die  Prognose  der  Epilepsia 
mitior  ist  quoad  sanationem  durchaus  nicht  günstiger  als  die  der  Epilepsia 
gravior. 

Diagnose.  Bei  der  Diagnose  handelt  es  sich  zunächst  darum,  zu  ent- 
scheiden: bestehen  epileptische  Anfälle  oder  nicht?  Dies  wird  natürlich  bei 
der  Epilepsia  gravior  leichter  sein  als  bei  der  Epilepsia  mitior.  Hat  man 
Gelegenheit  den  Anfall  selbst  zu  beobachten,  dann  hat  die  Diagnose  zunächst 
zwischen  Epilepsie  und  Hysterie  zu  entscheiden.  Dies  ist  mitunter  nicht  leicht, 
insbesondere  da  sich  manchmal  an  epileptische  Anfälle  hysterische  anschliessen. 
Die  wichtigsten  Merkmale  des   epileptischen   Anfalles  gegenüber  dem  hyste- 


EPILEPSIE.  597 

rischen  sind  das  Vorhandensein  einer  Aura,  der  plötzliche  Beginn  mit  plötz- 
lichem Hinstürzen  unter  Blässe;  die  epileptischen  Krämpfe  halten  den  oben 
geschilderten  Typus  ein,  während  die  hysterischen  Krämpfe  viel  complicirterer 
Natur  sind  (Bogenstellung,  mimische  Bewegungen,  Ausstossen  von  Lauten  und 
AVorten  während  des  Anfalles,  während  im  epileptischen  Anfalle  höchstens  zu 
Beginn  der  bekannte  Schrei  ausgestossen  wird).  Weitere  Merkmale  sind  der 
unwillküi'liche  Urinabgang,  der  Zungenbiss,  die  verhältnismässig  kurze  Dauer, 
die  Keactionslosigkeit  der  Pupillen,  die  totale  Bewusstlosigkeit  und  Amnesie 
nach  dem  Anfalle  (freilich  scheint  auch  bei  schweren  hysterischen  Anfällen 
mitunter  das  Bewusstsein  stark  getrübt  und  die  Erinnerung  eine  mangelhafte 
zu  sein).  Das  Vorhandensein  hysterischer  Symptome  in  der  anfallsfreien  Zeit 
spricht  nicht  unbedingt  gegen  Epilepsie,  da  dasselbe  Individuum  an  Hysterie 
und  Epilepsie  leiden  kann. 

Hat  man  keinen  Anfall  selbst  beobachtet,  so  ist  anamnestisch  genau  nach 
dem  oben  geschilderten  Charakter  der  Anfälle  zu  fragen.  Als  objective  Zeichen 
stattgehabter  Anfälle  wären  zu  nennen:  Narben  nach  Zungenbiss,  kleine  Ecchy- 
mosen  an  der  Haut,  in  den  Schleimhäuten,  das  Vorhandensein  von  Narben 
nach  Verletzungen.  Besondere  Schwierigkeiten  können  der  Diagnose  erwachsen, 
wenn  die  Anfälle  blos  bei  Nacht  auftreten;  hier  handelt  es  sich  besonders 
um  den  Nachweis  von  Narben  an  der  Zunge,  Angaben  über  Bettnässen,  Klage 
über  besondere  Müdigkeit  beim  Aufstehen  u.  s.  w.  Schwierig  kann  auch  die 
Diagnose  beim  Petit  mal  werden;  wichtig  ist  hiebei  das  plötzliche  Eintreten 
der  Anfälle,  ihre  Wiederholung,  leichte  Zuckungen  während  des  Anfalles,  die 
Bewusstlosigkeit  und  Amnesie. 

Ist  das  Bestehen  von  epileptischen  Anfällen  constatirt,  dann  fragt  es  sich 
weiter,  ob  es  sich  um  symptomatische,  vorübergehende  Anfälle  (bei  einer  Him- 
krankheit,  bei  Reizung  des  Darms,  Intoxication  u.  s.  w.)  oder  um  idiopathische 
Epilepsie  handle.  Hier  wird  die  Anamnese,  der  Nachweis  anderer  Symptome, 
die  Aetiologie  und  vor  Allem  der  weitere  Verlauf  zur  richtigen  Diagnose  führen. 

Simulation  epileptischer  Anfälle  wird  häufig  versucht,  meist  jedoch  mit 
sehr  wenig  Geschick.  Besonders  zu  beachten  ist  auch  hier  das  plötzliche, 
rücksichtslose  Hinstürzen,  die  absolute  Bewusstlosigkeit  und  Keactionslosigkeit 
selbst  gegen  die  heftigsten  Pteize,  die  Reactionslosigkeit  der  Pupillen, 
Zungenbiss  u.  s.  w.  Manchmal  genügen  einfache  Kunstgriffe,  um  den  Simu- 
lanten zu  entlarven. 

Therapie.  Die  Therapie  der  Epilepsie  vermag  nur  in  den  allerseltensten 
Fällen  eine  wirkliche  Heilung  herbeizuführen.  Umso  wichtiger  wäre  es  pro- 
phylactisch  einzugreifen.  Wir  brauchen  aber  nur  auf  das  bezüglich  der 
Aetiologie  Gesagte  hinzuweisen,  um  zu  zeigen,  wie  wenig  der  Arzt  hier  wird 
erreichen  können.  Das  Heiraten  epileptischer  oder  schwer  belasteter  Indi- 
viduen zu  verbieten,  liegt  nicht  in  seiner  Macht;  immerhin  wird  er  ver- 
pflichtet sein,  mit  seiner  Mahnung  nicht  zurückzuhalten.  Wichtig  ist  es 
auch,  bei  jugendlichen  Epileptikern  dahin  zu  wirken,  dass  sie  einen  möglichst 
einfachen  Beruf  wählen,  der  keine  allzugrossen  Anforderungen  an  sie  stellt, 
sie  nicht  in  die  Lage  bringt,  über  sich  und  Andere  im  Anfalle  grosse  Gefahr 
herbeizuführen.  Der  Schulbesuch  ist  in  den  Fällen  mit  Schwachsinn  un- 
möglich, auch  sonst  möglichst  einzuschränken.  Eine  causale  Behandlung  wird 
nur  in  jenen  seltenen  Fällen  möglich  sein,  wo  eine  Beseitigung  des  ätiologischen 
Momentes  durchführbar  ist,  z.  B.  bei  Syphilis,  Alkohol-  oder  Bleiintoxication. 
Aber  auch  hier  darf  man  sich  nicht  allzugrossen  Hoffnungen  hingeben.  Auf 
die  Behandlung  der  Reflexepilepsie  kommen  wir  später  zurück. 

Sonst  aber  wird  sich  die  Therapie  darauf  beschränken  müssen,  die  Zahl 
der  Anfälle  und  ihre  Intensität  möglichst  herabzusetzen.  Es  empfiehlt  sich, 
zur  Controle  fortlaufend  Tabellen  über  die  Zahl  der  Anfälle  zu  fähren.  Wichtig 
sind  zunächst  allgemeine  diätetische  Maassnahmen.    LTeberanstrengungen,  Ex- 


598  EPILEPSIE. 

cesse  jeder  Art  sind  zu  vermeiden;  der  Genuss  von  Alkoholicis  ist  möglichst 
einzuschränken,  am  besten  ganz  zu  verbieten.  Die  Kost  sei  eine  reizlose;  recht 
gute  Erfolge  sah  man  mitunter  von  Milchdiät.  Sehr  empfehlenswerth  sind 
leichte  hydriatische  Proceduren,  z.  B.  laue  Halbbäder  mit  Uebergiessungen, 
leichte  Abreibungen.  Die  elektrische  Behandlung,  Galvanisirung  des  Kopfes 
oder  Sympathicus,  hat  kaum  irgend  welchen  Erfolg. 

Unter  den  Medicam enten,  die  angewendet  werden,  verdienen  die  Brom- 
präparate, zuerst  von  Lukock  und  M'Domel  1851  in  die  Therapie  der 
Epilepsie  eingeführt;  mit  Recht  den  ersten  Platz.  Die  Hauptsache  bei  der 
Brombehandlung  ist,  dass  sie  möglichst  lange,  eigentlich  continuirlich  fort- 
gesetzt werde.  Der  Kranke  muss  constant  unter  dem  Einflüsse  des  Brom 
stehen.  Die  Wirksamkeit  der  Brompräparate  beruht  auf  ihrer  die  Reflex- 
erregbarkeit herabsetzenden  Eigenschaft,  die  sich  bei  längerem  Bromgebrauch 
ganz  grob  durch  Verlust  des  Würgreflexes  u.  a.  kundgibt.  Von  den  im  Ge- 
brauche stehenden  Brompräparaten*)  sind  die  wichtigsten  Bromkalium,  Brom- 
natrium und  Bromammo7iium.  Welches  von  diesen  Mitteln  zu  wählen  sei,  ist 
ziemlich  gleichgiltig,  wirksam  ist  nur  der  Bromfactor.  Am  beliebtesten  ist 
gegenwärtig  Bromnatrium  (dem  Kalium  im  Bromkalium  schreibt  man  eine 
schädliche  Wirkung  auf  das  Herz  zu).  Gelobt  wird  auch  eine  von  Erlen- 
MEYER  angegebene  Lösung  der  3  genannten  Salze  in  kohlensäurehaltigem 
Wasser  (ERLENMEVER'sches  Bromwasser). 

Von  Wichtigkeit  ist  dieDosirung  und  die  Form  der  Darreichung. 
Erstere  muss  für  jeden  Fall  besonders  erprobt  werden.  Man  gibt  grosse  Dosen, 
jedoch  nicht  grössere  als  nothwendig  sind,  d.  h.  man  sucht  die  Gabe  zu  finden, 
die  gerade  im  Stande  ist,  die  Anfälle  hintanzuhalten.  Man  beginnt  mit 
4'0  ^  pro  die  (bei  Kindern  entsprechend  weniger)  und  steigt  so  lange  mit 
der  Dosis,  bis  die  Anfälle  zum  Verschwinden  gebracht  worden  sind.  lieber 
8*0 — lO'O^'  pro  die  gehe  man  nicht  hinaus,  denn  wenn  diese  Dosis  nicht 
wirksam  ist,  dann  ist  auch  von  grösseren  nichts  zu  erwarten.  Hat  man  ein- 
mal die  wirksame  Dosis  gefunden,  dann  muss  der  Kranke  dieselbe  immerfort 
gebrauchen  und  zwar  durch  mehrere  Jahre,  selbst  wenn  die  Anfälle  durch 
längere  Zeit  sistirt  haben  sollten.  Nur  kann  man  vorsichtig  mit  der  Dosis 
heruntergehen;  Wiederauftreten  von  Anfällen  nöthigt  natürlich  wieder  zur 
Steigerung  der  Gabe.  Die  gewählte  Dosis  reicht  man  auf  2 — 3mal  des 
Tages  vertheilt,  gelöst  in  einer  grösseren  Menge  kohlensauren  Wassers,  stets 
nach  der  Mahlzeit.  Treten  die  Anfälle  zu  einer  bestimmten  Zeit  auf,  dann 
gibt  man  einige  Stunden  vorher  eine  grössere  Gabe.  Der  häufig  auftretenden 
Bromakne  versucht  man  durch  gleichzeitige  Darreichung  von  Solut.  arsen. 
Fowler.  vorzubeugen.  Schwerere  Erscheinungen  des  Bromismus,  tiefes  Dar- 
niederliegen der  psychischen  Thätigkeit,  Herabsetzung  der  Körperkräfte  be- 
dingen zeitweiliges  Aussetzen  der  Bromtherapie.  Es  gelingt  so  durch  die 
consequente  Brombehandlung  manchmal  ein  jahrelanges  Ausbleiben  der  An- 
fälle zu  erzielen;  ob  auch  Heilung,  erscheint  zweifelhaft.  Neben  den  genannten 
drei  Bromsalzen  sind  die  neuerdings  empfohlenen  Bromlithium,  Bromstron- 
tium,  Bromrubidium  von  geringer  Bedeutung.  Reines  Brom  in  wässriger  Lösung 
darzureichen,  wie  es  eine  Zeit  lang  empfohlen  wurde,  ist  undurchführbar. 

Hat  die  Bromtherapie  keinen  Erfolg,  dann  ist  man  auf  andere  Medi- 
camente angewiesen,  deren  Wirkung  freilich  eine  zweifelhafte  ist.  Am  meisten 
empfehlen  sich  noch  die  Zinkpräparate,  allenfalls  in  der  HERpm'schen, 
Mischung. 


*)  Vergl.    auch    den    Artikel    „Brom''   (R.  Gottlieb),    Bd.  „Pharmakologie  und  Toxi- 
kologie''' pag.  207  und  ff. 


EPILEPSIE.  599 

Zinci  oxyd.  0'03 

Extr.  belladonnae  0'03 

Pulv.  rad.  valerianae  l'O. 

M.  f.  p.  d.  t.  dos.  Nr.  XXX.   S.  3mal  täglich  1  Pulver. 

(Steigend  bis  zu  0'3  Zink.) 

Zweifelhaft  ist  der  Effect  der  einst  vielgerühmten  Belladonna  und  des 
Atropins  (letzteres  zu  0*001  pro  die),  der  Cannahis  indica,  des  neuerdings 
empfohlenen  Borax  (3'0 — 4'0^  pro  die),  des  Amylenhydrats  (2"0 — 4*0^), 
des  Chloral  (von  Seguin  in  Combination  mit  Brom  empfohlen).  Neuerdings 
will  Babes  von  Einimpfung  des  PASTEUR'schen  Wutgiftes  Erfolg  gesehen 
haben.  (?)  Von  der  Darreichung  des  Argent.  nitric.  ist  ganz  abzusehen.  Auf 
andere  Mittel,  die  eine  ephemere  Rolle  spielten,  wollen  wir  hier  gar  nicht  ein- 
gehen. 

Die  Behandlung  des  einzelnen  Anfalles  kann  sich  darauf  be- 
schränken, den  Kranken  durch  passende  Lagerung  möglichst  vor  Verletzung 
zu  schützen.  Manchmal  gelingt  es  bei  ausgesprochener  Aura  den  beginnenden 
Anfall,  z.  B.  durch  Umschnürung  des  Gliedes,  das  Sitz  der  Aura  ist,  durch 
Schlucken  von  Kochsalz,  Compression  der  Carotiden  zu  coupiren.  Meist  fühlen 
sich  jedoch  die  Kranken  noch  schlechter,  als  wenn  der  Anfall  ungestört  ab- 
gelaufen wäre,  und  verzichten  bald  auf  diese  Proceduren.  Für  die  Behandlung 
des  Status  epilepticus  empfiehlt  sich  am  meisten  ein  Clvsma  von  Chloralhydrat 
(2-0-3-0^.). 

Wir  hätten  noch  der  chirurgischen  Behandlung  der  Epilepsie 
zu  gedenken.  Bei  der  Pteflexepilepsie  kann  sie  einer  causalen  Indication  ge- 
ntigen. Narben,  Fremdkörper  in  peripheren  Nerven  sind  zu  entfernen,  AÖec- 
tionen  des  Ohres  oder  anderer  Organe  in  geeigneter  Weise  zu  behandeln  und 
zwar  möglichst  rasch,  da  manchmal  selbst  nach  der  Entfernung  des  aus- 
lösenden Momentes  die  Epilepsie  fortbestehen  bleibt.  Ein  dankbares  Feld 
findet  die  chirurgische  Behandlung  bei  der  symptomatischen  Epilepsie  in  Folge 
von  Hirnläsionen  (Abscesse,  Tumoren,  Schädeltraumen  u.  s.  w.). 

Sehr  problematisch  ist  dagegen  vorläufig  der  Werth  chirurgischer  Ein- 
griffe bei  der  idiopathischen  Epilepsie.  Dahin  gehört  die  schon  in  den  ältesten 
Zeiten  geübte  Trepanation  des  Schädels,  die  neuerdings  leider  vielfach  wieder 
geübt  wird,  manchmal  mit  Excision  motorischer  Eindenfelder.  Ebenso  proble- 
matisch ist  der  Nutzen  der  Unterbindung  der  grossen  Halsgefässe,  Vertebralis 
oder  Carotis,  die  Exstirpation  der  Halssympathicusganglien,  nicht  zu  reden 
von  mancherlei  anderen  operativen  Verfahren,  die  eine  ephemere  Anpreisung 
fanden.  Es  ist  hier  daran  zu  erinnern,  dass  unter  Umständen  jeder  operative 
Eingriff,  wo  immer  und  wie  immer  er  ausgeführt  wird,  ein  vorübergehendes 
Sistiren  der  Anfälle  bewirken  kann;  nach  kurzer  Zeit  kehren  jedoch  die  An- 
fälle in  alter  Heftigkeit  wieder.  redlich. 


Epileptische  Geistesstörungen.  Der  im  Verlaufe  der  Epilepsie  auftretenden 
allgemeinen  progressiven  Störung  der  Geistesthätigkeit  in  Form  von  Charakterver- 
änderungen, Abnahme  der  Intelligenz  bis  zur  Demenz  ist  bereits  im  Capitel  Epi- 
lepsie gedacht  worden.  —  Hier  seien  daher  nur  die  bei  Epileptikern  vorkommenden 
vorübergehenden  Geistesstörungen  besprochen.  Es  ist  dabei  hervorzuheben,  dass  nicht 
jede  Psychose  bei  einem  Epileptiker  aucli  eine  epileptische  sein  muss,  da  sich  mit 
der  Epilepsie  auch  andere  geistige  Störungen  combiniren  können,  z.  B.  auf  alkoho- 
lischer Basis;  freilich  erhalten  dieselben  dann  oft  durch  die  Epilepsie  eine  eigen- 
thümliche  Färbung. 

Eine  grosse  Zahl  der  bei  Epileptilvern  vorkommenden  vorübergehenden  Psychosen 
steht  im  Zusammenhang  mit  epileptischen  Anfällen;  sie  treten  dann  meist  im  An- 
schlüsse an  einen  Anfall  als  sogenanntes   po  st  epileptisches  Irresein  auf.     In 


600  EPILEPSIE. 

seltenen  Fällen  kommen  auch  vor  dem  Anfalle  Geistesstörungen  vor,  dann  meist 
leichterer  Art,  präepileptisches  Irresein.  Dass  diese  im  Anschlüsse  an  den 
Anfall  auftretenden  Geistesstörungen  schon  in  der  nach  jedem  schweren  Anfalle  vor- 
handenen Schwerbesiunlichkeit  und  leichten  Verwirrtheit  eine  gewisse  Analogie  haben, 
ist  bereits  erwähnt  worden. 

Die  Form  des  postepileptischen  Irreseins  kann  eine  verschiedene  sein,  doch 
kommen  den  Formen  desselben  gewisse  gemeinsame  und  charakteristische  Eigen- 
thümlichkeiten  zu..  Dahin  gehört  der  plötzliche  Beginn  (entweder  sofort  nach  dem 
Anfalle  oder  nach  einem  einige  Stunden  bis  einen  Tag  währenden  Intervalle),  dem 
meist  auch  ein  plötzliches  Aufhören  entspricht:  weiters  das  Vorhandensein  massen- 
hafter DeKrien,  u.  z.  meist  ängstlichen,  schi-eckhaften  Inhaltes,  impulsive  Gewalt- 
thätigkeit,  oft  excessivster  Xatur,  und  endlich  Amnesie  für  den  Anfall  und  die 
Geschehnisse  während  desselben. 

Von  den  verschiedenen  Varietäten  des  postepileptischen  Irreseins  seien  hier 
erwähnt  der  postepileptische  Stupor,  mit  hochgradiger  Bewusstseinsstörung, 
wobei  die  Ki'anken  regungslos,  vor  sich  hindämmernd,  dasitzen  mit  ängstlichen  ^Mienen: 
dabei  bestehen  massenhafte  schreckhafte  Delirien  und  Mutacismus,  an  dessen  Stelle 
manchmal  sinnlose  Verbigeratiou  auftritt,  wobei  die  Kranken  immerfort  die  gleichen 
Silben  oder  Worte  vor  sich  hinschreien.  In  einem  diesem  Stupor  in  gewissem  Sinne 
ähnlichen  Zustande  überwiegen  noch  mehr  die  schreckhaften  Delirien;  die  Kranken 
sind  jedoch  nicht  so  gehemmt,  sondern  reagiren  in  lebhafter  Weise  auf  ihre  Hallu- 
cinationen  durch  Um'uhe,  Schi-eien  und  begehen  impulsiv  Gewaltthaten  excessivster 
Art,  wobei  sie  sich  in  planloser  Weise  auf  den  Erstbesten  stürzen  und  denselben  in 
grausamer  Weise  tödten  können.  Beide  bisher  genannten  Formen  sind  meist  von 
kui'zer  Dauer,  Stunden  oder  Tage;  viele  der  Fälle  der  sogenannten  Mania  transi- 
toria  gehören  hieher. 

Ausserdem  gibt  es  ein  protrahirteres  postepileptisches  Irresein,  das  sogenannte 
postepileptische  raisonirende  Delirium,  manchmal  mit  moriartiger  Fär- 
bung, wobei  die  Kranken  anscheinend  viel  besonnener  sind,  sich  im  grossen  Ganzen 
richtig  zu  benehmen  wissen,  aber  auch  hier  durch  Hallucinationen,  wiederum  meist 
schreckhaften  Inhaltes,  in  ihrer  Orientirung  stark  gestört  sind;  öfters  spielen  auch 
Grössenideen  oder  religiöse  Wahnvorstellungen  mit,  wodurch  die  Kranken  trotz 
ihrer  anscheinenden  Besonnenheit  leicht  zu  Gewaltthätigkeiten  oder  anderweitigen 
verbrecherischen  Handlungen  verleitet  werden.  Dieser  Zustand  dauert  gewöhnlich 
länger,  bis  einige  Wochen. 

Aber  auch  unabhängig  von  Anfällen  treten  bei  Epileptikern  vorübergehende 
geistige  Störungen  auf,  die  als  psychische  Aequivalente  bezeichnet  werden, 
gleichsam  den  gewöhnlichen  Krampfanfall  ersetzend.  Die  Zugehörigkeit  dieser  Anfälle 
zur  Epilepsie  bei  nachweisbar  epileptischen  Individuen  ist  ohneweiters  klar.  Von  vielen 
Autoren,  insbesondere  von  Samt  wird  aber  behauptet,  dass  ganz  gleiche  AnfäUe  bei 
Individuen  auftreten  können,  die  niemals  einen  epileptischen  Krampfanfall  hatten; 
wegen  des  charakteristischen  Gepräges  werden  aber  auch  hier  diese  Anfälle  als 
epileptische,  als  psychische  Aequivalente  aufgefasst.  Charakteristisch  ist  nach  Samt 
für  diese  Formen  der  plötzliche  Beginn,  Angstzustände  mit  ängstlichen  Delmen, 
denen  dann  der  eigentliche  psychische  Paroxysmus  mit  massenhafter  Anhäufung  von 
Delirien  folgt,  wobei  die  Kranken  die  schi-ecklichsten  Gefahren  auf  sich  einstürmen 
sehen  und  mit  Gewaltthätigkeiten  rohester  Art  in  ganz  impulsiver  Weise  reagiren. 
Meist  folgt  dann  noch  ein  kurzdauerndes  leichtes  Angststadium,  aus  dem  die  Kranken 
allmälig  erwachen.  - —  Die  psychischen  Aequivalente  müssen  jedoch  nicht  in  der  be- 
schriebenen Form  verlaufen,  es  kommen  auch  ganz  absonderliche  Formen  vor,  von 
denen  hier  insbesondere  auf  die  Epilepsie  mit  automatischem  Wander- 
triebe hingewiesen  sei.  Dabei  befindet  sich  der  Kranke  für  1 — 2  Tage  in  einem 
halbtraumartigen  Zustande,  benimmt  sich  aber  nach  aussen  anscheinend  correct  und  ge- 
ordnet, so  dass  er  keinerlei  Anstand  erfährt.  Sehr  gerne  machen  die  Kranken  in 
diesem  Zustande  verschiedene  Pieisen.    für  die   sie  nachträglich  keine  Erklärung  an- 


ERNÄHRUNG  DER  SÄUGLINGE.  601 

geben  können.  Das  Erwachen  erfolgt  meist  ziemlich  plötzlich;  der  Kranke  findet 
sich  ganz  erstaunt  an  einem  Platze  und  in  einer  Situation,  die  er  sich  nicht 
erklären  kann.  Aeusserlichkeiten,  z.  B.  ein  in  der  Tasche  gefundenes  Eisenbahnbillet 
führen    ihn    darauf,  dass  er  eine  Reise  gemacht  haben  müsse. 

Die  Prognose  der  epileptischen  Geistesstörungen  ist  eine  günstige;  dieselben 
«ndigen  meist  nach  kurzer  Dauer  mit  der  Restitution  des  psychischen  Status  quo  ante. 

Die  Diagnose  ist  gewöhnlich  eine  leichte,  insbesondere  da,  wo  sich  die 
Geistesstörung  an  einen  Anfall  anschliesst.  Aber  auch  sonst  ist  die  Form  des 
Anfalles,  wie  wir  sie  oben  geschildert  haben,  so  charakteristisch,  dass  sich  die  Diagnose 
meist  ohne  besondere  Schwierigkeiten  stellen  lässt.  Fraglich  ist  nur  die  Bedeutung 
der  psychischen  Aequivalente  bei  nicht  epileptischen  Individuen.  Ein  wichtiges  diagnosti- 
sches Moment  ist  die  Amnesie,  die  immer  vorhanden  ist.  Dieselbe  braucht  jedoch  keine 
absolute  sein;  manchmal  besteht  eine  ganz  traumhafte,  incohärente  Erinnerung  für  ein- 
zebie  Geschehnisse  während  des  Anfalles,  der  mitunter  noch  nachträglich  durch  äussere 
Momente  nachgeholfen  werden  kann.  Von  forensischer  Wichtigkeit  ist  der  Um- 
stand, dass  manche  Kranke,  insbesondere  bei  den  protrahirteren  Formen  un- 
mittelbar nach  dem  Anfalle  eine  ziemlich  gute  Erinnerung  für  denselben  haben, 
allenfalls  Gewaltthätigkeiten  zugeben  und  selbst  zu  motiviren  suchen,  wenn  auch 
meist  in  falscher  Weise,  dass  aber  dann  diese  Erinnerung  wieder  vollständig  ver- 
loren geht  und  der  Kranke  von  seinen  früheren  Aussagen  nichts  wissen  will  und 
kann. 

Die  Behandlung  der  epileptischen  Geistesstörungen  fällt  im  Wesentlichen  zu- 
sammen mit  der  der  Epilepsie  überhaupt.  Da  die  Anfälle  meist  von  kurzer  Dauer 
sind,  genügt  die  sorgsame  Ueberwachung  des  Kranken,  um  Gewaltacteu  vorzubeugen. 
Wo  dieselbe  zu  Hause  nicht  ausführbar  ist,  ist  Anstaltsbehandlung  unbedingt  noth- 
wendig.  Dieselbe  empfiehlt  sich  auch  bei  den  protrahirteren  Formen.  —  In  den  inter- 
vallären  Zeiten  ist  ganz  nach  den  Regeln  vorzugehen,  wie  wir  sie  oben  für  die  Be- 
handlung der  Epilepsie  angeführt  haben.  eedlich. 

Ernährung  der  Säuglinge.  Für  jedes  Neugeborene  aus  der  Classe  der 
iSäugethiere  bringt  die  Mutter  die  geeignete  Nahrung  mit.  Und  zwar  ist  die 
Nahrung  in  besonderer  Weise  immer  den  Individuen  der  einzelnen  Ordnungen 
dieser  Classe  angepasst  mit  Aufweisung  von  mehr  oder  minder  eingreifenden 
Verschiedenheiten  zwischen  diesen  einzelnen  Ordnungen  und  Species.  Wahr- 
scheinlich sind  die  besonderen  Lebensverhältnisse  der  mütterlichen  Individuen 
die  Ursache  dieser  Verschiedenheiten,  und  die  Sprösslinge  haben  sich  daran 
angepasst,  indem  immer  nur  die  dafür  Geeigneten  gedeihen  und  übrig  bleiben. 
Die  unverbrüchliche  Lehre,  die  daraus  entstammt,  verweist  das  menschliche 
Neugeborene  zunächst  an  die  Brust  seiner  Mutter,  und  zwar  als- 
bald nach  der  Geburt,  sobald  es  selbst  durch  Schreien  den  W^unsch  kundgibt, 
bei  ganz  schwächlichen  Kindern  auch  sobald  durch  entsprechende  Maassnahmen 
(s.  ,,Kinder])flege'-')  ihm  diese  Aeusserung  suggerirt  ist.  Sonst  stehen  dem 
Kind,  sobald  es  mit  Lösung  von  der  Nabelschnur  seines  seitherigen  reichen 
Einkommens  beraubt  ist,  in  seiner  Körper-Oekonomie  nur  zahlreiche  Verluste 
bevor,  durch  Entleerung  von  Urin  und  Meconium,  durch  Wärme-  und  Stoff- 
abgabe mittelst  Re-  und  Perspiration.  Dieselben  mögen  sich  auf  300  g  belaufen 
und  sollen  in  dem  üblichen  Gang  nach  8  (bis  14)  Tagen  wieder  ausgeglichen 
gein.  Energische,  frühzeitige  Ernährung  durch  einige  Ergiebigkeit  der  Mutter- 
brust unterstützt,  können  in  einer  Anzahl  von  Fällen  diese  Verluste  ganz 
vermeiden. 

Man  kann  das  Neugeborene  am  I.  Tag  2 — 4  mal  zum  Trinken  bringen, 
und  die  Regel  für  die  Zukunft  wird  sein,  es  zu  thun,  sobald  es  durch 
Schreien  2 — 3  Stunden  nach  dem  vorausgegangenen  Trinken  das  Bedürfnis 
hiezu  kundgibt.  Der  Arzt  muss  wissen,  dass,  was  an  der  Qualität  der 
Muttermilch    Gutes     ist,    durch    die    Quantität,    in     welcher    unvernünftige 


602  ERNÄHRUNG  DER  SÄüaLINGE. 

Mütter  sie  bei  jeder  Unruhe  des  Kindes  reichen,  wieder  verdorben  werden 
kann,  und  muss  dem  rechtzeitig  entgegentreten.  Nach  vorstehender  Regel, 
wobei  ein  Stillen  bis  zu  lOnial  im  ersten  Monat,  bis  zu  8mal  im  2.  und 
3.,  6-  und  7-mal  in  den  späteren  Monaten  herauskommt,  die  Nacht  bei 
gesunden  Kindern  allmälig  freizulassen  ist,  werden  vom  1.  Monat  bis  zum 
7.  von  400  bis  zu  1000  ccm  steigende  durchschnittliche  Tagesmengen  ge- 
trunken. Von  da  ab  nimmt  bei  vielen  Frauen  die  Milchsecretion  ab, 
und  reicht  ohnedies  bei  den  Meisten  die  Milchmenge  für  die  steigenden 
Bedürfnisse  des  Kindes  nicht  mehr  völlig  aus.  Es  wird  deshalb  eine 
Beinahrung  nöthig,  welche  die  überlegtesten  Fachmänner  seit  langem  zu- 
nächst mit  Ei,  bezw.  Eigelb,  in  schwachgesalzener  (Kalb-)  Fleischbrühe  mit 
oder  ohne  Milch  im  Gemische  bewirken.  Nach  Bunge  stellt  sich  das  auch 
theoretisch  jetzt  als  besonders  wirksam  heraus,  wegen  des  reichen  Gehaltes  des 
Eidotters  an  organischem  Eisen,  welches  der  Milch  einigermaassen  fehlt.  Viel 
früher  noch  wird  nicht  selten  eine  ausgiebigere  Beinahrung  auch  mit  anderen 
Dingen,  besonders  Milch,  nöthig,  wenn  die  Muttermilch  von  vornherein  unzu- 
reichend war  oder  es  durch  raschere  Abnahme  wurde.  Nicht  zu  sagen  aber 
ist  es,  wie  sehr  nützlich  die  fortwährende  Mitgabe  auch  nur  eines  Theiles  von 
Muttermilch  neben  jener  künstlichen  Ernährung  ist,  und  von  einer  grossen 
Leichtfertigkeit  zeugt  es  deshalb  bei  Aerzten  und  Müttern,  wenn  sie  oft 
leichthin  beim  ersten  eintretenden  Fehlen  auf  die  Mitwirkung  der  letzteren 
bei  der  Ernährung  des  Kindes  ganz  verzichten.  Dass  diese  Mitwirkung  auch 
naturgemäss  nach  dem  ersten  Halbjahr  verhältnismässig  immer  geringer  wdrd, 
ist  schon  bemerkt,  und  auch,  dass  hier  zuerst  Ei  mit  Fleischbrühe  zu  Hilfe 
gezogen  wii'd.  In  jenen  Fällen  des  früheren  und  stärkeren  Fehlens  der  von 
der  Brust  gelieferten  Nährmenge  und  ebenso  jetzt,  wenn  diese  im  2.  Halbjahr 
naturgemäss  mehr  und  mehr  versagt,  müssen  nach  und  nach  die  weiteren 
Hilfsmittel  der  künstlichen  Ernährung,  die  wir  noch  näher  kennen  lernen 
werden,  als  Ergänzung  der  Brust  und  abwechselnd  mit  ihr  eintreten.  In  wel- 
chem Grade  dies  nöthig  ist,  lehrt  die  allgemeine  Beobachtung  über  das 
Gedeihen  des  Kindes,  mit  grösserer  Sicherheit  die  Ergebnisse  der  Kindes- 
wägung.  Soviel  sei  hier  darüber  bemerkt,  dass  sie  zu  regelmässiger  längerer 
Zeit  nach  dem  Trinken  vorgenommen,  die  Kleider  aber  zuvor  abgewogen  werden 
sollen,  und  dass  im  ersten  Halbjahre  die  Zunahme  zwischen  12  und  29  g,  im 
2.  zwischen  7  und  20 — 30  g  täglich  schwankt,  dass  sie  in  der  Regel  von 
den  ersten  gegen  die  letzten  Monate  abnimmt,  bei  Brustkindern  aber  in  den 
ersten,  bei  künstlich  genährten  Kindern  in  den  letzten  höher  ist. 

Wenn  so  im  Laufe  des  zweiten  Halbjahres  ausser  dem  Ei  mehr  und  mehr 
verdünnte  und  reine  Kuhmilch  und  deren  Ersatzmittel,  ausserdem  Zwiebäcke, 
Breie,  Kindermehle  der  Ernährung  an  der  Brust  zugefügt  werden  müssen, 
so  kommt  naturgemäss  die  allmälige  Entwöhnung  zu  Stande,  die  man 
in  dem  9. — 15.  Monate  vollständig  werden  lassen  kann,  unter  Vermeidung  der 
Sommermonate,  und  die  nur  unter  besonderen  Nothfällen  plötzlich  vorgenommen 
werden  soll. 

Das  Letztere  fällt  schon  unter  das  Capitel  von  den  Gründen,  die 
eine  Frau  am  Weiterstillen  und  überhaupt  am  Stillen  verhindern.  Es  gibt 
eigentlich  nicht  allzu  viele,  wenn  man  scharf  zusieht,  z.  B.  Milchmangel, 
wenn  man  sich  nach  vorher  angegebener  Methode  hilft,  lange  nicht  so  oft, 
als  man  sonst  gelten  lässt.  Die  Fälle  von  absolutem  Mangel  sind  immer 
noch  nicht  sehr  häufig,  ebenso  wenig  die  von  ganz  unbrauchbaren  Warzen, 
wenn  man  in  der  Schwangerschaft  schon  sich  darum  bekümmert,  sie  mit  der 
Milchpumpe  und  drgl.  hervorziehen  zu  lassen  und  durch  Betupfen  mit  Spiri- 
tuosen und  adstringirenden  Flüssigkeiten  abzuhärten.  Selbst  die  Hohlwarze 
hat  Kehrer  durch  Operation  tauglich  machen  gelehrt.  Acute  Krankheiten 
verbieten  das  Stillen  entweder  dadurch,  dass  sie  Ansteckung  drohen  oder  die 


,ERNÄHRUNG  DER  SÄUGLINGE.  603 

Milch  zum  Versiegen  bringen.  Von  chronischen  Krankheiten  bilden  nur 
Lungenschwindsucht  und  erbliche  Anlage  dazu,  scrophulöse  Haut-  und  Drüsen- 
leiden, Leukämie,  progressive  Anämie  und  Nierenleiden  ein  unbedingtes 
Stillungshindernis,  einfache  Schwäche  der  Mutter  höchst  selten,  wenn  sie 
sich  schonen  und  gut  und  erfolgreich  nähren  kann.  Syphilis  verbietet  die 
Stillung,  wenn  die  Mutter  sie  erst  in  den  letzten  drei  Schwaugerschaftsmonaten 
bekommen  hat,  weil  dann  das  Kind  Chancen  hat,  frei  zu  bleiben;  man  bestimme 
es  dann  der  künstlichen  Ernährung,    niemals  aber  einer  ungewarnten  Amme. 

Eine  Amme  anzunehmen,  wird  umso  seltener  nöthig  werden,  je  mehr 
die  Mutter  in  der  angedeuteten  Weise  ihre  Pflicht  zu  thun  bestrebt  sein 
wird,  und  je  geschickter  und  verständiger  sie  in  der  künstlichen  Beinahrung 
oder  auch  der  künstlichen  Ernährung  sich  zeigt.  Bei  einer  Amme,  auf  deren 
Person  man  nicht  wie  auf  die  der  Mutter  von  vornherein  angewiesen  ist, 
wird  man  dieselben  Abweisungsgründe  für  Unternehmung  des  Stillungs- 
geschäftes, wie  bei  dieser  gelten  lassen,  nur  noch  viel  empfindlicher  gegen 
vorhandene  Mängel,  viel  anspruchsvoller  an  die  Leistungsfähigkeit  sein.  Man  wird 
durch  genaue  Untersuchung  jede  Spur  der  oben  genannten  Krankheiten  in  Lunge, 
Auge  und  Nieren,  an  Haut  und  allen  Drüsengegenden  ausschliessen  müssen 
und  wird  hier  natürlich  weiter  noch  jeden  möglichen  Sitz  der  Syphilis  im 
Bachen,  an  After  und  Geschlechtstheilen  durchforschen  —  wenn  es  sich  nicht 
zufällig  um  ein  syphilitisches  Kind  handelt,  für  das  eine  kräftig  milchgebende 
syphilitische  Amme  gerade  das  beste  wäre,  und  das  zugleich  mit  ihr  durch 
Mercurialisiren  derselben  behandelt  werden  könnte. 

Milchergiebigkeit,  körnige  Entwicklung  der  Brustdrüse,  gute  Fassbarkeit 
und  derbe  gesunde  Haut  der  Warze  wird  man  immer  verlangen.  Man  kann 
auch  die  Milch  mikroskopiren,  ob  sie  gleichmässige,  dichte,  in  Grösse  nicht 
zu  verschiedene  Milchkörperchen  und  keine  abnormen  Bestandtheile  enthält, 
und  wird  besonders  beruhigt  sein,  wenn  man  ein  kräftiges  gut  verdauendes 
Kind  der  Amme  als  Beweisstück  für  ihre  Leistungsfähigkeit  vor  Augen  hat. 
(Vergl.  den  Artikel:  „Ammenwahl".)  An  Nahrung  bewilligt  man  der  Stillen- 
den, was  sie  gut  verträgt,  unter  Meidung  scharfriechender  Speisen  und  Bei- 
fügung ziemlichen  Getränkes  ohne  zu  vielen  Alkohol.  Ausser  Quecksilber,  das 
wir  in  erwünschter  Weise  durch  die  Nahrungsspenderin  auf  das  Kind  haben 
wirken  sehen,  wo  sie  beide  seiner  bedurften,  ist  bei  anderen  Arzneien, 
die  ebenfalls  die  Stillende  gebraucht,  für  das  Kind  nicht  viel  zu  hoffen 
und    zu   fürchten.     Scharfe  Drastica  sind  zu  meiden. 

Machen  wir  die  Ernährung  auch  für  die  andere  wichtige  Nahrungsspen- 
derin, das  Milchvieh,  gleich  hier  ab!  Auch  für  dieses  ist  wohl  eine  gesunde 
gemischte  Nahrung  ohne  schroffe  Uebergänge  von  einseitigem  Trocken-  zu  Grün- 
futter und  zuviel  Tränke  mit  Treb  ern  etc.  das  empfehlenswertheste,  wenn  auch 
in  feinerer  Milchproduction  auf  ausschliessliche  Trockenfütterung  ein  beson- 
derer Nachdruck  gelegt  wird.  Es  sind  hierüber  und  über  andere  Anforderun- 
gen an  die  künstliche  Ernälu^ung  ausschlaggebende  Untersuchungen  noch  nicht 
vorhanden  und  auch  nicht  ausreichend  zu  erlangen,  ausser  durch  umfassende 
Beobachtungen  in  besonderen  Versuchsanstalten,  gemeinsam  für  Vieh- 
haltung und  Kinderernährung  eingerichtet,  für  deren  Nothwendigkeit  ich  an 
anderem  Orte  mit  allem  mir  zu  Gebote    stehenden   Gewicht    eingetreten  bin. 

Die  Voranstellung  der  Milchproduction  bei  der  Erörterung  der  künst- 
lichen Ernährung  des  Kindes  rechtfertigt  sich  durch  das  Uebergewicht, 
welches  der  Thiermilch,  im  Besonderen  der  Kuhmilch,  auf  die  Dauer  in  der- 
selben gesichert  erscheint  mitten  unter  allen  künstlichen  Präparationen,  Zu- 
und  Ersatzmitteln.  So  knüpft  sich  auch  die  Erörterung  der  künstlichen  Er- 
nährung vor  Allem  an  die  Kuhmilch  und  zunächst  an  deren  Gegenüberstellung 
gegenüber  der  Muttermilch.  Da  wir  diese  eingangs  als  die  gebotene  Nah- 
rung erkannt  haben,  ist  sie  das  Muster  für  jede  andere.  Von  dem  Muster  hat 


604  EENÄHRÜNG  DER  SÄUGLINGE. 

man  die  Kulimilch  als  in  vier  Dingen  abweichend  erkannt,  in  den  Men- 
gen ihrer  Bestandtheile,  deren  Verhältnis  unter  einander,  ihren  besonderen 
Eigenschaften  und  in  dem  Zustand,  d.  i.  der  grösseren  oder  geringeren  Rein- 
heit und  Unverändertheit,  in  der  die  Milch  zum  Genüsse  kommt.  Der  letztge- 
nannte Umstand,  der  mindest  ebenso  lang,  wie  der  andere,  bekannt  war,  schon 
von  V.  Hesslixg  und  Riefenstahl  in  der  wesentlichen  Bedeutung,  welche  die 
Bacterien  für  ihn  haben,  voll  gewürdigt  wurde,  hat  nur  in  letzterer  Zeit  mit 
der  Bedeutung  der  Bacteriologie  und  der  grösseren  Klarheit,  mit  der  man 
seine  Beherrschung  unternahm,  den  Anschein  der  Neuheit  gewonnen  und  ist,  wie 
alle  jüngsten,  das  Lieblingskind  der  Wissenschaft  geworden,  die  dann  über 
dieses,  wie  das  auch  sonst  zu  geschehen  pflegt,  die  anderen  fast  übersah. 
Nahe  war  man  daran  in  der,  nicht  einmal  vorhandenen  und  im  Munde  und 
Magen  sofort  gründlich  vernichteten  Pilzfreiheit  der  Muttermilch  den  einzigen 
Vorzug  der  Muttermilch  zu  sehen,  in  der  von  (Riefenstahl-)  Soxhlet  tech- 
nisch weiter  geförderten  Möglichkeit  aber  die  Kuhmilch  fast  ebenso  pilzfrei, 
wie  jene  zu  liefern,  zugleich  die  Möglichkeit  einer  der  natürlichen  gleicli- 
werthigen  künstlichen  Ernährung  zu  erkennen. 

Das  trägt  schon,  wie  mir  ein  beschäftigter  College  eben  jetzt  sagte, 
verhängnisvolle  Früchte,  indem  gerade  die  Gebildeteren  das  Selbststillen  wieder 
für  weniger  pfiichtgeboten  halten  und  ihre  Kinder  mit  dem  neuen,  vermeint- 
lich ebenso  guten  Soxhlet- Apparat,  in  die  alten  Gefahren  stürzen,  Gefahren, 
die  am  deutlichsten  den  neuesten  Mittheilungen  der  HEUBXER'schen  Klinik 
zu  entnehmen  sind.  Heubxer  hatte  aus  den  ersten  Erfolgen,  die  er  mit  dem 
Soxhlet-Apparat  erzielt  hatte,  die  Richtigkeit  des  Principes,  auf  die  Sterilisa- 
tion Alles  zu  schieben,  erschlossen  und  proclamirt  (pädiatr.  Section.  Wies- 
baden 1887)  —  Erfolge,  die  aber  offenbar  einfach  einer  überhaupt  besseren 
Milchhaltung,  als  der  landläufigen  der  armen  Leute  zu  danken  waren.  Nachher 
hat  er  gefunden,  dass  er  damit  dem  Ideale  keineswegs  näher  gekommen  war, 
und  sucht  den  Fehler  in  einer  bei  der  seitherigen  stilgerechten  Methode  immer 
noch  ungenügend  bleibenden  Sterilisirung.  Er  lässt  ein  äusserst  mühevolles 
und  peinliches  Verfahren,  das  in  der  Praxis  nicht  durchführbar  sein  wird, 
beschreiben,  um  wenigstens  für  die  Theorie  dies  Ziel  zu  erreichen  (Jahrb.  für 
Kinderheilkunde  XXXVI.  1/2).  Er  zerstört  damit  alle  Beweise,  die  aus  den 
Erfolgen  mit  der  jetzigen  Sterilisirung  vermeintlich  gewonnen  waren,  und  ich 
vermuthe,  wenn  es  wirklich  auf  die  wenigen  Pilze  ankommt,  die  jetzt 
Heubner  noch  völlig  in  der  zugeführten  Milch  zu  vernichten  besorgt  ist,  so 
werden  auch  darnach  die  Erfolge  nicht  idealer  werden,  weil  niemals  vermieden 
werden  kann,  dass  in  den  Bacterienbrutöfen  der  Mundhöhle,  des  Magens  und 
Darmcanals  die  Milch  mit  der  tausendfachen  Menge  von  Pilzen  neu  gesättigt 
werde. 

Die  Erhaltung  der  Milch  in  gutem  Zustand  ist  eben  nur  ein  Theil  der 
Anforderungen  und  trifft  nur  einen  Theil  der  Fehler;  um  ihn  aber  ausreichend 
zu  treffen  genügt  eine  relative  Sterilisirung,  die  in  der  Milch  das  Aufkommen 
erheblicher  Mengen  von  nachtheiligen  Zersetzungserregern  und  Zersetzungs- 
producten  hindert.  Eine  solche  Sterilisii'ung  wird  nach  Feer  (Hagenbach's 
Kinderklinik)  und  nach  der  in  meinem  Laboratorium  von  Sior  und  besonders 
Langermann  angestellten  Versuch  schon  ziemlich  leicht  hergestellt:  durch 
Autkochen  der  Milch  und  Belassen  in  dem  Kochtopf.  Die  Sterilisirung  in 
den  verschlossenen  Flaschen  nach  Soxhlet  stellt  sich  dem  gegenüber  nur 
massig  besser  und  in  keinem  Verhältnis  zur  Verschlechterung,  welche  die 
Milch  sofort  in  Mund  und  Magen  wieder  erfährt  (Langermann).  Für  diese 
gerade  sind  die  anderen  Abweichungen  der  Kuhmilch  von  der  Menschenmilch 
von  der  höchsten  Wichtigkeit.  Nämlich  die  Abweichungen,  die  eine  unvoll- 
ständigere Verdauung  der  zugeführten  Kuhmilch  zu  Folge  haben,  in  Folge  deren 
ein  grösserer  von  den  Verdauungssäften  und  der  Resorption  ungenügend  be- 


ERNÄHRUNG  DER  SÄUGLINGE.  605 

einflusster  Rest  im  Darmcanal  des  Kindes  bleibt,  der  dann  jenen  unvermeid- 
lichen Bacterien  zur  Beute  wird,  hier  durch  Bacterienwucherung  einen  schäd- 
lichen Zersetzungsherd  bildet:  endogene  Infection  Escherich's. 

Die  eine  Abweichung,  in  Folge  deren  die  Kuhmilch  an  sich  unvollkom- 
mener verdaut  wird,  der  grössere  Caseingehalt  derselben,  ist  länger  bekannt 
und  auch  durch  entsprechende  Verdünnung  schon  berücksichtigt  worden.  Den 
anderen  und  schwerwiegenden  Unterschied  habe  ich  durch  zahlreiche  theore- 
tische und  praktische  Arbeiten  seit  etwa  25  Jahren  zur  Geltung  gebracht:  die 
qualitative  Verschiedenheit  des  Caseins  der  Kuhmilch,  in  sei- 
ner Schwerverdaulichkeit  neben  gröberer  Gerinnung.  Dazu  habe  ich  auf  das 
ungünstigere  Verhältnis  von  Fett  zum  Casein  in  der  Kuhmilch  aufmerksam 
gemacht,  in  der  jenes  nur  zu  gleichen  Theilen  mit  dem  Casein  sich  findet, 
während  es  die  Caseinmenge  der  Menschenmilch  um  mehr  als  die  Hälfte  über- 
trifft. Da  das  eingelagerte  Fett  die  Caseingerinnsel  lockerer  und  so,  wie  ich  zei- 
gen konnte,  auch  verdaulicher  macht,  so  wirkt  dies  Verhältnis  als  weiterer 
Factor  bei  der  Erschwerung  der  Kuhmilchverdauung. 

Die  Mengendifferenz  musste  sich  durch  Verdünnung  der  Kuhmilch,  die 
3-5—^4  Casein  auf  2  der  Menschenmilch  enthält,  durch  eine  Verdünnung  von 
4  Milch  mit  3  Zusatz  ausgleichen  lassen.  Wo  es  aber  darauf  ankommt,  genügt 
das  lange  nicht,  eben  weil  man  dann  zwar  eine  gleiche  Menge,  aber  von 
schwerer  verdaulichem  Casein  in  dem  Gemisch  hat,  und  man  muss  dieses  noch 
stärker  verdünnen,  in  der  Regel  3  Theile  Wasser  mit  1  Thell  Milch,  um  es 
für  den  Durchschnitt  empfindlicherer  Kinder  nicht  mehr  in  schädlichem  Grade 
von  der  Muttermilch  abweichen  zu  lassen.  Der  Zusatzfiüssigkeit  gibt  man  4 — 57o 
Zucker  bei.  So  beginnt  man  vorsichtiger  Weise  mit  jener  dünnsten  Mischung 
bei  den  jüngsten  oder  kranken  Kindern  und  verstärkt  sie  durch  Minderzusatz, 
wenn  das  Kind  sie  verträgt,  indem  man  nur  2  Theile,  1  Theil  und  immer 
weniger  Verdünnungsflüssigkeit  im  2.,  4.  Monat  u.  s.  w.  beigibt,  bis  man  im 
3.  oder  4.  Vierteljahr  des  Lebens  zu  reiner  Kuhmilch  gelangt.  Zu  noch  viel 
bedeutenderen  Verdünnungen,  1:4 — 5— 10,  kann  man  durch  schwere  Krank- 
heitszustände  gezwungen  werden. 

Noch  ist  damit  der  dritte  Nachtheil  nicht  ausgeglichen,  der  geringere 
Fettgehalt  der  Kuhmilch,  der  mit  den  Verdünnungen  immer  mehr  und  un- 
nöthig  abnimmt.  Ich  habe  gezeigt,  wie  das  durch  Verwendung  des  Rahmes, 
den  man  von  1—2  Stunden  kalt  gestellter  Milch  abschöpft,  ausgeglichen  wird. 
Durch  Verdünnen  des  Rahmes  mit  3  Theilen  und  nöthigenfalls,  wie  bei  der 
Milch,  noch  mehr  Wasser  unter  entsprechendem  Zuckerzusatz,  erlangt  man  das 
für  viele  Kinder  noch  bekömmlichere  „natürliche  Rahmgemenge."  Dasselbe 
liefert  ein  durch  vermehrte  Fettzwischenlagerung  gelockertes  und  verdaulicheres 
Casein,  zugleich  in  dem  Fett  einen  wichtigen  Nahrungsbestandtheil  in  nicht 
so  unnöthiger  Verringerung.  Das  in  den  Apotheken  erhältliche  „künstliche 
Rahmgemenge,  Rahmeonserve"  (auch  Biedekt's  Kindernahrung,  deren  geschäft- 
lichem Vertrieb  ich  übrigens  gänzlich  fernstehe)  ist  als  bequemerer  Ersatz  des 
frischen  Rahms  Vielen  erwünscht.  Aehnliche  Zwecke  verfolgt  die  LAHMANx'sche 
vegetabilische  Milch,  mit  noch  einer  weiteren  Modification  die  VoLT^iEii'sche 
Milch  nach  Lahmann. 

Keinen  Verbesserungszweck,  wie  diese  in  Conservenform  gelieferten  Prä- 
parate verfolgen  die  einfachen  Conserven  der  natürlichen  oder  vorher 
eingedickten  Milch,  die  durch  Hitze  und  Luftabschluss  nach  einer  zuerst  von 
mir  veröffentlichten  Vorschrift  bewirkt  werden.  Sie  bilden  die  Milchversorgung, 
wo  sonst  gute  Milch  nicht  zu  haben  ist,  auch  von  sicher  grossen  Milchprodu- 
centen  in  grösseren  Städten  im  gewöhnlichen  Milchhandel,  hier  besonders  als 
Kinder-  und  Krankenmilch. 

Als  Zusatzflüssigkeiten  bei  allen  für  die  genannten  Zubereitungen 
erforderlichen  Verdünnungen  dienen  Wasser  mit  der  angegebenen  Zuckermenge, 


606  EßNÄHRüNG  DER  SÄüGLINaE. 

bei  Diarrhoe  schleimige  Flüssigkeiten,  Korn-,  Gersten-,  Haferwasser,  Kalbsbrühe, 
Gelatineabkochung.  Die  zubereiteten  Mischungen  sind  in  oben  angegebener 
Weise  in  irdenen  oder  emaillirten  Töpfen,  event.  mit  „Milchkochern",  oder  in 
den  Einzelflaschenapparaten  abzukochen,  alsbald  abzukühlen  und  kühl  zu  bewah- 
ren. Man  schreibe  einen  regelmässigen  2 — 3-stündigen  Turnus  zur  Nahrungs- 
verabreich  un  g  vor;  dem  Kind  soll  die  Flasche  nicht  zu  lange  belassen,  der 
Rest  weggeschüttet  und  die  Flasche  sofort  gereinigt  werden.  Wenn  das  Kind  einen 
Rest  gelassen  hat,  gebe  man  nächstesmal  weniger,  hat  es  begierig  und  rasch 
Alles  getrunken,  mehr;  aber  niemals  ausser  dem  Turnus,  auch  w^enn  das  Kind 
schreit;  denn  wenn  es  zuviel  getrunken  und  Leib  weh  hat,  sclireit  es  auch 
und  —  trinkt,  besonders  an  der  leicht  fliessenden  Flasche.  Das  ist  eine  wei- 
tere Hauptgefahr  der  künstlichen  Ernährung,  die  Ueberfütterung,  die  an  der 
Brust,  an  der  man  herzhaft  ziehen  muss,  lange  nicht  so  leicht  geht.  Unver- 
nünftige Mütter  bringen  sie  allerdings  auch  hier  zu  Weg,  indem  sie  nichts 
Eiligeres  wissen,  als  jeden  Schrei  mit  der  Brust  zu  stopfen.  Der  Arzt  muss  das 
wissen  und  regelnd  eingreifen.  Für  die  künstliche  Ernährung  hat  an  Stelle  der 
oben  angegebenen  Selbst-Regulirung  Escherich  eine  solche  in  bestimmten  Tages- 
mengen vorgeschrieben:  in  den  ersten  2  Wochen  750  ccm,  bis  zur  8.  1000, 
bis  zur  16.  1250  von  erst  mit  2  Theilen,  dann  mit  gleichen  Theilen,  dann 
mit  ^/^  Zusatzflüssigkeit  verdünnter  Milch;  vom  5.  bis  6.  Monat  gibt  er  1000 
Milch  250  Wasser,  vom  7.  bis  12.  1250  ccm  reine  Milch.  Oft  versagen  beide 
Methoden;  die  letzte  eignet  sich  überhaupt  nur  für  normal  gedeihende  Kinder, 
da  sie  für  das  geringere  Bedürfnis  und  Leistungsvermögen  der  schwächlichen 
zu  wenig  individualisirt,  und  bei  allen  empfindlicheren  Fällen  kommt  man  nur 
durch  scharfe  Anpassung  an  das  Einzelkind  mittels  meines  genaueren  Ver- 
fahrens zu  recht:  die  weiter  oben  von  mir  für  die  einzelnen  Altersstufen  an- 
gegebenen Verdünnungen  zu  wählen  und  davon  in  24  Stunden  auf  das  Kilo 
Körpergewicht  der  Kinder  (150  bis)  200  ccm  zu  geben.  Schwierige  Ernährungen 
sind  ohne  fortlaufende  Körpergewichtsbestimmungen  und  genaue  Nahrungs- 
abmessungen unter  steter  Controle  der  Stühle  nicht  zu  gutem  Ende  zu  führen. 
Die  Einzelheiten  meiner  ausführlichen  Untersuchungen  über  das  Nahrungs- 
bedürfnis der  Kinder  mit  Begründung  sind  in  meiner  Monographie  zusammen- 
gestellt, ebenso  das  Ausführliche  über  Untersuchung  und  Beurtheilung  der 
Stuhlgänge. 

Die  Muttermilch-Stuhlgänge  sind  weich,  dottergelb,  reagiren  und 
riechen  sauer;  gute  Kuhmilch-Stühle  ohne  oder  mit  vegetabilischen  Zusätzen 
sind  von  derberer  Consistenz,  aber  gleichmässig,  entweder  weisslich  oder  bei 
manchen  Vegetabilien  braun  und  reagiren  infolge  der  Kalksalze  und  der  massi- 
gen Fäulnis  des  Casein  alkalisch;  letztere  riecht  man  auch.  Und  diese,  in 
dem  stets  grösseren  unverdauten  Rest  der  künstlichen  Nahrung  entstehend, 
deutet  auch  in  noch  guten  Fällen,  den  Weg  an,  auf  dem  in  schlimmeren  die 
Erkrankungen  einziehen,  wenn  durch  in  Menge  und  Concentration  unvorsichtige 
Ernährung  in  solch'  vergrössertem  Rest  ein  Brutherd  grösserer  und  gefähr- 
licherer Zersetzungen  geschaffen  wird.  Die  Stühle  werden  dann  stinkender, 
ungleichmässiger  und  in  der  verschiedensten  Weise  übel  aussehend. 

Einen  anderen  Weg,  als  die  früher  erwähnte  Mengenbeschränkung  und 
die  Verdaulichmachungen  in  der  Rahmform,  schlagen  einige  Fabriken  zur  Ver- 
hütung dieses  gefährlichen  Nahrungsrestes  ein,  indem  sie  das  schädliche  Kuh- 
casein  direct  mittels  Peptonisation  angreifen,  so  Löfflund  in  seiner  „peptoni- 
sirten  Milch"  und  Lahmann- Voltmer  in  ihrer  „künstlichen  Muttermilch," 
bei  der  sie  auch  zugleich,  wie  schon  angedeutet,  Rahm  mit  verwenden,  als 
Zusatz  zur  Milch  endlich  das  Pancreas-Milchpulver  Timpe's.  Mit  ersterer,  einer 
guten  Conserve,  habe  ich  selbst  in  bestimmten  Fällen  treffliche  Resultate 
erzielt. 


ERNÄHRUNGSTHERAPIE.  607 

Ausnahmsweise  können,  besonders  bei  Rahm-  und  auch  bei  Milchnahrung, 
die  Kuhmilchstühle  ebenfalls  saure  Reaction  annehmen,  wenn,  wie  bei  Brust- 
kindern, der  Caseinrest  hinter  dem  Fett  im  Stuhl  zurückbleibt,  dann  aber  nicht 
weil  das  Casein  ausgiebig,  sondern  das  Fett  schlecht  verdaut  wird.  Die  ab- 
gespaltenen Fettsäuren  machen  diese  Reaction,  chemisch  und  mikroskopisch  kann 
man  die  von  Demme  und  mir  gefundene  „ Fettdiarhoe''  nachweisen.  Das  ist 
eines  der  besterkannten  von  den  offenbar  verschiedenen  Verhältnissen,  unter 
denen  Rahm  und  auch  gewöhnliche  Milch  nicht  verdaut  werden  und  vorüber- 
gehend abgerahmte  Milch,  milcharme  oder  auch  ganz  milchfreie  Nahrungs- 
mittel gegeben  werden  müssen. 

Unter  den  letzteren  sind  die  ältestbekannten  die  gewöhnlichen  Kinder- 
mehle, angeführt  von  dem  NESTLE'schen.  Ein  berechtigtes  Ansehen  haben 
sich  neuerdings  die  einfachen  Nährmehle  erworben,  und  zwar  insbesondere 
die,  nach  dem  Vorgang  von  H.  v.  Liebig's  Multoleguminose  und  des  gut- 
bewährten KuFEKE'schen  Kindermehls,  ausgiebig  dextrinisirten  Fabrikate. 
Sie  können  kurze  Zeit  an  Stelle  der  nicht  vertragenen  Milch  in  wässeriger 
Abkochung  allein  zur  Nahrung  dienen,  müssen  aber  bald  mit  kleinen  und 
allmälig  steigenden  Zusätzen  wieder  zur  Milchnahrung  überführen,  wobei  ihre 
feinen  Mehlkörnchen  durch  Zwischenlagerung,  wie  sonst  die  Fetttröpfchen  die 
Aufgabe  der  Lockerung  des  Caseingerinnsels  versehen.  Recht  stinkende  Stühle 
zeigen  aber  auch  bei  ihnen  in  vielen  Fällen,  dass  sie  nur  ein  Nothbehelf  für 
gewisse  Fälle,  aber  ein  für  Zeiten  unentbehrlicher  sind. 

Eine  letzte  Verwendung  können  die  ersten  und  die  letzten  Kindermehle, 
die  Leguminosen  und  die  Zwiebäcke  im  zweiten  Halbjahr  für  Uebergang  zu 
festerer  und  mannigfaltigerer  Nahrung  finden.  Suppe,  Eier,  Mehlbrei  und  Weck- 
stückchen, Cacao  folgen  ihnen  nach.  Auch  das  „Festere"  soll  übrigens  im  zweiten 
Jahr  noch  in  der  Regel  weich  sein  und  nicht  bei  allen  Kindern  kann  man  jetzt 
schon  weiches  Fleisch,  zarte,  breiige  Gemüse  darunter  mischen.  Wir  können  das 
auch  jetzt  noch  übergehen  und  die  Erörterung  dessen,  was  jetzt  folgt,  zweck- 
mässiger dem  Zusammenhang  der  späterfolgenden  Besprechung  der  „Kinder- 
pflege" überlassen.  Hier  handelte  es  sich  lediglich  um  die  eigentliche  Säug- 
lingsernährung, ein  Gebiet  von  so  besonderer  Eigenthümlichkeit,  zugleich  für  sich 
allein  von  solchem  Umfang,  dass  selbst  in  dieser  Beschränkung  die  Frage  nur 
etwas  eingehender  skizzirt  werden  konnte. 

Ausgiebigere  Behandlung  der  Frage  findet,  wer  sie  wünscht,  in  meiner 
Monographie:  „Die  Kinderernährung  im  Säuglingsalter  und  die  Pflege  von 
Mutter  und  Kind,  2.  Aufl.  Stuttgart,  1893,"  zugleich  eine  Erörterung  der  hier 
nicht  berührten  Grundbedingungen  für  die  Erhaltung  des  menschlichen  Nach- 
wuchses und  der  Einzelumstände,  woran  sie  Gefahr  zu  laufen  oder  zu  schei- 
tern pflegt.  Gerade  der  stolze  Reichthum  dessen,  was  von  vielen  gediegenen 
Kräften  auf  diesem  Gebiete  geschaffen  wurde,  zeigt  es  an,  dass  man  entweder 
nur  das  Wichtigste  mit  scharfen  Strichen  hervorheben,  Grundlegendes  eben 
andeuten  oder  —  ein  Buch  schreiben  muss.  Doch  für  den  Praktiker 
genügt  das  Vorstehende.  biedert. 

Ernährungstherapie.  Plujsiologische  Gesichtspunkte.  Die  Einwirkung 
des  Arztes  auf  die  Ernährung  seiner  Patienten  verfolgt  einerseits  therapeu- 
tische Zwecke  im  engeren  Sinne,  andererseits  prophylaktische.  Von  den  er- 
steren  sind  hier  nur  gewisse  allgemeine  Maassnahmen  zu  besprechen;  die  spe- 
ciellen  Aufgaben  der  Ernährung  in  den  einzelnen  Krankheiten  gehören  zur 
Therapie  dieser. 

Für  den  gesunden,  normalen  Menschen  können  wir  annehmen, 
dass  der  Appetit  die  Nahrungsaufnahme  in  zweckentsprechender  Weise  regelt. 
Dennoch  muss  der  Arzt  über  die    quantitativen    Verhältnisse    des    Nahrungs- 


608  ERNÄHRUNGSTHERAPIE. 

bedarfes  gesunder  Mensclien  unterrichtet  sein,  weil  er  in  vielen  Fällen  bei 
Anstalten  und  allen  Einrichtungen,  welche  die  Ernährung  grösserer  Menschen- 
mengen bezwecken,  die  rationelle  Führung  der  Küche  zu  überwachen  hat. 
Wegen  der  Ernährung  der  Kinder  in  Familien  wird  der  Hausarzt  oft  consul- 
tirt  und  hier  wird  er  vielfach  in  der  Lage  sein,  falschen,  durch  die  Leetüre 
populärer  Werke  erzeugten  Ansichten  entgegenzutreten. 

Unser  Wissen  über  den  normalen  Nähr  st  off  bedarf  des  Menschen 
ist  theils  durch  directe  Beobachtung  der  Nahrungsaufnahme  bei  einer  grösseren 
Anzahl  gesunder  und  ihrem  Instinct  gemäss  lebender  Menschen  gewonnen, 
theils  durch  Messung  des  Stoffverlustes  durch  die  Ausscheidungen  (Koth,  Harn, 
Respiration),  welchem  ja  die  Einnahmen  entsprechen  müssen.  Wenn  in  den 
meisten  Arbeiten  über  Ernährung  als  mittlerer  Bedarf  des  gesunden,  massig 
arbeitenden  Mannes  von  70  Ä;n^örpergewicht  eine  Zufuhr  von  118^  Eiweiss, 
56  g  Fett  und  500  g  Kohlenhydrat  gefordert  wird,  so  darf  nicht  ausser 
Acht  gelassen  werden,  dass  der  factische  Bedarf  im  einzelnen  Falle  recht  er- 
heblich von  diesem  Mittelwerth  abweichen  kann.  Einmal  ist  der  Begriff  „massige 
Arbeit"  und  damit  auch  der  dieser  Arbeit  entsprechende  Antheil  am  Stoff- 
verbrauch ein  sehr  schwankender.  Ausserdem  ist  aber  schon  in  absoluter 
Ruhe  der  Verbrauch  verschiedener  Menschen  sehr  verschieden,  wie  dies  na- 
mentlich die  Versuche  über  die  Grösse  des  Sauerstoffverbrauches  und  der 
Kohlensäureausscheidung  bei  ruhenden  Menschen  lehren.  Es  wächst  der  Be- 
darf natürlich  mit  dem  Körpergewicht,  aber  in  langsamerem  Maasse  als  dieses. 
Einen  erheblichen  Unterschied  bedingt  ferner  der  Fettgehalt  des  Menschen, 
so  zwar,  dass  bei  gleichem  Gewicht  der  fette  Mensch  erheblich  weniger  Stoff 
braucht,  als  der  magere,  muskulöse,  daher  wohl  auch,  wegen  des  Ueberwiegens 
des  Fettes  am  Körper,  das  Weib  w^eniger  als  der  Mann.  Von  den  drei,  in 
obigem  Mittelmaass  angegebenen  Kategorien  von  Nährstoffen  können  das  Fett 
und  die  Kohlenhydrate  einander  annähernd  im  Verhältnis  ihrer  Verbrennungs- 
wärmen so,  dass  1^  Fett  an  die  Stelle  von  2-3  g  Kohlenhydrate  oder  um- 
gekehrt tritt,  ersetzen.  Das  Eiweiss  ist,  bis  zu  einer  gewissen  Menge,  durch 
keinen  anderen  Nährstoff'  ersetzbar,  doch  hat  sich  gezeigt,  dass  die  Menge 
desselben  ohne  sichtbaren  Nachtheil  bis  auf  80  g  und  vielleicht  noch  weniger 
herabgesetzt  werden  kann.  Da  der  Eiweisszerfall  durch  Kohlenhydrate  stärker 
als  durch  Fett  beschränkt  wird,  so  wird  man  beim  Ueberwiegen  der  ersteren 
mit  einer  geringeren  Eiweissmenge  auskommen,  als  bei  vorwiegender  Fett- 
zufuhr. Da  das  Fett  besonders  in  der  an  Eiweiss  reichen  animalischen,  die 
Kohlenhydrate  in  der  daran  armen  vegetabilischen  Kost  vertreten  sind,  regelt 
sich  meist,  dem  physiologischen  Bedürfnis  entsprechend,  die  Nahrungsauf- 
nahme so,  dass  bei  fettreicher  Kost  zugleich  der  Eiweissgehalt  ein  höherer  ist. 

Wo  die  Leistungsfähigkeit  des  Verdauungsapparates  keine 
besonders  gute  ist,  wird  eine  genügende  Ernährung  nur  dann  möglich  sein, 
wenn  alle  drei  Kategorien  von  Nährstoffen  in  einer  mittleren  Menge  in  der 
Nahrung  enthalten  sind,  weil  nur  dann  die  verschiedenen,  der  A^erdauung 
dienenden  Secrete  des  Darmcanals  gleichmässig  zur  Verwerthung  kommen.  In 
einer  vom  Gesichtspunkte  der  Leichtverdaulichkeit  zusammengestellten  Nah- 
runo-  muss  das  Fett  reichlicher,  die  Kohlenhydrate  in  geringerer  Menge  ver- 
treten sein,  als  in  der  obigen  VoiT'schen  Norm,  statt  56  g  dürften  100  bis 
150^  Fett  empfehlenswerth  sein.  Von  der  dann  nur  noch  nöthigen  Menge 
von  400  bis  250^  Kohlenhydrate  lässt  man  zweckmässig  50  bis  100^,  je 
nach  der  individuellen  Geschmacksrichtung,  aus  dem  ohne  jede  Umsetzung 
im  Darmcanale  resorbirbaren  Zucker  bestehen. 

Bei  Bettruhe  ist  natürlich  der  Bedarf  erheblich  geringer  als  die  oben 
für  mittlere  Arbeit  angegebenen  Zahlen.  Das  Minus  beträgt  etwa  SO^/o-  Dabei 
darf  aber  die  Menge  des  Eiweisses  nicht  vermindert  werden,  da  dessen  Zerfall 
bei  Ruhe  nur  wenig  geringer  ist,   als  bei   massiger  Arbeit.     Aus  den  vorlie- 


ERNÄHRUNGSTHERAPIE.  609 

genden  Respirationsversuchen  an  ruhenden  Menschen  lässt  sich  berechnen, 
dass  neben  einer  Eiweisszufuhr  von  l'-i  (/  per  kl.  Körpergewicht  eine  Menge 
von  in  minimo  4*4,  in  maximo  8*7  g.  Kohlenhydrat  oder  deren  Aequivalent 
an  Fett  zur  Deckung  des  Ruhebedarfes  nöthig  sind.  Welcher  Werth  innerhalb 
dieser  Grenzen  dem  wirklichen  Bedarf  im  einzelnen  Falle  entspricht,  wird 
bei  einiger  Uebung  leicht  zu  schätzen  sein,  wenn  man  sich  erinnert,  dass  die 
Maximalwerthe  jugendlichen,  mageren,  die  minimalen  älteren,  fettreichen  Per- ' 
sonen  zukommen. 

Bei  körperlicher  Arbeit  ist  der  Bedarf  dieser  entsprechend  zu  stei- 
gern. Als  Anhaltspunkte  für  die  richtige  Bemessung  des  Arbeitszuwachses  können 
die  Erfahrungen  über  den  Stoffverbrauch  des  Menschen  bei  gemessenen  Arbeits- 
leistungen dienen.  Danach  bedingt  das  Gehen  auf  horizontalem  Wege  für 
jeden  Kilometer  Weges  per  1d  Körpergewicht  einen  Mehrverbrauch  von 
0"055  ^  Fett  oder  0-125  </  Stärke.  Die  mechanische  Arbeit,  welche  durch 
Heben  des  eigenen  Körpers  etwa  beim  Bergsteigen  oder  durch  Bewältigen  von 
Widerständen,  wie  beim  Drehen  eines  Rades  geleistet  wird,  bedingt  per 
1000  kgmeter  Arbeit  einen  Zuwachs  der  Fettzersetzung  von  0*7  bis  l'O  g,  resp. 
des  Verbrauches  von  Kohlenhydraten  von   1*6  bis  2*2  g. 

Es  genügt  aber  für  die  Ernährung  nicht,  dass  die  Nahrung  aus  den 
Bestandtheilen  im  richtigen  Verhältnis  gemischt  sei,  sie  muss  ausserdem  einen 
gewissen  Gehalt  an  würzenden  und  Reizstoffen,  d.  h.  an  Substanzen, 
welche  auf  das  Nervensystem  anregend  wirken,  besitzen.  Ohne  diese  Stoffe  fehlt 
nicht  nur  die  Lust  zur  Aufnahme  einer  genügenden  Nahrungsmenge,  es  leidet 
auch  die  Absonderung  der  Verdauungssäfte  und  damit  die  Ausnutzung  der  einge- 
führten Nahrung.  Im  Allgemeinen  wird  aber  auf  diesem  Gebiete  eher  durch 
ein  Zuviel  als  durch  ein  Zuwenig  gesündigt.  Namentlich  der  Wohlhabendere 
sucht  nach  immer  neuen  und  stärkeren  Anregungsmitteln,  um  den  Genuss 
der  Nahrungsaufnahme  zu  erhöhen.  Aus  der  Ueberreizung  resultirt  eine  all- 
mälige  Abschwächung  der  Functionen  der  in  Frage  kommenden  nervösen 
Apparate,  der  Absonderungsdrüsen  und  der  resorbirenden  Zellen.  Eine  grosse 
Menge  von  Verdauungsstörungen  des  späteren  Lebensalters  ist  auf  derartige 
Ueberreizungen  zurückzuführen.  Besonders  wichtig  ist  die  Vermeidung  der- 
selben in  der  Jugend.  In  diesem  Alter,  wo,  entsprechend  der  Wachsthums- 
tendenz  des  Körpers,  die  Leistung  des  Verdauungsapparates  an  sich  eine  vor- 
zügliche zu  sein  pflegt,  wird  durch  Reizmittel  die  Nahrungsaufnahme  leicht 
zu  einer  übermässigen,  das  Wachsthum  und  der  Fettansatz  des  Körpers  werden 
eine  Zeitlang  über  Gebühr  gefördert;  es  folgt  dann  aber  bald  und  besonders 
häufig  in  der  Zeit  der  Pubertät,  ein  Nachlass  der  vorher  überspannten  Appa- 
rate und  damit  ist  die  Grundlage  zum  Auftreten  von  neurasthenischen  Erschei- 
nungen: von  Bleichsucht  und  ähnlichen  Erkrankungen  gelegt.  Neben  der  Ver- 
wendung von  Reizmitteln  wird  vielfach  auch  die  Zufuhr  der  Eiweisskörper  in 
der  Nahrung  einseitig  über  Gebühr  gesteigert,  dadurch  zwar  vorübergehend  das 
Wachsthum  gefördert,  weiterhin  aber  zu  einer  vorzeitigen  Geschlechtsreife 
Anlass  gegeben,  deren  schädliche  Rückwirkungen  auf  das  Nervensystem  und 
die  weitere  Entwicklung  des  Körpers  ja  nur  allzubekannt  sind.  Aus  diesem 
Gesichtspunkte  folgert  der  Rath,  in  der  Nahrung  der  heranwachsenden  Jugend 
die  leicht  verdaulichen  Vegetabilien  (Brot,  Gemüse,  Obst)  zu  begünstigen,  da- 
neben von  Eiweissträgern  in  erster  Linie  Milch,  welche  sehr  viel  weniger  er- 
regend wirkt,  als  Fleisch  und  Eier,  deren  Menge  darum  nur  eine  massige  sein 
sollte  und  die  namentlich,  nicht  den  Hauptbestandtheil  der  Abendmahlzeit  bilden 
dürfen.  Ganz  zu  vermeiden  sind  sowohl  die  alkaloidhaltigen  (Thee,  Kaffee), 
als  auch  die  alkoholischen  Reizmittel.  Namentlich  letztere  sollten  bei  Kindern 
nur  als  Arzneien  Verwendung  finden.  Der  in  Laienkreisen  so  viel  verbreitete 
Glaube,  Wein  und  Bier  seien  als  regelmässige  Stärkungsmittel,  namentlich 
schwacher  Kinder  geeignet,  wird  wohl  kaum  noch  von  einem  denkenden  Arzte 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  39 


610  EKNÄHRUNGSTHEKAPIE. 

getheilt.  Die  Statistik  des  Längenwachstbums  und  der  Gewichtszunahmen  hat 
gelehrt,  dass  der  Ueberschuss  im  Körpergewicht  wohlhabender  und  üppig  ge- 
nährter Kinder  um  die  Zeit  der  Pubertät  und  bald  nachher  verloren  geht, 
dass  sie  um  diese  Zeit  vielfach  sogar  von  den  Kindern  der  Armen  an  Körper- 
wachsthum  und  Gewicht  überholt  werden. 

Kechtzeitiges  Maasshalten  wird  sich  also  vielfach  als  bestes  Mittel  zur 
Vermeidung  von  Ernährungsstörungen  erweisen.  Wenn  aber  solche  vorliegen, 
so  ist  die  Diät  in  der  Weise  zu  regeln,  dass  einerseits  der  Appetit  und  die 
Leistungsfähigkeit  des  Verdauungsapparates  angeregt,  andrerseits  in  möglichst 
kleinem  Volumen  möglichst  viel  Nahrung  zugeführt  werde.  Die  erstere  Auf- 
gabe erfüllt  neben  den  eigentlich  arzneilichen  Mitteln  und  den  in  diesem 
Falle  bei  vorübergehender  Anwendung  oft  so  vortrefflich  wirkenden  Alkoholicis 
namentlich  ein  reichlicher  Eiweissgehalt  der  Nahrung.  Neben  den  gewöhn- 
lichen Speisen  treten  hier  die  Nährpräparate,  wie  Pepton  und  Älhumosen  in 
ihre  Rechte.  Ist  auch  die  Nährwirkung  und  die  Verdaulichkeit  derselben  unter 
gewöhnlichen  Verhältnissen  nicht  grösser  als  die  der  zarteren  Fleischspeisen 
von  gleichem  Stickstoffgehalt,  so  wirken  sie  doch  häufig  vorzüglich  als  An- 
regungsmittel. 

Die  zweite  Aufgabe,  in  möglichst  kleinem  Volumen  und  unter  möglichst 
geringer  Belästigung  des  Verdauungsapparates  dem  Körper  Material  zuzu- 
führen, erfüllen  in  erster  Linie  die  Fette.  Eine  hervorragende  Stelle  weist 
ihnen  die  Erfahrung  bei  skrophulösen  und  tuberculösen  Erkrankungen,  sowie 
bei  anämischen  Zuständen  der  Kinder  zu.  Hier  verordne  man  neben  frischer 
Butter  und  Eidotter,  den  Leberthran,  das  Lipanm,  die  sogenannte  Kraftchokolade. 
Wollen  wir  den  Werth  dieser  diätetischen  Mittel  richtig  würdigen,  so  müssen 
wir  uns  zweier  Gesichtspunkte  erinnern,  welche  für  die  Beurtheilung  der  Be- 
kömmlichkeit der  Fette  maassgebend  sind,  das  ist  einmal  der  Schmelzpunkt 
derselben,  indem  nur  solche  Fette,  welche  bei  Körpertemperatur  flüssig  sind, 
leicht  verdaut  werden  und  zweitens  ihre  Emulgirbarkeit,  wie  sie  im  Leber- 
thran  und  den  beiden  als  Ersatz  desselben  durch  von  Mering  empfohlenen, 
sehr  zweckmässigen  Präparaten,  dem  Lipanin  und  der  Kraftchokolade,  durch 
einen  Gehalt  von  6 — 87o  freier  Fettsäure  bedingt  ist.  Die  abführende  und 
den  Darmcanal  reizende  Eigenschaft  des  Fettes  scheint  durch  diese  Emul- 
girbarkeit aufgehoben  zu  werden. 

Gerade  bei  den  Fetten  tritt  die  Wirkung  des  Geschmackes  auf  die 
Verdaulichkeit  besonders  deutlich  hervor  und  es  zeigt  sich  zugleich,  wie 
sehr  derselbe  individuell  verschieden  ist.  Leberthran  wird  von  vielen  Kindern 
gern  genommen,  und  bei  ihnen  sieht  man  meist  auch,  dass  er  gut  bekommt. 
Das  Letztere  ist  zuweilen  auch  da  noch  der  Fall,  wo  das  Präparat  mit  Wider- 
willen genossen  wird ;  häufig  führt  es  aber  hier  zu  Verdauungsstörungen, 
welche  sofort  weichen,  wenn  man  dieselbe  Menge  Fett  in  Form  von  Lipanin 
oder  eines  anderen,  wohlschmeckenden  Präparates  gibt.  In  den  Speisen  kann 
man  erhebliche  Mengen  von  Fetten  zuführen,  wenn  dieselben  in  der  Küche 
derart  verarbeitet  werden,  dass  der  Geschmack  und  die  unangenehmen  durch 
Fett  erzeugten  Empfindungen  im  Munde  ausbleiben.  Sowie  sich  die  letzteren 
bemerkbar  machen,  genügt  schon  eine  kleine  Menge  Fett,  um  auf  dem  Wege  des 
nervösen  Pteflexes  Verdauungsstörungen  zu  erregen.  Wenn  man  von  der  Schwer- 
verdaulichkeit einer  Substanz  spricht,  so  handelt  es  sich  dabei  vielfach  um 
die  Beschwerden,  welche  durch  den  Geschmack  und  eventuell  durch  geringe 
Reizwirkungen  auf  die  Schleimhaut  des  Magens  ausgelöst  werden.  In  der 
Form,  wie  der  Begriff'  der  Schwerverdaulichkeit  von  Aerzten  und  Laien  ge- 
braucht wird,  fällt  er  durchaus  nicht  mit  der  wirklichen  Schwerverdaulichkeit 
der  Speisen,  d.  h.  mit  dem  abnorm  langen  Aufenthalt  derselben  in  einzelnen 
Abschnitten  des  Verdauungsapparates  oder  der  unvollkommenen  Ausnutzung 
derselben,  d.  h.   dem  Uebergang  grosser  Mengen  in  den  Koth,  zusammen. 


ERYSIPELAS.  611 

Im  Gegentlieil,  vielfach  werden  solche  im  eigentlichen  Sinne  schwer  verdau- 
liche Stoffe,  wie  z.  B.  Schwarzbrot,  als  diätetische  Mittel  benutzt,  weil  sie 
eine  reichlichere  Füllung  des  Dickdarms  und  damit  bequemere  Entleerung 
des  Kothes  herbeiführen. 

Im  Hinblick  auf  diese  grosse  Bedeutung  der  individuell  verschiedenen 
Einwirkungen  der  Speisen  auf  die  Sinnesorgane  und  die  Em- 
pfindungsnerven der  Magenschleimhaut,  ist  es  von  grosser  Bedeutung 
für  erfolgreiche  Regelung  der  Diät,  dass  der  Arzt  von  seinen  subjectiven  Sym- 
pathien und  Antipathien  gegenüber  einzelnen  Speisen  abstrahiren  lerne.  Es 
liegt  sehr  nahe,  dass  Jemand  eine  Speise,  welche  ihm  Beschwerde  macht,  als 
unverdaulich  bezeichnet  und  umgekehrt.  Und  doch  sind  derartige  Beschwer- 
den vielfach  nur  eine  individuelle  Reaction  des  Nervensystems.  Man  muss 
die  persönliche  Geschmacksrichtung  jedes  Individuums  berücksichtigen,  will 
man  in  Fällen  schwieriger  Ernährung  Erfolge  erzielen.  Die  Erfahrung,  dass 
es  auch  gelang,  Gewichtszunahmen  zu  bewirken,  wenn  man  von  der  Einwirkung 
auf  die  Geschmacksorgane  ganz  absah,  indem  man  die  Kranken  mit  der 
Schlundsonde  ernährte,  beweist,  dass  die  fördernden  Wirkungen  anregender  Ge- 
schmacksempfindungen allenfalls  entbehrt  werden  können,  dagegen  wird  man 
stets  den  nachtheiligen  Effect  subjectiv  unangenehmer  Speisen  beobachten. 

Wenn  dauernd  die  Lust  zur  Nahrungsaufnahme  so  gering  ist,  dass  die 
Zufuhr  hinter  dem  Bedürfnis  zurückbleibt,  erweist  sich  häufig  eine  vorüber- 
gehende Nahrungsentziehung  als  das  beste  Stomachicum.  Thierversuche  haben 
gelehrt,  dass  bei  im  übrigen  der  Willkür  überlassenen  Nahrungsaufnahme 
diejenigen  Thiere  sich  besser  ernährten,  also  rascher  an  Gewicht  zunahmen, 
welche  man  zeitweilig  auf  1 — 2  Tage  hungern  liess. 

In  gewissen  Fällen  sind  es  abnorme,  subjective  Geschmacksempfindungen, 
welche  die  Nahrungsaufnahme  erschweren.  Hier  kann  man  zuweilen  durch 
entsprechende  Medicamente  die  Geschmacksempfindungen  corrigiren.  Spülungen 
des  Mundes  mit  aromatischen  Substanzen  verschiedener  Art  werden  vielfach 
benutzt.  In  neuerer  Zeit  hat  man  zur  Beseitigung  von  unangenehm  bitteren 
oder  süssen  Geschmacksempfindungen  das  Infusum  von  Gymnema  silvestre  oder 
das  aus  dieser  Pflanze  hergestellte  Acidum  gymnemicum  zu  Gurgelungen  ver- 
wandt. —  Bei  längerem  Gebrauche  dieses  Mittels,  wie  er  z.  B.  bei  Diabetikern, 
welchen  durch  beständigen  süssen  Geschmack  der  Appetit  genommen  ist,  vor- 
kommen kann,  ist  vor  reichlichem  Verschlucken  zu  warnen,  da  die  Substanz 
sich  in  Thierversuchen  als  giftig  erwiesen  hat.  n.  zuntz. 

ErysipeiaS.  Rose.  Rothlauf.  Unter  Erysipel  versteht  man  eine  acute, 
contagiöse,  coccogene  Infectionskrankheit,  welche  in  einer  lebhaften,  durch 
Form,  Ausbreitung  und  Verlauf  charakterisirten,  vom  Sitze  der  Infection  aus- 
gehenden Erkrankung  der  Haut,  resp.  der  Schleimhaut  und  mehr  oder  weniger 
heftigen  Allgemeinerscheinungen  sich  äussert.  Die  Rose  gehörte  früher  zu 
den  häufigsten,  epidemisch  und  besonders  in  Spitälern  auch  endemisch  auf- 
tretenden Krankheiten,  während  sie  jetzt  viel  seltener  und  auch  nur  mehr 
sporadisch  vorkommt.  Es  ist  dieser  Rückgang  in  der  Häufigkeit  erklärlich, 
wenn  man  in  Betracht  zieht,  dass  das  Erysipel  in  die  Reihe  der  Wundinfec- 
tionskrankheiten  zu  stellen  ist,  deren  Zahl  durch  die  Fortschritte  der  (3pera- 
tions-  und  Verbandmethoden,  wie  durch  die  hygienische  Vervollkommnung 
der  Heilanstalten  erheblich  reducirt  ist.  Allerdings  ist  diese  Reduction 
für  das  hier  in  Rede  stehende  Leiden  nicht  in  dem  Maasse  erfolgt,  wie  für 
die  anderen  gefürchteten  Wundkrankheiten  {Eospitalbrand,  Eiterßeher),  und 
das  erklärt  sich  einerseits  aus  der  grossen  Resistenz  der  noch  zu  besprechen- 
den pathogenen  Mikroorganismen  des  Erysipels  gegen  die  üblichen  Antisep- 
tica,  andererseits  wird  dieses  verständlich  durch  den  Umstand,  dass  nicht 
sowohl  die  grossen  Wunden  und  Verletzungen  den  Ausgangspunkt  der  Rose 

39* 


612  ERYSIPELAS. 

ZU  bilden  pflegen,  als  vielmelir  die  kleinen,  unscheinbaren,  wenig  beachteten 
oder  gar  ganz  übersehenen  Läsionen,  wie  ein  Kratzeffect,  eine  Abhebung  des 
Epithels  durch  keratolytische  Processe,  ein  linearer  Einriss,  ein  Nadelstich 
u.  Ae.  Eine  Verletzung  aber  —  und  damit  nehmen  wir  Stellung  zu 
einer  vor  der  bakteriologischen  Aera  viel  umstrittenen  Frage  —  muss  mit 
allen  Umständen  als  Vermittlerin  der  Eose  vorhanden  sein,  mag  sie  auch 
noch  so  minimal  erscheinen.  Dieses  Gesetz  müssen  wir  festhalten  denen 
gegenüber,  welche  bei  den  zahlreichen  Fällen,  in  welchen  zu  einer  Wunde 
Erysipel  sich  hinzugesellte,  von  einer  Wundrose  sprachen,  für  die  übrigen  aber, 
in  welchen  sie  eine  Läsion  vermissten,  eine  Entstehung  von  innen  heraus  an- 
nahmen. Sie  sprachen  dann  von  Anomalien  der  Blutbeschaffenheit,  einer 
., Schärfe"  des  Blutes,  oder  zogen  gar  den  so  oft  als  Nothnagel  benutzten 
Begriff  „rheumatisch"  zur  Erklärung  heran.  Man  geht  wohl  nicht  zu  weit, 
wenn  man  annimmt,  dass  die  Anhänger  der  letzteren  Ansicht  auf  dem  Aus- 
sterbeetat stehen.  —  Es  wäre  nun  noch  die  Möglichkeit  zu  erörtern,  dass 
die  Mikroorganismen  des  Erysipels  auf  dem  Blutwege  in  die  Haut,  resp.  Schleim- 
haut, wo  sie  als  Urheber  der  erysipelatösen  Entzündung  gefunden  werden, 
gelangen.  Man  kann  dieselbe  nicht  ganz  in  Abrede  stellen,  sie  ist  aber  doch 
sehr  zweifelhaft  und  höchstens  für  secundäre  Herde,  wie  für  primäre  zm' Er- 
klärung heranzuziehen.  Im  ganzen  dürfte  der  Satz  ,,jede  Rose  ist  eine  Wund- 
rose'-' kaum  angefochten  werden.  In  jedem  Falle  muss  auf  die  Eingangs- 
pforte des  Virus  gefahndet  werden,  und  meistens  wird  dieses  Bemühen 
kein  vergebliches  sein,  zumal  wenn  man  nicht  vergisst,  auch  bei  Hauterysipel 
die  etwa  benachbarten  Schleimhäute  genau  zu  durchforschen.  In  den  wenigen 
Fällen  aber,  in  denen  doch  das  Resultat  des  Suchens  ein  vergebliches  ist, 
kann  man  wohl,  ohne  fehl  zu  gehen,  annehmen,  dass  die  ursprüngliche  Läsion 
ohne  deutlich  erkennbare  Spuren  zu  hinterlassen,  bereits  geheilt  war,  als  die 
Wirkung  der  durch  dieselbe  eingewanderten  Infectionsträger  zu  Tage  trat. 
Für  den  inneren  Mediciner  —  und  dessen  Standpunkt  haben  wir  an  dieser 
Stelle  vornehmlich  zu  vertreten  —  sind  gerade  diejenigen  Fälle,  in  denen  gar 
keine  oder  nur  minimale  Eingangspforten  gefunden  worden,  von  jeher  von 
l)esonderem  Interesse  gewesen,  während  die  sich  zu  grösseren  Wunden  hinzu- 
gesellenden Erysipele  mehr  Domäne  des  Chirurgen  und  Dermatologen  bilden. 

Das  Erysipel  kann  in  j edem  Lebensalter  auftreten.  Immunität  gegen 
dasselbe  gibt  es  nicht  und  wird  auch  nicht  durch  Ueberstehen  der  Krank- 
heit erworben.  Im  Gegentheil  wird  durch  die  einmalige  Erkrankung  eine 
Disposition  zu  Rückfällen  geschaffen.  Es  ist  diese  Thatsache  bei  einer  echten 
Infectionskrankheit  nicht  gerade  gewöhnlich,  sie  steht  aber  durchaus  nicht  ver- 
einzelt da. 

Eine  besondere  Disposition  für  Erysipel  wird  den  blonden  Personen  zu- 
geschrieben; es  wäre  eine  solche  ja  leicht  zu  erklären,  da  blonde  Personen  eine 
zartere,  von  einer  dünneren  Hornschicht  überzogene  Haut  haben,  die  in  Folge 
dessen  auch  empfindlicher,  leichter  lädirbar  ist  und  den  Mikroorganismen 
öfter  Gelegenheit  bietet  sich  einzuschleichen. 

Ein  gehäuftes  Auftreten  der  Rose  wird,  abgesehen  von  den  durch  directe 
Uebertragung  vermittelten  Endemien,  im  Frühjahr  und  Herbst  zuweilen  be- 
obachtet. 

Sehr  gerne  combinirt  sich  das  Erysipel  mit  anderen  Krankheiten 
infectiöser  und  nicht  infectiöser  Natur,  im  Verlaufe  derselben  sich  als  un- 
willkommener Gast  hinzugesellend.  Natürlich  werden  wir  auch  hier  eine  vor- 
handene Läsion  der  Haut  als  Vermittlerin  in  Anspruch  nehmen  müssen.  So 
sehen  wir  beispielsweise  im  Verlaufe  eines  langdauernden  typhösen  Fiebers 
nicht  gar  selten  ein  echtes  Erysipel  auftreten,  und  zwar  gewöhnlich  ausgehend 
von  durch  Decubitus  entstandenen  Defecten  der  Haut,  also  localisirt  am  Kreuz, 
an  den  Malleolen  etc.  Ich  sage  ausdrücklich  „echtes"  Erysipel,  weil  es  auch 


ERYSIPELAS.  613 

manche  erysipelatoide  Hautaffectionen  gibt,  die  im  Laufe  von  Infectionskrank- 
lieiten  auftreten  und  mit  Erysipel  verwechselt  werden  können. 

Krankheitsbild:  Bei  der  Besprechung  der  Symptomatologie  gehen  wir 
zunächst  aus  von  einem  sich  auf  der  Körperoberfläche,  der  Hautdecke  abspie- 
lenden Erysipel.  Ohne  nennenswerthe  Prodrome  beginnt  dasselbe  stets  plötzlich 
mit  mehr  oder  weniger  heftigem  Schüttelfrost  und  entsprechender  Temperatur- 
erhöhung, allgemeiner  Abgeschlagenheit,  Müdigkeit,  Verdauungsstörungen,  zu- 
weilen Erbrechen,  Kopfschmerzen,  Beschleunigung  der  Pulsfrequenz.  Die  Höhe 
der  Temperatur  ist  gewöhnlich  keine  zu  übermässige  (38"5 — 39-5).  Gleichzeitig 
fast  bemerkt  man  an  irgend  einer  Hautstelle,  dem  Ausgangspunkte  des  Leidens, 
eine  schnell  zunehmende  Röthung  und  Schwellung.  Die  Haut  fühlt  sich  heiss 
an,  ist  gespannt,  spontan,  noch  mehr  aber  auf  Druck  empfindlich.  Diese 
Empfindlichkeit  äussert  sich  mehr  in  einem  Gefühl  von  unangenehmer  Span- 
nung und  Brennen,  als  in  eigentlichem  Schmerz;  Jucken  ist  nicht  vorhanden. 
Die  Röthe,  die  meistens  etwas  ins  gelbliche  spielt  und  unter  Hinterlassung 
einer  gelblichen  Färbung  wegdrückbar  ist,  schneidet  —  und  das  ist  charak- 
teristisch für  die  beginnende  und  im  Stadium  floritionis  befindliche  Rose  — 
scharf  mit  einem  wallartig  erhobenen  Rande  ab.  Der  Grad  der  Schwellung 
ist  natürlich  ausserordentlich  verschieden,  nicht  sowohl  je  nach  der  Heftig- 
keit der  Entzündung,  als  je  nach  der  Straffheit  des  subcutanen  Bindegewebes 
an  der  betreffenden  Stelle,  sie  ist  dem  Grade  der  Fixation  der  Haut  umge- 
kehrt proportional.  So  sind  beispielsweise  Oberlippe,  Augenlider,  Hand-  und 
Fussrücken  oft  gradezu  monströs  geschwollen. 

Die  Hautoberfläche  ist  in  der  Regel  glatt  und  glänzend,  nur  selten 
kommt  es  zur  Bildung  von  Blasen  {Erysipelas  vesiculosum  s.  hullosum).  Es 
ist  dieses  aber  durchaus  nicht  etwa  eine  besondere  Art  von  Erysipel,  vielmehr 
bedeutet  die  Blasenbildung  nur,  dass  die  entzündliche  Exsudation  eine  beson- 
ders heftige  ist.  Festhalten  muss  man  aber,  dass  die  Blasen  bei  der  Rose 
meistens  relativ  gross  und  unregelmässig  zerstreut  sind;  dicht  gesäte  kleinere 
Bläschen,  wie  beim  Eczema  acutum  vesiculosum  findet  man  nicht.  Nur  selten, 
und  dann  gewöhnlich  durch  Application  differenter  Medicamente  bedingt, 
kommt  es  zu  einer  Anhäufung  einer  grösseren  Menge  von  Leucocyten  in  den 
Blasen  und  damit  zu  einer  Trübung  des  Inhalts  (Erysipelas  pustulosum). 
Trocknen  die  Blasen  ein,  dann  entstehen  natürlich  Krusten  auf  der  des  Epi- 
thels beraubten  Haut  {Erysipelas  crustosum). 

Von  der  erysipelatösen  Hautstelle  ausgehend  sieht  man  zuweilen  rothe, 
schmale  Stränge  ausgehen  als  Ausdruck  einer  Lymphangoitis.  Regelmässig 
angeschwollen  sind  die  regionären,  dem  Sitze  der  Hautröthe  entsprechenden 
Lymphdrüsen. 

Das  weitere  Fortschreiten  der  erysipelatösen  Entzündung  geschieht  fast 
stets  per  continuitatem  und  zwar  nicht  in  gleichmässigem  Tempo,  sondern 
schubweise,  indem  die  Röthung  und  Schwellung,  gewöhnlich  unter  Steigerung 
der  Temperatur  und  Zunahme  der  Störungen  des  Allgemeinbefinden,  sich  in 
zackigen  Ausläufen  nach  einer  oder  auch  nach  mehreren,  resp.  allen  Richtungen 
fortschiebt,  und  zwar  besonders  da,  wo  der  Rand  am  schärfsten  ausgeprägt 
war.  So  kann  in  wenigen  Tagen  der  Process  sich  auf  grosse  Hautabschnitte 
erstrecken.  —  In  den  meisten  Fällen  pflegt  der  Process  so  einige  Tage  fort- 
zuschreiten und  am  3. — 6.  Tage  seinen  Höhepunkt  zu  erreichen,  um  dann  relativ 
schnell  zurückzugehen.  Das  erste  locale  Zeichen  ist  das  Erblassen  und  Ab- 
schwellen der  Randpartien,  ein  Verschwinden  der  scharfen  Grenze,  so  dass 
die  erysipelatöse  Fläche  mehr  diffus  in  die  Umgebung  übergeht.  Ist  dieses 
nicht  im  ganzen  Umfange  der  erkrankten  Hautstelle  der  Fall,  dann  kann  man 
mit  Sicherheit  annehmen,  dass  an  der  Seite,  an  der  der  Rand  verwaschen 
erscheint,  der  Process  zum  Stillstand  gekommen  ist,  während  man  an  den 
scharfen  Grenzen   ein  Weiterschreiten  befürchten   muss.     Sind  Röthung  und 


614  ERYSIPELAS. 

Schwellung  gescliwunden,  dann  erfolgt  unter  Abschuppung  schnell  eine  resti- 
tutio ad  integrum,  so  dass  sich  das  Erysipel  im  ganzen  in  8 — 10  Tagen  ab- 
spielt. 

Die  Allgemeinerscheinungen  beim  Erysipel  hängen  in  ihrer  Heftig- 
keit vornehmlich  von  zwei  Factoren  ab,  erstens  von  der  Heftigkeit  der  Infection, 
zweitens  von  der  Ausdehnung  des  Processes.  Meistens  gehen  allerdings  beim 
Erysipel  Umfang  der  localen  Erkrankung  und  Grad  der  Allgemein-Infection 
einander  parallel.  Der  Sitz  des  Erysipels  ist  auch  nicht  ohne  Bedeutung ; 
besonders  pflegen  die  allgemeinen  Symptome  dann  einen  höheren  Grad  zu 
erreichen,  wenn  in  Yolge  strafferer  Fixation  der  ergriffenen  Hautstelle  die 
Spannung  eine  besonders  starke  ist. 

Der,  wie  erwähnt,  das  Erysipel  meist  einleitende  Schüttelfrost  fehlt  eigent- 
lich nur  dann  zuweilen,  wenn  dasselbe  schon  aus  anderen  Ursachen,  etwa  in 
Folge  eitriger  Processe  oder  eines  Typhus,  fiebernde  Kranke  ergreift.  Die 
Temperatur  während  des  Schüttelfrostes  pflegt  keine  übermässig  hohe  zu  sein, 
der  sonst  demselben  folgende  Schweiss  zu  fehlen.  In  den  ersten  Tagen  kann 
dann  die  Temperatur  noch  bis  40°  und  41°  in  die  Höhe  klimmen,  behält  aber 
fast  stets  einen  remittirenden  Typus  mit  morgendlichem  Abfall  und  abendlicher 
Steigerung  bei.  Einem  Typus  inversus,  bestehend  in  abendlichem  Abfall  und 
morgendlicher  Steigerung,  begegnen  wir  nur  äusserst  selten.  Mit  dem  Rück- 
gang des  örtlichen  Processes  erfolgt  dann  auch  ein  Abfall  der  Temperatur 
relativ  schnell,  aber  nicht  kritisch.  Ausnahmsweise  nur  geht  dem  Temperatur- 
abfall eine  hochgradige  Erregung  voraus  {Perturbatio  critica),  die  bei  geschwäch- 
ten Individuen  auch  zu  Collaps  führen  kann.  —  Der  übliche  Verlauf  der 
Temperaturcurve  kann  nun  aber  vielfach  in  Folge  einer  mehr  oder  weniger 
abweichenden  Gestaltung  des  Processes  modificirt  werden.  Besonders  sind 
plötzliche,  starke  Steigerungen  der  erhöhten  oder  schon  normal  gewordenen 
Temperatur,  oft  mit  neuem  Schüttelfrost,  nichts  ungewöhnliches  ;  sie  sind  dann 
stets  Begleiter  eines  neuen,  schubweisen  Fortschreitens  der  örtlichen  Erschei- 
nungen. 

Die  Pulsfrequenz  entspricht  meistens  im  Ganzen  und  Grossen  der 
Höhe  des  Fiebers,  kann  aber  auch  bei  aus  anderen  Gründen  heruntergekommenen 
Personen  trotz  massiger  Temperaturerhöhung  eine  sehr  hohe  sein.  Eine  solche 
Incongruenz  zwischen  Puls  und  Temperatur  zeigt  stets  eine  zur  Vorsicht  mah- 
nende Schwäche  des  Herzens  an.  Darauf,  dass  die  Pulsfrequenz  beim  Hin- 
zutreten einer  Meningitis  auch  umgekehrt  eine  Verlangsamung  zeigen  kann, 
sei  hier  schon  hingewiesen. 

Das  Allgemeinbefinden  der  Patienten  ist  meistens  sehr  alterirt. 
Der  Appetit  liegt  darnieder,  quälender  Durst  plagt  den  Kranken,  Erbrechen 
kann  eintreten,  der  Stuhl  ist  angehalten.  Wie  bei  fast  allen  Infectionskrank- 
heiten  ist  auch  beim  Erysipel  die  Beobachtung  der  Zunge  von  nicht  geringer 
Bedeutung.  Es  kommt  dabei  aber  nicht  so  sehr  darauf  an,  ob  sie  mehr  oder 
weniger  belegt  ist,  als  darauf,  ob  sie  sich  feucht  oder  trocken  anfühlt.  Der 
Grad  der  Trockenheit  ist  meist  der  Heftigkeit  der  Erkrankung,  der  Schwere 
der  Infection  direct  proportional.  Eine  sehr  trockene  Zunge  ist  stets  ein  sehr 
unwillkommenes  Zeichen.  —  Heftige  Kopfschmerzen  sind  auch  dann,  wenn 
die  Kopfhaut  nicht  ergriffen  ist,  oft  vorhanden.  Das  Sensorium  ist  gewöhnlich 
frei,  kann  aber  auch  benommen  sein;  selbst  Delirien  können  auftreten.  Sopor 
und  Delirien  werden  stets  den  Verdacht  einer  Meningitis  erregen,  genügen 
aber  an  sich  nicht  zur  Begründung  der  Diagnose  dieser  Complication. 

Dieses  soeben  entworfene  Krankheitsbild  ist  etwas  schematisch  gehalten; 
wir  kommen  jetzt  dazu  die  in  verschiedenen  Richtungen,  sowohl  ad  bonam 
wie  ad  malam  partem,  möglichen  Abweichungen  zu  besprechen:  Abnorm 
leichte,  abortive  Fälle  sind  sehr  häufig,  zumal  bei  Patienten,  die  bereits  häufig- 
vom  Erysipel  heimgesucht  waren.  Röthung  und  Schwellung,  Schmerzhaftigkeit 


ERYSIPELAS.  615. 

sind  dann  nicht  bedeutend,  bleiben  örtlich  beschränkt,  bestehen  nur  1 — 3  Tage 
um  dann  schnell  zu  schwinden,  das  Fieber  ist  gering,  weicht  bald  oder  wird 
ganz  vermisst.  —  Im  Gegensatz  zu  dem  milden  Verlauf  dieser  Fälle  kommt 
auch  eine  ernstere  Gestaltung  des  Leidens  durchaus  nicht  selten  vor;  sie 
kann  sich  in  der  verschiedensten  Weise  äussern:  Erstens  ist  eine  abnorm 
lange  Dauer  des  Processes  nicht  selten,  hervorgerufen  durch  stetiges  Fort- 
wandern der  Rose  (Erysijjelas  migrans  s.  amhulans),  indem  der  Process,  meistens 
nach  einer  Pachtung  hin,  stets  per  continuitatem  fortschreitet  und  so  immer 
weitere  Körperabschnitte,  ja  nach  und  nach  die  ganze  Körperoberfläche  er- 
greift. Dieses  Fortwandern  geschieht  gewöhnlich  schubweise  unter  immer 
neuer,  oft  mit  Schüttelfrost  einhergehender  Steigerung  der  Temperatur  und 
entsprechender  Zunahme  der  Störung  des  Allgemeinbefindens.  War  die  Tem- 
peratur beim  Eintritt  des  neuen  Schubes  schon  normal  geworden,  dann  kann 
die  Curve  sogar  einen,  wenn  auch  unregelmässigen,  intermittirenden,  Typus 
erhalten.  Man  sieht  in  solchen  Fällen  dann  alle  Stadien  des  Processes  von 
der  höchstgi'adigen  Dermatitis  bis  zur  Desquamation  neben  einander.  —  Viel, 
viel  seltener  als  dieses  Fortschreiten  per  continuitatem  ist  die  discontinuirliche 
Ausbreitung  des  Processes,  indem  Körperstellen  von  Erysipel  befallen  werden, 
die  vom  primären  Herd  durch  grössere  Brücken  gesunden  Gewebes  getrennt 
sind  oder  gar  weit  entfernt  liegen;  so  kann  beispielsweise  zum  Gesichtsery- 
sipel  sich  unvermittelt  ein  Erysipel  des  Unterschenkels  hinzugesellen,  und 
umgekehrt  (Erysipelas  erraticum). 

Es  ist  leicht  begreiflich,  dass  alle  derartigen,  prolongirten  Fälle  ernster 
zu  nehmen  sind,  da  die  lange  Dauer  des  Processes,  das  fortbestehende  Fieber, 
das  Darniederliegen  der  Ernährung  die  Kräfte  des  Patienten  in  hohem  Maasse 
consumiren,  so  dass  derselbe  zu  Grunde  geht,  wenn  er  nicht  über  eine  beson- 
ders widerstandsfähige  Constitution  verfügt.  Dazu  kommt,  dass  bei  einer  sehr 
langen  Dauer  der  Krankheit  viel  eher  die  Möglichkeit  des  Eintretens  der 
noch  zu  erwähnenden  Complicationen  vorhanden  ist. 

Eine  weitere  Steigerung  der  Gefahr  droht  dem  Erysipelatösen  durch  eine 
abnorme  Gestaltung  des  örtlichen  Processes,  die  sich  in  verschiedener  Weise 
kundgeben  kann. 

Die  schlimmste  Eventualität  ist,  dass  die  ergriffenen  Theile  gangränös 
werden  {Erysipelas  gangraenosum),  ein  sehr  gefürchtetes  Ereignis.  Einerseits 
sind  dadurch  alle  Gefahren  der  Sepsis  heraufbeschworen,  andererseits  kann 
es  zu  ausgedehnten  Zerstörungen  des  Gewebes  kommen,  welche  grosse  Defecte 
setzen,  furchtbare  Entstellungen  bedingen,  die  zu  ihrer  Ausgleichung  alle 
Künste  der  Plastik  herausfordern.  Im  Ganzen  ist  dieser  Ausgang  in  Gangrän 
zum  Glück  nicht  eben  häufig;  besonders  disponirt  zur  Gangränescenz  scheinen 
die  Scrotalhaut  und  die  Lidhaut,  ohne  dass  deshalb  gerade  andere  Hautstellen 
gegen  dieselbe  immun  wären.  Die  Mortification  des  Gewebes  gibt  sich  natürlich 
in  gewohnter  Weise  kund;  die  Hautstelle  wird  kühl,  grauschwärzlich,  empfin- 
dungslos; später  erfolgt  Demarcation  und  Abstossung  durch  Eiterung. 

Eine  andere  Eventualität  ist  der  Uebergang  der  erysipelatösen  Ent- 
zündung in  die  phlegmonöse;  es  kommt  zur  Vereiterung  des  Bindegewebes 
mit  allen  ihren  Folgen  für  Muskeln  und  Sehnen  wie  für  das  Allgemeinbefinden. 
Ob  es  sich  dabei  um  eine  Secundärinfection  handelt,  oder  ob  eine  ätiologische 
Einheit  des  erysipelatösen  und  phlegmonösen  Processes  besteht,  darüber  wiU 
ich  mich  nicht  genauer  aussprechen;  es  sei  nur  die  Thatsache  erwähnt. 

Soweit  die  Steigerung  der  Gefahr  durch  Vorgänge  localer  Natui'!  Eine 
andere  droht  durch  abnorm  bösen  Verlauf  des  Fiebers,  indem  eine  hyper- 
py retische  Steigerung  desselben  eintritt.  Dabei  wird  die  Pulsfrequenz 
sehr  gesteigert,  die  Pulswelle  schwach,  das  Sensorium  sehr  benommen,  Delirien 
fehlen  nicht,  und  unter  den  Erscheinungen  der  Herzlähmung  gehen  die  Kranken 
zu  Grunde.    In  diesen  Fällen  besteht  keine    Congruenz  zwischen  Fieber  und 


616  ERYSIPEL  AS. 

Localerkrankimg;  man  muss  eine  abnorm  hohe  Virulenz  der  Infectionsträger 
annehmen.  —  Ebenso  selten  wie  die  Hyperpyrese,  wenn  nicht  noch  seltener, 
ist  die  Ausbildung  eines  Status  typhosus  im  Anschluss  an  das  Erysipel. 
Der  örtliche  Process  ist  im  Rückgang,  das  remittirende  Fieber  bleibt  aber 
bestehen,  die  Functionen  des  Nervensystems  liegen  sehr  darnieder,  erhebliche 
Verdauungsstörungen,  Erbrechen  und  Durchfälle  bringen  den  Kranken  her- 
unter und  consumiren  seine  Kräfte. 

Kommen  wir  nun  zu  den  eigentlichen  Complicationen  des  Ery- 
sipels, so  sehen  wir  hier  von  der  Schilderung  der  Krankheiten  ab,  welche 
sich  aus  allen  fieberhaften  Leiden  infectiöser  oder  nicht  infectiöser  Natur  hin- 
zugesellen können,  so  von  der  hypostatischen  Pneumonie,  dem  Decubitus,  ab. 
Erwähnt  werden  müssen  aber  die  mehr  charakteristischen  Complicationen,  das 
sind  die  Entzündungen  der  serösen  Häute,  die  alle  im  Verlaufe  eines  Erysipels 
erkranken  können.  So  hat  man  Pleuritis,  Pericarditis,  Gelenkentzündung  bei 
Erysipel  gesehen,  meistens  katarrhalischer,  zuweilen  aber  eitriger  Natur.  Am 
gefürchtetsten  ist  die  Meningitis,  die  wir  noch  bei  der  Besprechung  des  Gesichts- 
erysipels  erörtern  werden.  Die  Entstehungsweise  dieser  Entzündungen  ist 
nicht  immer  dieselbe.  In  vielen  Fällen  handelt  es  sich  um  eine  directe  Fort- 
pflanzung von  der  betreffenden,  über  der  entsprechenden  serösen  Höhle  ge- 
legenen Hautstelle  aus,  in  anderen  aber  muss  man  die  Entzündung  der  serösen 
Haut  als  eine  Metastase,  entstanden  durch  Verschleppung  des  Virus,  resp, 
seiner  Producte  auffassen. 

Hat  ein  Patient  sein  Erysipel  glücklich  überstanden,  ist  er  den  etwaigen 
Complicationen  ohne  Schädigung  entgangen,  so  hat  er  noch  mit  einer  sehr 
unwillkommenen  Möglichkeit  zu  rechnen,  das  ist  die  Möglichkeit  der  Re- 
cidive,  da  das  Erysipel,  wie  bereits  erwähnt,  statt  Immunität  eine  gesteigerte 
Disposition  zurücklässt,  ähnlich  wie  der  acute  Gelenkrheumatismus.  Es  kann 
sogar  das  Erysipel  habituell  werden  {Erysipelas  habitualis).  Allerdings  sind 
die  folgenden  Anfälle  meist  nicht  so  heftig  wie  der  erste,  localer  Process  und 
Allgemein ersch einungen  halten  sich  in  massigen  Grenzen:  dennoch  ist  die 
Neigung  zu  Recidiven  nicht  von  unerheblicher  Bedeutung,  da  die  wiederholte 
Erkrankung  einen  chronischen  Reizzustand  zurücklässt,  der  zur  Hypertrophie 
des  Gewebes  führt.  Ist  diese  sehr  ausgesprochen,  so  bezeichnet  man  sie  als 
Elephantiasis.  Wir  sehen  diesen  Folgezustand  relativ  häufig  am  Unter- 
schenkel, am  Gesicht,  am  Scrotum,   an  den  Labien. 

Als  Ergänzung  dieser  mehr  allgemein  gehaltenen  Ausführungen  bedarf 
es  noch  einer  Besprechung  der  Modificationen,  welche  sich  durch  die  ver- 
schiedene Localisirung  des  Erysipelas  ergeben ;  jeder  Körpertheil  kann  ja 
Sitz  desselben  werden. 

Das  Gesicht  gehört  zweifellos  zu  den  am  häufigsten  von  Erysipel  be- 
fallenen Theilen  der  Körperoberfläche,  und  das  ist  leicht  erklärlich,  wenn  wir 
uns  des  früher  über  die  Disposition,  die  für  die  Einwanderung  der  Infections- 
träger durch  kleine  Läsionen  geschaffen  wird,  Gesagten  erinnern.  Gerade  das 
stets  unbedeckte  Gesicht  ist  ja  vielfach  Schädlichkeiten  ausgesetzt  und  dabei 
von  einer  zarten,  leicht  verletzlichen  Haut  überzogen;  zudem  ist  dasselbe  noch 
besonders  oft  von  Hautaffectionen  ergriffen,  welche  Epitheldefecte  setzen.  Da 
sind  zunächst  die  Eczeme,  welche  durch  Zerstörung  der  Hornschicht,  durch 
Hervorrufung  linearer  Hautverletzungen  (Rhagaden)  an  den  Schleimhautüber- 
gängen, dem  Erysipel  die  Wege  ebnen.  Besonders  sind  die  Eczeme  im  Nasen- 
eingang und  an  der  Oberlippe,  gewöhnlich  hervorgerufen  durch  das  reizende, 
erodirende  Secret  bei  bestehender  Rhinitis,  als  disponirende  Momente  hervor- 
zuheben; gerade  der  Naseneingang  ist  ein  häufiger  Ausgangspunkt  der  Gesichts- 
rosen. Von  Bedeutung  ist  auch  in  demselben  Sinne  der  Herpes  labialis;  wie 
oft  wird  die  Blasendecke  durch  den  kratzenden  Finger  unnützer  Weise  entfernt, 
und  so  ein  Locus  minoris  resistentiae  geschaffen,  den  die  Mikroorganismen  des 


ERYSIPELAS.  617 

Erysipels  sich  zu  Nutze  machen!  Denken  wir  ferner  an  die  häufige  Zerstörung 
von  Acneknoten,  an  die  Sycosis,  die  Impetigo,  den  besonders  beachtenswerthen 
Lupus  vulgaris,  die  Kratzeffecte  und  Verletzungen  durch  Rasiermesser,  dann 
werden  wir  die  Häufigkeit  der  Localisation  des  Erysipels  im  Gesichte  ver- 
stehen. Finden  wir  kein  veranlassendes  Moment  auf  der  Gesichtshaut,  dann 
haben  wir  auf  die  benachbarten  Schleimhäute  unser  Augenmerk  zu  richten. 
Dieselben  können  ja  einerseits  durch  die  erodirende  Wirkung  ihrer  Secrete  zu 
Eingangspforten  des  Erysipels  führen,  andererseits  können  sie  aber  auch  selbst 
der  primäre  Sitz  dessellDen  gewesen  sein,  das  dann  durch  die  Körperöffnungen 
auf  die  Haut  übergegangen  ist.  Wo  wir  also  eine  Rhinitis,  eine  Ozäna,  eine 
Parulis,  eine  Stomatitis,  eine  Dacryocystitis,  eine  Otitis  etc.  finden,  werden 
wir  ihre  Beziehungen  zu  einem  Gesichtserysipel  in  Erwägung  zu  ziehen 
haben. 

Die  localen  Erscheinungen  bei  einer  Gesichtsrose  sind  besonders  ins  Auge 
fallend,  wenn  Oberlippe,  Augenlider,  Ohren  ergriffen  sind,  da  an  diesen  Stellen 
es  leicht  zu  besonders  starken  entzündlichen  Oedemen  und  dadurch  bedingten, 
oft  monströsen  Schwellungen  kommt.  Das  Ohr  schwillt  zu  einer  unförmlichen 
Masse  an,  in  der  die  normalen  Vertiefungen  sich  wenig  markiren,  die  Oberlippe 
bekommt  eine  rüsselförmige  Gestalt,  die  Augenlider  bilden  dicke  Polster,  so 
dass  an  ein  Oeffnen  der  Augen  nicht  zu  denken  ist.  —  Die  Weiterverbreitung 
der  Gesichtsrose  erfolgt  gewöhnlich  nach  der  Kopfhaut,  während  die  vordere 
Halsfläche  meistens  frei  bleibt,  was  mit  der  Anordnung  der  Bindegewebsfasern,  der 
Spaltungsrichtung  der  Haut  in  Zusammenhang  gebracht  wird.  Wo  die  Gesichts- 
rose auf  den  Rumpf  übergeht,  was  nicht  gerade  häufig  geschieht,  schlägt  sie  den 
Weg  neben  den  Nacken  ein,  oder,  was  allerdings  sehr  selten  ist,  sie  springt 
auf  mehr  oder  weniger  entfernte  Theile  discontinuirlich  über.  —  Wie  bereits 
oben  erwähnt,  bilden  die  Augenlider  sowohl  für  Gangrän  wie  für  Phlegmone 
einen  günstigen  Boden.  Erstere  bedingt  natürlich  leicht  Ectropium  mit  all' 
seinen  Folgen  für  den  Bulbus.  Letzterem  drohen  aber  noch  in  mancher  an- 
deren Beziehung  Gefahren  beim  Erysipel.  So  ist  erstens  Zerstörung  der 
Hornhaut  durch  Keratitis  beobachtet;  sodann  kommen  Orbitalphlegmonen  bei 
Gesichtsrose  —  vereinzelt  auch  durch  Metastase  bei  an  anderen  Körperstellen 
localisirtem  Erysipel  —  vor,  welche  zum  Verlust  der  Sehkraft  führen,  und  zwar 
auf  doppeltem  Wege:  entweder  kommt  es  zur  Panophthalmitis  mit  Phthisis  bulhi 
oder  zur  Atrophie  des  Sehnerven  während  seines  Verlaufes  in  der  phlegmonösen 
Orbita  nach  retrobulbärer  Neuritis.  —  Dass  das  habituelle  Erysipel  sich  gerne 
im  Gesichte  localisirt,  ist  bereits  erwähnt.  Dasselbe  erhält  dadurch  ein  ge- 
dunsenes, ausdrucksloses  Aussehen. 

Die  Kopfhaut  erkrankt  auch  häufig  an  Erysipel,  meistens  allerdings 
nicht  primär,  sondern  secundär  durch  Fortpflanzung  vom  Gesichte  oder  auch 
vom  Rumpfe.  Die  Röthung  und  scharfe  Begrenzung  sind  an  derselben  meistens 
weniger  scharf  ausgeprägt.  Die  starke  Spannung  der  straff  angehefteten 
Galea  bewirkt  natürlich  ganz  besonders  lebhafte  Beschwerden;  heftige  Kopf- 
schmerzen sind  regelmässig  vorhanden,  Delirien  und  Erbrechen  sehr  oft.  Ge- 
fürchtet aber  ist  das  Kopferysipel  hauptsächlich  wegen  der  Fortpflanzung  des 
Processes  auf  die  Meningen,  welche  die  zahlreichen  feinen  und  feinsten  Ca- 
nälchen  des  Schädels  vermitteln.  Die  Meningitis  hat  eine  sehr  ernste,  ja  fast 
letale  Bedeutung;  ihre  Symptome  weichen  in  keiner  Weise  von  den  aus  anderen 
Gründen  entstehenden  Hirnhautentzündungen  ab.  Kopfschmerzen,  Benommen- 
heit, Delirien,  Erbrechen,  eingezogenes  Abdomen,  Nackenstarre,  Convulsionen, 
Pulsverlangsamung  sind  die  classischen  Symptome.  Da  die  erstgenannten 
Erscheinungen  auch,  wie  erwähnt,  ohne  Meningitis  vorkommen,  so  muss  man 
mit  der  Diagnose  der  letzteren  sehr  vorsichtig  sein,  um  nicht  ohne  Noth, 
Angst  und  Schrecken  zu  verbreiten.  —  Nach  Abheilung  eines  Kopferijsipelas 
begegnet  man  fast  regelmässig  einem  Haarausfall  im  Gebiete  des  Erkranlden; 


618  ERYSIPELAS. 

da  aber  die  Scliädigimg  der  Haarwurzel  keine  dauernde  ist,  ist  diese  Alopecie 
zum  Glücke  auch  nur  vorübergehender  Natur.  —  An  den  Extremitäten 
findet  man  das  Erysipel  nicht  selten;  sie  bieten  hier  wenig  Eigenthümliches. 
Veranlassung  zu  demselben  geben  vor  allem  neben  Hautläsionen,  so  z.  B. 
Nadelstichen,  Kratzeffecten,  auch  zahlreiche  Hautleiden,  von  denen  erstens 
der  Lupus  vulgaris,  zv;eitens  die  Stauungsdermatosen  des  Unterschenkels  her- 
vorgehoben zu  werden  verdienen.  Letztere,  varicöse  Eczeme,  Ulcera  cru- 
ris,  sind  nicht  selten  die  Urheber  des  habituellen  Erysipels  am  Unter- 
schenkel, welches  hinwiederum  eine  Elephantiasis  zur  Folge  hat.  Die  mon- 
strösen Verdickungen  des  Unterschenkels,  welche  sogar  die  Abtragung  des- 
selben indiciren  können,  sind  in  unseren  Himmelsgegenden  fast  stets  ein 
Product  der  Addition  des  habituellen  Erysipels  zu  der  durch  Varicen  bedingten 
Stauung. 

Am  Rumpfe  findet  man  das  Erysipel  primär  nicht  gerade  sehr  häufig. 
Als  nicht  seltene  Ausgangspunkte  seien  hier  erwähnt  die  Rhagaden  der  Ma- 
milla  bei  stillenden  Frauen  und  der  Decubitus  am  Kreuz. 

An  den  Genitalien  tritt  bei  beiden  Geschlechtern  Erysipel  nicht  selten 
auf.  Das  puerperale  Erysipel  lasse  ich  hier  unerörtert;  das  Erysipel  des 
Scrotum  sei  wegen  der  besonderen  Neigung  zu  Gangrän  hervorgehoben. 

Einer  gesonderten,  wenn  auch  kurzen  Besprechung  müssen  wir  das  iso- 
lirte  Erysipel  der  sichtbaren  Schleimhäute  unterziehen,  welchem  man 
besonders  in  den  letzten  Jahren  mehr  Aufmerksamkeit  zugewandt  hat,  während 
früher  diese  Form  der  Schleimhautentzündung  mit  allen  möglichen  Bezeich- 
nungen belegt  wurde.  Ich  denke  in  erster  Reihe  an  das  Erysipel  des 
Larynx  und  Pharynx,  das  durchaus  nicht  allzu  selten  zu  sein  scheint.  Dass 
dieser  Sitz  im  höchsten  Maasse  das  Leben  gefährdet,  ist  ja  leicht  verständlich, 
wenn  man  bedenkt,  um  welch'  enge  und  für  die  Athmung  wichtige  Canäle  es 
sich  handelt,  und  wie  leicht  die  heftige  erysipelatöse  Entzündung  und  Exsu- 
dation stenosirende  Schwellung  und  damit  höchste  Athemnoth  bewirken  kann. 
Die  localen  Erscheinungen  an  der  Schleimhaut  sind  nicht  gerade  charakte- 
ristisch, da  es  sich  ja  nur  um  graduelle  Unterschiede  gegenüber  anderen 
Schleimhautentzündungen  handelt.  Was  den  Process  kennzeichnet,  ist  neben 
der  auffallenden  Intensität  der  örtlichen  Anomalien  und  neben  den  Allgemein- 
erscheinungen vor  allem  der  Umstand,  dass  es  relativ  oft  secundär  zu  erysi- 
pelatösen  Entzündungen  der  Haut  kommt,  die  dann  erst  die  Aetiologie  klar- 
legen. Dieses  Hauterysipel  kann  sich  nun  secundär  entweder  von  den 
Körperöffnungen  —  Mund,  Nase  —  aus  per  continuitatem  als  directe  Fort- 
setzung entwickeln  oder  discontinuirlich  an  irgend  einer  Körperstelle  ent- 
stehen. —  Jedenfalls  ist  das  Erysipel  des  Pharynx  und  Larynx  eine  sehr 
ernste,  zur  grössten  Vorsicht  mahnende  Erkrankung,  die  meist  tödtlich  endet. 

Aetiologie:  Die  zu  Erysipel  disponirenden  Momente  sind  im  obigen 
wiederholt  eingehend  besprochen.  Der  eigentlich  pathogene  Factor  sind  die 
Fehleisen'' sehen  Erysipelascoccen,  entdeckt  1881.  Man  findet  dieselben  in  grosser 
Menge  in  den  entzündeten  Theilen  und,  was  für  die  Therapie  nicht  unwichtig 
ist,  noch  2  —  3  cm  über  die  makroskopisch  kranken  Partien  hinaus;  sie  sind 
fast  ausschliesslich  in  den  Lymphwegen  gelagert.  Im  Blute  sie  zu  finden 
ist  bisher  nicht  gelungen?  Sie  gehören  zu  den  kettenbildenden  Coccen 
(Streptococcen)  und  lassen  sich  auf  den  üblichen  Nährböden  leicht  züchten. 
Besonders  gut  wachsen  sie  im  Brutschrank  auf  Blutserum,  weisse,  fest  haftende 
Rasen  bildend.  Durch  Impfung  mit  den  Reinculturen  kann  man  bei  Thieren 
und  Menschen  das  Bild  des  Erysipel  erzeugen. 

Ob  die  Coccen  wirklich  nur  für  das  Erysipel  specifisch  sind,  ist  noch 
Gegenstand  der  Controverse,  da  manche  Autoren  sie  von  den  Urhebern  phleg- 
monöser Entzündungen  nicht  getrennt  wissen  wollen  und  nur  durch  Ver- 
schiedenheit des  Nährbodens,  d.  h.  die  verschiedene  Reaction  des  Individuums,. 


ERYSIPELAS.  619 

oder  die  Art  der  Verimpfimg  die  verschiedenen  Kranklieitsbilder  erklären. 
Es  scheint  fast,  als  ob  die  Vertheidiger  dieser  Ansicht  Recht  behalten,  jedoch 
ist  die  Frage  noch  unentschieden  und  kann  auch  hier  nicht  eingehender  er- 
örtert werden. 

Diagnose:  Nicht  immer  ist  die  Erkennung  des  Erysipels  leicht,  besonders 
dann  nicht,  wenn  dasselbe  milde  auftritt.  Gerade  diese  Fälle  zu  erkennen,  ist 
aber  mit  Rücksicht  auf  die  Contagiosität  besonders  wichtig.  Als  Anhalte- 
punkte  muss  man  festhalten:  1.  dass  es  sich  stets  um  eine  plötzlich  einsetzende, 
fieberhafte  Erkrankung  liandelt,  2.  dass  die  ergriffenen  Theile  geröthet,  ge- 
schwollen, scharf  begrenzt  und  schmerzhaft  sind,  mehr  brennen  als  jucken, 
3.  dass  die  Hautoberfläche  glatt  erscheint;  wo  es  zur  Blasenbildung  kommt, 
handelt  es  sich  um  grössere,  ungleichmässig  vertheilte  Blasen.  Man  muss  das 
Erysipel  zunächst  abgrenzen  von  Erythemen,  die  Röthung  ohne  Entzündung, 
ohne  scharfe,  wallartige  Umrandung,  ohne  folgende  Abschuppung  und  ohne 
Allgemeinerscheinungen  bewirken.  Das  acute  Eczem  zeigt  auch  nicht  einen 
so  scharfen,  wallartigen  Rand,  ruft  nässende  Stellen,  Papeln  oder  Blasen  hervor. 
Letztere,  Papeln  und  Blasen,  sind  oft  so  klein,  dass  man,  um  sie  zu  erkennen, 
die  Haut  bei  seitlicher  Beleuchtung  durchmustern  muss;  dann  sieht  man  sie 
als  minimale,  dicht  gesäte,  miliare  Erhabenheiten.  Das  acute  Eczem  kann 
auch  mit  Fieber  einsetzen,  jedoch  ist  dasselbe  stets  unbedeutend,  bewirkt  keine 
nennenswerthen  Störungen  des  Allgemeinbefindens  und  schwindet  schnell.  — 
Die  Ueberwindung  der  Schwierigkeiten,  ein  primäres  Erysipel  der  Schleimhaut 
als  solches  zu  erkennen,  ergibt  sich  aus  dem  oben  Gesagten. 

Prognose:  Die  Voraussage  des  Ausganges  des  Erysipels  richtet  sich 
zunächst  nach  der  Resistenzfälligkeit  und  der  Constitution  des  Patienten.  Be- 
sonders Personen,  die  durch  andere  fieberhafte  Krankheiten,  wie  Typhus, 
sehr  geschwächt  sind,  kommen  durch  ein  accidentelles  Erysipel  in  die  grösste 
Gefahr.  Weiter  ist  die  Heftigkeit  der  Infection,  die  Höhe  des  Fiebers,  der 
Grad  der  Alteration  des  Nervensystems,  die  Kraft  und  Frequenz  des  Pulses 
in  Betracht  zu  ziehen.  Sehr  hohes  Fieber,  besonders  wenn  dasselbe  nur  geringe 
Remissionen  zeigt,  kleiner  frequenter  Puls,  Delirien,  Benommenheit  sind  un- 
günstige Momente.  Nicht  von  so  grosser  Bedeutung  ist  die  locale  Ausdehnung 
des  Processes;  vielleicht  von  grösserer  der  Sitz  desselben.  Besonders  ist  die 
Localisation  an  der  Kopfhaut  ernst  zu  nehmen,  da  das  Damoklesschwert  der 
Meningitis  über  dem  Haupte  des  Erkrankten  schwebt.  Vorsicht  erheischt  der 
Sitz  an  den  Augenlidern  und  an  der  Scrotalhaut  mit  Rücksicht  auf  etwaige 
Gangrän.  —  Die  Prognose  wird  natürlich  ernster,  wenn  das  Erysipel  Neigung 
zum  Wandern  zeigt  und  sich  womöglich  wochenlang  hinzieht. 

Für  die  Prognose  der  Dauer  des  Leidens  ist  einerseits  die  Temperatur 
zu  beachten  von  Wichtigkeit;  starke  Remissionen  bedeuten  ein  bevorstehendes 
Erlöschen  des  Processes.  Andererseits  gibt  die  Betrachtung  des  Randes  gute 
Anhaltspunkte;  wird  derselbe  im  ganzen  Umfange  des  Leidens  verwaschen, 
dann  kann  man  einen  baldigen  Rückgang  als  wahrscheinlich  hinstellen,  schneidet 
derselbe  aber  auch  nur  an  einem  Theil  wallartig,  scharf  ab,  dann  muss  man 
ein  Fortschreiten  an  dieser  Stelle  befürchten.  —  Wenn  manche  dem  Erysipelas 
buUosura  eine  besonders  ernste  Bedeutung  beilegen,  so  ist  das  ja  insofern 
richtig,  als  die  Blasenbildung  auf  eine  besonders  heftige  locale  Entzündung 
deutet;  jedoch  ist  auf  den  Grad  der  Heftigkeit  des  localen  Processes  nicht 
ein  zu  grosser  Werth  zu  legen.  —  Dass  Phlegmone  und  Gangrän  die  Prognose 
ernster  gestalten,  dass  die  etwaigen  Complicationen  —  vor  allem  die  Menin- 
gitis —  je  nach  ihrer  Bedeutung  berücksichtigt  werden  müssen,  bedarf  wohl 
kaum  der  besonderen  Betonung.  Sehr  bedenklich  ist  stets  das  Erysipel  des 
Pharynx  und  Larynx,  das  durch  locale  Veränderungen,  wie  die  meist  sehr 
heftigen  Allgemeinerscheinungen,  das  Leben  sehr  bedroht. 


620  ERYSIPELAS. 

Nicht  unerwähnt  will  ich  auch  eine  günstige  Folge  lassen,  die  das  Ery- 
sipel, leider  allerdings  nur  selten,  nach  sich  zieht.  Man  hat  vielfach  beobachtet, 
dass  unter  Einfluss  eines  Erysipels  krankhafte  Processe  der  Haut,  besonders 
maligne  Neubildungen  schwinden.  So  hat  man  Carcinome  heilen  sehen,  so  sah 
man  ausgedehnte  Sarcome  in  Folge  eines  Erysipels  zur  Resorption  oder  zur 
Ausstossung  gelangen.  Diese  zweifellose  Thatsache  hat  dazu  geführt,  dass' 
man  versucht  hat,  die  Einimpfung  des  Erysipels  als  Heilverfahren  gegen  die 
genannten  Leiden  in  Anwendung  zu  bringen.  Es  kann  auch  füglich  nicht  be- 
zweifelt werden,  dass  diese  Impfungen,  die  man  nach  der  Entdeckung  der 
Erysipelascoccen  mittels  Reinculturen  ausgeführt  hat,  hin  und  wieder  Erfolg 
gehabt  haben.  Diese  Heilversuche  haben  uns  aber  auch  belehrt,  dass  diese 
artificiell,  zu  therapeutischen  Zwecken  erzeugten  Erysipele  besonders  maligner 
Natur  zu  sein  pflegen,  und  man  deshalb  alle  Veranlassung  hat,  diesen  Heil- 
versuch nur  in  verzweifelten  Fällen  und  mit  Zustimmung  des  über  die  mög- 
lichen Folgen  genau  zu  instruirenden  Kranken  auszuführen. 

Pathologische  Anatomie:  Nach  dem  Tode  blasst  die  erkrankte  Haut 
schnell  ab;  schwindet  auch  die  Schwellung,  so  dass  makroskopisch  wenig  oder  gar 
nichts  zu  sehen  ist.  Mikroskopisch  findet  man  die  Zeichen  einer  heftigen  Derma- 
titis, sich  äussernd  vornehmlich  in  einer  starken  Zellinfiltration  aller  Hautschich- 
ten. Etwas  specifisches  hat  diese  Entzündung  nicht,  es  sei  denn,  dass  man  auf 
Mikroorganismen  fahndet  und  die  in  grosser  Zahl  vorhandenen  Streptococcen 
findet.  Bei  tödtlich  verlaufenen  Fällen  kann  man  ausserdem  diejenigen  Ver- 
änderungen degenerativer  Natur  an  den  Organen  und  den  Muskeln  constatiren, 
wie  sie  alle  schweren,  fieberhaften  Infectionskrankheiten  mehr  oder  weniger 
zur  Folge  haben. 

Etwaige  Complicationen  setzen  natürlich  diejenigen  Anomalien,  die  ihnen 
eigen  sind,  ohne  dass  durch  dieselben  ihre  Entstehung  durch  das  Virus  des 
Erysipels  documentirt  würde. 

Therapie:  Nachdem  wir  zur  Erkenntnis  gelangt  sind,  dass  Läsionen 
der  Körperdecken  die  Vorbedingung  für  Einwanderung  der  Erysipelascoccen 
bilden,  erheischt  die  Prophylaxe  dringend  eine  sorgsame  antiseptische, 
resp.  aseptische  Behandlung  jedes  Hautdefectes,  mag  derselbe  noch  so  gering 
sein,  ja  sich  auf  eine  Abschilferung  des  Epithels  beschränken.  Insofern  gehört 
auch  die  Beseitigung  aller  möglichen  Hautleiden,  Eczeme,  Pthagaden,  Herpes, 
Lupus  vulgaris,  Ulcus  cruris,  wie  der  Schleimhautaffectionen  in  das  Gebiet  der 
Prophylaxe  des  Erysipels.  Die  sorgsame  Beachtimg  der  entsprechenden  Ano- 
malien wird  zur  dringenden  Nothwendigkeit,  wenn  schon  einmal  oder  gar 
wiederholt  dieselben  zum  Ausbruch  eines  Erysipels  Veranlassung  gegeben  haben. 
Abheilung  aller  Hautveränderungen  ist  die  beste  Wafie  gegen  das  habituelle 
Erysipel  und  seinen  Folgezustand,  die  Elephantiasis. 

Es  bedarf  wohl  kaum  der  besonderen  Betonung,  das  jeder  Erysipela- 
töse,  so  weit  als  irgend  möglich,  isolirt  werden  muss  und  dass  jeder,  der 
irgend  eine,  wenn  auch  nur  unbedeutende  Hautläsion  zeigt,  sich  von  Erysi- 
pelatösen  fernzuhalten  hat.  Letzteres  ist  besonders  auch  von  Aerzten  zu  be- 
achten, die  sich  relativ  häufig  mit  Erysipel  inficiren. 

Die  Allgemeinbeha,ndlung  beim  Erysipel  weicht  in  keiner  Weise 
ab  von  derjenigen  bei  anderen  acuten,  fieberhaften  Erkrankungen.  Die  Diät 
muss  regulirt  werden,  sie  muss  eine  leicht  verdauliche  und  dabei  kräftige 
sein.  Es  nehmen  da  Milch,  Bouillon,  Haferschleim,  Eier  die  erste  Stelle  ein; 
feste  Nahrung  ist  niemals  angebracht  und  dem  Kranken  auch  meist  direct 
zuwider.  Dem  Durst  trägt  man  durch  Wasser,  Citronenlimonade  Rechnung. 
Alkohol  gibt  man  in  einer  mit  der  Höhe  und  Dauer  des  Fiebers,  wie  der 
Schwäche  des  Pulses  parallel  steigenden  Menge  und  Concentration.  In  leichten 
Fällen  ist  er  vollkommen  entbehrlich;  bei  schweren  Fällen,  hohem  Fieber, 
kleinem,  frequentem  Puls  darf  man  sich  nicht  scheuen  auch  zu  schweren  Weinen 


ERYSIPELAS.  621 

{Portwein,  Sherry,  Champagner)  oder  zum  Cognac  zu  greifen  und  hohe  Dosen 
zu  reichen. 

Speci fische  Mittel  gegen  Erysipel  gibt  es  nicht;  der  von  Pirogoff 
empfohlene  Campher,  (O'l — 0'3  alle  1 — 2  Stunden)  kann  auch  auf  die  Be- 
zeichnung eines  Specificum  keinen  Anspruch  machen,  ist  aber  natürlich,  wo 
Excitantien  indicirt  sind,  mit  grossem  Nutzen  zu  verwenden.  Will  jemand  es 
von  vorneherein  reichen,  so  ist  dagegen  auch  nichts  zu  bemerken. 

Die  Nothwendigkeit  der  Bekämpf  ung  des  Fiebers  ist  nicht  sowohl 
durch  die  Höhe  desselben  gegeben,  als  vielmehr  durch  den  Grad  der  Alteration 
des  Nervensystems  und  der  Herzthätigkeit.  Wo  das  Sensorium  benommen 
ist,  der  Kranke  delirirt,  die  Zunge  sehr  trocken  ist,  die  Beschaöenheit  und 
Frequenz  des  Pulses  Bedenken  erregen,  muss  man  die  Temperatur  zu  ermäs- 
sigen  versuchen.  Jedoch  mag  man  festhalten,  dass  gedankenloses  Herabdrticken  des 
Fiebers  keinen  Zweck  hat,  man  den  Erfolg  der  gegen  dasselbe  angewendeten 
Mittel  nicht  allein  nach  dem  Thermometer  beurtheilen  muss,  sondern  darnach, 
ob  gleichzeitig  die  etwa  vorhandene  Benommenheit  schwindet,  der  Kranke 
ruhiger,  die  Zunge  trockner  wird,  vor  allem  auch  die  Pulsfrequenz  mit  der 
Temperatur  gleichzeitig  herabgeht  und  die  Pulswelle  dabei  kräftig  bleibt. 
Dringend  nothwendig  ist  die  Bekämpfung  des  Fiebers  bei  Hyperpyrese.  Man 
verwendet  zu  dem  Zwecke  einerseits  antipyretische  Medicamente ;  in  erster 
Eeihe  empfehle  ich  Phenacetin,  welches  die  relativ  geringsten  Nebenwirkungen 
hat,  in  der  Menge  von  0"1 — 0*5  pro  dosi,  1 — 2mal  täglich,  je  nach  dem  Alter 
des  Patienten  unter  Controle  von  Temperatur  und  Puls.  Die  Darreichung 
empfiehlt  sich  am  meisten  gegen  Abend.  Günstig  wirkt  auch  Antipyrin 
(1-0  für  Erwachsene,  O'l- — 0*6  für  Kinder,  1 — 3  mal  täglich );  weniger  günstig 
dagegen  Antifebrin,  welches  leicht  Collaps  bewirkt  und  deshalb  besser  ganz 
vermieden  wird.  —  Die  hydropathischen  Proceduren  wirken  auch  sehr  wohl- 
thuend  auf  das  Fieber  ein  und  sind  besonders  da,  wo  die  Functionen  des 
Nervensystems  sehr  darniederliegen,  am  Platze.  Kühle  Waschungen,  kalte, 
halbstündlich  zu  wechselnde  Einpackungen  des  Rumpfes,  laue,  allmälig  ab- 
gekühlte Bäder  (25°)  sind  anzuwenden.  Zweckmässig  ist  es  diese  Proceduren 
mit  den  Antipyreticis  zu  verbinden,  beispielsweise  Tag  über  Einpackungen  zu 
machen  und  gegen  Abend  noch  eine  Dosis  Phenacetin  zu  reichen.  —  Verdauungs- 
störungen sind  soweit  als  möglich,  symptomatisch  zu  bekämpfen ;  bestehende 
Obstipation,  Erbrechen  etc.  müssen  beseitigt  werden.  Wenden  wir  uns  nun 
zur  Behandlung  der  Localaffection,  so  haben  wir  eine  so  grosse 
Zahl  von  Vorschlägen  zu  berücksichtigen,  dass  eine  Vollständigkeit  kaum  zu 
erzielen  ist ;  es  soll  deshalb  nur  das  wichtiger  erscheinende  besprochen  werden. 
—  Was  zunächst  die  Änivendung  der  Kälte  auf  die  entzündete  Hautstelle 
betrifft,  so  ist  sie  im  allgemeinen  anzurathen ;  besonders  ist  beim  Erysipel 
der  Kopfhaut  das  Auflegen  eines  Eisbeutels  sehr  nützlich.  Jedoch  bedarf  die 
Kälteanwendung  auch  einer  gewissen  Vorsicht,  da  natürlich  die  Neigung  zur 
Gangränescenz  durch  andauernde  intensive  Abkühlung  gefördert  werden  kann. 
Man  wendet  das  Eis  deshalb  besser  nur  intermittirend  an,  indem  man  es  alle 
paar  Stunden  für  1 — 2  Stunden  entfernt,  oder  vermeidet  es  ganz,  so  am 
Scrotum  oder  an  den  Augenlidern.  Man  ersetzt  die  Eisapplication  durch  An- 
wendung kühler  Umschläge  mit  Aq.  plumbi,  ö^/o  Liq.  Burowii,  Vj^  Resorcin- 
lösung,  oder  legt  mit  denselben  Flüssigkeiten  getränkte  Dunstumschläge  um, 
die  man  1 — 2-stündlich  wechselt.  Man  kann  in  dieser  Beziehung  getrost  dem 
Gefühle  des  Patienten  Rechnung  tragen,  da  eine  Milderung  der  Entzündung 
doch  auch  stets  sich  in  einer  Herabsetzung  des  Schmerzes  und  des  Span- 
nungsgefühles documentirt.  Man  richtet  sich  also  darnach,  was  dem  Pa- 
tienten am  angenehmsten  ist. 

Bevor  ich  die  weiteren  Heilverfahren  bespreche,  möchte  ich  einige  all- 
gemeine Regeln  vorausschicken,  um  unnöthige  Wiederholungen  zu  ersparen: 


622  ERYSIPELAS. 

Erstens  ist  es  bei  Anwendung  von  Einreibungen  wichtig,  dass  man  stets  cen- 
tripetal  von  den  gesunden  nach  den  kranken  Theilen  hinstreicht,  um  nicht 
durch  die  Massage  die  Coccen  noch  weiter  centrifugal  zu  verbreiten.  —  Zweitens 
müssen  alle  Medicamente  3^4  cm  über  die  makroskopisch  kranke  Hautstelle 
applicirt  werden,"  da  ja  die  mikroskopische  Untersuchung  lehrt,  dass  sich  noch 
jenseits  des  Randes  2 — 3  cm  weit  Coccen  im  Gewebe  in  reichem  Maasse  finden.  — 
Drittens  beherzige  man,  dass  die  Wirksamkeit  jeder  Salbe  oder  Flüssigkeit 
bedeutend  gesteigert  wird,  wenn  man  die  Haut  durch  Alkohol  und  Aether 
oder  durch  energische  Seifenwaschung  vorher  entfettet.  • —  Endlich  bemerke 
ich,  dass  die  Heilwirkung  aller  Verfahren  sich  äussern  muss  nicht  nur  in 
einer  Abnahme  der  örtlichen  Erscheinungen,  sondern  auch  in  einer  Besserung 
der  Allgemeinerscheinungen,  vornehmlich  des  Fiebers. 

Gehen  wir  nun  nach  diesen  allgemeinen  Bemerkungen  zu  einer  Besprechung 
der  medicamentösen  Behandlung  des  localen  erysipelatösen  Processes,  so  hebe 
ich  in  erster  Reihe  hervor  das 

IcUhijol,  ■")  weil  dasselbe  nach  den  Berichten  zahlreicher  Autoren  (Nuss- 
BAUM  etc.)  ganz  besonders  günstige  Wirkungen  entfaltet.  Dieselbe  ist  experi- 
mentell begründet  durch  den  Nachweis,  dass  die  Coccen  des  Erysipels  durch 
Ichthyol  schnell  vernichtet  werden,  jedoch  lasse  ich  es  dahingestellt,  ob  es 
sich  ausschliesslich  hier  um  die  baktericide  Kraft  des  Ichthyols  handelt,  oder 
ob  nicht  auch  seine  gefässverengernde  Wirkung  dabei  eine  bedeutende  Rolle 
spielt.  Wie  dem  auch  sei,  unter  den  vorhandenen  Medicamenten  nimmt  Ichthyol 
den  ersten  Platz  ein. 

Man  wendet  dasselbe  beim  Erysipel  in  starker  Concentration  (20 — 40°/o)  an  und  zwar 

als  wässrige,  ölige,  ätherische  Lösung,  als  Salbe,  Paste,  Collodium  etc.  nach  folgenden 
Formeln : 

Ichthyol  4-0                    Ichthyol  20-0  Ichthyol  2-0  Ichthyol  5-0— 10-0 

Gollod.  elasf.  20-0         Aether  Aether  20-0  Ädeps.     lanae    20-0 

Glycerin  ää  lO'O  Zinc.  oxyd.  5'0 

DS.  Aeusserlich.           DS.  Aeusserlich.  DS.  Zum  Spray.  DS.  Äeusserlich. 

Wo  es  angeht,  ist  Ichthyolcollodium,  welches  gleichzeitig  einen  gewissen 
Druck  ausübt,  am  bequemsten;  an  der  Kopfhaut  nimmt  man  eine  wässrige 
oder  ölige  (Leinöl !)  Lösung  oder  applicirt  den  sehr  wirksamen  Jodoform- 
ätherspray mit  folgender  EinÖlung.  —  Die  Wirkung  des  Ichthyols  äussert  sich 
in  Abnahme  der  Schwellung,  der  Spannung,  der  Schmerzhaftigkeit,  wo- 
mit ein  Abfall  der  Temperatur  verbunden  ist.  Wo  dasselbe  reizt,  zur  Blasen- 
bildung führt,  muss  man  schwächere  Concentrationen  wählen. 

Resorcin  ist  auch  empfohlen;  ist  aber  wohl  nicht  so  wirksam  wie  das 
Ichthyol.  Es  wird  als  10 — 50"/o  Salbe  oder  Paste  angewendet.  Sublimat  soll 
als  l7o  Sublimatlanolin  eingerieben  das  Erysipel  günstig  beeinflussen.  Carbol- 
säure  hat  in  Hütee  einen  warmen  Vertheidiger  gefunden,  und  zwar  wird  es 
in  Form  von  subcutanen  Injectionen  angewendet.  Sie  werden  so  ausgeführt, 
dass  man  von  einer  Lösung  :  Äcid.  carhol.,  Alcohol  m  3'0,  Äq.  dest.  74-0,  sub- 
cutan, rings  um  den  Krankheitsherd  in  Abständen  von  1- — 2  cm  ^2 — 1  Spritze 
injicirt;  man  kann  3 — 6 — 12  (!)  Spritzen  auf  einmal  appliciren.  Diese  Pro- 
cedur  wird  so  lange  täglich  wiederholt,  bis  der  Process  zum  Stillstand  kommt. 
Es  ist  nicht  zweifellos,  dass  dieses  nach  Carbolinjectionen  meist  schnell  ein- 
tritt, diese  Behandlungsmethode  zu  den  wirksamsten  gehört,  aber  ebenso  sicher 
ist,  dass  sie  zu  den  umständlichsten  und  schmerzhaftesten  zu  zählen  ist. 
Ausserhalb  klinischer  Anstalten  ist  sie  jedenfalls  nur  wenig  anwendbar;  bei 
dem  gradeso  häufigen  Gesichtserysipel  verbietet  sie  sich  schon  wegen  der 
enormen  Schmerzhaftigkeit  von  selbst.  —  In  jüngster  Zeit  hat  man  empfohlen 
die  Carbolinjectionen  übrigens  durch  Injection  mit  V2  7oo  Sublimatlösung  zu 
ersetzen,  ob  dieselbe  einen  Vorzug  hat,  ist  mir  unbekannt.  —  Sehr  viel  ge- 


*)  Vergl.  „IchilvyoV-    Bd.  yiVhavmacologie   und  Toxicologie.'^ 


ERYSIPELAS.  623 

braucht  wird  die  Carbolsäure  auch  iu  Form  des  Carbolöls  und  von  Carbol- 
umschlägen.  Ersteres  hat  wenig  Wirkung,  schadet  aber  nicht,  letztere  sind 
direct  zu  verbieten,  da  wir  ja  jetzt  wissen,  dass  die  andauernde  Application 
selbst  schwacher  Carbolsäurelösungen  in  Form  von  Umschlägen  an  sich  Gan- 
grän bewirken  kann,  ein  Ereignis,  das  wir  beim  Erysipel  zu  fürchten  Ver- 
anlassung haben. 

Campher  zur  externen  Anwendung  ist  jüngst  wieder  empfohlen  worden. 

Es  soll  in  folgenden  Formen  Verwendung  finden  : 

Acid.  tannic.  Camphor.  trit.  25'0 

Camplwr.  trit.  ää  2'0  Äetlier  50'0 

Aetlier  15'0  DS.  Äeusserlich. 

BS.  3-stündlich  aufzupinseln. 

Argentum  nitricum  soll  als  50%  Lösung  auf  die  durch  Alkohol  gereinigte 
Haut  aufgepinselt  werden.  Jedoch  werden  sehr  heftige  Reizerscheinungen,  be- 
stehend in  ausgedehnter  Ablösung  der  Epidermis,  Blosslegung  des  Corium, 
heftigen  Schmerzen  gemeldet,  die  zur  Vorsicht  rathen.  —  Noch  immer  spukt 
in  der  Literatur  die  Empfehlung,  den  ganzen  Krankheitsherd  mit  dem  Höllen- 
steinstift in  einiger  Entfernung  zu  unterstreichen,  um  dem  Process  an  diesem 
Strich  Halt  zu  gebieten.  Wenn  man  die  oberflächliche  Wirkung  einer  Höllen- 
steinätzung einerseits,  die  Ausbreitung  der  Coccen  bis  in  die  tiefsten  Haut- 
schichten andererseits  in  Betracht  zieht,  dann  wird  man  dieses  Verfahren 
mehr  als  Curiosum  ansehen  müssen. 

Ein  einfaches  Verfahren  ist  das  Aufstreichen  von  Collodium  oder  das 
Auflegen  von  Gummipapier,  wie  es  Kolaczek  empfiehlt ;  letzteres  bleibt  an- 
dauernd liegen.  Die  Authebung  der  Perspiration  soll  günstig  wirken,  indem 
die  Zersetzungsproducte  von  Schweiss  und  Talg  und  die  an  den  Coccen  er- 
zeugten Ptomaine  auf  die  Coccen  entwicklungshemmend  einwirken.  Aehnli- 
ches  bezweckt  wohl  die  Empfehlung  die  kranken  Theile  dick  mit  weissem 
Vaselin  zu  bestreichen  und  dann  mit  Guttaperchapapier  zu  bedecken, 

Wir  gehen  nun  über  zu  der  mechani  sehen  Behandlungsmetho  de, 
die  besonders  Wölfler  eingeführt  hat.  Dieselbe  wird  in  der  Weise  ausge- 
führt, dass  man  5  cm  vom  Krankheitsherde  einen,  respective  mehrere  Streifen 
Heftpflaster  umlegt,  so  dass  eine  energische  Compression  ausgeübt  wird ;  man 
kann  diese  Streifen  mit  Collodium  überpinseln.  Dieses  Verfahren  ist  natürlich 
besonders  leicht  an  den  Extremitäten  ausführbar,  lässt  sich  aber  durch  ge- 
schickte Combination  der  Streifen  auch  im  Gesichte  und  am  Kopfe  anwenden. 
An  der  comprimirten  Stelle  soll  der  Process  nun  Halt  machen  und  thut  es 
auch  oft.  Die  Schwellung  und  Röthung  geht  bis  an  den  Streifen  heran,  die 
Haut  wölbt  sich  an  ihm  stark  in  die  Höhe,  überschreitet  ihn  aber  nicht,  und 
damit  ist  dem  Erysipel  Halt  geboten.  Es  ist  das  auch  theoretisch  nicht  schwer 
zu  erklären :  Durch  die  energische  Compression  werden  die  Lymphbahnen  ge- 
schlossen und  dadurch  den  fortwandernden  Coccen  der  Weg  versperrt.  Das 
Verfahren  ist  also  ganz  rationell.  Beachtet  muss  bei  der  Anwendung  desselben 
werden,  dass  man  einerseits  die  Streifen  nicht  zu  fest  legen  darf,  um  nicht 
die  Blutcirculation  zu  sehr  zu  beeinträchtigen  und  dadurch  das  Eintreten 
einer  Gangrän  zu  begünstigen,  andererseits  aber  auch  darauf  zu  sehen  hat, 
dass  die  Streifen,  sobald  sie  sich  lockern,  —  und  das  geschieht  beim  Heft- 
pflaster relativ  schnell,  —  zur  rechten  Zeit  erneuert  werden.  Man  hat  das 
Heftpflaster  auch  durch  entsprechende  Kautschukringe  ersetzt,  durch  die  man 
dasselbe  erzielen  kann.  Natürlich  muss  man  dann  auch  verschiedene  Grössen 
vorräthig  haben.  —  Kommen  wir  schliesslich  zur  chirurgischen  Behand- 
lung desErysipelas,  welche  in  Kkaske  einen  wannen  Befürworter  gefunden 
hat.  Derselbe  verfährt  in  der  Weise,  dass  er  in  den  erysipelatösen  Theilen 
und  deren  scheinbar  normalen  Umgebung  zahlreiche  Scarificationen  ausführt, 
dann  diese  Stellen  mit  S'^/q  Carbolwasser  oder  1*^/00  Sublimatwasser  tüchtig 
auswäscht  und  dann  antiseptisch  verbindet.    Durch  diese   in   die   Tiefe   ein- 


624  FACIALISLÄHMUNG. 

dringenden  Antiseptica  sollen  die  Coccen  vernichtet  werden.  An  Energie 
lässt  dieses  Verfahren  nichts  zu  wünschen  übrig  ;  es  scheint  aber  doch,  als  ob 
der  Erfolg  nicht  im  Verhältnis  zu  der  Schwere  des  Eingriffes  steht.  Man 
wird  sich  deshalb  wohl  kaum  dazu  entschliessen,  zumal  das  Verfahren  schmerz- 
haft ist  und  wohl  stets  eine  Narcose  erfordert.  Ich  glaube  nicht,  dass  viele 
Patienten  sich  in  Anbetracht  dessen,  dass  man  ihnen  doch  ein  absolut  sicheres 
Ergebnis  nicht  versprechen  kann^  sich  dazu  bereit  finden.  Im  Gesichte  ver- 
bietet sich  diese  Methode  von  selbst,  da  die  zahlreichen,  wenn  auch  kleinen 
Narben,  die  von  den  Scarificationen  zurückbleiben,  keine  willkommene  Re- 
miniscenz  an  das  frühere  Erysipel  bilden. 

Ueberblicken  wir  nun  alle  zur  localen  Behandlung  empfohlenen  Medi- 
camente und  Methoden,  so  möchte  ich  für  die  Praxis  neben  der  Anwen- 
dung der  kühlenden  Umschläge,  resp.  des  Eises  mit  den  oben  erörterten  Vor- 
sichtsmaassregeln  es  für  das  beste  halten,  die  mechanische  Behandlung 
mittelst  Heftpflasterstreifen  mit  der  Ichthyolanwendung  zu 
combiniren.  Man  kommt  da  sicher  ebenso  weit,  wie  durch  energischere  und 
differentere  Heilversuche. 

Ist  es  zu  Gangrän  gekommen,  so  ist  eine  antiseptische  Wirkung  na- 
türlich von  Wichtigkeit;  daneben  ist  die  Anwendung  der  Wärme  zur  Be- 
schleunigung der  Demarcation  und  der  Abstossung  des  mortificirten  Gewebes 
am  Platze. 

Phlegmonöse  Processe  erfordern  ein  energisches  chirurgisches 
Eingreifen.  Man  muss  alle  Herde  biossiegen  und  auf  jede  Weise  für  guten 
Abfluss  sorgen;  jede  Retention  bringt  grosse  Gefahr. 

Das  primäre  Erysipel  des  Pharynx  und  Larynxindicirt  die  ener- 
gische Anwendung  des  ganzen  antiphlogistischen  Apparates:  Eiscravatte, 
Schlucken  von  Eisstücken,  Blutegel  am  Halse.  Zum  Gurgeln  dürfte  2% 
Ichthyollösimg  von  Nutzen  sein.  Natürlich  wird  man  sich  in  jedem  Augen- 
blick bereit  halten  müssen  durch  Tracheotomie  der  Gefahr  der  Erstickung 
vorzubeugen.  - — 

Auf  die  Behandlung  der  verschiedenen  Complicationen  kann  ich  hier 
natürlich  nicht  eingehen;  ihr  ätiologischer  Zusammenhang  mit  dem  Erysipel 
lenkt  ihre  Therapie  nicht  in  andere  Bahnen. 

JESSNEK. 

FaCiahslähinung.  (Paralysls  nervi  facialis.)  Der  Nervus  facialis  ver- 
sorgt die  mimischen  Gesichtsmuskeln.  Seine  Lähmung  gibt  der  betroffenen 
Seite  den  Anblick  der  Schlaffheit,  des  fehlenden  Muskeltonus:  die  Stirnhaut  ist 
glatt,  die  Augenbraue  sinkt  herab,  und  das  obere  Augenlid  faltet  sich,  die 
Nasolabialfalte  ist  verstrichen,  der  Mundwinkel  herunterhängend,  der  Mund 
nach  der  gesunden  Seite  verzogen.  Fordert  man  den  Kranken  auf,  die  Stirn 
zu  runzeln,  die  Augen  zu  schliessen,  den  Mund  zu  spitzen,  so  wird  man  des 
Unterschiedes  zwischen  der  kranken  und  der  gesunden  Seite  besonders  deutlich 
gewahr:  die  gelähmte  Stirnseite  legt  sich  nicht  in  Falten,  das  Auge  bleibt  offen, 
der  Mund  spitzt  sich  nach  der  gesunden  Seite  zu,  und  die  kranke  Wange  wird 
stärker  aufgebläht  wie  die  .gesunde. 

Der  Kranke  berichtet  seinem  Arzt,  dass  die  Gesichtshaut  der  gelähmten 
Seite  stumpf  oder  schwer  sei,  dass  er  zuweilen  Schmerzen  habe,  die  sich  bald 
hinter  dem  Ohr,  bald  in  den  Augen  concentriren,  dass  die  Zunge  schwer  sei 
und  es  ihm  Mühe  mache,  auf  der  kranken  Seite  zu  kauen,  da  die  Speisen  in 
die  Backentaschen  herabrutschen  und  die  Zunge  nicht  gelenkig  genug  sei, 
um  sie  wieder  zwischen  die  Zahnreihen  zurückzubefördern,  und  dass  auch  der 
Geschmack  auf  der  Zungenspitze  stark  beeinträchtigt  sei.  Weiterhin  macht 
der  Kranke  darauf  aufmerksam,  dass  mit  dem  kranken  Auge  die  Gegenstände 
wie  durch  einen  Schleier  gesehen  würden,  dass  er  mit  dem  Ohr  der  kranken 


FACIALISLÄHMUNG.  625 

Seite  schärfer  oder  aucli  sclüecliter  höre  wie  mit  dem  andern  und  dass  seine 
Sprache  zuweilen  einen  schnarchenden  oder  näselnden  Charakter  habe. 

Es  ist  für  den  Arzt  nicht  schwer,  dieses  in  den  einzelnen  Fällen  varii- 
rende  Bild  zu  erkennen.  Des  weitern  hat  er  die  Pflicht,  sich  selber  über  den 
Fall  zu  Orientiren,  Dazu  gehört:  1.  Feststellung  des  Sitzes  der  Krankheit, 
beziehungsweise  der  Krankheitsursache,  2.  Feststellung  der  Krankheitsursache 
selbst,  3.  die  Beantwortung  der  Frage,  ob  und  wann  Heilung  eintreten  kann, 
einer  Frage,  die  auch  für  den  Patienten  von  allergrösstem  Interesse  ist,  und  4. 
der  Plan  der  Therapie. 

Ad.  1.  Wo  ist  der  locus  morbi? 

Der  Nervus  facialis  kann  an  jeder  Stelle  seines  ganzen  Verlaufes  erkranken. 
Je  nachdem  sprechen  wir  von  einer  centralen  oder  peripheren  Lähmung. 
Den  Symptomen  nach  gibt  es  zwei  Hauptmerkmale  zu  deren  Unterscheidung, 
nämlich  das  Fehlen  der  Entartungsreaction  (EaE)  und  das  Nichtbetroffensein 
des  Stirnastes '")  bei  der  centralen  Lähmung.  Im  übrigen  gibt  jeder  locus 
morbi  seinem  Symptomenbild  eine  eigene  Signatur. 

A.  Die  centrale  Lähmung. 

a)  Rindenlähmung.  Verletzung  des  unteren  Theiles  der  vorderen  Central- 
windung.  Der  Arm  und  Hypoglossus  wegen  der  Nähe  der  ihnen  zugehörenden  cor- 
ticalen  Felder  mitgelähmt.  Wenn  der  Herd  rechts  sitzt,  betrifft  die  Lähmung 
Arm  und  Gesichtshälfte  linkerseits  und  umgekehrt  (gekreuzte  Lähmung). 

b)  Der  VII.  ist  in  seinem  Verlauf  innerhalb  des  Centrum  semiovale  Vieussenii 
getroffen:  Leitungslähmung,  meist  kurzdauernd,  vorübergehend.  Am  bekanntesten 
die  Lähmungen  durch  Verletzung  der  Capsula  interna. 

c)  Der  Krankheitsherd  sitzt  im  Streifenhügel  oder  Linsenkern.  Im 
ersteren  Falle  sollen  besonders  die  respiratorischen  Zweige  getroffen  sein. 

fZ)  Im  Pons: 

a)  In  der  oberen  Brückenhälfte:  ein  Herd  auf  der  linken  Seite  macht 
eine  Lähmung  der  Gesichtshälfte  und  Extremitäten  rechts. 

ß)  In  der  unteren  Brückenhälfte:  sitzt  der  Herd  rechts,  so  sind  gelähmt: 
linke  Extremitäten  und  rechte  Gesichtshälfte  (wechselständige  Lähmung,  Paralysie 
alterne). 

Läsionen  im  unteren  Ponsabschnitt,  nach  erfolgter  VII-Kreuzung,  können 
bereits  EaR  zeigen,  sind  deshalb  also  eigentlich  den  peripheren  Lähmungen  zuzu- 
rechnen. 

B.  Die  periphere  Lähmung. 

Sitz  der  Läsion: 

a)  Im  Facialis  kern.  Allein  oder  in  Verbindung  mit  Lähmung  anderer 
Nerven  bei  der  sogenannten  Bulbärparalyse.  Eine  Zerstörung  des  VII-Kernes  lässt 
den  „oberen  Facialis"  intact;  **)  die  gelähmten  Theile,  meist  die  Lippenmuskulatur 
atrophiren  und  zeigen  EaR.  Demnach  bildet  die  Facialis-Lähmung,  durch  Ver- 
letzung des  VII-Kernes  verursacht,  das  Mittelglied  zwischen  centraler  und  peripherer 
Lähmung. 

b)  An  der  Hirnbasis  (Entzündung,  Tumoren,  Basisfractur  etc.)  meist  Mit- 
betheiligung  der  benachbarten  Nerven,  insbesondere  des  Abducens,  Trigeminus,  Acusticus. 

c)  Centralwärts  vom  Ganglion  geniculioder  in  diesem  selbst: 
Mitbetheilungen  des  Nerv,  petros.  superf.  maior;  Schiefstellung  des  Gaumensegels, 
welches  nach  der  gesunden  Seite  herübergezogen  wird. 


*)  Die  Zweige  für  den  „oberen  facialis,"  welche  den  m.  frontalis  nnd  den  m. 
orbiciilaris  oculi  versorgen,  haben  ein  anderes  Rindenfeld,  wahrscheinlich  den  Gyrus  an- 
gularis, welches  den  Ausgangspunkt  für  den  Oculomotorius  bildet.    Ausnahmen    s.    unter  A. 

**)  Die  für  den  m.  frontalis  und  orbicularis  palpebrarum  bestimmten  Zweige  kommen 
vom  Oculomotoriuskern  (Mendel)  und  nehmen  deshalb  an  der  Atrophie  nicht  Theil. 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  40 


626  FACIALISLÄHMUNG. 

d)  Peripher  vom  Ganglion  geniculi.  Die  Gaumensegellälrmimg  fehlt: 
es  besteht  Störung  des  Gechmacks-  und  der  Speichelsecretion,  also  Symptome  für 
Mitbetheiligung  der  Chorda  tympani.  Sitzt  die  Läsiou  schon  oberhalb  des  N.  sta- 
pedius,  so  tritt  noch  Hyperakusis  dazu. 

e)  Peripher  von  der  Abgangsstelle  der  Chorda  tympani:  Gaumen- 
segellähmung, Hyperakusis.  Störung  des  Geschmacks  und  der  Speichelsecretion 
fehlen. 

Ad  2.  Feststellung  der  Krankheitsursachen. 

Für  die  centrale  Lähmung  sind  die  Ursachen  ebenso  mannigfaltig  wie 
für  die  Erkrankungen  von  Gehirn  und  verlängertem  Mark.  Man  muss  diese 
zu  beurtheilen  verstehen,  um  der  eventuellen  VII-Lälimung  im  Krankheitsbild 
die  richtige  Stellung  zu  geben;  und  andererseits  kann  die  YII-Lähmung  füi' 
sich  betrachtet  in  solchen  Fällen  niemals  zur  Erkennung  des  ursächlichen 
Processes  führen. 

Von  ganz  besonderer  Wichtigkeit  sind  die  diu'ch  rheumatische  Einflüsse 
bedingten,  die  sogenannten  rheumatischen  Facialis -Lähmungen.  Sie 
kommen  sehr  häutig  vor:  die  damit  verbundene  Entstellung  des  Gesichtes  führt 
die  Kranken  bald  zum  Ai'zt.  Es  ist  bemerkenswerth,  dass  häufig  eine  ungemein 
geringfügige  Ursache  die  Lähmung  erzeugt.  Ein  Luftzug,  von  dem  der  Kranke 
getroffen  wird,  wenn  er  sich  zum  Fenster  hinauslehnt,  genügt  schon  häufig. 
Daraus  ist  wohl  der  Schluss  zu  ziehen,  dass  es  entweder  eine  ererbte  Dispo- 
sition gibt  füi^  die  Acquisition  von  Gesichtslähmung,  oder  dass  ein  langes  und 
altes  chronisches  mehr  oder  weniger  latentes  Leiden  eine  Disposition  dazu 
schafft  (Syphilis,  Diabetes,  Puerperium).  Beide  ilnnahmen  werden  dmxh  die 
Erfahrung  l3estätigt.  Bei  langwierigen  Lähmungen  ist  eventuell  auf  diesen  Pimkt 
Eücksicht  zu  nehmen. 

Ad  3.  Die  Prognose  der  Facialislähmung  kann  annähernd  durch  die 
elektrodiagnostische  LTntersuchung  festgestellt  werden. 

Angenommen,  wir  finden  8  Tage  bis  4  Wochen  nach  eingetretener 
Lähmung:*) 

1.  Keine  Yeränderung  der  elektrischen  Erregbarkeit  auf  faradischen  und 
galvanischen  Strom. 

Dann  handelt  es  sich  entweder  nm  eine  centrale  Facialislähmung,  und  die  Prognose 
ist  von  anderen  Gesichtspunkten  aus  zu  beurtheilen.  oder  die  periphere  Lähmung  ist  sehr 
leicht  und  heilt  in  acht  bis  zehn  Tagen  ohne   ärztüche  Hufe. 

2.  Quantitative  Herabsetzung  der  Erregbarkeit.  Leichte  Form.  Heilung 
in  2 — 3  Wochen. 

3.  Partielle  EaE,  Mittelfoim,  Heilung  in  6 — 10  Wochen. 

4.  Complete  EaE,  schwere  Form,  Heilung  in  6 — 15  Monaten. 

5.  Erregbarkeit  vollkommen  erloschen,  unheilbare  Form. 

Die  verschiedenen  Stufen  der  Erregbarkeit  des  ki'anken  Nerven  gegen 
den  elektrischen  Strom  sind  der  Ausdruck  für  mehr  oder  weniger  vorgeschrittene 
anatomische  Yeränderimgen;  das  gleiche  gilt  füi'  die  Muskeln,  bei  welchen 
der  Nervenimpuls  ausgeschaltet  ist.  Demgemäss  kann  die  elektrische  Erreg- 
barkeit normal  sein  bei  ganz  leichten  entzündlichen  Processen;  schreitet  die 
Entzündung  fort,  so  reagirt  der  Muskel  nicht  mehr  gegen  den  schnellschlä- 
gigen  Inductionsstrom,  wohl  aber  gegen  den  länger  dauernden  galvanischen 
Strom,  während  die  Nervenerregbarkeit  bereits  ganz  erloschen  ist;  und  hat 
sich  schliesslich  das  gewucherte  Bindegewebe  unter  Yerdi'ängung  der  nervösen 
Elemente  in  ein  festes  derbes  Gewebe  (Sclerose)  umgewandelt,  dann  ist  es 
mit  der  Erregbarkeit  überhaupt  vorbei. 

Ad  4.  Die  Therapie. 

Bei  frischen  rheumatischen  Lähmungen  ist  ein  die  kranke  Gesichtshälfte 
treffendes  Dampfbad   gut  indicirt.    Dem  kochenden  Wasser  wird  zweckmässig 


*=)  Vgl.  den  Artikel  „Ehldroäiagnostik." 


FÄCES  UND  FÄCES-UNTERSüCHUNG.  627 

eine  Abkochimg  von  Kamillen,  Heublumen  oder  Ficbtennadeln  zugesetzt. 
Dem  Bade  des  Kopfes  folgt  unmittell)ar  ein  Dampfbad  für  l)eide  Beine,  wor- 
auf der  Kranke  sofort  das  Bett  aufsucht  und  sich  in  wärmende  Decken  hüllt. 
Nach  etwa  dreimaliger  Wiederholung  dieser  Proceduren  macht  man  eine  Pause 
von  acht  Tagen,  um  dann,  wenn  noch  keine  Besserung  erfolgt  ist,  von  neuem 
zu  beginnen. 

Den  grössten  Werth  bei  der  Behandlung  der  Facialis-Lähmung  kann  mit 
gutem  Ptecht  die  Elektricität  in  Anspruch  nehmen,  und  es  ist  unverständlich, 
wie  die  Beobachtung  guter  Neurologen  durch  angeborenen  Skepticismus  so 
getrübt  sein  kann,  dass  sie  die  Heilkraft  des  elektrischen  Stromes  bei  diesen 
und  bei  anderen  Formen  von  Lähmungen  nicht  anerkennen  wollen.  Sie  sagen, 
viele  Lähmungen  heilen  von  selbst  —  aber  wie  steht  es  mit  denjenigen 
Fällen,  welche  in  der  dritten,  vierten,  achten  Woche  durchaus  keine  Tendenz 
zur  Heilung  zeigen?  Dort  sieht  man  evidente  Erfolge,  sobald  man  mit  der 
elektrischen  Behandlung  einsetzt. 

Der  Artikel  ^.Elektrotherapie"  gibt  über  die  Art  der  elektrischen  Be- 
handlung Auskunft.  Nur  soviel  soll  hier  noch  gesagt  werden,  dass  jede 
Stromesart  unter  Umständen  gute  Resultate  liefert;  der  eine  Elektrotherapeut 
bevorzugt  diese,  der  andere  jene.  Aber  ein  Princip  muss  durchaus  der, 
elektrischen  Behandlung  zu  Grunde  liegen,  nämlich  die  Bevorzugung  schwacher 
Ströme.  Stromstärken,  welche  bereits  Muskelzuckungen  auslösen,  sind  viel, 
viel  zu  stark;  nicht  nur,  dass  dieselben  die  Lähmung  nicht  beseitigen,  sondern 
sie  machen  zuweilen  auch  noch  etwas  viel  schlimmeres  wie  die  Lähmung, 
nämlich  Contracturen,  an  welchen  gewöhnlich  die  ärztliche  Kunst  kläglich 
scheitert,  Sperling. 

Fäces  und  Fäces-Untersuchung.  *) 

I.  Allgeineiiie  Eigenschaften. 

Die  Fäces  bestehen:  1.  aus  den  unverdaulichen  oder  unverdauten  Resten 
der  eingeführten  Nahrung,  die  zum  Theil  im  Darm  durch  Fermente  und 
Mikroorganismen  verändert  worden  sind,  2.  aus  Resten,  resp.  Umwandlungs- 
producten  der  aus  der  Darmwand  und  den  in  den  Darmcanal  mündenden 
Drüsen  stammenden  Ausscheidungen,  3.  aus  verschiedenen,  meist  sehr  zahlreich 
vorhandenen  Mikroorganismen. 

Auch  unter  normalen  Verhältnissen  kommen  im  Aussehen  und  in  der 
Zusammensetzung  der  Fäces  beträchtliche  Verschiedenheiten  je  nach  der  Be- 
schaffenheit der  eingeführten  Nahrung  vor. 

Die  Consistenz  der  Fäces  kann  1.  fest  (oder  geformt),  2.  dickbreiig, 
3.  dünnbreiig,  4.  flüssig  (wässrig)  sein. 

Normaler  Weise  ist  die  Consistenz  entweder  fest  oder  dickbreiig,  ersteres 
gewöhnlich  bei  vorwiegend  animalischer,  letzteres  bei  wesentlich  vegetabilischer 
Nahrung. 

Bei  Darmstenosen  werden  die  Fäces  niclit  selten  in  plattgedrückter  Form 
(„Bandform'')  oder  in  kleinen  Knollen  (ähnlich  wie  Schafkoth)  entleert.  Doch  ist  dies 
weder  ein  constantes  noch  ein  sicheres  diagnostisches  Merkmal;  man  beobachtet  zuweüen 
eine  ähnliche  Form  der  Fäces,  ohne  dass  eine  Enterostenose  vorliegt. 

Bei  Säuglingen  ist  „stückiger  Koth"  pathologisch 

Dünnbreiige  und  flüssige  Stühle  (Diarrhoe)  finden  sich  dann,  wenn 
der  Darminhalt  abnorm  rasch   den  Darmcanal  passirt  und  daher  nur  unvoll- 


*)  Die  folgende  Darstellung  gibt  eine  allgemeine  Uebersicht  über  die  Eigen- 
schaften und  Bestandtheile  der  Fäces  sowie  über  die  zur  Feststellung  nothwendigen  Unter- 
suchungsmethoden, sofern  sie  der  Praktiker  leicht  und  bequem  durchzuführe  n 
in  der  Lage  ist.  Bezüglich  eingehenderer  Details,  namentlich  die  chemische  und  bacterio- 
logische  Untersuchuugsmethoden  betreffend,  muss  auf  die  betreffenden  Specialdiscipli- 
nen  dieser  „Bibliothek"  verwiesen  werden.  D.  Red. 

40* 


628  FÄCES  UND  FÄCESUNTEESüCHUNG. 

Ständig  resorbirt  wird  oder  wenn  eine  Trans-  oder  Exsudation  in  das  Darm- 
lumen stattfindet. 

Man  beobachtet  Dian^liöen  —  abgesehen  von  den  diux-h  Abführmittel 
hervorgerufenen 

1.  Bei  Reizung  des  Darmcanals  durch  toxische  lugesta  oder  Zersetzungs- 
producte  derselben,  (so  bei  der  toxischen  Enteritis,  bei  vielen  Fällen  von  acutem 
Darmkatan-h  etc.)  oder  durch  specifische  Infectionserreger  (Cholera,  Typhus, 
Dysenterie,  Darmtuberculose);  seltener  bei  chronischen  Darmkatarrhen. 

2.  Bei  abnorm  gesteigerter  Darm-Peristaltik  aus  nervöser  Ursache  („nervöse 
Dian'hoe"  bei  psychischer  Erregung,  bei  Neurasthenie,  Hysterie,  Morb.  Basedow. 
Tabes  dorsalis). 

Die  Farbe  der  Fäces  hängt  wesentlich  von  der  Beschaffenheit  der  Xahrung 
ab:  Bei  vorwiegender  Fleischnahrung  ist  der  Koth  bräunlich  bis  braunschwarz; 
je  mehr  Yegetabilien  der  Nahrung  beigefügt  sind,  desto  hellere  Braunfärbung 
nimmt  er  an.  Bei  ausschliesslicher  Milchdiät  wird  er    hellgelb  oder  gelbweiss. 

Das  unmittelbar  nach  der  Geburt  entleerte  Meconium  ist  eine  zähe  dunkle,  braun- 
grüne, fast  schwarze  Masse. 

Normaler  Weise  findet  sich  in  den  Fäces  kein  unveränderter  Gallen- 
farbstofi",  sondern  Urobilin,  das  durch  Bacterienwirkuug  (Pieduction)  im  Dann- 
canal  aus  Bilirubin  entsteht;  daneben  noch  andere,  weniger  genau  bekannte 
Farbstoffe  (z.  Th.  aus  der  Nahrung  stammend). 

Grüne  oder  gelbgrüne  Färbung  durch  Gallenfarbstofi  (den  chemischen 
Nachweis  s.  u.)  findet  "sich  bei  sehr  beschleunigter  Peristaltik  (so  beim  acuten 
Dünndarm-Katarrh,  besonders  des  Säugiingsalters,  nicht  selten  auch  bei  Ab- 
dominaltyphus). 

Ist  der  Zufluss  der  Galle  zum  Darmcanal  unterbrochen,  so  werden  die 
Fäces  —  z.  Th.  in  Folge  des  Mangels  an  Farbstoff,  zum  grösseren  Theil  in 
Folge  mangelhafter  Fett-Piesorption  —  grau  bis  grauweiss  (thonfarben),  dabei 
von  lehmartiger  Consistenz  und  sehr  übelriechend.  Derartige  Beschaffenheit  der 
Fäces  (Fettstühle,  Steatorrhoe)  wird  nicht  selten  auch  bei  anderen 
pathologischen  Processen  beobachtet,  bei  denen  der  Zufluss  der  Galle  zum 
Darmcanal  erhalten  ist,  die  Fett-Eesorption  jedoch  aus  anderen  Gründen  ge- 
litten hat,  z.  B.  bei  Darmtuberculose  und  -Amyloid,  Yerkäsung  der  Mesen- 
terialdrüsen,  bei  schweren  Anämien,  bei  chronischer  Nephritis  u.  A.  m. 

Beimengung  von  Blut  zu  den  Fäces  ist  ebenfalls  oft  an  der  Farbe 
kenntlich;  bei  Blutungen,  die  in  höher  gelegenen  Abschnitten  des  Magendarm- 
canals  erfolgen,  fi'eilich  nur  dann,  wenn  die  Blutung  nicht  ganz  unbeträchtlich 
war.  Erscheint  unverändertes  Blut,  festem  Koth  aufgelagert  oder  auch 
ohne  Koth,  so  spricht  dies  für  eine  Blutung  aus  dem  Mastdarm  oder  Anus, 
z.  B.  bei  Hämorrhoiden.  Findet  sich  unverändertes  Blut  vermengt  mit  breii- 
gem oder  flüssigem  Stuhl,  so  kann  der  Ort  der  Blutung  auch  im  Dickdarm 
liegen.  Je  länger  das  Blut  im  Darmcanal  verweilt  hat,  desto  stärker  verän- 
dert es  seine  Farbe  (Umwandluug  des  Haemoglobins  in  Haematin):  die  Fäces 
erscheinen  dann  braunroth  oder  pechschwarz  (theerfarben.  letzteres  nament- 
lich bei  Blutungen  aus  dem  Magen  oder  Duodenum).  Bei  erheblichen 
Blutungen  aus  dem  Dünndarm  —  wie  sie  z.  B.  bei  Tj-phus  vorkommen 
—  ist  die  Färbung  der  Fäces  dunkelrothbraun,  eigenthümlich  schillernd;  bei 
sehr  reichlichen  Dünndarmblutungen  kann  das  entleerte  Blut  sogar,  wenn  es 
nicht  lange  im  Darmcanal  verweilt  hat,  ein  nur  wenig  verändertes  Aussehen 
zeigen. 

Andere  häufiger  vorkommende  Verfärbungen  der  Fäces,  meist  durch 
Medicamente  bedingt:  Grünfärbung  sieht  man  —  ausser  der  dmxh 
Gallenfarbstofi  (s.  ob.)  bedingten  —  nach  dem  Gebrauch  von  Calomel")  und 


*)  Nach  der  Angabe  einiger  Autoren  soll  die    Grünfärbung    der  Calomelstühle  stets 
durch  Gallenfarbstoff  bedingt  sein.     Dies  ist  jedenfalls  nicht  allgemein  richtig. 


FÄCES  UND  FÄCES-UNTERSÜCHÜNG.  629 

einigen  anderen  Quecksilber-Präparaten,  auch  durch  gewisse  Mikroorganismen 
(Lesagej  bedingt;  ferner  nach  reichlichem  Genuss  von  grünem  Gemüse 
und  dgl. 

Schwarze  oder  grün  schwarze  Färbung  beobachtet  man  nach  dem  Ge- 
brauch von  Eisen,  Mangan,  WismutJi  (durch  die  entsprechenden,  im  Darm  ent- 
stehenden Schwefel-Verbindungen  bedingt);  Schwarzfärbung  auch  zuweilen  nach 
reichlichem  Gebrauch  von  Catechu  oder  nach  Genuss  von  Heidelbeeren.  Graue 
Färbung  sieht  man  nach  Genuss  von  Cacao  oder  Chocolade.  Gelbliche 
Färbung  nach  Gebrauch  von  Rhabarber,  Senna,  Santonin,  Safranin  und  Gummi- 
gutti;  rothbraune  Färbung  nach  Gebrauch  von  Campecheholz. 

Durch  Färbung  und  Consistenz  sind  charakterisirt: 

Die  bekannten  „Reiswasser-Stühle, "  wie  sie  namentlich  bei  asiatischer  Cholera 
vorkommen:  trübe,  farblose  oder  grauweisse,  wässerige,  mit  gelblichen  oder  weisslichen 
Flocken  untermischte  Entleerungen;  sie  werden  übrigens  keineswegs  ausschliesslich  bei 
asiatischer  Cholera,  sondern  auch  bei  sogenannter  Cholera  nostras  und  bei  Arsenvergiftungen 
beobachtet.  Ferner  die  ..erbsensuppenartigen  Stühle"  bei  Abdominaltyphus :  dünne, 
hellgelbe  Entleerungen,  die  in  der  That  einer  schlecht  gekochten  Erbsensuppe  an  Farbe 
und  Consistenz  sehr  ähnlich  sind,  und  nach  einigem  Stehen  meist  eine  untere,  ein  weni» 
dunkler  gefärbte,  etwas  krümliche  und  eine  obere,  hellere,  dünnflüssigere  Schicht  unter- 
scheiden lassen. 

Geruch.  Der  normale  Milchkoth  der  Säuglinge  riecht  nm*  w^enig;  säuer- 
licher oder  fauliger  Geruch  beweist  abnorme  Zersetzungen  der  Kohlehydrate, 
bezw.  pathologisch  gesteigerte  Eiweiss-Fäulnis.  Beim  Erwachsenen  wird  der 
schon  unter  normalen  Verhältnissen  üble  Geruch  —  der  wohl  hauptsächlich 
durch  Skatol  bedingt  ist  —  besonders  verstärkt  bei  Gallen-Abschluss,  nicht 
selten  auch  bei  Darmkatarrhen,  bei  Abdominaltyphus,  bei  gangi'änösen  Pro- 
cessen im  Darmcanal,  so  namentlich  bei  der  brandigen  Form  der  Dysenterie. 
Geht  unter  pathologischen  Verhältnissen  die  „fäculente"  Beschaffenheit  des 
Kothes  verloren,  —  wie  bei  Cholera  und  vielen  Fällen  von  Dysenterie  —  so  wird 
derselbe  auch  fast  oder  ganz  geruchlos.  Bei  Cholerastühlen  haben  viele 
Beobachter  einen  eigenthümlichen,  faden,  Sperma-artigen  Geruch  wahrgenommen. 

Die  Reaction  der  Fäces  ist  wechselnd,  am  häufigsten  schwach  alkalisch, 
ausser  bei  den  Darmkrankheiten  des  Säuglingsalters  ist  sie  ohne  erhebliche 
diagnostische  Bedeutung.  Stark  saure  Reaction  beweist  das  Vorhandensein  ab- 
norm starker  Zersetzung  von  Kohlehydraten  und  Fetten  (Bildung  von  Milch- 
säure, Essigsäure,  Buttersäure  u.  s.  w.),  stark  alkalische  zeigt  pathologisch 
gesteigerte  Eiweissfäulnis  an. 

Die  Menge  der  Fäces  hängt  natürlich  hauptsächlich  von  der  Menge  und 
Beschaffenheit  der  eingeführten  Nahrung  ab.  Da  die  Ptianzenkost  viel  mehr 
unverdauliche  Bestandtheile  enthält  und  grösseres  Volumen  hat,  als  die  animalische, 
so  liefert  sie  naturgemäss  viel  mehr  Koth  als  letztere.  Beim  erwachsenen 
Menschen  beträgt  die  24-stündige  Kothmenge  bei  gemischter  Nahrung  circa 
150^,  bei  rein  vegetabilischer  über  das  Doppelte  (bei  einem  Vegetarianer  nach 
VoiT  333^). 

Der  im  Hunger  gebildete  Koth  {„Himgerkoth")  gleicht  im  Aussehen  sehr  den  bei  vor- 
wiegender Fleischkost  entleerten  Fäces. 

IL  Makroskopische  Untersiichimg. 

I.  Oefters  findet  man  in  den  Fäces  -^  besonders  reichlich  naturgemäss 
bei  Diarrhoe  —  makroskopisch  sichtbare  Xahrungsbestandtheile,  meist 
pflanzlichen  Ursprungs:  wie  Beeren.  Fruchtkerne,  Reste  von  Kartoffeln,  Aepfeln. 
Apfelsinen,  Kohl,  Spargel  u.  s.  w.,  aber  auch  solche  animalischer  Herkunft, 
wie  Sehnen,  Fleichstückchen,  geronnenes  Eiweiss  —  letzteres  besonders  bei  den 
Diarrhöen  der  Säuglinge  in  Form  von  kleinen  Flocken  oder  Klumpen. 

Ist  makroskopisch  eine  sichere  Erkennung  derartiger  Gebilde  nicht  möglich,  so  ist 
natürlich  eine  mikroskopische  Untersuchung  vorzunehmen.  Es  bedarf  kaum  eines  besonderen 
Hinweises  darauf,  dass  die  Untersuchung  der  in  den  Fäces  enthaltenen  Nahrungsbestand- 
theile  von  diagnostischem  Werthe  sein  kann:  sie  kann  die  Ursache  eines  Darmkatarrhs 


630  FÄCES  UND  FÄCES-UNTERSUCHUNG. 

in  Tinzweckmässiger  Ernährung  aufdecken,    sie  kann  aucli  den  objectiven  Beweis  dafür  er- 
möglichen, dass  ein  Patient  Speisen,  die  ihm  verboten  waren,  genossen  hat. 

IL  Von  abnormen,  makroskopisch  sichtbaren  Bestand theilen  der 
Fäces  sind  die  wichtigsten:  Blut^  Eiter  und  Schleim.  Bezüglich  des  Blutes 
kann  auf  das  oben  Gesagte  verwiesen  werden.  *) 

Piein-eitriger  Stuhl,  oft  auch  blutig-eitriger  Stuhl  kommt  vor  bei 
ulcerösen  Processen  im  Rectum,  bei  Dysenterie  und  bei  Durchbruch  von  Eiter- 
herden aus  der  Umgebung  des  Darmcanals  in  diesen.  Beimengung  von  Eiter, 
der  aus  höher  gelegenen  Darmabschnitten  stammt,  kann  gewöhnlich  nur 
mikroskopisch  mit  Sicherheit  erkannt  werden;  doch  findet  man  nicht  selten  schon 
makroskopisch  kleine,  grauweisse  Klümpchen,  deren  mikroskopische  Unter- 
suchung  ihre    Zusammensetzung    aus   Leukocyten    ergibt. 

Ist  eine  grosse  Kothsäule  von  einer  dünnen  Sc  hie  im  schiebt  schleier- 
artig überzogen,  so  ist  dies  nach  Nothistagel  nicht  als  pathologisch  zu  betrach- 
ten. Werden  Schieimmassen  ohne  Kothbeimengung  oder  kleine  mit  Schleim 
überzogene  Kothballen  entleert,  so  handelt  es  sich  um  Katarrh  des  Mast- 
darms oder  des  Colon  descendens.  Bei  Katarrhen,  die  auch  die  höher  ge- 
legenen Abschnitte  des  Colons  betreifen,  findet  man  Schleim  und  Fäces  innig 
vermengt.  Der  Schleim  kann  hier  theils  in  grösseren  oder  kleineren  makro- 
skopisch sichtbaren  Klümpchen  oder  Fetzen  auftreten,  theils  in  zahlreichen, 
nur  mikroskopisch  sichtbaren  Partikelchen  vorhanden  sein.  Bei  Dysenterie 
kommen  sowohl  rein-schleimige,  als  auch  mit  Eiter  und  Blut  vermengte 
schleimige  Entleerungen  vor. 

Nicht  selten  findet  man  bei  Darnikatarrhen  und  bei  Dysenterie  glasige  Klümpchen, 
die  mit  Froschlaich  oder  Sagokörnern  verglichen  werden;  nur  ein  Theil  derselben  besteht 
aus  Schleim,  andere  sind,  wie  die  mikroskopische  Untersuchung  lehrt,  pflanzlichen  Ursprungs 
und  stammen  aus  der  Nahrung.  Nothjs^agel  beschrieb  als  „gelbe  Schleimkörner"  mohn- 
korngrosse  gelbe  oder  gelbbraune  weiche  Klümpchen,  deren  Färbung  durch  Gallenfarbstoff 
bedingt  ist;  sie  sollen  aus  dem  Dünndarm  stammen. 

Die  Enteritis  membranacea**)  {Colica  mucosa)  ist  durch  die  —  meist 
mit  Schmerzen  und  Tenesmus  einhergehende  —  Entleerung  von  grösseren 
zusammenhängenden,  membranartigen,  cylindrischen  oder  röhrenförmigen  Massen 
charakteriskt.  Die  Affection  findet  sich  besonders  bei  nervösen  Individuen, 
namentlich  bei  Hysterischen.  Nur  bei  ganz  oberflächlicher  Betrachtung  können 
derartige  Gebilde  mit  Xahrungs-Ueberresten  oder  gar  mit  Bandwürmern  ver- 
wechselt werden. 

Die  mikroskopische  Untersuchung  dieser  Gebilde  ergibt  gewöhnlich  eine  streifige 
Grundlage,  in  die  weisse  Blutköi-perchen,  nicht  selten  auch  (meist  ..verschollte")  Darm- 
Epithelien  eingelagert  sind.  Sie  bestehen  meist  zum  grossen  Theil  aus  Mucin,  in  anderen 
Fällen  lassen  sich  nur  Spuren  von  Mucin  nachweisen,  dagegen  eine  albuminoide  Substanz 
(Kitagawa). 

III.  Makroskopische  Gewebsbestandtheile:  ganze  Stücke  des 
Darmrohres  oder  gangränöse  Fetzen  können  bei  Darm-Invagination  in  den 
Fäces  gefunden  werden.  Kleinere  Gewebsfetzen  sieht  man  in  dysenterischen 
Stühlen.  Zur  sicheren  Erkennung  muss  nöthigen  Falls  die  mikroskopische 
Untersuchung  vorgenommen  werden. 

Auch  bei  zerfallenden  Darm-Carcinomen  können  Tumor-Partikelchen 
mit  den  Fäces  entleert  werden.  Leube  erwähnt,  dass  in  zwei  von  ihm 
beobachteten  Fällen  von  Colon-Carcinom  mehrere  haselnussgrosse  Geschwülste 
abgingen.  Auch  hier  wird  meist  eine  mikroskopische  Untersuchung  nothwen- 
dig  sein. 

IV.  Concremente:  a)  Gallenconcremente.  Ihre  Aufsuchung — für 
die  Diagnose  der  Cholelithiasis  in  zweifelhaften  Fällen  von  Ausschlag  gebender 
Bedeutung  —  geschieht  so,  dass  die  nach  einem  Schmerzanfall  entleerten 
Stühle  mit  Wasser  zu   einem  dünnen  Brei  angerührt  und   durch  ein  feines 


*)  Siehe  auch  p.  632  und  634  den  mikroskopischen  und  chemischen  Blut-Nachweis. 
*)  Vergl.  „Enteritis  tnembranacea"  (J.  Boas)  pag.  566  ds.  Bd.  der  .Bibliothek.'' 


FÄCES   UND  FÄCES-UNTERSUCHUNG.  631 

Sieb   filtrirt  werden.     Etwa  vorhandene  Concremente    bleiben   auf   dem  Sieb 
zurück  und  können  dann  näher  untersucht  werden. 

Man  prüft  1.  auf  Cholesterin,  indem  man  einen  Theil  des  pnlverisirten  Concre- 
mentes  mit  heissem  Alkohol  auflöst  und  filtrirt;  nach  dem  Erkalten  scheidet  sich  etwa 
vorhandenes  Cholesterin  aus  dem  Filtrat  in  rhombischen  Tafeln  ab.  Löst  man  alsdann  diese 
Krystalle  in  Chloroform  und  setzt  concentrirte  Schwefelsäure  hinzu,  so  entsteht  eine  schöne 
kirschrothe  Färbung,  die  später  in  Blau  und  Grün  übergeht,  2.  auf  Bilirubin.  Der 
Filter-Rückstand  wird  mit  Salzsäure  schwach  angesäuert  und  mit  erwärmtem  Chloroform 
extrahirt;  setzt  man  dann  zu  dem  Chloroform  rauchende  Salpetersäure  hinzu,  so  tritt  die 
GMELiN'sche  Pieaction  auf. 

In  den  Fäces  kommen  mitunter  durch  die  Kothfarbstoffe  gefärbte  Gebilde  (meist 
pflanzlichen  Ursprungs)  vor,  welche  makroskopisch  mit  Gallenconcrementen  verwechselt 
werden  können.  In  zweifelhaften  Fällen  sind  daher  die  beiden  eben  angeführten  Proben 
sowie  eventuell  die  mikroskopische  Untersuchung  auszuführen. 

b)  Darmconcremente  (Darmsteine)  bestehen  z.  Th.  aus  alten,  ein- 
gedickten Kothmassen,  die  häufig  in  ihrem  Centrum  einen  Obstkern,  ein 
Knochenstückchen  u.  dgl.  enthalten:  Kothsteine;  z.  Th.  bilden  sich  —  ge- 
wöhnlich durch  Incrustirung  derartiger  Fremdkörper  mit  Salzen,  besonders 
Phosphaten  —  verschieden  grosse,  steinharte,  rundliche  Körper  von  gelber, 
brauner  oder  grauer  Färbung.  In  Gegenden,  in  denen  Brot  aus  Haferkleie 
verzehrt  wird,  findet  man  in  den  Fäces  Haarballen-ähnliche  Concremente,  die 
aus  Calcium-  und  Magnesiumphosphat,   Haferkleie,  Seifen  und  Fett  bestehen. 

Bei  Pflanzenfressern  kommen  Darmsteine  häufiger  und  in  sehr  ansehnlicher  Grösse  vor. 

Verschiedene  Damiparasiten  sind  ebenfalls  durch  Besichtigung  der 
Fäces  mit  blossem  Auge  zu  erkennen.*) 

IQ.  Mikroskopische  Untersuchung. 

Dünnbreiige  oder  flüssige  Fäces  können  ohne  weiteres,  feste  Stühle  am  besten  nach 
Verreiben  einer  kleinen  Menge  Stuhl  mit  einem  Tropfen  Wasser  oder  Q-G^lg  Kochsalzlösung 
untersucht  werden.  Anzuwendende  Vergrösserungen :  Für  üebersichtsbilder  cca  1:100,  für 
nähere  Untersuchung  der  morphologischen  Elemente  1 :  200—1 :  300.  Für  Bacterien  am  besten 
Oel-Immersion. 

A.  Nahrungsbestandtheile. 

Quergestreifte  Muskelfasern*")  finden  sich,  wenn  Fleisch  in  der 
Nahrung  zugeführt  wird,  constant  vor.  Sie  zeigen  gewöhnlich  eine  deutliche 
Gelbfärbung.  Die  Querstreifung  ist  oft  schon  bei  schwacher  Vergrösserung 
deutlich;  wenn  sie  hierbei  —  in  Folge  von  Quellung  der  Fasern  - —  undeut- 
lich ist,  muss  man  stärkere  Linsen  anwenden.  Ist  die  Darmresorption  aus 
irgend  einem  Grunde  beeinträchtigt,  so  finden  sich  Muskelfasern  in  sehr  reich- 
licher Menge.  Andrerseits  schwankt  natürlich  ihre  Zahl  schon  unter  norma- 
len Verhältnissen   mit  der  Menge  des  genossenen  Fleisches. 

2.  Bindegewebs-  und  elastische  Fasern  finden  sich  bei  animali- 
scher Nahrung  ebenfalls  nicht  selten. 

3.  Stärke.  Ihr  Nachweis  wird  sehr  erleichtert  durch  Zusatz 
einer  verdünnten  Jod- Jodkaliumlösung  zum  Präparat  (Blaufärbung).  Nach 
Nothnagel  kommen  im  normalen  Stuhl  bei  gemischter  Nahrung  niemals 
isolirte  Amylumkörner  vor.  Vermehrtes  Auftreten  von  Stärke  (in  unversehrten 
Körnern  oder  Bruchstücken  derselben)  beobachtet  man  in  vielen  Fällen  von  Diar- 
rhöen; doch  kommen  andererseits  schwere  Erkrankungen  des  Piesorptionsappa- 
rates  (Amyloid  des  Darms,  Verkäsung  der  Mesenterialdrüsen  u.  s.  w.)  ohne 
erhebliche  Amylum-Ausscheidung  in  den  Fäces  vor;  auch  durch  Abschluss 
der  Galle  und  des  Pancreassaftes  von  Darm  braucht  die  Verdauung  und 
Resorption   der  Amylaceen  nicht  beeinträchtigt  zu  werden  (Fr.  Müller.) 

4.  Fett  in  Form  von  Tropfen,  Nadeln,  Büscheln^"")  oder  Schollen,  am  reich- 
lichsten in  den  „Fettstühlen",  deren  makroskopische  Beschaftenheit  und  Vor- 


*)  Vergl.  die  Artikel  „Eingeweidewürmer  des  Mensdhen--  und  .,HeJmiiitJnasis". 
**)  Vgl.  Abbildung. 


632 


FÄCES  UND  FÄCES-ÜNTERSUCHUNG. 


kommen  schon  oben  besprochen  wurde.  Jedes  reichliche  Vorkommen  mikro- 
skopisch nachweisbaren  Fettes  ist  —  falls  die  eingeführte  Nahrung  nicht  beson- 
ders fettreich  war  —  als  pathologisch  anzusehen  und  beweist  mangelhafte 
Fettresorption.  Fetttropfen  finden  sich  unter  normalen  Verhältnissen  nur  selten, 
am  häufigsten  bei  Milchnahrung  oder  nach  Einführung  von  Fetten,  die  einen 
niedrigen  Schmelzpunkt  haben,  z.  B.  Leberthran  oder  Ricinusöl.     Die  nadei- 


förmigen. 


häufig 


in    Büscheln    zusammenliegenden  Fett-Krystalle,    bestehen 


Combinirtes    Uebersichtsbild    der    hauptsächlichsten 
mikroskopischen  Bestandtheile  der  Fäces. 

(250fache  Yergrösserung.) 


z.  Th.  aus  freien  Fettsäuren  (grössere,  schlankere,  häufig  gebogene  Formen), 
z.  Th.  aus  Kalk-  und  Magnesia-Seifen  (plumperen,  kürzeren,  gewöhnlich  gra- 
den  Formen).  (Fe.  Müller). 

Zur  Unterscheidung  beider  erwärmt  man  das  mikroskopische  Präparat  schwach  über 
einer  Spirituslampe :  die  freien  Fettsäuren  Yerflüssigen  sich  hierbei,  während  die  Seifen  un- 
verändert bleiben.  Erstere  sind  in  Aether  löslich,  letztere  nicht.  Letztere  werden  durch 
Säure-Zusatz  zersetzt,  und  es  bilden  sich  aus  ihnen  Tropfen,  die  aus  freien  Fettsäuren 
bestehen. 

Die  Fettschollen  bestehen  zum  grössten  Theil  ebenfalls  aus  Seifen,  besonders  Kalk- 
seifen. 

5.  Pflanzenzellen 
verschiedener  Art  finden  sich 
schon  im  normalen  Stuhl 
reichlich;  sie  sind  an  ihrem 
charakteristischen  Aussehen, 
besonders  an  ihrer  Membran 
leicht  zu  erkennen. 

B.  Sonstige  mikrosko- 
pische Bestandtheile. 

1.  Epithelzellen, 
im  normalen  Stuhl  nur  ver- 
einzelt, unter  pathologischen 
Verhältnissen  oft  vermehrt: 
sie  liegen  dann  gewöhnlich 
in  den  schleimigen  Partien 
des  Stuhls  (Nothnagel). 
Selten  handelt  es  sich  um 
Platten-,  meist  um  Cylinder- 
Epithelien.  Häufig  sind  sie 
durch  Gallenfarbstoff  gelb 
gefärbt.  Wohlerhaltene  For- 
men findet  man  zuweilen  in 
den  dünnen  Stühlen  bei  Ty- 
phus, acuten  Diarrhöen  u.  dgl. 
Sehr  oft  zeigen  sie  die  von 
Nothnagel  als  „  V  e  r  s  c  li  o  1- 
1  u  n  g "  bezeichnete  Verän- 
derung: Die  Zellen  sehen 
geschrumpft  und  homogen 
statt  feingranulirt  aus,  der  Kern  ist  undeutlich  oder  gar  nicht  mehr  zu  sehen. 

2.    Piothe    Blutkörperchen.     Stammt   das   Blut    aus    den   untersten 
Darm-Abschnitten  oder  aus  dem  Anus,  so  findet  man  natürlich  unveränderte 
rothe  Blutkörperchen.     Aber    auch   bei    abundanten  Blutungen  in  den  Dünn- 
darm findet  man  nicht  selten  in  den  schon  makroskopisch  blutig  aussehenden 
Partien   der  Fäces    rothe  Blutkörperchen,    wenn  schon  z.  Th.  etwas  entfärbt. 

So  z.  B.  öfters  bei  stärkeren  Darmblutungen  im  Verlaufe  des  Typhus.  Kürzlich  sah 
ich  reichlich  rothe  Blutkörperchen  in  einem  Falle,  in  dem  das  Blut  —  wie  später  die  Ob- 
duction  zeigte  —  aus  einem  mit  den  Gallenwegen  communicirenden  Aneurysma  der  Arteria 
hepatica  stammte. 


1.  Darm-EpitiielierL.  2.  Verschonte  Epitlielien(N0THNA.GEi,).3.Leu- 
kocyten.  4.  Qixergestreifte  Muskelfasern.  5.  Verschiedene  Arten 
von  Pflanzenzellen.  6.  Stärkekörner.  7.  Krystalle  von  phosphor- 
saiirer  Ammoniak-Magnesia.  8.  Krystalle  von  phosphorsaurem 
Kalk.  9.  Charcot-Leyden'sche  Krystalle  10.  Fett  in  Tröpfchen 
f''  und  in  Krystallen. 

Dazwischen  verschiedene  Arten    von  Mikroorganismen. 


FÄCES  UND  FÄCES-UNTERSUCHUNG.  633 

Andererseits  kann  man  aber  selbst  in  Stühlen,  die  makroskopisch  deut- 
lichen Blutgehalt  zeigen,  vergeblich  nach  rothen  Blutkörperchen  suchen. 
(NoTHNAGp]L).  In  solchen  Fällen  und  namentlich  dann,  wenn  die  makroskopische 
Betrachtung  kein  sicheres  Resultat  ergibt,  muss  die  chemische  Untersuchung 
auf  Blut  vorgenommen  werden. 

3.  Leucocyten  finden  sich  im  normalen  Stuhl  höchstens  vereinzelt, 
brauchen  aber  auch  bei  acuten  Darmkatarrhen  nur  spärlich  aufzutreten. 
Grössere  Mengen  von  Leucocyten  in  den  Fäces,  gewöhnlich  schon  makro- 
skopisch als  kleine,  weissliche  Klümpchen  sichtbar,  weisen  auf  das  Vorhanden- 
sein ulceröser  Processe  im  Darmcanal  hin, 

4.  Mikroskopische  Schleim  partikelchen,  hyaline,  rundliche,  farblose 
oder  durch  Gallenfarbstoft'  gelbgefärbte  Gebilde,  finden  sich  bei  Katarrh  des 
Dickdarms  und  der  unteren  Dünndarm-Partien. 

5.  Krystalle.  Ausser  den  bereits  oben  erwähnten  Fettkry stallen 
findet  man  noch  Bilirubin  oder  Haematoidin^')  in  rhombischen  gelbrothen 
Kry stallen  (häufiger  amorph)  nicht  selten  in  diarrhoischen  Fäces.  Charcot- 
Leyden'sche  Krystalle  sind  von  mehreren  Untersuchern,  so  namentlich  neuerdings 
von  Leichtenstern  häufig  gleichzeitig  mit  Eiern  von  Anckylostomum  gefunden, 
jedoch  ist  dieses  Zusammen-Vorkommen  nicht  constant.  Cholesterin  kommt 
in  krystallinischer  Form  in  den  Fäces  nur  selten  vor.  Krystalle  von  phosphor- 
saurer Ammoniak-Magnesia  (Sargdeckelkrystalle)  finden  sich  in  den 
Fäces,  besonders  in  fettreichen  und  dünnen  häufig*""').  (Löslichkeit  in  Essig- 
säure.) Schtvefel-Wismuth-Krystalle  (rhombische,  den  Häminkrystallen  äusserst 
ähnlich)  finden  sich  (v.  Jacksch)  fast  regelmässig  nach  Gebrauch  von 
Wismuth-Präparaten.  Ausserdem  findet  man  zuweilen  Krystalle  von  oxalsaurem 
Kalk  (Briefcouvert-Krystalle),  besonders  nach  dem  Genuss  von  Gemüse,  milch- 
saurem,  Kalk  (radiäre  Büschel,  nach  Uffelmann  bei  Kindern  nicht  selten), 
seltener  kohlensaurem,  schicefelsaurem  und  'phosphorsaurem-  Kalk**). 

Diagnostische  Bedeutung  hat  das  Vorkommen  dieser  Krystallformen  nicht. 

6.  Parasiten  a)  thierische  Parasiten  (vgl.  oben). 

b)  pflanzliche  Parasiten. 

In  jedem  mikroskopischen  Präparat  von  Fäces  sieht  man  massenhaft 
Mikroorganismen  von  verschiedenen  Formen:  meist  Bacillen  und  Kokken, 
seltener  Spirillen  oder  Sprosspilze.  Bei  Kindern,  die  an  Soor  litten,  hat  man 
auch  diesen  Pilz  im  Stuhl  gefunden. 

Diagnostische  Bedeutung  hat  nur  der  Nachweis  pathogen  er  Mikro- 
organismen im  Stuhl  und  dieser  kann  durch  die  mikroskopische  Untersuchung 
nur  für  den  Tuberkelbacillus  mit  Sicherheit  erbracht  werden.  Der  Nach- 
weis desselben  geschieht  in  Trockenpräparaten  mittels  einer  der  bekannten 
Färbemethoden.  Uebrigens  beweist  das  Vorkommen  von  Tuberkelbacillen  in  den 
Fäces  nicht  mit  absoluter  Sicherheit  das  Vorhandensein  von  tuberculösen 
Darm-Ulcerationen.  Sie  können,  wenn  bei  dem  Patienten  Lungentuberculose 
besteht,  aus  verschlucktem  Sputum  stammen. 

Für  den  Nachweis  der  Cholerabacillen  kann  die  mikroskopische 
Untersuchung  der  Fäces  zwar  wertvolle  Anhaltspunkte  liefern,  sie  muss  jedoch 
stets  durch  das  Culturverfahren  ergänzt  werden.  Für  den  Nachweis  der 
übrigen,  in  den  Fäces  vorkommenden  pathogenen  Organismen  ist  das  letztere 
unumgänglich  nothwendig. 

IV.  Die  chemische  Uiitersuchuiig  der  Fäces 

ergibt  im   Gegensatz   zu  der    makroskopischen   und   mikroskopischen   Unter- 
suchung bisher  nicht  viele  praktisch  verwertbare  Resultate.     Von  besonderer 

*)  Die  Identität  von  Bilirubin  und  Haematoidin  wird  bekanntlich  von  einigen  Auto- 
ren bezweifelt. 

**)  Vergl.  Abbildung. 


634  FÄCES  UND  FÄCES-UNTERSUCHUNG. 

WicMigkeit  ist  lediglich  der  Nachweis  von  Blut,  der  in  manchen  Fällen 
auf  anderem  Wege  nicht  mit  Sicherheit  zu  führen  ist.  Die  hierfür  verwend- 
baren Methoden  sollen  deshalb  an  erster  Stelle  besprochen  werden. 

1.  Teichmann'sche  Haemin-Probe.  Ein  sehr  kleines  Partikelchen  der  Fäces  wird 
mit  Eisessig  nnd  einer  Spur  Kochsalz  auf  dem  Objectträger  erwärmt;  mikroskopische  Unter- 
suchung auf  Haemin-Krystalle .  Da  das  Blut  in  den  Fäces  nicht  selten  ungleichmässig 
vertheilt  ist,  so  kann  diese  Methode,  bei  der  immer  nur  Spuren  der  Fäces  untersucht 
werden  können,  trotz  vorhandenen  Blutes  ein  negatives  Eesultat    ergeben. 

2.  Sicherer  ist  folgendes,  besonders  von  Fr.  Müller  empfohlene  Verfahren:  Man 
verrührt  eine  etwa  bohnengrosse  Probe  aus  dem  am  dunkelsten  gefärbten  Theile  des  Kothes 
mit  etwas  Wasser,  setzt  einige  Tropfen  concentrirter  Essigsäure  hinzu  und  schüttelt  mit 
cca.  ^/s  Volum  Aether  aus.  Meist  scheidet  sich  schon  nach  wenigen  Minuten  oben  eine  klare 
Schicht  gefärbten  Aethers  ab.  Verzögert  sich  die  Trennung  oder  bleiben  die  oberen  Partien 
schaumig  und  undurchsichtig,  so  genügen  meist  einige  Tropfen  Alkohol,  um  Klärung  zu  be- 
wirken. Bei  sehr  geringem  Blutgehalt  ist  es  genauer,  die  gesammte  Tagesmenge  der  Fäces 
in  einer  Reibschale  mit  durch  Essigsäure  angesäuertem  Wasser  zu  verreiben  und  ins- 
gesammt  oder  eine  reichliche  Probe  davon  im  Scheidetrichter  mit  Aether  auszuschütteln. 
In  den  Fäces  ist  der  Blutfarbstoff  gewöhnlich  als  Haematin  enthalten  und  geht  als 
solches  nach  Ansäuerung  mit  Essigsäure  in  den  Aether  über.  Aber  auch  unverändertes 
Hämoglobin  (aus  den  unteren  Partien  des  Darmcanals  stammend)  wird  durch  die  Essig- 
säure in  Hämatin  verwandelt. 

Bleibt  bei  diesem  Verfahren  der  Aether  hell,  so  ist  in  den  Fäces  kein  Blut  vorhanden. 
Ist  dagegen  Hämatin  auch  nur  in  geringer  Menge  vorhanden,  so  verleiht  dasselbe  dem 
Aether  eine  mehr  oder  minder  intensive  rothbraune  Färbung.  Grüne  oder  gelbbraune  Fär- 
bung des  Aethers  kann  von  anderen  Farbstoffen  (Gallenfarbstoff,  Hydrobilirubin,  Chlorophyll) 
herrühren. 

Um  mit  Sicherheit  zu  entscheiden,  dass  eine  etwaige  Rothbraunfärbung  des  Aethers 
durch  Hämatin  bedingt  ist,  kann  man  sich  der  spectroskopischen  Untersuchung 
des  Aether-Extracts  bedienen.  Hierfür  ist  ein  Taschenspectroshop  («  vision  directe) 
brauchbar.  Eine  Lösung  von  Hämatin  in  essigsaurem  Aether  zeigt  4  Absorptionsstreifen :  1.  Im 
Roth;  2.  im  Gelb;  3.  an  der  Grenze  zwischen  Gelb  und  Grün;  4.  an  der  Grenze  zwischen 
Grün  und  Blau,  Von  diesen  ist  im  sauren  Aether-Extract  bluthaltiger  Fäces  gewöhnlich 
nur  der  dunkelste  und  am  schärfsten  begrenzte,  im  Roth  gelegene  Streifen  sichtbar.  Um  eine 
Verwechslung  mit  einem  ähnlich  gelegenen  Streifen,  dessen  Ursprung  in  dem  Chlorophyll- 
gehalt der  Nahrung  zu  suchen  ist,  zu  vermeiden,  empfiehlt  Weber  aus  dem  abgeheberten, 
sauren  Aether-Extract  den  Blutfarbstoff'  nach  Versetzen  mit  alkoholischer  Kalilauge  in 
wässerige  alkoholische  Lösung  überzuführen  und  mit  Schwefelammonium  zu  reduciren. 
Dann  entsteht,  wenn  Hämatin  vorhanden  ist,  das  charakteristische  Spectrum  des  reducirten 
Hämaiins  (2  Streifen  im  Grün),  während  das  Chlorophyll- Spectrum  unverändert  bleibt. 

3.  Für  den  Praktiker  dürfte  folgendes  (in  jüngster  Zeit  von  Weber  unter  der  Leitung 
von  Fr.  Müller  ausgearbeitete)  Verfahren  vorzuziehen  sein,  da  es  nicht  die  Anwendung 
eines  Spectral-Apparates  benöthigt:  Man  zerreibt  eine  Probe  der  Fäces  mit  Wasser,  dem 
man  ein  Drittel  Volumen  Eisessig  zugesetzt  hat  und  schüttelt  mit  Aether  aus.  Von  diesem 
sauren  Aether-Extract  werden  nach  der  Klärung  einige  cm'^  abgegossen  und  mit  etwa  10 
Tropfen  Guajak-Tinctur  und  20—30  Tropfen  (verharzten)  Terpentinöls  versetzt.  Bei  An- 
wesenheit von  Blutfarbstoff'  entsteht  eine  blau  violette  Färbung;  ist  kein  Blut  vorhanden, 
so  tritt  eine  rothbraune  Färbung,  oft  mit  einem  Stich  ins  Grüne  auf.  Der  Ausfall  der 
Reaction  wird  deutlicher,  wenn  man  nach  dem  Zusatz  von  Wasser  den  blauen  Farbstoff 
mit  Chloroform  ausschüttelt. 

Dieses  Verfahren  ist  eine  Modification  der  van  Deen'schen  Probe  auf  Blutfarbstoff, 
welche  für  die  Untersuchung  der  Faeces  ohne  weiteres  angestellt,  nicht  brauchbar  ist,  da 
sie  z.  B.  auch  mit  manchen  Pflanzenbestandtheilen,  ferner  auch  mit  Eisenpräparaten  u.  a. 
eine  Pteaction  ergibt.  Dagegen  lassen  sich  diese  Fehlerquellen  nach  den  Untersuchungen 
von  Weber  vermeiden,  wenn  man  die  Probe,  wie  eben  geschildert,  mit  dem  sauren  Aether- 
Extract  anstellt. 

Diese  Probe  ist  sehr  empfindlich.  Der  Genuss  von  kaum  3  cm^  rohen  Blutes  genügte, 
um  im  Extract  des  Tagesstuhls  positiven  Ausfall  zu  bedingen.  Bemerkenswerth  ist,  dass 
nach  Genuss  von  halbrohem  (nach  englischer  Art  gebratenem)  Fleisch  positive  Re- 
action beobachtet  wurde.  Man  muss  also  den  Genuss  derartigen  Fleisches  (oder  anderer 
stark  bluthaltiger  Nahrungsmittel)  ausschhessen  können,  ehe  man  den  positiven  Ausfall  der 
Reaction  mit  Sicherheit  auf  eine  Blutung  in  den  Magendarmcanal  beziehen  darf. 

Um  Mucin,  welches  sich  in  normalen  und  pathologischen  Fäces  vor- 
findet, nachzuweisen,  geht  man  am  besten  in  folgender  Weise  vor:  Man  rührt 
die  Fäces  mit  Wasser  an,  fügt  das  gleiche  Volumen  Kalkwasser  hinzu,  lässt 
das  Gemenge  mehrere    Stunden  stehen,  filtrirt  und  versetzt   das  Filtrat   mit 


FÄCES  UND  FÄCES-UNTERSUCHUNG.  635 

Essigsäure:  Eine  auftretende  Trübung  spricht  für  die  Anwesenheit  von  Mucin. 
(v.  Jacksch). 

Um  Eiiveiss  (das  in  normalen  Fäces  fehlt,  bei  Diarrhöen  jedoch  gewöhn- 
lich vorhanden  ist)  nachzuweisen,  kann  man  die  Fäces  mit  durch  Essigsäure 
schwach  angesäuertem  Wasser  extrahiren  und  mit  dem  Filtrat  die  bekannten 
Eiweissproben  anstellen. 

Nach  Fr.  Müller  kann  man  aus  der  quantitativen  und  qualitativen 
Untersuchung  der  in  den  Fäces  enthaltenen  Feite  gewisse  klinisch-diagnostische 
Schlüsse  ziehen.  (Bezüglich  der  Methoden  muss  hier  auf  die  Arbeiten  von 
Müller  verwiesen  werden.)  Der  Schmelzpunkt  des  Fettes  im  Koth  ist  um 
so  höher  und  übertrifft  den  Schmelzpunkt  des  Nahrungsfettes  umso  mehr,  je 
vollkommener  die  Kesorption  ist.  Bei  Gesunden  sowie  bei  Icterischen,  bei 
welchen  das  Pancreas-Secret  zum  Darm  Zufluss  hatte,  erschien  das  Fett  der 
Fäces  zum  weitaus  grössten  Theile  gespalten  (durchschnittlich  84"3%.)  In 
Fällen,  bei  welchen  ein  Verschluss  des  duct.  Wirsungianus  oder  eine  Degene- 
ration des  Pancreas  vorlag,  war  nur  eine  viel  geringere  Spaltung  des  Fettes 
(durchschnittlich  39*87o)  nachzuweisen.  Der  Befund  eines  abnorm  geringen 
Gehaltes  an  den  Spaltungsproducten  der  Neutralfette  (d.  h.  an  Fettsäuren  und 
Seifen)  in  den  Fäces  macht  daher  eine  Degeneration  des  Pancreas  oder  einen 
Abschluss  seines  Secretes  vom  Darm  wahrscheinlich. 

Von  den  Farbstoffen  des  Kothes  lässt  sich  ürobilin  (oder  Hydrobili- 
rubin)  leicht  durch  Extraction  mit  angesäuertem  Alkohol  extrahiren.  Der 
Nachweis  im  Extract  geschieht  spectroskopisch  (Streifen  an  der  Grenze  von 
Grün  und  Blau)  oder  durch  Zusatz  von  Chlorzinklösung  und  Ammoniak  (schöne 
Fluorescenz).  Bei  vollständigem  Abschluss  der  Galle  vom  Darm  fehlt  nach 
Müller  das  Hjdrobilirubin  in  den  Fäces  ganz.  Um  Gallenfarhstoff,  der, 
wie  schon  oben  erwähnt,  nur  unter  pathologischen  Verhältnissen  in  den  Fäces 
vorkommt,  nachzuweisen,  kann  man  die  Gmelin'sche  Reaction  direct  anstellen. 
(Zusatz  von  Salpetersäure,  der  eine  Spur  salpetriger  Säure  beigefügt  ist); 
Auftreten  der  bekannten  Farbenringe. 

Um  geringe,  auf  diese  Weise  nicht  nachweisbare  Mengen  Gallenfarbstoff  aufzufinden, 
verreibt  man  etwas  Koth  mit  Chloroform  und  einigen  Tropfen  Salzsäure  und  stellt  mit  dem 
Chloroform-Extract  entweder  direct  oder  nach  Aufgiessen  auf  Filtrirpapier  und  Verdunsten- 
lassen die  Gmehn'sche  Reaction  an  (F.  Müller.) 

Von  den  übrigen  chemischen  Bestandtheilen  der  Fäces  nennen  wir:  die 
anorganischen  (Äschen-)Bestandtheile,  ferner  Nudeine,  Peptone  (nach  v.  Jacksch 
nur  unter  pathologischen  Verhältnissen  vorkommend),  Producte  der  Eiweiss- 
fäulnis  {Phenol^  Indol,  Skatol),  Gallensäuren,  Cholesterijt,  Kohlehydrate,  Fer- 
mente, Ptomaine,  Gase.  Auf  die  Methoden  des  chemischen  Nachweises  dieser 
Körper  braucht  hier  nicht  eingegangen  zu  werden,  da  derselbe  bisher  keine 
praktische  Bedeutung  hat. 

Die  quantitative  chem  ische  Unt  ersuchung  der  Fäces,  nament- 
lich ihres  Stickstoff-  und  Fettgehaltes,  bildet  einen  integrirenden  Bestand- 
theil  jeder  exacten  Stoffwechsel-Untersuchung.  Bezüglich  der  hiefür 
in  Betracht  kommenden  Methoden  muss  jedoch  auf  andere  Abschnitte  dieser 
.,  Bibliothek"  verwiesen  werden. 

V.  Die  bacteriologische  Untersuchung  der  Fäces. 

Wie  bereits  oben  erwähnt  wurde,  ergibt  die  mikroskopische  Untersuchung 
zahlreiche  Mikroorganismen  verschiedener  Art.  Nicht  jede  dieser  Arten  ist 
auf  unseren  gewöhnlichen  Nährböden  cultivirbar,  wahrscheinlich  sind  auch 
viele  der  in  den  Fäces  sichtbaren  Mikroorganismen  bereits  abgestorben,  so 
dass  das  Plattenverfahren  häutig  weit  weniger  Keime  ergibt,  als  die  mikro- 
skopische Untersuchung  anzeigt.  Eine  Aufzählung  der  zahlreichen  bisher  in 
den  Fäces  gefundenen  Mikroorganismen  erscheint  an  dieser  Stelle  überflüssig. 


636  FETTHERZ. 

Erwähnt  sei  nur,  dass  sich  fast  in  allen  normalen  und  pathologischen  Fäces 
neben  anderen  Arten  solche  finden,  die  zur  Gruppe  des  zuerst  von  Escherich 
beschriebenen  hacterium  coli  commune  gehören. 

Es  sind  dies  kurze,  ziemlich  dicke  Bacterien,  theils  beweglich,  theils  unbeweglich,  im 
Aussehen  und  Wachsthum  auf  den  meisten  Nährböden  dem  Typhus-Bacillus  ähnlich;  im 
Gegensatz  zu  dem  letzteren  bringen  sie  sterile  Milch  zur  Gerinnung  und  vermögen  in  zucker- 
haltigen (meist  auch,  wenngleich  schwächer,  in  den  gewöhnlichen)  Nährböden  Gas  zu  ent- 
wickeln; meist  unterscheiden  sie  sich  auch  durch  andere  Merkmale  vom  Typhusbacillus. 
Diese  Bacterienarten  führen,  wie  Untersuchungen  der  letzten  Jahre  gezeigt  haben, 
nicht  immer  ein  lediglich  saprophytisches  Dasein,  sondern  können  im  Darmcanal  und  aus 
diesem  in  den  Körper  eindringend  pathogene  Wirkung  enthalten. 

Bezüglich  des  Nachweises  specifisch  pathogenen  Mikroorganismen  —  vor 
allen  des  Cholera-  und  des  Typhus-Bacillus  —  in  den  Fäces  muss,  da  hierzu  das 
Culturverfahren  notwendig  ist,  auf  den  bacteriologischen  Theil  dieses  Werkes  verwiesen 
werden.  (Bezüglich  des  Tuberkel b  acillus  vergl.  oben  unter  „Mikroskopischer  Unter- 
suchung".) 

R.  STERN. 


Fettherz.  {Coj^  adlposum  und  Begeneratio  myocardü  adiposa.)  Unter 
diesem  Namen  werden  eine  Anzahl  Veränderungen  der  Herzmuscu- 
latur  zusammengefasst,  die  streng  genommen  keinen  selbständigen  Platz 
in  der  Pathologie  verdienen,  da  sie  einerseits  nur  als  Theilerscheinung  all- 
gemeiner Ernährungsstörungen,  anderseits  als  Folge  anderer  Krankheits- 
processe  auftreten.  Indess  mag  ihre  praktische  Wichtigkeit  eine  kurze  Be- 
sprechung rechtfertigen. 

Man  unterscheidet  zwei  Formen.  Die  eine:  das  Mastfettherz,  ist 
charakterisirt  durch  übermässige  Entwicklung  des  subpericardialen  Fett- 
gewebes, welches  das  Herz  von  Aussen  in  grosser  Masse  umkleidet,  zunächst 
ohne  die  Musculatur  zu  beeinträchtigen. 

Auf  einem  zur  Oberfläche  des  Herzens  senkrechten  Durchschnitt  unterscheidet  man 
deutlich  das  Pericard.  dann  eine  mehr-weniger  mächtige,  in  extremen  Fällen  bis  über  1  cm 
dicke  Schicht  reinen  Fettgewebes,  nicht  scharf  von  dem  darunter  liegenden  Muskelgewebe 
geschieden.  Am  stärksten  ist  die  Fettschicht  an  den  Stellen  entwickelt,  die  auch  physio- 
logisch Fett  führen:  in  den  Furchen,  an  der  Herzspitze,  den  Herzohren.  Das  Gesammtherz 
kann  dadurch  sehr  beträchtlich  an  Grösse  und  Gewicht  zunehmen,  seine  Gestalt  wird  kugel- 
förmig und  die  äussere  Differenzirung  seiner  Theile  verschwindet.  Die  Stätte  der  Fettent- 
wicklung ist  das  subpericardiale  Bindegewebe.  Da  das  normale  Fettgewebe  dieser  Stellen 
mit  zunehmendem  Alter  immer  stärker  wird  —  beim  Neugeborenen  ist  es  kaum  wahrnehm- 
bar -  nnd  natürhch  auch  innerhalb  der  Breite  der  Gesundheit  grosse  Schwankungen  in 
seiner  Mächtigkeit  aufweist,  ist  es  vollständig  unmöglich,  eine  scharfe  Grenze  zwischen  den 
normalen  und  abnormen  Fällen  zu  ziehen. 

Von  der  Oberfläche  aus  dringt  das  Fettgewebe  in  die  Muskelmasse  des  Herzens  ein, 
drängt  die  Lamellen  imd  Fibrillen  desselben  auseinander,  und  man  findet  dann  wahre  Fett- 
träubchen  mehr-weniger  tief  in  das  Muskelfleisch  hineingewachsen,  zwischen  ihnen  in  un- 
regelmässiger Anordnung  die  übriggebliebenen  Muskelbündel.  Naturgemäss  ist  die  Ent- 
wicklung des  Fettgewebes  am  mächtigsten,  die  Zerfaserung  am  stärksten  in  der  Nähe  des 
Pericard;  je  weiter  nach  dem  Endocard  zu,  desto  schwächer  werden  seine  Ausläufer.  Sie 
können  aber  bis  ganz  an  das  Endocard  herandringen,  so  dass  man  dann  auch  an  der 
Innenfläche  der  Herzhöhlen  die  Fettmassen  durchschimmern  sieht.  Der  rechte  Ventrikel  ist 
relativ  stärker  betheiligt  als  der  linke,  dagegen  sind  die  Atrien,  abgesehen  von  den  Fett- 
massen an  den  Sulcis  und  den  Herzohren,  was  ihre  Muskelsubstanz  betiifft,  kaum  durch- 
wachsen. - 

Das  Fett  findet  sich  bei  dieser  Form  des  Fettherzens,  so  lange  sie  rein  bleibt,  nur 
in  der  Form  des  Fettgewebes.  Es  sind  wahre  Fettzellen,  grosse  mit  flüssigem  Fett  gefüllte, 
aus  Bindegewebszellen  hervorgegangene  Zellen,  der  Kern  an  der  Wand  anUegend,  die  die 
Fettträubchen  zusammensetzen.  Auch  die  chemische  Zusammensetzung  des  Fettes  ist  keine 
andere  als  die  des  allgemeinen  Körperfettes.  Die  Bildung  der  Fettzellen  geht  stets  von 
den  normaler  Weise  vorhandenen  Fettlagern  aus,  was  sich  schon  aus  der  geschilderten  An- 
ordnung der  Fettmassen  ergibt  und  ist  durchaus  dieselbe,  wie  an  jeder  anderen  Stelle 
des  Körpers. 

Die  hier  beschriebene  Form  des  Fettherzens  kommt  nicht  anders  als 
Theilerscheinung  allgemeiner  Obesität  vor.     Die  Ursachen  sind  also 


FETTHERZ.  637 

dieselben,  wie  die  der  allgemeinen  Fettsucht.*)  Höchstens  kann  man  anführen, 
dass  versucht  worden  ist  (Bedford  Fenwick)  in  übermässigem  abdominalem 
Druck  mit  Heraufdrängung  des  Zwerchfells  durch  Ovarialgeschwülste  u.  dergl. 
eine  Ursache  des  Fettherzens  zu  finden.  Es  ist  freilich  anzuerkennen,  dass 
es  Fälle  gibt,  in  denen  das  Herz  in  hervorragender  Weise  befallen  ist,  mehr 
als  andere  innere  Organe.  Schon  Moegagni  fand  bei  einem  sonst  mageren 
Manne  ein  sehr  fettes  Herz.  Häufiger  ist  das  Umgekehrte,  dass  man  auch 
bei  sehr  fetten  Personen  nicht  so  viel  Fett  am  Herzen  findet  als  man  erwartet. 
Ueber  die  Ursachen  dieser  Verschiedenheiten  ist  nichts  bekannt;  möglich, 
dass  ihnen  Verschiedenheiten  in  der  Thätigkeit  des  Herzens,  bedingt  durch 
Geschlecht,  Beruf,  Lebensgewohnheiten  zu  Grunde  liegen. 

Die  Vermehrung  des  Fettgewebes  am  Herzen  hat  an  sich  keine  Folgen  für  seine 
Function  und  ist  somit  auch  für  den  Gesammtkörper  bedeutungslos.  Was  man  an  Leuten 
mit  starkem  Fettherzen  dieser  Art  beobachten  kann,  mischt  sich  einestheils  mit  den  Er- 
scheinungen der  allgemeinen  Fettsucht,  so  dass  es  nicht  möglich  ist,  den  Antheil,  den  die 
Herzaffection  daran  hat,  rein  herauszuschälen,  andererseits  bezieht  es  sich  auf  die  Folgen, 
die  der  Zustand  für  das  Muskelfleisch  des  Herzens  hat.  Wenn  nämlich  das  Fettgewebe 
zwischen  die  Fasern  desselben  eindringt,  so  lockert  es  ihren  Zusammenhang,  drängt  sie 
auseinander  und  beeinträchtigt  bald  ihre  Ernährung.  Sie  erscheinen  dann  blass,  verschmä- 
lert und  nicht  lange  dauert  es,  bis  auch  ihre  Structur  leidet  und  zu  dem  ursprünglich  ein- 
fachen Mastfettherz  die  fettige  Degeneration  der  Herzmusculatur  hinzutritt,  die  man 
als  die  zweite  Form  des  Fettherzens  anatomisch  und  klinisch  zu  bezeichnen  pflegte. 

Viel  häufiger  als  im  Gefolge  des  Mastfettherzens  tritt  die  fettige  De- 
generation freilich  selbständig  auf.  Selbständig  nur  im  Gegensatz  zu  der 
bisher  besprochenen  Form,  nicht  in  dem  Sinne,  dass  sie  eine  bestimmte  Krank- 
heit sui  generis  sei.  Im  Gegentheil  hat  man  sich  in  neuerer  Zeit  ziemlich 
einstimmig  dahin  geeinigt,  sie  nur  als  Folge  einer  Ernährungsstörung  des 
Herzmuskels  anzusehen,  wodurch  sie  aus  dem  System  verschwindet  und  an 
ihre  Stelle  die  anatomische  Grundlage  dieser  Ernährungsstörung  tritt.  Wenn 
man  diese  als  Myocarditis  bezeichnet,  so  muss  zugestanden  werden,  dass  sie 
eher  alles  Andere  als  eine  Entzündung  ist  (See),  denn  es  fehlen  alle  Cardinal- 
symptome  der  Entzündung.  Weder  Hyperämie  noch  Fieber,  weder  Schmerz 
noch  Schwellung  oder  Exsudatbildung  begleiten  sie. 

Als  Ursache  steht  die  Arteriosclerose  der  Coronararterien  im  Vorder- 
grund, neben  ihr  die  acute  Anämie  (s.  d.  I  pag.  53,  ds.  Bd.).  Wenn  auch  die 
Entstehung  der  Degeneration  des  Herzmuskels  bei  diesen  Krankheiten  ver- 
schieden sein  mag,  so  ist  doch  das  Endresultat  das  gleiche.  Aber  auch  die 
einfache  Anämie,  ja  selbst  die  Chlorose  können  zur  Fettdegeneration  des 
Herzens  führen.  Sie  erscheint  ferner  im  Gefolge  der  verschiedensten  Infec- 
tionskrankheiten  —  der  Tuherculose,  des  Tyxjkus,  der  Pocken,  des  Puerperalfiebers 
besonders  rasch  und  intensiv  der  Recurrens  —  endlich  als  Intoxications- 
erscheinung  nach  Phosphor-,  Arsen-,  Antimon-  und  Schivefelsäurevergiftung  (über 
das  Kali  sind  in  dieser  Beziehung  die  Acten  noch  nicht  geschlossen)  nach 
Chloroform  und  bei  chronischen  Vergiftungen  durch  Alkohol,  Tabak  und  Chloral. 
Endlich  ist  nicht  zu  vergessen  ihr  Auftreten  im  hypertrophischen  Herzen,  wo 
sie  namentlich  im  linken  Ventrikel  zur  Störung  der  Compensation  bei  Aorten- 
fehlern führt  und  das  Ende  einleitet. 

Gemeinsam  ist  allen  diesen  Fällen  und  daher  als  Ursache  der  De- 
generation anzusehen  die  Störung  der  Blutzufuhr  zu  den  Muskelfibrillen 
und  damit  ihrer  Ernährung.  Es  ist  vor  Allem  das  Deficit  in  der  Sauerstofi- 
zufuhr,  welches  die  Fettdegeneration  bedingt.  Wie  die  allgemeine  Fettsucht 
von  allgemeinem  Sauerstofi'deficit,  so  kann  man  ohne  Zwang  die  localen  Ver- 
fettungen von  localem  Sauerstoffmangel  abhängig  machen.  Ungezwungen  bieten 
sich  dieser  Erklärung  diejenigen  Herzverfettungen,  die  bei  Anämie  und 
Cachexien    auftreten.    Auch  die  fettige  Degeneration   der  Muskelfasern,    die 


*)  Vergl.  Artikel  ^Fettsucht''  (Schweninger) 


638  FETTHERZ. 

zum  Mastfettherz  hinzutritt,  lässt  sich  auf  die  Behinderung  der  Circulation  durch 
die  Fettmassen  zurückfüliren  und  auf  denselben  Vorgang  die  Degeneration,  die 
zuletzt  das  hypertrophische  Herz  befällt,  insofern  auch  hier  durch  die  Ver- 
breiterung der  Fibrillen  die  Capillaren  comprimirt  oder  wenigstens  der  Zutritt 
der  Ernährungsflüssigkeit  und  des  Sauerstoffs  zum  Innern  der  Fibrille  erschwert 
wird.  Die  Degeneration  in  Folge  einzelner  Gifte  (Phosphor,  Alkohol,  Chloro- 
form) kann  ebenso  auf  den  Sauerstoffmangel  zurückgeführt  werden,  während 
dies  für  andere,  wie  Arsen,  Tabak  und  namentlich  die  Toxine  der  Infections- 
krankheiten  vor  der  Hand  noch  nicht  möglich  ist  und  man  für  dieselben 
eine  specifische,  vielleicht  fermentative  Wirkung  auf  die  Umsetzung  des  Mus- 
keleiweisses  in  Fett  annehmen  muss.  Die  Meinung,  dass  die  hohe  Blut- 
temperatur bei  den  Infectionskrankheiten  an  sich  —  unangesehen  der  Ursache 
des  Fiebers  —  diese  Umsetzung  bedinge  (Liebeemeistee)  ist  Angesichts  der 
Erfahrung,  dass  viele  Fälle  von  Infectionskrankheiten  (adynamischer  Typhus 
u.  s.  w.),  die  nur  geringe  Temperaturerhöhung  zeigen,  gerade  sehr  rasch  und 
in  sehr  hohem  Grade  der  fettigen  Herzdegeneration  unterliegen,  nicht  haltbar. 

Im  Beginn  der  Degeneration  wird  die  sonst  so  scharf  ausgesprochene  Querstreifung 
der  Muskelfibrillen  undeutlich,  sie  sehen  wie  bestäubt,  verschleiert  aus,  die  Differen- 
zirung  der  Muskelscheiben  verschwindet  mehr  und  mehr;  schliesslich  findet  sich  das 
Sarkolemma  an  ihrer  Statt  mit  einem  Inhalt  kleinster,  dunkler  Körner  erfüllt,  deren  Fett- 
natur durch  die  bekannten  mikroskopischen  Reactionen  leicht  zu  erkennen  ist.  Anfangs 
gleichmässig  vertheilt,  fliessen  sie  zuletzt  zu  grösseren  Tropfen  zusammen,  die  am  Ende 
auch  verschwinden  und  nur  den  leeren  Sarkolemniaschlauch  mit  dem  erhalten  ge- 
bliebenen Kern  zurücklassen.  Die  Degeneration  betrifft  nicht  alle  Fasern  gleichmässig  und 
selbst  in  den  schwersten  Fällen  findet  man  immer  noch  viele  derselben  intact;  die  be- 
fallenen in  den  verschiedensten  Stadien  der  Entartung.  Daher  man  auch  makroskopisch 
bei  einem  solchen  Herzen  das  Fleisch  niemals  in  seiner  ganzen  Dicke  gleichmässig  gelblich, 
resp.  weisslich  gefärbt,  sondern  marmorirt  sieht,  die  gelblichen  Stellen  in  unregelmässige 
Anordnung  doch  stets  streifig  mit  rothen,  respective  braunen  in  leidlich  scharfer  Abgrenzung 
wechselnd.  Für  besonders  charakteristisch  gelten  die  gelblichen  durch  das  Endocard  durch- 
schimmernden Herde  und  Streifen,  von  denen  die  an  den  Papillarmuskeln  wegen  ihren 
Folgen  für  das  Spiel  der  Klappen  iDesondere  Aufmerksamkeit  beanspruchen.  Nur  bei  den 
acuten  Phosphorvergiftungen  ist  das  Herzfleisch  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  gleichmässig, 
nicht  bloss  stellenweise  erkrankt  (Ponfick).  Die  Wandung  ist  dabei  meist,  aber  nicht  noth- 
wendig  verschmälert,  immer  aber  weich,  brüchig,  beinahe  breiig  und  lässt  den  drückenden 
Finger  leicht  in  das  morsche  Gewebe  eindringen.  Auch  der  Fettbeschlag  auf  dem  durch- 
schneidenden Messer  fehlt  nicht. 

Bemerkenswerth  ist  die  Schnelligkeit,  mit  der  die  Degeneration 
sich  vollzieht.  Die  Phosphorvergiftung  kann  binnen  24  Stunden  ein  vorher 
gesundes  Herz  zur  typischen  fettigen  Degeneration  bringen  und  auch  Krank- 
heiten (Typhus,  Puerperalfieber,  vor  Allem  aber  Recurrens)  binnen  wenig 
Tagen.  So  treten  auch  bedrohliche  Erscheinungen  bei  der  einfachen  Fett- 
umlagerung  des  Herzens,  die  doch  ganz  allmälig  sich  entwickelt,  sehr  rasch, 
oft  plötzlich  ein  und  man  kommt  unwillkürlich  auf  den  Gedanken,  dass  hier- 
mit der  Uebergang  von  der  einfachen  Fettinfiltration  zur  Degeneration  der 
Muskeln  selbst  angezeigt  werde.  Allein  der  Zeitpunkt  dieses  Ueberganges 
ist  schon,  anatomisch,  geschweige  denn  klinisch  nicht  so  scharf  bestimmt,  dass 
dieser  Schluss  gerechtfertigt  wäre.  Zur  Erklärung  des  Umstandes,  dass  ge- 
rade die  Musculatur  des  Herzens  so  auffällig  rasch  der  fettigen  Degeneration 
anheimfallen  kann,  darf  man  auf  den  im  Normalleben  durch  und  wegen  der 
fortwährenden  Thätigkeit  sehr  lebhaften  Stoffwechsel  derselben  hinweisen  ;  wie 
denn  auch  das  Zwerchfell,  welches  ähnlich  angestrengt  zu  arbeiten  hat,  unter 
denselben  Umständen  wie  das  Herz  und  mit  ihm  häufig  in  fettiger  Entar- 
tung betroffen  wird. 

Was  die  Erscheinungen  im  Leben  anlangt,  so  resultiren  sie  im  We- 
sentlichen aus  der  Herzschwäche  und  decken  sich  zum  grössten  Theile  mit 
dem  Begriffe  der  Herzinsufficienz,  soweit  sie  nicht  von  den  die  Herzverfettung 
veranlassenden  Krankheiten  abhängen.  Die  einfache  Fettumlagerung  macht 
in  der  Mehrzahl  der  Fälle  keine  Symptome.  Sie  wird  vorausgesetzt  bei  fetten 


FETTHERZ.  639 

Leuten,  insbesondere  wenn  etwa  einige  der  unten  zu  erwähnenden  Zeichen 
sich  finden.  Einfluss  auf  den  Gesammtorganismus  erlangt  sie  erst  dann,  wenn 
die  Fettwucherung  die  Musculatur  des  Herzens  in  der  geschilderten  Weise 
beeinliusst.  Man  kann  daher  auch  in  den  Symptomen  die  beiden  Formen 
des  Fettherzens  nicht  scharf  von  einander  scheiden. 

Hervorzuheben  ist  unter  den  Symptomen  ein  dumpfer  Druck  in  der 
Herzgegend,  Gefühl  der  Schwere  daselbst,  in  wechselnder  Intensität,  häufig 
nur  bei  stärkerer  Herzthätigkeit  im  Gefolge  körperlicher  Anstrengung  oder 
geistiger  Erregung  oder  —  mechanisch  durch  Auftreib ung  des  Zwerchfells 
vermittelt  —  bei  Magen-  und  Darmblähung  auftretend ;  nicht  selten  dadurch, 
dass  bei  Druck  auf  die  betreffenden  Intercostalräume  die  Empfindung  sich 
verstärkt,  eine  Intercostalneuralgie  vortäuschend.  Es  kommt  aber  auch  wahre 
Neuralgie  des  4.  bis  6.  linken  Intercostalnerven  zur  Beobachtung,  die  sich  durch 
Schmerzhaftigkeit  auch  solcher  Nervenpunkte,  die  vom  Herzen  entfernt  liegen, 
als  solche  ausweist.  Ob  sie  mechanisch,  durch  Druck  des  vergrösserten  Her- 
zens oder  reflectorisch  zu  Stande  kommt,  bleibe  dahingestellt. 

Eine  recht  charakteristische  Erscheinung  bei  Herzverfettung  ist  weiter- 
hin die,  dass  die  Kranken  plötzlich  im  Gehen  stille  stehen  müssen.  Nicht 
eigentlich  durch  Athemnoth  gezwungen,  sie  können  einfach  nicht  weiter  gehen, 
müssen  sich  erst  einige  Minuten  erholen ;  sie  erklären,  ein  unbestimmtes  nicht 
näher  zu  beschreibendes  Gefühl,  das  doch  nicht  Schmerz  zu  nennen  sei,  dessen 
Ausgangspunkt  aber  mit  grosser  Bestimmtheit  in  die  Herzgegend  verlegt 
wird,  zwinge  sie  dazu.  Diese  Erscheinung  tritt  durchaus  nicht  blos  bei  stär- 
kerer Anstrengung,  beim  Steigen  u.  s.  w.  auf,  sondern  auch  bei  vollständig 
ruhigem  Gange  auf  ebener  Erde.  Beim  Steigen,  bei  stärkerer  Armbewegung 
und  dergleichen  macht  sich  dagegen  bald  Athemnoth  —  in  kurzen  flachen 
Athemzügen  —  geltend,  die  bei  weiterem  Fortschreiten  der  Krankheit  sehr 
hohe  Grade  erreichen  und  jede  Bewegung  sehr  qualvoll  machen  kann,  wäh- 
rend sie  sich  —  und  auch  das  ist  sehr  charakteristisch  —  bis  in  die  spä- 
testen Stadien  hinein,  bei  vollständiger  Ruhe  und  Bewegungslosigkeit  nur 
wenig  bemerkbar  macht.  Die  Anfälle  von  Asthma  cardiale,  ja  von  typischer 
Stenocardie,  die  man  als  Folgen  des  Fettherzens  anführt,  sind  wohl  nicht  von 
dieser,  sondern  direct  von  der  das  Fettherz  bedingenden  Erkrankung  der 
Coronararterien  abzuleiten.  Dasselbe  gilt  von  den  Palpitationen  und  der 
häufig  durch  sie  bedingten  Schlaflosigkeit. 

Im  Weiteren  wäre  der  Schwindelanfälle  zu  gedenken,  die  schon  sehr 
frühzeitig  hier  und  da  sich  einzustellen  pflegen  und  schliesslich  bis  zur  Ohn- 
macht führen  können,  ferner  der  Oedeme  und  anderer  Stauungserscheinungen, 
die  durch  das  cyanotisch-livide  Aussehen  gekennzeichnet,  als  Folge  der  Herz- 
schwäche im  letzten  Stadium  sich  einstellen.  Auch  epileptische  und  epileptoide 
sowie  apoplectiforme  Anfälle  sollen  als  Folge  der  Herzverfettung  zur  Be- 
obachtung kommen. 

Das  intercurrente  Auftreten  aller  dieser  Zufälle  erklärt  sich  aus  einer 
plötzlich  eintretenden  Erschlaffung  des  Herzens,  zu  der  die  Be- 
dingungen bei  einem  verfetteten  Herzen  viel  reichlicher  gegeben  sind  als  bei 
gesunder  Musculatur.  Günstigen  Falles  kann  man  sogar  die  acute  Erweite- 
rung des  Herzens  percutorisch  nachweisen  (Högerstedt,  Fränkel,  Schott). 
Andrerseits  aber  erschwert  dieser  Umstand  —  namentlich  da  ähnliche  Er- 
schlaffungen auch  ohne  Fettherz  vorkommen  —  die  Diagnose  aufs  Aeusserste. 
Neben  den  genannten  Erscheinungen  kann  sich  dieselbe  auf  die  Vergrösserung 
der  Herzdämpfung  stützen,  die  bei  vorhandener  allgemeiner  Fettsucht 
freilich  nur  selten  mit  genügender  Sicherheit  nachzuweisen  ist.  Das  fettig 
entartete  Herz  pflegt  namentlich  in  der  Breite  zuzunehmen,  eine  Folge  der 
Ausdehnung  der  weniger  widerstandsfähigen  Wandungen.  Der  Herzstoss, 
wenn  er  nicht  wie  zumeist  ganz  verschwindet,    ist  weich,    undeutlich,    häufig 


640  FETTHERZ. 

imdulirend,  nach  aussen  und  unten  verschoben,  die  Töne  sind  rein  aber  schwach, 
dumpf  und  ohne  deutliche  Accentuation.  Der  Puls  ist  klein  und  namentlich 
bei  alten  Leuten  vielfach  unregelmässig  und  ungleichmässig  bis  zum  voll- 
ständigen Delirium  cordis;  auch  bei  einfachem  Mastfettherz  kann  er  inter- 
mittirend  sein.  Wenn  die  Erscheinung  mit  Abnahme  der  Obesität  verschwindet, 
darf  man  sie  mit  Recht  auf  das  Fettherz  als   solches  beziehen  (Kisch). 

Von  einem  Verlauf  der  Krankheit  ist  nach  dem  Gesagten  kaum  zu 
reden.  Da  die  meisten  Erscheinungen  der  Krankheit  im  Beginn  nur  anfalls- 
weise auftreten  und  durch  veranlassende  Ursachen  ausgelöst  werden,  so  ist 
höchstens  daraus  auf  ein  Fortschreiten  der  Krankheit  zu  schliessen,  dass  die  be- 
treffenden Zufälle  häufiger  und  auf  geringfügigere  Veranlassung  hin  sich  ein- 
stellen. Viel,  ja  Alles  hängt  dabei  vom  Verhalten  der  Kranken  ab.  Ist  das- 
selbe unzweckmässig,  so  kann  die  Erkrankung  sehr  rasch  fortschreiten  und 
binnen  weniger  Monate,  ja  Wochen,  zu  den  bedenklichsten  Enderscheinungen 
—  Oedemen,  Cyanose  etc.  —  führen,  während  sie  bei  entsprechendem  Re- 
gime lange  Jahre  hindurch  ohne  Einfiuss  auf  Leistungs-  und  Genussfähigkeit 
bleibt.  Im  Allgemeinen  muss  man  ihr  einen  hervorragend  chronischen  Verlauf 
mit  grossen  über  Jahre  sich  erstreckenden  Schwankungen  zusprechen.  Bei 
den  durch  acute  Krankheiten,  Vergiftungen  und  anderen  Herzkrankheiten 
veranlassten  Verfettungen  hängt  natürlich  der  Verlauf  von  dem  der  Grund- 
krankheit ab. 

Die  Rückbildungsfähigkeit  auch  sehr  weit  vorgeschrittener  Herz- 
verfettungen steht  ausser  Zweifel.  Das  übermässig  gebildete  Fettgewebe 
atrophirt  und  an  Stelle  der  verfetteten  Muskelfibrillen  bilden  sich  nach  Re- 
sorption des  fettigen  Detritus  neue  aus  den  erhaltengebliebenen  Kernen. 
Ja  man  darf  annehmen,  dass  dieser  Neubildungsprocess  immerzu  vor  sich 
geht;  es  kommt  dann  nur  darauf  an,  was  rascher  erfolgt:  die  Zerstörung  der 
vorhandenen  oder  die  Bildung  neuer  Fibrillen.  Im  ersten  Falle  schreitet  die 
Erkrankung  des  Gesammtherzfleisches  voran,  im  zweiten  wird  sie  rück- 
gängig. 

Der  letale  Ausgang  erfolgt  durch  Stillstand  des  allzu  schwach  werden- 
den Herzens  oder  durch  Ruptur  der  Wandungen,  wenngleich  diese  seltener 
als  man  anzunehmen  geneigt  sein  möchte,  direct  auf  das  Fettherz  als  vielmehr 
auf  die  Erkrankung  der  Coronargefässe  zurückzuführen  ist.  In  Folge  der  ge- 
schwächten Circulation  findet  sich  häufig  Gerinnselbildung  in  den  Herzhöhlen, 
ohne  dass,  eben  wegen  der  Schwäche  der  Herzaction,  die  Gefahr  der  Ver- 
schleppung von  Thromben  nahe  läge. 

Die  therapeutischen  Maassnahmen  haben  vor  allen  Dingen  wo 
es  möglich  ist,  der  ursächlichen  Erkrankung  entgegenzutreten.  Bei  allen 
Krankheiten,  die  erfahrungsgemäss  zur  Herzverfettung  führen,  wie  Typhus 
u.  s.  w.  muss  von  vornherein  bei  der  Behandlung  Rücksicht  darauf  genommen, 
von  schwächenden  Methoden  möglichst  Abstand  genommen  und  durch  geeignete 
Nahrungszufuhr  eventuell  auch  durch  Excitantien  die  Ernährung  des  Herzens 
auf  gutem  Stande  erhalten  werden.  Bei  dem  durch  Intoxicationen  entstandenen 
Fettherz  wird  man  die  Ausscheidung  des  Giftes  zu  befördern  eventuell  dessen 
Neutralisirung  anzustreben,,  bei  den  chronischen  Intoxicationen  (Alkohol, 
Tabak)  die  fortdauernde  Zufuhr  der  Noxe  zu  unterbrechen  haben.  In  vielen 
Fällen  genügt  das  Letztere.  Die  Maassregeln  gegen  das  idiopathische  Fettherz 
von  der  Form  des  Mastfettherzens  bewegen  sich  im  Allgemeinen  in  dem 
Rahmen  der  gegen  die  allgemeine  Fettsucht  zu  richtenden;  nur  dass  sich  bei 
hervorragender  Betheiligung  des  Herzens  manche  von  selbst  verbieten.  Man 
kann  einem  Kranken  mit  exquisitem  Fettherz  starke  körperliche  Bewegung 
nicht  zumuthen  und  würde  sie  nur  auf  die  Gefahr  plötzlicher  Synkope  oder 
selbst  der  Ruptur  hin  erzwingen.  Von  den  gangbaren  Entfettungscuren  bewährt 
sich  in  der  Praxis  in  den  in  Rede    stehenden  Fällen    am    Besten   eine  milde 


FETTHERZ.  641 

Bantingcu7',  welche  im  Gegensatz  zu  den  OerteVschen  und  Ebstein'schen 
Methoden  vom  Kranken  ohne  allzu  grosse  Entbehrungen  lange  Zeit  durchge- 
führt und  zur  Lebensgewohnheit  gemacht  werden  kann.  Darauf  aber  kommt 
es  an:  es  gilt  nicht  rasch  eine  beträchtliche  Abmagerung  zu  erzielen,  sondern 
einen  Zustand  herzustellen,  wo  bei  Erhaltung  des  Körpergewichts  und  Fett- 
menge, die  dem  Individuum  nach  Race,  Familienanlage  und  Körperentwicklung 
zukommt,  dem  Herzen  diejenige  Art  und  Menge  von  Ernährungsmaterial  ge- 
boten wird,  deren  es  zur  Erhaltung  seiner  Structur  und  damit  seiner  Leistungs- 
fähigkeit bedarf.  Man  verbiete  also  alle  Flüssigkeiten,  Mehlspeisen,  Kar- 
toffeln, lasse  nur  wenig  Brod  —  wo  möglich  nicht  Weizenbrod  ^ — gemessen, 
die  Sättigung  hauptsächlich  in  FAern  und  Fleisch  aller  Art  suchen,  erlaube 
als  Zugsihe  frisches  Gemüse,  Obst,  Salat;  an  Getränken  höchstens  ein  Glas 
starken  Weines,  kein  Bier;  mache  darauf  aufmerksam,  dass  es  gut  sei,  die 
Flüssigkeitszufuhr  überhaupt  möglichst  einzuschränken.  An  eine  solche  Diät 
gewöhnen  sich  die  Kranken  umso  rascher,  als  sie  sehr  bald  an  ihrem  besseren 
Befinden  und  der  Zunahme  ihrer  Leistungsfähigkeit  deren  günstigen  Einfluss 
merken.  So  wird  sie  zur  Lebensgewohnheit  und  wenn  auch  hier  und  da 
kleine  Excesse  vorkommen  und  im  Laufe  der  Jahre  ohnedem  von  der  Strenge 
der  Verordnung  Manches  abbröckelt,  ist  doch  in  der  Hauptsache  eine  genügende 
und  doch  nicht  übermässige  Ernährung  gewährleistet  und  dem  Arzte  liegt 
nur  ob,  allzu  grosse  Abweichungen  zu  verhüten. 

Es  empfiehlt  sich  zur  Einleitung  und  Vorbereitung  der  geschilderten 
Diätcur  einen  Cursus  in  Marienbad  durchmachen  zu  lassen,  der  auch  bei 
Wiederanwachsen  des  Fettansatzes  ab  und  zu  wiederholt  werden  kann.  Nur 
darf  man  in  den  Fällen  mit  stark  afficirtem  Herzen  die  Marienbader  Ent- 
fettungscur  noch  weniger  forciren  als  bei  allgemeiner  Fettsucht.  Auch  Karlsbad 
und  die  Wässer  seiner  Classe  können,  wenn  die  Darmthätigkeit  stark  dar- 
niederliegt und  nicht  beträchtliche  Anämie  vorliegt,  in  Anwendung  gezogen 
werden.  Zu  meiden  sind  bei  ausgesprochenem  Fettherz  die  hochgelegenen 
Curorte  mit  alpinem  Klima,  ebenso  die  erregenden  Seebäder  der  Nordsee  und 
des  Oceans,  während  die  mildere  Ostsee  und  das  mittelländische  Meer  hier  und 
da  als  allgemeine  Stärkungsmittel  gute  Dienste  leisten  können.  Nur 
darf  man  nie  vergessen,  dass  alle  diese  Curen  nur  Einleitung  und  Unter- 
stützung der  Diätcur  darstellen.  Es  ist  in  der  That  von  einer  vier-,  selbst 
sechswöchentlichen  Trink-  und  Badecur  zu  viel  verlangt,  dass  sie  nicht  allein 
die  durch  jahrelange  unzweckmässige  Leberjsweise  herbeigeführte  Ernälirungs- 
störung  heben,  sondern  auch  die  Möglichkeit  geben  soll,  in  Zukunft  dieselbe 
unzweckmässige  Lebensweise  ungestraft  fortzusetzen. 

Für  die  myocarditischen  Formen  der  Herzdegeneration  wird  man  bei 
der  Ernährung  etwas  mehr  Gewicht  auf  die  Vermeidung  unnöthiger  Flüssig- 
keitszufuhr, weniger  auf  den  Ausschluss  der  Amylaceen  legen;  mehr  Wein, 
unter  Bevorzugung  der  schweren  gehaltvollen  Sorten,  geben  und  die  schwä- 
chenden Curen  mit  Glaubersalzwässern  vermeiden.  Dagegen  bewähren  sich 
in  solchen  Fällen  vorzüglich  die  Soolbäder,  wobei  es  weniger  auf  die  Zusam- 
mensetzung der  Soole  als  auf  die  gehörige  Dauer  der  Cur  ankommt.  18 — 20 
Soolbäder  sind  nur  ein  Anfang  und  wenn  man  diesen  Anfang  mit  Vortheil 
an  irgend  einer  beliebigen  Soolquelle  hat  machen  lassen,  müssen  die  Sool- 
bäder bis  zu  60 — 80  fortgebraucht  werden,  was  ja  heutzutage  auch  unter  den 
häuslichen  Verhältnissen  keine  Schwierigkeiten  bietet. 

Eine  medicamentöse  Behandlung  des  Fettherzens  tritt  ein  bei 
drohenden  Zufällen  und  im  Endstadium.  Die  Analeptica,  Valeriana,  Campher, 
Castoreum,  Moschus,  Aether  spielen  dabei  die  Hauptrolle.  Bei  sehr  dilatirtem 
Herzen  und  starker  Stauung  kann  ein  depletorisches  Verfahren  durch  Diurese, 
Diaphorese,  selbst  Blutentziehung  durch  Verminderung  der  Blutmenge  das 
Herz  entlasten  und  dadurch  lebensrettend  wirken.     Bei  den  anämischen  For- 


Bibl.  med.  W^iBsenschaften .    I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten. 


41 


642  FETTSUCHT. 

men  des  Fettherzens  bietet  sicli  von  selbst  das  Eisen  als  hilfreiches  Medi- 
cament,  von  dem  man  in  solchen  Fällen  die  stimulirenden  Präparate  wie 
Titietura  ferri  aetherea  etc.  bevorzugt.  Die  eigentlichen  Herzmittel  endlich, 
als  deren  Prototyp  die  Digitalis  zu  gelten  hat,  dürfen  wegen  drohenden  Herz- 
stillstandes und  Ruptur  nur  mit  grösster  Vorsicht  zur  Anwendung  kommen; 
bildet  doch  grosse  Herzschwäche  eine  Contraindication  desselben.  Nur  unter 
gesicherter  fortdauernder  Ueberwachung  mag  man  sie  bei  kleinem  um'egel- 
mässigem  Pulse,  stockender  Diurese  und  Ueberfüllung  des  Herzens  versuchen 
und  auch  dann  nur  in  Verbindung  mit  Stimulantien. 

KOHLSCHÜTTEE. 

Fettsucht.  (Fettleibigkeif,  Obesitas,  Ädipositas.  Lipomatosis)  bedeutet  ab- 
norme, vermehrte  Anhäufung  von  Fett  im  Köi^Der.  Dabei  kann  das  Fett 
mehi^  oder  minder  im  ganzen  Körper,  soweit  es  dort  überhaupt  zur  Fettan- 
sammlung kommt,  abgelagert  sein  {Lipomatosis  universalis)  oder  nm"  an  ein- 
zelnen Orten  (Lipomatosis  partialis.  " )  Eine  scharfe  Grenze  zwischen  normaler 
oder  pathologischer  Fettanhäufung  ist  gar  oft  nicht  und  jedenfalls  nm'  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  zu  ziehen  und  es  ist  hier  der  Willkiü\  der  Erfahrung, 
der  eigenen  Beobachtung  und  Beurtheilung  ein  weiter  Spiekaum  geboten.  Man 
hat  zwar  bei  Männern  ein  Gewicht  von  90  kg,  bei  Frauen  von  Ibkg  und  dar- 
über, bei  mittlerer  Körpergrösse,  füi'  Fettleibigkeit  ausschlaggebend  angesehen. 
Andere  wieder  haben  diese  für  gegeben  erachtet,  wenn  der  Leibesumfang  in 
Nabelhöhe  den  Umfang  in  Brustwarzenhöhe  von  3  cm  aufwärts  überragt.  An- 
dere Angaben  bezeichnen  das  Quantum  der  Fettmenge  beim  erwachsenen 
Menschen  als  ausschlaggebend,  und  Fettsucht  dann  gegeben,  wenn  V40  des 
Körpergewichtes  vom  Fette  überschritten  wird,  lauter  Angaben,  die  in  prak- 
tischer Beziehung  sich  oft  gar  nicht  verwerthen  lassen  und  auch  theoretisch 
mehr-minder  willkiüiich  oder  doch  zu  unbestimmt  oder  zu  allgemein  sind, 
vor  Allem  weil  sie  Momente,  wie  sie  in  Alter,  Bace,  Klima,  Individualität, 
Emähi'ung.  Aii^eit,  Lebensweise  u.  s.  w.  gegeben  sind,  gar  nicht  berücksich- 
tigen. Für  neugeborene  Kinder  z.  B.  beträgt  das  Fett  gewiss  bis  Vm  des 
Köii^ergewichtes"  und  bei  Frauen  wird  man  von  Fettleibigkeit  oft  noch  lange 
nicht  sprechen,  wo  dies  bei  Männern  mit  gleicher  Fettansammlung  längst  ge- 
schehen wäre.  Jedenfalls  gibt  es  viele  Grade  und  Uebergänge  vom  fetten 
zum  mageren  Menschen,  und  wenn  auch  die  Extreme  über  allen  Zweifel  stehen, 
wie  bei  von  uns  beobachteten  Fällen,  wo  das  Köi^Dergewicht  löO  kg  und  dar- 
über oder  der  Leibesumfang  130  cm  betrug,  ist  man  doch  nicht  im  Stande, 
eine  allgemein  giltige  Grenze  und  Formel  für  Fettleibigkeit  aufzustellen.  Ganz 
ungerechtfertigt  ist  es  erst  da  von  Fettsucht  zu  sprechen,  wo  etwa  ein  mehr 
oder  minder  doch  subjectives  l'nbehagen  auftritt. 

"VTir  haben  von  allgemeiner  und  partieller  Fettleibigkeit  gesprochen  imd  finden 
anch  in  dieser  Beziehung,  abgesehen  von  den  Fettgeschwtilsten,  eine  Pieihe  von  Uebergängen. 
Weitans  am  häufigsten  findet  sich  die  partielle  Fettsucht,  und  hier  namentüch,  an  äusse- 
ren Stellen,  in  den  Bauchdecken,  sei  es  über  dem  Magen,  sei  es  unter  dem  IS^abel.  iim 
die  Hüften,  an  der  Brust,  am  Gesäss,  an  den  Extremitäten,  am  Rücken  etc.,  überall  hier 
immer  im  Unterhautzellgewebe;  im  Innern  des  Körpers,  im  Umkreis  des  Pericards. 
des  Herzens.  Mediastinums,  des  Nierenbeckens,  der  Leber,  im  Netz  etc..  hier  im  subserösen 
Gewebe.  Es  gibt  aber  auch  Köfpertheile,  die  selbst  bei  der  grössten  Fettansammlung  vom 
Fette  frei  bleiben,  so  Penis.  Chtoris,  Nymphen.  Augenlider,  Gehirn  und  seiae  Häute,  Ohr- 
muscheln etc. 

Wir  wollen  gleich  hier  betonen,  dass  es  einen  durchschlagenden  Unterschied  morpho- 
logisch und  chemisch  zwischen  physiologischem  und  pathologischem  Fett  kaum  gibt  und  dass 
namentlich  die  früher  als  Fettentartung  und  Fettinfiltration  oder  mikroskopisch_  als  klein- 
tropfiges  und  grosstropfiges  Fett  bezeichneten  Unterschiede  differential-diagnostisch  nicht 
immer  stichhältio:  oder  verwerthbar  sind. 


*)  Ganz  abgesehen  von  geschwulstartigen  Fettbildungen  i^Lipomem.   die  hier  nicht  in 
Betracht  kommen. 


FETTSUCHT.  64ij 

Als  Ursachen  der  Fettleibigkeit  hat  man  die  verschiedensten  Momente 
kennen  gelernt  und  mit  mehr  oder  minder  Berechtigung  als  wichtig  vertreten. 
Hier  ist  zunächst  ausser  der  angeborenen  und  der  in  einzelnen  Fällen  schon 
sehr  früh  auftretenden,  ungewöhnlichen  Fettleibigkeit  die  füi'  dieselbe  oft 
und  gern  angeschuldigte  Heredität  zu  nennen. 

Man  sprach  von  Heredität  der  Fettleibigkeit  bei  einem  Yolksstamme,  in 
einer  Gegend,  in  einer  Familie  etc.,  aber  wenn  auch  die  Thatsache  dieses 
Vorkommens  nicht  geleugnet  werden  kann  und  soll,  so  ist  doch  zu  ihrer  Er- 
klärung die  „Heredität"  gewiss  nicht  genügend,  denn  abgesehen  von  der 
Schwierigkeit,  etwas,  was  überhaupt  nicht  direct  mit  auf  die  Welt  "gebracht 
und  also  nicht  ererbt  ist,  als  hereditär  anzusehen,  wissen  wir,  dass  oft  bei  den 
meisten  Individuen  eines  Volksstammes,  sowie  bei  den  Einwohnern  einer 
Gegend  und  erst  recht  bei  den  Mitgliedern  einer  Familie  die  Ernährungs- 
und Lebensweise  in  ihren  Grundzügen  eine  so  ähnliche  oder  gleiche  ist,  dass 
sie  dieselbe  Wirkung  zeitigen  kann  und  muss.  Von  einer  Erblichkeit  der 
Fettsucht  allein  in  diesen  Fällen  kann  also  nicht  die  Rede  sein  und  wenn 
man  in  der  Erbfolge  weit  zurückgeht,  muss  man  doch  zu  dem  ersten  Falle 
kommen,  der  die  Fettleibigkeit  nicht  ererbt  hat. 

Gestützt  auf  die  Thatsache,  dass  man  Kindern  im  frühesten  Alter  (3 
Jahre  und  darunter  wie  darüber)  begegnet,  die  ganz  enorme  Fettmengen 
zeigen  und  Umfang  wie  Gewicht  in  ungewöhnlichem  Masse  aufweisen,  hat 
man  von  einer  individuellen  Disposition  zur  Fettsucht  gesprochen,  die 
theils  in  einer  mangelnden  Energie  der  Gewebselemente  (  Voit),  theils  aber  in 
einem  zu  geringen  Hämoglobingehalt  der  rothen  Blutkörperchen  (Cohxheim 
u.  A.)  liegen  soll. 

Bezüglich  des  Alters  weiss  man,  dass  über  die  40-er  Jahre  hinaus  schon 
beim  Manne,  aber  noch  mehr  beim  Weibe  häufig  Fettleibigkeit,  namentlich 
am  Bauche  zu  beobachten  ist;  man  weiss,  dass  diese  Fettleibigkeit  schon 
früher  auftreten  kann,  wenn  die  Zeugungsunfähigkeit  durch  irgend  welche 
Umstände  von  Haus  aus  oder  etwa  durch  Gas tration  in  frühere  Zeiten  fällt. 
Dass  nach  Eintritt  der  Menopause  sehr  viele  Weiber  an  Körper  umfang  und 
Gewicht  zunehmen  und  bei  sonst  gleichen  Verhältnissen  zur  Corpulenz  neigen, 
ist  eine  allgemeine  bekannte  Thatsache. 

Wie  auch  gewisse  geistige  und  Charakter-Eigenschaften  (Phleg- 
ma etc.)  mit  mehr  oder  minder  tiefer  Begründung  für  das  Zustandekommen 
der  Fettsucht  angeschuldigt  worden,  ist  hier  ebenfalls  zu  erwähnen. 

Vom  Standpunkte  der  Wissenschaft  dürfen  wir  eben  den  Einfluss  nicht 
verkennen,  den  Heredität,  individuelle  Disposition,  Alter,  Geschlecht  und  Cha- 
rakter der  Menschen  auf  die  Entstehung  der  Fettleibigkeit  ausüben  können. 
Für  den  praktischen  Arzt  jedoch,  der  mehr  zum  Helfen  und  Heilen  berufen 
ist,  sind  die  oben  genannten  Momente,  als  solche,  die  er  zu  ändern  und  beein- 
flussen kaum  oder  gar  nicht  vermag,  oft  so  gut  wie  belanglos.  Dem  gegen- 
über sind  alle  noch  zu  nennenden  ätiologischen  Factoren  von  grösserer  Trag- 
weite, vor  Allem  von  viel  praktischerer  Bedeutung. 

So  hat  man  schon  Unthätigkeit  des  Geistes  als  Ursache  der  Cor- 
pulenz hingestellt  und  dafür  sprechen  eine  Picihe  von  Erfahrungen,  vor  Allem 
die,  dass  rührige,  geistig  rege  und  bewegliche  Menschen  ceteris  paril)us  gar 
oft  mager  sind,  während  ein  ruhiges,  gleichmässiges,  mehr-minder  geistesträges 
Leben,  frei  von  Aufregungen,  Sorgen  und  Kümmernissen,  den  Menschen  leicht 
fett  macht. 

Mit  noch  mehr  Recht  lässt  man  die  Unthätigkeit  des  Körpers  in 
der  Entstehung  der  Fettsucht  eine  wichtige  Rolle  spielen.  Hier  ist  es  ziemlich 
einerlei,  ob  die  Körperunthätigkeit  durch  zu  viel  oder  zu  lange  hinterein- 
ander Liegen,  zu  langes  Schlafen,  mangelnde  Bewegung  überhaupt,  sitzende 
Lebensweise,  namentlich  verbunden    mit   gewohnheitsmässigem    Verweilen   in 

41* 


644  FETTSUCHT. 

schlechter,  sauerstoffarmer  Luft  und  dunklen  Räumlichkeiten  bedingt  ist.  Was 
bei  allen  diesen  Schädlichkeiten  direct  oder  indirect  die  Fettbildung,  bezie- 
hungsweise die  Entstehung  der  Fettsucht  begünstigt,  lässt  sich  wohl  zunächst 
auf  eine  Verminderung  des  organischen  Verbrennungsprocesses,  des  Verbrauches, 
der  Abfuhr  und  Ausscheidung  zurückführen.  Hier  sind  auch  die  Erkrankungen 
und  Zustände  zu  erwähnen,  die  mehr  oder  minder  Unbeweglichkeit  des  Körpers 
direct  oder  indirect  zur  Folge  haben  (Lähmungen  verschiedenster  Art,  Muskel- 
atrophien, Knochenbrüche  etc.  an  den  unteren  Extremitäten). 

Das  allerwichtigste  ursächliche  Moment  der  Fettsucht  ist  aber 
im  Essen  und  Trinken  von  jeher  gesucht  worden.  Mit  Recht!  Denn  wenn 
der  jeweilige  Zustand  des  Menschen  zumeist  das  Product  seiner  Lebensweise 
und  seiner  A^erhältnisse  ist,  so  muss  „dieses  Product"  vom  Essen  und  Trinken, 
welche  beide  im  menschlichen  Leben  eine  so  grosse  Rolle  spielen,  wesentlich 
beeinflusst  sein.  Es  ist  einleuchtend,  dass  gesteigerte  Nahrung szufuhr, 
ganz  gleich,  welcher  Art,  bei  sonst  gleich  bleibendem  oder  vermindertem 
Verbrauch  und  Ausscheidung  eine  Vermehrung  des  Körpergewichtes  und  Fett- 
leibigkeit zur  Folge  haben  muss,  eine  Thatsache,  die  in  der  Mast  bei  Thieren 
ilire  experimentelle  Begründung  gefunden  hat. 

Aber  nicht  allein  der  Menge,  sondern  auch  der  Qualität  der  Ingesta 
hat  man  eine  und  zwar  die  Hauptrolle  bei  der  Entstehung  der  Fettsucht  zu- 
erkannt. Als  fettbildend  und  zur  Fettsucht  leicht  führend  hat  man  ausser 
den  Fetten  selbst,  hauptsächlich  die  mehl-,  beziehungsweise  zuckerhaltigen 
Speisen  angesehen,  so  Brod,  Kartoffeln,  Kuchen,  Maccaroni,  Reis,  Polenta, 
Kastanien,  Hülsenfrüchte,  Obst,  Compot  etc. 

Dann  hat  man  übermässiges  Trinken,  namentlich  von  alkoholischen 
Getränken  und  hauptsächlich  von  Bier,  aber  auch  von  Kaffee,  Thee,  Milch, 
Wasser  etc.  für  das  Zustandekommen  der  Fettsucht  anschuldigen  können. 

Die  moderne  Physiologie  hat  auch  in  einem,  freilich  noch  nicht  zu  Ende 
geführten  Kampfe,  der  Betheiligung  der  einzelnen  Nahrungsstoffe  an  der  Fett- 
bildung die  ihnen  zukommende  Rolle  zu  bestimmen  versucht  und  Beweise 
dafür  aus  dem  Experimente,  sowie  aus  den  Erfahrungen  an  Mensch  und  Thier 
gezogen.  Wenn  als  feststehend  zu  betrachten  ist,  dass  Fette  und  Stärke,  im 
Vergleiche  zu  dem  Eiweiss  die  maassgebendsten  Factoren  für  die  Fettbildung 
beziehungsweise  Fettsucht  sind,  so  ist  nicht  minder  nachgewiesen,  dass  Stick- 
stoff-, beziehungsweise  eiweissreiche  Nahrung,  so  gut  wie  Fette  und  Stärke  zu 
übermässiger  Fettansammlung  führen  kann,  namentlich  wenn  sie  in  Verbin- 
dung mit  vielleicht  viel  Getränken  aller  Art  zur  Ernährung  dient. 

Aus  unseren  Beobachtungen  und  Erfahrungen  an  einem  ausserordentlich 
reichen  und  variirten  Krankenmaterial  geht  auf  das  Bestimmteste  hervor,  dass 
neben  der  Menge  und  der  Qualität  der  Ingesta,  die  Art  und  Weise  der 
Zufuhr  wie  die  Mischung  zwei  wichtige  Factoren  bei  der  Entstehung 
der  Fettsucht  sind,  welche  bis  jetzt  keine  oder  nur  ungenügende  Würdigung 
gefunden  haben.  Bis  jetzt  hat  man  auf  die  Eintheilung  der  Mahlzeiten  und 
ihren  Umfang,  beziehungsweise  auf  die  jeweilig  eingeführten  Mengen,  sowie 
auf  ihre  physikalische  Beschaffenheit,  ob  trocken,  ob  flüssig,  mit  oder  ohne 
gleichzeitigem  Genuss  von  Getränken,  ob  langsam  oder  schnell  zugeführt  etc., 
bei  der  Beurtheilung,  ob  eine  Nahrung  fettbildend  ist  oder  nicht,  gar  kein 
Gewicht  gelegt:  mit  einem  Worte,  die  Nahrung  war  bis  jetzt  Alles, 
die  Ernährungsweise  nichts.  Gerade  in  der  Nichtachtung  dieses  wich- 
tigen Factors  liegt  vielleicht  zum  Theil  die  Erklärung  für  die  sich  oft  wider- 
sprechenden Resultate  vieler  Untersuchungen  über  Ernährung,  denen  nur  die 
Menge  und  die  Qualität  der  Ingesta  zu  Grunde  gelegt  wurde. 

Eine  ganze  Menge  krankhafter  Processe,  wie  Störungen  der  Geschlechts- 
thätigkeit,  Menstruationsanomalien,  Puerperium,  Impotenz,  ebenso  Chlorose, 
Leucämie    und    die    heutzutage    besonders    viel    verbreitete,    gepflegte    und 


FETTSUCHT.  645 

schleclit  behandelte  Anämie  verschiedener  Provenienz,  gam  gleich  aus  welcher 
Veranlassung,  sind  ebenso  hcäuiig  von  Fettleibigkeit  gefolgt,  wie  von  ihr  ab- 
liängig  und  geben  oft  das  schönste  Paradigma  eines  pathologischen  Circulus 
vitiosus.  Hier  fehlt  der  Sauerstoff  im  Organismus,  der  Yerbrennungsprocess 
liegt  darnieder,  die  oft  in  mangelhafter  Menge  eingeführte  Nahrung  wird  weder 
richtig  verbraucht  noch  ausgeschieden  und  setzt  sich  theilweise  als  Fett  ab. 
Auch  hier  bestätigt  der  Versuch  an  Thieren  die  tägliche  Beobachtung  in  der 
Krankenpraxis. 

Für  den  Menschen  handelt  es  sich  doch  meist  um  eine  Combination 
und  Variation  mannigfachster  Umstände.  Reichliche,  zu  reichliche, 
unzweckmässige  Nahrung  und  deren  Zusammensetzung,  unzeitgemässe  Nahrungs- 
xufuhr,  Missbrauch  von  Kaffee,  Thee,  Suppen,  Milch,  Cacao,  Chocolade,  —  jeder 
Flüssigkeit,  selbst  Wasser,  nicht  bloss  der  Alkoholica,  —  sowie  mangelhafte 
geistige  Thätigkeit  oder  körperliche  Bewegung  etc.  Wie  weit  das  eine  oder 
andere  Moment  im  gegebenen  Falle  die  Hauptrolle  spielt,  wird  sich  meist  leicht 
feststellen  lassen,  als  das  wichtigste  Ergebnis  der  Anamnese  und  Krankenunter- 
suchung, als  das  Punctum  saliens,  um  welches  die  Behandlung  sich  drehen 
muss. 

Wollen  wir  aus  dem  Gesagten  auf  das  Wesender  Fett  sucht  schli  essen, 
so  müssen  wir  uns  dahin  äussern,  dass  der  Fettleibige  das  Ptesultat  einer 
übermässigen  Nahrungszufuhr  bei  normalem  Verbrauch,  oder  eines  mangel- 
haften Nahrungsverbrauches  bei  normaler  Zufuhr  oder  noch  einer  wenigstens 
verhältnismässig  übermässigen  Nahrungszufuhr  bei  mangelhaftem  Verbrauch 
ist.  Gerade  diese  letzte  Eventualität  ist  wohl  für  die  meisten  Fälle  zutreffend, 
so  dass  das  Wesen  der  Fettsucht  auch  dahin  präcisirt  werden  kann,  dass  beim 
Fettleibigen  der  Säftestrom  ganz  oder  theilweise  zu  langsam  vor  sich  geht, 
dass  der  Stoffwechsel  und  der  organische  Verbrennungsprocess,  durch  eine 
Art  Stagnation  und  Versumpfung  vermindert  sind.  Dabei  spielen  die  redu- 
cirten  mechanischen  Momente  gewiss  nicht  minder  eine  hervorragende  Rolle  als 
•die  bis  jetzt   allein  oder  hauptsächlich  angeschuldigten  chemischen  Momente. 

Die  Fettsucht  hat  gar  oft  nur  und  zunächst  kosmetisches  Interesse. 
Wenn  der  Nacken  zu  dick  wird,  das  Kinn  doppelt  und  dreifach,  der  Hals  kurz 
und  gedrungen,  die  Brust  voller  und  schwerer,  hängender,  oft  bis  zum  Nabel, 
die  Magengrube  dicker  und  prominenter  (Magenpolster),  der  Unterleib  gewölbter, 
die  Hüften  breiter,  so  sind  das  nicht  nur  erste,  sondern  anfangs  auch  weniger 
l3eachtete  oder  weniger  ernst  genommene  Erscheinungen.  Schlimmer  wird  die 
Sache  schon,  wenn  das  Gesicht  gerötheter  ist,  das  Blut  mehr,  wie  man  sagt, 
-ZU  Kopfe  steigt,  oft  schon  bei  der  geringsten  Bewegung  (Bücken,  Steigen, 
Heben,  Tragen  etc.),  der  Athem  keuchend  erscheint,  im  Schlafe  schnarchend. 
Diese  Erscheinungen  bestehen  oft  schon  lange,  ehe  weitere  subjective 
und  objective  Störungen  bis  zu  mehr  oder  minder  ausgebreiteten  ma- 
teriellen Veränderungen  sich  zeigen.  Eine  ganze  Menge  von  solchen  ent- 
wickelt sich  mit  der  Zeit,  wobei  Ursache  und  Wirkung  nicht  immer  leicht  und 
gut  auseinander  zu  halten  sind.  Denn  es  ist  einleuchtend,  dass  die  Fettsucht 
zwar  ganz  bestimmte  Folgen  setzt,  die  nicht  allein  bestehen  bleiben,  sondern 
gern,  wo  sie  nicht  rationell  bekämpft  werden,  fortzeugend  Böses  weiter 
schaffen,  und  bis  dahin  unschädliche  Einflüsse  nachtheilig  wirken  lassen.  So 
kommt  es,  dass  Eczem,  Intertrigo,  namentlich  an  schweissigen  sich  reibenden 
Stellen,  Dermatitiden,  Furunkel,  wie  directer  Schwund  der  Haut,  namentlich 
am  Abdomen,  Oberschenkel,  Thorax  etc.,  ähnlich  den  sogenannten  Schwauger- 
schaftsnarben  etc.  leicht  und  gern  in  die  Erscheinung  treten.  Wie  hier  an 
der  Haut  verhält  es  sich  ähnlich  mit  den  Vorgängen,  die  subjectiv  und  ob- 
Jectiv  im  Innern  des  Körpers  zu  Tage  treten  und  erst  functionelle,  bald  aber 
materielle  Schädigungen,  oft  bis  zu  hohem  Grade  zeitigen.  Die  Blutmasse 
erscheint  zwar  vermehrt,  jedoch  vielfach  von  minderwerthiger  Qualität,  wässe- 


646  FETTSUCHT. 

riger,  blässer,  weniger  hämoglobinhältig.  Diese  absolute  und  relative  Blut- 
armuth  wirkt  bei  der  Fettsucht  ebenso  als  Ursache  wie  als  Folge. 

Die  fettreichen  Bauchdecken  und  Eingeweide  beanspruchen  mehr  Raum, 
das  Zwerchfell  wird  hinaufgedrängt,  in  seinen  Bewegungen  mehr  oder  minder 
gehindert  und  das  Alles  hat  eine  räumliche  Beschränkung  der  Brust- 
organe zur  Folge,  welche  durch  das  daselbst  angehäufte  Fett  (Mediastinum, 
Subpleural-,  Subpericardialgewebe  etc.)  noch  vermehrt  wird.  Diese  mechanischen 
Verhältnisse  werden  noch  dadurch  verschlimmert,  wenn  Magen  und  Darm 
meistens  an  und  für  sich  sehr  voluminös,  erweitert  erscheinen,  abgesehen 
von  den  gleichzeitigen  grösseren  Mahlzeiten,  und  ihrer  ungünstigen  Wir- 
kung, ohne  oder  mit  einengender  Bekleidung  etc.  Die  Folgen  dieser  abnormen 
Verhältnisse  treten  ziemlich  frühzeitig  auf  und  zeigen  sich  in  subjectiver  Be- 
ziehung durch  ewiges,  nach  den  Mahlzeiten  sich  steigerndes  Gefühl  von  Voll- 
sein, Druck  und  Beklemmung  vorne  und  unten  in  der  Brust  und  Bauch,  Kurz- 
und  Schnellathmen,  namentlich  bei  körperlicher  Bewegung.  Im  Laufe  der 
Zeit  treten  noch  Angstgefühl,  Schmerzen  in  der  Herzgegend,  oft  ausstrahlend 
nach  dem  Halse  und  den  oberen  Extremitäten  auf,  verbunden  mit  Bangigkeit, 
Katastrophengefühl  und  anderen  Erscheinungen  der  Angina  pectoris. 

Der  Lungen  seh  all  ist  mit  zunehmender  Fettschicht  mehr  und  mehr 
abgeschwächt.  Aehnlich  verhält  sich  das  Herz,  dessen  Töne  durch  die  Fett- 
umhüllung allmälig  schwächer  fühlbar  werden.  Durch  die  räumliche  Be- 
schränkung der  Brustorgane,  aber  auch  durch  andere  hinzukommende  Momente 
ist  das  Herz  in  seinen  Bewegungen  mehr  oder  minder  gehemmt,  was  oft  zu 
Herzklopfen  Veranlassung  gibt;  es  kann  bei  der  Systole  nicht  so  viel  Kraft  als 
nöthig  lebendig  und  frei  werden  lassen,  was  zu  einer  mangelhaften  Ernährung 
des  ganzen  Körpers,  allmälig  zur  Entartung  der  Organe  führt,  und  das  Alles 
umso  schneller  und  umso  intensiver,  je  mehr  das  Herz  selbst  von  Fett  um- 
hüllt und  vom  Bauche  aus  beengt  wird.  Diese  Verhältnisse  führen  dann 
ziemlich  sicher  zu  concentrischer,  aber  auch,  durch  die  sich  allmälig  ein- 
stellende Störung  im  Blutkreislaufe,  später  zu  excentrischer  Hypertrophie,  noch 
später  zu  Klappenfehlern  und  Insufficienz  mit  den  diesen  eigenen  Erscheinungen 
und  Folgen  (Hydrops,  etc.),  schliesslich  zur  Entartung  der  Herzmusculatur  und 
manchmal  zum  plötzlichen  Tode  durch  Syncope,  Vorgänge,  die  durch  die  con- 
committirende  Blutarmuth  noch  ganz  besonders  begünstigt  werden.  Noch 
ehe  es  dazu  kommt  sind  freilich  meist  eine  Reihe  anderer  Erscheinungen  und 
Veränderungen  zu  beobachten.  Der  erschwerte  Blutkreislauf  macht  sich 
unter  Anderem  hauptsächlich  in  der  dauernden,  stärkeren,  allgemeinen  Venen- 
füllung bemerkbar,  die  ihrerseits  zu  Capillaren  und  ^'enenerweiterungen 
(ziemlich  constant  auch,  am  unteren  Rippenrande,  aber  auch  anderswo  Rücken, 
Kreuz  etc.),  zu  blauem  Gesicht,  Neigung  zu  Rosacea  (namentlich  bei  der  con- 
committirenden  fettigen  Beschaffenheit  der  Haut,  zu  Varicen,  Varicocele 
führt  oder  diese  vermehrt,  sowie  eine  Neigung  zu  kleineren  und  grösseren 
Hämorrhagien,  blaue  Flecke  an  der  Haut  schafft,  die  auch  bei  ganz  ge- 
ringen Anlässen  sich  geltend  machen.  Inwieweit  diese  allgemeine  Venen- 
füllung und  die  dadurch  bedingte  Steigerung  des  Blutdruckes,  oder  die  ent- 
zündlichen Erscheinungen,  Entartung,  aneurysmatische  Erweiterungen  der 
Arterien,  an  Apoplexien,  namentlich  im  Gehirn  —  wozu  Fettleibige  ganz  be- 
sonders neigen  • —  Schuld  tragen,  lässt  sich  nicht  immer  genau  präcisiren. 

Die  Venen füllung  macht  sich  auch  im  Pfortadergebiete  und  in  allen 
Bauchorganen  in  mehr  minder  deutlicher  Weise  geltend  und  führt  hier  zu 
chronischen  Magen-  und  Darmkatarrhen  (oft  mit  Anorexie,  Uebelkeit,  Diarrhoe, 
seltener  Verstopfung),  zu  Anschoppung  der  Leber,  Milz,  Nieren  etc.,  zu  Hämor- 
rhoiden, sowie  zu  katarrhalischen  Att'ectionen  und  Erscheinungen  seitens  der 
Genitalorgane,  auf  die  wir  weiter  unten  noch  speciell  eingehen  werden.  Auch 
die  Harnblase  ist  oft  in  Mitleidenschaft  gezogen;  es  zeigt  sich  meistens  zu 


FETTSUCHT.  647 

häufiges,  später  vermindertes  Bedürfnis  zum  Uriniren,  Harndrang,  Schmerzen  etc., 
das  Alles  auch  ohne  katarrhalische  Affection  der  Blasenschleimhaut.  In  der 
Beschaffenheit  des  Urins  beobachtet  man  die  grössten  Schwankungen  und 
Varietäten.  Mcht  unerwähnt  wollen  wir  lassen,  dass  nicht  selten  zucker- 
haltiger Urin  in  periodischer  oder  vorübergehender  Weise  beobachtet  wird. 
Dass  Fettleibigkeit  sich  namentlich  später  oft  mit  Diabetes,  harnsaurer  Diathese, 
Gicht,  Harngries,  Harnsteinen  und  Harnsteinkoliken,  sowie  mit  Gallenstauung, 
Icterus,  Gallensteinen  und  Gallensteinkoliken  etc.  complicirt,  ist  eine  nicht 
zu  leugnende  Thatsache,  die  übrigens  im  Obengesagten  ihre  Erklärung  findet. 

Auch  im  kleinen  Blutkreislauf  treten,  oft  schon  sehr  frühzeitig, 
Stauungen  und  deren  Folgen,  namentlich  Bronchialkatarrh,  mit  oder  ohne 
Emphysem,  Husten,  Auswurf  etc.  auf.  Dasselbe  sei  vom  Kehlkopf  und  Rachen 
erwähnt,  wo  auch  oft  Reiz-  und  katarrhalische  Erscheinungen  vorhanden  sind, 
welche  —  natürlich  —  immer  und  immer  wieder  nur  der  „Erkältung"  zu- 
geschrieben werden. 

Die  mit  Fett  durchsetzte  Körpermusculatur  muss  absolut  und  re- 
lativ schwerer  arbeiten,  zumal  der  Sauerstoff,  durch  die  vorhandene  Anämie, 
aber  auch  weil  Herz  und  Lungen  nicht  gut  functioniren,  mehr-minder  mangelt. 
Trotzdem  kann  man  anfänglich,  in  Folge  der  erhöhten  Arbeit  bei  verhältnis- 
mässig noch  gutem  Ernährungszustande,  Hypertrophie,  namentlich  an  den 
Muskeln  der  unteren  Extremitäten  begegnen;  allein  die  zunehmende  Fett- 
infiltration erschwert  die  Muskelthätigkeit  immer  mehr  und  mehr  und  Muskel- 
entartung wie  Schwund  tritt  allmälig  ein.  Gehen  und  Steigen  werden  dann  immer 
langsamer,  beschwerlicher,  bald  von  Schweiss  gefolgt,  der  oft  in  sehr  gestei- 
gertem Maasse  auch  in  der  Ruhe  auftritt  und  die  durch  das  schlechtleitende 
Fettpolster  bewirkte  Wärmestauung  natürlich  ausgleicht.  Dass  neben  der  er- 
schwerten Wärmeabgabe  Fettsüchtige  bei  fieberhaften  Processen  wenig  hohe 
Temperaturen  aufweisen  und  trotzdem  sehr  gefährdet  sein  können,  ist  aus  dem 
Obenangeführten  leicht  begreiflich. 

Wichtig  sind  ferner  die  Erscheinungen  in  der  Geschlechts- 
sphäre. Bei  Männern  beobachtet  man  anfänglich  gesteigerte,  später  ver- 
minderte Geschlechtslust  bis  zur  Impotenz,  letzteres  übrigens  oft,  wenn  auch 
nur  vorübergehend,  bei  verschiedenen  Entfettungscuren  zu  beobachten.  Aehnlich 
verhalten  sich  die  Frauen,  deren  Menses  nur  zu  häufig  ungünstig  beeinflusst 
werden  und  zwar  seltener  durch  zu  starke  und  zu  häufige,  als  durch  zu  schwache, 
weniger  häufige  und  unregelmässige  Blutungen.  Hand  in  Hand  damit  geht  oft 
Sterilität,  die  übrigens  oft  nach  Jahren  noch  verschwindet,  wenn  die  Fett- 
leibigkeit gehoben  ist.  Dasselbe  gilt  von  dem  nur  zu  häufigen  Fluor  albus, 
namentlich  bei  blutarmen,  fetten  Frauen.  Auffallend  sind  oft  auch  bei  den 
Fettleibigen  die  Störungen  in  der  Psyche,  wie  sie  durch  Denkfaulheit, 
Unlust  zu  geistigen,  wie  körperlichen  Arbeiten,  Energielosigkeit,  Schwer- 
fälligkeit etc.  zum  Ausdruck  kommt  und  sich  oft  bei  Entfettung  vorübergehend 
noch  steigern. 

Alle  diese  Zustände  bringen  mit  zunehmender  Dauer,  Intensität,  Alter  etc. 
mehr  Gefahr,  trüben  die  Prognose  dadurch  erheblich,  die  bei  jugendlichen 
Individuen  und  zweckmässiger  Behandlung,  wenn  sie  früh,  energisch  und 
nachhaltig  genug  betrieben  wird,  fast  absolut  günstig  ist.  Die  ungünstige 
Prognose  trifft  erst  bei  langer  Dauer  zu,  wenn  die  genannten  Störungen  und 
Veränderungen  der  verschiedenen  Organe,  namentlich  aber  des  Herzens  und 
Gefässystems  eingetreten  sind  und  den  allmäligen  oder  plötzlichen  Tod  be- 
dingen. Wir  meinen  hier  hauptsächlich  durch  Hydrops,  Lungenödeme,  Herz- 
lähmung, Herzruptur,  Hirnhämorrhagie,  welche  beide  letztere  oft  ohne  jede 
Ueberanstrengung  und  besondere  äussere  Veranlassung  eintreten.  Abgesehen 
von  allen  diesen  Gefahren  ist  die  Prognose  durch  die  eventuell  concommitti- 
renden  oben  erwähnten  Erkrankuugen,  wozu  Fettleibige  ganz  besonders  neigen, 


648  .FETTSUCHT. 

beeinflusst.  Endlich  wollen  wir  nocli  der  Bedrohung  Erwähnung  thun,  deren 
Fettsüchtige  durch  jede  intercurrente  Erkrankung  und  sei  sie  ein  sonst 
ziemlich  unschuldiger  Bronchialkatarrh,  noch  mehr  aber  bei  fieberhaften  Pro- 
cessen (Typhus,  acuter  Gelenksrheumatismus,  Pneumonie,  Scharlach,  In- 
fluenza etc.)  erfahren  kann. 

Die  pathologische  Anatomie  des  Fettsüchtigen  ist  —  abgesehen 
von  der  mehr-minder  bedeutenden  Fettanhäufung  und  Ablagerung  an  den 
wiederholt  genannten  Stellen,  wodurch  die  technische  Ausführung  ,von  Obduc- 
tionen  oft  bedeutend  erschwert  wird  —  die  ihrer  Complicationen  und  beglei- 
tenden Erkrankungen  und  darf  uns  daher  hier  nicht  lange  aufhalten.  Ein 
ziemlich  constanter  Befund  ist  ein  nach  allen  Dimensionen  mehr  oder  minder 
vergrössertes  Herz,  sodann  eine  Stauungsmilz,  Stauungsnieren,  Muskatnuss- 
und  Fettleber,  wie  auch  chronische  Entzündungen  durch  Stauung  in  den 
Schleimhäuten  der  Verdauungs-,  Athmungs-,  Geschlechts-  und  Harnorgane. 
Doch  ist  die  venöse  Hyperämie  in  diesen  Organen,  wenigstens  was  die  Leb- 
haftigkeit der  Farbe  anbetrifft,  oft  durch  die  vorhandene  Blutarmuth  weniger 
auffallend. 

Die  Behandlung  der  Fettsüchtigen  ist  seit  Alters  auf  den  ver- 
schiedenen Wegen  versucht  und  mit  verschiedenen  Mitteln  erreicht  worden. 
Aber  alle  Behandlungsmethoden,  die  bis  auf  den  heutigen  Tag  versucht  worden 
sind,  litten  und  leiden  an  der  Schablone,  Kurzsichtigkeit,  Engherzigkeit 
(nicht  immer  der  Autoren,  sondern  mehr  der  Nachbeter),  an  mangelnder  In- 
dividualisirung,  und  legen  nicht  genug  Werth  auf  detaillirte  und  nach  Zeit, 
Umständen  und  Bedürfnissen  variirte  und  modificirte  Verordnungen.  Von 
den  Hungercuren,  Durstcuren,  ScHROx'schen  Semmelcuren,  Speichelcuren 
bis  zu  den  Terraincuren  und  Entfettungscuren  von  Banting,  Oertel,  Ebstein 
etc.  lässt  sich  immer  dasselbe  sagen,  dass  sie  erfunden  worden  sind,  um  nach 
einiger  Zeit  mehr-minder  spurlos  wieder  zu  verschwinden.  Man  hat  allen 
diesen  Curen  bald  mehr  Vortheile,  bald  mehr  Nachtheile  nachgerühmt,  ohne 
zu  bedenken,  dass  sie  Alle  und  selbst  die  mit  Medicamenten  wie  Jod,  Queck- 
silber oder  Geheimmitteln  wie  Antisarcin,  etc.  zu  rechter  Zeit,  am  rechten  Ort, 
bei  geeigneten  Individuen  unter  richtigen  Variationen  und  Combinationen  er- 
folgreich sein  können.  Die  Individualisirung  jedes  einzelnen  Falles  und  die 
Variationen  und  Modificationen,  die  sich  naturnothwendig  im  weiteren  Ver- 
folge je  nach  dem  Resultate  und  den  Wirkungen  auf  das  Individuum  ergeben, 
sollten  nothwendigerweise  eben  mehr  oder  minder  ausschlaggebend  sein. 
Ohne  diese  Berüchsichtigung  und  Controle  der  jeweilig  verordneten  Schablone, 
ohne  Detailbehandlung  niuss  jede  Methode  mit  der  Zeit  sich  discreditiren.  Daran 
ändern  auch  nicht  die  Errungenschaften  der  Ernährungsphysiologie,  wie  sie 
namentlich  durch  Pettenkofee,  Voit  und  ihre  Schüler  in  die  wissenschaft- 
liche und  therapeutische  Medicin  eingeführt  worden  sind. 

Bekanntlich  hat  schon  Banting  möglichst  viel  Albuminate  von  seinem 
Arzte  Haevey  verordnet  und  Fette,  sowie  Kohlenhydrate  entzogen  bekommen, 
eine  Methode,  die  auf  physiologischer  Grundlage  später  wissenschaftlich  um 
somehr  Beachtung  fand,  als  ja  Albuminate  eine  ausgiebige  Blutbildung  för- 
dern sollen,  deren  die  Fettleibigen  so  sehr  bedürfen. 

Die  Fette  und  Kohlenhydrate,  die  man  mehr  oder  minder  entzog,  wurden 
von  Ebstein  auf  Grund  eigener  Auffassungen  wieder  mehr  in  die  Diät  der 
Fettleibigen  aufgenommen  und  zweifellos  sind  in  geeigneten  Fällen  mit  dieser 
Methode  gute  Resultate  erzielt  worden.  Das  wird  immer  geschehen,  wenn  die 
Diät  mit  oder  ohne  Zufuhr  von  Fett  so  veranlagt  wird,  dass  der  Körper  von 
seinem  aufgespeicherten  Fett  und  Flüssigkeit  hergeben  muss,  was  ja  bekannt- 
lich immer  eintritt,  wenn  der  Eiweissumsatz  vermehrt,  und  der  Stoffwechsel 
gesteigert  ist. 


FETTSUCHT.  649 

Oertel  hat  seine  Entfettungslehre  wesentlich  auf  Einschränkung  der 
Gesammtzufuhr,  namentlich  der  Flüssigkeitsmengen,  vermehrte  Eiweissnah- 
rung,  erhöhte  Muskelthätigkeit  und  besonders  Herzmuskelgymnastik  und  Ter- 
raincuren  aufgebaut. 

Für  uns  sind  alle  diese  und  die  oben  erwähnten  Momente,  aber  auch 
oft  noch  sehr  viel  mehr  andere,  gerade  für  das  Individuum,  das  zu  behandeln 
ist,  maassgebende  Factoren  wichtig  und  berüchsichtigungswerth.  So  ist,  abge- 
sehen von  der  Ernährung,  die  wir  weiter  unten  ausführlich  besprechen  wollen, 
in  äusserer  Beziehung  die  Vermehrung,  Regelung,  Ueberwachung,  'Abwechs- 
lung von  Bewegung,  Ruhe  und  Lagerung  von  hervorragender  Wichtigkeit 
und  Bedeutung,  namentlich  insofern  diese  Momente  in  Zusammenhang  mit 
anderen  ebenso  bedeutungsvollen  und  indicirten  Factoren,  die  den  individu- 
ellen Bedingungen  angepasste  Muskelthätigkeit  und  die  Functionen  des  ge- 
sammten  Körpers  zu  beeinflussen  im  Stande  sind. 

Für  uns  ist  die  Regelung  der  Flüssigkeitszufuhr  in  Bezug  auf  Zeit, 
Menge,  Mischung,  Temperatur,  Art  und  Weise  der  Zufuhr  ebenso  wichtig  oder 
wichtiger  geworden,  als  das  allgemeine  Gebot  oder  Verbot  von  Wasser,  Wein, 
Bier  oder  dergleichen.  In  derselben  Weise  ist  die  Zufuhr  von  Nahrungsstoffen 
genau  zu  berücksichtigen,  weil  nicht  nur  auf  die  chemische  Zusammensetzung 
derselben,  sondern  noch  auf  eine  ganze  Menge  anderer  wichtiger  Factoren  es 
in  der  Regel  ankommt,  ob  und  wieviel  in  der  Zeiteinheit  und  in  welchem 
Verhältnis  zur  geleisteten  Arbeit  und  verbrauchten  Kraft  aufgenommen  und 
ausgenützt  wird,  mit  welchen  Rückständen,  mit  welcher  localen  und  allge- 
meinen Belastung  des  Kreislaufes,  nicht  bloss  des  Blutkreislaufes,  mit  welcher 
Mund-,  Magenarbeit,  Organabnützung  etc.  diese  und  noch  viel  mehr  andere, 
namentlich  nach  der  mechanischen,  jedenfalls  physikalischen  Seite  hin 
liegende  Factoren,  scheinen  uns  bisher  unberücksichtigt  oder  ziemlich  vernach- 
lässigt worden  zu  sein.  Und  doch  kommt  es  bei  jeder  Behandlung  der 
Fettsüchtigen,  die  in  Zeit  ihrer  Erkrankung,  Alter,  Ernährung,  Thätigkeit, 
Beruf,  Klima,  Individualität  überhaupt  so  wichtige  und  berücksichtigungswerthe 
Eigenthümlichkeiten  haben,  darauf  an,  dass  sie  nicht  nur  von  ihrem  über- 
schüssigen Fett  befreit  werden  und  nicht  mehr  Gefahr  laufen  des  Weiteren 
übermässig  fett  zu  werden,  sondern  auch,  dass  sie  so  weit  möglich  alle  un- 
angenehmen Folgen  ihres  Fettzustandes  auf  die  denkbar  einfachste,  un- 
schuldigste, kürzeste  und  nachhaltigste  Weise  verlieren. 

Wir  suchen  diesen  Verhältnissen  Rechnung  zu  tragen,  indem  wir  unter 
Berücksichtigung  aller  aus  der  Anamnese,  Untersuchung,  Beobachtung,  Er- 
fahrung, Kunst  und  Wissenschaft  gegebenen  Momente  unsere  individuellen 
Verordnungen  geben,  dabei  aber  aus  der  Art  und  Weise  der  Wirkung  auf 
den  Organismus  und  seiner  Theile  diejenigen  Modificationen  und  Variationen 
vornehmen,  die  etwa  nach  Wunsch  oder  Bedürfnis  wichtig  und  nöthig  er- 
scheinen. Wir  erinnern  uns  dabei,  dass  und  wie  weit  der  Mensch  das  Product 
seiner  Lebensweise  ist  und  suchen  und  finden  darin,  beziehungsweise  in  der  Be- 
kämpfung althergebrachter,  namentlich  übler  Gewohnheiten  eine  ergiebige  Quelle 
für  die  Erreichung  unseres  Zieles,  und  dieses  Ziel  ist  nicht  nur  das  überschüssige 
Fett  mit  seinen  directen  und  indirecten  Folgen  verlieren,  sondern  auch  nicht 
mehr  fett  zu  werden.  Wir  überwachen  nicht  nur  Essen,  Trinken,  geistige  Thä- 
tigkeit, Bewegung,  Ruhe,  Lagerung,  Bekleidung,  Wohnung  etc.,  sondern  die 
allgemeine  und  locale  Blutvertheilung  und  Circulation,  die  Secretionen  und 
Excretionen  (Stuhl,  Urin,  Hautausscheidungen  etc.),  sowie  Schlaf,  Appetit 
und  alle  in  Betracht  kommenden  Körperfunctionen,  unter  Controle  des  Kör- 
pergewichtes und  bestimmter  Maasse.  So  wird  dem  Wohl-  und  Uebelbetinden, 
■Schmerzen,  allen  Magen-  und  Darmerscheinungen,  Herz-,  Nieren-,  Gehirn-, 
Lungenzuständen,  Bewegungs-  und  Athembeschwerden  u.  dgl.  mehr  in  der 
thunlichsten  Weise  schon  von  vorne  herein,  aber  auch  des  Weiteren   bei  steter 


650  FETTSUCHT. 

Beobachtung  EechnuDg  getragen.  Von  allen  diesen  und  ähnlichen  Gesichts- 
punkten geleitet,  wird  es  einleuchtend,  wenn  man  —  natürlich  immer  wieder 
unter  strengster  Berücksichtigung  der  individuellen  Verhältnisse  und  der 
allenfalls  nach  Wunsch  und  Bedürfnis  nothwendigen  Abänderungen  —  den 
Fettleibigen  Vorschriften  in  folgenden  Eichtungen  gibt,  ohne  damit  für  den 
Einzelfall  die  Zahl  der  Möglichkeiten  und  Nützlichkeiten  auch  nur  annähernd 
erschöpfen  zu  wollen. 

Controle  von  Maass  und  Gewicht.  Es  versteht  sich  von  selbst, 
dass  es  hier  auf  das  relative,  nicht  auf  das  absolute  Maass  und  Gewicht 
ankommt,  beziehungsweise  auf  die  sich  im  Verlaufe  der  Behandlung  ergebenden 
Veränderungen,  welche  einen  objectiven  Anhaltspunkt  für  die  Beurtheilung  des 
Zustandes,  sowie  einen  Fingerzeig  für  eventuell  vorzunehmende  Modificationen 
abgeben  sollen.  Als  Maass  lassen  wir  in  den  meisten  Fällen,  wenigstens  all- 
wöchentlich den  Brust-  und  Leibumfang  bestimmen  und  zwar  ersteren  in 
Höhe  der  Brustwarzen,  letzteren  in  Höhe  des  Nabels.  Bei  besonders  aus- 
gedehntem Bauche,  mit  oder  ohne  Verschiebung  des  Nabels  nach  oben  oder 
nach  unten,  empfiehlt  es  sich  auch  die  Entfernung  des  Nabels  vom  Processus 
xiphoideus,  sowie  vom  Schambein  bestimmen  zu  lassen.  Bei  Fällen  von 
Lipomatosis  universalis  kann  unter  Umständen  interessant  oder  nützlich  er- 
scheinen, den  Umfang  anderer  Körperstellen  (Schenkel,  Waden,  Oberarme, 
Hände,  Füsse,  Finger,  Hals,  Gesicht  etc.)  zu  controliren.  Bei  Heranwachsen- 
den kommt  dann  noch  die  Körperhöhe  in  Betracht,  welche  man  zweck- 
mässigerweise etwa  monatlich  einmal  feststellen  lässt.  Indem  die  regelmässige 
Bestimmung  von  Maass  und  Gewicht  uns  die  objectivsten  Anhaltspunkte  für  die 
Beurtheilung  des  Verlaufes  der  Behandlung,  beziehungsweise  der  gemachten  Fort- 
schritte an  die  Hand  gibt,  ist  sie,  je  nach  dem  Ausfall,  für  Arzt  und  Patienten  eine 
Belohnung  oder  eine  Mahnung,  ja  eine  Drohung,  gleichzeitig  ein  Sporn  zur 
stricteren  Durchführung  der  Verordnungen.  Das  Ausbleiben  von  einer  befrie- 
digenden Gewichtsabnahme,  beziehungsweise  eine  Zunahme  muss  immer  zu  einer 
schärferen  Betonung  der  Verordnungen  führen,  und  das  verfehlt  dann  meistens 
auch  seinen  Zweck  nicht,  abgesehen  von  den  Abänderungen  und  Modificationen, 
die  aber  sehr  wohl  überlegt  und  sorgfältig  abgewogen  und  nicht  bloss  nach 
Willkür  und  Wunsch  des  Kranken  geschehen  sollen. 

Wegfall  aller  einengenden  und  einschnürenden  Kleidungs- 
stücke. Es  ist  einleuchtend,  dass  Alles  aus  der  Lebensweise  des  Patienten 
wegfallen  muss,  was  den  Kreislauf  hemmt  und  verlangsamt  und  zu  Stockungen 
führen  kann,  damit  aus  diesem  Grunde  der  Verbrennungs-  und  Circulations- 
process  keinen  Einhalt  erleidet.  Einengende  und  einschnürende  Kleidungs- 
stücke müssen  daher  beseitigt  werden  und  darunter  vor  x\llem  das  unheilvolle 
Mieder,  um  das  Bein  gelegte  Strumpfbänder,  enge  Kragen  oder  Aermel, 
stramm  angeschnallte  Hosen  oder  Säbelgürtel,  Bauchriemen,  enggebundene 
Röcke,  unter  Umständen  sogar  die  Fischbeine  und  Stahlstangen  aus  den 
Taillen,  Cravatten  u.  s.  w.  Wie  gerade  das  mechanische  Moment  bei  der  Ent- 
stehung von  localer  Fettablagerung  eine  wichtige,  bisher  unbeachtete  Rolle 
spielen  kann,  sieht  man  an  den  Fingern,  an  denen  fortdauernd  enganschlies- 
sende  Ringe  getragen  werben.  Hier  findet  man  unmittelbar  rings  um  den 
Ring,  nach  der  peripheren  Richtung  einen  Wulst  von  abgelagertem  Fett,  das 
eben  als  Folge  von  verlangsamter  Circulation  durch  den  Druck  des  Ringes 
entstanden  ist.  Aehnlich  erklären  sich  die  zu  starken  Hüften,  das  allzufette 
Gesäss,  das  Magenpolster  und  wohl  alle  localen  und  allgemeinen  Fett- 
anhäufungen. 

PartiellekalteApplicationen.  Dass  kalte  Abwaschungen,  beziehungs- 
weise Abreibungen  ausser  dem  leicht  begreiflichen  Bedürfnis  nach  Reinlichkeit, 
noch  der  Hauptindication  bei  der  Behandlung  der  Fettleibigen  Rechnung  tragen, 
den  Stoffwechsel  möglichst  anzuregen,    ist   leicht    ersichtlich.     Oft,  zumal  im 


FETTSUCHT.  651 

Sommer,  entsprechen  diese  kalten  Abreibungen  einem  sehnlichsten  Wunsche 
der  Patienten,  deren  Körper,  beständig  durch  eine  dicke  Fettschicht  geschützt 
und  von  der  Aussenwelt  isolirt,  also  durch  einen  sehr  schlechten  Wärme- 
ableiter,  trotz  der  erhöhten  Transspiration  und  Perspiration,  Hyperhidrosis  etc., 
sich  nur  schwer  der  übermässigen  Körperhitze  entledigen  können  und  stets 
nach  Abkühlung  verlangen.  Viele  zum  Theil  durchsichtige  Gründe  sprechen 
dafür,  dass  wir  für  öftere  partielle  und  nicht  bloss  für  einmalige,  allge- 
meine kalte  Abwaschungen  und  Abreibungen  des  Körpers  sind.  Der  träge 
Stoffwechsel  des  Fettleibigen  würde  trotz  der  einmaligen,  wenn  auch  allge- 
meinen kalten  Abwaschung  der  Hautoberfläche  doch  bald  wieder  der  An- 
regung bedürftig  sein  und  wir  müssen  daher  möglichst  oft  auf  diese 
wichtige  und  doch  so  einfache  Application  recurriren.  Dass  dann  nur  par- 
tielle Abwaschungen  in  Frage  kommen,  ist  einleuchtend.  Wir  unterziehen 
z.  B.  Brust  und  Bauch,  oder  beide  Arme,  oder  beide  Beine,  oder  Gesäss  mit 
Unterleib  etc.  abwechslungsweise  dieser  Application  und  zwar  möglichst  durch 
den  Patienten  selber,  der  Muskelthätigkeit  gebrauchen  kann.  Plötzliche  Ab- 
kühlungen der  gesammten  Körperoberfläche  (durch  allgemeine  kalte  Ab- 
reibungen sowohl,  wie  durch  Bäder  oder  Einwickelungen)  und  die  folgende 
Steigerung  des  Blutdruckes  mit  Hyperämie  der  inneren  Organe  bei  einem 
ziemlich  labilen  Herzen  und  Gefässsystem,  wie  sie  der  Fettleibige  oft  hat, 
will  uns  nicht  immer  ganz  ungefährlich  erscheinen,  xilso  lieber  oft  und 
wenig,  als  selten  und  viel  auf  einmal  wird  uns  hier  dienlich  sein  und  vor 
unliebsamen  Ueberraschungen  wahren,  eine  Maxime,  die  auch  bei  allen  anderen 
Proceduren  ihre  volle  Geltung  hat  und  leider  nur  zu  selten  genügende  Be- 
rücksichtigung und  Würdigung  findet. 

Partielle  heisse  Applicationen.  Unter  partiellen  Bädern 
verstehen  wir  solche,  wo  nur  einzelne  Körperstellen  gebadet  werden.  Es 
kommen  hierFuss-,  Arm-,  Sitz-  und  Kopfbäder  hauptsächlich  in  Betracht. 
Fuss-  und  Sitzbäder  sind  von  jeher  bekannt  und  wir  wollen  uns  w^eiter  nicht 
darüber  unterhalten,  als  bemerken,  dass  die  Fussbäder  möglichst  hoch  bis 
zum  Knie  zweckmässig  genommen  werden.  Von  Armbädern  hört  man  ja  in 
letzterer  Zeit  hier  und  da  sprechen,  doch  gehören  dieselben  gerade  nicht  zu 
den  gangbarsten  Applicationen,  während  seit  einer  langen  Pteihe  von  Jahren 
dieselben  von  uns  tagtäglich  so  und  so  oft  und  bei  den  verschiedensten  krank- 
haften Zuständen  verordnet  werden.  Bei  diesen  Armbädern  lassen  wir  beide 
Hände  und  Arme  bis  über  die  Ellenbogen,  für  unsere  fetten  Kranken  in  thun- 
lichst  heisses  Wasser  stecken.  Technisch  dürften  diese  Armbäder  keine 
besondere  Schwierigkeit  bieten,  ebenso  wie  die  Kopfbäder,  welch'  letztere 
jedoch  bei  der  Behandlung  der  Fettleibigen  ohne  sonstige  Complicationen 
weniger  in  Anwendung  kommen.  Doch  wollten  wir  an  dieser  Stelle  derselben 
Erwähnung  gethan  haben,  zumal  sie  so  gut  wie  unbekannt  sind,  während  sie 
uns  im  Laufe  der  Zeit,  sich  als  ebenso  ungefährlich  und  erfolgreich  wie  als 
unentbehrlich,  namentlich  bei  vielen  Kranken  mit  Kopfweh,  Migräne  etc.  neben 
anderen  geeigneten  Proceduren  herausgestellt  haben.  Fuss-,  Arm-  und  Sitz- 
bäder kommen  also  bei  der  Behandlung  der  Fettleibigen  hauptsächlich  in  Be- 
tracht, meistens  abwechselungsweise  und  täglich  eines  oder  mehrere  von 
ihnen.  Specielle  Indicationen,  wie  locale  Schmerzen  oder  Anschwellungen, 
Hämorrhoiden,  Krampfadern,  Varicocelen,  kalte  Extremitäten  etc.,  können  zu 
einer  grösseren  Berücksichtigung  des  einen  Localbades  gegenüber  den  anderen 
führen.  Hier  soll  sich  eben  die  Kunst  des  Arztes  zeigen,  der  nicht  nach  einer 
Schablone  und  wie  der  Jurist  nach  Gesetzparagraphen  sein  Urtheil  fällt, 
sondern  sich  im  weitesten  Spielraum  bewegend,  aus  den  complicirten  Ver- 
hältnissen des  kranken  Menschen  die  wichtigsten  Anhaltspunkte  herauslesen 
muss  zu  einer  nützlichen  oder  nothwendigen  Behandlung.  Ob  man  Frauen 
während  der  Menses  heisse  Fuss-  und  Sitzbäder  nehmen  lässt,  ist  nicht  unter 


652  FETTSUCHT. 

allen  Umständen  zu  negiren,  im  Gegentheill  Derartige  heisse  locale  Bäder 
spielen  bei  uns,  wie  gesagt,  eine  grosse  Rolle,  hauptsäclüich  da,  wo  es  sich 
um  die  Regelung  einer  mangelhaften  Circulation  handelt,  was  ja  bei  den 
meisten  kranken  Menschen  der  Fall  ist.  Bei  den  Fettleibigen  wirken  diese 
Localbäder  erfahrungsgemäss  sehr  günstig,  indem  sie  den  Stoffwechsel  anregen, 
die  locale  und  allgemeine  Circulation  beleben,  die  Blutvertheilung  gut  unter- 
stützen, leicht  Schweissbildung  veranlassen,  die  Athmung  begünstigen,  und  den 
Verbrauch  des  aufgespeicherten  Fettes,  sowie  die  Ausscheidung  der  sich  dabei 
bildenden  Schlackenstoffe  befördern.  Bei  einem  solchen  Localbad  von  40 — .50"  C, 
was  von  den  meisten  Menschen  gleich  oder  in  kurzer  Zeit  ohne  weitere 
Schwierigkeiten  genommen  wird,  steigt  allmälig  subjectiv  und  objectiv  die 
Körpertemperatur,  und  es  kommt  zu  einer  mehr  oder  minder  starken  Schweiss- 
bildung, die  früh  oder  spät,  gewöhnlich  10 — 20  Minuten  nach  Beginn  des 
Bades  eintritt  und  so  lange  das  Bad  dauert,  meistens  auch  eine  längere  Zeit 
nach  demselben  anhält.  Daher  lassen  wir  auch  fast  immer  das  Localbad  eine 
halbe  Stunde  lang  nehmen.  Gewöhnlich  werden  solche  Bäder  gern  genommen. 
Macht  sich  manchmal  die  Erhitzung,  namentlich  im  Kopfe,  unangenehm  fühl- 
bar, so  empfiehlt  sich  das  Auflegen  einer  kalten  Compresse  oder  dgl.  auf  die 
Stirn.  Wünschen  wir  eine  intensivere  Schweissbildung,  so  lassen  wir  das  Bad 
länger  nehmen,  halten  aber  die  Temperatur  durch  Xachgiessen  von  heissem 
Wasser  möglichst  auf  derselben  Höhe  und  hüllen  den  Patienten  während  und 
nach  dem  Bade  in  wollene  Decken  ein.  Warum  wir  den  Gebrauch  solcher 
locale n,  partiellen  Bäder  den  üblichen  Yoll-Kasten-Dampfbädern  u.  dgl. 
vorziehen,  ist  aus  den  zum  Theil  im  vorhergehenden  Abschnitte  ange- 
gebenen Bemerkungen  ersichtlich,  abgesehen  davon,  dass  beim  Baden  von 
jeweilig  kleineren  Theilen  der  Körpeiüäche,  man  eine  viel  höhere  Temperatur 
vertragen  kann  als  bei  Bädern  des  ganzen  Körpers,  und  gerade  die  höheren 
Temperaturen  die  uns  so  erwünschten  localen  und  allgemeinen  Reactionen 
liefern  u.  dgl.  Vergleichen  wir  nun,  was  wir  von  den  localen  kalten  Ab- 
waschungen und  den  localen  h  e  i  s  s  e  n  Bädern  gesagt  haben,  so  muss  auffallen, 
dass  wir  eigentlich  mit  diesen  beiden  scheinbar  gegentheiligen  Applicationen 
ein  und  dasselbe  erstreben  und  erreichen,  und  zwar  die  Anregung  des  Stoff- 
wechsels, die  bessere  Blutvertheilung,  die  Vermehrung  des  Verbrennungspro- 
cesses  im  Organismus  und  folglich  den  Verbrauch  des  überflüssigen  Fettes. 
Ein  Gegensatz  zwischen  Kälte  und  Wärme  existirt  somit  in  der  Therapie 
ebensowenig  wie  in  der  Physik.  Beide  sind  nur  Gradunterschiede  einer  und 
derselben,  der  thermischen  Application  und  in  der  Praxis  soll  die  Hauptfrage 
nicht,  wie  so  üblich,  ob  Kälte  oder  Wärme,  sondern:  wann,  wo,  wieviel, 
wielange,  wie  oft,  mit  welcher  Combination,  Variation  etc.  heissen.  Noch 
müssen  wir  hier  erwähnen,  dass  neben  den  genannten  heissen  Localb ädern, 
die  Hitze  auch  in  Form  von  trockenen  oder  feuchten  Umschlägen,  Fomen- 
tationen,  dmxhtränkten  Schwämmen  etc.  namentlich  an  Stellen,  wo  ein  Bad 
nicht  leicht  zu  appliciren  ist,  angewendet  werden  kann,  zumal  wenn  Compli- 
cationen  es  angezeigt  erscheinen  lassen. 

Mechanische  Einwirkungen.  Dass  ausser  Gehen,  Steigen,  Turnen 
etc.  eine  weitere  mechanische  Behandlung  des  Körpers,  namentlich 
des  Bauches  und  der  sonst  noch  von  der  übermässigen  Fettablagerung  be- 
fallenen Körpertheile  nicht  nur  auf  die  locale  Circulation  dieser  Stellen, 
sondern  auch  auf  den  allgemeinen  Blutkreislauf  und  folglich  auf  die  uns  hier 
beschäftigende  Ernährungsstörung  günstig  einwirken  muss,  braucht  nicht 
weiter  auseinander  gesetzt  zu  werden.  Die  mechanische  Beeinflussung,  die 
wir  meinen  und  üben  lassen,  ist  aber  von  der  schablonenhaft  und  gar  oft 
allein  üblichen  Massage  urverschieden.  Da,  wo  die  wohlthätige  Hilfe  der 
sogenannten  Massage  ärztlicherseits  in  Anwendung  gezogen  wird,  geschieht 
"das  gewöhnlich  so,  dass  der  Patient  ein,    seltener   zweimal   täglich   meistens 


FETTSUCHT.  653 

durch  einen  Masseur,  seltener  dui'ch  den  Arzt  selbst,  der  gewählten  Manipu- 
lation unterzogen  wird,  dann  aber  meistens  während  einer  längeren  Zeit,  die 
bis  zu  einer  Stunde  gehen  kann.  Wir  geben  dagegen  unseren  Fettleibigen 
den  Auftrag  öfters  und  abwechselungsweise  die  bestimmten  Stellen  kurze  Zeit, 
dafür  aber  oft,  recht  stark  zu  bearbeiten  und  ausser  dem  üblichen  Streichen, 
Drücken,  Kneten,  Hacken,  auch  kräftig  zu  zwagen  und  zu  kneifen.  Dazu  ist 
meist  weder  der  Arzt,  ausser  zur  Anweisung,  noch  ein  mehr  oder  minder 
kundiger  „geprüfter"  Masseur  von  nöthen,  sondern  wird  meist  einzig  und 
allein  der  Patient  selbst  genügen,  der  seine  Hände  stets  bei  sich  trägt  und 
jeden  passenden  Augenblick  benutzen  kann,  um  einen  Bruchtheil  seines  Auf- 
trages auszuführen,  den  wir  ihm  zuvor  in  allen  seinen  Einzelheiten  demon- 
strirt  haben,  wobei  das  psychische  Moment  nicht  zu  unterschätzen  ist,  dass 
der  Patient  selber  durch  eigene  Thätigkeit  zu  seiner  Gesundung  beizutragen 
lernt.  Auch  hier,  ebenso  wie  bei  den  kalten  Waschungen  und  heissen  Bädern 
kommt  es  somit  auf  das  „Wenig  auf  einmal  und  lieber  oft"  gerade  an.  Wir 
brauchen  eben  eine  häufige  Beeinflussung  und  Anregung  der  trägen  Cir- 
culation  in  den  sumpfigen  Gegenden,  wo  das  Fett,  aus  mechanischen,  immer 
wiederkehrenden  Gründen  störend  sich  angesammelt  hat.  Da  aber  wirkt 
wiederholtes  und  entsprechend  kürzere  Zeit  dauerndes  Ein- 
greifen besonders  günstig.  Massirt  sich  der  Patient  selbst,  so  kommt  ihm 
die  häufige  Inanspruchnahme  seiner  Muskelthätigkeit  auch  zu  gute  und 
schliesslich  fallen  ihm  die  Kosten  für  fremde  Hilfen  weg,  was  bei  w^eniger 
Bemittelten  nicht  unberücksichtigt  werden  darf. 

Bezüglich  der  Massageart  bei  Fettleibigen  kann  man  im  Allgemeinen 
sagen,  dass  je  kräftiger  und  tiefer  innerhalb  der  erlaubten  Grenzen  die  dicken 
Fettmassen  geknetet,  gedrückt  und  gezwagt  werden,  desto  grösser  die  Wirkung. 
Die  anfänglich  dabei  oft  sich  einstellenden  Schmerzen  pflegen  nach  einigen 
Tagen  mehr  oder  minder  zu  schwinden  und  was  im  Beginn  eine  Plage,  wird 
meistens  später  für  den  Patienten  ein  Vergnügen.  Der  Bauch  soll  ganz 
besonders  berücksichtigt  werden  und  zwar  nicht  allein,  weil  er  in  den  weitaus 
meisten  Fällen  der  Hauptsitz  der  Fettablagerung,  sondern  weil  beim  in  der 
Entfettung  begriffenen  Fettleibigen  sich  aus  vielen  Gründen  meistens  Ver- 
stopfung einstellt,  welcher  durch  Anregung  der  Darmthätigkeit,  neben  vielen 
anderen  gebotenen  Hilfen,  auch  vermittelst  mechanischer  Einwirkungen  zweck- 
mässig entgegengetreten  wird.  Hier  muss  man  aber  die  geschlossenen  Fäuste 
kräftig  und  tief  eindrücken,  damit  durch  die  dicken  Bauchdecken  auch 
das  Gekröse  und  die  es  umgebenden  Fettklumpen  erreicht  werden  etc.  etc. 
Eine  Reihe  anderer  zweckmässiger  Uebungen  könnten  wir  aufzählen,  die  in 
die  mechanischen  Einwirkungen  noch  gehören  und  ein  Jeder  leicht  allein  aus- 
führen kann,  so  das  Anziehen  der  Beine  gegen  den  Leib,  sich  nach  vorne 
bücken  in  sitzender  Lage  und  so  den  Bauch  gegen  die  Oberschenkel  bringen 
und  viele  andere  mehr.  Ihr  Wesen  ist  die  Ausübung  eines  momen- 
tanen Druckes  auf  den  Leib  und  sie  lassen  sich  besser  demonstriren 
als  beschreiben.  Uebrigens  kann  sich  ein  Jeder  derartige  Uebungen  ersinnen, 
eine  Schablone  ist  auch  hier  verwerflich,  weshalb  auch  wir  im  Allgemeinen 
keine  grosse  Sympathie  für  all  die  in  neuester  Zeit  ersonnenen  Apparate 
empfinden  können,  welche  die  menschliche  Hand  in  der  Ausübung  der  Massage 
etc.  ersetzen  sollen.  Doch  wollen  wir  gestehen,  dass  auch  von  uns  ein  selbst 
angegebener  Apparat  als  Faullenzer  manchmal  empfohlen  wird,  der  sich  durch 
seine  Einfachheit,  sowie  durch  die  von  ihm  gewährte  Möglichkeit  auszeichnet, 
alle  Muskelgruppen  beziehungsweise  Körpertheile  in  harmonischer  Weise 
vermöge  verschiedener  leicht  auszuführender  Uebungen  in  Thätigkeit  zu 
bringen. 

Hydrotherapeutische  und  Guttapercha-Umschläge.  Undurch- 
lässige Umschläge,  wie  wir  sie  mit  dem  einfachen  Auflegen  von  Guttapercha 


654  FETTSUCHT. 

erzielen,  bewirken  eine  g  1  e  i  c  h  m  ä  s  s  i  g  e  Circulation  der  eingehüllten  Körper- 
stellen und  begünstigen  die  Verbrennung,  Abfuhr  und  Fortschaffung  des  ab- 
gelagerten Fettes  aus  denselben,  gleichmässige  Temperatur  u.  A.  m.  Sie 
sind  besonders  während  der  Nacht,  wo  der  Körper  ruht,  bequem  zu  nehmen 
und  zweckmässig.  Am  Bauche  angewandt  üben  diese  Umschläge  einen  be- 
fördernden Einfluss  auf  den  Stuhlgang.  Doch  dürfen  dieselben  nicht  fort- 
dauernd an  einer  Stelle  gebraucht  werden,  sonst  würde  bald  die  Haut,  wohl 
in  Folge  von  retentirtem  Schweiss,  mit  unangenehmen  Reizerscheinungen  rea- 
giren  und  zum  Aussetzen  nöthigen.  Uebrigens  heilen  derartige  Affectionen, 
Dermatitiden,  die  oft  eigentlich  mehr  Folliculitiden  sind,  in  einigen  Tagen 
ohne  Weiteres,  am  schnellsten  unter  Puderuugen.  Diese  Guttapercha- Applica- 
tionen  haben  bei  uns  den  Platz  der  üblichen  hydrotherapeutischen,  sogenannten 
PRiESSNiTz'schen  Umschläge  zum  Theil  eingenommen,  von  welch'  letzteren  sie  sich 
durch  eine  grössere  Bequemlichkeit  und  Annehmlichkeit  unterscheiden.  Nasse, 
heisse  oder  kalte  Umschläge  möchten  wir  aber  nicht  für  alle  Fälle,  wie  schon 
oben  angeführt,  entbehren.  Abwechselung  zwischen  Bewegung,  Ruhe, 
geistiger  Thätigkeit,  sowie  in  der  Lagerung,  Es  herrscht  nicht 
allein  beim  Publicum,  sondern  auch  bei  Aerzten  der  Glaube,  es  könne  der 
Fettleibige  durch  viel  Bewegung  sich  des  übermässigen  Fettes  entledigen,  und 
es  wird  auch  allseits  dicken  Menschen  gerathen,  grosse  Fusstouren,  Landpar- 
tien zu  unternehmen,  alle  Berge  zu  besteigen,  den  ganzen  Tag  zu  rudern 
oder  Schlittschuh  zu  laufen,  Velociped  zu  fahren,  zu  reiten  oder  andere  der- 
gleichen Strapazen  und  Anstrengungen.  Leider  kommt  nur  zu  oft  der  Miss- 
erfolg, wenn  nicht  Schlimmeres,  als  Folge  dieses  thörichten  Handelns.  Hier 
zeigt  sich  am  prägnantesten,  dass  das  Bessere  ein  Feind  des  Guten  ist.  Eine 
massige  Bewegung  ohne  U  eher  ans  trengung  seitens  des  Fettleibigen, 
kann  ja  für  die  Abschaffung  des  überschüssigen  Fettes  nur  förderlich  sein. 
Dazu  rechnen  wir  kleinere  Spaziergänge  sowohl,  wie  freie  Uebungen  mit  Be- 
rücksichtigung aller  Körperpartien,  also  auch  der  zu  oft  vernachlässigten 
oberen  Extremitäten,  des  Rumpfes  und  möglichst  der  ganzen  Körpermusculatur. 
Dazu  rechnen  wir  auch  das  Rudern  und  das  Schlittschuhlaufen,  das  Tanzen 
und  das  Schwimmen,  das  Reiten  und  das  Radfahren  und  unsertwegen  auch 
das  Holzsägen  und  Spalten  und  überhaupt  Alles,  was  ein  gesunder  Mensch 
macht  oder  machen  kann,  gehen  aber  dabei  immer  vom  Grundsatze  aus  wo- 
möglich unter  der  Leistungsfähigkeit  zu  bleiben,  wenn  auch  mit  der  Tendenz, 
diese  successiv  zu  steigern  bis  zu  einem  gefahrlos  erreichbaren  Grade.  Ueber- 
anstrengung  heisst  Stockung,  Lähmung,  massige  Bewegung  be- 
deutet Anregung,  Belebung!  Wenn  die  Bewegung  massig  und  zweck- 
mässig sein  soll,  so  muss  sie  kurz  und  durch  Ruhe  unterbrochen  werden. 
Diese  wird  dann  im  Interesse  einer  besseren  Blutvertheilung  zweckmässigst 
in  verschiedenen  Lagerungen  eingenommen.  So  ist  das  Sitzen  eigentlich 
keine  richtige  Ruhe  nach  dem  Gehen,  da  die  Beine  in  beiden  Fällen  herunter- 
hängen. Einige  Minuten  in  horizontaler  Lage  verbracht,  gewähren  nach  einem 
Gange  eine  grössere  Erholung,  als  ein  längeres  Sitzen.  Also  Abwechselung 
zwischen  Bewegung  und  Ruhe,  aber  auch  in  der  Lagerung,  ohne  dabei  die 
Knie-Ellenbogen-,  beziehungsweise  Bauchlage  zu  vergessen,  die  eigentlich  unsere 
übliche  Lage  sein  müsste  und  uns  vielleicht  nur  in  Folge  der  Cultur  und 
Civilisation  abhanden  gekommen  ist,  sowie  die  Lagerung  mit  erhobenen  Armen 
und  Aehnliches.  Bezüglich  der  geistigen  Thätigkeit  gelten  dieselben 
Verhaltungsmaassregeln,  mutatis  mutandis,  wie  für  die  körperliche;  demgemäss 
soll  sie,  bei  Vermeidung  von  jeder  ITeberanstrengung  und  Einseitigkeit  so 
geübt  werden,  dass  sie  durch  Ruhepausen  und  Einschaltung  von  körperlicher 
Bewegung  häufig  unterbrochen  wird. 

Beeinflussung  der  Athmung.     Was  wir  mit  den  betreffenden  Ver- 
ordnungen bezwecken,  d.  h.  soviel  wie  möglich  Sauerstoff"  aufzunehmen,  bedarf 


FETTSUCHT.  655 

keiner  besonderen  Erläuterung.  Nur  Eines  möchten  wir  an  dieser  Stelle  Er- 
wähnung gethan  haben,  einer  Procedur,  der  wir  Fettleibige,  zwecks  Erhöhung 
ihrer  respiratorischen  Fähigkeit  gern  unterziehen.  Wir  drücken  dem,  mit 
angebogenen  Beinen  horizontal  und  ganz  flach  liegenden  Patienten  beide  ge- 
schlossenen Fäuste  oder  auch  die  flachen  Hände  fest  und  tief  in  den  Bauch 
ein,  und  ohne  sie  wegzunehmen,  lassen  wir  den  Patienten  langsam  8 — 10 — 20mal 
tief  ein-  und  ausathmen.  Diese  Procedur  lassen  wir  dann  täglich  mehrmals, 
am  Besten  vor  den  Mahlzeiten  ausführen  und  es  ist  oft  erstaunlich  zu  sehen, 
wie  sie  im  Sinne  einer  Erleichterung  des  Athmungsactes  und  einer  besseren 
Sauerstofiliereicherung  des  Blutes  prompt  und  schnell  wirkt. 

Piegelung  der  Diät.  Bekanntlich  haben  die  berühmt  gewordenen 
Entfettungscuren  alle  mehr  oder  minder  den  Schwerpunkt  auf  die  Diät  gelegt, 
und  zwar  auf  die  Quantität  sowohl,  wie  auf  die  Qualität  der  Nahrungsmittel 
und  auf  das  Verhältnis  derselben  zu  einander,  nach  der  Eintheilung  derselben 
in  Eiweiss,  Fette,  Kohlenhydrate.  (Die  in  der  thierischen  Oekonomie  eine  so 
wichtige  Rolle  spielenden  Salze  fanden  dabei  fast  immer  keine  oder  ungenü- 
gende  Berücksichtigung.)     So  sind  zum  Beispiel  die  Kostsätze  : 

Nach  Ebstein  102  Eiweiss,  85  Fette,  47  Kohlenhydrate 
Nach  Oertel    170       „  43      „      114  „ 

Nach  Banting  171       „  8       „        75  „ 

Nach  Peteeson  50       „  50       „      400  „ 

Wenn  man  nun  bedenkt,  dass  mit  so  verschiedenen,  zum  Theil  in  grellem 
Gegensatze  zu  einander  stehenden  Kostsätzen  —  denen  wir  noch  viele  andere, 
von  Germain  See,  Dujardin-Beaumetz,  Danod  etc.  hätten  hinzufügen  kön- 
nen —  Fettsüchtige  von  ihrem  übermässigen  Fette  befreien  kann,  so  kommt 
man  ungezwungen  zu  dem  Schlüsse,  dass  jeder  Weg  nach  Rom  führt,  dass 
aber  die  Physiologie  der  Ernährung,  mit  ihrer  Eintheilung  der  Nährmittel  in 
Albuminate,  Fette  und  Kohlenhydrate,  mit  den  vicariirenden  Vertretungen  dieser 
Substanzen  für  einander,  mit  ihren  Nährwerthen  und  Calorien,  mit  allen  ihren 
Lehren  etc.  etc.  uns  in  praxi  nicht  genügen  kann.  Der  Hauptfehler  aller  dieser 
Lehren  besteht,  wie  schon  oben  gesagt,  darin,  dass  man  vergessen  hat, 
der  Mensch  lebe  nicht  von  dem,  was  er  isst  und  trinkt,  sondern 
von  dem,  was  und  wie  er  verdaut  und  ausnutzt,  und  dass  neben  der 
Quantität  und  Qualität  der  eingeführten  Sachen  die  so  wichtige  Art  der 
Zufuhr,  neben  anderen  Factoren,  dabei  ganz  ausser  Acht  gelassen  wurde. 
Wie  soll  man  übrigens  gar  oft  im  praktischen,  menschlichen  Leben  zwischen 
Fett,  Eiweiss  und  Kohlenhydrat  unterscheiden,  wenn  in  den  weitaus  meisten 
Speisen,  sich  es  nicht  um  diese  Stofte,  sondern  um  Combinationen  derselben 
handelt,  wenn  im  Brod  schon  soviel  Eiweiss,  im  Ei  soviel  Fett  vorhanden  ist? 
Unsere  Erfahrungen  lehren  dagegen,  dass  mit  den  praktischen  Begriffen  wie 
Fleisch,  Fisch,  Obst,  Gemüse  etc.,  vielleicht  mit  Hinzufügung  einzelner  erläutern- 
der Bemerkungen,  da  wo  sie  wünschenswerth  erscheinen,  man  ohne  Schwierigkeit 
zu  jener  Verständigung  zwischen  Arzt  und  Patient,  gelangen  kann,  welche 
zu  einer  erfolgreichen  Behandlung  als  Bedingung  immer  vorausgesetzt 
werden  muss. 

Bei  der  Wahl  der  zu  erlaubenden  Speisen  und  Getränke,  legen  wir  nicht 
allein  unsere  eigenen  Erfahrungen  zu  Grunde,  sondern  sind  wir  vom  Wunsche 
getragen,  den  Fettsüchtigen  in  die  möglichst  einfachsten  Verhältnisse  zu 
bringen,  die  wir  leicht  überblicken  können,  um  an  der  Hand  der  Beobachtung 
und  der  erzielten  Resultate  eventuell  die  nothwendigen  und  wünschenswerthen 
Veränderungen  vornehmen  zu  können.  Wir  brechen  natürlich  dabei  oft  mit 
tief  eingewurzelten  Gewohnheiten,  tragen  aber  den  Wünschen  und  Bedürfnissen 
des  Patienten  soweit  Rechnung,  als  sie  in  den  Rahmen  der  Behandlung  passen 
und  vergessen  dabei  nicht,  dass  Alles  in  dieser  Welt  relativ  ist  und  dass 
z.  B.  die  eine  oder  die    andere   verbotene    Speise   unter   Umständen   erlaubt 


656  FETTSUCHT. 

werden  kann,  wenn  dafüi'  die  eine  oder  die  andere  der  früher  erlaubten  ge- 
strichen wird. 

Auf  diese  Erwägungen  fussend,  empfehlen  wir  vielleicht  im  gegebenen 
Falle  folgende  Diät : 

Die  Hauptnahrung  soll  aus  Fleisch  (jede  Sorte,  auch  fettes  Fleisch, 
kalt  oder  warm,  ganz  nach  Belieben)  Fische,  Austern^  Caviar,  Krebse,  Hum- 
mer,   Würste,  Eier,  Käse  etc.  bestehen. 

Als  Nebennahrung  dürfen  Brod  (weiss  oder  grau),  Obst,  Compot, 
Spinat,  Spargeln,  Kohlarten,  Sauerkraut,  Gurken,  grüner  Salat  genossen  werden. 

Als  G  e tränk  rathen  wir  es  bei  Wasser,  Sodawasser,  Sauerbrunnen,  Frucht- 
und   Citronensaft,   Weiss-  und  Apfelwein  einstweilen  bewenden  zu  lassen. 

Daraus,  dass  wir  vorhergehend  Austern,  Caviar,  Spargeln,  Compot  etc. 
erwähnten,  soll  nicht  die  Folgerung  geschlossen  werden,  dass  die  Fettsucht 
eine  „Krankheit"  der  besseren  Stände  sei,  auch  nicht,  dass  wir  nur  die  Be- 
handlung wohlhabender  Fettsüchtiger  im  Auge  haben.  Denn  gerade  unsere 
Behandlung  ist  jedem  Stande  zugänglich,  an  jedem  Orte  durchführbar. 
Austern,  Caviar,  Hummer  und  feine  Fische  lassen  sich  sehr  gut,  vielleicht  vor- 
theilhaft  durch  Häringe,  geräucherte  Flundern  etc.,  sowie  Fleisch  durch  Wurst- 
waare,  Spargeln  durch  Kohl,  feines  Compot  durch  Pflaumen  ersetzen  etc., 
iauter  Sachen,  die  mit  den  bescheidensten  Mitteln  zu  bestreiten  sind. 

Des  Weiteren  verlangen  wir  wo  möglich  nie,  dass  unsere  Patienten  ihre 
gewohnte  Beschäftigung  absolut  aufgeben  und  gehen  vom  Grundsatz  aus, 
gesund  könne  ein  Jeder  werden  überall,  schicken  deswegen  unsere 
Fettsüchtigen  nicht  nach  Badeorten,  erwecken  somit  nicht  den  Gedanken,  es 
könne  nur  derjenige  mager  werden,  der  sich  einen  Aufenthalt  in  diesem  oder 
jenem  Curorte  erlauben  kann.  Nicht  wohin  man  geht,  sondern  was 
und  wie  man  thut  ist  doch  hier,  wie  überall  in  der  Therapie  das  allein 
Maassgebende. 

Aus  dem  oben  aufgestellten  Verzeichnis  der  einstweilen  zu  erlaubenden 
Sachen  geht  hervor,  dass  folgende  zunächst  als  verboten  zu  betrachten 
sind:  Suppen,  Kartoffeln,  Rüben,  Hülsenfrüchte,  Maccaroni,  Reis,  Mehlspeisen, 
sowie  Butter  und  Fette,  (soweit  sie  nicht  zur  Zubereitung  der  Fleischgerichte 
und  der  Gemüse  gehören)  und  unter  den  Getränken:  Bier,  Roth  wein,  Milch, 
Kaffee,  Thee,  Chokolade,  Cacao,  Schnäpse. 

Das  Verbot  von  den  meisten  hier  angeführten  Sachen  ist  durch  unser 
Streben,  Fette  und  Kohlenhydrate  etwas  einzuschränken  gerechtfertigt,  und  wird 
wohl  keinen  Einwand  erregen.  Desgleichen  rechtfertigt  sich  die  Ausschaltung 
der  von  jeher  als  die  Fettbildung  begünstigenden  Alkoholica,  von  denen  jedoch 
zur  Genügung  eines  sehr  oft  vorhandenen,  berücksichtigungswerthen  Bedürf- 
nisses Weiss-  und  Apfelwein  gestattet  werden.  Letzteren  geben  wir  übrigens 
gegenüber  anderen  Alkoholicis  auch  aus  dem  Grunde  den  Vorzug,  weil  sie 
den  Stuhl  befördern,  der  bei  der  Entfettung  —  wie  wir  weiter  unten  sehen 
werden  —  zur  Trägheit  neigt  und  oft  des  Anstosses  bedarf.  Deshalb  eben 
lassen  wir  Reis  und  Rothwein  hauptsächlich  vermeiden,  ebenso  Cacao  und 
Chokolade.  Wegen  der  Entziehung  von  Kaffee  und  Thee  erregen  wir  oft  an- 
fänglich den  Unwillen  unserer  dicken  Patienten,  namentlich  weiblichen  Ge- 
schlechtes. „Milch,  Cacao  und  Chocolade  sind  bereits  gestrichen,  sagen  sie, 
nun  muss  ich  auch  den  Kaffee  und  den  Thee  opfern,  was  bleibt  mir  dann 
übrig,  was  soll  ich  zum  ersten  Frühstück  geniessen?"  Gerade  um  dieses  erste 
Frühstück  anders  zu  gestalten  als  es  ziemlich  allgemein  der  Fall  ist,  streichen 
wir  meistens  auch  Kaffee  und  Thee.  Wir  sehen  nicht  ein,  warum  wir  bei 
unseren  doch  meist  blutarmen,  bleichsüchtigen,  wässerigen,  sumpfigen  Fett- 
süchtigen, einer,  trotz  ihrer  Altehrwürdigkeit  dummen  Gewohnheit  zu  Liebe, 
nicht  für  eine  gute  Blutbildung  bereits  am  Tagesanbruch  sorgen  sollen.  Und 
wie  könnte  eine  solche  besser  geschehen  als  durch  eine  compacte  Mahl- 


FETTSUCHT.  657 

zeit,  etwa  aus  Fleisch^  Fisch,  Ei,  Käse  oder  dergleichen  nahrhafte  Sachen 
abwechselnd  bestehend,  gerade  frühmorgens,  wo  der  Magen,  nach  stattgehabter 
Nachtruhe,  gewiss  wie  alle  übrigen  Organe,  sich  erholt  hat  und  im  Zustande 
der  meisten  Leistungsfähigkeit  sich  befindet?  Dieser,  wie  überhaupt  der  Bruch 
mit  der  Gewohnheit,  kommt  ja  den  meisten  Menschen  hart  vor,  doch  ist  er 
meist  in  kurzer  Zeit  überwunden  und  Manchem,  der  auf  den  Morgenkaffee 
thränenden  Auges  verzichten  musste,  schmeckt  einige  Tage  später  ein  Stück 
Käse  oder  ein  Ei  wie  noch  nie,  so  gut.  Uebrigens  hat  das  Verbot  von  Kaffee 
und  Thee  auch  den  Zweck,  die  am  Beginne  der  Behandlung  mehr  oder  minder 
alterirten  Nerven  unserer  Fettsüchtigen  möglichst  still  zu  legen  und  nicht 
unnöthigerweise  durch  den  Genuss  von  sonst  entbehrlichen  Dingen  aufzuregen. 

Am  Beginn  der  Behandlung  verlangen  wir  von  unseren  Fettsüchtigen 
die  grösste  Strenge  in  der  Durchführung  aller,  ganz  besonders 
aber  der  diätetischen  Verordnungen,  weil  eine  solche  allein  im 
Stande  ist,  uns  über  die  Reactionsfähigkeit  des  Organismus  einen  genauen 
Ueberblick  zu  gewähren.  Tritt  z.  B.  bei  der  strictesten  Innehaltung  der  Ver- 
ordnungen keine  Abnahme  ein,  so  können  und  müssen  wir  entsprechende 
Aenderungen  der  Lebensweise  empfehlen.  Das  wird  uns  aber  unmöglich  ge- 
macht, wenn  der  Patient  de  motu  proprio  dieses  und  jenes  ändert,  wenn  auch 
nur  stellenweise  und  vorübergehend.  Später,  wenn  wir  über  die  Wechsel- 
wirkung zwischen  Behandlung  und  Fettsucht  im  vorliegenden  Falle  genaue 
Auskünfte  besitzen,  gestatten  wir  gern  einzelne  Abweichungen,  namentlich 
wenn  sie  ausnahmsweise  erfolgen. 

Wie  man  aus  dem  oben  Gesagten  über  erlaubte  und  verbotene  Speisen 
und  Getränke  ersieht,  nehmen  wir  keinen  Anstand,  Sachen,  die  als  fettbildend 
gelten,  wie  Brod,  Obst  etc.  in  den  Speisezettel  unserer  Fettleibigen  aufzunehmen. 
Und  mit  Recht!  Denn  wer  auf  theoretische  Deductionen  fussend,  eine  absolute 
Fleischdiät  empfehlen  würde,  dürfte  bald  die  Unmöglichkeit  eines  derartigen 
Vorgehens  einsehen.  Schon  aus  rein  menschlichen  Gründen  ist  eine  variirtere 
Nahrung  geboten.  Dann  aber  zwingt  die  weiter  unten  uns  näher  zu  be- 
schäftigende Stuhlfrage,  neben  den  thierischen  (Fleisch,  Fisch,  Eier,  Käse), 
pflanzliche  Sachen  in  gewisser  Menge  zu  gestatten.  Wir  brauchen  diesbe- 
züglich die  Begriffe  ;, Hauptnahrung"  und  „Nebennahrung",  und  meinen  damit 
—  unter  Verbannung  der  Waage  vom  Esstisch  —  dass  zwischen  beiden  Nähr- 
mittelcategorien  ein  gewisses  Verhältnis  innegehalten  werden  soll,  wobei  in 
den  meisten  Fällen  die  Hauptnahrung  auf  ^1^  der  Gesammtnahrung  anfänglich 
.  von  uns  festgestellt  wird,  ein  Verhältnis,  das  manchmal  mit  ^/4,  auch  -/s  sich 
als  ausreichend  erweist.  Darin  liegt  implicite,  dass  wir  unseren  Fettsüchtigen 
die  Nahrung  nicht  entziehen.  Hungernlassen  wäre  eine  Methode  der  Ent- 
fettung, die  an  Billigkeit  und  Schnelligkeit  wohl  nichts  zu  wünschen  übrig 
lassen  dürfte.  Wir  bezweifeln  aber  sehr,  dass  man  dadurch  eine  bessere  Blut- 
bildung und  eine  Kräftigung  des  Herzens  und  der  Gesammtmusculatur  her- 
beiführt, deren  Fettsüchtige  so  sehr  bedürfen.  Eine  berechtigte  Behandlung 
des  Fettleibigen  soll  nicht  allein  wirksam,  sondern  und  vor  Allem  unschädlich 
sein.  Wie  die  Gesammtmenge  der  eingeführten  Nahrung  bei  unserer  Be- 
handlungsweise  nicht  immer  reducirt  zu  werden  braucht,  so  ist  es  auch  bei 
den  Getränken  der  Fall. 

In  den  weitaus  meisten  Fällen  gestatten  wir  nicht  allein  im  Rahmen  der 
oben  angeführten  diätetischen  Verordnung,  im  Laufe  des  Tages,  innerhalb 
vernünftiger  Grenzen,  eine  beliebige  Menge  Nahrung  einzuführen,  sondern  auch 
nach  Bedürfnis  zu  trinken,  weshalb  unsere  Entfettungsvorschriften  im  Allge- 
meinen weder  eine  Hunger-,  noch  eine  Durstcur  sind.  Das  müssen  wir  hier 
noch  besonders  betonen,  da  man  unsere  Behandlung  der  Fettsucht  von  Laien 
und  von  Aerzten  mit  einer  Suppen-,  beziehungsweise  Wasserentziehung 
identificirt   und    die    haarsträubendsten   Erdichtungen   von   Plagiat  u.  dergl. 

Eibl.    med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  4<a 


658  FETTSUCHT. 

daran  geknüpft  hat.  Das  Wesen  unserer  Behandlimg  liegt  in  der 
strengsten  Individualisirung  des  Einzelfalles  —  wie  wir  das  nicht 
genug  betonen  können.  Will  man  aber  aus  unserer  Diätetik  für  Fettsüchtige 
etwas  ziemlich  allgemein  Giltiges,  also  Charakteristisches  und  Grundlegendes, 
Tonangebendes  entnehmen,  so  finden  wir  es  in  der  Verordnung:  Kleine, 
lieber  häufige  Mahlzeiten  und  das  Essen  unter  Umständen  vom 
Trinken  trennen,  also  in  der  Yertheilung  der  Gesammtzufuhr  an 
Speisen  und  Getränken.  Uebermässig  grosse  Mahlzeiten  machen  nicht  unter 
allen  Umständen  dick.  Indessen  lehrt  die  tägliche  Erfahrung,  dass  mit  das 
wichtigste  Moment  für  die  Entstehung  der  Fettsucht  in  verhältnismässig  zu 
grossen,  wenn  auch  seltenen  Mahlzeiten  zu  suchen  ist. 

Dass  dem  so  ist,  beweist  folgende  Thatsache:  Gibt  man  dem  Fettsüch- 
tigen  bei  sonst  gleichen  Umständen  dieselbe  Menge  Nahrung  und  Getränke, 
die  er  gewohnheitsgemäss  täglich,  vielleicht  in  zwei  Hauptmahlzeiten  geniesst, 
und  wobei  sein  Körpergewicht  stets  zugenommen  hat  oder  gleich  geblieben 
ist,  auf  di'ei,  vier,  fünf  und  noch  mehr  Mahlzeiten  vertheilt,  so  wird  das 
Kesultat  fast  immer  eine  Gewichtsabnahme  sein,  zumal  bei  klei- 
neren, wenn  auch  öfteren  Mahlzeiten,  sich  die  Gesammtzufuhr  allmälig  von 
selbst  einschränkt.  Grosse  Mahlzeiten  begünstigen  die  Fettbildung  und  den 
Fettansatz,  kleine  Mahlzeiten  dagegen  den  Fettverbrauch  und  die  Entfettung. 
Die  Erklärung  dieses  physiologischen  Vorganges  ist  in  erster  Linie  in  einer, 
durch  übermässige  Ueberladung  der  Verdauungsorgane  bedingten  Circulations- 
störung  mit  Abdominalplethora,  Stauung,  Verlangsamung  des  allgemeinen  Blut- 
kreislaufes und  des  Säftestromes  in  den  Körpergeweben  und  Herabsetzung  des 
ganzen  Stoffwechsels  zu  suchen.  Dann  aber  kommt  in  schnellem  Tempo  eine 
wahre  Ueberschwemmung  von  Nährsäften  in  die  Blut-  und  Lymphbahnen, 
Säfte,  welche  bei  der  Deckung  des  massig  vorhandenen  organischen  Bedarfes 
unmöglich  Verwendung  finden  können.  In  diesem  von  Xährmaterial  voU- 
gepfi'opften,  torpiden  Körper  muss  der  Mangel  an  Sauerstoff  sich  überall  in 
den  Geweben  fühlbar  machen,  und  der  Verbrennungsprocess  sehr  leiden.  Wieder- 
holt sich  derselbe  Vorgang  Tag  für  Tag,  so  kann  das  nur  zu  einem  über- 
mässigen Fettansatz,  zur  Fettleibigkeit  führen. 

Grosse  Mahlzeiten  müssen  daher  möglichst  kleinen  den  Platz  einräumen. 
Diese  sind  leicht  eingeführt,  werden  ohne  Ueberanstrengung  und  grosse  Ch'- 
culationsschwankungen  schnell  verdaut  und  ausgenützt,  dann  rasch  verbrannt. 
Sind  sonst  Körper  und  Geist  rege  —  was  bei  nicht  zu  vollem  Bauche  eher 
der  Fall  — •  so  fehlt  bald  die  Nahrung  im  Säftestrom,  das  aufgespeicherte 
Fett  wird  nun  zui'  Deckung  herangezogen  und  wird  allmälig  verbraucht:  daher 
die  grosse  therapeutische  Wirksamkeit  der  kleinen  Mahlzeiten  in  der  Behand- 
lung der  Fettsüchtigen.  Wie  viel  man  jeweilig  gestatten  soll,  lässt  sich  nicht 
ein  für  allemal  feststellen,  ist  aber  auch  gar  nicht  so  nothwendig.  Der 
Fettsüchtige  soll  nie  vergessen,  dass  seine  Mahlzeiten  leicht 
zu  gross  werden,  dagegen  nie  zu  klein  sein  können.  Isst  er  wü'k- 
lich  so  wenig  auf  einmal,  so  wird  sich  bei  ihm  oft  das  Bedürfnis  einstellen 
etwas  zu  gemessen,  die  Zahl  der  Mahlzeiten  vermehrt  sich  somit  von  selbst, 
beschränkt  sich  aber  auch  dabei  bald  auf  das  mehr  mindere  nöthige 
Bedürfnis. 

Warum  lassen  wir  endlich  Essen  und  Trinken  so  oft  ausein- 
ander halten?  Eben  um  die  Mahlzeiten  so  klein  als  möglich  zu  gestalten, 
denn  das  Trinken  zum  Essen  zählt  auch  als  Quantum  mit.  Das  ist  aber 
nicht  der  einzige  Grund.  Vergleichsversuche  lehren,  dass  trockene,  kleine 
Mahlzeiten  viel  schneller  zur  Entfettung  führen,  als  gleich  grosse  aber  zum 
Theil  aus  Flüssigkeit  bestehende  Mahlzeiten.  Die  Erklärung  hiefür  ist  nicht 
so  leicht  zu  geben.  Wir  denken,  dass  bei  einer  trockenen  Mahlzeit  die  zur 
Bildung  des  Verdauungskreises,  sowie  zu  den  verschiedenen  Secretioneu  etc.. 


FETTSUCHT.  659 

nöthige  Flüssigkeit  mit  grösserer  Inanspruchnahme  der  Körpersäfte  stattfin- 
det, als  wenn  zum  Essen  gleich  getrunken  wird,  weshalb  auch  bei  trocke- 
nen Mahlzeiten  meist  mehr  oder  minder  intensiver  Durst  eintritt.  Verarmt 
somit  der  ganze  Körper  an  Wasser  und  wird  letzteres  nicht  durch  Trinken 
gleich  ersetzt,  so  muss  es  vom  Fett  durch  Spaltung  und  Auflösung  in  seine 
Componenten,  also  durch  Verbrennung  seiner  selbst  geliefert  werden.  Hat 
sich  dieser  Vorgang  der  Fettspaltung  einmal  abgespielt,  was  etwa  eine 
Stunde  nach  dem  Essen  der  Fall  ist,  so  kann  man  ungestraft  allmälig  in 
kleinen  Portionen  trinken.  Die  jetzt  einzuführenden  Flüssigkeiten  können  ja 
nicht  mehr  der  Spaltung  und  Verbrennung  des  Fettes  im  Wege  stehen,  im 
Gegentheil,  sie  werden  durch  Auflösung  der  Verbrennungsproducte,  durch 
Aussaugung  der  Asche,  der  Schlackenstoffe  für  eine  Ausspülung  und  Rei- 
nigung des  Körpers  förderlich  sein.  Aber  nur  keine  Ueberschwemmung 
mit  Flüssigkeiten,  eine  solche  würde  ganz  verfehlen;  häufige  kleine  Flüssig- 
keitsmengen dagegen  werden  die  Behandlung  mächtig  unterstützen.  Eine 
intensivere  Wirkung  der  trockenen  Mahlzeiten  lässt  sich  durch  gleichzeitige 
reichliche  Beigabe  von  Kochsalz  zur  Nahrung  erzielen,  indem  —  abge- 
sehen von  dem  günstigen  Einfluss  des  Kochsalzes  auf  die  Bildung  des  Ma- 
gensaftes etc.,  die  Ernährung  und  Blutbildung  im  Allgemeinen  —  durch 
das  Vorhandensein  des  Salzes  im  Verdauungscanal  der  exosmotische  Process, 
der  zur  Fettspaltung  führt,  noch  vermehrt  wird. 

Sorge  für  regelmässigen  selbstthätigen  Stuhl.  Wir  haben 
es  hier  mit  einer  Verordnung  zu  thun,  die  eigentlich  so  selbstverständlich  ist, 
dass  man  sie  vielleicht  für  überflüssig  ansehen  könnte.  Allein  die  Erfahrung 
lehrt,  dass  die  meisten  Menschen  eine  gewisse  Abscheu  an  den  Tag  legen, 
sich  gerade  mit  der,  ihnen  wohl  zu  prosaisch  vorkommenden  Frage  des  Stuhles 
zu  befassen,  sonst  würde  der  Procentsatz  der  daran  Leidenden  wenigstens 
unter  der  Bevölkerung  der  Grosstadt  nicht  so  enorm  sein  (circa  TO^/^  beim 
männlichen  und  90^/o  beim  weiblichen  Geschlechte).  Aber  auch  seitens  der 
Aerzte  wird  diese  allerwichtigste  Function,  nach  unseren  Erfahrungen,  ziem- 
lich stiefmütterlich  behandelt,  wenigstens  wird  ihr  ärztlicherseits  nicht  das 
nöthige  Verständnis  und  die  allgemeine  Beachtung  entgegengebracht,  die 
sie  beanspruchen  dürfte.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort  auf  die  Behandlung  der 
Verstopfung  überhaupt  einzugehen.  Der  Fettleibige  an  und  für  sich  leidet 
auch  nicht  besonders  daran.  Wird  er  aber  einer  Entfettungsbehandlung  unter- 
zogen, wie  wir  sie  vorhergehend  geschildert  haben,  oder  auch  bei  anderen 
„Curen",  so  muss  eine  mehr  oder  minder  grosse  Neigung  zur  Verstopfung 
sich  einstellen.  Denn  die  oben  angeführte  Errtährungsweise  bedingt  eine 
bessere  Ausnützung  der  Ingesta,  somit  geringere  Rückstände  im  Mastdarm 
und  diese  ihrerseits  ein  viel  selteneres  und  weniger  intensives  Defäcations- 
bedürfnis,  abgesehen  davon,  dass  das  Schwinden  des  Fettes  aus  den  Bauch- 
decken im  Laufe  der  Zeit  durch  Aufliebung  eines  Druckes  auf  den  Darm  eine 
trägere  Beförderung  des  Darminhaltes  zur  Folge  haben  wird  etc.  etc.  Dass 
man  dann  die  Patienten  noch  ganz  besonders  auf  die  drohende  Verstopfung 
aufmerksam  machen  muss,  wird  wohl  jetzt  nicht  überflüssig  erscheinen.  Ein 
Theil  der  oben  erläuterten  Verordnungen,  namentlich  die  mechanischen  Ein- 
wirkungen auf  den  Leib,  das  häufige  tiefe  Kneten  und  Zwagen  dieser  Par- 
tien etc.,  aber  auch  die  Applicationen  von  Guttapercha,  die  kalten  Abrei- 
bungen etc.  sind  auch  gegen  die  schon  vorhandene  oder  die  drohende  oder 
herannahende  Trägheit  des  Stuhles  gerichtet.  Genügt  das  nicht,  so  muss  die 
Diät  zur  Hilfe  herangezogen  werden,  und  kommen  dann  unter  den  erlaubten 
Sachen  diejenigen  in  den  Vordergrund,  die  bekanntlich  nach  allgemeiner  Er- 
fahrung stuhlbefördernd  wirken  (Obst,  Compot,  Fruchtsaft,  Salzwasser,  Citro- 
nen  etc.),  deren  man  noch  mehrere  zu  diesem  Zweck  hinzu  erlauben  kann, 
so  Honig,    saure  und  Buttermilch,    Pfeff"erkuchen  etc.  etc.    Alle  diese  Sachen 


660  FETTSUCHT. 

lassen  -wir  aber  dann  allein  und  für  sich,  nicht  zu  den  Mahlzeiten 
geniessen,  damit  sie  ihre  volle  Wirkung  entfalten.  Letztere  erreicht  ihren 
Höhepunkt,  wenn  die  genannten  Sachen  des  Morgens  nüchtern  und 
Abends  beim  Schlafengehen  genossen  werden.  In  vielen  Fällen 
werden  diese  Verhaltungsmaassregeln  genügen  zur  Erzielung  der  täglichen 
Stuhlentleerung.  Wenn  das  aber  nicht  der  Fall,  so  kommt  dann  erst  eine 
medicamentöse  Hilfe  in  Betracht.  Das  Abführmittel  lassen  wir  aber  nicht 
blindlings,  sondern  am  Abend  der  stuhllosen  Tage  nehmen,  womit  die 
wichtige  Feststellung  ermöglicht  wird,  und  wann  der  Stuhl  auch  von  selbst 
kommt  oder  nicht.  Denn  das  Abführmittel  darf  stets  nur  als  ein  nothwen- 
diges  Uebel  betrachtet  werden,  ein  Uebel,  das  wir  genöthigt  mit  in  Kauf 
genommen  haben,  das  wir  aber  mit  allen  Kräften  auszuschalten  bestrebt  sein 
müssen.  Auch  lassen  wir  Abwechselung  in  der  Wahl  der  Abführmittel  ein- 
treten, schon  deshalb,  um  einer  Angewöhnung  entgegenzutreten  und  geben 
solchen  den  Vorzug,  die  milde  wirken  und  mehr  laxiren  als  purgiren,  wenn 
nicht  eine  bezügliche  Indication  vorliegt.  So  sind  wir  meistens  gegen  den 
Gebrauch  von  Bitterwässer  und  drastisch  wirkenden  Salzen,  weil  —  abgesehen 
von  dem  bedingten  unerwünschten  Säfte-  und  Kräfteverlust  — •  nach  ihrem 
Gebrauche  meistens  hartnäckigere  Verstopfung  etc.  eintritt.  Aus  diesen  und 
anderen  Gründen  verurtheilen  wir  implicite  im  Allgemeinen  die  Behandlung 
der  Fettsüchtigen  mit  abführenden  Brunnencuren,  wie  sie  so  gang  und  gäbe 
sind  und  schablonenhaft  in  gewissen  Curorten,  nicht  immer  zum  dauernden 
Nutzen  der  Leidenden  blüht.  Nicht  weniger  energisch  müssen  wir  gegen  den 
so  allgemein  beliebten,  habituellen  Gebrauch  von  Klystieren  Stellung  nehmen, 
wodurch  der  Darm  immer  mehr  ausgedehnt  und  geschwächt  wird  und  damit 
allmälig  die  Fähigkeit  einbüsst  selbstthätig  zu  functioniren. 

Mit  der  Ertheilung  der  eben  besprochenen  Verordnungen  ist  der  Fett- 
süchtige nicht  entlassen,  sondern  vielmehr  als  Kranker  zu  betrachten,  bei  dem 
eine  Behandlung  eingeleitet  ist,  die  eventuell  jeden  Tag  und  öfters  an  der 
Hand  der  individuellen  Erscheinungen  verändert  werden  kann  und  muss.  Ge- 
wöhnlich treten  dabei  keine  störenden  Complicationen  ein,  der  Bruch  mit  den 
alten  Gepflogenheiten  beziehungweise  der  Abschied  von  beliebten  Schädlichkeiten, 
ist  bald  überwunden,  und  es  können  Tage  und  Wochen  vergehen,  bevor  eine 
Controle  der  erzielten  Fortschritte  nothwendig  ist.  Die  Abnahme  an  Gewicht 
und  Umfang  variirt  dabei  innerhalb  weiter  Grenzen.  Eine  solche  von  10  kg. 
an  Gewicht  beziehungsweise  10  cm  an  Leibumfang  in  14  Tagen  haben  wir 
schon  oft  erlebt.  Doch  gehören  diese  Fälle  zu  den  Ausnahmen.  Eine  Ab- 
nahme von  1 — IV2  kg.  wöchentlich  ist  ein  guter  Durchschnitt.  Der  Bauch- 
umfang verhält  sich  dem  Gewicht  dabei  ziemlich  parallel  und  jedem  Kilo- 
gramm an  Gewicht  entspricht  durchschnittlich  ein  Centimeter  an  Leibumfang. 
Die  Brust  folgt  dagegen  den  Verhältnissen  gemäss  viel  langsamer  und  es  findet 
bei  ihr  bald  keine  Abnahme  mehr  statt  schon  zu  einer  Zeit,  wo  das  Zu- 
sammenschrumpfen des  Bauches  und  die  Gewichtsabnahme  noch  in  vollem 
Gange  sind.  Man  soll  nicht  etwa  glauben,  dass  im  Anfang  der  Behandlung, 
wo  die  Corpulenz  doch  am  grössten  ist,  auch  die  Abnahme  eine  grössere 
beziehungsweise  die  grösste  sein  muss,  und  man  findet  nicht  selten,  dass  ge- 
rade die  ersten  Paar  Kilos  sich  sehr  schwer  herunterarbeiten  lassen,  wogegen 
später  die  Entfettung,  beziehungsweise  die  Abnahme  an  Körperumfang  und  Ge- 
wicht viel  flotter  von  statten  geht.  Jedenfalls  muss  man  darin  nicht  zu  viel 
verlangen  und  für  jedes  abgegangene  Loth  zufrieden  sein.  Deshalb  ändern 
wir  nicht  gern  die  Verordnungen,  so  lange  eine,  wenn  auch  nicht  sehr  be- 
deutende Abnahme  stattfindet.  Erst  wenn  darin  ein  Stillstand  eintritt,  während 
eine  weitere  Entfettung  noch  geboten  ist,  schreiten  wir  zu  einzelnen  Varia- 
tionen der  Lebensweise,  und  je  nach  den  Umständen  lassen  wir  einmal  mehr, 
ein  andermal  weniger  körperliche  oder  geistige  Thätigkeit  üben,  vielleicht  die 


FETTSUCHT.  661 

localen  Bäder  lieisser  oder  länger  nehmen,  mehr  oder  weniger  trinken  über- 
haupt oder  jeweilig,  die  Mahlzeiten  noch  kleiner  halten,  den  Stuhl  durch 
Nachhilfe  am-egen  etc.  etc.  Gerade  darin  wird  die  Kunst  des  Arztes  sich  in 
einem  weiten  Felde  bewegen,  und  auf  dem  Pfade  der  strictesten  Individua- 
lisirung  und  frei  von  den  Banden  der  Schablone,  den  Einzelfall  genau  und  ge- 
wissenhaft erforschen,  die  eventuell  vorhandenen  Fehler,  beziehungsweise  Schäd- 
lichkeiten in  der  Lebensweise  erkennen  und  sie  durch  entsprechende  Aender- 
ungen  zu  beseitigen  suchen. 

Eine  ziemlich  constante  Erscheinung  während  der  Entfettungszeit  ist  das 
Auftreten  von  trübem,  dickem,  absetzendem  Urin,  wie  wir  ihn  beim  Fieber 
kennen.  Der  Niederschlag  (Sedimentum  lateritium)  besteht  hauptsächlich  aus 
harnsauren  Salzen,  Phosphaten,  Oxalaten,  Harnsäure  etc.  und  ist  als  das  Re- 
sultat des  vermehrten  Stoffwechsels  und  Yerbrennungsprocesses  im  Körper, 
uud  consequenter  gesteigerter  Bildung  und  Ausscheidung  der  Schlackenstoffe 
stets  mit  Freude  zu  begrüsseu.  Treten  Pteizerscheinungen  in  der  Blase  oder 
Harnröhre  ein,  so  ist  ihnen  durch  häufiges  Trinken  von  heissem  und  kaltem 
Wasser  in  jeweilig  kleinen  Portionen  am  besten  zu  begegnen.  Wie  man  die 
„ancurirte"  Verstopfung  behandeln  muss,  haben  wir  bereits  gesagt.  Durst, 
Müdigkeit,  Schwindel  u.  dgl.  sind  nicht  leicht  und  ohne  die  sich  sonst  be- 
währende Verordnung  oder  deren  Erfolg  zu  gefährden,  zu  bekämpfen  und  zu 
beseitigen. 

Die  weit  grössten  Schwierigkeiten  in  der  Behandlung  der  Fettsüchtigen 
erwachsen  dem  Arzte  weniger  durch  den  Patienten  selbst  als  seitens  seiner 
Angehörigen,  hauptsächlich  seiner  „guten"  Freunde  und  Bekannten.  Es  versteht 
sich  von  selbst,  dass  das  Schwinden  des  überschüssigen  Fettes,  sich  auch  im 
Gesicht  mehr  oder  minder  geltend  macht,  wodurch  ihm  meist  ein  „leidender" 
Ausdruck  verliehen  wird.  Kein  Wunder,  wenn  der  Patient  dann  von  Bekann- 
ten mindestens  mit  der  Begrüssung  abcomplimentirt  wird:  „Wie  elend  sehen 
Sie  aus!"  Oft  knüpft  sich  dann  ein  mehr  oder  minder  „medicinisches"  Gespräch 
daran,  das  fast  immer  mit  dem  weisen  Spruch  endet:  ;; Nehmen  Sie  sich  in 
Acht  vor  solchen  gefährlichen  Curen!"  Den  liebenswürdigen  Leuten —  denen 
das  Ideal  eines  „gesunden"  Menschen  nur  in  Form  eines  dickbauchigen  und 
dickbackigen,  also  eines  „wohlgenährten"  Individuums  vorschwebt  —  kostet 
es  gar  keine  Mühe  in  ebenso  unverantwortlicher  wie  unverschämter  Weise 
das  Misstrauen  zu  säen,  sie  glauben  damit  Fürsorge  und  Interesse  für  den 
Patienten  zu  bekunden  und  ziehen  nachher  sehr  stolz  davon.  Letzterer  hat 
aber  auch  nicht  immer  den  nöthigen  eisernen  Willen,  um  jenen  sich  täglich 
wiederholenden  Einschüchterungen  zu  widerstehen  und  schwankt  dann  in  seinem 
Vorhaben.  Daher  die  Nothwendigkeit  für  den  Arzt,  oft  mit  seinem  ganzen 
psychischen  Einfluss  einzugreifen,  um  Zweifel  zu  beseitigen,  Aufregungen  zu 
beruhigen,  den  schwankenden  Muth  zu  beleben.  Das  weibliche  Geschlecht 
bleibt  trotzdem  oft  über  das  Auftreten  von  Runzeln  an  den  zusammengeschrumpf- 
ten Stellen,  namentlich  im  Gesicht,  schwer  zu  trösten.  Da  muss  man  darauf 
aufmerksam  machen,  dass  die  Haut  nicht  gleich  dem  Fettschwund  folgen  kann, 
sondern  sich  erst  später  zusammenzieht  —  was  in  der  That  auch  geschieht  — 
und  auf  dem  Wege  des  Geduldpredigens  gewinnt  man  Zeit,  bis  auch  diese 
Schwierigkeit  beseitigt  ist. 

Eine  nach  den  geschilderten  Grundsätzen  durchgeführte  Behandlung 
kann  nur  gefahrlos  sein,  wie  sie  es  thatsächlich  auch  ist,  und  wenn  mau  ihr 
so  und  so  viel  Schlechtes  nachrühmt,  so  ist  das  nur  durch  grobes  Unver- 
ständnis oder  durch  Verwechslung  mit  uncontrolirten  „Curen"  etc.  zu  ent- 
schuldigen, wenn  nicht  durch  gemeinen  Neid  zu  erklären.  Wir  können  an 
der  Hand  eines  ungewöhnlich  reichen  Krankenmaterials  und  fussend  auf  Er- 
fahrungen und  Beobachtungen,  die  auf  die  letzten  20  Jahre  zurückgreifen, 
ganz  bestimmt  behaupten,  dass  noch   nie   in  Folge  unserer  Behandlung  eine 


662  FIEBER. 

Schädigung  der  Gesundheit  unserer  Patienten  eingetreten  ist;  die  strenge 
Individualisirung  als  Richtschnur  unseres  Handelns  schützt  uns  vor  einer 
solchen.  Freilich  kommen  auch  während  unserer  Behandlung  üble  Ausgänge 
vor,  und  es  geht  uns  ein  Fettsüchtiger  einmal  an  Apoplexie,  Syncope  etc.  zu 
Grunde.  Doch  handelt  es  sich  in  solchen  Fällen  stets  um  die  letzten  Folgen 
und  den  Ausgang  bereits  vorhandener  Störungen  und  organischer  Verände- 
rungen, denen  unsere  Behandlung  ebenso  wie  jede  andere  keinen  Einhalt  zu 
setzen  vermochte,  die  auch  ohne  Behandlung  —  wie  ein  Jeder  weiss  —  zum 
fatalen  Ende  geführt  hätten.  Aber  auch  in  diesen  unglücklichen  Fällen  ist 
durch  unsere  Behandlung  immer  noch  etwas  zur  Linderung  der  Beschwerden 
und  zur  Hinausschiebung  der  Katastrophe  gewirkt  worden,  abgesehen  davon, 
dass  sie  lehren,  dass  man  nicht  frühzeitig  und  consequent  genug  an  die  Ent- 
fettung denken  kann. 

Allmälig  führt  die  Behandlung  den  Fettsüchtigen  so  weit,  dass  zu  einer 
gewissen  Zeit  eine  Gewichtsabnahme  —  wenn  nicht  durch  Hungern  —  nicht 
mehr  stattfindet,  gleichzeitig  die  überfetten  Körperstellen  genügend  reducirt 
erscheinen,  und  der  Patient  mit  seinem  subjectiven  Befinden  zufrieden  ist. 
Soll  da  die  Behandlung  ein  Ende  haben,  beziehungsweise  kann  oder  muss 
nun  der  „geheilte"  Fettleibige  die  zuletzt  gebrauchte  Lebensweise  aufgeben 
und  wie  die  sonstigen  „gesunden"  Menschen  leben?  Unsere  Erfahrungen 
lehren,  dass  eine  Lebensweise,  die  den  Fettsüchtigen  zur  Entfettung  geführt 
hat,  auch  nach  der  Entfettung  ohne  jeden  Nachtheil  weiter  gebraucht  werden 
kann.  Oft  ist  der  Patient  selbst  damit  so  zufrieden,  dass  er  kein  Verlangen 
nach  einer  anderen  Lebensweise  empfindet  und  sich  gegen  die  Aufnahme 
einer  solchen  sträubt.  Allein  wir  müssen  nicht  unsere  Aufgabe  darin  sehen, 
dem  „geheilten"  Fettleibigen  eine  gastronomische  Sonderstellung  zeitlebens 
zu  reserviren,  sondern  aus  ihm  einen  Menschen  zu  machen,  der  mit  seinen 
Mitmenschen  lebt,  thut  und  lässt,  was  auch  diese  im  Durchschnitt  thun  und 
lassen.  Zum  Glück  ist  auch  der  Organismus  eines  Fettsüchtigen  nach  der 
Entfettung  meistens  so  günstig  verändert,  namentlich  bezüglich  der  Blutbil- 
dung, der  Sauerstoffaufnahme  und  des  gesammten  Stoffwechsels,  dass  er  nun- 
mehr sich  Manches  ungestraft  erlauben  kann,  was  er  früher  mindestens  mit 
Vermehrung  seiner  Fettleibigkeit  gebüsst  hätte.  Der  Uebergang  zur  gewöhn- 
lichen Lebensweise  der  „gesunden"  Menschen  darf  aber  kein  schroffer,  sondern 
ein  ganz  allmäliger  sein.  Die  eine  oder  die  andere  Verordnung  wird  er- 
lassen, dabei  müssen  Maass  und  Gewicht,  sowie  die  Hauptfun  ctionen  des  Körpers 
weiter  controlirt  werden,  um  an  der  Hand  der  sich  ergebenden  Veränderungen, 
weitere  Erleichterungen  zu  gewähren  oder  die  Zügel  zeitweise  etwas  strammer 
zu  ziehen. 

Auf  diesem  Wege  wird  sich  bald  eine  ziemliche  Stetigkeit  des  Körper- 
gewichtes innerhalb  enger  Grenzen  herausstellen,  und  werden  dann  meistens 
keine  besonderen  Abweichungen  von  der  Lebensweise  der  „gesunden"  Menschen 
nothwendig  sein,  um  eine  Zunahme  der  Fettbildung  und  Ablagerung  zu  ver- 
hindern. Der  Fettleibige  ist  nun  nicht  nur  auf  normale  Verhältnisse  zurück- 
geführt, sondern  nimmt  nicht  mehr  zu,  er  ist  kein  „Fettsüchtiger"  mehr. 

SCHVt^ENINGER-BUZZI. 

Fieber  ist  nach  der  gegenwärtig  noch  herrschenden  Auffassung  jede 
krankhafte  Temperaturerhöhung  aus  einem  Innern  Grunde.  Die  zahlreichen 
sonstigen  Symptome,  die  meist  gleichzeitig  beobachtet,  aber  in  zweite  Linie 
gestellt  werden,  beziehen  sich  auf  den  Stoffwechsel,  das  Nervensystem,  den 
Circulations-  und  Respirationsapparat,  auf  den  Digestionstract  und  die  Se- 
und  Excretionsorgane. 

Bisher  hatte  man  immer  Symptomenbilder  vor  Augen,  welche  nur  dem 
Organismus  der  höheren  Ordnungen  der  Thierreihe  eigenthümlich  sind.    Erst 


FIEBER.  663 

in  jüngster  Zeit  wurde  der  Versuch  unternommen,  auch  von  Hyperthermie 
begleitete  pathologische  Zustände  jeder  Zelle  überhaupt,  insbesonders  falls 
das  ätiologische  Moment  der  Infection  hinzutritt,  als  fieberhaft  zu  bezeichnen. 
Die  folgende  Darstellung  bezieht  sich  jedoch  ausschliesslich  auf  den  fiebern- 
den thierischen  Organismus  und  abstrahirt  gänzlich  vom  fieberkranken  Proto- 
plasma. Gewisse  Zustände  von  einfacher  Hyperthermie,  wie  jene  durch  starke 
Muskelaction,  durch  Wärmestauung  (Hitzschlag)  etc.,  bleiben  gleichfalls  unl)e- 
rücksicbtigt. 

Historisches.  Der  Begriff  des  Fiebers  ist  am  Krankenbett  entstanden  und  hat 
sich  im  ärztlichen  Bewusstsein  allmälich  entwickelt  und  ausgestaltet.  Zunächst  erkannte 
man,  dass  insbesonders  vielen  acuten  pathologischen  Processen  sehr  prägnante  Phäno- 
mene gemeinsam  sind,  unter  welchen  die  heisse  Haut  sowohl  objectiv  am  meisten  in  die 
Augen  sprang,  als  auch  subjectiv  am  lebhaftesten  empfanden  werden  muss  (Hitzegefühl). 
Daneben  erfasste  man  früher  oder  später  mit  dem  Fortschreiten  der  klinischen  Methodik 
auch  w'eniger  grob  manifeste  Erscheinungen,  die  vasomotorischen  Symptome,  die  Temperatur- 
steigerung im  Innern  des  Körpers,  die  Stoffwechselanomalien  (Körperconsum)  u.  s.  w. 
Die  angeführten,  so  oft  vereint  nachgewiesenen  Abweichungen  sah  man  fast  ebenso  oft  aus 
gemeinschaftlicher  oder  ähnlicher  Ursache  entstehen,  dass  ilire  Zusammenfassung  zu  einem 
einheitlichen  Bilde  eine  natürliche  Consequenz  war.  Begreiflicherweise  war  die  wissen- 
schaftliche Fragestellung  nicht  immer  identisch  und  auch  nicht  immer  gleich  zweck- 
mässig. Die  rein  phänomenologische  Auffassung  des  Hippokrates,  nach  welcher  das 
Fieber  der  Calor  praeter  naturam  ist,  fand  zunächst  in  der  humoralpathologischen  Auf- 
fassung (Paracelsus)  die  Deutung,  dass  die  Ursache  der  Wärmevermehrung  in  Altera- 
tionen der  chemischen  Vorgänge  im  Körper  zu  suchen  sei.  Die  Jatromechaniker  (Boer- 
have)  dagegen  stellten  für  das  Wesen  des  Fiebers  die  Bedeutung  der  Pulsfrequenz  höher, 
als  die  Wärmesteigerung.  Die  Fieberwärme  des  Blutes  erklärten  sie  als  mechanischen,  durch 
Reibung  an  den  Gefässwänden  bedingten  Process.  An  die  mechanische  A uff assungs weise  sich 
anlehnend,  erfuhren  die  folgenden  neuropathologischen  Theorien  zunächst  abenteuerliche 
Ausgestaltungen  in  der  „Irritation"  Brown's  und  den  „Sympathien"'  von  Broussais.  Der 
Erste,  welcher  in  uns  verständlicher  Weise  mit  einer  gewissen  Consequenz  die  Betheiligung 
des  Nervensystems  an  der  Fiebergenese  aussprach,  war  Baumgartker  :  der  Sitz,  des  Fiebers 
sei  der  Gefässapparat,  die  Ursache  seiner  krankhaften  Thätigkeit  müsse  in  den  Gefässnerven 
liegen.  Die  Definition  des  Fiebers  als  organische  Phänomeneinheit  in  ähnlichem,  wie  im 
heutigen  Sinne  wurde  durch  J.  Müller,  Henle  und  Wunderlich  endgiltig  vollzogen. 

Seither  hat  sowohl  die  thatsächliche  Erforschung,  als  auch  die  theoretische  Betrach- 
tung hauptsächlich  an  folgende  vier  Gruppen  von  für  das  Fieber  massgebenden  Factoren 
angeknüpft:  1.  Die  Temperaturverhältnisse,  2.  die  Stoff'wechselabweichungen,  3.  die  nervösen, 
insbesondere  die  vasomotorischen  Störungen,  4.  die  mit  der  Lehre  vom  Infect  sich  rasch 
in  den  Vordergrund  stellenden  ätiologischen  Momente. 

PaisTLEYundLAvoisiER  waren  die  ersten  Forscher,  vrelche  der  Frage,  woher  überhaupt  die 
Eigenwärme  herrührt,  wissenschaftlich  (experimentell)  näher  zu  kommen  wussten,  indem  sie 
den  Nachweis  lieferten,  dass  die  Athmung  im  Körper  durch  0-zufuhr  eine  Verbrennung  ermög- 
liche und  Kohlensäure  als  Product  der  letztern  abführe.  Lavoisier  stellte  die  thierische 
Maschine  als  beherrscht  dar  durch  Digestion,  Piespiration  und  Transspiration.  Dülong  und 
Despretz  suchten  diese  Lehre  durch  Schaffung  einer  Wärmebilanz  zu  bestätigen,  und  Liebig 
stellte  die  Fieberentstehung  so  dar,  dass  die  erhöhte  Temperatur  des  Körpers  bedingt  sei  durch 
Beschleunigung  einzelner  oder  aller  organischer  Bewegungen,  welch  letztere  wiederum  durch 
in  Folge  abnormer  Umsetzung  der  belebten  Köi*pertheile  erzeugte  grössere  Kraftmengen  her- 
vorgerufen seien.  Ph.  v.  Walther  klagte  direct  vermehrte  0-aufnahme  als  Fieberuisache  an. 
Die  vor  Allem  durch  Wunderlich  zur  allgemeinen  Würdigung  erhobenen  genauen  Temperatur- 
messungen am  Krankenbett  vollendeten  die  Geltung  von  Lavoisier's  Auffassung  für  die 
Fieberlehre:  das  Fieber  galt  nunmehr  als  gesteigerter  Verbrennungsprocess. 

ViRCHow  verknüpfte  diese  Auffassung  mit  den  neuropathologischen  Anschauungen, 
denen  durch  die  mittlerweile  gewonnenen  Erfahrungen  über  vasomotorische  Centren  eine 
gesicherte  Grundlage  geschaffen  war.  Er  erklärte  das  Fieber  als  Temperaturzunahme  infolge 
eines  vermehrten  chemischen  Processes,  der  bei  längerer  Dauer  eine  Consumption  der 
Körperbestandtheile  bewirke.  Als  Ursache  der  Wärmesteigerung  wird  eine  Veränderung 
der  Wärmeregulation  angenommen,  die  auf  Lähmung  oder  Schwächung  eines  Wärmemode- 
rationscentrums  beruht,  da  die  fieberhaften  Processe  den  Charakter  der  Schwäche  tragen. 
Bei  der  verminderten  Thätigkeit  gewisser  Theile  des  Nervensystems  seien  die  einzelnen 
Lebensherde  mehr  der  Oxydation  ausgesetzt.  Das  Fieber  sei  keine  generelle  Krankheit  ab 
initio,  sondern  zuächst  localisirt  in  gewissen  Theilen  des  Nervensystems.  —  Die  französische 
Medicin  stellte  dem  eine  rein  neurologische  Lehre  vom  Fieber  gegenüber.  Claude  Bernard, 
der  beobachtet  hatte,  dass  Durchschneidung  und  Pteizung  gewisser  Theile  des  Sympathicus 
Blutüberfüllung  und  grössere  Wärmeentwicklung  zur  Folge  hat,  fasste  den  Sympathicus 
als  den  Nervus  vasomotorius  et  calorificus  auf ;    er  betrachtete  das  Fieber  als  eine   durch- 


664  FIEBER. 

aus  nervöse  Erscheinung,  welche  aus  unvollständiger  Lähmung  des  Sympathicus  resultire, 
der  Frost  ist  Reizung,  die  Hitze  Erschöpfung  der  Gefässnerven.  Schon  Browk-Sequard  und 
später  Schiff  zeigten  aber,  dass  die  Wärmesteigerung  nach  Durchschneidung  des  Sympa- 
thicus nur  eine  Folge  der  Hyperaemie  sei.  Samuel  sah  im  Fieber  eine  Irritation  von  tro- 
phischen  Nerven.  Marey  wiederum  Hess  den  fieberhaften  Zustand  aus  einer  Lähmung  des 
Gefässtonus  resultiren;  wenn  die  Temperatur  der  Körperoberfläche  infolge  der  beschleunigten 
Circulation  die  des  inneren  Körpers  erreicht,  tritt  viel  Flüssigkeit  in  die  Gewebe  und  die 
Oxydationen  werden  gesteigert. 

Allen  denjenigen  Theorien  gegenüber,  welche  das  Fieber  auf  vermehrte  Wärmebildung 
zurückführten,  behauptete  Traube,  dass  das  ausschlaggebende  Moment  verminderte  Wärme- 
abgabe  sei,  welch  letztere  wiederum  verursacht  werde  durch  einen  Krampf  der  kleinen 
Arterien  der  Körperoberfläche.  Die  Krise  entstehe  durch  Nachlassen  des  Gefässtonus. 
Traube  ist  es  bekanntlich  gewesen,  der  die  vermehrte  Harnstoff'ausscheidung  im  Fieber 
entdeckt  hat,  er  glaubte  aber,  dass  dieser  Umstand  an  der  Wärmeerzeugung  nur  einen 
sehr  geringen  Antheil  habe.  Infolge  dieser  neuen  Theorie  wurde  neuerlich  die  Frage  sehr 
lebhaft  discutirt,  ob  der  Organismus  wärmeregulirende  Vorrichtungen  besitze,  und  wo 
ihr  Sitz  sei.  Seit  den  60er  Jahren  wurden  die  Auffassungen  von  Liebermeister  und  Leyden 
die  herrschenden.  Liebermeister  suchte  nachzuweisen,  dass  die  Aufhebung  der  Wärme- 
abgabe während  einer  halben  oder  ganzen  Stunde  nicht  ausreicht,  um  den  Gesammtkörper 
in  derselben  Zeit  um  1°  zu  erwärmen,  daraus  folge  mit  Nothwendigkeit  die  vermehrte 
Wärmeproduction  im  Fieber.  Da  bei  Gesunden  die  Körpertemperatur  durch  Bäder  nicht 
leicht  vermindert  werden  kann,  so  nahm  er  eine  verschiedene  Wärmereguhrung  im  gesunden 
und  fieberhaften  Zustande  an :  Er  verwarf  die  Ansicht  Bergmana^'s,  dass  die  Wärmeproduction 
unabhängig  von  der  Abgabe  sei  und  liess  durch  Regulirung  des  Verlustes  auch  die  Production 
beeinflusst  werden ;  grössere  Wärmeentziehungen  steigern  die  Verbrennungen  und  damit  die 
Production  von  Wärme,  im  kalten  Bade  nehme  deshalb  die  COa-Ausscheidung  zu.  Nach 
Liebermeister  stellt  das  Fieber  ein  Symptomenbild  dar,  welches  auf  einer  solchen  Ver- 
änderung der  Wärmeregulirung  beruht,  dass  die  Wärmeproduction  erhöht  und  die  Wärme- 
abgabe zwar  ebenfalls  vergrössert,  aber  nicht  entsprechend  der  Production  gesteigert  ist; 
die  Wärmeregulation  sei  auf  einen  abnorm  hohen  Temperaturgrad  „eingestellt".  Die  Ursache 
der  erhöhten  Production  ist  das  Nervensystem,  in  welchem  ein  excitomotorisches  und  ein 
moderirendes  System  für  die  Wärmebildung  angenommen  wird.  —  Leydek  beobachtete  so 
wie  Liebermeister  eine  gesteigerte  Wärmeabgabe  in  sämmtüchen  Stadien  des  Fiebers,  womit 
auch  das  Ergebnis  der  von  ihm  durchgeführten  Körperwägungen  (behufs  Bestimmung  der 
insensiblen  Verluste)  gut  stimme.  Leyden  war  der  erste,  der  bestimmt  aussprach,  dass  im 
hohen  Fieber  eine  Retention  von  Wasser  und  möglicherweise  auch  von  Excretions-  und 
Verbrennungsstoffen  statthabe.  Von  den  Stoffwechselproducten  studirte  Leyden  insbesondere 
die  Kohlensäure;  er,  ebenso  auch  Liebermeister,  fand  eine  sehr  erhebliche  Steigerung  der 
C02-Excretion.  Mit  den  Arbeiten  von  Senator,  deren  Werth  erst  neuestens  ordentlich 
gewürdigt  worden  ist,  kann  von  der  historischen  Darstellung  abgesehen  werden.  Das  seither 
Ermittelte  ist  die  Grundlage  unseres  gegenwärtigen  Wissens  über  diesen  Gegenstand.  Von 
grundlegender  Bedeutung  für  die  Fieberlehre  wurden  noch  die  Versuche  Billroth's  und 
C.  0.  Weber's,  durch  welche  es  ihnen  gelang,  mittels  subcutaner  intravenöser  Einführung 
gewisser  zersetzter  thierischer  und  pflanzlicher  Stoffe  Fieber  zu  erzeugen.  Dadurch 
wurde  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Pathogenese,  auf  die  Materia  peccans  gelenkt,  deren 
Erkenntnis  das    letzte  Ziel    der  zeitgenössischen  Medicin  bildet. 

Eine  Definition  des  Fiebers  und  die  Aufstellung  einer  ab- 
geschlossenen Fi  eb  er  theorie  wird  in  der  folgenden  Darstellung  nicht 
Yersucht  werden.  Nur  die  Unstatthaftigkeit  sei  betont,  sämmtliche  Functions- 
störungen,  welche  in  den  von  Fieber  begleiteten  Krankheiten  neben  der  Tem- 
peratursteigerung bestehen  und  nicht  auf  locale  Erkrankung  bezogen  werden 
müssen,  als  directe  Folgen  der  Hyperthermie  zu  betrachten  (Liebermeister). 
Der  febrilen  Ueberhitzung  können  nur  die  gesteigerte  Pulsfrequenz  und  die 
Wärmedyspnoe  unmittelbar  angegliedert  bleiben.  Die  übrigen  sogenannten 
Fiebersymptome  sind  gleichwerthige  Aeusserungen  der  verschiedenen  Infecte. 
Im  Folgenden  möge  man  bloss  eine  gedrängte  Zusammenstellung  des  phä- 
nomenologisch und  diagnostisch  Wichtigsten  über  einschlägige  Fragen  suchen. 

1.  Der  Wärmehaushalt  im  gesunden  Zustande  und  im  Fieber. 

Die  Betrachtung  der  Temperaturverhältnisse  im  Fieber  geht  von  der 
innerhalb  bestimmter  Grenzen  feststehenden  Unabhängigkeit  der  Eigenwärme 
der  homoiothermen  Thiere  von  der  Temperatur  des  umgebenden  Mediums  aus. 
Die  Werthe  für  die  Eigenwärme  des  Menschen  (Achselhöhle,  Rectum)  unter 
verschiedenen  physiologischen  Verhältnissen  sind  an  einer  späteren  Stelle 
dieser  Abhandlung  nachzusehen.     Hinsichtlich    der  Temperatur  der  einzelnen 


FIEBER.  665 

Organe  sei  hier  in  Kürze  nur  Folgendes  angeführt:  Auch  in  der  Euhe  ist  die 
Haupt  quelle  der  thierischen  Wärme  in  den  Muskeln  zu  suchen.  Die  Blut- 
wärme ist  in  verschiedenen  Abschnitten  des  Gefässsystems  etwas  verschieden; 
sie  ist  in  der  Pfortader  um  etwa  1°  höher  als  im  Aortenblut,  noch  ein  wenig 
höher  in  der  Lebervene,  etwa  gleich  hoch  wie  in  der  Vena  portarum  in  der 
untern  Hohlvene.  Zwischen  rechtem  und  linkem  Herzen  besteht  eine  merkliche 
Differenz  zu  Gunsten  des  ersteren;  es  ist  nicht  ausgemacht,  ob  dieses  Ver- 
hältnis nicht  l)loss  durch  das  hinzutretende  Blut  der  Herzvene  bedingt  ist. 
Die  höhere  Temperatur  des  aus  den  abdominalen  Drüsen  stammenden  Blutes 
erklärt  sich  aus  der  mit  chemischen  Umsetzungen  verbundenen  Thätigkeit 
der  letzteren  und  aus  der  gegen  jegliches  Auskühlen  besser  geschützten  Lage 
der  Organe.  In  den  obei^flächlich  gelegenen  Venen  findet  sich  l)egTeiflicher- 
weise  eine  auffallend  niedrigere  Temperatur.  Aus  der  Physik  ist  bekannt,  dass 
sich  Wärme  durch  Strahlung,  Leitung  und  Convection  verbreitet.  Leitung  heisst 
die  verhältnismässig  langsame  Uebertragung  der  Wärme  von  einem  Theil 
eines  Körpers  zu  einem  andern.  Unter  Convection  der  Wärme  versteht  man 
die  Fortführung  der  Wärmeenergie  von  einem  Orte  zu  einem  andern  mittelst 
einer  gleichzeitigen  und  gleichgerichteten  Bewegung  der  Materie,  mit  welcher 
sie  verbunden  ist;  der  Golfstrom  ist  z.  B.  ein  solcher  Convectionsstrom. 
Durch  den  anatomisch  vorgesehenen,  vom  Xervensystem  regulirten  Blutumlauf 
ist  im  Organismus  eine  andere,  ganz  eigenartige  und  zweckmässige  Convection 
der  Wärme  gegeben.  Wenn  man  sich  die  Wärmeentwicklung  in  den  Zellen 
als  continuirliche  denkt,  sollte  doch,  da  das  Blut  zu  allen  einzelnen  Organen 
gelangt  und  nach  allen  Orten  abströmt,  ein  wenigstens  relativer  Ausgleich  der 
Temperatur  der  Organe  erwartet  werden.  Aber  die  wechselnde  Intensität, 
mit  welcher  in  Muskeln  und  Drüsen  die  Wärmeentwicklung  erfolgt,  und  der 
Umstand,  dass  vasomotorische  Factoren  für  jede  einzelne  Körperstelle  Wärme- 
zufuhr und  Wärmeverlust  abzuändern  vermögen,  erklären  das  Uebersteigen 
der  Temperatur  einzelner  Organe  zu  bestimmter  Zeit  ül)er  diejenige  des  (zu- 
führenden) Blutes.  Je  schneller  das  Blut  durch  einen  Theil  des  Körpers 
strömt,  desto  wärmer  pflegt  derselbe  zu  erscheinen.  Besonders  starke  Wärme- 
abgabe kann  hier  störend  eingreifen;  obwohl  z.  B.  der  äuseren  Haut  viel 
Wärme  zugeführt  wird,  zeigt  dieselbe  doch,  da  sie  die  meiste  Wärme  abgibt, 
eine  gelegentlich  mehr  als  lO**  geringere  Temperatur  als  die  geschlossenen 
Höhlen  des  Körpers.  Eosexthal  spricht  deshalb  von  einer  kalten  Piinden- 
schicht  und  einem  Kern  des  Thierkörpers.  Die  wasserreichen  thierischen  Ge- 
webe sind  mittelgute  Wärmeleiter.  Verlieren  kann  der  Organismus  Wärme 
ausser  durch  Leitung  und  Strahlung  (auf  die  letztere  entfallen  vier  Fünftel  des 
Gesammtbetrages)  auch  noch  durch  Aenderungen  der  Aggregatzustände,  z.  B. 
durch  Verdunstung,  bei  welcher  stets  gewisse  Mengen  von  Wärme  latent 
werden.  Solche  Wärmeverluste  erfolgen  continuirlich.  Durch  Leitung  und 
Strahlung  wird  beständig  Wärme  an  die  umgebende  kühle  Luft  abgegel)en; 
fortwährend  wird  in  den  Lungen  und  an  der  Hautoberfläche  Wasser  verdampft. 
Luft  und  Speisen,  welche  in  den  Körper  aufgenommen  werden,  verzehren 
Wärme,  wenn  sie  auf  die  Temperatur  desselben  gebracht  werden.  Die 
Menge  Wärme,  welche  ein  Thier  oder  ein  bestimmter  Theil  in  gegeljener 
Zeit  insgesammt  abgiljt,  wird  mittelst  des  Calorimeters  bestimmt.  Die  jetzt 
im  Gebrauch  stehenden  besten  derartigen  Apparate  (Luftcalorimeter)  rühren 
von  PiOSEXTHAL  uud  PiUBXEPv  her.  Zur  Gewinnung  vergleichliarer  Werthe 
wird  die  Wärmeal)gabe  auf  Körpergewichtseinheit  reducirt.  Die  Erfahrung 
lehrt,  dass  je  kleiner  ein  Thier,  umso  grösser  dessen  Wärmealigabe  ist.  Selbst 
bei  derselben  Art  (Mensch)  stellt  sich  die  Abgabe  verhältnismässig  um  so 
grösser  dar,  je  kleiner  das  betreffende  Individuum  ist. 

Lavoisier's  Anschauung,  nach  welcher  die  Wärme  im  Thierkörper  durch 
die  dauernd  in  demselben  vor  sich  gehenden  chemischen  Processe  (Oxydationen) 


666  FIEBER. 

erzeugt  wird,  lässt  sich  auch  so  aussprechen,  dass  die  thierische  Wärme 
nichts  anderes  sei,  als  die  Verbreunungswärme  der  durch  den  eingeathmeten 
Sauerstoff  verbrannten  Eiweisstofte,  Fette  und  Kohlenhydrate.  Das  Durch- 
dringen des  Grundsatzes  von  der  Erhaltung  der  Kraft  hat  dazu  geführt,  die 
anscheinende  Vielheit  der  im  Organismus  gefundenen  Wärmequellen  (me- 
chanische Arbeit  der  Circulationsorgane,  Nervenfunction,  Quellung  trockener 
Substanzen,  letztere  von  Matteucci  aufgestellt)  doch  insgesammt  auf  die 
genannte  einzige  Ursache  zurückzuführen.  Beim  ruhenden  Menschen  werden 
die  mit  der  Nahrung  eingeführten  chemischen  Spannkräfte  fast  vollständig  als 
Wärme  frei.  Aber  natürlich  ist  die  Wärme  nicht  der  einzige  Weg,  auf 
welchem  der  aus  der  Respiration  entwickelte  Energievorrrath  den  Organismus 
verlässt.  Es  gibt  eine  ganze  Reihe  wechselnder  Bewegungen,  welche  den 
Kraftverlust  im  Körper  bedingen.  Höchst  wichtig  für  die  Fieberlehre  aber 
ist,  dass  nichts  dafür  spricht,  als  ob  im  Organismus  ein  geheimer  Vorrath 
von  schnell  und  anders  als  in  der  typischen  Weise  (Oxydations-  und  Spaltungs- 
processe  mit  0-aufnahme  und  COa-entwicklung)  frei  zu  machenden  Spannkräften 
existire,  der  beim  Hunger  allmälig  verbraucht,  bei  guter  Ernährung  aber 
auf  gleicher  Höhe  erhalten  oder  selbst  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  gesteigert 
wird.  Nichts  berechtigt  also  auch,  zu  glauben,  dass  im  Fieber  diese  vorhan- 
denen Spannkräfte  unter  dem  Einfluss  der  krankmachenden  Ursache  in 
Wärme  umgesetzt  werden  und  so  den  Ueberschuss  des  Körpers  an  Wärme  auf 
der  Fieberhöhe  erklären,  der  Vergleich  der  Wärme-  und  der  Kraftbilanz  muss 
auch  unter  diesen  Bedingungen  ein  glattes  Resultat  liefern,  es  gibt  kein 
Manco  und  keinen  Ueberschuss.  Auch  das  Caloriendeficit  durch  den  soge- 
nannten ..Ansatz"  ist  in  der  Norm  nur  ein  relativ  geringes.  Der  Letzte,  der 
den  Vergleich  der  thierischen  Wärme  mit  der  Verbrennungswärme  der 
Nahrungsstoffe  unter  Berücksichtigung  aller  biologischen  Factoren  zur  selben 
Zeit  in  musterhaft  abschliessender  Weise  durchführte,  war  Rubnee.  Er  hat 
alle  für  die  Erkenntnis  der  Stoffzersetzung  nothwendigen  Werthe  genau  fest- 
gestellt. Bei  Hunger  (Hund)  zeigte  das  mittlere  Ergebnis  bei  der  dii'ecten 
Wärmebestimmung  ein  geringes  Deficit  von  l"4"/o,  bei  Fettnahrung  von  nicht 
einmal  U'/^,  bei  Fleisch-  und  Fettnahrung  von  nicht  Vs^/o-  Bei  ausschliess- 
licher Fleischnahrung  blieb  ein  geringes  Plus.  Im  Gesaramtdurchschnitt 
aller  RuBNER"schen  Versuche  sind  nach  der  calorimetrischen  Methode  nm* 
0'477o  weniger  an  Wärme  gefunden  worden,  als  nach  der  Berechnung  der 
Verbrennungswärme  der  zersetzten  Körper-  und  Nahrungsstoffe. 

Schwankungen  der  Aussentemperatur  verursachen  entsprechende  Schwan- 
kungen der  Wärmeabgabe.  Der  Schutz  gegen  erhöhte  und  erniedrigte 
äussere  Temperatur,  über  welche  die  Homoiothermen  verfügen,  besteht 
darin,  dass  zunächst  die  Wärmeverluste  der  allgemeinen  Decke,  etwa  vier 
Fünftel  der  gesammten  Wärmeausgaben,  beschränkt  und  gesteigert  werden. 
Nur  falls  diese  Regulation  nicht  ausreicht,  wird  die  Wärmeproduction  ver- 
mindert oder  erhöht.  Die  Einschaltung  des  schlecht  leitenden  Unterhautfett- 
gewebes wirkt  wie  ein  Isolator,  Die  Mehrproduction  von  Wärme  erfolgt  auf 
refiectorischem  Wege  durch  Muskelcontractionen  (Zittern,  Frostschauer  etc). 
Vielleicht  hat  auch  die  PFLüGEß'sche  Anschauung  Recht,  welche  ebenfalls  auf 
einem  solchen  nervösen  Wege  eine  Steigerung  des  „chemischen  Muskeltonus" 
und  damit  vermehrte  Wärmebildung  supponirt.  Die  Wärmeregulation  besteht, 
nur  innerhalb  gewisser  Grenzen.  Der  Einfluss  des  centralen  Nervensystems 
auf  die  Erwärmung  der  Theile  des  Körpers  ist  durch  folgende  Sätze  prä- 
cisirt.  Die  Steigerung  und  das  Absinken  der  gesammten  und  der  localen 
Temperatur  nach  Verletzungen  des  Rückenmarks  und  verschiedener  Hirntheilfr 
erklärt  sich  aus  der  Erweiterung  und  Verengerung  der  Gefässe  und  dadurch 
veränderte  Bedingungen  des  Blutumlaufs  und  der  Wärmeabgabe.  Eventuelle 
Muskellähmungen  verursachen  noch   ausserdem  den   Ausfall   der  wichtigsten. 


FIEBER.  667 

Wärmequelle,  Audi  die  Reizung  der  thermisch  wirksamen  Rindencentren 
führt  zur  Steigerung  des  Blutdruckes  in  Folge  von  Contraction  der  kleinen  Ar- 
terien. Laesionen  des  Streifenhtigels  und  des  basalen  Marklagers  haben  aber 
vielleicht  einen  directen  Einfluss  auf  die  Wärmeproduction. 

Die  absolute  Steigerung  der  Eigenwärme  im  Fieber  ist  wohl  eine 
feststehende  Thatsache.  Ein  strenges  Maass  für  die  Grösse  des  Calorienvor- 
rathes  im  fiebernden  Körper  besitzen  wir  jedoch  nicht.  Nach  Maassgabe 
der  vorliegenden  Erfahrungen  über  den  febrilen  Stoffwechsel,  welche  mit 
Rücksicht  auf  die  oben  angeführte  Arbeit  Rubners's  unser  Urtheil  ausschlag- 
gebend bestimmen  muss,  ist  die  Calorienproduction  im  Fieber,  beziehungsweise 
im  recenten  Fieber,  nur  in  relativ  geringem  Umfange  erhöht.  Bei  länger 
dauerndem  Fieber  handelt  es  sich  bloss  um  eine  Verschiebung,  kaum  aber 
auch  um  eine  Steigerung  des  Gesammtstoff wandeis  (vgl.  die  entsprechenden 
Belege  weiter  unten  in  2).  Die  directe  Bestimmung  der  Wärmeproduction 
auf  calorimetrischem  Wege  mit  guten  Apparaten  hat  für  Thiere,  deren 
Temperatur  in  Folge  Fieber  erzeugender  Injectionen  ansteigt,  ergeben,  dass 
die  Wärmeausgabe  während  des  Temperaturanstieges  stets  vermindert  ist. 
Berechnet  man  aus  der  Temperaturzunahme  den  Betrag  an  Wärme,  welcher 
von  dem  Thier  zurückgehalten  worden  ist,  und  addirt  denselben  zu  der  an 
das  Calorimeter  abgegebenen  Menge,  so  erhält  man  die  ganze  Wärmeproduction 
während  des  Fieberanstieges.  Dieselbe  weicht  nur  relativ  wenig  von  der  Produc- 
tion  vor  der  Injection  ab,  so  dass  man  fast  die  ganze  Zunahme  durch  Wärme- 
stauung erklären  muss.  Hält  das  Fieber  längere  Zeit  an,  so  erreicht  die  Wärme- 
ausgabe wieder  den  normalen  oder  selbst  einen  höhern  Werth.  Antipyrin  bewirkt 
Temperaturabfall  und  bedeutende  Steigerung  der  Wärmeausgabe.  Sonach 
kann  die  erste  Temperatursteigerung  bei  Beginn  eines  Infectionsfiebers  ohne 
Erhöhung  der  Wärmeproduction  erfolgen  (Tiuube,  Senatoe,  J.  Rosenthal). 
Die  eventuelle  Vermehrung  der  Wärmeausgabe  im  Fieber  hält  sich  immer  in 
massigen  Grenzen  und  ist  den  Temperaturüberschüssen  kaum  proportional. 
Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dass  die  Wärmeretention  in  der  Periode  des 
Ansteigens  des  Fiebers  ebenso  auf  nervöse  (vasomotorische)  Einflüsse  zurück- 
geführt werden  muss,  wie  die  normale  Wärmeregulirung  (Circulation,  Secretion 
der  Haut).  Dasselbe  gilt  auch  vom  Temperaturabfall.  Die  Erhöhung  des 
Gesammtstoffwechsels  auf  der  Fieberhöhe  und  die  eventuell  gesteigerte  Wärme- 
verausgabung in  dieser  Periode  könnte  durch  die  erhöhte  Temperatur  selbst 
verursacht  sein  (?). 

Messungen,  welche  bei  von  fieberhaften  Krankheiten  befallenen  Menschen 
ausgeführt  wurden  (partielle  Calorimetrie,  Arm)  machen  es  wahrscheinlich, 
dass  auch  hier  im  Stadium  des  Fieberanstieges  die  Wärmeabgabe  verringert, 
vor  und  während  des  Abfalles  vermehrt  ist.  Ein  abschliessendes  Urtheil  ge- 
statten die  calorimetrischen  Versuche  am  Menschen  wohl  kaum;  die  Stoffwech- 
seluntersuchungen müssen  hier  ergänzend  hinzutreten. 

2.  Die  Abweicimiigeii  des  Oesammtstoöwechsels  im  Fieber. 

An  die  Spitze  muss  der  Satz  gestellt  werden,  dass  Alles,  was  in  jüngster 
Zeit  über  den  febrilen  Gesammtstoflwechsel  ermittelt  wurde,  mit  der  Theorie 
Liebeemeister's  durchaus  nicht  in  Einklang  zu  bringen  ist.  Gegenüber  der 
Aufstellung,  dass  die  Oxydationen  im  Fieber  eine  erhebliche  Steigerung 
erfahren,  darf  heute  gesagt  werden,  dass  die  febrile  Erhöhung  des  Stotfümsatzes 
eine  relativ  geringfügige  ist. 

Selbst  bei  grossen  Fieberhöhen  (im  vorgeschrittenen  Fieber)  ist  Sauer- 
stoffzehrung  und  COa-Abgabe  überhaupt  kaum  erhöht.  Der  Betrag  der  Er- 
höhung im  recenten  Fieber  überschreitet  kaum  25*'/o;  der  respiratorische 
Coefficient  im  Fieber  bleibt  unverändert. 


668  FIEBER. 

Fast  alle  fieberhaften  Processe  bedingen  eine  Erhöhung  des  Eiweisszer- 
falles.  Die  einschlägigen  quantitativen  Verhältnisse  sind  trotz  zahlreicher  vor- 
liegender Stoff^^echseluntersuchungen  flii^  die  einzelnen  Infecte  kaum  bestimmt 
anzugeben,  stets  aber  ist  die  N  -  Ausscheidung  im  recenten  Fieber  erheblich 
grösser  als  bei  derselben  Person  im  gesunden  Zustande;  die  Steigerung  beträgt 
leicht  das  Doppelte  der  Norm.  In  der  späteren  Fieberzeit,  wenn  der  Organismus 
der  Inanition  verfallen  ist,  sinkt  der  N-Umsatz,  hält  sich  aber  oberhalb  der  Linie, 
welche  durch  die  Ernährung  gegeben  ist.  Der  Harnstickstoff  zeigt  bei  längerem 
Verlauf  einer  fieberhaften  Infectionskrankheit  gewöhnlich  bedeutende  Schwan- 
kungen. Bei  denjenigen  Infecten,  welche  kritisch  ablaufen,  stellt  sich  nachher 
eventuell  eine  auffallende  Steigerung  der  N-Excretion  ein  (epikritische  Harn- 
stoffausscheidung). Die  Gründe  hiefür  sind  unklar,  vielleicht  braucht  es  eine 
gewisse  Zeit,  bevor  die  der  Xecrobiose  verfallenen  Protoplasmaantheile  zur 
Excretion  geeignet  sind.  Die  Ursache  dieser  pathologischen  Steigerung  des 
Eiweisszerfalles  liegt  gewiss  nur  zum  geringsten  Theil  in  der  erhöhten  Körper- 
wärme selbst;  wahrscheinlich  ist  sie  zu  suchen  in  Protoplasmagiften,  welche 
durch  die  Invasion  der  pathogenen  Mikroorganismen  im  Körper  entstehen. 
Nach  dieser  Auffassung  ist  der  im  Fieberharn  vorfindliche  Stickstoff  theils 
solcher,  der  aus  toxigenem  Eiweisszerfall  hervorgeht,  theils  solcher,  welcher 
der  Art  der  Ernährung  entspricht.  Der  toxische  Eiweisszerfall  im  Fieber 
äussert  sich  anatomisch  in  den  verschiedenen  Degenerationsprocessen  in  Drüsen, 
Muskeln  u.  s.  w.  Die  gesammte  Stoffzersetzung  fiebernder  Menschen  ist  nur 
unwesentlich  grösser,  als  die  normaler  Individuen,  sie  ist  jedenfalls  kleiner 
als  die  des  Arbeiters.  Was  an  X-haltigen  Substanzen  mehr  zerstört  wird,  wird 
an  Fett  gespart.  Die  jüngste  Behauptung  von  May,  dass  der  Fiebernde  nur 
deswegen  mehr  X  umsetze,  weil  er  rascher  Kohlenhydrate  verbrauche,  bedarf 
noch  weiterer  Prüfung.  Dass  die  febrile  Consumption  eine  so  bedeutende  ist, 
muss  weniger  den  toxischen  Eiweissverlusten  zugeschrieben  werden,  als  vielmehr 
der  chronischen  Inanition.  Ein  halbwegs  zuverlässiges  Maass  für  die  Beur- 
theilung  der  Grösse  des  Calor  praeter  naturam  im  Fieber  gestatten  uns  die 
vorliegenden  Stoffwechseluntersuchungen  nicht ;  vom  Anbeginn  des  Fiebers 
muss  jedenfalls  mit  Wärmeretention  gerechnet  werden,  wie  schon  bei  Be- 
sprechung der  Wärmeverhältnisse  betont  wurde. 

3.  Die  Wasseraiisgabe  durch  Limgen  und  Haut  im  Fieber. 

Das  in  der  Ausathmungsluft  enthaltene  Wasser  ist  thatsächlich  vermehrt. 
Es  kann  dies  übrigens  mit  Piücksicht  auf  die  beschleunigte  Athmung  und  die 
erhöhte  Bluttemperatur  kaum  anders  sein.  Wenn  man  die  ganze  Gewichtsab- 
nahme des  Körpers  für  eine  gewisse  Zeit  auf  der  Waage  bestimmt  und  die 
Differenz  des  Gewichtes  zwischen  der  eingenommenen  Nahrung  und  den  Ex- 
creten  hinzufügt,  erhält  man  bekanntlich  quantitativ  die  Perspiratio  insensi- 
bilis.  Leyden  hat  gefunden,  dass  diese  insensiblen  Verluste  im  Verlauf  der 
Pneumonie,  des  Typhus  abd.  und  exanthematicus,  der  Meningitis  während  des 
Fastigium  selbst  auf  das  Doppelte  steigen  können.  Im  Wechseltieber  erhöht 
sich  während  des  Schweissstadiums  die  Ziffer  bisweilen  auf  das  Sechsfache.  Die 
Messungen,  welche  andere  Forscher  gemacht  haben,  sprechen  gleichfals  eher 
für  Steigerung  der  insensiblen  Ausgaben.  Hygrometrische  Bestimmungen  der 
Hautverdunstung  haben  übereinstimmende  Resultate  nicht  ergeben.  Man 
hat  früher  symptomatisch  grossen  Werth  darauf  gelegt,  ob  bei  bestimmten  In- 
fectionskrankheiten  die  Haut  ausschliesslich  mehr  feucht  oder  trocken  sei.  In 
Wirklichkeit  ist  jede  Generalisirung  unmöglich,  weil  bei  derselben  Krankheit 
die  Verhältnisse  verschieden  sein  können.  Von  einer  Proportionalität  zwischen 
Fiebertemperatur  und  insensibler  Perspiration  darf  man  keinesfalls  sprechen. 
Eine  wahre  Pietention  von  Wasser  im  Fieber,  wie  sie  von  Leyden,  Botkin 
u.  A.  angenommen  wurde,  ist  durchaus  nicht  ausreichend  begründet. 


FIEBER.  669 

4.  Fieber  imd  Verdaiiimgsorgane. 

Die  Speiclielsecretion  ist  herabgesetzt  (Trockenheit  des  Pharynx,  Durst.) 
Der  Speichel  kann  sauer  werden  und  weniger  Ptyalin  enthalten.  Die  Störungen 
von  Seite  des  Magens  sind  für  die  Ernährung  der  Fiebernden  deshalb  so 
wichtig,  weil  sie  die  Ursache  der  fehlenden  Esslust  sind.  Was  man  den 
Kranken  während  des  Fastigiums  einzuführen  im  Stande  ist,  deckt  weniger 
als  die  Hälfte  des  wirklichen  Bedarfes.  Die  Motilität  des  Magens  soll  in 
acuten  und  chronischen  Fiebern  wenig  leiden  ('?).  Die  Eesorptionsfähigkeit 
ist  herabgesetzt.  Die  Salzsäuresecretion  des  verdauuenden  fiebernden  Menschen 
ist  meist  vermindert.  Locker  gebundene  Salzsäure  findet  sich  im  verdauenden 
Fiebermagen  in  der  Regel  vor;  wohl  aber  fehlt  nicht  selten  die  mit  den  ge- 
wöhnlich gebrauchten  Farbstoffen  nachweisliche  „freie  Säure."  Es  verhalten 
sich  hier  jedenfalls  nicht  alle  Fieber  gleich;  insbesonders  die  pleotypischen, 
nachlassenden  und  dann  wieder  exacerbirenden,  wie  z.  B.  die  der  Tuberculose, 
lassen  oft  genug  die  Salzsäuresecretion  in  fast  normalem  Umfange  bestehen. 
Auffallend  wenig  beeinträchtigt  ist  die  letztere  in  gewissen  chronischen  febrilen 
Infecten,  selbst  wenn  sie  zu  Anämie  und  Deconstitution  geführt  haben,  ins- 
besonders in  der  ganz  chronischen  Lungenphthise.  Viele  Fiebernde  sind  constipirt 
infolge  träger  Peristole.  Die  Durchfälle  bei  febrilen  Infecten  sind  wahrschein- 
lich auf  Toxine  bestimmter  Art  zurückzuführen.  Obwohl  die  Leber  in  den 
Leichen  von  Fieberkranken  fast  immer  charakteristische  Veränderungen  dar- 
bietet, ist  eine  darauf  bezügliche  Stoffwechselanomalie  kaum  bekannt.  Von 
früherher  existirt  die  Annahme,  dass  die  Glycogenbildung  im  Fieber  herab- 
gesetzt sei;  doch  ist  dies  nach  der  jüngsten  einschlägigen  Arbeit  von  May 
(fiebernde  Kaninchen!)  wieder  zweifelhaft  geworden.  Die  harnstoßbildende 
Function  der  Leber  (?)  ist  jedenfalls  nicht  aufgehoben.  Die  stärkere  Ammon- 
ausscheidung  der  Fiebernden  ist  eine  Consequenz  der  Säurevergiftung  und 
beruht  nicht  auf  Insufficienz  der  Leberelemente.  Nach  Experimenten  könnte 
man  schliessen,  dass  beim  acuten  Fieberanfall  die  Gallensecretion  eher  abnimmt. 
Von  einigen  Beobachtern  wird  auch  die  viscide  Beschaffenheit  der  Galle  im  Fieber 
hervorgehoben.  Die  Ausnützung  der  Nahrung  im  Darme  ist  nach  Hösslin 
beim  Abdominaltyphus  nur  dann  hinsichtlich  des  Eiweiss  und  der  Fette  wesent- 
lich herabgesetzt,  wenn  profuse  Durchfälle  existiren.  Die  Fettresorption  ist 
etwas  stärkea'  beeinträchtigt.  Am  besten  scheinen  von  Fieberkranken  die 
Kohlenhydrate  resorbirt  zu  werden.  Der  Einfluss  des  Fiebers  auf  die  Aus- 
nützung der  Nahrungsstoff'e  ist  jedenfalls  kein  so  ganz  ungünstiger,  wie  die 
Praktiker  vielfach  anzunehmen  geneigt  sind.  Ob  die  Fäulnisprocesse  im 
Darme  und  damit  die  Ausscheidung  der  entsprechenden  aromatischen  Producte 
durch  den  Harn  im  Fieber  vermehrt  sind,  ist  noch  nicht  ausgemacht. 

5.  Fieber  und  Blut. 

In  rasch  ablaufenden  febrilen  Infecten  erhält  sich  wenigstens  sehr  oft 
die  Zahl  derrothen  Blutkörperchen  und  der  Hae  moglobingehalt 
des  Blutes  auf  annähernd  normaler  Höhe,  Ueber  Schwankungen  des  Plas- 
mavolums liegen  zuverlässige  Erfahrungen  nicht  vor.  Der  Trockenrückstand  pflegt 
wenigstens  nicht  auffallend  abzunehmen.  Die  Symptome,  welche  für  gesteigerten 
Haemoglol)inumsatz  im  Organismus  der  Fiebernden  sprechen  (der  hochgestellte 
Harn),  und  welche  die  Möglichkeit  einerseits  einer  Quellung  der  Gewebe, 
andererseits  einer  gegentheilig  erhöhten  Wasserabgabe  nahegelegt  haben 
(Austrocknung  der  Schleimhäute,  Verhalten  der  Secretionen  etc.),  sind  bisher 
nicht  genügend  aufgeklärt.  Nicht  einmal  der  Einfluss  reichlicher  Wasserzufuhr 
erscheint  ausreichend  festgestellt. 

Bei  länger  dauernden  und  chronischen  fieberhaften  Affectionen  sind  die  Ver- 
hältnisse sehr  complicirte;  es  gesellt  sich  der  Einfluss  der  Inanition,  der  eigent- 
lichen   dem  vorliegenden  Infect   eigenthümlicheu  Cachexie,    die   Folgen    von 


670  FIEBER. 

Gewebsdegenerationen  verschiedener  Art,  von  Blutverlusten  hinzu.  In  der  Kegel 
stellt  sich  secundäre  Anaemie  in  verschiedener  Intensität  ein.  Es  handelt  sich 
um  Blutverminderung  als  Ganzes  oder  um  Hydraemie.  Die  starke  Hydro- 
bilirubinausscheidung,  welche  insbesondere  bei  längere  Zeit  Fiebernden  präg- 
nant nachzuweisen  ist,  beweist,  dass  das  Haemoglobin  in  abnorm  grosser 
Menge  zerfällt.  Nach  der  Zerstörung  der  Erythrocyten  wird  der  Blutfarbstoff 
in  der  Leber  in  Gallenpigment  umgesetzt.  Vom  Darm  aus  nimmt  das  redu- 
cirte  Pigment  seinen  Weg  durch  die  Meren.  Ich  selbst  habe  im  Blutplasma 
von  Fieberkranken  Glycerinphosphorsäure  nachgewiesen  und  im  Harne  solcher 
Patienten  gepaarte  Phosphorsäure  gefunden.  Es  muss  dahingestellt  bleiben, 
ob  diese  Säure  blos  aus  rothen  und  nicht  auch  aus  (eventuell  gleichfalls 
stärker  zerfallenden)  weissen  Blutkörperchen  herstammt. 

Bei  vielen  febrilen  Infecten  erscheint  die  Zahl  der  Leucocyten  vermelirt, 
entzündliche  Leucocytose.  Die  diagnostische  und  prognostische  Bedeutung 
dieser  Form  der  Leucocytose  gehört  in  die  Abhandlungen  über  die  einzelnen 
einschlägigen  Infectionskrankheiten.  Die  prognostische  Bedeutung  ist  jeden- 
falls übertrieben  worden.  Ich  sah  Menschen  mit  Pneumonien  sterben,  trotz 
prompter,  und  genesen  trotz  säumender  und  fruster  Leucocytose.  Hier  sei  nur 
angeführt,  dass  die  beobachteten  Werthe  das  Doppelte  und  selbst  darüber 
(das  Sechsfache)  der  Norm  erreichen  können.  Eine  Intensitätsscala 
(fallend  geordnet)  möge  folgendermassen  zusammengestellt  w^erden:  Pneumonie, 
l'leuritis,  Sepsis,  Scharlach,  Bothlauf,  Anginen.  Bei  Typhus  soll  die  Zahl  der 
weissen  Blutkörperchen  sogar  absinken  können.  Masern,  Blattern  liefern  ge- 
ringe Erhöhung.  Bei  Malaria  sind  die  Verhältnisse  inconstant,  meist  erfolgt 
eine  Abnahme  der  Leucocyten  im  Cubmm.  Bei  den  chronischen  mit  Cachexie 
verbundenen  fieberhaften  Processen  ist  Leucocytose  wenigstens  häufig,  be- 
sonders bei  der  Sepsis,  nicht  so  constant  bei  der  Tuberculose.  Die  infectiöse 
Leucocytose  gilt  als  eine  sehr  uniforme  (polymorphkernige,  neutrophile  Leuco- 
cyten). In  Wirklichkeit  sind  aber  die  mononucleären  Leucocyten  gleichfalls 
vermehrt.  Die  Lymphocyten  erscheinen  nur  manchmal  etwas  reichlicher.  In 
den  meisten  fieberhaften  Krankheiten  (Pneumonie,  Typhus,  Sepsis,  Erysipel)  ist 
während  der  Dauer  der  febrilen  Intoxication  eine  Verminderung  der  oxyphilen 
Leucocyten  festgestellt.  Nach  Ablauf  des  Fiebers  kehren  dieselben  mehr  oder 
weniger  rasch  zurück.  Bei  Malaria,  im  Stadium  nach  Ablauf  der  eigentlichen 
Fieberanfälle  und  bei  den  acuten  Exanthemen  ergab  sich  dagegen  eine  Ver- 
mehrung der  eosinophilen  Zellen.  Bisweilen  lässt  sich  (Pneumonie,  Gelenk- 
rheumatismus, Tuberculininjection)  eine  postfebrile  Steigerung  der  Zahl  der 
oxyphilen  Zellen  constatiren.  Die  (eventuellen)  Beziehungen  der  febrilen 
Nucleoalbuminurie  und  Albumosurie  (Peptonurie)  zur  Leucocytose  sind  un- 
zureichend sichergestellt.  Dass  vor  Allem  die  mit  Leucocytose  einhergehen- 
den febrilen  Infecte  mit  Uricacidämie  und  vermehrter  Harnsäureausscheidung 
im  Harn  verbunden  sind,  ist  sehr  wahrscheinlich.  Grund  hiefür  sind  die  Be- 
ziehungen zwischen  Harnsäurebildung  und  Leucocytose  (vergl.  den  Artikel 
„Harnsäurediafhese") . 

Die  Alkalescenz  des  Blutes  ist  im  Fieber  herabgesetzt.  Der 
Kohlensäuregehalt  des  arteriellen  Blutes  fiebernd  gemachter  Thiere  und  des 
Venenblutes  fieberkranker  Menschen  sinkt  bis  unter  ein  Drittel  der  Norm,  ebenso 
nimmt  die  Säurecapacität  ab,  die  Acidität  dagegen  zu.  Dies  gilt  für  alle 
febrilen  Infecte,  bei  welchen  der  Gasaustausch  in  den  Lungen  nicht  gestört 
ist;  am  wenigsten  prägnant  ist  deshall)  die  Abweichung  bei  der  Pneumonie. 
Die  Säure-Intoxication  erreicht  niemals  annähernd  so  hohe  Werthe,  wie  bei 
Diabetes  mellitus. 

6.  Der  Harn  im  Fieber. 

Beim  Fieberanfalle  erscheint  im  Stadium  des  Frostes  das  Harn  qua  nt  um 
vergrössert,    die   Harnfarbe   blass,    das   specifische   Gewicht    relativ    niedrig. 


FIEBER.  671 

Während  der  Fieberakme  ist  die  Harnmenge  vermindert,  (aber  nicht  immer); 
Der  Harn  sedimentirt  stark  (Urate);  das  specifische  Gewicht  ist  hoch.  In  der 
Krise  kann  die  Harnmenge  reichlich,  aber  auch  spärlich  sein.  Beim  expe- 
rimentell erzeugten  Fieber  (Hund)  ist  von  einem  ganz  kurzen  Anfangstadium 
abgesehen  reichliche  Harnausscheidung  die  Regel.  Bei  den  typischen  Fiebern- 
der acuten  Infecte  ist  die  Harnmenge  bis  zum.  Schlüsse  meist  geringer;  es 
wird  weniger  als  die  Hälfte  des  getrunkenen  Wassers  im  Harne  ausgeschieden. 
Der  Grund  für  die  geringere  Diurese  sind  anderweitige  Wasserverluste.  Hy- 
drämisch  wird  der  Körper  nur  bei  Coraplication  von  Seite  der  Nieren  oder 
bei  Herzschwäche.  Trinkt  ein  Fiebernder  viel,  so  scheidet  er  auch  ziemlich  viel 
Harn  aus  und  derselbe  verliert  die  hochgestellte  Farbe,  sowie  das  rostfarbene 
Sediment.  Nach  Ablauf  der  ursächlichen  Erkrankung  kommt  es  (inconstant)  zu 
einer  kritischen  Polyurie.  Hat  das  Fieber  länger  gedauert,  so  beobachtet  man 
nicht  selten  eine  solche  schon  im  Stadium  decrementi.  Bei  chronischen  Fie- 
bern ist  ein  Eintluss  auf  die  Harnmenge  oft  gar  nicht  ersichtlich.  Bekannt 
ist  die  Neigung  der  Tuberculosen  zu  Polyurie  ja  selbst  zum  ausgeprägten 
Diabetes  insipidus.  Die  Ausscheidung  des  Chlor  ist  in  acuten  fieberhaften 
Krankheiten  vermindert.  Am  ausgesprochensten  scheint  dies  der  Fall  zu  sein 
bei  der  Pneumonie.  Die  Ursache  hievon  ist  nicht  sicher  bekannt.  Die  ver- 
minderte Ausscheidung  hält  in  länger  dauernden  Fiebern  nicht  an.  Die 
Kalisalze  pflegen  im  Fieberharne  vermehrt  zu  sein.  Hinsichtlich  der  Phosphor- 
säure steht  gleichfalls  fest,  dass  dieselbe  u.  zw.  als  Phosphat  in  der  Akme 
fieberhafter  Krankheiten  vermindert  ausgeschieden  wird.  Auffallend  ist  es 
auch,  dass  speciell  in  gewissen  Stadien  des  Schüttelfrostes  die  Phosphate  im 
Harn  vorübergehend  fast  verschwinden.  Ein  solcher  Harn  ist  nicht  einfach 
ärmer  an  festen  Bestandtheilen,  reagirt  auch  gewöhnlich  deutlich  sauer.  Im 
nächsten  Fieberstadium  kommen  dann  schon  die  Phosphate  im  Harne  wieder 
zum  Vorschein.  Wichtig  ist  es  auch,  dass  die  Phosphatausscheidung  insbeson- 
dere hinter  der  Stickstoffausfuhr  zurückbleibt.  Die  Sulfate  steigen  und  fallen 
mit  dem  Stickstoffumsatz.  Nach  Salkow^ski  wird  bei  manchen  Infections- 
krankheiten  (Pneumonie)  verhältnismässig  viel  neutraler  Schwefel  ausge- 
schieden. 

Die  Daten  über  den  gesammten  Stickstoffumsatz  im  Fieber  suche  man 
weiter  oben.  Die  Relation  des  Harnstoffes  zu  den  übrigen  stickstoöliältigen 
Harnexcreten  ändert  sich  im  Fieber  nur  wenig.  Nur  Ammoniak  wird  im 
Fieber  relativ  reichlich  ausgeschieden;  Ursache  ist  die  Säure  Vergiftung.  Die 
Extractivstoffe  verhalten  sich  nicht  bei  allen  Infectionskrankheiten  gleich;  eine 
Vermehrung  wird  für  Pneumonie  angegeben.  Bei  den  fieberhaften  Aftectionen, 
welche  mit  Leucocytose  einhergehen,  ist  die  Harnsäureexcretion  vermehrt. 
Bei  der  Pneumonie  erfolgt  diese  Vermehrung  besonders  gegen  die  Krise  zu. 
Das  Sedimentum  lateritium,  welches  man  so  oft  im  Fieber  findet,  beweist 
natürlich  nicht  gesteigerte  Uratausscheidung,  sondern  hängt  ebenso  mit  der 
Excretion  der  Phosphate  und  mit  der  Harnmenge  zusammen.  Eine  kurze 
Erwähnung  verdienen  diejenigen  stickstoffhaltigen  Körper  im  Fieberharne, 
welche  die  EHELicn'sche  Diazoreaction  geben  (Rothfärbung  bei  Behandlung 
mit  Sulfanilsäure,  salpetrigsaurem  Natrium  und  Ammoniak).  Die  Reaction 
wird  unzweifelhaft  auch  bei  fieberlosen  Kranken  gefunden.  Unter  den  fieber- 
haften Aftectionen  findet  man  sie  am  häufigsten  bei  Typhus  und  acuter  Tuber- 
€ulose,  nicht  so  oft  bei  anderen  Infectionskrankheiten.  Ob  dieser  Reaction 
irgend  welche  differentielldiagnostische,  und  welche  physiologische  Bedeutung 
zukommt,  ist  nicht  ausgemacht.  Die  Natur  der  Körper,  welche  die  Reac- 
tion veranlassen,  ist  unbekannt  (Spaltungsproducte  des  Eiweiss).  Als  Aus- 
druck der  im  Fieber  bestehenden  Säureintoxication  enthält  der  Fiel)erharn  sehr 
häufig  Aceton  und  Acetylessig säure ^  aber  auch  nicht  so  selten  Oxybuttersäure. 
Was  speciell  die  letztere  anlangt,  so  hat  sie  Referent  auch  noch  nach  Fieber- 


672  FIEBER. 

abfallen  einige  Zeit  im  Harne  von  Typhuspatienten  gesehen,  die  sich  be- 
reits ganz  wohl  befanden.  Ein  Parallelismus  der  Acetonausscheidung  mit  der 
Fiebercm've,  wie  y.  Jaksch  es  geglaubt  hatte  annehmen  zu  sollen,  besteht 
gewiss  nicht,  geht  ja  doch  die  Intensität  der  Säureintoxication  überhaupt  nicht 
.parallel  mit  der  Temperaturhöhe  und  ist  ja  diese  Intoxication  absolut  ge- 
nommen ein  zuverlässigerer  Maassstab  der  Intensität  des  febrilen  Infectes  als 
die  freilich  viel  sinnenfälligere  und  mit  einfachen  Mitteln  zu  verfolgende 
Temperaturcurve.  Flüchtige  Fettsäuren  sind  wiederholt  im  Fieberharn  ge- 
funden worden.  Besonders  reichlich  bei  Pneumonie.  Diese  Säuren  stammen 
wahrscheinlich  aus  dem  Darme.  Milchsäure  ist  gelegentlich  im  Fieberharne 
gefunden  worden.  Die  febrile  Albuminurie  gehört  ebenso  wie  die  Temperatur- 
steigerung zu  den  Theilwirkungen  der  Infekte.  Albumosurie  (Peptonurie) 
kommt  in  solchen  febrilen  Processen  vor,  bei  denen  reichlich  Trümmer  abster- 
bender Zellen,  insbesondere  das  Material  zerfallender  Leucocyten  in  die  Säfte- 
masse gelangt.  Xucleoalbuminurie  ist  gleichfalls  ein  nicht  seltenes  Vorkomm- 
nis. Ueber  das  Auftreten  von  Bakterientoxinen  im  Harne  verlautet  bisher 
wenig.  Die  öfter  gefundenen  Diamine  können  nur  wenig  Bedeutung  bean- 
spruchen. Wichtig  ist  der  Befund  Beieger"s  bei  Erysipel  (Toxcdoumine).  Nach 
französischen  Autoren  steigt  die  Harngiftigkeit  in  der  Krise;  in  der  Fieber- 
akme  sei  sie  herabgesetzt. 

7.  Fieber  und  Nerveusvstem. 

Das  Bewusstsein  ist  bei  leichteren  Graden  des  Fiebers  ungestört  und  es 
finden  sich  dann  blos  Unruhe  und  Aengstlichkeit,  Unmöglichkeit  zu  denken, 
Gefühl  von  schwerem,  eingenommenen  Kopf,  Wehleidigkeit  insbesondere  gegen 
Sinneseindrücke,  gestörter  Schlaf,  Gefühl  von  Zerschlagensein  in  den  unteren 
Extremitäten,  Wadenschmerz,  Empfindung  von  Prostration,  Willenlosigkeit. 
Bei  höheren  Fiebergraden  Apathie,  Unbesinnlichkeit,  lallendes  Sprechen;  Yer- 
gesslichkeit,  bei  Einnahme  der  aufrechten  Körperhaltung  Ohnmachtsanwand- 
lungen, vor  dem  Einschlafen  Delirien,  Incoordination.  Im  hohen  Fieber  Sopor 
bis  Coma,  ruhige  oder  wilde  Delirien,  starke  Afiecte,  Versuch  das  Bett  zu 
verlassen.  Sehnenhüpfen,  clonische  Zuckungen,  allgemeine  Krämpfe,  Erschlaf- 
fung der  Muskeln,  herabgesetzte  Pieflexe,  verfallene  Gesichtszüge,  Sedes  in 
voluntariae.  Härmtet ention  oder  -incontinenz  u.  s.  w.,  u.  s.  w.  Man  kann  nicht 
sagen,  dass  eine  bestimmte  Temperaturhöhe  immer  die  gleichen  nervösen 
Symptome  hervorruft,  sehr  wesentlich  spielt  hier  die  specifische  Fieberursache 
mit.  Bekannt  ist  das  Gefühl  der  Vernichtung  und  ungeheuren  Prostration 
der  Septischen,  welches  einen  grellen  Gegensatz  bildet  zu  dem  relativen  sub- 
jectiven  Wohlbefinden  der  Typhösen  in  bestimmten  Stadien.  Besonders  wich- 
tige nervöse  Symptome  beziehen  sich  auf  das  Gefässsystem  und  die  vasomo- 
torischen Nerven. 

8.  Fieber  iind  Cü^ciüatioiisapparat. 

Das  in  die  Augen  springendste  Symptom  ist  die  Beschleunigung  der  Puls- 
frequenz auf  der  Fieberhöhe.  Diese  Frequenzsteigerung  geht  einher  sowohl 
mit  lel)hafter  Herzthätigkeit  und  mit  stark  klopfenden  Pulsen  (Frühstadium 
febriler  Infekte),  als  mit  schwachen  Herzschlägen,  kleinem  Pulse  (späteres  ..asthe- 
nisches" Stadium).  Ceteris  paribus  wird  die  Pulsfrequenz  umso  grösser,  je  höher 
sich  die  Körpertemperatur  erhebt.  Liebermelster  hat  eine  Tabelle  aufgestellt, 
welche  für  die  einzelnen  febrilen  Temperatm-en  Maximum  und  Minimum  der 
dazu  gehörigen  Pulszahlen  angibt.  Diese  Tabelle  beansprucht  aber  nicht 
zu  grossen  Werth;  denn  die  Frequenz  hängt,  von  der  Temperaturhöhe  abge- 
sehen, auch  noch  von  der  ätiologisch  verschiedenen  Natur  der  Infecte,  von 
der  Schwere  der  febrilen  Intoxication,  der  Anämie,  Inanition  u.  s.  w.  ab. 
Am    auffallendsten    ist    der    Einfluss,     den    der    A])dominaltyphus    im    Be- 


FIEBER.  673 

ginne  seines  Verlaufes  und  bisweilen  auch  die  Variola  auf  die  Pulsfrequenz 
äussert.  Trotz  Temperaturen  zwischen  39  und  40<^  stellt  sich  der  Puls  relativ 
verlangsamt  dar,  seine  Zahl  beträgt  nämlich  nicht  selten  unter  90.  Aus  der 
absoluten  Pulsfrequenz  prognostische  Schlüsse  zu  ziehen,  ist  jedenfalls  eine 
schwierige  Sache.  Kinder  und  weibliche  Individuen  vertragen  selbst  Puls- 
frequenzen bis  140  tagelang  nicht  selten  leidlich  gut.  Es  ist  immer  noth- 
wendig,  hier  ganz  specielle  Momente  gehörig  mit  in  Betracht  zu  ziehen: 
Anämie,  Alkoholismus,  Senium. 

Im  Fieberfroste  sind  die  kleinen  Hautarterien  zusammengezogen,  die 
Venen  dagegen  besser  gefüllt.  Es  kommt  zu  Blässe  und  Cyanose.  In  der 
Fieberhitze  sind  die  Hautaiterien  im  allgemeinen  weiter,  die  Capillaren  besser 
gefüllt  und  infolge  dessen  ist  die  Haut  an  der  Oberfläche  turgescirend.  Die 
Röthung  nimmt  aber  immer  leicht  lividen  Charakter  an,  insbesondere  an  den 
abhängigen  Theilen  (Wange,  auf  welcher  der  Kranke  liegt).  Nicht  selten 
stellen  sich  an  einzelnen  Körpertheilen  ganz  umschriebene  Ektasien  der  Haut- 
gefässe  ein,  fast  immer  ein  Zeichen  schwerer  Infection.  Der  ßadial-  und  der 
Carotispuls  auf  der  Fieberhöhe  sind  gross,  pseudoceler,  weich.  In  den  späteren 
Zeiten,  wo  die  Herzkraft  nachlässt,  ist  der  Puls  gewöhnlich  kleiner,  unter  der 
Norm  gespannt,  dikrot  oder  überdikrot.  Ausgeprägte  Dikrotie  findet  sich  aber 
auch  schon  in  jenen  Stadien  fieberhafter  Krankheiten,  wo  das  Herz  anscheinend 
kräftig  schlägt.  Auffällig  ist  insbesonders  in  späteren  Stadien  der  Umstand, 
das  psychische  Erregungen,  körperliche  Anstrengungen,  Lagewechsel,  Aenderung 
der  äusseren  Temperatur  u.  s.  w.  einen  viel  grösseren  Einfluss  auf  die  Puls- 
beschaffenheit üben  als  im  gesunden  Zustande.  Sehr  schön  lässt  sich  die 
Aenderung  der  Pulsbeschaffenheit  in  einem  Malaria-Fieberanfalle  studiren. 
Vor  dem  Anfalle  normaler,  katadikroter  Puls.  Auf  der  Fieberhöhe  bei  41^  der 
Puls  überdikrot,  anadikrot  oder  monokrot.  Im  Schweissstadium  wie  vor  dem 
Fieberanfalle.  Die  Geräusche,  welche  während  des  Fiebers  am  Herzen  sich 
einstellen,  eventuell  nachweisliche  Ausdehnung  des  Herzens  infolge  Elastici- 
tätsverlust  desselben  u.  s.  w.  haben  wenig  diagnostischen  Werth.  Die  Herz- 
schwäche markirt  sich  im  Fiebercollaps  nicht  anders  als  unter  anderen  ursäch- 
lichen  Bedingungen. 

Für  das  Verständnis  des  Wärmehaushaltes  im  Fieber  kommen  einige 
Thatsachen  in  Betracht,  welche  der  experimentellen  Physiologie  und  Pathologie 
entnommen  sind.  Bekannt  ist  zunächst  auch  beim  Menschen  der  infolge 
wechselnder  Aussentemperatur  eintretende  Wechsel  im  Tonus  der  oberfläch- 
lichen Gefässe.  Niedere  Temperatur  verursacht  eine  Contraction  der  kleinen 
Hautarterien;  die  Haut  wird  blass,  man  sieht  durch  die  Cutis  die  Venen 
schimmern.  Das  Gesicht  sieht  etwas  eingefallen,  livid  aus.  Die  Weich- 
theile  haben  einen  geringeren  Turgor.  Ob  der  gesammte  Blutdruck  unter 
diesen  Verhältnissen  sich  ändert,  ist  nicht  bestimmt  zu  sagen.  Die  vor- 
liegenden Versuche  sind  bloss  mit  dem  v.  BAScn'schen  Sphygmomanometer 
angestellt.  Dass  starke  Hautabkühlung  sehr  intensive  Gefässreflexe  herbei- 
führt, beweist  die  von  Grawitz  und  Anderen  gefundene  consecutive  Lymph- 
bewegung auch  beim  Menschen  genügend.  Die  Veränderungen  der  Haut- 
gefässe  im  Froststadium  des  Fieberanfalles  sind  nun  anscheinend  ähnliche. 
Der  Radialispuls,  welcher  unter  diesen  Verhältnissen  etwas  verlangsamt  sein 
kann,  zeigt  sich  im  Sphygmogramm  als  klein;  die  Dikrotie  wenig  ausgesprochen. 
Bei  erhöhter  Aussentemperatur  wird  der  Puls  frequent,  gross,  dikrot;  die  Haut 
wird  roth  und  schwitzt  leicht.  Man  ist  gewöhnlich  geneigt,  die  Dikrotie  und 
Ueberdikrotie  zu  beziehen  auf  geringere  Gefässspannung.  Ganz  einwandfrei 
ist  diese  Annahme  nicht.  Die  Messungen,  welche  mit  dem  v.  BASCii'schen 
Sphygmomanometer  bei  fiebernden  Menschen  vorgenommen  wurden,  um  den 
Blutdruck  zu  bestimmen,  haben  bisher  einander  direct  widersprechende  Re- 
sultate ergeben,  theils  Druckerhöhung  bei  steigender  Körpertemperatur,  theils 

Bibl.  med.  Wissenschaften.    I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  ^ 


674  FIEBER. 

ein  Absinken  des  Druckes,  allerdings  vorwiegend  während  des  Fieberablaufes. 
Eine  zuverlässige  Kenntnis  des  Gesammtblutdruckes  von  Fieberki^anken  besitzen 
wir  dermalen  nicht.  Bei  Thieren,  welchen  Fieber  durch  Eiterinjection  er- 
zeugt w^urde,  fand  sich  der  in  der  Carotis  gemessene  Blutdruck  innerhalb  nor- 
maler Grenzen.  Im  Fieber  müssen  ganz  eigenthümliche  Aenderungen  des  Ge- 
fässtonus  platzgreifen.  Insbesonders  müssen  Unterschiede,  welche  im  Tonus  der 
Hauptprovinzen  des  Gefässystems  gewöhnlich  bestehen,  theilweise  aufgehoben 
sein,  oder  doch  sich  verschieden  verhalten.  Dies  wird  bewiesen  durch  be- 
rühmte einschlägige  Versuche  Heidenhain's.  Reizt  man  die  vasomotorischen 
Bahnen  von  der  Medulla  ablongata  her,  so  wird  die  Temperatur  im  Körper- 
inneren (verschiedenste  central  gelegene  Gefässe)  niedriger.  Es  kommt 
nämlich  zu  einer  Beschleunigung  des  Blutumlaufes  und  infolge  dessen  ist  die 
Abkühlung  an  der  Peripherie  stärker.  Dieses  Experiment  nun  gelingt  am 
fiebernd  gemachten  Thiere  nicht.  Es  ist  also  auf  der  Fieberhöhe,  was  auch  früher 
immer  angenommen  worden  war,  der  Unterschied  in  der  Temperatur  der  cen- 
tralen und  der  äusseren  Körpertheile  aufgehoben.  Das  Blut  kühlt  sich  an 
der  Peripherie,  weil  kein  Unterschied  mehr  besteht,  bei  jenen  Experimenten 
nicht  mehr  so  ab  wie  in  der  Norm.  Dass  der  Blutumlauf  im  Fieber  ver- 
langsamt ist,  machen  zahlreiche  ältere  und  neuere  Thierversuche  wahrscheinlich. 
Bedeutsam  für  die  Fieberlehre  ist  auch  die  von  Maeagliai^o  auf  Grund 
von  Untersuchungen  mit  dem  Mosso'schen  Plethj^smographen  behauptete  Mo- 
dification  der  Hautcirculation.  Fieberhafte  Temperatursteigerung  ])ewirke  eine 
progressive  Contraction  der  Hautgefässe,  welche  so  lange  fortbestehen  soll,  als 
die  Temperatur  erhöht  bleibt.  Im  Fieberabfalle  wechsele  damit  eine  fort- 
schreitende Erweiterung  der  Gefässe  ab.  Es  stimmen  diese  Versuche  zu  Be- 
obachtungen über  Veränderung  der  Gefässweite,  welche  früher  schon  Sexatoe 
direct  am  fiebernden  Thiere  (Ohrgefässe)  gemacht  hatte. 

9.  Fieber  und  Athemmechaiiismiis. 

Die  Zahl  der  Athemzüge  ist  im  Fieber  fast  immer  gesteigert:  wenn  eine 
locale  Erkrankung  der  Lunge  vorliegt,  macht  sich  die  Steigerung  der  Athem- 
frequenz  ganz  besonders  geltend.  Ferner  ist  diese  Steigerung  bei  Kindern 
auffallend  hoch;  die  nervöse  Constitution  hat  gleichfalls  einen  gewissen  Einfluss 
auf  die  Steigerung  der  Athemfrequenz.  Die  vermehrte  Ptespirationsfrequenz 
ist  jedenfalls  auch  nur  eine  Folge  der  veränderten  Erregbarkeit  des  Xerven- 
systems. 

10.  Die  aetiologisclie  Richtimg  üi  der  Fieberlehre. 

Man  hat  früher  viel  gesprochen  von  der  febris  simplex  (Volkmann's 
aseptisches  Fieber)  und  diese  Fieberform  einer  zweiten,  dem  Infectionsfieber 
(febris  mixta,  complicata)  gegenül)ergestellt.  Das  Characteristische  dieses  in- 
sonten  Fiebers  sollte  darin  bestehen,  dass  die  Temperaturerhöhung  fast  das 
ausschliessliche  Symptom  bilde.  Man  hat  es  beobachtet  bei  subcutanen  Ver- 
letzungen. Die  Dauer  desselben  beträgt  bis  1  oder  selbst  2  Wochen,  die  Tem- 
peratur kann  40'  C  erreichen.  Da  jedoch  Hitzegefühl,  Wärmedyspnoe,  Puls- 
beschleunigung sich  auch  hier  in  gewissem  Umfang  einzustellen  ptiegen,  die 
Harnstofi'menge  im  Harn  zunimmt,  besteht  kein  ausreichender  Grund,  auf  die 
angeführte  Unterscheidung  noch  Rücksicht  zu  nehmen.  Die  Hyperthermien 
bei  gewissen  Coliken,  beim  Catheterismus  gehören  vielleicht  theilweise  in 
andere  Gebiete;  sie  sind  wohl  zumeist  rein  vasomotorische  Phaenomene. 

In  welcher  Weise  dieinfectiansstoffe  Fieber  hervorbringen,  ist  noch 
ungenügend  aufgeklärt.  Dass  der  Infect  das  eigentlich  Bedingende  ist,  beweist 
der  Decursus.  Das  Fieber  geht  der  Localkrankheit  voran,  hört  vor  der  Rück- 
bildung derselben  auf;  es  besteht  insbesondere  volle  Unabhängigkeit  von  den 
Entzündungsprocessen,  man  halte  sich  nur  das  prägnante  Beispiel  der  Pneu- 
monie vor  Augen.    Wenn  man  bisweilen  noch  von  einem  unabhängigen  „Ent- 


FIEBER.  675 

zündungsfieber"  spricht  und  sich  dabei  eine  Resorption  von  Detritus  (Histo- 
zyme?)  aus  den  verletzten  oder  aseptisch  entzündeten  Geweben  denkt,  so  hat 
dies,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  nicht  viel  auf  sich.  Denn  bei  den  von 
pathogenen  Mikroorganismen  erzeugten  Fiebern  kann  man  ja  auch  nur  ent- 
weder auf  die  geweblichen  Trümmer  des  inficirten  Organismus,  (besonders 
auf  Histozyme,  Fibrinferment),  oder  auf  directe  Wirkung  der  Bacterien- 
gifte  recurriren.  Die  französische  physiologische  Schule  hat  bereits  mit  Erfolg 
begonnen,  die  speciellen  vasomotorischen  Wirkungen  einzelner  bacterieller 
Toxine  genauer  zu  studiren.  Die  weittragenden  Hoffnungen,  welche  man  in 
jüngster  Zeit  in  der  Lehre  von  der  Fieberaetiologie  auf  die  Fermente  gesetzt 
hat,  scheinen  trügerische  zu  sein.  Was  insbesondere  das  Fibrinferment  an- 
belangt, so  fehlt  nach  der  einschlägigen  Arbeit  Hammerschlag's  jede  Mög- 
lichkeit einer  Begründung  der  Fiebergenese  auf  das  constante  Vorkommen  des 
selben  im  Blute.  Dass  eine  ganze  Anzahl  von  Fermenten,  (das  ScHMiEDEBERG'sche 
Histozym,  das  Pepsin,  Pancreatin,  ein  aus  Hefe  darstellbares  Pyretogenin 
(höchstwahrscheinlich  Invertin),  Diastase,  Labferment,  Emulsin,  Myrosin  u.  a. 
Temperatursteigerung  bewirken,  darf  wohl  für  alle  erwähnten  einzelnen  Sub- 
stanzen auf  das  gleiche  Moment  bezogen  werden,  nämlich  auf  die  all  diesen 
Giften  gemeinsame  Laesion  der  Blutkörperchen.  Nicht  bloss  die  Fermente, 
alle  sonstigen  Gifte,  welche  Hämoglobinurie  hervorrufen,  vermögen  auch  Fieber 
zu  erzeugen.  Aber  keinesfalls  sind  wir  vorläufig  berechtigt,  einen  einzigen 
chemisch  charakterisirbaren  oder  auch  nur  hypothetischen  Körper  als  Materia 
causalis  anzuklagen.  Der  Erforschung  der  bacteritischen  Toxalbumine  und  der 
Infectionsstoffe  gehört  die  Zukunft.  Und  eine  Einschränkung  des  Fieber- 
begrifies,  vielmehr  eine  Auseinandergliederung  desselben  zu  Gunsten  der  Be- 
griffe der  Einzelinfecte  scheint  unausweichlich. 

Dass  die  aetiologische  Pachtung  in  der  Fieberlehre  auch  der  Therapie 
der  Infectionskrankheiten  überhaupt  und  der  Frage  der  sogenannten  Heilwirkung 
des  Fiebers  nahezukommen  trachtet,  gehört  in  das  Capitel  „Antipyrese." . 

11.  Die  semiotische  Bedeutung  der  Temperaturverhältiiisse  im  Fieber. 

Die  Achselhöhlentemperatur  des  Gesunden  bewegt  sich  innerhalb 
enger  Grenzen;  36*2°  und  37*5°  C  dürften  dieselben  bezeichnen.  Werden  bei 
angeblich  Gesunden  Werthe  angetroffen,  welche  unter,  bezw.  über  diesen 
Zahlen  liegen,  so  erweckt  dies  begründeten  Verdacht  für  das  Vorhandensein 
einer  Krankheit.  Rectum  und  Vagina  sind  ungefähr  um  einen  halben  Grad 
wärmer.  Während  zwischen  beiden  Geschlechtern  in  gleichem  Alter  ein  Tem- 
peraturunterschied nicht  zu  bestehen  scheint,  ergibt  sich  ein  solcher  zwischen 
Personen  verschiedener  Lebensstufen. 

Der  Neugeborne  zeigt  durchschnittlich  eine  Temperatur  von  37*75''  C. 
(im  After  gemessen).  Dieselbe  sinkt  nach  dem  ersten  Bade  auf  etwa  37", 
erreicht  aber  in  den  nächsten  Tagen  wieder  eine  Höhe  von  37-2"  —  37-6°, 
welchen  Stand  sie  bis  zur  Pubertät  behält.  Um  diese  Zeit  stellt  sie  sich 
etwa  um  0'2 — 0*4''  niedriger  und  diese  Höhe  hält  sie  dann  beim  Erwachsenen 
fest.  Vom  60.  Jahre  ab  beginnt  eine  weitere  Erhebung  des  Temperatui'- 
mittels,  der  Greis  zeigt  wieder  die  höheren  Werthe  des  Kindesalters. 

Die  Temperatur  eines  und  desselben  Individuums  weist  T  ages Schwan- 
kungen auf,  welche  sich  in  der  Breite  eines  Grades  bewegen;  dabei  fällt  das 
Minimum  auf  die  Nacht-  oder  frühen  Morgenstunden,  das  Maximum  auf  den 
Nachmittag;  die  Tagescurve  kann  ein-  oder  zweigipflig  sein.  Die  Tages- 
schwankungen finden  sich  auch  bei  Nahrungsentziehung  und  in  Bettruhe, 
können  also  nicht  auf  den  Einflüssen  von  Nahrung  und  Muskel- Ai'beit  allein 
fussen.  Es  liegen  allerdings  Beobachtungen  vor,  dass  bei  Nachtarbeitern  die 
Curve  sich  umkehrt,  die  Maxima  auf  die  Nacht-,  die  Minima  auf  die  Tages- 
stunden fallen.    Der  Eintritt   der  Menses   kann,    auch  bei  Abwesenheit   von 

43* 


676  FIEBER. 

pathologischen  Vorgängen  eine  Erhöhung  der  Körperwärme  mn  bis  P  hervor- 
rufen. Ueber  die  Schwangerschaft  lässt  sich  sagen,  dass  eine  geringe  Erhöhung 
der  Temperatur  in  der  Scheide  in  den  letzten  Monaten  häufig  gefunden  wurde. 
Während  der  Wehen  steigt  die  Temperatur  des  Weibes  in  vielen  Fällen,  auch 
ohne  geschehene  Infection  und  beträgt  gleich  nach  der  Geburt  etwa  37'6°. 
Fallen  die  ersten  Stunden  des  Wochenbettes  mit  der  natürlichen  täglichen 
Temperaturerhöhung  zusammen,  so  findet  selbst  noch  ein  weiteres  Ansteigen 
in  den  ersten  12  Stunden  bis  über  38"  statt.  Der  weitere  Verlauf  des  Puer- 
periums ist  normaler  Weise  ganz  afebril;  der  frühere  Begriff  ..Milchfieber"  ist 
heutzutage  aufgegeben.  Die  theoretisch  vorauszusetzende  Steigerung  der 
Eigenwärme  durch  Muskelthätigkeit  wird  nicht  selten  ganz  vermisst  und  in 
der  Eegel  nur  äusserst  geringfügig  gefunden;  es  kommt  eben  unter  solchen 
Umständen  auch  zu  vermehrter  Wärmeabgabe  (Schweissbildung  und  Verdun- 
stung, Erweiterung  der  Hautgefässe).  Ein  Einfluss  des  Schlafes  auf  die 
Körperwärme  ist  beim  Erwachsenen  nicht  zu  erweisen.  Die  Einwirkung  von 
kalten  Aussentemperatm'en  (Bad,  Luft)  auf  die  Temperatur  der  Achselhöhle 
ist  eine  verschiedene;  bei  massiger  kurzdauernder  Kältewirkung  steigt  die 
Quecksilbersäule  öfter  um  ein  Geringes  (Wärmestauung,  üebercompensation 
durch  die  regulu^enden  Factoren!),  bei  länger  fortgesetzter  dagegen  sinkt 
sie.  Durch  reichliche  Einfuhr  kalten  Wassers  in  den  Magen  kann  eine  Tem- 
peraturabnahme (bis  r4°)  erzielt  werden.  Die  temperaturerhöhende  Wirkung 
warmer  Luft  (im  Sommer,  in  den  Tropen),  sowie  die  warmer  Bäder  ist  nicht 
ausgemacht,  jedenfalls  relativ  geringfügig.  Wenn  aber  die  L'mgebungstempe- 
ratur  (wesentlich)  die  Bluttemperatur  übersteigt,  die  Atmosphäre  mit  Wasser- 
dampf gesättigt  ist,  und  noch  andere  wärmebildende  Momente,  z.  B.  Muskel- 
anstrengung hinzukommt,  können  Temperatursteigerungen  bis  über  40°  die 
Folge  sein.  Nahrungsaufnahme  bringt  eine  leichte  und  ganz  vorübergehende 
Temperatursteigerung  hervor.  Dass  sell)st  mehrtägiges  Hungern  auf  die 
TemperatiuTurve  ohne  Einfluss  bleibt,  hat  der  bekannte  Hungerversuch  Cetti's 
gezeigt. 

Die  quantitativen  Abweichungen  der  Körpertemperatur  von  der  Xorm 
in  Krankheiten  sind  sehr  erhebliche.  Die  höchste  bis  jetzt  beschriebene 
Temperatur  ist  50'^  C  (in  axilla)  bei  einer  Frau  mit  „Commotio  medullae 
spinalis."  (?)  Wunderlich  gibt  als  obere  Grenze  44*7.5''  an.  Doch  sind  schon 
Temperaturen  von  42* 5°  und  darüber  Seltenheiten.  Unbedingt  tödtlich  sind 
derartige  Steigerungen  der  Körperwärme  nicht;  Genesung  trat  in  einem 
Falle  von  Insolation  noch  nach  42-8  C  ein.  Man  pflegt,  ohne  dass  diese  Ein- 
theilung  einen  besonderen  Werth  beanspruchte,  die  Fiebertemperaturen  zu 
scheiden  in  sub febrile  bis  38*5'^,  in  leicht  febrile  bis  39*^,  in  febrile  bis  40°, 
in  hochfebrile  bis  41";  die  darüber  gelegenen  heissen  hyperpyretische  Tem- 
peraturen. Die  Grenze  der  mit  dem  Leben  vereinbarlichen  Körpertemperatm' 
nach  unten  reicht  weiter,  als  die  nach  oben.  Man  sah  die  Temperatur  bis  auf 
24"  (im  After  gemessen)  sinken  und  darnach  Ptestitutio  eintreten.  Der  nie- 
drigste bis  jetzt  beobachtete  Werth  dürfte  22' 5''  sein;  es  handelte  sich  um 
einen  Paralytiker  im  Endstadium.  Wie  beim  Gesunden,  so  stellt  auch  beim 
Kranken  die  Temperaturcurve  eines  Tages  nicht  eine  horizontale  Linie  dar, 
sondern  eine  Welle  mit  Erhebung  und  Senkung.  Die  Differenz  der  Ordinaten 
für  den  Gipfel  der  Curve  (das  Tagesmaximum)  und  für  das  Thal  (das  Tages- 
minimumj  heisst  die  Tagesdifferenz,  die  mittlere  Tagestemperatur  stellt  das 
arithmetische  Mittel  zwischen  diesen  beiden  Grössen  dar.  Man  spricht  von 
Ascension  (Erhebung)  der  Curve,  von  Descension  (Senkung)  derselben.  Exacer- 
bation heisst  die  Erhebung  über  das  Tagesmittel,  Remission  die  Senkung 
unter  dasselbe.  Solche  Exacerbationen  und  Remissionen  bestehen  meisten- 
theils  nur  je  eine  innerhall)  24  Stunden;  doch  gibt  es  auch  duplicirte  und  trip- 
licirte  Tagesexacerbationen   und  demgemäss   2  und  3   gipflige  febrile  Tages- 


FIEBER.  677 

curven.  Gross  ist  die  Verschiedenheit  der  Tagesdifferenzen;  es  kann  die 
Temperatur  an  einem  Tage  um  5,  ja  um  6  Grad  und  darüber  schwanlien 
gegenüber  etwa  1  Grad  beim  Gesunden.  Wie  bei  Letzterem  wird  auch 
im  Allgemeinen  im  Fieber  der  Curvengipfel  am  Nachmittag  oder  am  Abende 
erreicht;  die  Remissionstiefe  hingegen  fällt  auf  die  frühen  Morgenstunden. 
Ein  entgegengesetztes  Verhalten  bietet  der  sogenannte  Typus  inversus. 
Was  die  Art  des  Ansteigens  und  Abfallens  der  Temperatur  anlangt,  so  zeigen 
häufige  Messungen  in  diesen  Perioden  selten  ein  stetes  Zu-,  beziehungsweise 
Abnehmen  der  Körperwärme  an;  es  kommt  vielmehr  häufig,  bis  zu  einer 
Viertelstunde  Dauer,  ein  Stillstand  in  die  Bewegung,  was  in  der  Gurve  als 
Stufe  oder  Terrasse  sich  kennzeichnet.  Verschieden  ist  auch  die  Dauer  oder 
Breite  der  einzelnen  Curvenab schnitte. 

Unter  Fiebertypus  versteht  man  die  Art  des  Fieberverlaufes  an 
mehreren  auf  einander  folgenden  Tagen.  Man  unterscheidet  zunächst  kurze 
Fieberanfälle  (die  sogenannte  Fehricula  oder  EpJiemem),  welche  rasch  mit 
Genesung  enden.  Wie  der  2.  Name  besagt,  währt  das  Fieber  oft  nur  einen 
Tag,  selten  drei.  Es  besteht  meist  ein  rapider  Anstieg,  oft  bis  40".  Der 
Abfall  vollzieht  sich  verschieden,  oft  ebenso  plötzlich.  Eine  2.  Gruppe  stellen 
dar  die  continuirlichen,  beziehungsweise  subcontinuirlichen  Fieber,  Febris  con- 
tinua,  bei  welchen  geringe  Tagesdifferenzen  bis  l\  beziehungsweise  bis  72" 
vorkommen.  Eine  Febris  remittens  ist  charakterisirt  durch  beträchtlichere 
Tagesdifferenzen  bei  einem  Tagesminimum  unter  39-5".  Die  Febris  intermittens, 
sowie  die  recurrens  zeichnen  sich  durch  den  mehr  minder  regelmässigen 
Wechsel  von  kurz  dauernden  Fieberanfällen,  auch  Paroxysmen  genannt,  und 
von  fieberfreier  Zeit,  der  Apyrexie,  aus.  Bei  der  Febris  intermittens  dauert 
der  ganze  Paroxysmus  weniger  als  24  Stunden;  die  erreichte  Fieberhöbe  ist 
meist  bedeutend,  um  4P  herum.  Die  Febris  recurrens  (auch  relabirendes 
Fieber  genannt)  hat  mehrtägige  Fieberanfälle  und  desgleichen  mehrere  Tage 
dauernde  Apyrexien. 

Im  Falle  des  raschen  Anstieges  der  Temperatur,  wie  er  im  intermitti- 
renden  Fieber  die  Pegel  ist,  vollzieht  sich  derselbe  fast  stets  unter  dem 
Bilde  des  Schüttelfrostes.  Wälirend  uns  das  Thermometer  durch  sein  Steigen 
die  Erhöhung  der  Körpertemperatur  anzeigt,  klagt  der  cyanotische  Kranke 
über  starkes  Kältegefühl;  es  überläuft  ihn  ein  Kälteschauer,  er  zittert,  die 
Zähne  klappern  etc.  Dabei  fühlen  sich  in  der  That  die  peripheren  Theile  des 
Körpers  kühl  an.  Eife  ähnliches  klinisches  Bild  findet  sich  aber  bisweilen  auch 
ausserhalb  eines  Fieberanfalles  bei  normaler  Temperatur.  Andererseits  steigt 
die  Temperatur  auch  im  Fieber  bisweilen  rasch  und  bedeutend  an  ohne  jeglichen 
Frost.  Meist  noch  vor  Erreichung  des  Gipfels  ist  der  Schüttelffost  gewichen 
und  wird  abgelöst  vom  Hitzestadium;  die  früher  kühlen  Theile  sind  nunmehr 
brennend  heiss,  die  blasse  Haut  wird  turgescirend  roth,  was  besonders  an 
gefässreichen  Stellen  mit  dünner  Oberhaut,  wie  im  Gesichte,  zum  Ausdrucke 
gelangt.  Der  Kranke  äussert  ein  lebhaftes  Wärmegefühl.  Auch  hier  wieder- 
um muss  gesagt  werden,  dass  bei  gleich  hoher  Körperwärme  diese  Phänomene 
vermisst  werden  können,  beziehungsweise  nicht  ausgesprochen  sind.  Ein  drittes 
wichtiges  Symptomenbild  im  Fieber  wird  dargestellt  durch  den  Collaps.  Wesent- 
lich auf  Herzschwäche  zurückzuführen,  findet  sich  dieser  stets  unangenehme 
Zufall  in  den  verschiedensten  Perioden  des  Fiebers.  Er  charakterisirt  sich  durch 
Erkalten  der  peripheren  Theile,  welche  meist  mit  Schweiss  sich  bedecken. 
In  stärkeren  Graden  tritt  ein  förmlicher  Verfall  des  Kranken  ein;  der  Puls 
wird  frequent  und  klein,  die  Athmung  oberflächlich,  das  Bewusstsein  des 
Kranken  wird  getrübt.  Die  Innentemperatur  kann  dabei  ungeändert  bleiben, 
ja  im  Steigen  begriffen  sein;  meist  freilich  fällt  auch  sie  stark  ab. 

Man  unterscheidet  nach  der  Ptegelmässigkeit  des  Fieberverlaufs  typische 
und  atypische  Krankheitsformen.  Sind  einer  Krankheit  je  nach  Intensität  oder 


678  FIEBER. 

anderen  besonderen  Umständen  verschiedene  Verlaufsformen  eigen,  so  spricht 
man  von  Pleotypismus  im  Gegensatz  zum  Monotypismus.  In  den  meisten 
Krankheiten,  in  denen  das  Fieber  ein  wesentliches  Symptom  darstellt,  hat  das- 
selbe auch  einen  mehr  weniger  typischen  Ablauf. 

Man  kann  bei  solchen  fieberhaften  Krankheiten  meist  mehrere  Perioden 
wohl  abtrennen:  1,  das pyrogenetische  Stadiurn,  2.  das Fastigium,  3.  die Deferves,cenz^ 
4,  die  Beconvalescenz.  Das  pyroge netische  Stadium  stellt  sich  recht  verschie- 
den dar;  bald  findet  ein  jähes,  in  wenigen  Stunden  beendetes,  continuirliches 
Ansteigen  statt,  bald  steigt  die  Temperatur  unterbrochen,  sei  es  stafi'elweise 
mit  leichten  Morgenremissionen  und  täglich  wachsenden  Abeudexacerbationen, 
sei  es  unregelmässig  protrahirt.  Die  Art  und  Weise  des  Fieberanstieges  ist 
von  nicht  geringer  differentialdiagnostischer  Bedeutung.  Das  Fastigium  ist 
die  Periode  der  vollen  Entwicklung  des  Fiebers.  Der  Gang  der  Temperatur 
in  dieser  Periode  hält  drei  Yerlaufsarten  ein  1.  den  akmeartigen.  2.  den 
continuirlichen,  3.  den  discontinuirlichen;  d.  h.  entweder  bei  kurzer  Dauer 
der  Kraiilvheit  wird  der  erreichte  Gipfel  bald  wieder  verlassen,  oder  die 
Krankheit  erhält  sich  als  Febris  continua  auf  der  Höhe,  oder  aber  es 
stellen  sich  tiefere  Remissionen  ein,  gewöhnlich  mit  Unregelmässigkeit  des 
Fieberganges  verbunden.  Die  Abgrenzung  vom  nächsten  Stadium,  dem 
der  Defervescenz,  des  Temperaturabfalles,  ist  eine  sehr  verschieden  scharfe. 
Manchmal  kommt  es  unmittelbar  vorher,  ja  nach  einer  früheren  geringen 
Senkung  zu  einer  kurzdauernden,  oft  bedeutenden  Temperaturerhebung,  einer 
sogenannten  Perturbatio  critica.  Eine  ganz  andere  A^erlaufsart  zeigt  sich, 
wenn  zwischen  Fastigium  und  Defervescenz  eine  Periode  von  unregelmässigen 
Ptemissionen  und  Exacerbationen  sich  einschiebt,  eine  wahre  Zeit  der  Unent- 
schiedenheit,  das  amphibole  Stadium.  Das  Stadium  der  begonnenen  Heilung 
wird  eigentlich  dargestellt  durch  die  Defervescenz;  das  von  manchen  hier 
aufgestellte  Zwischenglied  einer  Periode  der  ungenügenden  Abnahme,  Stadium 
decrem enti,  kann  füglich  gestrichen  werden.  Der  Piückgang  der  Tempe- 
ratur zur  Norm,  die  Entfieberung,  lässt  zwei  Haupttypen  unterscheiden: 
eine  rapide  in  wenigen  Stunden  bis  höchstens  1  ^/a  Tagen  sich  vollziehende, 
Krisis,  und  eine  auf  mehrere  Tage  bis  eine  Woche  vertheilte,  Lysis.  Mit  dem 
erstgenannten  A^organg  vollziehen  sich  gewöhnlich  auch  auffallende  Aende- 
rungen  im  Gesammtzustande  des  Kranken.  Es  brechen  die  sogenannten 
„kritischen"  Schweisse  aus;  die  Temperatur  wird  subnormal,  die  Pulsfrequenz 
fällt  auf  60  und  darunter.  Der  Kranke  fühlt  sich  erfrischt,  empfindet  oft 
Hunger.  Früher  vorhandene  Schmerzen  schwinden.  Es  stellt  sich  erquicken- 
der Schlaf  ein.  Höchst  auffallend  dem  gegenüber  ist  die  Fortdauer  vieler 
sonstiger  Krankheitssymptome,  z.  B.  der  physikalischen  Zeichen  vorhandener 
entzündlicher  Lungeninfiltration  u.  dgl.  Das  subjective  Befinden  und  die 
Pulsqualität  unterscheidet  die  Krise  sofort  vom  Collaps.  Der  Defervescenz 
folgt  die  Pieconvalescenz.  Die  Temperaturen  erscheinen  dann  normal,  ja  nach 
einer  Kiisis  häufig  eine  Zeitlang  subnormal.  Die  Tagesschwankungen  sind 
meist  beträchtlich  und  die  mindesten  äusseren  Einwirkungen  bringen  grosse 
Ausschläge  in  der  Temperaturcurve  hervor,  so  ein  Bad,  ein  leichter  Diätfehler, 
das  Verlassen  des  Bettes,  gemüthliche  Aufregungen  u.  a.  m.  Die  Wendung 
einer  fieberhaften  Krankheit  zum  Tode  beeinflusst  die  Temperatur  durchaus 
nicht  stets  in  demselben  Sinne.  Man  findet  manchmal,  dass  der  bisherige 
Temperaturablauf  erhalten  bleibt.  Andere  Male  kommt  es  zu  massiger  Steigerung 
der  Körperwärme.  In  einer  dritten  Gruppe  von  Fällen  geht  die  Curve 
langsam  herab  und  erfolgt  schliesslich  der  Tod  unter  Collapstemperaturen. 
Endlich  steigt  in  manchen  Fällen  die  Temperatur  rasch  und  intensiv  in 
die  Höhe;  es  kommt  zu  hyperpyretischen  Werthen  derselben;  ja  die  höchsten 
beobachteten  Temperaturen  gehören  diesem  agonalen  Stadium  an.  Unter 
diesen  Umständen,  aber  auch  sonst  manchmal,  konnte  man  das  interessante 


FIEBER.  679 

Phänomen  der  postmortalen  Temperatursteigerung  beobachten;  es  stieg 
die  Quecksilbersäule  nach  Aufhören  von  Herzschlag  und  Athmung  noch 
um  einige  Zehntelgrade  und  erhielt  sich  auffallend  lange  auf  dieser  Höhe. 
Die  Factoren,  welche  auf  die  Bildung  der  Temperaturcurve  in  Krank- 
heiten von  Einfluss  scheinen,  sind  zunächst  natürlich  die  Art  der  Erkrankung 
selbst,  es  gibt,  wie  schon  früher  bemerkt,  für  gewisse  Erla^ankuugen  typische 
Fiebercurven,  sodann  die  Intensität  des  morbiden  Processes.  Vom  Träger  der 
Krankheit  hängt  in  mancher  Hinsicht  der  Fieberverlauf  ab ;  sein  verschiedenes 
Alter  prägt  sich  häufig  in  der  Curve  aus.  Im  Allgemeinen  werden  Fieber- 
temperaturen und  Infecte  überhaupt  von  Individuen  der  späteren  puerilen 
Jahre  und  von  Adolescenten  wesentlich  besser  vertragen  als  von  älteren  Indi- 
viduen, vor  allem  von  Greisen  in  der  Nähe  des  60.  und  70.  Lebensjahres. 
Die  febrile  Pieaction  der  Greise  und  der  Kachektischen  ist  eine  geringe.  Das- 
jenige, was  die  Alten  als  asthenisches  Fieber  bezeichnet  haben,  liegt  nur  zum 
Theile  in  constitutionellen  Eigenthümlichkeiten  der  erkrankten  Individuen, 
vielmehr  in  gewissen  perniciösen  Folgen  des  Infectes.  Von  grosser  Bedeutung 
ist  endlich,  ob  die  Krankheit  ein  vorher  gesundes  oder  krankes,  ja  vielleicht 
schon  fieberndes  Individuum  befiel;  besonders  in  letzterem  Falle  verwischt  sich 
der  gewöhnliche  Temperaturgang.  Des  Weiteren  intiuenciren  in  verschiedenem 
Maasse  die  Temperatur  die  äusseren  Umstände  des  Kranken,  der  Grad  der 
Pflege,  welche  ihm  zu  Theil  wird,  die  Menge  und  Art  der  Nahrung,  endlich 
vor  allem  auch  die  so  häufig  in  verschiedener  Form  angewandten  Fieber- 
mittel. Besonders  kann  der  Beginn,  das  pyrogenetische  Stadium  eines  Leidens, 
ein  vom  gewöhnlichen  völlig  verschiedenes  Gepräge  bekommen,  wenn  der 
Kranke,  die  Prodrome  nicht  achtend,  seine  gewohnte  Beschäftigung  weiter- 
führt. In  solchen  Fällen  kommt  es  häufig  zu  jähem  Temperaturanstieg  und 
zu  Fieberhöhen,  welche  sonst  selten  oder  gar  nicht  in  jenem  Stadium  erreicht 
werden.  Das  reine  Bild  der  Fiebercurve  kann  endlich  noch  getrübt  werden 
durch  hinzutretende  Complicationen.  Alle  diese  Momente  sind  bei  Betrachtung 
einer  Fiebercurve  ins  Auge  zu  fassen*). 

■X- 

Betrachten  wir  mm  die  einzelnen  Erkrankungen,  bei  denen  Fieber  als  we- 
sentliches oder  accidentelles  Symptom  eine  Rolle  spielt,  etwas  näher.  Auf  Voll- 
ständigkeit wolle  hier  nicht  reflectirt  werden  ! 

An  die  Spitze  der  Darstellung  sei  der  Abdominaltyphus  gestellt.  Ist  er  doch 
jene  Krankheit,  deren  Fieberverlauf  an  Tausenden  von  Fällen  genau  studirt,  ein  im 
Ganzen  recht  typischer  genannt  werden  kann,  und  bei  welcher  die  Beobachtung  des 
Temperaturganges  unleugbar  von  grosser  diagnostischer  und  prognostischer  Be- 
deutung ist.  Es  gibt  ja  unzweifelhafte,  durch  die  Obduction  erhärtete  Fälle  von  Typhus, 
in  welchen  während  des  ganzen  Ablaufes  eine  Erhöhung  der  Körperwärme  vermisst 
wird;  dieselben  können  aber  die  Regel  nur  bestätigen,  dass  es  eine  typische  Typhus- 
curve  gibt.  Einem  nur  selten  zu  beobachtenden  Prodromalstadium,  in  welchem  ab  und 
zu  leichte  Temperatursteigerungen  sich  zeigen,  folgt  ein  pyrogenetisches  Stadium  von 
durchschnittlich  4 — 5  Tagen.  Die  Temperatur  steigt  in  demselben  staffeiförmig  in 
die  Höhe,  in  der  Weise,  dass  sie  am  Abend  um  1 — 1 72°  mehr  zeigt  als  am  Morgen, 
bei  einer  folgenden  Morgenremission  von  bis  2/4°.  Es  kommt  zu  keinem  stärkeren 
Schüttelfrost,  wohl  aber  zu  selbst  wiederholten  kleineren  Frösten.  Hat  so  die  Tem- 
peratur eine  Höhe  von  etwa  40'^  erreicht,  so  beginnt  die  Periode  des  Fastigium, 
in  welchem  ein  continuirliches,  oder  in  leichten  Fällen  massig  remittirendes  Fieber 
besteht.  Die  Maximalhöhe  des  Fastigium  ist  selten  unter  39.6",  gewöhnlich  zwischen 
40  und  41"  C.  Die  Dauer  des  Fastigium  ist  eine  verschiedene;  in  leichten  und  mittel- 
schweren Fällen  währt  es  etwa  bis   zum  12.  Krankheitstag;  in  schweren  verlängert 


*)  Über  die  Therapie  des  Fiebers  vergl.  Artikel  ;,^»fi'>^re5e"  (Ernst  Jendrassik), 
ds.  Bd.  p.  81. 


680  FIEBER. 

es  sicli  bis  zur  Mitte  der  3.  Krankheitswoche.  In  den  ersteren  Fällen  erfolgt 
nun,  meist  ohne  vorige  Perturbatio  critica.  der  Eintritt  der  Defervescenz.  Es  zeigen 
sich  tiefere  Morgeni'emissionen,  "wäbreud  zunächst  am  Abend  noch  die  früheren 
Temperaturhöhen  erreicht  werden;  bald  aber  nimmt  auch  die  Exacerbation  an  Höhe 
und  Breite  ab  und  so  kann  am  Schlüsse  der  3.  "Woche  die  Curve  auf  das  Xormal- 
niveau  gesunken  sein.  In  schweren  Fällen  verzögert  sich  das  Eintreten  der  Abheilung; 
dem  Fastigium  folgt  ein  sogenanntes  amphiboles  Stadium.  Dieses  ist  bezeichnet  durch 
ein  um-egelmässig  remittirendes  Fieber  mit  auffallend  grossen  Schwankungen  bis  zu 
CoUapstiefen.  Diese  Periode  kann  bis  zum  Schlüsse  der  4.  Woche  und  darüber 
hinaus  sich  verlängern.  Die  Fieberdauer  beträgt  in  mittleren  Fällen  etwa  22  Tage. 
"Wenn  man  an  den  sogenannten  ..Wochen  des  Tvphus"  festhält,  ist  es  am  besten,  eine 
solche  Periode  5 — 10  Tage  lang  anzusetzen.  Leichtere  Typhen,  insbesonders  bei 
jugendlichen  Individuen  und  bei  Frauen,  verlaufen  mit  stark  remittirendem.  ja  zu 
Anfang  und  zu  Ende  mit  intermittirendem  Fieber.  Als  Typhus  levis  werden  jene  Txrank- 
heitsbilder  bezeichnet  bei  denen  niemals  oder  nur  ganz  vorübergehend  die  Höhe 
von  40°  erreicht  wird  und  auch  sonst  ein  milder  Krankheitsverlauf  besteht.  Die 
CuiTe  kann  im  übrigen  eine  ganz  reguläre  Typhuscurve  darstellen.  Manchmal  be- 
gegnet man  einem  sogenannten  Typhus  abortivus;  die  Krankheitsdauer  solcher  Fälle 
ist  abnorm  kurz,  der  ganze  Yerlauf  wie  zusammengedrängt.  Auf  ein  2 — 3  tägiges 
pyrogenetisches  Stadium  folgt  ein  äusserst  kurzes,  manchmal  selbst  gar  kein  Fasti- 
gium. Das  Fieber  währt  oft  nur  7 — 12  Tage.  Dabei  kann  die  Fieberhöhe  selbst 
über  41°  steigen.  Die  Eeconvalescenz  zeichnet  sich  durch  grosse  Labilität  in  der 
Eigenwärme  der  Kranken  aus;  besonders  Diätfehler  machen  sofort  eine  Temperatur- 
steigerung. In  den  verschiedenen  Epidemien  verschieden  häufig  ereignet  es  sich,  dass 
in  der  Eeconvalescenz  der  Fieberprocess  von  neuem  aufflackert  als  '^värkliches  Eecidiv 
(wahrscheinlich  auch  durch  neue  typhöse  Darmjirocesse  bedingt.)  Die  Dauer  eines 
solchen  ist  kürzer  als  die  der  vorausgegangenen  Krankheit;  seine  Curve  ist  gewöhn- 
lich eine  typische  Typhuscurve,  nur  von  geringerer  Höhe.  "V^on  dem  Einflüsse  der 
so  häufigen  Complicationen  auf  die  Fieberhöhe  sei  nur  der  Blutungen  und  Perfo- 
rationen gedacht,  welche  stets  einen  oft  jähen  Temperaturabfall  erzeugen.  Bei  tödt- 
lichem  Ausgange  ist  die  Gestaltung  der  Fiebercurve  nicht  regelmässig;  es  kommen  alle 
früher  für  die  Agone  beschriebenen  Fälle  vor.  Postmortale  Steigerung  ist  nicht  häufig. 

Der  Typhus  exanthematicus  hat  eine  ziemlich  tj'pische  Fiebercurve.  Der 
Anstieg  zum  ■  Fastigium  vollzieht  sich  in  einem  Tage ;  meist  unter  Schüttelfrost  erhebt 
sich  die  Temperatur  auf  40°  und  mehr.  Fällt  sie  auch  manchmal  am  nächsten 
Morgen  fast  bis  zur  Norm,  so  steigt  sie  am  2.  Abend  neuerlich,  gewöhnlich  noch 
höher.  Diese  Tendenz  zur  Exacerbation  dauert  bis  zum  4.  Abend  fort,  wo  die 
Temperatur  meist  41°  überschritten  hat.  Auf  dem  Fastigium  besteht  ein  continuir- 
liches  Fieber  (ohne  Neigung  zu  Eemissionen).  In  günstigen  Fällen  schon  am  Anfang 
der  2.  Woche  zeigt  sich  eine  leichte  Abendremission,  worauf  gewöhnlich  die  Curve 
wieder  annähernd  zur  früheren  Höhe  ansteigt.  In  der  2.  Hälfte  der  2.  Woche,  am 
12.  Tage  etwa,  kommt  es  häufig  zu  einer  zweiten  Eemission,  welche  unmittelbar  in 
die  Defervescenz  hinüberführen  kann.  Oder  aber  letztere  erfolgt  nach  einer  neuer- 
lichen kurzen  Exacerbation,  einer  Art  von  Perturbatio  critica.  Der  Temperaturabfall 
geschieht  typisch  nach  Art  einer  Krise ;  die  Xorm  wird  in  einem  Tage  erreicht ;  oder 
es  geht  noch  ein  Tag  mit  Temperaturen  von  38-5 — 39°  vorher.  Ein  lytischer  Aus- 
gang ist  selten.  Tödtliche  Fälle  zeigen  constant  gegen  Ende  hyperpyretische  Tem- 
peraturen. 

Der  Fieberverlauf  des  Typhus  seu  Febris  recurrens  ist  ein  recurrirender 
oder  relabirender,  inde  nomen.  Meist  mit  Schüttelfrost  erfolgt  rapid  ein  Ansteigen 
der  Körperwärme;  das  Thermometer  zeigt  schon  am  2.  Tage  meist  über  40".  Nun 
folgt  durch  etwa  5 — 7  Tage  eine  Febris  coutinua,  welche  nennenswerthe  Eemissionen 
vermissen  lässt.  Ohne  vorhergehende  Perturbatio  critica  geschieht  der  Fieberabfall, 
jäh,  wie  bei  keiner  anderen  Krankheit;  es  sinkt  die  Temperatur  stets  auf  subnor- 
male Werthe.  Die  Periode  der  Apyrexie,  welche  nunmehr  sich  anschliesst  und  eine 


FIEBER.  681 

Dauer  von  durchschnittlich  1  bis  l^/g  Wochen  zeigt,  verdient  diesen  Kamen  nicht 
vollständig,  indem  meistens  besonders  in  ihrer  Mitte  unregelmässige  Temperatur- 
erhebungen sich  geltend  machen.  Der  zweite  Anfall  ist  meist  dem  ersten  recht 
ähnlich;  seine  Dauer  ist  kürzer,  die  erreichte  Höhe  der  Temperatur  aber  eine 
grössere.  Mit  dieser  Attaque  kann  die  Krankheit  beendet  sein;  es  kommt  aber 
manchmal  zu  einer  dritten,  ja  vierten,  welche  aber  schwächer  und  kürzer  dauernd  sind. 
Der  Temperaturgang  des  ätiologisch  gleichen  biliösen  Typhoids  ist  kein  typischer. 

Bei  der  Variola  sind  zu  unterscheiden  die  Periode  des  Eruptionsfiebers  und 
die  des  Suppurationsfiebers.  Ziemlich  rasch,  zuweilen  unter  Schüttelfrost,  steigt  die 
Temperatur  an;  ihre  Maximalhöhe,  welche  sie  am  2.  oder  auch  erst  am  4.  Tage 
erreicht,  ist  meist  über  40".  Mit  dem  Erscheinen  der  Hautefflorescenzen  erfolgt  am 
4.  bis  6.  Tage,  selten  früher  die  Entfieberung;  selbe  kann  sich  kritisch  oder  lytisch 
vollziehen  und  1 — 8  Tage  in  Anspruch  nehmen.  Der  Abfall  erfolgt  bei  Fällen  von 
Variola  vera  meist  nicht  bis  zur  Norm;  es  bleibt  bei  subfebrilen  Temperaturen.  Mit 
dem  8.- — 9.  Tage  beginnt  dann  eine  neue  Periode,  die  der  Suppuration;  es  kommt 
zu  Fiebersteigerung,  welche  meist  nicht  die  Höhe  des  Eruptionsfiebers  erreicht;  der 
Typus  ist  ein  unregelmässiger,  remittirender.  Der  Abfall,  welcher  nach  einer  Woche 
erfolgt,  ist  ein  langsamer,  lytischer.  Bei  Todesfällen  gehören  hyperpyretische  Tem- 
peraturen nicht  zur  Regel.  Die  sogenannte  Variolois  (die  milde  Form  der  Pocken 
bei  Geimpften)  entbehrt  des  Suppurationsfiebers  nicht  ganz.  Die  Variola  kann 
übrigens  in  seltenen  Fällen  (bei  Geimpften)  ohne  Fieber  ähnlich  wie  eine  Acne 
verlaufen. 

Die  Varicellen  können  ebenfalls  fieberlos  ablaufen;  gewöhnlich  ist  ihnen  ein 
ziemlich  rasch  ansteigendes  Fieber  eigen,  dessen  Höhe  selten  40"  erreicht;  es  ist 
remittirend,  währt  2 — 5  Tage  im  Fastigium  und  fällt  kritisch  ab. 

Die  Vaccination  geht,  u.  zwar  unabhängig  von  der  Anzahl  der  Impfstellen  und  vom 
Grade  der  Entzündung  derselben,  regelmässig  mit  Fiebererscheinxmgen  einher.  Die  ersten 
3  —  6  Tage  nach  der  Impfung  sind  fieberfrei;  dann  steigt  die  Temperatur  treppenförmig 
an,  kann  selbst  40"  (in  recto)  erreichen  und  fällt  remittirend  ab.  Die  ganze  Fieberdauer 
beträgt  meist  3—5  Tage,  kann  aber  über  eine  Woche  sich  ausdehnen.  Die  Ee vaccination 
kann  selbst  bei  heftiger,  örtlicher  Entzündung  ohne  jedes  Fieber  ablaufen. 

Die  Morbilli  beginnen  mit  einem  rasch  bis  gegen  40°  ansteigenden  Initial- 
fieber; selbes  fällt  fast  stets  schon  nächsten  Morgen  zur  Norm  ab.  Die  folgenden 
zwei  Tage  hält  sich  die  Temperatur  entweder  normal  oder  auf  Werthen,  die  unter 
denen  des  Initialfiebers  liegen.  Am  4.  Tage  erhebt  sie  sich  dann  rasch  zu  einer  Höhe 
von  gegen  41":  Eruptionsfieber.  Das  Fastigium  ist  nur  ein  kurzes,  2  Tage  währendes, 
und  wird  von  einer  entschiedenen  Krise  beschlossen.  Der  weitere  Krankheitsverlauf 
kann  völlig  fieberfrei  bleiben;  meist  aber  ist  er  durch  verschiedene  Complicationen 
gestört. 

Die  Rubeolae  verlaufen  häufig  fieberlos;  ein  bestehendes  Fieber  erreicht  meist 
eine  geringe  Höhe  und  ist  atypisch. 

Weniger  typisch  als  bei  den  Masern  ist  das  Temperaturverhalten  bei  Scar- 
latina.  Es  gibt  recht  viele  Ausnahmen  von  der  im  folgenden  beschriebenen  Normal- 
curve.  Der  Anstieg  ist  ein  rapider,  er  geht  continuirlich  ohne  eigentliche  morgend- 
liche Remissionen  vor  sich  und  hat  verschiedene  Dauer,  bis  4  Tage.  Von  dieser 
Höhe  (häufig  über  40"5'')  geschieht  die  Defervescenz  ausgesprochen  lytisch;  die  Norm 
wird  in  drei  bis  acht  Tagen  erreicht.  Die  so  häufig  die  Reconvalescenz  störende 
Nephritis  tritt  oft  ohne  irgend  welche  Temperaturerhöhung  auf. 

Die  Diphtherie  verläuft  mit  unregelmässigem  Fieber,  das  jede  Beziehungen 
zur  Schwere  der  Infectiou  und  den  localen  Erscheinungen  vermissen  lässt.  Höher- 
gradige  Laryuxstenose  bewirkt  Sinken  der  Temperatur. 

Das  Erysipel  verläuft  nur  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  typisch;  es  gibt  fieber- 
lose und  atypische  Formen.  Anstieg  und  endlicher  Abfall  der  Curve  sind  meist 
rapid,  das  Fieber  kann  früher  vorhanden  sein  als  die  Dermatitis !  Das  Fastigium 
ist  continuirlich,  seltener  bei  schubweiser  Verbreitung  mit  Intermissionen.  Die 
Fieberhöhe  ist  eine  beträchtliche. 


682  FIEBER. 

Das  Fieber  bei  Pyämie  ist  ausgezeiclinet  durcli  das  Yorkommen  von  unregel- 
mässig  vertbeilten,  meist  mit  Schüttelfrost  verlaufenden  rapide  ansteigenden  und 
-wieder  abfallenden  Fieberanfällen;  von  einem  Malaria- Anfalle  unterscheiden  sie  sich 
vor  allem  durcli  etwas  langsameren  Anstieg,  sowie  dadurch,  dass  nach  der  Defer- 
vescenz  die  Norm  kaum  je  erreicht  wird.  Solche  Anfälle  sind  bald  durch  apyretische 
Zwischenräume,  bald  durch  Febris  continua  oder  remittens  von  einander  getrennt, 
bald  wieder  folgen  sie  ununterbrochen  auf  einander.  Ueberhaupt  ist  der  Tempe- 
raturgang ein  recht  unregelmässiger;  besonders  bei  längerer  Krankheitsdauer  schieben 
sich  Tage  nnd  Wochen  fieberfreier  Zeit  ein.  Im  Grossen  und  Ganzen  entspricht  eine 
Fiebersteigerung  einem  neu  gebildeten  Eiterherde  im  Körper.  Bemerkenswerth  ist 
das  Fehlen  der  Temperatursteigerung,  gerade  bei  Fällen  von  allerschwerster 
septischer  Infection. 

Bei  der  Cholera  asiatica  lässt  die  gewöhnliche  Methode  der  Messung  in  der 
Achselhöhle  im  Stiche;  man  muss  die  Rectum-,  beziehungsweise  Yaginaltemperatur 
bestimmen.  Es  findet  sich,  dass  im  Stadium  algidum  die  Temperatur  dieser  Theile 
meist  massig  erhöht  ist;  aber  es  kann  die  Steigerung  selbst  40"  erreichen;  dabei  zeigt 
das  Thermometer  in  der  Achselhöhle  subnormale  Werthe,  bis  35<>. 

Bei  Parotitis  epidemica  vermissen  wir  ein  typisches  Fieber;  es  können  die 
verschiedensten  Formen  beobachtet  werden. 

Die  Tonsillitiden  gehen  meistens  mit  Fieber  einher;  selbes  erreicht  Höhen 
von  39"  und  darüber;  ein  besonders  ausgeprägter  Tj'pus  ist  ihm  nicht  eigen.  Das 
Fieber  der  gewöhnlichen  Augina  lacunaris  pflegt  kritisch  am  3. — 5.  Tag  abzufallen. 
Die  verschiedenen  Formen  der  Pneumonie,  sowohl  die  lobäre,  als  die  lobular- 
katarrhalische,  verlaufen  in  der  Ptegel  fieberhaft;  nur  einige  terminale  Pneumonien 
von  Greisen  entbehren  des  Fiebers  oder  haben  nur  unmerkliche  Steigerungen  der 
Temperatur.  Was  den  Grundtypus  der  croupösen,  lobären  Pneumonie  anlangt,  so 
ist  derselbe  der  einer  Febris  continua  mit  raschem  Anstieg  und  kritischer  Beendigung. 
Unter  Schüttelfrost  steigt  die  Temperatur  an  und  hat  meist  am  2.  oder  am  3.  Tage 
die  Maximalhöhe  (gegen  40")  erreicht.  Das  Fastigium  wird  (nach  der  alten,  schon 
von  HippOKRATBS  verfochteueu  Ansicht  mit  Vorliebe  an  einem  ungeraden  Krankheits- 
tage) zwischen  dem  5.,  7.  und  9.  Tage  durch  eine  Krise  abgeschlossen.  Eigenthümlich 
dem  Höhestadium  der  Pneumonie  sind  häufige  die  F.  continua  unterbrechende  Sprünge, 
brüske  Erhebungen  und  intercurrente  Temperaturabfälle.  Besonders  der  Krise  geht 
häufig  am  Vortage  eine  solche  Pseudokrise  voran.  Diese  Vorkommnisse  leiten  hinüber 
zu  den  Pneumonien  mit  remittirendem  und  intermittirendem  Fieber,  von  denen  die 
ersteren  meist  der  katarrhalischen  Form  angehören.  Die  unter  Schüttelfrost  erfolgende 
Temperaturerhebung  kann  auch  sofort  wieder  ohne  Fastigium  in  wenigen  Tagen  zur 
Norm  zurückkehren;  man  spricht  von  einer  akmeartigen  Ephemera.  Oder  aber 
(Ephemera  protracta)  der  Anstieg  geschieht  langsam,  und  ebenso  das  Absinken.  Beide 
Fiebertypen  sind  bei  mehr  umschriebenen  Infiltraten,  öfters  katarrhalischer  Natur, 
zu  finden. 

Die  acute  Pleuritis  verläuft  mit  anfangs  fast  continuirlichem  Fieber  (bis 
39-5  und  mehr).  Dauer  etwa  1^2  Wochen.  Abfall  ohne  Krise.  Das  Fieber  als 
diiferentiell-diagnostisches  Mittel  zwischen  Empyem  und  Pleuritis  serosa  ist  durch- 
aus nicht  immer  brauchbar.  Bemerkenswerth  ist  noch  das  hohe  perniciöse  Fiebers 
der  sogenannten  typhösen  Form  der  Pleuritis,    (feaentzel.) 

Die  Tuberculosis  pulmonum  geht  in  den  meisten  Fällen  mit  Fieber  einher. 
Bemerkenswerth  ist  das  Vorausgehen  des  Fiebers  im  Krankheitsverlaufe  gegenüber 
den  physikalischen  Symptomen.  Gelegentlich  ein  malariaähnliches  Initialfieber. 
Bei  der  chronischen  Lungenphthise  ist  als  einigermassen  typisch  bekannt  das  hektische 
Stadium  mit  seinen  hohen,  steilen  Exacerbationen  und  den  Remissionen  bis  zur  Norm- 
Recht  häufig  findet  sich  auch  bei  der  Phthise  der  sogenannte  Typus  inversus.  cet.  cet. 
Die  Miliartuberculose  ist  ohne  eigenen  Fiebertypus;  zunächst  muss  bemerkt 
werden,  dass  diese  Kranliheit  völlig  fieberlos  verlaufen  kann  (höheres  Alter,  Cyanose). 


FIEBER.  683 

Ist,  wie  regelmässig,  Fieber  da,  so  zeigt  ein  und  derselbe  Fall  oft  raschen  Wechsel 
zwischen  mittelhoher  Continua,  Hectica  und  Collapstemperaturen.  Die  typhöse  Form 
hat  nur  selten  eine  wirklich  ausgesprochene  Continua;  selbe  wird  unregelmässig  durch 
Remissionen  unterbrochen. 

Im  Verlaufe  der  Syphilis  spielt  das  Fieber  keine  grosse  Rolle;  seiu  Vorkommen 
im  Beginne  der  secundären  Periode  vor  Ausbruch  des  ersten  Exanthems  ist  aber 
sichergestellt.  Angeblich  in  etwa  1/4  der  Fälle,  zwischen  dem  50.  und  65.  Tao-e 
post  infectionem  tritt  es  auf;  bald  hat  man  es  nur  mit  einer  einmaligen  stärkeren 
Temperaturerhebung  (bis  40")  oder  mit  mehrtägigem  leichten  Fieber  zu  thun,  bald 
dauert  der  Process  remittirend  oder  intermittirend  durch  längere  Zeit  an  (und  ver- 
ursacht   oft   nicht  geringe   diagnostische   Schwierigkeiten). 

Die  Gonococceninfection  führt  höchstens  zu  Fieber  geringerer  Intensität 
(selten  viel  über  38"  C.) 

Die  Entzündungen  der  serösen  Häute  (von  der  Pleuritis  abgesehen,)  und  die 
Catarrhe  der  verschiedenen  Schleimhäute,  bes.  des  Magendarmtractes  verlaufen  mit 
atypischem  Fieber. 

Der  Rheumatismiis  acutus  hat  einen  recht  verschiedenartigen  Temperaturgang. 
Zunächst  gibt  es  fieberlose  Fälle  und  solche  mit  vorübergehender  leichter  Fieber- 
steigerung. Meist  ist  die  Krankheit  fieberhaft;  der  Fieberanstieg  ist  fast  nie  ein  rapider, 
ebensowenig  der  natürliche  Temperaturabfall.  Die  Höhe  des  Fiebers  überschreitet 
meist  nicht  40".  Sein  Gang  ist  ein  unregelmässiger;  eine  Continua  von  halbwegs 
längerer  Dauer  besteht  jedenfalls  nicht.  Die  sog.  Cyclen  Feiedländer's  beruhen  wohl 
auf  Speculation.  Besondere  Besprechung  verdienen  die  meist  tödtlich  endenden 
Fälle  des  sog.  Cerebralrheumatismus.  In  einer  bestimmten  Zahl  dieser  Fälle 
treten  hyperpyretische  Temperaturen  auf,  welche  die  höchsten,  bis  jetzt  bekannten 
Werthe  erreichen  können.  Eine  gewisse  Bedeutung  kommt  ferner  dem  sog. 
selbständigen  Fieber  beim  Rheumatismus  zu.  Beim  acuten  Rheumatismus  kann 
Fieber  längere  Zeit  ohne  ersichtliche  Erkrankung  der  Gelenke  sowohl  vorausgehen 
und  noch  längere  Zeit  folgen.  Auf  diese  Art  kann  der  Rheumatismus  eine  Zeitlang 
mit  Typhus  abdominalis  verwechselt  werden.  Aehnliches  gilt  für  den  chronischen 
Rheumatismus.  Man  hat  hier  unregelmässige,  sehr  langwierige  Formen  mittelhohen 
und  hohen  Fiebers,  welche  manchmal  an  die  Hectica  erinnern  und  nicht  immer  leicht 
zu  deuten  sind.  Manches,  was  man  im  Verlaufe  alter,  auf  rheumatischer  Endocarditis 
beruhender  Klappenfehler  als  Endocarditis  recens  bezeichnet  hat,  bedeutet  in  Wirk- 
lichkeit wohl  nichts  anderes  als  ein  solches  Fieber. 

Der  Malaria-Anfall  ist  der  Typus  eines  intermittirenden  Fiebers.  Wie  kaum 
bei  einer  anderen  Krankheit  steigt  die  Körperwärme,  nachdem  sie  langsam  sub febrile 
Werthe  erreicht,  in  kürzester  Frist  unter  den  Zeichen  von  Frost  meist  continuirlich 
auf  41"  und  mehr.  Noch  vor  Erreichen  des  Temperaturmaximums  hat  die  Frost- 
empfindung Platz  gemacht  dem  Hitzestadium.  Auf  dem  Gipfel  verweilt  sie  nur  sehr 
kurze  Zeit.  Der  Abfall  erfolgt  unter  Schweissausbruch  kritisch,  gewöhnlich  terrassen- 
förmig; die  Rückkehr  zur  Norm  beansprucht  meist  10 — 12  Stunden.  Die  Aufeinander- 
folge der  Fieberanfälle,  jeden  Tag,  jeden  3.,  jeden  4.  Tag,  die  Febris  quotidiana, 
tertiana  und  quartana  ist  gleichfalls  sehr  typisch.  Die  früher  so  complicirte 
Eintheilung  der  Malariafälle  nach  den  subtilen  Details  des  Fieberverlaufes  ist  heute, 
bei  der  Kenntnis  der  speciellen  Formen  der  Krankheitserreger,  fast  werthlos.  Zu 
beachten  ist,  dass  besonders  nach  Chininbehaudlung  Anfälle  ohne  die  so  charakteristischen 
subjectiven  Empfindungen  für  den  Kranken  eintreten  können;  es  entpuppen  sich  auch 
anamnestisch  als  einem  bestimmten  Typus  angehörige  Fieber  bei  sorgfältiger  Messung, 
auch  in  der  angeblich  fieberfreien  Zeit,  als  anders  geartet. 

Bei  Influenza  fehlt  wohl  ein  typischer  Fieberverlauf;  die  wechselnden  Localisationen 
des  Krankheitsprocesses,  die  vielfachen  Complicationen  und  Nachkrankheiteu  gestalten 
den  Temperaturgang  zu  einem  recht  mannigfaltigen. 

Der  Tetanus  kann  fieberlos  ablaufen  oder  mit  leichten  Temperatursteigerungen; 
anzumerken  ist,  dass  in  manchen   tödtlich   endigenden  Fällen   erhebliche  prämortale 


684  FIEBER. 

und  postmortale  Temperaturen  zur  Beobaclitung  gelangten:  so  gehört  die  höchste 
von  AYuxDEBLicH  verzeichnete  Temperatur  einem  Tetanuskranken  zu. 

In  den  Lyssa-AnfäUen  zeigte  die  Temperatur  sich  gesteigert,  aber  nicht  zu 
hyperpyretischen  Höhen. 

Anthi'ax  verläuft  bei  externer,  ■«ie  interner  Infectionspforte  mit  (bisweilen 
sehr  hohem)  Fieber,  ohne  dass  selbes  besonders  ausgezeiclmet  wäre;  ähnliches  gilt 
vom  ]Maliasmus. 

Die  Trichinose  kann,  auch  bei  reichlicher  Invasion  von  Parasiten,  fieberlos  sich 
abspielen.  In  vielen  Fällen  aber  findet  sich  ein  um-egehnässig  remittirendes 
Fieber  von  beträchtlicher  Höhe  (40°  und  darüber),  welches  einem  hektischen,  oder  bei 
weniger  grossen  Schwankungen  einem  Fieber  von  Typhus  abdominalis  ähnelt. 

Die  AYeil'sche  Krankheit  setzt  sich  aus  einer  oder  mehreren  Fieberperioden 
zusammen;  die  Temperatur  steigt  unter  Schüttelfrost  rasch  an;  ihr  Maximum  erreicht 
sie  am  2.  bis  4.  Tage.  Ohne  Fastigium  beginnt  dann  ein  lytischer,  5  bis  6  Tage 
währender  Niedergang.  Der  ähnliche  2.  Anfall  erfolgt,  wenn  er  zur  Beobachtung 
gelaugt,  nach  mehreren  fieberfreien  Tagen;  seine  Höhe  ist  gewöhnlich  um  1  G-rad 
unter  der  des  ersten. 

Die  acute  gelbe  Leberatropliie  zeigt  in  ihrem  ersten  Stadium  meistens 
geringe  Fieberbewegungen;  im  2.  Stadium  kann  Fieber  ganz  fehlen;  manchmal 
tritt  kurz  vor  dem  Tode  eine  starke  Steigerung  auf.  AUe  Processe,  welche  zu 
cholämischer  Intoxication  Veranlassung  geben,  können  sich  analog  verhalten.  Bei 
sonst  fieberlos  ablaufenden  Leberleiden  verschiedener  Art  kommt  es  intercurrent  zu 
intermittirendem  Fieber,  der  sogenannten  fievre  intermittente  hepatique,  welches  einer 
echten  Malaria  ähnlich  sich  gestalten  kann. 

Eine  acnte  Nephritis  kann  ohne  jede  Temperaturerhebung  einsetzen;  besonders 
aber,  wenn  sie  nicht  im  Gefolge  einer  anderen,  fieberhaften  Erkrankung  den 
Menschen  befällt,  sieht  man  häufig  leichtes  unregelmässiges  Fieber  bis  39°;  seltener 
unter  Schüttelfrost  hohes  Fieber  bis  40*^. 

Der  uraemische  Anfall  ist  meist  mit  Fieber  (bis  40*^J  verbunden;  selbes 
ist  von  den  Krämpfen  unabhängig;  ab  und  zu  kommt  es  aber  im  Coma  uraemicum 
auch  zu  Collapstemperaturen  oder  die  Eigenwärme  bleibt  durch  dasselbe  unberührt. 

In  fieberhaften  Kranlvheiten,  welche  Diabetiker  befallen,  bleibt  deren  Körper- 
wärme in  der  Piegel  tiefer,  als  bei  sonst  gesunden  Individuen;  so  können  ausgedehnte 
Lungenentzündungen  bei  eüier  Temperatur  von  wenig  über  38°  verlaufen.  Das 
Coma  diabeticum  charakterisirt  sich  dadurch,  dass  in  seinem  Verlaufe,  nachdem 
vielleicht  ganz  vorübergehend  die  Temperatur  gesteigert  gewesen,  die  Achselhöhlen- 
und  die  Piectumtemperatur  progressiv,  vor  dem  Tode  selbst  bis  unter  85"  abzusinken 
pflegt.  Es  unterscheidet  sich  dadurch  dieses  Coma  vom  urämischen,  bei  welchem 
in  der  Regel  Temperaturerhöhung  besteht.  Durchgreifend  ist  dieser  Unterschied 
nicht,  da,  wie  schon  oben  bemerkt,  die  L'rämie  zuweilen  eher  von  sinkender 
Temperatur  begleitet  ist. 

Im  acuten  Gichtanfall  besteht  meist  Fieber  (unter  40'^  C).  Anstieg  rasch 
ohne  Frost,  zweigipflige  Tagescurven,  lytischer  Abfall. 

Bezüglich  der  äusseren  Vergiftungen  sei  nur  erwähnt,  dass  die  so  häufige 
Kalilaugenvergiftung  mit  ziemlich  typischem  Fieber,  die  schwere  Morphium- 
intoxication  mit  meist  hohem  Fieber  einhergeht.  Die  Gifte  der  Alcoholgruppe 
führen  zu  gesteigerten  Wärmeverlusten. 

Die  Meningitis  bietet  das  verschiedenste  Temperaturverhalten  dar.  Die 
eitrige  Meningitis  ist  gemeiniglich  von  rasch  ansteigendem  und  dann  hohem  conti- 
nuirlichen  Fieber  begleitet.  Die  epidemische  zeigt  ab  und  zu  dasselbe  Bild;  sie  endet 
dann  gewöhnlich  bald  tödtlich  unter  hyperpyretischen  Steigerungen,  welche  auch  noch 
postmortal  weitergehen.  Andere  Fälle  verlaufen  protrahirt  und  zeigen  die  Curve 
wie  eia  Abdominalis  im  amphibolen  Stadiiim.  Die  tuberculöse  Basilarmeningitis 
kann  ganz  ohne  Fieber  einhergeheu;  meist  besteht  ein  unregelmässiges  Fieber.  Das 
Auftreten  eines  acuten  Hydrocephalus  drückt  gewöhnlich  die  Curve  stark,  selbst  bis 


FIEBER.  685 

zur    Xorm    herab.     Agonal    kommt    es    auch    hier    mitunter    zu    hyperpyretischen 
Temperaturgraden. 

Bei  apoplectischen  Insulten,  seien  sie  diu-ch  Blutung  oder  durch  Erweichung 
bedingt,  tritt  regelmässig  nach  dem  Anfalle  ein  mehi'ere  Stunden  währender  Abfall 
der  Körperwärme  unter  die  Norm  auf;  am  nächsten  Tage  erhebt  sich  die  Temperatur 
häufig  auf  38°  und  bleibt  verschieden  lange  Zeit  auf  dieser  Höhe.  Eine  tödtliche 
Wendung  verräth  sich  oft  durch  rasches  Ansteigen  auf  40 — 41°.  Solche  Grade 
können  bei  Herden  in  den  Pons  oder  die  Medulla  auch  schon  von  vornherein 
erreicht  werden.  Es  bietet  die  Temperaturmessung  unmittelbar  nach  dem  Insult 
einen  diagnostischen  Behelf  zur  Unterscheidung  von  den  apoplectiformen  Anfällen  der 
Tabo-Paralyse  und  der  multiplen  Sklerose,  welche  ab  initio  von  Temperatur  Steigerung 
begleitet  sind. 

Hirngescliwülste  üben  in  den  weitaus  meisten  Fällen  keinen  Eiufluss  auf 
die  Körperwärme  aus:  die  Angaben  von  Loeb,  dass  Geschwülste  der  Hypophysis- 
gegend  solches  bewirken,  bedarf  der  Bestätigung. 

Xach  Yerletznngen  des  Halsmarkes  ist  in  einigen  Fällen  das  Vorkommen 
von  hyiDerpp'etischen  Wärmegraden,  andererseits  von  Collapstemperaturen  notirt. 

Die  Polyneuidtis  tritt  häufig  mit  erhöhter  Körpertemperatur  auf:  das  Fieber 
ist  in  solchen  Fällen  kein  typisches;  seine  Höhe  kann  manchmal  eine  beträchtliche 
werden. 

Bei  Morbus  Basedowii  kann  Fieber  das  Krankheitsbild  begleiten;  es  tritt 
sowohl  vorübergehend  auf,  als  auch  durch  längere  Zeit  und  kann  selbst  an  Typhus 
gemahnen. 

Bei  epileptischen  Anfällen  steigt  die  Temperatur  bisweilen  bis  .38-5*^  C. 
Schon  eine  Yiertelstunde  nach  Ende  der  Convulsionen  erfolgt  der  Abfall  zur  Xorm. 
Im  Status  epileiDticus  bleibt  die  Temperatur  oft  dauernd  auf  40 — 41*'  C. 

Das  hysterische  Fieber  tritt  entweder  als  blosser  Paroxysmus  oder  aber 
continuMich  auf.  Die  Temperatui'en  sind  meist  massig,  können  aber  auch  hohe  Werthe 
erreichen.  Die  Dauer  kann  Tage  bis  viele  Wochen  betragen;  manchmal  bestehen  dabei 
Symptomenbilder,  welche  an  Meningitis  oder  Peritonitis  gemahnen.  Manche  Hysterische 
mit  weiten  Hautgefässen  und  Tachykardie  haben  erhöhtes  Hitzegefühl  und  glauben 
zu  fiebern,  obwohl  die  Achselhöhleutemperatur  die  Xorm  nicht  überschreitet.  Be- 
merkenswerth  ist  die  niedrige  Temperatur  vieler  Geisteskranken. 

Dass  die  Chlorose  gemeinhin  fieberlos  verläuft,  ist  bekannt;  in  manchen 
Fällen  ergaben  sich  aber  Temperatui'steigerungen,  selbst  bis  39",  continuirlich 
während  mit  geringen  Morgenremissionen,  so  dass  das  Bild  der  Curve  an  Typhus 
erinnerte. 

Sichergestellt  ist  das  Vorkommen  von  Fieber  auch  beider  i)rogressiven  perni- 
ciösen  Anämie.  Es  werden  beschrieben  relabirende  Formen,  nicht  unähnlich  einer  Febris 
recuiTeus.  Gegen  das  Lebensende  pflegt  das  Fieber  continuirlicher  zu  werden;  vor 
dem  Tode  tritt  gewöhnlich  tiefer  Abfall  der  Wärme  auf,  und  erfolgt  derselbe  bei 
35°  und  weniger. 

Die  Leukämie  ist  in  ihren  chronischen  Formen  gewöhnlich  ohne  Fieber; 
nicht  so  selten  aber  wii'd  bei  den  Leidvämischen  ein  oft  Wochen  dauerndes,  mit 
Exacerbationen  und  Remissionen  verlaufendes,  atypisches  Fieber  beobachtet,  welches 
in  Complicationen  keine  Erklärung  findet.  Irgend  w^elche  sicher  stehende  Be- 
ziehungen zu  Aenderungen  des  Blutbefundes  oder  der  lymphadenoiden  Xeubildungeu 
zu  diesem  Fieber  gibt  es  nicht.  Die  Leukämiker  fiebern  auch  sonst  leicht.  Merk- 
würdig ist  das  Verhalten  gewisser  febriler  Infecte  (miliare  und  subacute  Tuberculose, 
Sepsis,  Influenza)  zum  leukämischen  Blutbilde:  die  charakteristische  polymorphe 
Leukocytose  schwindet  theilweise.  Einmal  wurde  recurrirender  Typus  beobachtet. 
Im  Krankheitsbilde  der  sogenannten  acuten  Leukämie  spielt  das  Fieber  eine 
wesentliche  EoUe.  Es  leitet  den  Process  ein  oder  erscheint  alsbald  im  Verlaufe, 
ist  pleotypisch,  kann  sehr  intensiv  werden  (Temperaturen  bis  über  40*^),  aber  auch 
relativ  geringfügig  bleiben. 


686  FOLIE  EAISONNANTE. 

Bei  Pseiidoleukämie,  welche  häufig  ohne  jedes  Fieber  abläuft,  kommt  es 
ab  und  zu  zu  continuiiiichem  oder  zu  mehr  oder  weniger  regelmässig  intermittirendem 
Fieber.  Etwas  häufiger  findet  sich  dieses  Fieber  in  jener  Phase  der  Krankheit, 
in  welcher  sich  die  Lymphome  über  einen  grösseren  Abschnitt  des  Körpers  ausbreiten, 
und  im  Terminalstadium  des  Leidens.  Besonders  berühmt  geworden  ist  ein  der 
Febris  recurrens  ähnlicher  Temperaturgang,  wie  er  in  manchen  Fällen  neben  sonstigen 
eigenartigen  Symptomen  typisch  sich  findet.  Meist  allmälicher  staffeiförmiger 
Temperaturanstieg  bis  zu  beträchtlicher  Höhe,  dann  eine  Febris  continua  und 
neuerlich  staff eiförmiger  Abfall.  Die  ganze  Fieberperiode  umfasst  10 — 14  Tage; 
die  zwischenliegenden  Apyrexien  sind  von  etwa  gleicher  Länge.  Die  sogenannte  Pseu- 
doleukämia  tubercuiosa,  ein  ganz  charakteristisches  Kraukheitsbild,  in  welchem 
sich  chronisch  ganz  ähnlich  wie  bei  der  HoDGKiN'schen  Krankheit  multiple  bacilläre 
Lymphome  entwickeln,  die  nie  vereitern,  während  die  Lungen  relativ  frei  bleiben, 
verläuft  immer  mit  hohem,  zusammenhängenden,  atypischen  Fieber,  welches  sich 
höchstens  andeutungsweise,  aber  nie  typisch  als  relabirendes  darstellt. 

Bei  den  verschiedensten  Tumoren,  Carcinomen,  wie  Sarkomen,  zeigt  sich  in 
einigen  Fällen  ein  dem  eben  beschriebenen  ähnlicher  Fieberverlauf;  doch  ist  solchen 
Geschwülsten  auch  ab  und  zu  intermittirendes  Fieber  eigen.  Es  handelt  sich  dabei 
durchaus  nicht  allein  um  solche  Tumoren,  welche  nekrotisiren  oder  vereitern. 
Celluläre  Degenerationsprocesse  im  Geschwulstgewebe  sind  natürlich  nicht  aus- 
geschlossen. Der  Sitz  der  Geschwulst  ist  dabei  durchaus  nicht  maassgebend,  wie 
manchmal  angenommen  wurde:  Ein  makroskopisch  ganz  unverändertes  Lympho- 
sarcoma  colli  macht  gelegentlich  ebenso  gut  Fieber,  wie  abdominale  Tumoren.  Nicht 
auschlaggebend  scheint  auch,  ob  die  Geschwulst  einfach  oder  multipel  ist.  Besonderes 
Interesse  verdienen  jene  sonst  occulten  Carcinome  (des  Magens),  welche  sich  klinisch 
bloss  durch  intermittirende  Fröste  manifestiren. 

Leichtensteen  beschreibt  eine  Febris  methämatemetica;  er  hat  nach  Magen- 
blutungen  bei  Ulcus  rotundum  regelmässig  einen  oder  erst  2,  3  Tage  darnach 
Fieber  beobachtet;  dasselbe  war  verschieden  hoch,  bald  ganz  atypisch,  bald  unregel- 
mässig remittirend  oder  intermittirend,  bald  auch  continuirlich  und  dauerte  2 — 6 
Tage  an. 

Beim  Skorbut  ist  ein  durchaus  atypisches  Fieber  in  vielen  Fällen  vorhanden. 

Fieber  wird  in  schwereren  Fällen  von  Morbus  maculosus  schwerlich  vermisst; 
es  hat  bald  Typhus-,  bald  Intermittens-  oder  Recurrens-Charakter.  Aehnlich  wie 
ein  Intermittensanfall  gestaltet  sich  ein    Paroxysmus   von   Hämoglobinurie. 

FEIEDEICH   K.EAUS. 

Folie  raiSOnnante  {Mama  sine  deUrio),  ein  krankhafter  psychischer 
Symptomencomplex,  stellt  sich  dar  als  massige  Aufregung  mit  relativ  klarem 
Bewusstsein,  ohne  Wahnvorstellungen  und  Sinnestäuschungen,  w^elche  sich  nicht 
durch  verkehrtes  Reden,  sondern  in  erster  Linie  durch  verkehrtes  Handeln 
bekundet,  das  durch  nachträgliches  Raisonnement  gerechtfertigt  wird. 

Das  Erscheinungsbild  tritt  seltener  als  selbständige  Unterform  der 
einfachen  Manie,  namentlich  bei  erblich  Belasteten  auf,  viel  häufiger  als  An- 
falls-Phase bei  periodischer  und  circulärer  Störung,  als  Eingangs-  und  End- 
stadium der  schweren  Manie,  im  Initialstadium  der  progressiven  Paralyse  und 
im  Verlauf  hysterischer  Psychosen.  Es  kann  auch  bei  der  Moral  Insanity 
zeitweise  hervortreten,  darf  aber  mit  dieser  keineswegs  identificirt  w^erden. 

Die  Symptome  der  Folie  raisonnante  pflegen  sich,  je  nach  dem  Grund- 
zustande, dem  dieselben  angehören,  entweder  mehr  oder  weniger  acut  oder  chro- 
nisch zu  entwickeln. 

Bei  acutem  Beginn  beobachten  wir  zuerst  Störungen  des  Schlafes  und 
der  Verdauung,  sowie  Kopfcongestionen,  oder  ein  ausgesprochenes  depressives 
Initialstadium  mit  ängstlicher  Unruhe  und  Reizbarkeit. 


FOLIE  RAISONNANTE.  687 

Bei  der  von  Anfang  an  chronischen  Form  vollzieht  sich  die  Umwand- 
lung aus  dem  gesunden  geistigen  Leben  zumeist  so  langsam  und  allmälig, 
dass  die  betroffenen  Individuen  oft  Jahrelang  in  der  Gesellschaft  leben,  ohne 
als  krank  zu  gelten.  Sie  fallen  nur  durch  ihre  Lebhaftigkeit  und  Eeizbarkeit, 
vielleicht  auch  durch  mancherlei  sonderbare  Handlungen  auf,  bis  vielleicht  ein 
aussergewöhnliches  Ereignis  die  Symptome  plötzlich  steigert  und  damit  die 
bisher  latente  Störung  enthüllt. 

Der  an  ausgebildeter  Folie  raisonnante  Leidende  bekundet  eine  grosse 
Lebhaftigkeit  in  seinem  ganzen  Wesen,  er  geht  früher  ungewohnten  Lebens- 
genüssen nach,  besucht  namentlich  alle  möglichen  geselligen  Kreise.  Ueberall 
fällt  er  durch  seine  grosse  Redseligkeit  auf,  die  von  belebter  Mimik  begleitet 
ist.  Er  mischt  sich  in  fremde  Unterhaltungen  ein  und  weiss  Alles  am  besten, 
wobei  ihm  mancherlei  früher  schlummernde  Vorstellungen  zur  Verfügung 
stehen.  Von  mächtigem  Selbstgefühl  getragen,  zeigt  er  grosse  Disputirsucht 
und  Rechthaberei  mit  Silbenstechen  und  Wortspalten,  aber  auch  schlagenden 
Witz  und  treffende  Ironie  und  geräth  dadurch  leicht  in  Conflicte  mit  der 
Umgebung.  Er  weiss  seine  dreisten  Behauptungen  mit  so  vielen  Scheingrün- 
den zu  stützen,  dass  es  schwer  fällt,  diese  zu  widerlegen.  Er  kennt  keine 
Rücksichten  und  scheut  sich  deshalb  nicht,  zu  beleidigen.  Oft  geht  ein  fiivoler 
Zug  durch  seine  Reden  und  es  fehlt  nicht  an  versteckten  oder  offenen  Cynismen. 

In  seiner  Selbstüberschätzung  strebt  er  auf  Kosten  Anderer  die  eigene 
Persönlichkeit  in  ein  möglichst  helles  Licht  zu  setzen  und  sucht  deshalb  mit 
einem  ihm  in  gesunden  Tagen  nicht  eigenen  Scharfsinn  die  Fehler  seiner 
Mitmenschen  auf,  um  sie  zu  geissein.  In  der  Ueberzeugung  untrüglicher 
Wahrheit  seiner  Aussprüche  duldet  er  keinen  Widerspruch  und  geräth  bei 
solchem  in  grosse  Aufregung.  Ja  seine  Reizbarkeit  kann  einen  wahren  Sturm 
von  Heftigkeit  heraufbeschwören. 

Der  Kranke  gibt  sich  den  verschiedensten  Antrieben  ohne  Widerstand 
hin  und  verübt  mancherlei  sonderbare  und  tolle  Streiche.  Ein  innerer 
Drang  wird  für  ihn  der  Ausgangspunkt  zum  Handeln,  welches  dadurch  einen 
impulsiven  Charakter  erhält.  Sexuelle  Triebe,  Eifersucht,  Ehrgeiz,  Habgier, 
Rache  können  ihn  gegen  seinen  Willen  zu  bedauerlichen  Handlungen  antrei- 
ben, die  er  nicht  zu  unterdrücken  vermag.  So  kann  es  zu  Geschlechtsver- 
gehen, zu  Diebstählen,  Betrügereien  und  Körperverletzungen  kommen,  die 
nachträglich  auf  das  Gewandteste  mit  allen  denkbaren  Gründen  entschuldigt, 
beschönigt  und  gerechtfertigt  werden. 

Vor  Gericht  wird  dieses  entschieden  krankhafte  Handeln  leicht  als 
ein  Ausfluss  von  Schlechtigkeit  und  Bosheit  gedeutet,  wenn  die  Gestörten 
in  Folge  einseitiger  Schärfe  des  Urtheils,  welche  als  Schlauheit  und  Verschlagen- 
heit imponirt,  es  verstehen,  Thatsachen  zu  entstellen,  soweit  es  ihrem  Vortheil 
entspricht  und  sich  mit  List  aus  ihren  schlimmen  Händeln  zu  ziehen  wissen, 
indem  sie  die  gegen  sie  erhobenen  Anklagen  als  böswillige  Verläumdungen 
Anderer  darstellen. 

In  den  Irrenanstalten  sind  solche  Kranke  sehr  unliebe  Gäste,  denn 
sie  hetzen  ihre  Umgebung  beständig  auf  und  verläumden  das  Wartepersonal. 
Ihre  eigenen  verkehrten  Handlungen  suchen  sie  stets  gewandt  zu  rechtfertigen, 
w^ährend  sie  an  Allem,  was  sie  ausser  sich  sehen  und  hören,  die  schärfste 
Kritik  üben. 

Verlauf  und  Prognose  des  geschilderten  Krankheitsbildes  hängt  von 
dessen  Grundzustande  ab.  Da,  w^o  dasselbe  als  selbständige  Unterform  der 
einfachen  Manie  auftritt,  ist  dasselbe  zumeist  von  sehr  langer  Dauer,  nicht 
selten  zeitlebens  vorhanden  und  im  Falle  der  Genesung  in  hohem  Grade  zu 
Recidiven  geneigt. 

Die  Behandlung  richtet  sich  nach  allgemeinen  psychiatrischen  Grund- 
sätzen und  ist  eine  vorwiegend  psychische.  kirx. 


FEIEDEEICH-SCHE  KEAXKHEIT. 

Friedreich'SChe  Krankheit.  Als  Friedreidi'sche  Krankheit,  hereditäre 
Ataxie,  bezeiclinen  ^ir  eine  zuerst  Yon  Fried  reich  beschriebene  (von  ihm 
zunächst  als  eine  besondere  Form  der  Tabes  dors.  aufgefasst),  bei  jüngeren 
Leuten  Torkommende  Krankheit  mit  x\taxie  und  einer  Reihe  anderer  nervöser 
Symptome. 

Aetiologie.  Wie  schon  der  Xame  ausdrückt,  handelt  es  sich  um  eine 
hereditäre,  resp.  familiäre  Erki'ankung,  die  bei  den  Gliedern  gewisser  Familien 
auftritt.  Directe  Heredität  ist  nicht  nothwendig,  wievohl  Fälle  beschrieben 
sind;  wo  die  Krankheit  in  mehreren  Generationen  auftrat.  Gewöhnlich  findet 
sich  bei  den  Eltern  nur  eine  gewisse  nervöse  Disposition,  während  von  den 
Kindern  meist  mehrere,  wenn  auch  nicht  alle  von  der  Friedreich" sehen 
Krankheit  befallen  werden.  Es  sind  jedoch  Fälle  (etwa  .30)  bekannt,  wo  nur  ein 
einzelnes  Familienmitglied  in  typischer  "Weise  erkrankte.  Die  Friedr.  Krankheit 
muss  zu  den  seltenen  gerechnet  werden:  die  Zahl  der  beschriebenen  Fälle  dürfte 
nicht  viel  über  150  betragen,  wobei  noch  zu  beachten  ist,  dass  die  Zuge- 
hörigkeit mancher  Fälle  zu  bezweifeln  steht.  Das  männliche  Geschlecht  über- 
wiegt in  der  Zahl  der  Fälle.  Die  Zeit  des  Auftretens  der  ersten  Symptome 
fällt  meist  vor  das  14.  Jahi' ;  die  Mehrzahl  der  Fälle  dürfte  um  das  6. — 8. 
Lebensjahr  beginnen.  Selten  ist  das  Auftreten  nach  dem  16.  Jahr:  in  einzelnen, 
fi^eilich  nicht  ganz  einwandsfreien  Fällen  wird  ein  noch  späteres  Alter  (30  Jahre) 
angegeben. 

Symptomatologie.  Bezüglich  der  Symptome  sei  zunächst  hervorgehoben, 
dass  für  einzelne  derselben  die  Angaben  schwanken,  woran  gewiss  vor  Allem 
der  Umstand  Schuld  trägt,  dass  mitunter  Fälle  familiärer  Nervenkrankheiten 
unter  die  Friedreich'sche  Krankheit  gezählt  werden,  deren  Stellung  zweifelhalt 
ist.  Es  gibt  el)en  sicherlich  noch  manche  familiär  auftretende  Xervenkrankheit, 
deren  Wesen  und  deren  nosogratische  Bedeutung  noch  nicht  genügend  geklärt 
sind.  Erst  neuerdings  ist  eine  der  Feierdeich" sehen  Ataxie  in  vielen  Punkten 
ähnliche  Krankheit  von  derselben  als  Heredo-ataxie  cerehelleuse  (M^lIiq)  abge- 
trennt worden,  deren  anatomisches  Substrat  eine  Atroxjhie  des  Kleinhirns 
darstellt. 

Unter  den  Sym^^tomen  kommt  als  dem  wichtigsten  und  prägnantesten 
der  Ataxie,  die  erste  EoUe  zu.  Sie  ist  es  auch,  die  zeitlich  zuerst  in  Erschei- 
nung tritt  u.  zw.  zunächst  an  den  unteren  Extremitäten.  Xach  verhältnismässig 
kurzer  Zeit  werden  aber  auch,  und  dies  im  Gegensatz  zur  gewöhnlichen  Fonn 
der  Tabes  dorsalis,  die  oberen  Extremitäten  betheiligt.  In  der  äusseren  Form 
und  wahrscheinlich  auch  in  ihrer  pathologischen  Genese  unterscheidet  sich  die 
Ataxie  bei  der  FniEDEEiCH'schen  Ki'ankheit  von  der  bei  der  Tal)es  dorsalis.  Sie 
macht  sich  sowohl  bei  einfacheren  Bewegungen  der  Beine,  als  bes.  beim  Gehen 
hemerklich.  Letzteres  ist  nach  der  treffenden  Bezeichnung  Charcot"s  tabeto- 
cerelellar  atactisch :  denn  abgesehen  davon,  dass  die  Beine  unzweckmässig  auf- 
gesetzt werden,  sich  leicht  überki'euzen.  macht  sich  beim  Gehen  ein  beträcht- 
liches Schwanken,  ähnlich  dem  bei  Kleinhirnaffectionen  geltend.  Auch  beim 
Stehen  zeigen  sich  Störungen.  Schon  bei  gespreizten  Beinen  tritt  Unsicherheit, 
ein  Hin-  und  Herschwanken  in  Folge  mangelhafter  xA-equililjration  auf.  An  den 
oberen  Extremitäten  findet  sich  zunächst  leichte  Unsicherheit,  die  sich  immer 
mehr  steigert  und  es  dem  Kranken  ganz  unmöglich  macht,  compliciiiere  Bewe- 
gungen, wie  Schreiben,  Handarbeiten  u.  s.  w.  auszuführen.  Bei  geschlossenen 
Augen  erfährt  die  Ataxie  eine  leichte  Zunahme. 

Eigentliche  Lähmungen  fehlen  ])is  zum  Schlüsse,  wiewohl  sich  in  späteren 
Stadien  manchmal  eine  gewisse  Schwäche  einstellt.  Auch  soll  in  manclien 
Fällen  ein  Intentionstremor,  ähnlich  wie  1)ei  multipler  Sclerose,  auftreten.  Auch 
leichte  choreatische  und  athetoide  Bewegungen  sind  besehrieben  worden. 

Die  Pupillen  zeigen  entgegen  dem  Verhalten  bei  Tabes  keine  Störungen. 
Dagegen  findet  sich  nahezu  constant  Nystagmus,  weniger  in  der  Piuhe,  als  bei 


FRIEDREICH'SCHE  KRANKHEIT.  689 

den  Bewegungen  der  Augen.  Augenmuskellähmungen,  Atrophia  nervi  optici 
fehlen.  Ganz  constant  ist  eine  gewisse  Sprachstörung,  die  vornehmlich  in  einem 
langsamen,  erschwerten  und  undeutlichen  Sprechen  sich  zeigt.  Die  psychischen 
Fähigkeiten  erleiden  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  keine  Einbusse,  nur  bleibt 
manchmal  ihre  Entwicklung  etwas  zurück.  Bezüglich  der  Sensibilitätsverhält- 
nisse schwanlven  die  Angaben.  In  der  grösseren  Zahl  der  Fälle  linden  sich 
keine,  oder  ganz  unbedeutende  Störungen  derselben.  In  einzelnen  Fällen  werden 
etwas  ausgeprägtere  Sensibilitätsanomalien  an  den  unteren  Extremitäten  be- 
schrieben. Niemals  aber  spielen  sie  die  hervorragende  Rolle  wie  im  klinischen 
Bilde  der  Tabes  dorsalis.  Das  Gleiche  gilt  für  Störungen  des  Muskelsinnes; 
lancinirende  Schmerzen  sollen  zeitweilig  vorkommen. 

Die  Patellarreflexe  fehlen  in  vorgeschrittenen  Fällen  constant ;  in  früheren 
Perioden  sind  dieselben  oft  nur  abgeschwächt.  Es  werden  jedoch  auch  Fälle 
mit  erhaltenen  Patellarreflexen  beschrieben  ;  ob  diese  aber  wirklich  zur  Fried- 
reich'sehen  Krankheit  gehören,  muss  vorläufig  dahingestellt  bleiben.  Die  Haut- 
reflexe sind  erhalten.  Blasen-  und  Mastdarmstörungen  fehlen ;  auch  die  sexuelle 
Thätigkeit  erleidet  meist  keine  Einbusse. 

Vasomotorische  und  trophische  Störungen  der  Haut  oder  Gelenke  werden 
nicht  beobachtet.  Manchmal  zeigen  einzelne  Muskeln  eine  leichte  Atrophie ; 
auch  das  Auftreten  einer  Art  Spitzfusstellung  wird  beschrieben,  ebenso  Sco- 
liose.  Der  Verlauf  der  Krankheit  ist  ein  langsamer,  über  viele  Jahre  (selbst 
bis  zu  30  Jahren)  sich  erstreckender.  Zuerst  tritt  die  Ataxie  der  unteren,  dann 
die  der  oberen  Extremitäten  auf.  Sprachstörungen,  Nystagmus  treten  oft  erst 
nach  jahrelangem  Verlaufe  in  Erscheinung.  Der  Tod  erfolgt  meist  durch 
intercurrente  Krankheiten. 

Pathologisch  eAnatomie  Die  pathologische  Anatomie  weist  hochgradige  Verände- 
rungen im  Rückenmarke  atif,  ti.  z.  in  Form  der  sogenannten  combinirten  Systemei'krankung,  in- 
dem nebst  den  Hintersträngen  auch  die  Seitenstränge  ergriffen  werden.  Die  Hinterstrangs- 
erkrankung ähnelt  der  bei  Tabes  dorsalis,  ohne  jedoch  mit  ihr  identisch  zu  sein.  Sie 
erstreckt  sich  durch  das  ganze  Rückenmark  und  betheiligt  beide  Stränge,  sowohl  den 
GoLL'schen  als  den  BuRDAcn'schen  Strang,  letzterenjedoch  nicht  in  ganzer  Ausdehnung,  in- 
dem im  Halsmarke  die  eigentUche  Wurzelzone  öfters  freibleibt.  Die  graue  Substanz,  resp. 
das  Hinterhorn  ist  wenig  afficirt,  das  gleiche  gilt  von  der  LissAUEu'schen  Randzone  und  dem 
extramedullären  Antheile  der  hinteren  Wurzeln.  D^jerine  und  Letulle  gaben  an,  dass  die 
histologische  Beschaffenheit  der  Hinterstrangsclerose  bei  der  FmEDREiCH'schen  Krankheit  streng 
Terschieden  sei  von  den  sonstigen  Sclerosen,  sie  bezeichneten  sie  als  Sclerose  nevroglique, 
jedoch  ist  der  Werth  dieser  Unterscheidung  ein  zweifelhafter.  Die  CLARKE'schen  Säulen 
zeigen  nicht  nur  wie  bei  der  Tabes  dorsalis  eine  Verringerung  der  Nervenfasern,  sondern 
auch  der  Zellen.  Die  Kleinhirnseitenstrangbahn  zeigt  eine  systematische  Degeneration,  die 
am  stärksten  im  unteren  Brustmarke  ist,  nach  oben  an  Intensität  abnimmt.  Auch  der 
Pyramidenseitenstrang  ist  betheiligt,  ebenfalls  nach  oben  an  Intensität  abnehmend,  jedoch 
nicht  in  ganzer  Ausdehnung,  so  dass  es  zweifelhaft  ist,  ob  man  es  hier  mit  einer  wahren 
Systemerkrankung  zu  thun  hat.  Die  zarten  Häute  des  Rückenmarkes  sind  meist,  bes.  über  der 
hinteren  Peripherie  verdickt.  Die  peripheren  Nerven  scheinen  frei  zu  bleiben.  Für  die  cere- 
bralen Störungen,  den  Nystagmus,  die  Sprachstörungen  fehlen  vorläufig  die  anatomischen 
Grundlagen. 

Bezüglich  der  Pathologie  der  Krankheit  haben  wir  uns  vorzustellen,  dass  es  sich  um 
eine  angeborene  mangelhafte  Entwicklung  der  genannten  Fasersysteme  handelt;  dieselben 
sind  functionell  minderwerthig  und  degeneriren  im  Verlaufe  der  Entwicklung.  Die  patho- 
logische Deutung  der  Symptome  vor  Allem  der  Ataxie  ist  noch  nicht  genügend  festgestellt. 

Die  Prognose  der  Krankheit  ist  eine  ungünstige.  Es  gelingt  nicht,  den  Process  zur 
Heilung  zu  bringen,  nicht  einmal  ein  Stillstand  oder  ein  langsameres  Fortschreiten  lässt  sich 
erzielen.  Dagegen  ist  die  Lebensdauer  meist  eine  lange. 

Die  Diagnose  ist  bei  dem  prägnanten  Bilde  der  Krankheit  in  der  Regel  eine  leichte. 
Zunächst  ist  Tabes  dorsalis  auszuschliessen.  Man  beachte  das  meist  familiäre  Auftreten, 
den  frühzeitigen  Beginn,  das  Fehlen  der  Pupillenphänomene,  der  Sensibilitäts-  und  Blasen- 
störungen, die  Verschiedenheit  des  atactischen  Ganges,  das  Vorhandensein  von  statischen 
Störungen.  Andrerseits  finden  sich  bei  der  FRiEDREicn'schen  Krankheit  Sprachstörung 
und  Nystagmus,  die  bei  Tabes  fehlen.  Gegenüber  der  multiplen  Sclerose  kann  die  Diagnose 
Schwierigkeiten  haben,  wenn  nebst  Sprachstörung  und  Nystagmus  auch  Intentionstremor 
vorhanden  ist.  Jedoch  auch  hier  wird  sich  eine  Entscheidung  treffen  lassen.  Die  Sprach- 
störung der  FRiEDREicn'schen  Krankheit   hat    einen    anderen    Charakter    wie  bei  multipler 

Bibl.  med.  Wissenscliaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  44 


690  GALLENSTEINE-GALLENSTEINKOLIK. 

Sclerose;  bei  letzterer  ist  Atasie,  Fehlen  der  Sehnenreflexe  selten,  es  fehlen  die  statischen 
Störungen,  das  familiäre  Auftreten.  Anderen  Nervenkrankheiten  gegenüber  dürfte  die 
Differentialdiagnose  kaum  je  Schwierigkeiten  haben. 

Die  Therapie  ist  der  FEiEDEEiCH'schen  Krankheit  gegenüber  maclitlos. 
Man  wird  sich  auf  rein  symptomatische,  intercurrente  Indicationen  beschrän- 
ken müssen.  eedlich. 

Gallensteine-Gallensteinkolsk.  Die  Gallensteinbildung  ist  eine  Theil- 
erscheinung  und  sozusagen  höhere  Entwicklungsstufe  der  als  Concrement- 
bildung  zu  bezeichnenden  häufigen  Anomalie  der  Gallenwege.  Der  Umstand, 
dass  die  Gallensteine,  d.  h.  die  zu  mehr  oder  minder  grösseren,  compacteren 
Massen  verdichteten  Concremente  wegen  ihrer,  im  Verhältnis  zum  Canal- 
system  der  Leber,  bedeutenden  Grösse  klinische  Erscheinungen  der  mannig- 
faltigsten Art  machen,  erfordert  die  gesonderte  Besprechung  der  Steine,  ganz 
ähnlich,  wie  bei  der  Niere  die  praktische  Unterscheidung  zwischen  den  mehr 
krümeligen  Concrementen  und  den  eigentlichen  Nierensteinen  gemacht  werden 
muss. 

Die  eigentliche  Ursache  der  Gallensteinbildung  dürfte  (so  wie  auch 
das  „Wesen"  der  Gicht  noch  keineswegs  aufgeklärt  ist)  noch  nicht  klar  zu 
Tage  liegen,  obwohl  wir  weiter  als  früher  gelangt  sind,  wo  man  sich  mit  der 
umschreibenden  Phrase  eines  Niederschlages  aus  eingedickter  Galle  begnügte. 

Zahl  der  Steine.  Meist  finden  sich  mehrere  vor,  etwa  5 — 10,  häufig 
werden  sie  „herdenweise"  (Naunyn)  getroifen,  bis  zu  mehreren  Tausend.  In 
einer  einzigen  Gallenblase  der  OTTO'schen  Sammlung  zu  Breslau  wurden 
7802  Steinchen  gezählt,  Feerichs  hat  in  Breslau  bei  einer  61-jährigen  Frau 
1950  pechartig  glänzende  beobachtet,  Naunyn  einmal  cca.  5000  gezählt.  Die 
gleichzeitig  gefundenen  Steine  pflegen  in  ihren  wesentlichen  Eigenschaften 
übereinzustimmen,  wie  sie  auch  zumeist  gleichaltrig  zu  sein  scheinen 
(Naunyn).  Hein  rechnet  blos  für  4"43"/o  der  Fälle  verschiedenartige,  neben 
einander  vorkommende   Steine. 

Die  Grösse,  ein  praktisch  überaus  wichtiges  Moment,  ist  sehr  ver- 
schieden. Man  hat  in  3  Hauptgruppen  eintheilen  wollen  (Fauconneau- 
Dufeesne):  a)  kleinere,  die  häufigsten  und  zahlreichsten,  von  Sandkorn- 
bis  Kleinerbsen-Grösse,  b)  mittlere,  bis  zur  Haselnuss,  noch  ziemlich  häufig 
c)  grosse,  bis  zu  Hühnereigrösse  und  mehr,  meist  blos  in  1  Exemplar,  als 
„Solitär"  vorhanden.  J.  F.  Meckel  hat  einen  Stein  von  5"  Länge  (ca.  13  cm), 
4"  Umfang  beobachtet,  J.  Blackbuen  einen  3%"  (8'6  cm)  langen,  3*8  cm  dicken, 
50  ^  schweren. 

Form  ist  sehr  mannigfach;  die  ovaläre  dürfte  die  vorherrschende  sein, 
freilich  mit  vielerlei  Variationen:  cylindrisch,  cylindroid,  kegel-,  finger-,  bohnen- 
förmig;  die  mehr  rundliche  Form  zeigt  auch  wohl  kubische,  erbsenförmige, 
linsenförmige  Varietät.  Für  die  Form  des  Steines  ist  der  Hohlraum,  in 
welchem  er  sich  langsam  bildet,  so  sehr  massgebend,  dass  gelegentlich  auch 
verzweigte,  in  den  Gallengängen  liegende  getroffen  werden. 

So  habe  ich  bei  einem  an  Gesichtserysipel  gestorbenen,  seit  8  Monaten  icterischen 
Mann  einen  den  Ductus  choledochus  auf  Fingersdicke  erweiternden  Stein  beobachtet,  der 
Fortsätze  in  den  Ductus  cysticus  und  hepaticus  sandte.  An  den  abgeplatteten  Fortsatz  des 
letzteren  schloss  sich  ein  zweiter,  kegelförmiger  Stein  an. 

Die  sogenannten  facettirten  Steine,  wie  sie  namentlich  auch  in  der 
Gallenblase  als  „Herdensteine"  vorgefunden  werden,  sind  in  den  seltensten 
Fällen  Product  gegenseitiger  Abschleifung,  vielmehr  durch  wechselseitigen 
Druck  entstanden,  indem  die  noch  weichen,  später  vielleicht  hart  werdenden. 
Steine  gegen  einander  sich  pressen.  Dies  geht  schon  daraus  hervor,  dass  in 
der  Facette  die  Rindenschicht  sich  noch  deutlich,  wenn  auch  in  verdichtetem 
Zustand  erkennen  lässt  (Naunyn).  Es  handelt  sich  also  um  eine  Druck-, 
nicht  eine  Schliftläche,    die  übrigens  bei  Anwesenheit  vieler  Facetten-Steine  in 


GALLENSTEINE-GALLENSTEINKOLIK.  691 

der  Blase  (meines  Erachtens)  auch  nachweisbaren  Schleifstaub  liefern  müsste. 
Oberfläche  meist  glatt,  aber  auch  gekörnt,  maulbeerartig.  Die  Consistenz 
kann,  namentlich  bei  Zumischung  von  viel  Farbstoff,  eine  geringe  sein,  so 
dass  der  Stein  mit  dem  Fingernagel  geritzt  werden  kann.  Nicht  selten  aber 
sind  die  Steine,  so  die  reineren  Cholestearinsteine,  ziemlich  hart.  Einzelne 
lassen  sich  schneiden.  Das  speci  fische  Gewicht  der  Steineist  im  allge- 
meinen ein  ziemlich  geringes.  Im  frischen  Zustand  sind  sie  jedoch  sämmtlich 
schwerer,  als  Wasser,  können  aber  gelegentlich  auf  der  Galle  schwimmen, 
wenn  diese  höheres  specifisches  Gewicht  als  etwa  1030  besitzt,  da  für  einen 
Cholestearinstein  Heix  1027  gefunden  hat;  die  mit  Farbstoff  und  Kalk  ge- 
mischten Steine  sind  schwerer  (1580  bis  1960). 

E  i  n  t  h  e  i  1  u  n  g  d  e  r  S  t  e  i  n  e : "")  1 .  Die  reinen  Cholestearinsteine  (H.  Meckels 
„Cholestearinsolitäre")  fest,  meist  oval,  doch  auch  kugelig,  bis  taubeneigross, 
weiss  oder  gelblich,  durchscheinend,  selten  von  brauner  oder  grünlicher  Farbe. 
Oberfläche  glatt  oder  warzig.  Auf  dem  Schliff  keine  oder  nur  spurweise 
Schichtung  zu  erkennen,  auf  dem  Bruch  deutlich  radiär  krystallinisches  Ge- 
füge.    Die  Steine  bestehen  aus  fast  reinem  Cholestearin. 

2.  Geschichtete  Cholestearinsteine,  meist  fest,  weiss,  grau,  grün  bis  schwarz- 
braun. In  Form  und  Grösse  den  vorigen  ähnlich.  Schichten  von  0-1  bis  zu 
einigen  Millimetern.  Die  Krystallisation  wird  umso  deutlicher,  je  näher  man 
dem  Centrum  kommt,  so  dass  ein  drüsenartiger  Kern  resultiren  kann.  Diese 
Steine  enthalten  im  wesentlichen  Cholestearin,  90°/o  und  mehr,  in  den  braunen 
Schichten  Bilirubinkalk,  in  den  grünen   Biliverdinkalk    und  Calciumkarbonat. 

2.  Gemeine  Gallenblasensteine  von  verschiedener  Grösse  und  Farbe,  meist 
facettirt.  Sie  stellen  das  grösste  Contingent  zu  den  Gallensteinen.  Farbe  der 
Oberfläche:  gelb,  braun  oder  weiss,  selten  grün.  Grösse  bis  zu  der  einer 
Kirsche,  aber  auch  oft  weniger,  bis  unter  Stecknadelkopfgrösse.  Die  frischen 
Steine  weich  und  zerdrückbar,  der  Kern  oft  weich,  nicht  selten  einen  Hohl- 
raum enthaltend,  die  Schale  (der  Körper  C.  A.  Ewald's)  hart,  meist  deutlich 
geschichtet. 

4.  Gemischte  Bilirubinkalksteine.  Kirschgrösse,  vereinzelt  oder  2 — 3  an 
der  Zahl,  in  Gallenblase  oder  den  grossen  Gallengängen.  Concentrische,  ver- 
hältnismässig dicke  Schichten  von  rothbrauner  Farbe,  beim  Trocknen  schrumpfend, 
manchmal  mit  hellerem,  abgegrenztem  Cholestearinkern.  Auch  in  den  äusseren 
Schichten  cca.  V4  Cholestearin,  daneben  Bilirubinkalk,  sowie  (an  Bilirubin  ge- 
bundenes?) Kupfer  und  spurweise  Eisen. 

5.  Beine  BilirubinkaUcsteinchen,  selten  über  Erbsengrösse,  schwarzbraun  und 
weich,  oder  stahlgrau  bis  schwarz,  selbst  metallisch  glänzend,  härter  und 
spröder.  Hauptbestandtheil:  Bilirubinkalk,  Biliverdinkalk,  Bilifuscin,  Bili- 
humin,  letzteres  oft  vorschlagend.  Freies  Bilirubin  und  Biliverdin,  sowie  Chole- 
stearin und  gallensaure  Salze  nur  in  Spuren. 

6.  Seltenere  Arten: 

a)  amorphe   imd  unvollkommen  krystallinische    CJiolestearinsteinclien. 
h)  Kalksteine,  aus  kohlensaurem  Kalk   bestehend. 

c)  Abgüsse  von  Oallengängen,  beim  Menschen  sehr  selten,  viel  häufiger  beim  Rindvieh 
und  schon  von  Glisson  gekannt.  Röhrenförmige,  Strohhalmen  vergleichbare,  Ausgüsse 
kommen  bis  in  die  feineren  Ramificationen  der  Gallenwege  vor. 

d)  Concremente  mit  Einschlüssen.  Ein  Stein  kann  eine  Rinde  von  Bilirubinkalk  mit 
einem  Kern  aus  reinem  Cholestearin,  umgekehrt  ein  Cholestearinstein  einen,  von  einem 
schwarzen  Bilirubinkalksteinchen  gebildeten  Kern  enthalten,  oder  es  können  2  oder  mehr 
Steinchen  von  einer  gemeinschaftlichen  Rinde  zu  einem  „Conglomeratstein"  zusammen- 
gebacken sein.  Eigentliche  Fremdkörper  sind  selten  als  Kern,  so  sind  Nadel,  Pflaumen- 
kern, ein  Stück  eines  Distomum  hepaticum,  ein  Spulwurm  (LoBSTEI^')  beobachtet.  Bei 
einem  69-jährigen  Taglöhner  habe  ich  einen  fest  im  Hauptgallengang  des  rechten  Lappens 
steckenden,  wohl  erhaltenen  (todten)  Spulwurm  gesehen,  daneben  einen  haselnussgrossen 

*)  Ich  folge  hierin  dem  neuesten  Autor  auf  diesem  Gebiete,  Naunyn: 
Klinik  der  Cholelithiasis  1892. 

U* 


692  GALLENSTEINE-GALLENSTEINKOLIK. 

(ge-wöhnlichen)  Gallenstein  an  der  Vereinignngsstelle    des  Ductus    hepaticns     und   cysticns 
zum  choledoclius  und  weiters  einen  ebenso  grossen  im  linken  Hauptgallengang. 

Bildung  der  Gallensteine.  Betreffs  der  beiden  hauptsächlichsten 
Steinbildner,  Cholestearin  und  Bilirubinkalk,  stellt  Naunyn  den  auf  Thier- 
experimente  gegründeten  Satz  auf,  dass  „der  Gehalt  der  Galle  an 
Steinbildnern  vom  allgemeinen  Stoffwechsel  und  von  der  Nahrung 
unabhängig  sei";  beide  Stoffe  lässt  er  von  der  Schleimhaut  der  Gallenwege 
abstammen.  Kalkzufuhr  der  Nahrung  vermehrt  den  Gehalt  der  Galle  an  Kalk 
nicht.  Das  Cholestearin  wird  in  der  Galle  hauptsächlich  durch  gallensaure 
Alkalien  und  durch  Seifen  und  Fette  in  Lösung  erhalten.  Glykocholsaures 
oder  taurocholsaures  Natron  löst  in  V4 — 2V2%-igen  Lösungen  Cholestearin  etwa 
im  Betrag  vom  zehnten  Theil  der  eigenen  Menge.  Olein  löst  57o  Cholestearin. 
Blosse  Eindickung,  bei  Vermeidung  von  Fäulnis,  bewirkt  kein  Ausscheiden  von 
Bilirubinkalk,  doch  scheinen  eiweissartige  Substanzen  der  zerfallenden  Schleim- 
hautepithelien  dasselbe  zu  begünstigen. 

Die  Gallenblasensteine  in  ihrer  ersten  Anlage  entstehen«)  aus  glasigen, 
structurlosen,  stark  lichtbrechenden  Klümpchen,  aus  „Myelintropfen,"  die  aus 
den  Epithelien  hervorquellen  und  nichts  anderes  als  Cholestearin  darstellen, 
nicht  selten  im  Innern  mit  etwas  Bilirubinkalk,  h)  aus  sedimentartigen,  krü- 
meligen Massen,  einer  Art  „Urbrei"  von  wechselnder  Zusammensetzung, 
jedoch  Fett,  Cholestearin,  Bilirubinkalk,  gallensaure  Alkalien,  eiweissartige 
Substanzen,  Schleim  enthaltend.  Diese  klumpigen  Massen  umgeben  sich  mit 
einer  zunächst  noch  sehr  dünnen  Schicht  von  Bilirubinkalk,  worauf  dann  im 
Innern  das  Cholestearin  auskrystallisirt  und  der  Bilirubinkalk  zu  derberen 
Massen  zusammensintert;  die  flüssigen  Bestandtheile  sammeln  sich  im  Centrum 
an  und  veranlassen  die  in  jüngeren  Concrementen  häufige  centrale  Höhlung. 

Bei  den  (reinen)  Bilirubinkalksteinchen,  die  noch  am  ehesten  den  Eindruck 
einfacher  Eindickung  der  Galle  machen  könnten,  betont  Nauntn  das  Vor- 
kommen der  höheren  Oxydationsstufen  des  Gallenfarbstoffes  und  der  Bilihumine, 
welch'  letztere  wohl  an  Ort  und  Stelle  aus  dem  Farbstoff  sich  bilden  dürften. 

Das  weitere  Wachst hum  der  Steine  geschieht  in  der  Hauptsache 
durch  Anlagerung  neuer  concentrischer  Schichten.  Cholestearinsteine  können 
ohne  Zufluss  von  Galle,  lediglich  von  der  umschliessenden  Schleimhaut,  resp. 
deren  Epithelien  her  wachsen.  Aus  periodischem  Zufluss  von  Galle  erklärt 
sich  die  Abwechslung  von  Schichten  reinen  Cholestearins  und  braunen  Bili- 
rubinkalks. 

Andererseits  kann  in  dem  consolidirten  Stein  Krystallisation  des  Chole- 
stearins eintreten,  vom  Centrum  nach  der  Peripherie  fortschreitend,  und  zwar 
sowohl  in  Form  des  „Umkrystallisirens"  schon  vorhandenen  Cholestearins,  als 
einer  nachträglichen  „  Infiltration '^  von  Cholestearin,  wozu  „Infiltrationscanäle" 
der  Rinde  mitwirken  können.  Es  können  so  allmälig  unter  Verdrängung 
(und  Auflösung)  von  Bilirubinkalk  aus  gemischten  Steinen  reine  Cholestearin- 
steine entstehen,  wie  dies  schon  H.  Meckel  (v.  Hemsbach)  in  seiner  Mikro- 
geologie,  „Ueber  die  Concremente  im  thierischen  Organismus,"  herausgegeben 
von  Th.  BiLLEOTH  1856,  skizzii't  hat. 

Vorkommen.  Jeder  14.  erwachsene  Mensch  in  Mitteleuropa  leidet  an 
Gallensteinen  (Bollinger).  In  den  Tropen  scheinen  sie  viel  seltener  zu  sein. 
Macht  man  drei  Altersstufen  von  15—30,  31—60,  61  und  mehr  Jahren,  so 
ist  das  Verhältnis  1:2:6. 

Nach  Sectionsstatistik  sind  gefunden  für  Kiel  57o  (Heinr.  Peters), 
Dresden  7%  (A.  Fiedler),  Basel  9  und  10'97o  (M.  Roth),  Wien  mindestens 
100/0  (Jos.  Frank),  Strassburg  120/o,  4-4o/o  Männer,  20-60/o  Weiber  (Heinr. 
Schröder),  Chrastina  (Wien)  fand  in  der  Gallenblase  jeder  5.  (älteren)  Leiche 
Concretionen.  Bollinger  gibt  das  Verhältnis  männlich :  weiblich  =  2 : 5  an. 
Bei  Neugeborenen  ist  Gallenstein  so  selten,  dass  z.  B.  Birch-Hieschfeld  bei 


GALLENSTEINE-GALLENSTEINKOLIK.  693 

500  Sectionen  solcher  keinen  einzigen  antraf,  auch  nicht  bei  100  Kindern  der 
verschiedensten  Altersstufen. 

Aetiologie.  Da  erwiesenermassen  bei  Frauen,  zumal  solchen,  die  geboren 
haben,  Cholelithiasis  wesentlich  häufiger  ist,  als  bei  Männern,  so  hat  man  na- 
mentlich auch  in  mechanischen  Insulten,  denen  die  Leber  der  Frauen  durch 
Schnüren,  Schwangerschaft  u.  s.  w.  ausgesetzt  ist  und  welche  den  Gallenabfluss 
(aus  der  Blase)  hemmen,  begünstigende  Momente  gesucht.  Für  die  älteren 
Jahresclassen  hat  ,Charcot  durch  Nachweis  häufiger  Atrophie  der  glatten 
Muskelfasern  der  Gallenwege  trägere  Gallenentleerung  erklärlich  gemacht. 
Sitzende  Lebensweise,  seltenes  Einnehmen  der  Mahlzeit  ist  weiterhin  verant- 
wortlich gemacht  worden. 

Wenn  somit  Störungen  des  Gallenabflusses,  Gallenstauung,  die  Stein- 
bildung begünstigt,  andererseits  aber  auch  (s.  o.)  blosse  Eindickung  der  Galle 
dieselbe  nicht  veranlasst,  so  ist  für  die  erwähnte  Erkrankung  der  Epithelien 
eine  nächste  Ursache  zu  suchen.  In  verschiedenen  Fällen  hat  Nauxyx  das 
(in  wechselnder  Gestalt  auftretende)  Bacterium  coli  commune  constatirt  und 
gezüchtet,  dasselbe  vermag  sicherlich  Cholangitis  und  Cholecystitis  zu  machen.  In 
einem  Fall,  wie  dem  oben  erwähnten,  wo  ein  mit  allerhand  Darminhalt  be- 
netzter Spulwurm  in  die  Gallenwege  eingedrungen  ist,  ist  eine  secundäre 
entzündliche  Keizung  leicht  verständlich.  Wie  weit  aber  Stockung  der  Galle 
in  den  Gallenwegen  an  sich  schon  zur  Epithelreizung  und  Steinbildung  führen 
kann,  muss  dahingestellt  bleiben,  da  die  normale  Menschengalle  sich  als  steril 
erwiesen  hat. 

Im  übrigen  gelten  Circulationsstörungen,  Lungentuberculose,  ferner  be- 
wegliche Leber  und  (rechte)  Mere,  auch  wohl  allerlei  Hautausschläge,  Ekzem  etc., 
als  prädisponirende  Momente.  Jedoch  ist  weder  die  Erblichkeit,  noch  auch  das 
von  Beneke  behauptete  gleichzeitige  Vorkommen  von  Arterienatherom  und 
Cholelithiasis  gehörig  erwiesen;  auch  J.  Kraus  steht  mit  seiner  Angabe  der 
häufigen  Coincidenz  von  Gallenstein  und  Nierenstein  (42  Fälle)  ziemlich  ver- 
einzelt da. 

Krankheitsbild.  Ruhig  in  der  Gallenblase,  dem  Lieblingssitz,  lie- 
gende Steine  machen  keine  nennenswerthen  Symptome,  umso  auffallendere 
aber  treten  zu  Tage,  wenn  die  Concremente  auf  dem  langen  Wege  von  der 
Blase  durch  den  Ductus  cysticus  und  choledochus  (oder  auch,  was  der  viel 
seltenere  Fall  ist,  von  einem  Gallengang  aus),  zum  Darm  geschoben 
werden.  Oft  geschieht  dies  mit  dem  typischen  Bild  der  GaUensteinkolik, 
Colica  hepatica,  die  durch  gewisse  Gelegenheitsursachen  (Diätfehler,  Körper- 
anstrengung und  -Erschütterung,  Menstruation,  Gemüthsbewegungen)  ausgelöst 
werden  kann.  Im  ausgebildeten  Anfall  setzt  rasch  heftigster,  torquirender, 
den  Kranken  auch  wohl  zum  lauten  Schreien  und  Sich- Wälzen  veranlassender 
Schmerz  ein  im  Epigastrium,  rechten  Hypochondrium  (seltener  linken),  aus- 
strahlend gegen  die  Mitte  der  Wirbelsäule  und  gegen  rechtes  Schulterblatt 
und  rechten  Arm,  viel  seltener  nach  unten.  Frösteln  und  eigentlicher  Frost, 
Angst  mit  Schweissausbruch,  Ueblichkeit  und  Erbrechen  begleiten  ihn.  Dabei 
ist  gewöhnlich  Temperatursteigerung  (vielleicht  vergleichbar  dem  Fieber  bei 
Katheterismus  der  Harnröhre)  vorhanden,  bis  zu  40"  und  mehr,  doch  meist 
weniger,  zwischen  39 — 40".  Nach  Peter  ist  auch  eine  locale  Temperatur- 
erhöhung im  rechten  Hypochondrium  zu  constatiren  (oft  selbst  melu-  als  die 
Achselhöhlentemperatur j.  Der  Puls  ist  häufig  verlangsamt,  was  zum  Theil 
auch  auf  Ptechnung  des  heftigen  Schmerzes  kommt.  Cyanose,  Collaps  und 
besonders  bei  alten  Leuten  bedrohliche  Herzschwäche,  ja  vereinzelt  eigentlicher 
Shoc,  sind  nicht  so  sehr  selten. 

Die  Leber  ist  bei  den  typischen  Fällen  als  vergrössert  nachzuweisen, 
manchmal  auch  die  vergrösserte,  druckempfindliche  Gallenblase  rechts  vom 
Muse,  rectus  zu  palpiren,  in  welcher   unter   Umständen  ein  von   den   Steinen 


694  GALLENSTEINE-GALLENSTEINKOLIK. 

herrührendes   klapperndes    Geräusch   hörbar  sein    soll.     Peritoneales   Reiben 
über  derselben  ist  nicht  selten. 

Milz  ist  zuweilen  geschwellt,  zumal  in  schwereren,  fast  schon  als  com- 
plicirt  anzusehenden  Fällen.  Geringer  Eiweissgehalt  des  Urins  ist  häufig,  auch 
Zuckerharn  wird  beobachtet.  Der  Stuhl  pflegt  angehalten  zu  sein.  Herpes 
labialis,  dessen  Entwicklung  während  des  Anfalls  ich  einmal  beobachtet  habe, 
finde  ich  bei  den  Autoren  sonst  nicht  erwähnt.  Gelegentlich  ist  Hemeralopie 
beobachtet.  Bei  sehr  nervösen  Individuen  kommen  Convulsionen  und  Delirien, 
auch  Lähmungen  vor,  selbst  tödtliche  Apoplexie. 

Der  eigentliche  Anfall  dauert  meist  blos  einige  Stunden  und  kann  mit 
„unbeschreiblicher  Euj)horie"  (Füebeinger)  enden,  oft  aber  zieht  er  sich  länger 
hin,  mit  Remissionen  selbst  über  Tage. 

Der  Icterus  ist  sozusagen  mehr  Folge,  als  Begleiterscheinung  des 
Kolikanfalls,  hervorgerufen  durch  die,  wenn  auch  nur  vorübergehende,  Ver- 
schliessung  der  Gallenwege ;  über  seine  Häufigkeit  ist  es  schwer,  allgemein 
giltige  Angaben  zu  machen.  Bei  halbwegs  grösseren  (etwa  haselnussgrossen, 
cca.  3  g  schweren)  Steinen  dürfte  er  kaum  fehlen.  Er  braucht  immerhin  gegen 
24  Stunden,  um  deutlich  zu  werden,  wo  er  intensiver  wird,  auch  an  der  Haut, 
nicht  blos  den  Sclerae,  bemerkbar,  mit  Jucken,  deutlicher  Braun-Gelbfärbung 
des  Harns,  Entfärbung  der  Stühle  etc.  deutet  er  auf  grösseren  und  jedenfalls 
fester  sitzenden  Stein  hin.  Auch  nach  Freiwerden  der  Passage  ist  er  noch 
einige  Tage  bemerkbar,  während  zunächst  das  Hautjucken  und  die  Verfärbung 
des  Harns  und  der  Fäces  abnehmen. 

Die  vollständige  Convalescenz  ist  von  der  Dauer,  Schmerzhaftigkeit  des 
Anfalles,  den  begleitenden  gastrischen  Störungen  abhängig,  vollzieht  sich  aber 
oft  sehr  rasch.  Es  kann  bei  einem  Anfall  bleiben,  aber  es  kann  ihre  Zahl  auch 
in  die  Dutzende  gehen,  so  dass  eine  Art  chronischer  Cholelithiasis  mit  inter- 
mittirenden  Anfällen  sich  herstellt. 

Die  den  einzelnen  Anfällen  entsprechenden  wandernden  Steine  brauchen 
durchaus  nicht  immer  neu  gebildet  zu  sein  (s.  o.);  im  Gegentheil  stammen 
die  in  Mehrzahl  in  der  Leiche  vorzufindenden  Steine  viel  öfters,  als  man  an- 
nehmen möchte,  aus  ungefähr  derselben  Zeit  (Naunyn). 

Neben  dieser  „regulären  Cholelithiasis"  kommen  irreguläre  oder  besser 
gesagt  prognostisch  wesentlich  ungünstigere  Fälle  vor:  entweder  dauernde  In- 
carceration  des  Steines  auf  seiner  Wanderung  zum  Darm  oder  Bildung  grösserer 
mehr  oder  weniger  unbeweglicher  Steine  an  geeigneter  Stelle,  die  zu  einem, 
unter  Umständen  schmerz-  und  kolikfreien,  chronischen  Gallenstein- 
Icterus  führen,  welcher  als  solcher  durch  „Cholämie"  und  Erschöpfung  langsam 
zum  Tode  führen  kann;  ferner  infectiöse  Erkrankungen,  Cholangitis,  infectiöse 
Cholecystitis  mit  Empyem  der  Gallenblase  (Hydrops  vesicae  felleae),  Leber- 
abscess,  selbst  Pylephlebitis,  sodann  die  in  ihrer  Mannigfaltigkeit  fast  uner- 
schöpflichen ulcerösen  Processe  in  den  Gallenwegen  und  daran  sich  anschlies- 
sende (Blutungen  und)  Fistelbildungen,  welche,  falls  nicht  peritonitische  Zu- 
stände oder  selbst  Ruptur  der  Gallenwege  zum  Tod  führen,  allerhand  „Spontan- 
Heilungen"  bewirken  können.  Speciell  Choledochus  -  Duodenalfistel  mit  Aus- 
stossung  des  Steines  in  den  Darm  unter  Umgehung  der  Portio  duodenalis  des 
Ganges  soll  häufiger  sein,  als  gewöhnlich  angegeben  wird  (M.  Roth).  Oder 
es  bildet  sich  auch  blos  die  den  Gallenabfluss  ermöglichende  (eben  erwähnte) 
kleinere  Fistel,  während  der  Stein  selbst  liegen  bleibt.  Uebrigens  kommen 
Fisteln  von  Seiten  fast  aller  Theile  des  Gallengangsystems,  ausgenommen  Ductus 
hepaticus,  und  aller  Theile  des  Verdauungstractus,  einschliesslich  Magen,  vor. 
Doch  treten  einerseits  Choledochus  und  Gallenblase,  andererseits  Duodenum 
und  Colon  besonders  hervor.  Ausstossung  des  Steines  durch  die  Bauchwand  ist 
gelegentlich  beobachtet,  sowie  Durchbruch  desselben  in  die  Bauchhöhle.  Alle 
diese  Fisteln  scheinen    eine    geringe  Neigung   zur    spontanen  Vernarbung  zu 


GALLENSTEINE-GALLENSTEINKOLIK.  695 

haben.  —  Dass  auf  irgend  eine  Art  in  den  Darm  gelangte  Gallensteine  durch 
Einklemmung,  Darmverschluss,  Gallenstein-Ileus  (auch  Pylorusstenose)  und 
consecutiven  Tod  verursachen  können,  ist  nicht  allzuselten"^  beobachtet. 

Die  gelegentliche  Combination  der  Cholelithiasis  mit  Krebs  oder  Leber- 
cirrhose,  sowie  die  angebliche  mit  Diabetes  oder  perniciöser  Amämie  soll  nicht 
unerwähnt  bleiben,  obwohl  ein  näherer  Zusammenhang  nicht  immer  deutlich 
zu  erweisen  ist. 

Diagnose.  Die  Diagnose  des  regulären  Anfalls  (s.  o.)  wird  selten 
Schwierigkeiten  machen,  oft  genug  ist  es  nicht  der  erste  und  schon  dadurch 
gekennzeichnet.  Sitz  und  Heftigkeit  des  Schmerzes,  Beschaffenheit  und  Frequenz 
des  Pulses,  Würgen  und  Erbrechen,  Frost  und  Temperatursteigerung,  Schwellung 
der  an  der  vergrösserten  Gallenblase  druckempfindlichen  Leber,  der  allmälig 
auftretende  Icterus  geben  Anhaltspunkte.  Durch  Nachweis  der  Steine  im  Stuhl 
wird  Gewissheit  erbracht,  nur  muss  eben  von  Beginn  des  Schmerzes  ab  der  (häufig 
angehaltene)  Stuhl  sorgfältigst  ein  paar  Tage  lang  untersucht  werden.  Uebri- 
gens  scheint  es  nach  Naunyn's  Versuchen,  dass  kleinere,  den  Darm  passirende 
Steine  in  Trümmer  gehen  können.  Oft  findet  man  hinter  dem  Hauptstein  noch 
kleinere  schwärzliche  Concremente,  die  durch  den  sozusagen  gebohrten  Weg 
relativ  schmerzlos  abgehen. 

Gegenüber  der  Gallenkolik  wird  bei  Darmkolik  die  Localisation 
des  meist  doch  viel  geringeren  Schmerzes,  der  häufig  um  den  Nabel  herum 
und  dem  Verlauf  der  Gedärme  entsprechend  gefunden  wird,  das  Verhalten  des 
Abdomens,  das  freilich  auch  bei  Gallensteinkolik  aufgetrieben  sein  kann,  die 
Schmerzlosigkeit  der  Leber  und  Gallenblase,  der  einfachere,  glattere  (fieber- 
lose) Verlauf,  das  Fehlen  des  Icterus  verwerthet  w^erden  müssen.  —  Bei  Ulcus 
ventriculi  pflegt  der  Schmerzanfall,  ganz  abgesehen  von  der  Localisation,  in 
den  ersten  Stunden  nach  der  Mahlzeit  aufzutreten,  der  Gallenkolik-Anfall 
beginnt  dagegen  nicht  so  selten  um  Mitternacht.  Nierenkolik  hat  andere  Locali- 
sation, in  der  Lendengegend,  die  Ausstrahlung  des  Schmerzes  geht  mehr  nach 
unten  gegen  das  Hypogastrium,  der  Urin  zeigt  entsprechendes  Verhalten. 
Pancreaskolik  wird,  wenn  nicht  direct  im  Stuhl  charakteristische  amorphe, 
halb  feste,  an  organischer  Substanz  reiche  Steine  gefunden  werden  (Minnich), 
unter  Umständen,  bei  festsitzendem  Stein  und  Atrophie  der  Drüse,  am  Diabetes 
und  an  eigenartigen  (Fett-)  Diarrhoeen  erkannt  werden  (Lichtheiji).  Blei- 
kolik,  als  Gewerbekrankheit  ohnedies  meist  bei  Männern  vorkommend,  verräth 
sich  am  Foetor  ex  ore,  dem  Bleisaum  des  Zahnfleisches,  der  Beschaffenheit  des 
Abdomens.  Auch  eine  heftige,  rechtsseitige  trockene  Pleuritis  wird  sich  durch 
die  Localisation,  die  Art  der  Athmung,  die  physikalische  Untersuchung,  Inter- 
kostalneuralgie in  der  Lebergegend  hauptsächlich  aus  den  Schmerzpunkten 
ermitteln  lassen. 

Bei  der  Peritonitis  und  Petiti/phlitis,  sowie  acuter  Einklemmung  oder 
Intussusception  werden  der  negative  Befund  der  Leber,  der  Druckschmerz  an  an- 
derer Stelle  als  gerade  der  Leber,  das  Ausbleiben  des  Icterus,  das  Verhalten 
des  Fiebers,  bei  der  Intussusception  der  fühlbare,  wandernde  Tumor  Anhalts- 
punkte geben.  ■ —  Andererseits  darf  nicht  vergessen  werden,  dass  nicht  etwa 
bloss  die  sogenannte  schrumpfende  Peritonitis,  sondern  einzelne  (undiagno- 
sticirbare)  „Verwachsungen  und  Netzstränge  im  Leibe  Ursache  andauernder 
schwerer  Koliken"  sein  können  (Lauenstein).  Wiederholte  Gallensteinkolik 
ohne  Icterus,  wenn  z.  B.  die  Concremente  in  den  intrahepatischen  Gängen 
sitzen,  kann  Malaria  vortäuschen.  Hier  gehen  dem  Frost  das  eigenthümliche 
Recken  und  Ziehen  in  den  Gliedern  voraus,  bei  der  (larvirten),  mit  intermit- 
tirendem  Fieber  einhergehenden  Gallensteinkolik  ist  der  Frost  von  gewissen 
unangenehmen  Empfindungen,  Spannung,  Aufgetriebensein  des  Epigastriums, 
einer  Art  Aequivalent  des  Kolikanfalls,  begleitet  (Schmitz),  der  Harnstoff  soll 
vermindert  sein  (Regnard),  bei  Malaria  vermehrt,  ein  eigentliches  Schweiss- 


696  GALLEKSTEINE-GALLENSTEINKOLIK. 

Stadium  fehlt,  —  Chaecot  hat  eine  besondere  „fievre  intermittente  Mpatique'^ 
mit  einzelnen,  dem  "VVecliselfieber  ähnlichen  Frostantällen  beschrieben.  - — 
Auch  sich  entwickelnder  Leherabscess  könnte  derartige  Frostanfälle  machen, 
er  geht  mit  Milztumor,  aber  geringerem  Icterus  einher.  Die  nervöse,  im 
Plexus  hepaticus  sich  abspielende  Hepatalgie  der  Franzosen  ist  zwar  auch 
in  ihrem  Yaterlande  nicht  allgemein  anerkannt,  für  Xervöse  (Neurastheniker) 
und  Hysterische  aber  vielleicht  doch  nicht  ganz  abzuweisen.  Selbst  mit 
Cholera-Attaquen  und  gewissen  schweren  A^ergiftungen  bietet  die  Gallenstein- 
kolik zuweilen  eine  gewisse  Aehnlichkeit.  Von  der  „irregulären  Choleli- 
thiasis"  stellt  Nauntx  für  den  chronischen  Icterus  bei  Gallensteinen  im 
Ductus  choledochus  folgende  Symptome  auf:  dauernd  oder  gelegentlich  galle- 
haltige  Fäces,  deutlicher  Intensitätswechsel  des  Icterus,  normale  Grösse  oder 
geringe  Yergrösserung  der  Leber,  Fehlen  der  Ektasie  der  Gallenblase,  Milz- 
tumor, Fehlen  des  Ascites,  Fieber,  Dauer  des  Icterus  über  1  Jahr.  So  wenig 
ich  das  Wesentliche  dieser  Kriterien  anzweifeln  möchte,  so  glaube  ich  doch 
betonen  zu  müssen,  dass  Intennissionen  im  Icterus,  denen  ]S'aü>sTX  ziem- 
liche "Wichtigkeit  beimisst,  auch  bei  malignen  Neubildungen,  wenn  auch 
nicht  als  die  Eegel,  vorkommen,  Nauxtx  kennt  nur  einen  Fall  von 
SiDXET  Couplaxd;  in  meiner  ..Abhandlung  über  den  multiloculären  Echi- 
nococcus" 1886,  p.  137,  habe  ich  eines  eben  solchen  Erwähnung  ge- 
than:  Krebsgeschwüre  am  Diverticulum  Yateri  bei  einer  38-jährigen  Frau 
mit  w^echselnder  Intensität  des  Icterus.  Und  eben  solcher  Wechsel  der  Inten- 
sität kommt  nicht  allzuselten  bei  dem  (von  den  Autoren  sonst  ignorirten) 
Echinococcus  multilocularis  vor,  der  durch  den  Mlztumor,  das  Fieber,  die 
lange  Dauer  des  Icterus,  1  Jahr,  selbst  mehr,  Fehlen  von  Yergrösserung  der 
Gallenblase,  Mangel  einer  eigentlichen  Kachexie,  die  hämorrhagische  Diathese, 
Fehlen  des  Ascites  (besonders  in  den  früheren  Stadien  der  Krankheit )  mit  dem  chro- 
nischenYerschluss  der  grossen  Gallenwege  mehr  symptomatische  Berührungs- 
punkte haben  dürfte,  als  das  Lebercarcinom.  In  den  Heimatländern  des  vielfäche- 
rigen Echinococcus  (Bayern,  Wüi'ttemberg,  Schweiz,  Theile  von  Oesterreich) 
muss.  wie  ich  aus  eigener  Erfahrung  w^eiss.  mit  der  Diif erentialdiagnose : 
Leberkrebs,  chronischer  Yerschluss  der  Gallenwege,  multiloculärer  Echino- 
coccus, häufig  genug  gerechnet  werden.  Das  Carcinom  der  Leber  unter- 
scheidet sich  durch  den  allerdings  meist  hartnäckigeren  Icterus,  den  ^del 
schnelleren  Yerlauf,  die  Kachexie,  das  Fehlen  des  Milztumors,  die  rasche 
Yolumszunahme  der  Leber  (auch  bei  blossem  Carcinom  der  Gallenblase), 
knollige  oder  andererseits  auch  eigenthümlich  w^eiche  Beschaffenheit  der 
ObeiHäche  genügend  von  anderen  Afi'ectionen.  Carcinom  des  Pankreas  pflegt 
die  Leber  klein  zu  lassen,  auch  im  weiteren  Yerlauf  Ascites  zu  bewirken. 

Der  ..Probe-Bauchschnitt ••  wird  in  diagnostisch  schwierigeren  Fällen 
nicht  zu  umgehen  sein. 

Therapie.  Zuweilen  scheint  eine  spontane  Zerbröckelung  der  Steine 
vorzukommen,  gerechnet   kann    auf   dieselbe  selbstverständlich  nicht  werden. 

Beim  eigentlichen  Kolikanfall  handelt  es  sich  in  erster  Linie  um 
Bekämpfung  des  alarmirenden  Schmerzes.  Morphium  subcutan  in  nicht  zu 
kleiner  Gabe,  bis  0*02  p.  dosi,  ist  üblich  in  entsprechender  Wiederholung. 
Kauxyx  gibt  es  w^ohl  auch  zusammen  mit  Ätropin  (bis  O'OOl)  subcutan. 
Sonst  sind  noch  empfohlen:  Chloroform,  auch  innerlich,  Chloralhi/drat,  im 
Beginn  des  Anfalls,  Antipyrin  und  salicylsaures  Natron  (2 —  3  g  im  Beginn  oder 
nach  FüEBEixGER  Natr.  salicyl.,  Natr.  bicarb.  ää  O'ö  4mal  tägl.).  Fortgesetzte 
Darreichung  von  Opiumtinctiir  während  des  Anfalls,  zunächst  grössere  Dosis, 
dann  zur  Festhaltung  der  Wirkung,  in  entsprechenden  Intervallen  weitere 
kleinere,  hat  mir  zur  Bekämpfung  der  krampfliaften  Muskelcontractionen  und 
etwaiger  peritonitischer  Erscheinungen  guten  Eindruck  gemacht.  Das  neuer- 
dings wieder  gerühmte  Olivenöl,  event.  auch  Lipanin,  zweckmässig   alle  3 — 4 


GALLENWEGE-  UND  GALLENBLASE-ERKRANKUNGEN.  697 

Stunden  ein  reichlicher  Kaffeelöffel,  hat  vielleicht  wegen  der  Appetitsstörung 
etwas  Bedenkliches,  Dueaxde's  Mittel  f3  Aether:  2  Terpentinöl)  scheint  nichts 
Besonderes  zu  leisten. 

Grosse  Kataplasraen,  Dauerbäder  von  34 — 38<^  C,  Trinken  von  heissem 
Wasser  (weinglasweise),  auch  Wickeln  des  Bauches  mit  Gummibinde,  grosse 
KEULL'sche  Eingiessungen  können  nützlich  sein.  Das  Erbrechen  und  die 
Collapszustände  sind  nach  allgemeinen  Grundsätzen  zu  behandeln. 

Trotz  neuerer  Versuche,  jegliche  medicamentöse  oder  auch  durch  Clys- 
mata  zu  erzielende  Einwirkung  auf  die  Gallensecretion  als  so  ziemlich  un- 
möglich hinzustellen,  bleibt  die  empirische  (steintreibendej  Wirkung  der 
(warmen)  alkalischen  Wässer  zu  Piecht  bestehen  und  zwar  der  alkalisch-sali- 
nischen: Karlsbad,  Bertrich  („das  schwache  Karlsbad"),  Ofen  und  Stuhmja  in 
Ungarn,  Marienbad  (kühl),  der  alkalisch-muriatischen:  Ems,  der  alkalischen: 
Vichy  {Grande  Grille),  Neiienahr,  Fachingen  (kühl).  Zugegeben  kann  werden, 
dass  bei  diesen,  auch  in  prophylaktischer  Beziehung  werthvollen  Curen  neben 
der  curgemässen  Lebensweise  mehr  die  Anregung  der  Gallensecretion,  als 
etwaige  Lösung  der  Concremente  in  Betracht  kommt. 

In  neuerer  Zeit  hat  die  chirurgische  Behandlung  der  Gallensteine  einen 
bedeutenden  Aufschwung  genommen.  Dabei  ist  nicht  etwa  blos  Eingriff  während  eines 
bedrohlichen  Anfalls,  oder  nach  einem  solchen  oder  bei  bestehender  Incarceration,  sondern 
namentlich  auch  frühes  Operiren,  vor  dem  Icterus  (welcher  die  Prognose  entschieden  ver- 
schlechtert), ins  Auge  zu  fassen.  Für  die  gründliche  Entleerung  der  Gallenblase  ist  we- 
niger die  nicht  ungefährliche  „ideale-  einfache  Cholecystostomie  mit  Naht  und  Versenkung 
oder  gar  die  Exsth'pation  der  Blase,  als  die  zweizeitige  Cholecystostomie  nach  Riedel*) 
zu  empfehlen,  „bei  richtiger  Ausführung  eine  absolut  ungefährliche  Operation."  Die  La- 
paratoniie  bei  Gallenstein-IIeus  hat  bis  jetzt  nur  schlechte  Resultate  aufzuweisen. 

Bezüglich  der  Diät,  deren  Bedeutung  freilich  früher  sehr  übertrieben 
worden  ist,  wird  fettfreie  und  zuckerarme  Nahrung  und  Meiden  starker  Al- 
coholica empfohlen,  vor  allem  aber  Massigkeit  im  Essen,  Milch  kann  ge- 
stattet w^erden.  Massige  Bewegung  und  Sorge  für  geregelten  Stuhl  sind  an- 
gezeigt, auch  in  prophylaktischer  Beziehung.  h.  vierordt. 

Gallenwege-  und  Gallenblase-Erkrankungen.   Das  specifische  Se- 

cretionsproduct  der  Leberzellen,  die  Galle,  wird  bekanntlich  durch  die  Gallen- 
capillaren,  deren  Umrandung  direct  durch  die  Wandungen  der  Leberparenchym- 
zellen  dargestellt  wird,  den  zwischen  den  einzelnen  Leberläppchen  verlaufenden 
(interlobulären)  Gallengängen  zugeführt.  Die  schliessliche  Vereinigung  der 
Gesammtheit  derselben  bildet  den  Ausführungsgang  der  Leber,  den  Ductus 
hepaticus.  Ihm  gesellt  sich  der  Ausführungsgang  der  Gallenblase,  der  Ductus 
cysticus,  bei;  aus  der  Confluenz  beider  entsteht  der  gemeinsame  Gallenausfüh- 
rungsgang, der  Ductus  choledochus,  w^elcher  in  seinem  Endverlaufe  zwischen  Pars 
muscularis  und  mucosa  des  Duodenums  mit  dem  Ausführungsgange  der  Bauch- 
speicheldrüse, dem  Ductus  pancreaticus,  zusammentritt  und,  vereint  mit  diesem, 
am  Ende  der  Plica  longitudinalis  des  absteigenden  Schenkels  des  Zwölffinger- 
darmes im  Diverticulum  Yateri  in  diesen  ausmündet. 

An  vierfach  verschiedener  Stelle  des  Gallengaugsystems  kann  daher  eine 
krankhafte  Affection  ihren  Angriffspunkt  finden,  am  Ductus  choledoch.,  cystic, 
hepaticus  und  an  den  intrahepatalen  Galleugängen.  Es  ist  aber  leicht  ver- 
ständlich, dass  einerseits  der  Ductus  choledochus  —  wegen  seiner  x\usmimdung 
in  den  Darm  —  andererseits  der  Ductus  cysticus  —  ob  seiner  Beziehungen 
zur  Gallenl)lase  —  die  relativ  häufiger  erkrankten  und  für  die  Pathologie 
wichtigeren  Antheile  des  Gallengangsystems  sein  werden.  Auf  der  anderen  Seite 
wird  begreiflicherweise  eine  primäre  Erkrankung  der  intrahepatalen  Gallen- 
gänge und  der  Gallencapillaren,  an  sich  schon  eine  Seltenheit,  weniger  unter 
einem  selbständigen  Sjmpt omenbilde  als  vielmehr  jenem  einer  Erki'ankung  der 


*)  Erfahrungen  über  die  Gallensteinkrankheit  mit  und  ohne  Icterus  1892. 


698  GALLENWEGE-  UND  GALLENBLASE-EEKRANKÜNGEN. 

Leber  verlaufen;  sie  dürfte  in  ihrer  eingehenden  Schilderung  demgemäss  rich- 
tiger dem  Capitel  der  Klinik  der  Leberkrankheiten  als  jenem  der  Erkrankungen 
der  Gallenwege  eingereiht  werden. 


Wir  theilen  die  Erkrankungen  der  grossen  Gallengänge  und  der  Gallen- 
blase zunächst  in  zwei  natürliche  Gruppen  ein,  jene  der  angeborenen  und 
jene  der  erworbenen  Erkrankungen. 

I.  Die  angeborenen  Anomalien  der  Gallengänge  und  Gallenblase. 

Dieselben  beruhen  entweder  auf  mangelhafter  Entwicklung  oder  auf 
durch  congenitale  Si/philis  bedingten  Aft'ectionen  der  normal  angelegten  vor- 
genannten Gebilde.  Erstere  äussern  sich  als  gänzlicher  oder  partieller  Defect 
der  Gallenblase  und  grossen  Gallenwege,  Störungen,  wie  sie  übrigens  in 
neuester  Zeit  ebenfalls  als  sicher  durch  congenitale  Syphilis  veranlasst  be- 
schrieben wurden.  In  der  Regel  aber  führt  diese  Erkrankung  nur  zu  Ver- 
engerung, Verschluss  oder  Verkümmerung  der  Gallenblase  und  Gallenaus- 
führungsgänge durch  fibröse  Massen,  in  welche  dieselben  eingebettet  sind. 

Das  vorzüglichste  S  y  m  p  t  o  m  eines  angeborenen  Verschlusses  oder  Mangels 
der  grossen  Gallenausführungsgänge  (Duct.  choledochus  und  hepaticus)  ist  ein  seit 
der  Geburt  bestehender  Icterus,  der  an  Intensität  rasch  zunimmt  und  bis  zu 
dem  nach  spätestens  6 — 7  Monaten  erfolgenden  Tode  anhält.  Die  Stühle  sind 
vollständig  acholisch,  der  Harn  enthält  reichlich  Gallenfarbstofi'  und  Gallen- 
säuren. Die  Leber  ist  massig  vergrössert,  nicht  schmerzhaft,  stets  bestehen 
Verdauungsstörungen.  Nicht  selten  verknüpfen  sich  mit  den  Symptomen  der 
absoluten  Gallenstauung  jene  eines  gleichzeitigen  Verschlusses  des  Pfortader- 
Stammes  in  Folge  Peripylephlebitis  syphilitica.  Dieser  verdanken  vorhandener 
Ascites,  Milztumor,  Erbrechen  und  Darmblutungen  ihre  Entstehung.  Die  Kinder 
gehen  meist  an  den  Folgen  der  Gallenretention  im  Organismus  unter  den  Er- 
scheinungen der  Cholämie  zu  Grunde. 

Die  Diagnose  und  Differentialdiagnose  mit  dem  gewöhnlichen 
Icterus  neonatorum,  dem  septischen  Icterus  und  den  seltenen  sonstigen  Formen 
von  Gelbsucht  bei  Neugeborenen  wird  kaum  schwer  fallen,  ausgenommen  die 
erst  jüngst  vereinzelt  publicirten  Fälle  von  angeborener  Lebercirrhose  auf 
syphilitischer  Basis.  Die  Entscheidung  der  Frage,  ob  ein  congenitaler  Verschluss 
der  Gallenwege  oder  mangelhafte  Entwicklung  derselben  vorliegt,  wird  sich  auf 
das  Auffinden  noch  anderer  Zeichen  von  hereditärer  Syphilis,  besonders  der 
Leber,  stützen. 

Die  Prognose  ist  eine  letale.  Gleichwohl  ist  in  allen  Fällen,  denen 
angeborene  Syphilis  zu  Grunde  liegt,  eine  energische  Schmiercur  einzuleiten,  be- 
sonders im  Hinblicke  auf  einzelne  Fälle,  bei  welchen  die  Quecksilbertherapie 
wenigstens  eine  beträchtliche  Verzögerung  des  tödtlichen  Endes  zu  bewirken 
vermocht  haben  soll. 

IL  Die  erworbenen  Erkrankungen  der  Gallengänge  und  Gallenblase. 

Ä.  Die  Entzündungen  der  Gallengänge  und  Gallenblase. 

Anatomisch  trennen  sich  dieselben,  je  nach  der  Natur  des  Entzündungs- 
productes  in  1.  die  Cholangitis  et  Cholecystitis  catarrhalis;  2.  die  Cholangitis  et 
Cholecystitis  suppurativa;  3.  die  Cholangitis  et  Cholecystitis  crouposa  und  diph- 
theritica. 

Auch  klinisch  werden  wir  eine  Scheidung  der  katarrhalischen  von  der 
eitrigen  Entzündung  der  Gallenwege  treffen,  während  der  croupösen  und  diph- 
therischen Entzündung  derselben,  an  sich  raren  Processen,  ein  auch  nur  an- 
nähernd fixirbares  besonderes  Krankheitsbild  zur  Zeit  mangelt.    Wir  können 


GALLENWEGE  UND  GALLENBLASE-EEKANKÜNGEN.  699 

aber  nicht  verschweigen,  dass  nach  unserer  Anschauung  eine  scharfe  Trennung 
zwischen  katarrhalischer  und  eitriger  Entzündung  der  Gallenwege  zu  ziehen, 
namentlich  nach  der  ätiologischen  Seite  hin,  nicht  jedesmal  angeht,  vielmehr 
besonders  anatomisch-bacteriologisch  feststellbare  Krankheits Vorgänge  einen 
Uebergang  der  beiden  Zustände  in  gewissen  Fällen  vermitteln  dürften.  Erst 
künftige  Studien  müssen  zufriedenstellende  Klärung  verschaffen. 

Was  wir  heute  unter  dem  klinischen  Begriffe  eines  Icterus  catarrhalis  vereinen, 
dürften  ätiologisch  keineswegs  gleichartige  und  gleichwerthige  Processe  sein. 
1.  Die  Cholangitis  et  Cholecystitis  catarrhalis. 

Fast  ausschliesslich  ein  secundäres  Leiden  —  primärer  Erkältungs- 
katarrh —  findet  die  katarrhalische  Entzündung  der  Gallenwege  ihre  primäre 
Veranlassung  in  abnormen  Vorgängen  entweder  innerhalb  oder  ausserhalb  ihres 
Lumens  und  ihrer  Wandungen,  letzterenfalls  an  der  Stelle  des  Ursprungs  der 
Gallencanäle  oder  der  Stelle  der  Ausmündung  des  Gallenausführungsganges. 
Zur  ersteren  Art  gehören  Fälle  von  Cholangitis  catarrhalis  in  Folge  von  Gallen  ■ 
steinen  oder  Concrement  derselben,  in  Folge  von  Parasiten  innerhalb  der 
Lichtung  der  Gallenwege,  welche  durch  mechanischen  Reiz  zum  Katarrh  der- 
selben führen.  Verweilen  von  Gallensteinen  in  der  Gallenblase,  vielleicht 
auch  eingedickte  Galle  erzeugen  in  analoger  Weise  eine  Cholecystitis  catar- 
rhalis. Hieran  reihen  sich  Fälle  von  chemisch-toxischem  Katarrh  der  Gallen- 
gänge, wie  sie  die  Phosphorvergiftung  so  häufig  begleiten,  der  Bleivergiftung 
folgen  und  nach  Genuss  von  Chloralhydrat  beschrieben  wurden.  Hieher 
zählen  vielleicht  auch  manche  Fälle  von  Gelbsucht,  welche  im  secundären 
Stadium  der  Syphilis  zum  Ausbruche  gelangt,  erzeugt  durch  syphilitisches  Enan- 
them  und  Katarrh  der  Schleimhaut  der  Gallenwege.  Für  diese  Fälle  sucht 
freilich  ein  anderer  Theil  der  Autoren  den  Grund  in  Schwellung  einer  peri- 
portalen Lymphdrüse  und  Compression  des  Ductus  choledochus  durch  dieselbe, 
wieder  ein  anderer  sogar  in  einer  Hepatitis  (praecox).  —  Mit  Recht  beschuldigt 
man  auch  Störungen  in  der  Blutcirculation,  wie  solche  bei  chronischen  Er- 
krankungen des  Circulations-  oder  Respirationstractes  sich  einstellen,  zu  Cholan- 
gitis catarrhalis  zu  führen.  Hier  aber  ist  es  neben  venöser  Stauung  des 
Blutes  der  Gallenwege  sicherlich  schon  auch  die  passive  Hyperämie  des  Leber- 
parenchym's,  welche  der  Entstehung  desKatarrhes  derselben  Vorschub  leistet, 
mithin  eine  Verquickung  einer  in  der  Wandung  der  Gallengänge  mit 
einer  zweiten,  jenseits  derselben  und  an  deren  Ursprünge  gelegenen  Ursache. 
Ausschliesslich  eine  solche  letztgenannte  liegt  jenen  Formen  von  Cholan- 
gitis catarrhalis  zu  Grunde,  wie  sie  bei  primären  Erkrankungen  des  Leber- 
parenchyms  als  Tumoren  oder  Lebercirrhose  vorkommen,  bei  welchen  eine  Com- 
pression der  grossen  Gallengänge  anatomisch  nicht  nachM^eisbar  ist.  Am  weit- 
aus häufigsten  aber  nimmt  die  Cholangitis  catarrhalis  ihre  Entstehung  von  einem 
vorhandenen  Catarrhus  gastroduodenalis,  dessen  Fortsetzung  auf  den  Ductus 
choledochus  zum  Icteruscatarrhalis  führt.  In  ähnlicher  Art  könnte  man 
auch  die  Fälle  katarrhalischer  Cholangitis  und  Cholecystitis  erklären,  welche 
im  Verlaufe  der  croupösen  Pneumonie,  des  Abdominaltyphus,  der  Cholera  und  der 
Malaria  (?)  zurBeobachtung  gelangen,  diesfalls  vielleicht  durch  die  specifischen 
Krankheitserreger  hervorgerufen.  Ein  derartiger  katarrhalischer  Icterus  kann 
aber  auch  als  toxischer,  durch  die  im  Blute  circulirenden  Toxine  erzeugt,  auf- 
gefasst  werden. 

Auch  der  Entstehung  einer  Cholecystitis  und  Cholangitis  catarrhalis  durch 
heftige  psychische  Erregungen  wollen  wir  Erwähnung  thun. 

Besondere  Hervorhebung  verdient  die  Thatsache  des  öfteren  epidemischen 
Auftretens  eines  katarrhalischen  Icterus. 

Anatomisch  kennzeichnet  sich  die  katarrhalische  Entzündung  der  Gallenwege  durch 
Schwellung  und  Röthung  ihrer  Schleimhaut,  welche  im  ganzen  Verlaufe  oder  nur  stellen- 
weise (besonders  im  unteren  Theile  des  Ductus  choledochus)  von  viscidem,  mit  Leucocyten 
und  abgestossenen  Epithelien  untermischtem  Schleime  überzogen  ist.  Das  Lumen  der  Gallen- 


700  GALLENWEGE-  UND  GALLENBLASE-ERKRANKUNGEN. 

Wege  wird  hiedurch  verengert  oder  gänzlich  verlegt,  es  kommt  in  Folge  dessen  zur  Gallen- 
stauung und  Gallenresorption. 

Je  nach    dem    Sitze    der   katarrhalischen   Entzündung   und   deren  Aus- 
breitung werden  sich  die  S  y  m  p  t  o  m  e  derselben  verschieden  gestalten.  —  Bei 
der    weitaus    häufigsten    Form,  dem   Icterus    catarrhalis    vel  gastro-duodenalis 
gehen  dem  Beginne  der  Gelbsucht  neben  leicht  gestörtem  Allgemeinbefinden 
eine  Reihe  dyspeptischer  Symptome*  voraus,  welche  in  Appetitmangel,  üblem 
Geschmacke  im  Munde,  belegter  Zunge,  Aufstossen,  Ueblichkeit  und  Brechreiz, 
Erbrechen,  Schmerzhaftigkeit  der  Magengegend  und  meteoristische  Auftreibung 
derselben  —  die  Zeichen   des   Magenkatarrhs  —  Stuhlverstopfung   oder  bei 
ausgedehnterem    Darmkatarrhe,  besonders  auch  im  Dickdarme,  Diarrhoe   be- 
stehen.    Nach  wechselnder  Dauer  dieser  gastro-intestinalen  Symptome  (1 — 2 
Tage,   selbst  mehrere  Wochen)  wird  die  Circulation  der  Galle  im  Blute   und 
deren  Ablagerung   im  Gewebe    manifest.     Ihr   markantestes  Zeichen   ist   der 
Icterus,   der  in  etwa  3  Tagen    an    den  Conjunctiven,    in  5 — 6  Tagen    seines 
Bestandes    an    der   Haut   und    den  Schleimhäuten  zur   höchsten  Entwicklung 
gelangt  ist.    Mit  dem  Erscheinen   desselben   pflegen   nicht   selten   die   gast- 
rischen Beschwerden  zurückzutreten;    manchmal  freilich    steigert    sich    deren 
Intensität.    Die  Wirkung  der  im  Blute  kreisenden  Gallensäuren  auf  das  Cen- 
tralnervensystem  äussert  sich  in  psychischen  Depressionsgefühlen,  Mürrigkeit, 
geistiger  Abgeschlagenheit,  abnormer  Reizbarkeit,  die  Einflussnahme   auf  das 
Herz  seltener  in  Irregularität  des  Pulses  als  häufig  in  Bradycardie,  mit  welcher 
oft  constante  Temperaturerniedrigung  bis  36-5°  und  noch  tiefer  sich  vereint. 
Dem  gegenüber  gibt  es  aber  auch  Fälle  von  katarrhalischem  Icterus  mit  massiger 
Temperaturerhöhung,    deren  Ursache   —    abgesehen  vom    initialen  Fieber   in 
Folge  des  Magenkatarrhs  —   man  in  bacterieller  Infection   der  stagnirenden 
Galle  vom  Darme  aus  erblicken  könnte.    Auf  eben  diese  ist  wohl  auch  unter 
Umständen  ein  bei  Cholangitis  catarrhalis  nicht  zu  selten  vorfindlicher  Milz- 
tumor zurückzuführen,  welchem  hinwieder  in  anderen,  speciell  afebrilen  Fällen 
eine  ganz    andere  Genese    (Rückstauung,  spodogener  Milztumor?)   zukommen 
dürfte.     Meist  erst  im  Verlaufe  des  Icterus  stellt   sich  manchmal  Hautjucken 
ein,    mitunter   Erythema,  Urticaria    ähnliche   Ausschläge    oder   Xanthelasma. 
Xantopsie   und  Hemeralopie    sind    selten   vorkommende  Begleiterssheinungen 
seitens  des  Auges.    Durch  Gelbfärbung  des  Schweisses,  der  Milch  bekundet  sich 
der  Uebertritt  des  Gallenfarbstoffes  in  die  Drüsensecrete,  der  ebenso  in  Trans- 
sudate und  Exsudate  übergeht,  vor  Allem  aber  durch  den  Urin  ausgeschieden 
wird.    In  Folge  hievon  zeigt  derselbe  dunkel  rothbraune  Färbung,   deutlichen 
Dichroismus  (Grünfärbung,  besonders  der  Randpartien  bei  auffallendem  Lichte), 
sein  Schaum  erhält  sich  auffallend  lange  gelb  gefärbt.    Im  Harne  stösst  man 
ab   und  zu  auf  Spuren  von  Eiweiss,  recht   häufig  auf   gelbgefärbte   hyaline, 
mit  Körnchen  oder  Harncanälchenepithelien  belegte  Cylinder.    Es  finden  sich 
Gallensäui'en  und,  was  weit  wichtiger,  reichlich  Bilirubin;  letzteres  bei  leichtem 
katarrhalischem  Icterus,  bei  dem  ein  Theil  von  Galle  noch  in  den  Darm  ab- 
fliessen  kann,    neben  Hydi^obilirubin   (Urobilin),    bei  totalem  Verschlusse    des 
Ductus  choledochus  ausschliesslich.    Der  meist  retardirte  Stuhl  zeigt  während 
der  Dauer   des  Gallengangverschlusses  eine  eigenthümliche  lehm-  oder  thon- 
artige  Farbe,  auffallend  üblen  Gestank  und  einen  hervorragenden  Reichthum 
an  Krystallen  von  Fettsäuren  und  fettsauren  Salzen,  deren  genaue  chemische 
Natur  (ob  Magnesia-,  Kalk-  oder  Natronseifen)  bis  zur  Zeit  noch  nicht  ausser 
jedem  Zweifel  steht.    Schwankungen  in  der  Intensität  des  KataiThs,  id  est  in 
der  Intensität  des  Verschlusses  der  Gallengänge  äussern   sich   durch  abwech- 
selnd gallenarme  und  gallig  tingirte  Stuhlentleerungeu. 

Die  klinisch  erkennbaren  örtlichenErscheinungen  an  Leberund 
Gallenwegen  lassen  sich  unmittelbar  aus  dem  sie  veranlassenden  Momente  der 
Gallenrückstauung  ableiten.     Sie   bestehen  besonders   dort,    wo    der    Ductus 


GALLENWEGE-  UND  GALLENBLASE-ERKRANKUNGEN.  701 

clioledochus  verstopft  ist,  in  jedoch  keineswegs  constant  vorkommender  Ver- 
grösserung  der  Leber,  Druckempfindlichkeit  und  höchstens  geringer  Schmerz- 
haftigkeit  im  rechten  Hypochondrium,  erzeugt  durch  Dehnung  des  peritonealen 
Ueberzuges  der  Leber.  Die  Gallenblase  wächst  zu  einem  unter  dem  rechten 
Rippenbogen  entsprechend  dem  vorderen  Ende  des  knöchernen  Antheiles  der 
9.  Rippe  und  dem  äusseren  Rande  des  rechten  Muse.  rect.  abdom.  hervortre- 
tenden, vor  Allem  nur  der  Percussion  zugänglichen  kleineren,  manchmal  aber 
palpatorisch  erkennbaren  grösseren,  in  der  Regel  birnförmigen,  prallelastischen, 
druckempfindlichen  Tumor  heran,  welcher  deutlich  respiratorische  Bewegungen 
zeigt.  Dieser  Gallenblasentumor  allein,  ohne  concommittirende  Symptome 
seitens  der  Leber  und  ohne  Icterus  wird  bestehen,  wo  nur  der  Ductus  cysticus  durch 
Schleimhautschwellung  verlegt  oder  die  katarrhalische  Entzündung  ausschliess- 
lich auf  die  Gallenblase  beschränkt  ist,  ein  namentlich  bei  vorhandenen  Steinen 
in  der  Gallenblase,  vielleicht  auch  bei  abnormer  Beschaffenheit  der  in  der 
Blase  befindlichen  Galle  (abnormer  Eindickung  derselben)  vorfindliches  Ereignis, 
welches  manchmal  unter  acuten  Erscheinungen,  ähnlich  einer  Gallensteinkolik, 
zur  Entwicklung  eines  Hydrops  cystidis  felleae  führen  kann. 

Zu  gedenken  wäre  noch  der  gleichzeitigen  Verlegung  des  Ductus 
pancreaticus  beim  Icterus  catarrhalis,  die  sich  freilich  nur  höchst  verein- 
zelt, vor  Allem  durch  Glycosurie,  erschliessen  lässt.  Diese  Verschliessung  des 
Ductus  pancreaticus  hat  sicherlich  eine  Mitschuld  an  ausgesprochenen  Ver- 
dauungsstörungen, vielleicht  fällt  ihrem  Fehlen  oder  ihrer  Anwesenheit  das 
kaum  gestörte  oder  merkbarer  alterirte  Allgemeinbefinden  zur  Last. 

Der  Icterus  catarrhalis  erstreckt  sich  in  der  überwiegendsten  Zahl  der 
Fälle  auf  eine  zeitliche  Dauer  von  wenigen  (etwa  2 — 6)  Wochen.  Indessen 
sind  auch  Fälle  von  ausgesprochen  chronischem  katarrhalischem  Icterus  bekannt, 
die  sich  sogar  auf  Jahre  hinaus  zogen,  um  gleichwohl  in  Heilung  überzugehen. 

So  schwer  Fälle  der  letztgenannten  Art  einer  sicheren  Diagnose  zugäng- 
lich sind,  so  gering  sind  die  Mühen,  welche  die  Diagnostik  des  gewöhn- 
lichen katarrhalischen  Icterus  fordern.  Sie  stützt  sich  — ■  das  Vor- 
handensein der  ihr  zukommenden,  eben  geschilderten  Symptome  vorausgesetzt 

—  vor  Allem  auf  die  Thatsache  eines  vorausgegangenen  Diätfehlers  und  dys- 
peptischef  Beschwerden,  daneben  auf  die  fast  durchwegs  nur  geringe  Störung 
des  Allgemeinbefindens,  auf  das  relativ  rasche  Entstehen  der  Gelbsucht,  welche 
jedoch  weniger  acut  sich  entwickelt  als  bei  Cholelithiasis,  die  zudem  fast 
ausnahmslos  erst  jenseits  des  30.  Lebensjahres  vorzüglich  bei  Frauen  (Müttern) 

—  unter  ausgeprägten  Schmerz-  und  häufig  Fiebersymptomen  auftritt.  ") 

Noch  muss  man  seltene  Ursachen  eines  schnell  entstehenden  Obturations- 
Icterus  ausschliessen,  unter  welchen  Durchbruch  einer  Cyste  eines  geplatzten 
Leberechinococcus-Sackes  in  die  Gallengänge  oder  Eindringen  von  Parasiten 
in  den  Duct.  choledoch.  vom  Darme  aus,  auch  rasch  anwachsende  kleine  Car- 
cinome  des  letzteren  zu  nennen  sind.  (Siehe  später:  Verengerung  und  Ver- 
schluss der  Gallenwege.)  Man  muss  endlich  im  Beginne  der  Gelbsucht  an  die 
Möglichkeit  einer  unter  den  Erscheinungen  des  Icterus  catarrhalis  einsetzenden 
acuten  gelben  Leberatrophie  denken. 

Die  Prognose  des  Icterus  catarrhalis  ist  eine  für  die  weitaus 
grösste  Mehrzahl  der  Erkrankungsfälle  gute.  Gibt  es  aber  auf  der  einen 
Seite,  wenn  auch  selten,  consecutive  Zustände  im  Ductus  choledochus,  welche 
durch  dauernden  Verschluss  bezw.  Verengerung  desselben  und  der  Gallen- 
gänge überhaupt  zur  tödtlichen  Cholämie  führen,  so  sind  andererseits  auch  rare 
Fälle  bekannt,  welche  ohne  derartige  anatomische  Veränderungen  unter  den 
Erscheinungen  einer  Blutdissolution  ohne  hervorstechende  cerebrale,  cardiale 
oder   renale    Krankheitssymptome    letal   endeten.    —  Wo  die  Cholangitis  ca- 


*)  Vergl.  Artikel  „Gallensteinkolik^. 


702  GALLENWEGE-  UND  GALLENBLASE-ERKRANKUNGEN. 

tarrhalis  als  Theilerscheinung  anderer  Erkrankungen,  wie  früher  erwähnt,  sich 
vorfindet,  richtet  sich  nach  diesen  auch  die  Vorhersage  für  die  erstere. 

Die  Behandlung  des  Icterus  gastro-duodenalis  wendet  sich, 
wo  noch  deutliche  Symptome  des  Magen-Darmkatarrhs  vorliegen,  zunächst 
gegen  diese:  nur  selten  und  mit  Vorsicht  dürfte  man  zur  Verabreichung  eines 
Brechmittels  schreiten,  in  der  Regel  verordnet  man  gelinde  abführende 
Stomachica,  wie  besonders  PJieumpräparate  Tmc^r.  rhei  aquos.rmä  vinos.,  recht 
häufig  Karlsbaderwasser  oder  V2  bis  1  Esslöffel  in  einer  Tasse  lauen  Wassers 
gelösten  künstlichen  Karlsbadersalzes.  Auch  die  Säuren  erweisen  sich  als 
wohlthätig,  z.  B.  Acid.  citric.  oder  Äcid.  muriat.  l'O — 2-0  g  pro  die  in  Lösung. 
Specifisch  cholagoge  Mittel  kennen  wir  mit  Sicherheit  nicht.  Noch  am  meisten 
gerühmt  wird  das  Natrium  salicylicum  (5'ö — 6-0  g  pro  die),  während  die 
gallensauren  Salze  wohl  bereits  verlassen  sein  dürften.  Dahingegen  verdienen 
nach  fremder  wie  eigener  Erfahrung  die  KüULL'schen  Irrigationen  i.  e.  Darm- 
infusionen von  1 — 2  Liter  eines  12 — ISMgen  (R.)  Wassers,  welche  der 
Kranke  möglichst  lange  hält,  warme  Empfehlung,  da  sie  durch  intensive  An- 
regung der  Darmperistaltik  einen  Icterus  catarrhalis  zu  bessern  und  in  relativ 
rascher  Zeit  zu  beheben  im  Stande  sind.  Zur  Beseitigung  des  den  Ductus 
choledochus  verlegenden  Hindernisses  versuchte  Gerhaedt  die  manuelle  Com- 
pression  der  Gallenblase,  ein  selten  und  vielleicht  nicht  ganz  ohne  Gefahr 
vorzunehmender  Griff',  der  sich  Bürgerrecht  ebenso  wenig  erworben  hat,  wie 
die  mehrfach  empfohlene  Faradisation  der  Gallenblase.  Wo  der  Icterus  ca- 
tarrhalis in  mehr  chronischer  Weise  verläuft,  dort  ist  Gebrauch  von  Karls- 
hader, Marienbader,  Kissinger ^  Homhurger  Wasser  oder  jener  von  alkalischen 
und  alkalisch-muriatischen  Wässern  (Bilin,  Ems,  Giesshühl,  Gleichenberg,  Lu- 
haischoiüitz,  Preblau,  Selters,  Vichy  etc.)  angezeigt.  —  Gegen  das  oft  peinigende 
Hautjucken  kämpft  man  mit  warmen  Bädern,  welche  auch  sonst  bei  Icterus 
catarrhalis  angenehme  Wirkung  entfalten,  Waschungen  mit  27o-ig'er  Carbol- 
säurelösung,  verdünntem  Essig,  Citronensaft  etc.  oder  einer  morgendlichen 
und  abendlichen  Dosis  von  Bromkali  (2-0)  an. 

Unter  allen  Umständen  endlich  ist  auf  strenge  Diät,  besonders  Vermei- 
dung fetter  Speisen  zu  sehen. 

Die  Behandlung  der  übrigen  Formen  von  Cholangitis  catarrhalis,  welche 
mit  dem  Icterus  catarrhalis  nicht  zusammenfallen,  hat  sich  nach  dem  Grund- 
leiden zu  richten. 

2.  Die  Cholangitis  et  Cholecystitis  suppurativa. 

Die  eitrige  Cholangitis  et  Cholecystitis  zerfällt  ätiologisch  in  2  Gruppen, 
eine  Gruppe,  bei  welcher  die  vordem  normalen  Gallenwege  durch  im  Duode- 
num pathologischerweise  vorhandene  specifisch  pathogene  Bakterien  von  diesem 
aus  inficirt  werden:  hieher  zählt  die  Cholangitis  et  Cholecystitis  suppm-ativa  im 
Verlaufe  des  Abdominaltyphus  und  der  croupösen  Pneumonie,  ebenso  auch  der 
Cholera  und  eine  2.  Gruppe,  bei  welcher  die  schon  normalerweise  im  mittleren 
Duodenum  auffindbaren  Bakterien,  wie  vor  Allem  das  Baderium  coli  commune, 
weiters  die  Staphylococcus-Arten  und  der  Streptococcus  pyogenes  Gallenwege 
inficiren,  welche  nicht  mehr  gesund,  sondern  aus  irgend  einem  Grunde  un- 
durchgängig geworden  sind,  so  dass  Gallenretention  existirt.  Ob  der  Grund 
dieser  Unpassirbarkeit  der  Gallenwege  in  der  Höhlung  oder  der  Wand  der- 
selben sitzt  oder  von  aussen  her  wirksam  ist,  ist  für  die  Frage  der  eitrigen 
Infection  der  Gallenwege  irrelevant.  Jedes  Hindernis  in  der  freien  Canalisation 
des  Gallenabflusses  leistet  der  bacteriellen  Infection  Vorschub. 

Nach  dem  Vorausgegangenen  begreift  sich,  dass  wir  einer  eitrigen  Ent- 
zündung der  Gallenwege  begegnen  bei  Abdominaltyplius,  hier  nachgewiesener- 
massen  erzeugt  durch  den  Typhusbacillus,  weiters  bei  croupöser  Pneumonie, 
hier  muthmaasslich  veranlasst  durch  den  Diplococcus  pneumoniae  und  zwar  beide- 


GALLENWEGE-  UND  GALLENBLASE-ERKRANKUNGEN.  703 

mal  speciell  einer  ausschliesslichen  oder  wenigstens  vorwaltenden  Cholecystitis 
suppurativa.  Wir  sehen  andrerseits  eine  Cholangitis  oder  Cholecystitis  suppurativa 
vor  Allem  bei  Gallensteinen,  mögen  dieselben  einmal  das  Lumen  des  Ductus  cv- 
sticus,  ein  andermal  jenes  des  Ductus  choledochus  oder  hepaticus  obturiren 
oder  in  der  Gallenblase  allein,  beziehungsweise  den  intrahepatalen  Gallen- 
gängen ihren  Sitz  haben.  Im  Weiteren  finden  wir  eitrige  Cholangitis  bei 
Eingeweidewüi'mem,  welche  in  die  Gallenwege  eingedrungen  sind,  selten  als 
Secundärinfection  eines  einfachen  Icterus  catarrhalis.  Endlich  bei  Carcinom 
fresp.  anderen  Keubildungen)  der  Gallenblase  und  des  Ductus  choledochus, 
bei  multiloculärem  Leberechinococcus  und  zuletzt  bei  allen  jenen  Processen, 
Avelche  von  aussen  her  auf  die  Gallenwege,  besonders  die  grossen  Gallen- 
gänge drücken,  dieselben  zur  Verengerung  und  zum  Verschlusse  bringen  und 
der  nunmehr  erfolgenden  bakteriellen  Infection  die  Bahn  brechen.  Eine  mehr 
untergeordnete  Rolle  spielen  jene  Arten  von  eitriger  Cholangitis,  welche 
durch  directe  Fortsetzung  einer  um  die  Gallengänge  localisirten  Eiterung 
oder  durch  Einbruch  derselben  in  die  Gallengänge,  sei  es  innerhalb  oder 
ausserhalb  der  Leber,  entstehen,  z.  B.  Cholangitis  bei  primärer  eitriger  Pyle- 
phlebitis.  Die  bei  nicht  specifischer  eitriger  Cholangitis  thätigen  Bakterien 
sind,  wie  erwähnt,  das  Bacterium  coli  commune,  die  Staphylococcen  und  der 
Streptococcus  pyogenes. 

Die  eitrige  Entzündung  der  Gallenblase  und  Gallengänge  bekundet  sich 
pathologisch-anatomisch  durch  eiteruntermengten  oder  rein  eitrigen  In- 
halt der  erkrankten  Partie,  durch  Injection,  Auflockerung,  Ecchymosirung  und 
Ulceration  der  Schleimhaut  dersell)en.  Eiterige  Entzündung  der  intrahepatalen 
Gallengänge  führt  zur  Entstehung  multipler  miliarer  ilbscesse  in  der  Leber, 
deren  Uebergreifen  auf  das  umliegende  Lebergewebe  zur  Bildung  erbsen-  bis 
haselnussgrosser  „biliärer"  Abscesse  Veranlassung  gibt,  die,  untereinander 
confluirend,  wieder  ausgedehnte  Eiterhöhlen  in  der  Leber,  „alveoläre  Leber- 
abscesse"  erzeugen  können. 

Die  Eiterung  kann  aber  eine  noch  weitere  Ausdehnung  gewinnen  und 
zwar  entweder  blos  local  oder  selbst  allgemein.  Uebergreifen  der  Eiterung 
auf  die  Pfortader  muss  eine  Pylephlebitis  suppurativa  zui'  Folge  haben,  wie 
auch  ein  suliphrenischer  Abscess  und  allgemeine  eitrige  Peritonitis  zu  den 
möglichen  Consequenzen  einer  eitrigen  Cholangitis  zählen. 

Gelangen  die  örtlich  eiterungerregenden  Bacterien  ins  Blut,  dann 
resultirt  eine  Septicämie  bezw.  Pyämie  biliösen  Ursprungs.  Diese 
findet  ihre  häufigste  entfernte  Localisation  im  Herzen  und  hierselbst  ihren  Aus- 
druck als  Endocarditis  ulcerosa,  deren  Lieblingssitz  die  Mitralklappe  ist.  während 
sie  seltener  an  den  Aortenklappen,  am  allerseltensten  an  der  Tricuspidalklappe 
beobachtet  wmTle.  Wie  eine  Endocarditis  ulcerosa,  so  gibt  es  metastatische 
Eiterungen  in  Lungen  und  Pleura,  selbst  metastatische  eitrige  Meningitis 
nach  Cholangitis  suppurativa. 

Die  Symptome  der  eitrigen  Cholangitis  und  Cholecystitis,  welche  —  wie 
namentlich  im  Verlaufe  von  Infectionskrankheiten  —  hinter  dem  Grundlei- 
den vollständig  unerkennbar  zurücktreten  können,  trennen  sich  in  einerseits 
örtliche,  anderseits  entfernte  und  allgemeine.  Die  örtlichen  Symptome 
sind  nahezu  bedeutungslos,  wo  die  Eiterung  nur  den  Ductus  choledochus,  oder 
hepaticus  betrifft.  Bei  Erkrankung  blos  der  intrahepatalen  Gallengänge 
beobachten  wir  eine  schmerzhafte  Leberschwellung,  bei  eitriger  Entzündung 
der  Gallenblase  und  dieser  im  Vereine  mit  eitriger  Entzündung  des  Ductus 
cysticus  eine  schmerzhafte  Vergrösserung  der  Blase,  die  bald  als  deutlicher 
Tumor  erkennbar  sein  kann,  bald  unter  einer  diffusen,  teigigen,  schmerz- 
haften Piesisteuz  des  rechten  Hypochondriums,  dem  Zeichen  von  Perichole- 
cystitis,  sich  versteckt  halten  kann.  Häufige  Begleiter  sind  Verdauungs- 
besehwerden, Diarrhoe  und  sonstige  Zeichen  einer  peritonealen  Reizung,  welche 


704  GALLEN  WEGE-  UND  GALLENBLASE-ERKEANKUNGEN, 

manchmal  selbst  unter  foudroyantem,  einer  acuten  Darmverschliessung 
ähnlichem  Bilde  einsetzen  kann.  Vereinzelt  gelangt  auch  profuse  Darmblu- 
tung als  Beweis  einer  stattgehabten  Gallenblasenschleimhaut-Ulceration  zur 
Beobachtung, 

Auch  die  entfernteren  und  allgemeinen  Symptome  haben  nur  sehr 
wenig  Charakteristisches  an  sich,  Icterus  wiederum  nur  dort,  wo  der  Ductus 
choledochus  oder  hepaticus  oder  die  intrahepatalen  Gallengänge  in  grösse- 
rem Umfange  verlegt  sind;  indessen  auch  unter  allen  diesen  Voraussetzungen, 
soweit  nicht  das  Grundleiden  dies  anders  bestimmt,  von  wechselnder  und 
nicht  allzuhochgradiger  Intensität,  Meist  nicht  gar  beträchtlicher  Milztumor, 
tiefer  gestörtes  Allgemeinbefinden. 

Ein  Symptom  aber  ist  von  hervorragender  Bedeutung,  das  Fieber^ 
welches  sich  als  das  sogenannte  Fievre  intermittente  hepaüque  (Chaecot)  oder 
besser  Fievre  intermittente  bilioseptique  darstellt.  Dieses  ist  ausgezeichnet 
durch  manchmal  in  typisch  geordneten,  meist  in  unregelmässigen  Zeiträumen 
wiederkehrende  Attaquen  von  heftigem  Frost  mit  anschliessender  Temperatur- 
steigerung selbst  bis  41^  C.  und  nachfolgendem,  von  Schweissausbruch  be- 
gleitetem Temperaturabfalle.  Die  Differentialdiagnose  dieses  septischen 
Fiebers,  welchem  übrigens  nur  ihm  eigene  Besonderheiten  nicht  zukommen, 
von  jenem  des  Wechselfiebers  stützt  sich  vor  Allem  auf  das  Vorkommen  von 
Malariaplasmodien  im  Blute  bei  letzterem,  von  Eitercoccen  bei  ersterem, 
welche  freilich  erst  in  vereinzelten  Fällen  wirklich  im  Blute  nachgewiesen 
wurden.  Verwendbare  Anhaltspunkte,  wenn  nöthig,  bietet  weiterhin  der  Um- 
stand, dass  Malaria  meist  in  den  Vormittagsstunden,  das  Fievre  intermittente 
bilioseptique  in  den  Abendstunden  eintritt,  das  Fieber  bei  Malaria  terrassen- 
förmig, das  septische  Fieber  steil  abfällt,  der  zeitlich  irreguläre  Typus  bei 
diesem  vorwaltet  und  Chinin  hier  unwirksam  ist,  gegen  ersteres  specifisch 
wirkt. 

Von  grosser  Wichtigkeit  für  die  Diagnose  einer  eitrigen  Cholangitis  ist  uns 
weiterhin  der  Nachweis  einer  bedeutenden  Vermehrung  der  polynuclearen 
Leukocyten  im  Blute  bei  mangelnden  eosinophilen  Zellen,  das  Vorhandensein, 
von  reichlichem  Indican  und  Pepton  im  Urin,  die  uns  auf  eine  richtige  Bahn 
führen  können,  wo  nicht  Darmgeschwüre,  z.  B.  typhöse  vorliegen. 

Die  Ausgänge  einer  Cholangitis  et  Cholecystitis  suppurativa  sind 
variable.  Erstere,  welche  prognostisch  am  ungünstigsten  sich  stellt,  wenn 
es  sich  um  vorwiegende  Eiterung  der  Mehrzahl  der  intrahepatalen  Gallen- 
gänge handelt,  führt  diesfalls  auf  dem  Wege  der  Vereiterung  von  Leber- 
substanz, des  Uebergreifens  auf  die  Pfortader,  der  Bildung  subphrenischer 
Abscesse  und  allgemeiner,  eitriger  Peritonitis,  der  biliösen  Septicämie  und 
Pyämie  wohl  zumeist  zum  Tode.  Eine  eitrige  Entzündung  in  den  grossen 
Gallenausführungsgängen  gehtzweifellos  häufig  genug  in  Heilung  über  namentlich 
dort,  wo  sie  höhere  Ausbreitung  und  grössere  Extension  noch  nicht  erreicht  hat 
und  die  Grundursache  der  Verstopfung  des  Gallenganges  z.  B.  ein  Gallenstein 
bald  nach  deren  Eintritt  wieder  beseitigt  wird.  Die  Cholecystitis  suppura- 
tiva, ebenfalls  bei  geringgradiger  Entwicklung  schadlos  sich  ausgleichend, 
kann  bei  vorgeschrittenerem  Erkrankungsprocesse  zur  Bildung  eines  chro- 
nischen Empyems  der  Gallenblase  führen  oder  durch  Vermittlung  einer  Peri- 
cholecystitis  zur  Verwachsung  mit  der  Umgebung  der  Gallenblase  und  zwar 
dem  Netze,  Magen,  Duodenum  oder  Quercolon  oder  der  vorderen  Bauch  wand. 
Die  in  der  Gallenblase  fortschreitende  Eiterung  führt  zur  eitrigen  Einschmel- 
zung  der  Gallenblasenwand,  so  dass,  sind  die  vorher  erwähnten  Adhäsionen 
zur  Entwicklung  gekommen,  durch  Austritt  von  Eiter  durch  die  ulcerös  zer- 
fallene oder  auch  rupturirte  Gallenblasenwand  sich  eine  circumscripte  Peri- 
tonitis oder  in  Folge  der  an  der  Anwachsungsstelle  durchdringenden  Eiterung 
eine  fistulöse  Communication  zwischen    Gallenblase    und    Magen    oder   Darm 


GALLENWEGE-  UND  GALLENBLASE-ERKRANKUNGEN.  705 

oder  endlich  eine  Gallenblasen-Bauclideckenfistel  bildet,  durch  welche  der 
Eiter  sich  natürlichen  Ausweg  verschafft.  Haben  solche  Verwachsungen 
nicht  stattgefunden,  dann  ergiesst  sich  bei  Perforation  oder  Kuptur  der 
eitererfüllten  Gallenblase  deren  Inhalt  in  die  freie  Bauchhöhle.  Das  Indivi- 
duum erliegt  einer  allgemeinen  eitrigen  Perforationsperitonitis,  ein  nament- 
lich bei  den  Fällen  von  Cholecystitis  suppurativa  typhosa  beobachtetes  Er- 
eignis. 

Die  Behandlung  der  acuten  eitrigen  Entzündung  der  Gallen- 
blase, sowie  jener  des  Ductus  choledochus  und  hepaticus  kann  nur  den 
einen  Weg  verfolgen,  den  die  Chirurgie  bei  jedem  Eiterherde  im  Organismus 
einzuschlagen  sich  bestrebt:  Eröffnung  und  Säuberung  des  Eiterherdes,  d.  h. 
in  Cholecystotomie,  resp.  Choledochotomie.  Auch  dort,  wo  die  Cholangitis 
suppurativa  mehr  im  Innern  des  Leberparenchyms  iocalisirt,  d.  h.  ein  Leber- 
abscess  vermuthet  werden  darf,  wird  chirurgisches  Einschreiten  in  Frage 
kommen.  Wo  aber  eine  diffuse,  eitrige  Entzündung  der  intrahepatalen  Gal- 
lengänge vorliegt,  dort  ist  die  Therapie  eine  ausschliesslich  symptomatische 
i.  e.  antiseptische  {Salol),  antipyretische  (vielleicht  vorzugsweise  Phenacetin) 
und  roborirende. 

B)  Verengerung  und  Verschluss  der  Gallenwege. 

Die  Ursachen  einer  Verengerung,  beziehungsweise  Verschliessung  der 
Gallenwege  können  entweder  im  Lumen  derselben  gelegen  sein  oder  in  der 
Wandung  derselben  oder  endlich  ausserhalb  deren  Wand. 

Unter  die  in  der  Höhlung  der  Gallenwege  befindlichen  Hindernisse  für 
den  Gallenabfluss  gehören  vor  Allem  die  Gallensteine  (siehe  dieses  Capitel) 
und  die  in  die  Gallenwege  eindringenden  Parasiten:  der  Ascaris  lumbricoides, 
der  multiloculäre  Leber-(Gallengang-)Echinococcus,  welcher  durch  seinen 
primären  Sitz  in  der  Gallengangwand  und  der  einfache  Leberechinococcus, 
welcher  durch  Einbruch  in  die  Gallengänge  —  abgesehen  von  Compression 
dieser  von  aussen  —  zum  ßetentions-Icterus  führt,  schliesslich  das  Distoma 
hepaticum  und  lanceolatum. 

In  die  zweite  Kategorie  von  Fällen,  jene,  bei  welchen  die  stenosirende  oder 
obstruirende  Ursache  von  der  Wandung  der  Gallengänge  selbst  ihren  Ausgang 
nimmt,  zählen  abgesehen  von  den  bereits  besprochenen  Entzündungszuständen 
der  Schleimhaut,  zwei  verschiedenartige  Processe:  Die  stenosirenden  Schwielen- 
und  Narbenbildungen  in  der  Gallengangwand  und  die  Neubildungen  der- 
selben. Ist  es  nämlich  im  Verlaufe  einer  länger  dauernden  katarrhalischen 
Cholangitis  zu  stärkerer  Verdickung  der  Schleimhaut'  gekommen  oder  aber  ist 
im  Gefolge  einer  katarrhalischen,  noch  weit  mehr  einer  eitrigen  Cholangitis 
die  Schleimhaut  der  Gallenwege  ihres  Epithels  verlustig  geworden,  stellenweise 
erodirt  oder  ulcerirt,  dann  entstehen  einerseits  Schwielenbildungen,  andererseits 
narbige  Verengerungen  des  Gallenganges,  oder  gegenüberliegende,  wunde  Stellen 
desselben  verwachsen  vollständig  untereinander,  so  dass  seine  Lichtung  an 
dieser  Stelle  total  aufgehoben  ist.  Es  resultiren  dauernde  Verengerung  oder 
dauernder  Verschluss  der  Gallenwege. 

Unter  den  Neubildungen  der  Gallengänge  ist  es  allein  das  Car- 
cinom  des  Ductus  choledochus,  welches  klinische  Bedeutung  besitzt.  Es  pÜegt 
in  zweierlei  Formen  aufzutreten  als  primäres  Carcinom  in  Gestalt  eines  Zotten- 
krebses, als  secundäres  Carcinom  nicht  selten  in  Form  einer  sciiThösen,  die 
Gallengangwand  infiltrirenden  und  ihr  Lumen  obstruirenden  Neubildung. 

In  die  dritte  Kategorie  von  Fällen,  jene,  bei  welchen  von  aussen  her  ein 
Druck  oder  ein  Zug  auf  den  Gallengang  statthat,  hiedurch  Compression  oder 
Abknickung  desselben  und  infolge  davon  ein  Hemmnis  des  GallenabÜusses 
erzeugt  wird,  gehören  mannigfaltige  Erkrankungen,  welche  sicli  an  allen  in 
der  Nachbarschaft  der  grossen  Gallengänge  gelegenen  Organen  oder  Geweben 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  ■40 


706  GALLENWEGE-  UND  GALLENBLASE-ERKRÄNKUNGEN. 

etablireii    können    oder    sich    im  Inneren    der  Leber   in    der  Umgebung   der 
intraliepatalen  Gallengänge  abspielen. 

Reiben  sieb  zur  allerletzten  Unterart  Tumoren-Bildungen  besonders  an 
der  concaven  Seite  der  Leber  ein,  welcbe  aus  dieser  herauswachsen  und  zu- 
nächst den  Ductus  hepaticus  comprimiren,  so  gehören  unter  die  als  3.  Gruppe 
zusammenzufassenden  Fälle  Schwielenbildung  im  Bindegewebe  der 
Porta  hepatis:  ein  Consecutivzustand  einer  Perihepatitis,  welche  mederum 
von  Erkrankungen  der  Leber  wie  Cirrhose,  von  chronischer,  allgemeiner,  auch 
tuberculöser  Peritonitis,  von  in  der  Nähe  der  Leberpforte  sesshaften,  zur  cir- 
cumscripten  productiven  Peritonitis  führenden  Erki-ankungen  (z.  B.  Ulcus  ven- 
triculi  rotunclmn),  von  Entzündungszuständen  der  rechten  Pleura  sich  fort- 
leiten, in  erster  Linie  aber  durch  constitutionelle  Syphilis  bedingt  sein  kann. 
Eine  um  die  grossen  Gallenausfiihrungsgänge  platzgreifende  Schwielenbildung 
kann  auch  als  directe  Folgeerkrankung  einer  stattgehabten  Entzündung 
im  Inneren  derselben  aultreten,  da  diese  die  Gallenwand  durchsetzt  und  an 
deren  Aussenseite  zur  productiven  Entzündung  mit  nachfolgender  constrin- 
girender  Schwielenbildung  Veranlassung  gegeben  hat. 

Hieher  sind  weiters  zu  rechnen  die  bösartigen  Neubildungen, 
vorwiegend  Carcinome,  welche  entweder  vom  Duodenum,  vom  Pankreas-Kopfe 
oder  vom  pylorischen  Antheile  des  Magens  ausgehen.  Die  Carcinome  des 
Duodenums  verlegen  direct  die  Mündung  des  Ductus  choledochus  und  machen 
hiedurch  den  Gallenabtluss  in  den  Darm  unmöglich.  Ein  Carcinom  des  Pan- 
creaskopfes  kann  in  verschiedener  Art  zum  Stauungs-Icterus  Veranlassung 
geben:  entweder  es  wuchert  unmittelbar  an  den  Ductus  choledochus  heran 
und  comprimirt  ihn.  oder  es  übergreift  auf  denselben,  durchwuchert  ihn  und 
A^erlegt  sein  Lumen.  Letzteres  trifft  zu  in  jenen  Fällen,  wo  der  Ductus  chole- 
dochus in  der  Substanz  des  Pancreaskopfes  verlauft,  ersteres  dort,  wo  er  am 
Kopfe  des  Pancreas  vorüberzieht,  ohne  in  denselben  einzutreten.  Ein  Pan- 
creascarcinom  kann  aber  auch  Stauungs-Icterus  dadurch  herbeiführen, 
dass  es  —  histologisch  ein  Skirrhus  —  eine  Verziehung  des  Duodenums 
und  hiedurch  eine  Abknickung  des  Ductus  choledochus  bewirkt.  Endlich 
kann  es  direct  auf  das  Duodenum  übergreifen  und  einem  Duodenalkrebse 
analog  zur  Verschliessung  der  Mündung  des  Gallenausführungsganges  Anlass 
geben.  Auch  ein  Magencarcinom  kann  unmittelbar  an  den  Ductus  chole- 
dochus heranwuchern  und  seine  Lichtung  durch  Compression  von  aussen  oder 
Substitution  seiner  Wandung  und  vordringendes  AYachsthum  ins  Innere  ver- 
engern oder  verschliessen.  Häufiger  aber  bewirkt  der  Krebs  des  Magen- 
Pylorus  Piesorptions-Icterus  durch  Metastasirung  in  eine  periportale  Lymph- 
drüse oder  in  Lymphdrüsen  des  Ligamentum  hepato-duodenale,  welche  ihrerseits 
den  Ductus  choledochus  comprimiren.  Endlich  kann  auch  eine  secundäre 
krebsige  Infiltration  des  Netzes  bis  an  den  Gallengang  andringen,  diesen  um- 
fassen und  zusammendrücken. 

Wie  krebsige  ebenso  vermag  auch  in  seltenen  Fällen  eine  tuberkulöse 
Infiltration  des  Omentum  mechanischen  Verschluss  des  Galleuausführungs- 
ganges  zu  liewirken.  Freilich  erzeugt  Tuberkulose  häufiger  durch  die  specifische 
Erkrankung  der  periportalen  Lymphdrüsen  Compression  des  Ductus  choledochus. 
In  ähnlicher  Weise  können  auch  amyloid  geschwellte,  periportale  Lymph- 
drüsen und  sollen  ebenso  lymphosarkomatös  erkrankte  Drüsen  der  Leberpforte 
Stauungs-Icterus  hervorrufen. 

Wir  hätten  noch  verhältnismässig  seltener  Ursache  eines  Retentions- 
Icterus  zu  gedenken,  wie  des  des truir enden  Adenoms  des  Duodenum 
(Zieglee),  der  Geschwüre  im  Duodenum,  beziehungsweise  narbigen 
Schrumpfungsprocesse  nach  solchen,  verschiedener  Erkrankungen  des 
Pancreas,  welche  zur  Schwellung  desselben  führen,  so  Entzündungen,  Blu- 
tungen   der  Pancreascysten,   welche  in  theils  acuter,  theils  mehr   chronischer 


.GALLENWEGE-  UND  GALLENBLASE-ERKRANKUNGEN.  707 

Weise  Compressions-Icterus  zu  erzeugen  vermögen;  selten  grosser  Aneurysmen 
der  Aorta,  Aneurysmen  der  Art.mesaraicasuperior  undderliepatica,  aussergewöhn- 
liclier  Schwellung  retroperitonealer  Lymphdrüsen,  endlich  massenhafter  An- 
sammlung harter  Fäkalstofle  in  den  Gedärmen  und  ausnehmend  umfangreicher 
Ovarial-  und  Uterusgeschwülste  (auch  des  schwangeren  Uterus). 

Soweit  sich  die  pathologische  Anatomie  nur  mit  der  Schilderung  der 
bezüglichen  Merkmale  jeder  einzelnen,  im  Vorstehenden  aufgezählten  Grund- 
krankheit beschäftigt,  glauben  wir  an  dieser  Stelle  eine  Besprechung  dieser 
Verhältnisse  übergehen  zu  dürfen.  Wir  müssen  aber  wenige  Worte  der  Betrach- 
tung der  unmittelbaren  Folgezustände  eines  Verschlusses  der  Gallen- 
ausführungsgänge  und  zwar  eines  chronischen  Verschlusses  widmen.  Ist 
der  Ductus  choledochus  —  nach  dem  Vorausgegangenen  das  relativ  häufig- 
ste Vorkommnis  —  dauernd  unwegsam,  so  werden  die  hinter  der  Ver- 
schlussteile gelegenen  Gallenwege  durch  die  sich  stauende  Galle,  deren 
Production  zunächst  noch  ungestört  anhält,  hochgradig  erweitert,  ihre  Wan- 
dungen werden  verdickt.  Die  consecutive  Dilatation  der  intrahepatalen 
Gallengänge  setzt  eine  Vergrösserung  der  Leber,  manchmal  auf  das  Doppelte 
ihres  ursprünglichen  Volums.  Den  Inhalt  der  sämmtlichen  erweiterten  Gallen- 
wege bildet  zur  Zeit  reine  Galle.  Ihr  mischt  sich  in  der  Folge  immer  reich- 
licheres Secret  der  Schleimhaut  der  Gallenwege  und  aus  den  Gallenwegegefässen 
transsudirtes  Serum  bei,  bis  endlich  die  Galle  gänzlich  verschwindet  und  die 
in  den  Gallenwegen  stagnirende  Flüssigkeit  ein  vollständig  farbloses,  klares 
oder  leicht  trübes,  etwas  schleimiges  dünnes  Fluidum  darstellt,  ein  Hydrops 
viaricm  Uliferarum  resultirt.  Die  Leber  selbst  hat  unterdessen  vorzüglich  durch 
den  Druck  der  ad  maximum  dilatirten  Gallengänge,  viel  weniger  durch  Schrum- 
pfung des  inzwischen  neugebildeten  interlobulären  Bindegewebes  wiederum  an 
Umfang  abgenommen.  Der  Schwund  ihres  Parenchyms  und  die  parenchymatöse 
Degeneration  desselben  bedingt  verminderte  Gallensecretion,  selbst  vollstän- 
diges Darniederliegen  derselben.  Nur  selten  erreicht  die  Erweiterung  der 
Gallenwege  einen  derart  hohen  Grad,  dass  eine  Berstung  derselben  erfolgt, 
übrigens  nur  unter  Einwirkung  äusserer  Gewalt  oder  bei  bereits  früher  lädirter 
Gallengangwand.  Ruptur  intrahepataler  Gallengänge  setzt  dann  mehr  oder 
minder  umfängliche  Gallenextravasate  in  der  Leber,  Ruptur  der  Gallenaus- 
führungsgänge involvirt  Austritt  von  Galle  in  die  Peritonealhöhle  und  hiedurch 
eine  meist,  jedoch  keineswegs  bedingungslos  letale  allgemeine  Peritonitis. 

Das  erste  und  wichtigste  Symptom  eines  Verschlusses  des  Ductus  chole- 
dochus ist  der  Icterus,  welcher,  wo  jener  Verschluss  durch  lange  Zeit  meist 
bis  zum  Ende  des  Patienten  währt,  sich  bis  zu  den  höchsten  Graden  des 
Melasiterus.  einer  dunkel-olivengrünen  Färbung  der  Haut  steigert.  Zeichen 
gestörter  Magenfunction,  wie  Appetitlosigkeit,  Aufstossen,  Druckgefühl  im 
Epigastrium,  Symptome  abnormer  Darmthätigkeit  wie  Stuhlretardation,  starke 
Flatulenz  begleiten  den  Icterus.  Eine  ihm  correspondirende  Erscheinung  ist 
die  vorhandene  Acholie  der  fettreichen  Stühle,  die  bald  von  Anbeginn  an, 
bald  erst  im  Verlaufe  der  Krankheit  ausgesprochen  ist;  die  anfängliche  Ver- 
grösserung der  Leber  lässt  sich  unter  Umständen  objectiv  feststellen,  auf  die- 
selbe beziehen  sich  die  subjectiven  Klagen  eines  Gefühls  von  Spannung  und 
Druck  im  rechten  Hypochondrium.  Zu  den  lästigsten  Beschwerden  kann  fast 
unerträgliches  Hautjucken  zählen.  Im  Weiteren  treten  Merkzeichen  von  hä- 
morrhagischer Diatiiese  auf  den  Platz:  Blutungen  aus  Zahntieisch,  Nase,  unter 
der  Haut,  blutig  untermengte  Stühle.  Hat  dieser  gesammte  Zustand  mehrere 
Wochen  oder  selbst  mehrere  Monate  angedauert,  dann  gesellen  sich  Aeusse- 
rungen  von  allgemeiner  Ernährungsstörung  hinzu:  Der  Patient  magert  ab,  die 
trockene  Haut  schilfert  sich  kleienförmig,  es  entwickeln  sich  Oedeme  erst  der 
Knöchel,  dann  der  ganzen  unteren  Extremitäten,  kurz  allgemeine  Cachexie 
befällt  das  Individuum.    Dieser  erliegt,  falls  nicht  eine  intercurrente  Erkran- 

45* 


708'  GALLENWE&E-  UXD  GALLEXBLASE-ERKEAXKÜXGEN. 

kling  dem  typisclien  Ablaufe  der  Symptomeni'eihe  ein  vorschnelles  Ende  setzt, 
der  Patient  nach  Monaten,  selbst  wenigen  Jahren,  der  einige  Tage  vor  dem 
Tode  nicht  selten  noch  die  Zeichen  der  Cholämie  darbietet.  Der  Kranke  ver- 
fällt in  hochgradige  Apathie  und  Schlafsucht,  sein  Bewusstsein  wii'd  getrübt 
oder  gänzlich  umnachtet,  Flockenlesen.  Delirien,  Krämpfe.  Singultus.  Lähmung 
der  Sphinkteremnuskeln  führen  ein  tiefes  Coma  ein.  aus  dem  der  Patient 
nimmermehr  erwacht. 

Die  Erkennung  eines  bestehenden  Gallengangverschlusses 
oder  einer  b estehenden  Gallengangverengerung  zählt  zu  den  leicht 
lösbaren  Problemen  der  medicinischen  Diagnostik.  Demgegenüber  aber  ist 
die  Ermittlung  der  jeweilig  vorliegenden  Ursache  des  bestehenden  Gallengang- 
verschlusses, wie  aus  der  reichlichen  Zahl  der  vorhin  aufgeführten  möglichen 
ätiologischen  Momente  und  besonders  deren  vorstellbar  schweren  Zugäng- 
lichkeit fiü'  unsere  diagnostischen  Behelfe  erhellt,  unter  Umständen  eine  der 
schwierigsten  Aufgaben,  welche  dem  Arzte  gestellt  sein  können.  AVü'  verweisen 
bezüglich  der  genaueren  Ergründung  der  ursächlichen  Erkrankung  eines  be- 
stehenden chronischen  Stauungs-Icterus  auf  den  Artikel   ..Iderus." 

Die  Prognose  eines  Verschlusses  der  Gallenwege  wii'd  sich  begreiflicher- 
weise nach  der  diesem  zugrunde  liegenden  Ursache  richten  müssen.  Die  Vorsicht 
gebietet  in  allen  Fällen,  wo  der  Icterus  erst  relativ  kurze  Zeit  und  mit  nicht 
vollkommen  durchsichtigen  Begleitsymptomen  besteht,  mit  der  Vorhersage 
möglichst  rückzuhalten.  Die  innere  Therapie  des  chronischen  Stauungs-Icterus 
kann,  die  Fälle  von  chronischem  katarrhalischem  Icterus  und  uncomplicüter 
Cholelithiasis  abgerechnet,  zumeist  nur  eine  roborirende  und  symptomatische  sein. 

C.  Erweiterung  der  Gallenblase. 

Die  Gallenblase  kann  —  abgesehen  von  der  Möglichkeit,  dass  Gallensteine 
ihr  Lumen  ausdehnen,  entweder  durch  gestaute  Galle  (einfache  Ektasie 
der  Gallenblase)  oder  durch  hydi'opische  Flüssigkeit  (Hydrops  cystidis 
feile ae)  oder  durch  Eiter  (Empyema  cystidis  felleae)  oder  endlich 
durch  in  ihren  Hohlraum  ergossenes  Blut  dilatirt  sein. 

Bluterguss  in  die  Gallenblase  gehört  zu  den  seltenen  Vorkommnissen 
und  fühlt,  wenn  überhaupt,  wohl  nur  zu  vorübergehender  Vergrösserung  der- 
selben. Stauungshyperämie  der  Schleimhaut  der  Gallenblase.  Geschwürsprocesse 
derselben  oder  ulcerirende  Xeulnldungen  ihrer  "Wandung,  ein  Aneurysma  der 
Leljerarterie,  das  in  die  Gallenblase  perforirt  (Lebert)  oder  ein  Aneurysma  der 
Alteria  cystica  (Chiaei).  schliesslich  allgemeine  hämorrhagische  Diathese  können 
zu  solchen  Blutungen  A'eranlassung  geben.  Das  Blut  tritt  aus  der  Gallenblase 
durch  den  Ductus  cysticus  und  choledochus  in  den  Darm  ein,  es  kommt  zu 
Meläna  und  ev.  Hämatemesis. 

Einfache  Erweiterung  der  Gallenblase  durch  Stagnation  von  Galle 
kommt  dort  ziu'  Entwicklung,  wo.  sei  es  dm-ch  Steine,  sei  es  durch  katarrhalische 
Schleimhautschwellung  oder  Neubildung  etc..  fast  immer  der  Ductus  chole- 
dochus, nm-  vorül)ergeliend  oder  erst  seit  km-zer  Zeit  verschlossen  ist.  Für  manche 
Fälle  scheint  auch  eine  einfache  Lähmung  der  Gallenblasenmuskulatui'  als 
Ursache  einer  Ektasie  der  Gallenblase  annehmbar,  welche  sicher  zuweilen 
traumatischen  Ursprungs  ist. 

Der  isolhte  Hydrops  der  Gallenblase  entsteht  bei  länger  dauern- 
dem Verschlusse  des  Ductus  cysticus .  oder  des  Blasenhalses  meist  infolge  Ent- 
zündung, seltener  infolge  Einkeilung  eines  Steines  oder  durch  einen  Tumor 
als  Pvesultat  der  nunmelir  aufgehobenen  Gallenzufuhr  und  der  Secretion  der 
Schleimditisen  der  Galleiüdasenschleimhaut.  sowie  besonders  einer  serösen 
Transsudation  seitens  der  Blutgefässe.  Der  Hydrops  cystidis  felleae  besteht 
in  Combination  mit  einem  Hydi'ops  viarum  biliferarum,  wo  der  Ductus  chole- 


GALLENWEGE-  UND  GALLENBLASE-ERKRANKUNGEN.  709 

dochus  schon  lange  Zeit  gänzlicli  verstopft  und  die  Gallensecretion  der  Leber 
versiegt  ist.  (Yergl.  oben.) 

Auch  das  Empyem  der  Gallenblase  besteht  entweder  isolirt  als 
Ausdruck  der  alleinigen  eitrigen  Entzündung  der  Gallenblasenwand,  vorzüglich 
bei  Gallensteinen  in  der  Blase  oder  im  Gefolge  von  Typhus  und  Pneumonie, 
oder  es  besteht  als  Parallelerscheinung  einer  Cholangitis  suppurativa. 

Einfache  Erweiterung  der  Gallenblase,  Hydrops  und  Empyema 
cystidis  felleae  zeichnen  sich  vor  Allem  durch  eine  fühlbare,  in  ihrer  Lage 
und  Form  der  Gallenblase  entsprechende  Geschwulst  aus.  Sie  liegt  in  der 
Flucht  der  rechten  ParaSternallinie  im  rechten  Hypochondrium,  erreicht  die 
Grösse  einer  Faust,  selbst  eines  Kindskopfes  und  darüber,  so  dass  sich  ihr 
unterer  Eand  bis  ins  Becken  hinein  erstreckt.  Ihre  Consistenz  ist  prall  ela- 
stisch, Fluctuation  nicht  immer  erkennbar.  Sie  zeigt  oft  breite  seitliche 
Mobilität  und  deutliche  respiratorische  Bewegungen.  Verfolgt  man  ihre  seit- 
lichen Contouren  nach  aufwärts,  dann  führen  dieselben,  die  sich  nach  oben 
einander  meist  beträchtlich,  manchmal  bis  zu  Stieldicke  annähern,  an  und  unter  den 
Unterrand  der  Leber,  der  von  hier  nach  beiden  Seiten  hin  sich  weiter  ab- 
tasten lassen  kann.  Der  von  Riedel  gefundene  „zungenförmige  Leberfortsatz", 
eine  durch  eine  sich  ausdehnende  und  nach  abwärts  wachsende  Gallenblase 
ausgezogene  dünne  Partie  von  Leberparenchym,  welche  die  vergrösserte 
Gallenblase  vollständig  oder  nur  theilweise  bedecken  kann,  kann  der  Palpation 
zugänglich  und  für  die  Diagnose  einer  geschwellten  Gallenblase  werthvoll 
werden.  Während  der  Hydrops  der  Gallenblase  zu  keinerlei  oder  höchst  ge- 
ringen subjectiven  Beschwerden  (Druckgefühl,  Empfindlichkeit  der  Gallenblasen- 
gegend) führt,  ist  das  Empyem  der  Gallenblase  von  septischem  Fieber,  starker 
localer  Schmerzhaftigkeit,  selbst  peritonealen  Reizsymptomen  begleitet,  welche 
es  dem  Lebera])scess  nahebringen. 

Die  Diagnose  einer  einfachen  Ektasie  der  Gallenblase  stützt  sich  auf 
die  gleichzeitig  vorhandenen  übrigen  Symptome  vom  Verschluss  des  Ductus 
choledochus,  i.  e.  vom  Stauungs-Icterus.  Es  sei  aber  erwähnt,  dass  Icterus 
bisweilen  auch  bei  Hydrops  cystidis  felleae  sowie  Empyem  der  Gallenblase  be- 
obachtet wurde,  dadurch  erzeugt,  dass  die  mächtig  vergrösserte  Gallenblase 
auf   den  Ductus    choledochus    sich    auflagerte  und  ihn  comprimiite. 

Differentialdiagnose.  Eine  durch  Flüssigkeit  in  der  Gallenblase  zu 
einer  Geschwulst  ausgedehnte  Gallenblase  kann  besonders  bei  bedeutender 
Grösse  verwechselt  werden  mit  einem  Echinococcus  der  unteren  Leberlläche, 
einer  rechtsseitigen  Nierengeschwulst  (Hydronephrose)  und  einer  Ovarien- 
geschwulst.  Sie  unterscheidet  sich  vom  Leberechinococcus  durch  ihre  scharfe 
Abgrenzbarkeit  von  der  unteren  Leberfläche,  auf  welche  sie  nicht  übergreift 
und  in  die  sie  nicht  eindringt,  durch  die  breitere  Basis  der  Echinococcencyste 
und  eventuell  Hydatidenschwirren.  Hydronephrose  und  Ovariencyste  entbehren 
—  erstere  freilich  nicht  regelmässig  —  einer  respiratorischen  Verschieblich- 
keit; erstere  liegt,  bläht  man  das  Colonvom  Rectum  aus  auf,  hinter,  eine  Gal- 
lenblasengeschwulst muss  meist  vor  dem  Quercolon  zu  liegen  kommen.  In 
diagnostisch  schwierigen  Fällen  könnte  endlich  die  jedoch  nicht  ganz  ge- 
fahrlose Probe punction  durch  den  Nachweis  von  Cylinderepithelien  und 
von  Spuren  von  Gallenpigment  in  der  sonst  ungefärbten  Flüssigkeit  die 
Diagnose  eines  Hydrops  cystidis  felleae  sichern.  Endlich  können  wir  noch 
einer  letzten  Täuschung,  wenn  auch  selten,  unterliegen,  der  Verwechslung  eines 
thatsächlich  hochgradig  erweiterten  Ductus  choledochus  oder  hepaticus  (durch 
Verstopfung  meist  infolge  Gallenstein  erzeugt)  mit  einer  irrigerweise  vermutheten 
Dilatation  der  Gallenblase.  Selbst  noch  bei  einer  etwa  vorgenommenen  Opera- 
tion kann  ein  derartiger  Irrthum  unterlaufen. 


710  GALLENWEGE-  UND  GALLENBLASE-EKKRANKÜNGEN. 

Die  Bell  an  diu  ng  des  Hydrops  sowie  des  Empyems  der  Gallenblase,  welch' 
erstere  zu  einer  fast  durchwegs  guten,  letztere  zu  einer  dubiösen  oder  schlim- 
men Prognose  berechtigt,  gehört  in  das  Gebiet  der  Gallenblasenchirurgie. 

D.  Der  Krebs  der  Gallenblase. 

Aetiologisch  zerfallen  die  Carcinome  der  Gallenblase  in  2  Gruppen,  die 
primären  und  secundären,  welch'  letztere,  theils  durch  directes  Uebergreifen 
eines  primären  Carcinoms  der  Leber,  des  Magens,  des  Peritoneums  etc.  bedingt, 
theils  als  metastatische  Carcinome  entwickelt,  klinisches  Interesse  nur  insoferne 
beanspruchen,  als  sie  zum  Verschlusse  der  Gallenausführungsgänge  führen. 

Das  primäre  Carcinom  der  Gallenblase  ist  entweder  ein  Alveolar- 
oder  ein  Zottenkrebs,  bald  infiltrirt  es  fast  die  ganze  Blase  in  ihrer  vollen 
Wanddicke,  so  dass  diese  eine  fast  faustgrosse,  harte  Geschwulst  darstellen  kann, 
bald  ist  es  nur  an  einer  mehr  minder  beschränkten  Stelle  knotenförmig  ent- 
wickelt. Als  Inhalt  der  Blase  finden  sich  regelmässig  Gallensteine,  daneben 
seltener  reine  Galle  oder  seröses  Fluidum,  als  häufiger  ein  aus  Ptesten  von 
eingedickter  Galle  und  abgestossenen  Portionen  des  geschwürig  zerfallenen 
Krebses  zusammengesetzter  Brei,  manchmal  —  bei  secundärer  Eiterinfection 
—  eiteruntermengte  oder  fast  rein  eitrige  Flüssigkeit.  Die  Neubildung  kann 
auf  den  Ductus  cysticus,  selbst  noch  auf  den  Ductus  choledochus  sich  fort- 
setzen, ebenso  auch,  nachdem  sie  die  ganze  Dicke  der  Gallenblasenwand  durch- 
setzt hat,  auf  die  Leber,  das  Duodenum,  den  Magen,  das  Colon  transversum 
oder  das  Peritoneum  übergreifen. 

Aus  diesen  verschiedenartigen  Verbreitungsbezirken  erklärt  sich  das  ver- 
schiedeneklinischeBild,  das  ein  Carcinom  der  Gallenblase  begleiten  kann. 
Die  demselben  eigenen  Symptome  sind  meist  ziemlich  unbestimmter  Art,  so  dass 
die  Diagnose  eines  primären  Gallenblasenkrebses  gewiss  grossen  Schwierig- 
keiten begegnen  kann.  Anamnestisch  wichtig  ist  vor  Allem  die  Feststellung,  dass 
das  erkrankte  Individuum  Träger  von  Gallensteinen  ist  oder  gewesen  ist;  denn 
als  Ursache  zum  wenigsten  der  überwiegenden  Zahl  der  Fälle  von  primärem 
Gallenblasenkrebse  gilt  heutzutage  wohl  ziemlich  allgemein  vorausgegangene 
Ansammlung  von  Gallensteinen  in  der  Gallenblase,  deren  fortwährender  Eeiz 
zu  jener  atypischen  Neubildung  Veranlassung  gibt.  Weil  Weiber  ungleich 
häufiger  als  Männer  von  Gallensteinen  befallen  sind,  kommt  beim  weiblichen 
Geschlecht  auch  öfter  Gallenblasenkrebs  zur  Beobachtung.  Auch  das  Alter 
des  Patienten  fällt  in  die  Wagschale,  wenngleich  ein  Fall  von  primärem 
Gallenblasenkrebs  bei  einer  20-jährigen  Frau  zur  Beobachtung  kam.  (Maekham). 

Verdauungsbeschwerden,  Völle  und  Druckgefühl  im  Epigastrium,  Stuhl- 
retardation  gehen  meist  der  Entwicklung  eines  Gallenblasen  carcinoms  voran. 
Als  Tumor  wird  dasselbe  nicht  in  jedem  Falle  gefühlt,  weil  dasselbe  nament- 
lich bei  geringem  Umfange  und  speciell  beim  Sitze  im  Blasenhalse  durch  die 
hochgradige  hydropische  Erweiterung  der  Gallenblase  verdeckt  oder  bei  selbst 
totaler  Infiltration  der  Gallenblasenwand  gleichwohl  unter  der  Leber  verborgen 
sein  kann.  Wo  aber  ein  Carcinom  der  Gallenblase  palpatorisch  erkennbar 
ist,  dort  erscheint  es  hart,  rundlich  oder  oval,  manchmal  höckerig,  respira- 
torisch verschieblich,  ausnahmslos  schmerzhaft.  Die  Schmerzen  können  sogar 
von  Zeit  zu  Zeit  in  heftigem  Grade  exacerbiren,  ein  Zustand,  welcher,  wenig- 
stens theilweise  auf  die  gleichzeitig  in  der  Blase  eingeschlossenen  Steine  ur- 
sächlich zurückzuführen  ist.  Im  Verlaufe  der  Erkrankung  können  sich  Meläna 
oder  Hämatemesis  einstellen,  bedingt  durch  ulcerativen  Zerfall  der  Neu- 
bildung. Symptome  von  eitriger  Cholecystitis  und  Cholangitis  verrathen  eine 
hinzugetretene  Infection  durch  Eitercoccen.  Zeichen  von  Krebscachexie  und 
krebsiger  Metastasirung  in  Nacken-,  Leisten-,  Achsel-  oder  Hals-Lymph- 
drüsen ergänzen  das  trotz  palpablen  Tumor  meist  unklare  Symptomenbild, 
da  dieser  häufig  genug   nicht   auf   die  Gallenblase,  sondern  auf  den  Pylorus, 


GASTRITIS  ACUTA.  711 

das  Duodenum,  das  Pancreas  oder  das  Colon  transversum  bezogen  wird.  Dieser 
Fehler  wird  umso  leichter  unterlaufen,  wenn,  wie  vorhin  angedeutet,  durch 
Uebergreifen  der  carcinomatösen  Wucherung  auf  die  Umgebung  der  Gallen- 
blase nun  auch  Erscheinungen  von  chronischem  Stauungs-Icterus,  von  Pylorus- 
stenose etc.,  complicirend  eintreten. 

Wo  dieDifferentialdiagnose  zwischen  einfacher,  durch  flüssigen  Inhalt 
erzeugter  Gallenblasenectasie  oder  ein  den  Blasenhals  obstruirendes  Carcinom 
mit  Dilatation  der  Blase  schwankt,  dort  kann  unter  Umständen  die  Probepunc- 
tion  noch  Aufschluss  geben:  Beimengung  von  Krebsdetritus,  zerfallenen 
Zellen,  von  hämorrhagischer  Flüssigkeit  oder  stark  eiweisshaltiger  Galle 
sprechen  für  Carcinom. 

Die  Prognose  ist,  quoad  vitam,  eine  ungünstige.  Nicht  unwichtig 
aber  ist  es  zu  merken,  dass  Fälle  von  primärem  Krebse  der  Gallenblase  be- 
kannt sind,  welche  erst  nach  Jahren  (4 — 5)  zum  Tode  führten,  im  Gegen- 
satze zum  Carcinom  des  Ductus  choledochus,  das  meist  in  5 — 6  Monaten, 
nur  selten  erst  nach  längstens  einem  Jahre  den  letalen  Ausgang  verursacht. 

Die  Therapie  ist  zur  Zeit  wohl  noch  eine  symptomatische.  Es  lässt 
sich  aber,  wenigstens  für  gewisse  Fälle,  auch  beim  primären  Carcinom  der 
Gallenblase  eine  erfolgreiche  chirurgische  Behandlung  (Cholecystedomie) 
erhoffen.  ortnee. 

Gastritis  RCUtcl  (acuter  Magenkatarrh).  Unter  Gastritis  acuta  ver- 
steht man  einen  acuten  Inflammationszustand  der  Magenschleimhaut.  Theils 
nach  der  besonderen  Art  der  Noxe,  theils  nach  dem  eigenartigen  Charakter 
des  entzündlichen  Processes  hat  man  5  verschiedene  Arten  der  acuten  Gastritis 
unterschieden,  und  zwar:  Gastritis  simplex,  Gastritis  infectiosa,  Gastritis  phleg- 
monosa, Gastritis  toxica^   Gastritis  parasitaria. 

Pathologische  Anatomie:  Die  entzündlichen  Erscheinungen  bei 
der  einfachen  acuten  Gastritis  bestehen  in  einer  Ptöthung  und  Schwellung  der 
Mucosa,  besonders  ausgeprägt  an  der  Portio  pylorica.  Dabei  ist  die  Schleim- 
haut mit  einem  dicken,  zähen,  durch  kleine  Blutextravasationen  röthlich 
gefärbten  Schleim  bedeckt.  An  dem  Process  ist  im  Wesentlichen  die  Mucosa 
und  Submucosa  betheiligt,  während  die  anderen  Häute  kaum  Veränderungen 
aufweisen.  Gelegentlich  kann  es  unter  dem  Einfluss  besonderer  Schädlichkeiten 
zur  Bildung  kleiner  Erosionen  kommen,  deren  Narben  gelegentlich  bei  Sec- 
tionen  gefunden  werden.  Die  histologischen  Veränderungen  beziehen  sich 
theils  auf  die  Drüsen  selbst,  theils  auf  das  interstitielle  Bindegewebe.  Die 
Drüsenepithelien  sind,  wie  wir  dies  aus  den  experimentellen  Untersuchungen  von 
Ebstein,  Sachs,  Strauss  und  Blocq  wissen,  geschwollen,  mit  Schleim  gefüllt; 
hierbei  betreffen  die  Hauptveränderungen  nach  Ebstein  die  Hauptzellen,  während 
die  Belegzellen  unverändert  bleiben.  Sachs  hat  in  den  Belegzellen  eigenartige 
Vacuolen  beobachtet.  Die  interstitiellen  Veränderungen  charakterisiren  sich 
durch  starke  Congestion  und  Infiltration  der  Lymphzellen.  Die  erweiterten 
Capillaren  sind  zumal  an  der  Oberfläche  mit  rothen  Blutkörperchen  stark  an- 
gefüllt. Zugleich  findet  eine  starke  Emigration  weisser  Blutkörperchen  statt, 
welche  die  superficielle  Schicht  dicht  einschliessen. 

Bei  der  infectiösen  Gastritis  finden  sich  dieselben  Veränderungen,  nur 
noch  in  stärkerem  Maasse  ausgeprägt.  Dasselbe  Bild  zeigen  auch  diejenigen 
acuten  Infectionskrankheiten,  die  mit  einer  complicirenden,  acuten  Gastritis 
einhergehen,  z.  B.  Typhus,  Pneumonie,  Influenza,  Cholera  u.  A. 

Bei  der  phlegmonösen  Gastritis  kann  man  zweierlei  Formen  unter- 
scheiden: die  circumscripte  und  die  diffuse.  Unter  46  Fällen,  welche  Glax 
sammeln  konnte,  waren  beide  Formen  ungefähr  gleich  vertheilt.  Bei  der 
diffusen  Form  ist  die  Magenwand  in  verschieden  grosser  Ausdehnung,  oft  bis 
1  cm  geschwollen  und  verdickt.    Die  Schwellung   betrifft   besonders  die  Sub- 


712  GASTRITIS  ACUTA. 

mucosa,  diu'cli  welche  die  Mucosa  auf  weiten  Strecken  abgehoben  wird.  Dabei 
wird  die  Consistenz  der  genannten  Häute  weich,  im  Durchschnitt  von  einer 
gelblichen,  sulzigen,  oder  selbst  rein  eitrigen  Masse  infiltrirt.  Besonders  bei 
Druck  quillt  der  Eiter  an  einzelnen  Stellen  deutlich  hervor.  Es  kann  dann 
die  Schleimhaut  völlig  untenninirt  und  durch  mehr  oder  weniger  stark  ne- 
krotische Partien  in  kleinerem  oder  grösserem  Umfange  durchbrochen  werden. 
Zuweilen  findet  der  Process  am  Magen  seine  Begrenzung,  in  anderen  dringt 
er  einerseits  bis  zum  Oesophagus,  andererseits  bis  zum  Duodenum  hin  vor.  Xicht 
selten  greift  der  Process  über  die  Submucosa  hinaus  und  l3richt  sich  bis  zur 
Serosa  Bahn,  wobei  es  zu  allgemeiner  Peritonitis  kommen  kann.  Bei  der 
circumscripten  Magenphlegmone,  auch  Magenabscess  genannt,  ist  der 
Process,  wie  der  Name  besagt,  ein  localer,  besitzt  aber  eine  ausgesprochene 
Tendenz  die  äusseren  Schichten  zu  durchbrechen.  Besonders  häufig  ist  der 
Sitz  am  Pylorus.  Zuweilen  handelt  es  sich  um  mehrere  isolirte  Abscesse,  die 
allmälig  confluiren.  Die  Grösse  der  Abscesse  schwankt  zwischen  Xuss-  und 
Hühnereigrösse.  Die  Oefihung  des  Abscesses  kann  nach  innen  (Eitererbrechen) 
oder  nach  aussen  (Peritonitis,  Bauchwandabscess)  erfolgen. 

Bei  der  Gastritis  toxica  sind  die  anatomischen  Veränderungen  je 
nach  der  Art  des  die  Schleimhaut  treffenden  Giftes  verschieden.  Bei  der 
Phosphorvergiftung  besteht  der  Process  wesentlich  in  einer  Verfettung  der 
Epithelien  {Gastroadenitis  phosphorica,  Virchow).  Den  Hauptantheil  hieran 
tragen  die  Hauptzellen  und  zwar  besonders  am  Pylorustheil.  Hierdurch  ist 
es  bedingt,  dass  die  Secretion  entweder  völlig  oder  nahezu  völlig  erlischt. 
Kach  Oeth  ist  es  zweifelhaft,  ob  nicht  die  Veränderungen  bei  Phosphor-  und 
Arsenikvergiftung  ebenso  wie  die  bei  Anämie  und  Leukämie  vorkommenden  Ver- 
fettungsprocesse  den  einfachen  Degenerationen  zuzurechnen  sind.  Aehnliche  Ver- 
änderungen wie  durch  Phosphor  und  Arsen  sah  E.  Maier  übrigens  auch  bei 
Vergiftungen  von  Kaninchen  und  Meerschweinchen  mit  essigsaurem  Blei. 

Unter  den  corrosiven  Giften  kommen  einerseits  die  Mineralsäuren, 
andererseits  die  caustischen  Alkalien  in  Betracht.  Den  Typus  für  die  ersteren 
bilden  die  Schwefelsäurevergiftungen.  Am  auffallendsten  ist  hierbei 
eine  mächtige  Schwellung,  besonders  der  Submucosa,  welche  ganz  mit  zum 
Theil  geronnenem  Blute  infiltrirt  ist  und  demzufolge  ein  schwärzlichrothes 
Aussehen  darbietet.  Auf  der  Oberfläche  sieht  man  theils  fetzige,  membran- 
artige Gebilde,  die  ihre  Textur  völlig  eingebüsst  haben,  theils  eine  dunkel- 
braune, von  einem  Gemisch  von  Blut  und  Gewebe  herrührende  Pulpa.  Ueber- 
lebt  der  Kranke  die  Vergiftung,  so  entwickeln  sich  h  erde  weise  eitrige  Entzün- 
dungen um  die  nekrotischen  Partien,  nach  deren  Abstossung  dann  feste  strang- 
artige Narben  die  Stelle  des  früheren  Gewebes  einnehmen.  Bei  den  cau- 
stischen Alkalien  sind  die  Läsionen  weicher,  diffuser  und  weniger  begrenzt 
als  bei  den  Säurevergiftungen. 

Bei  den  parasitären  Magenaffectionen,  über  deren  Vorkommen  erst 
sehr  spärliche  Mittheilungen  vorliegen,  handelt  es  sich  entweder  um  Schizo- 
myceten,  welche  in  die  Magenwand  eindringen  und  dort  entzündliche  Processe 
bedingen  oder  um  Schmarotzer,  die  sich  in  der  Magenhöhle  aufhalten  (Dip- 
terenlarven, Maden,  Fliegenlarven,  Regenwürmer  u.  A.)  und  meist  mit  den 
Nahrungsmitteln  eingeführt  werden. 

Symptome.  Die  wichtigsten  Symptome  der  Gastritis  simplex 
sind:  Appetitlosigkeit,  Widerwille  vor  dem  Genuss  der  gewöhnlichen  und  Vor- 
liebe fiü'  pikante,  saure  oder  gesalzene  Speisen,  Würggefühl,  Uebelkeit, 
Kopfschmerz;  den  Höhepunkt  dieser  Erscheinungen  stellt  das  spontane 
oder  künstlich-inteudirte  Erbrechen  dar.  Mit  den  Magensymptomen  verbmden 
sich  häufig  solche  von  selten  des  Darmes:  Flatulenz,  Kolikschmerzen,  Diarrhoeen. 
Die  Zunge  zeigt  meist  einen  dickgrauen  Belag,  der  Pharynx  ist  geröthet  und 
geschwollen,    es  besteht  Fötor  ex  ore.    Die  Temperatur  ist  in  schwereren 


GASTRITIS  ACUTA.  713 

Fällen  erhöht,  zeigt  aber  schon  in  den  nächsten  Tagen  starke  Morgenremis- 
sionen.  Das  Allgemeinbefinden  ist  mehr  oder  weniger  stark  alterirt,  der  Puls 
frequent,  hart.  Der  Durst  ist  vermehrt,  der  Urin  dunkel,  spärlich,  stark 
sedimentirend. 

Das  Erbrochene  enthält  mehr  oder  weniger  grosse  Mengen  intensiv  sauer  riechen- 
der, in  Gährung  befindhcher,  mit  Schleim  untermischter  Massen ;  in  der  Regel  fehlt  im  Er- 
brochenen freie  Salzsäure.  Bei  wiederholtem  Erbrechen  können  den  erbrochenen  Massen 
auch  kleine  Blutmengen  beigemengt  sein. 

Der  Verlauf  ist  in  den  uncomplicirten  Fällen  ein  durchaus  günstiger, 
doch  kann  die  acute  Gastritis  bei  unzweckmässigem  Verhalten  leicht  einen 
subacuten  oder  chronischen  Charakter  annehmen.  In  einem  Falle  beolmchtete 
ich  im  Anschlüsse    an  acute   Gastritis    die  Entwicklung  von  Magendilatation. 

Diagnose:  Acute  Gastritis  ist  bei  Erwachsenen  leicht  diagnosticirbar; 
ernstlich  ventilirt  werden  kann  nur  unter  besonders  schwierigen  Verhältnissen 
der  Abdominaltyphus,  da  bei  letzterem  in  seltenen  Fällen  Milztumor  und 
Roseola  fehlen.  In  solchen  Fällen  thut  man  am  besten,  Typhus  anzu- 
nehmen und  danach  zu  handeln.  Diagnostisch  wichtig  ist  auch  ein  etwa 
vorhandener  Herpes  labialis,  der  beim  Abdominaltyphus  verschwindend  selten 
vorkommt. 

Die  Symptome  bei  der  Gastritis  infectiosa  sind  denen  bei  der  einfachen 
Form  sehr  ähnlich  :  doch  unterscheidet  sich  erstere  durch  hohes  Fieber,  grosse 
Prostration,  Unruhe,  langsame  ßeconvalescenz  von  dem  einfachen  Magenkatarrh. 
Differentialdiagnostisch  wird  auch  hier  am  häufigsten  das  etwaige  Vorhanden- 
sein eines  Abdominaltyphus  in  Frage  kommen.  Doch  fehlt  bei  der  infectiösen 
Gastritis  Roseola,  Milzschwellung,  Meteorismus,  Bronchitis.  Auch  der  staffei- 
förmig ansteigende  Fiebertypus  wird  hierbei  vermisst. 

Die  Symptome  bei  Gastritis  phlegmonosa  sind  wenig  charakteristisch: 
in  den  Vordergrund  treten  heftige  Schmerzen,  grosse  Prostration,  Fieber  von 
unregelmässigem  Charakter,  Erbrechen  schleimig-galliger  Massen,  meist  auch 
Diarrhoe.  Nur  beim  Magenabscess  kann  man  unter  besonders  günstigen  Um- 
ständen einen  Tumor  in  der  Magengegend  fühlen ;  bei  Durchbruch  desselben 
nach  dem  Magencavum  kann  Eitererbrechen  vorkommen.  Der  Verlauf  ist 
entweder  acut  oder  chronisch.  Die  Prognose  ist  im  Ganzen  ungünstig, 
doch  sind  in  seltenen  Fällen  auch  Heilungen  beobachtet  (Ditteich.  Deininger). 

Die  Diagnose  ist  im  besten  Falle  nur  eine  Wahrscheinlichkeits- 
diagnose ;  am  meisten  Chancen  bietet  noch  der  Magenabscess,  obwohl  auch 
hier  Verwechslungen  mit  Abscessen  der  Nachbarschaft  des  Magens  leicht 
unterlaufen  können. 

Differentialdiagnostisch  kommen  in  Betracht:  Perigastritis,  wie 
sie  bei  Durchbruch  eines  Ulcus  oder  Carcinoms  eintreten  kann.  Hier  mag  die 
Anamnese  und  der  übrige  Befund  einen  Fingerzeig  für  die  richtige  Diagnose 
gewähren.  Ferner  Leherahscess,  hier  localisirt  sich  die  Schmerzhaftigkeit 
mehr  auf  die  rechte  Seite,  ausserdem  kommen  hierbei  häufig  Schüttelfröste 
vor;  endlich  kann  auch  acute  Pancreatitis  vorliegen.  Hierbei  wird  aber  stets 
Kopfschmerz,  Schwindel  und  galliges  Erbrechen  beobachtet.  Die  acute  Pan- 
creatitis endigt  gewöhnlich  schon  in  den  ersten  3 — 5  Tagen  tödtlich. 

Die  Symptome  bei  der  toxischen  Gastritis  sind  je  nach  der  Natur  des 
Giftes  verschieden.  Doch  sind  allen  Giften  die  folgenden  Erscheinungen  ge- 
meinsam :  Heftige  Schmerzen  in  der  Speiseröhre  und  Magengegend,  Erbrechen 
von  meist  blutiger  Beschaffenheit,  vermehrter  Durst,  Prostration,  Ohnmächten ; 
in  schweren  Fällen  erfolgt  der  Tod  in  Collaps.  Bei  günstigem  Verlauf  können 
die  Symptome  der  Gastritis  vollkommen  schwinden,  in  schwereren  Fällen 
bilden  sich  noch  längere  Zeit  nach  der  Einwirkung  des  Giftes  Narben  im 
Bereich  des  Oesophagus,  der  Cardia  oder  am  Pylorus,  die  zu  schweren  Folge- 
erscheinungen führen  können.    Ausserdem  kann  totaler  Schwund  der  Drüsen 


714  GASTRITIS  ACUTA. 

der  Magenschleimhaut  (Ätrophia  glandularis  ventriculi)  als  Folgezustand  der 
Verätzung  auftreten.  Bei  Phosphorvergiftung  entwickelt  sich  fettige  Degene- 
ration der  Magendrüsen. 

Bei  der  Diagnose  sind  einmal  die  anamnestischen  Angaben  zu  verwerthen. 
Sodann  sind  die  localen  Erscheinungen  nach  der  Natur  des  Giftes  verschieden. 
So  ist  z.  B.  bei  Salpetersäurevergiftung  der  Schorf  gelb,  bei  Kupfer  blau,  bei 
Silber  schwärzlich,  bei  Schwefelsäure  missfarbig  und  dunkelbraun ;  bei  Phos- 
phor hat  die  Schleimhaut  ein  milchiges  oder  bläulich-weisses  Aussehen.  We- 
sentlich erleichtert  wird  die  Diagnose  durch  etwa  vorgefundene  Reste  des 
Giftes  und  die  chemische  Untersuchung  der  erbrochenen  Massen. 

Bei  der  Gastritis  parasitaria  im  Gefolge  von  in  den  Magen  aufgenom- 
menen DipterenlarveU;  Maden,  Fliegenlarven  etc.  sind  die  Symptome  meist 
die  der  Dyspepsie,  d.  h.  Schmerzen,  Uebelkeit;  Appetitlosigkeit,  eventuell  Er- 
brechen. Die  Diagnose  lässt  sich  nur  stellen,  falls  die  betreffenden  Ein- 
dringlinge im  Erbrochenen  zum  Vorscheine  kommen. 

Die  sogenannten  bacillären  Magenaffectionen  (Gastritis  mycotica) 
haben  bisher  nur  ein  pathologisch-anatomisches  Interesse. 

Die  Therapie  der  acuten  Gastritis  in  ihren  verschiedenen  Formen  ist 
im  Ganzen  eine  exspectative.  Mit  der  Beseitigung  der  per  os  aufgenommenen 
Schädlichkeiten  tritt  bald  schneller,  bald  langsamer  Restitutio  in  integrum 
ein.  Die  einzige  therapeutische  Indication  besteht  darin,  dem  Organ  möglichst 
lange  Ruhe  zu  gönnen.  Die  auch  in  Laienkreisen  bewährte  Hungercur  ist 
sicherlich  das  geeignetste  Verfahren,  einen  überangestrengten  oder  überhaupt 
malträtirten  Magen  wieder  in  Ordnung  zu  bringen.  In  einzelnen  Fällen  kommt 
man  mit  der  exspectativen  Methode  allerdings  nicht  aus;  es  sind  dies  Fälle, 
wo  verdorbene,  in  Zersetzung  übergegangene  Massen  auf  dem  Naturwege 
schwer  oder  nur  theilweise  entleert  werden.  Für  die  Entleerung  nach  oben 
ist  das  Äpomorphin,  subcutan  angewendet  (O'l :  lO'O,  davon  V2  Pravas'sche 
Spritze)  in  die  Magengegend,  falls  man  ein  wirksames  Präparat  zur  Verfügung 
hat,  das  zweckmässigste  und  einfachste  Verfahren.  Für  die  Entleerung  nach 
unten  ist  das  altbewährte  Calomel  in  nicht  zu  kleiner  Dosis  (0-25 — 0"3)  allen 
übrigen  Aperientien  vorzuziehen.  Besteht  umgekehrt  starke  Diarrhoe,  so  hüte 
man  sich,  gleich  zu  den  Opiaten  zu  greifen,  man  begnüge  sich  ausser  zweck- 
entsprechenden diätetischen  Anordnungen  (Schleimsuppen,  Rothwein,  Eichel- 
cacao,  Eichelkaffee,  Heidelbeersaft),  mit  den  die  Peristaltik  beruhigenden  TJiees 
(Kamillen,  Fenchel,  Baldrian  u.  A.).  Lässt  der  Appetit,  wie  dies  gelegentlich 
vorkommt,  zu  wünschen  übrig,  so  kann  man  denselben  durch  Darreichung  von 
Bittermitteln  (Condurango,  FÄixir  cortic.  aur.,  Tinct.  Chin.  comp.,  linct.  Co- 
Jombo,  Tinct.  Gentian,  Tinct.  Nuc.  vomic.  u.  A.)  anzuregen  versuchen.  Auch 
die  Darreichung  von  Salzsäure  (vor  den  Mahlzeiten  8 — 10  Tr.  Äcid.  hydro- 
chloric.  offic.)  ist  empfehlenswerth.  Selbst  bei  hohem  Fieber  sind  Antipyretica 
in  den  meisten  Fällen  entbehrlich  :  im  Gegentheil  kann  man  durch  unzweck- 
mässige antipyretische  Eingriffe  häufig  eine  Typhuscurve  bis  zur  Unkenntlich- 
keit verwischen.  Desgleichen  sind  Excitantien  nur  bei  ganz  adynamischen, 
alten  Personen  indicirt. 

Bei  der  infectiösen  Form  der  Gastritis  ist  das  Ccdomel  wiederum 
das  Hauptmittel.  —  Die  Gastritis  phlegmonosa  behandelt  man  wie  eine 
acute  Peritonitis,  mit  Eisblase,  grossen  Dosen  Opium  (O'Oö  und  darüber,  2 — 3- 
stiindlich)  und  Excitantien.  Beim  Magenabscess  ist  ein  chirurgischer  Eingriff 
unbedingt  dem  verhängnisvollen  Abwarten  vorzuziehen. 

Bei  der  toxischen  Gastritis  kommt  es  zunächst  darauf  an,  ob  corro- 
sive  Gifte  eingewirkt  haben,  und  welcher  Natur  sie  sind.  Wo  ätzende  Säuren 
oder  Aetzalkalien  eingewirkt  haben,  suchen  wir  im  ersteren  Falle  durch  anta- 
cide  Mittel  (Magnesia  usta,  Calcaria  carbonica  in  Milch  oder  mit  Wasser),  im 
zweiten  durch  Säuren  (Citronensäure,  Essigsäure  u.  a.)  zu  neutralisiren.     Da- 


GASTRITIS  CHRONICA.  715 

neben  wird  Eis  äusserlich  und  innerlich  und  Morphium  (am  besten  subcutan) 
angewendet.  Bei  Aetz giften  ist  die  Anwendung  des  Magenschlauches  wegen 
der  damit  verbundenen  Gefahren  contraindicirt,  auch  wohl  ohne  wesentlichen 
Nutzen.  Bei  anderen  Giften  dagegen  (PhosphoVy  Nitroheuzol,  CyanJcalium, 
Arsen,  Alkohol  u.  A.)  sind  Magenausspülungen  angebracht.  Häufig  bleiben, 
wie  bereits  oben  erwähnt,  nach  Einwirkung  von  Giften  schwere  Folgeerschei- 
nungen zurück  (Oesophagus  und  Cardiastricturen,  Stenosen  des  Pylorus,  Atro- 
phie und  Verfettung  der  Magenmucosa),  die  eine  besondere  an  den  betreffen- 
den Stellen  zu  erörternde  Behandlung  erfordern. 

Bei  der  Gastritis  parasitaria  dürfte  man,  falls  die  Diagnose  fest- 
steht oder  wahrscheinlich  ist,  durch  Magenausspülungei],  im  Nothfall  auch 
durch  ein  schnell  und  sicher  wirkendes  Brechmittel  stets  zum  Ziele  kommen. 

Boas. 

Gastritis  chronica,  Catarrlms  ventricuU  chronicus,  chronischer  Magen- 
katarrh. Der  Krankheitsbegriff  „chronischer  Magenkatarrh"  ist  trotz  der 
grossen  Fortschritte  der  Magenpathologie  noch  vielen  Schwankungen  unter- 
worfen. Einzelne  verstehen  darunter  das  Krankheitsbild  der  früher  sogenannten 
chronischen  Dyspepsie,  andere  nehmen  verschiedene  Formen  der  Gastritis  an 
(Gastritis  acida,  mucosa,  glandularis,  atrophicans  u.  A.).  Es  fehlt  hier  offenbar 
noch  an  einer  Controle  der  klinischen  Bilder  durch  entsprechende  nekroptische 
Befunde:  ohne  die  letzteren  dürfte  eine  allgemein  befriedigende  Darlegung 
der  Klinik  der  chronischen  Gastritis  kaum  möglich  sein.  Die  folgende  Dar- 
stellung spiegelt  den  augenblicklichen  Stand  der  Frage  wieder,  mit  dem  der 
Verfasser  seine  eigenen,  langjährigen  Erfahrungen  verflochten  hat.  Was  das 
Krankheitsbild  der  chronischen  Gastritis  durch  letztere  an  Schematismus  ver- 
liert, dürfte  es  an  Natürlichkeit  und  Klarheit  gewinnen. 

Wir  schicken  voraus,  dass  klinisch  nur  die  äussersten  Stadien  der  chro- 
nischen Gastritis  zu  unterscheiden  sind,  was  vorher  liegt,  ist  im  Allgemeinen 
so  w^enig  charakteristisch,  dass  es  für  die  allerverschiedensten  chronischen 
Magenaffectionen  — •  functionelle  und  organische  —  mit  gleichem  Recht  zu- 
trifft. Nur  unter  besonders  günstigen  Verhältnissen  geht  es  an,  eine  be- 
ginnende chronische  Gastritis  schon  in  ihren  Anfangsstadien  zu  erkennen. 
Aus  derartigen  Beobachtungen  scheint  hervorzugehen,  dass  die  ersten  Anfänge 
der  chronischen  Gastritis  sich  in  gesteigerter  Secretionsthätigkeit  des  Drüsen- 
apparates äussern,  denen  allmälig  Ermüdungszustände,  schliesslich  absolute 
Secretionsuntüchtigkeit  folgen.  Diesen  Verlauf  zeigen  indessen  nur  die  idio- 
pathischen Formen,  die  secundären  Gastritiden  sind,  wie  es  scheint,  von  Anfang 
an  durch  Secretionsinsufficienz  ausgezeichnet. 

Actio  logisch  ist  zu  erwähnen,  dass  die  primäre,  chronische  Gastritis 
sich  entweder  aus  einer  acuten  Gastritis  oder  im  Gefolge  chronischer  dige- 
stiver Insulte,  besonders  Nicotin-,  Alkohol-,  Coffein-,  Thein-Abusus  ent- 
wickeln kann.  Hierbei  bilden  schlechtes  Gebiss,  Unsauberkeit  der  Mund- 
höhle, schnelles,  hastiges,  unzweckmässig  temperirtes  Essen  und  Trinken  mehr 
oder  weniger  wichtige  prädisponirende  Ursachen.  Bemerkenswerth  erscheint 
es,  dass  eine  gewisse  physiologische  Gastritis  in  höherem  Alter  vorzukommen 
scheint,  übrigens  ohne  nothwendigerweise  zu  Störungen  zu  führen. 

Pathologische  Anatomie.  Das  eigentliche  katarrhalische  Element  tritt  bei  der 
chronischen  Gastritis  im  Gegensatz  zu  den  mehr  productiven  Texturvenänderungen  in  den 
Hintergrund.  Es  ist  hierbei  schwierig,  die  verschiedenen  Arten  derselben  zu  trennen,  da 
zwischen  denselben  mannigfache  Uebergänge  vorkommen.  Die  einzelnen  Veränderungen 
betreffen  nun  theils  das  Öberfiächenepithel,  theils  die  Drüsen,  theils  das  interstitielle 
Gewebe.  Der  die  Oberfläche  bedeckende  Schleim  ist  reich  an  zelligen  Beimengungen;  die  Zellen 
bestehen  theils  aus  umgewandelten  Epithel-  und  Drüsenzellen,  theils  aus  Leucocyten,  häufig 
bietet  die  Schleimhaut  eine  schiefergraue  Pigmehtirung  dar,  von  alten  capillären  Blutungen 
herrührend.  In  Fällen  von  Stauungskatarrhen  kann  die  Farbe  der  Magenschleimhaut  mehr 
dunkel-    bis  violettroth  sein.     Die  Veränderungen  in  den  Drüsen  sind  die  Folge  der  inter- 


716  GASTRITIS  CHRONICA. 

glandulären  entzündlichen  Infiltration:  durch  diese  werden  die  Drüsen  compriniirt  und 
erfahren  hierdurch  eine  unregelmässige  Gestalt:  Verästelung,  Schlängelung,  Vergrösserung, 
selbst  wirkliche  Wucherung.  Wo  die  Drüsen  in  Folge  von  Secretstauung  anschwellen, 
erscheinen  sie  schon  makrosiiopisch  als  kleinste  Körnchen  (granula).  Orth  bezeichnet  daher 
diese  Form  der  Gastritis  als  Gastritis  granulosa.  Nimmt  die  interstitielle  Wucherung  noch 
grössere  Dimensionen  an,  so  zeigen  sich  als  Folge  der  Drüsenabschnürungen  wirkliche 
l^olypenartige  Wucherungen  {Gastritis  'polyposa).  Wo  diese  Verhältnisse  nur  zur  Bildung 
kleiner  Wärzchen  vorgeschritten  ist,  bezeichnet  man  den  Zustand  als  Etat  mamelonnee 
(mamelon  =  Brustwarze).  Zuweilen  sieht  man  gleichfalls  als  Folge  der  Abschnürungen 
schon  mit  blossem  Auge  kleine  Cystchen  in  Gestalt  feinster,  heller  Bläschen.  Schliesslich 
kann  es  auch  zu  wirklichen  adenomatösen  Polypenbildungen  kommen,  wodurch  schon  das 
Grenzgebiet  zwischen  Wucherungen  und  wirklichen  Neubildungen  betreten  wird.  Aus 
der  einfachen  interstitiellen  Gastritis  kann  sich  unter  Umwandlung  des  interglandulären 
Gewebes  in  schrumpfendes  eine  erhebliche  Verdünnung  der  Schleimhaut,  eine  Atrophie 
der  Drüsen  entwickeln.  Hieraus  kann  nun,  indem  derselbe  Process  auch  die  übrigen 
Häute  umfasst,  eine  Verdünnung  der  Gesammtmagenwand  resultiren,  oder  es  kann  umge- 
kehrt aus  der  Degeneration  der  drüsigen  Elemente  eine  Verdickung  und  Wucherung  des 
Bindegewebes  in  den  äusseren  Schichten  Statt  haben,  wodurch  die  Magenwand  in  toto  ver- 
dickt, das  Magencavum  mehr  oder  weniger  verkleinert  erscheint.  Man  hat  diese  Form  der 
Gastritis  nach  dem  Vorgange  der  Franzosen  als  Sclerose  der  Magenschleimhaut  bezeichnet. 
Besonders  ausgesprochen  kann  die  Sclerose  am  Pylorusmagen  sein  und  hierdurch  Stenose- 
erscheinungen hervorrufen.  In  einer  weiteren  Reihe  von  Fällen  tritt  die  Veränderung  an 
den  Drüsenepithelzellen  so  imponirend  hervor,  dass  man  berechtigt  ist,  von  einer  Gastritis 
parenchymatosa  {Gastritis  glandularis,  Gastradeiiitis  zu  sprechen.  Hierbei  ist  die  ganze 
Schleimhaut  geschwollen,  grau  bis  graugelb.  Mikroskopisch  erscheinen  die  Zellen  gekörnt 
und  vergrössert;  die  Körnung  kann  schliesslich  ganz  den  Charakter  der  fettigen  Degene- 
ration annehmen.  Besonders  ausgesprochen  sind  diese  Veränderungen,  die  sich  dann  auch 
makroskopisch  schon  durch  entsprechende  trüb  gelbliche  Färbung  auszeichnen,  bei  den 
Gastritiden  im  Gefolge  von  Typhus-,  Pyämie,  Pocken,  Phosphor-  und  Arsenikvergiftung. 

Symptomatologie:  Der  Symptomencomplex  der  clironischen  Gastritis 
ist  je  nach  den  Stadien,  um  die  es  sich  dabei  handelt,  verschieden:  je 
weiter  vorgerückt,  desto  prägnanter;  je  jünger  der  Process,  desto  unklarer  die 
Erscheinungen.  Die  ausgeprägte,  typische,  vorgeschrittene  Form  der  Gastritis 
ist  charakterisirt  durch  den  schleppenden  protahirten  Verlauf,  durch  Appetit- 
störungen und  Anomalien  der  Verdauung,  die  eine  ausführliche  Besprechung 
erheischen.  Der  Appetit  braucht  nicht  immer  gestört  zu  sein,  ist  aber  doch 
nicht  normal,  er  zeigt  Launen,  gewisse  perverse  Richtungen,  speciell  ist  er 
auf  pikante,  bittere,  salzige  Speisen  gerichtet. 

Die  eigentlichen  digestiven  Störungen  bestehen  in  Druck  und  Völle  nach 
dem  Essen,  Aufstossen  von  Luft,  Wasserzusammenlaufen  im  Munde,  Uebelkeit, 
Brechneigung  und  wirkliches  Erbrechen.  Diese  Symptome  stellen  zugleich  eine 
Art  Scala  dar,  die  nicht  immer  durchlaufen  zu  werden  braucht,  wenngleich 
Andeutungen  der  letztgenannten  Erscheinungen  fast  immer  vorhanden  sind. 
Hierbei  hängt  der  Grad  der  Beschwerden,  wie  die  Kranken  selbst  angeben,  in 
hohem  Maasse  von  der  Quantität  und  Qualität  der  Ingesta  ab :  Suppen,  über- 
haupt Flüssigkeiten  rufen  die  genannten  abnormen  Sensationen  in  viel  gerin- 
gerem Grade  hervor  als  feste,  schwer  zerlegbare  Substanzen ;  unter  letzteren 
werden  Kohlenhydrate  in  der  Regel  besser  vertragen  als  Eiweisskörper. 
Kommt  es  im  Verlaufe  der  Verdauung  zum  Erbrechen,  so  stellt  dasselbe 
gewissermaassen  den  Höhepunkt  der  Beschwerden  dar :  mit  dem  Eintritt  des- 
selben hören  die  Beschwerden  ganz  oder  doch  zeitweilig  auf.  Das  Erbrochene 
selbst  ist  charakterisirt  durch  seine  geringe  Menge,  durch  die  Beimengung 
von  Schleim,  durch  den  Gehalt  an  festen  unverdauten  Substanzen.  Die  ge- 
nauere Beschreibung  des  Erbrochenen  fällt  mit  der  des  Mageninhaltes  zu- 
sammen. Die  Stuhlgänge  bei  chronischer  Gastritis  zeigen  ein  wechselndes 
Verhalten:  meist  besteht  Verstopfung  leichteren  Grades,  doch  kann  auch 
Diarrhoe  vorhanden  sein  oder  es  können  beide  Zustände  mit  einander  alter- 
niren. 

Die  physikalischen  Z  e  i  c  h  e  n  bei  der  chronischen  Gastritis  sind  wenig 
ausgeprägt:  es  besteht  leichte  Druckempfindlichkeit  der  Magengegend,  mehr 
oder  weniger  belegte  Zunge:  das.  ist  häutig  Alles. 


GASTRITIS  CHRONICA.  717 

Wichtige  Anhaltspunkte  dagegen  gewährt  die  Untersuchung  des  Magen- 
inhaltes, ohne  die  die  Diagnose  Gastritis  chronica  einfach  unmöglich  ist. 
Der  Mageninhalt  ergibt  ähnlich  wie  das  Erbrochene  die  Zeichen  ungenügen- 
der oder  gänzlich  fehlender  secretorischer  Thätigkeit  (H  Cl-Mangel),  bei  völlig 
erhaltener  motorischer  Leistung.  In  den  höchsten  vorgeschrittensten  Stadien 
der  Gastritis  sieht  der  Mageninhalt  nach  Probefrühstück  so  aus,  als  ob  Semmel 
längere  Zeit  in  Wasser  gelegen  hätte  {Gastritis  atrophicans).  In  anderen 
Fällen  prävalirt  der  Schleimgehalt  —  man  spricht  dann  von  Gastritis  mucosa 
8.  mucipara.  Allen  diesen  Krankheitsformen  gemeinsam  ist  der 
Mangel  oder  Schwund  an  freier  Salzsäure.  In  den  äussersten,  irre- 
perablen  Stadien  ist  neben  der  freien  auch  die  an  Eiweisskörper  gebundene 
Salzsäure  geschwunden,  desgleichen  weisen  die  Verdauungsproben  ein  mehr 
oder  weniger  erhebliches  Delicit  an  Enzymen  (Pepsinogen,  Lahzymogen)  auf. 

Diagnose  und  D  ifferentialdiagnose:  Für  die  Diagnose  maassgebend 
sind:  die  Aetiologie,  der  Verlauf,  die  im  Vorhergehenden  genannten  subjectiven 
und  objectiven  Zeichen.  Aetiologisch  ist  besonders  der  Missbrauch  von  Alkohol, 
Nicotin,  bei  Frauen  besonders  der  Abführmittel  von  Wichtigkeit;  oft  schliesst 
sich,  wie  bereits  oben  erwähnt,  eine  chronische  Gastritis  an  eine  einzige  oder 
wiederholte  acute  Gastritis  an. 

Der  Verlauf  ist  schleichend,  von  geringfügiger  Höhe  allmälig  zu  dem 
vollentwickelten  Krankheitsbilde  aufsteigend.  Von  den  subjectiven  Zeichen 
sind:  der  Appetitmangel  oder  perverse  Appetit,  der  Druck,  besonders  nach 
reicher  Fleischmahlzeit,  die  Uebelkeit,  endlich  das  Erbrechen  mit  seinem  eigen- 
artigen oben  geschilderten  Typus  die  wichtigsten.  Von  objectiven  Zeichen  kommt, 
wie  erwähnt,  in  erster  Reihe  die  Mageninhaltsuntersuchung  in  Betracht,  dessen 
Beschaffenheit  nicht  allein  das  Bestehen  einer  Gastritis  überhaupt,  sondern 
häufig  selbst  die  Form,  bezw.    das  Stadium  der  Krankheit  zu  erkennen  gestattet. 

Differentialdiagnostisch  kommen  in  Betracht:  Magenneurosen 
und  Magencarcinom.  Die  Unterscheidung  von  Magenneurosen  und  Magen- 
katarrh ist  umso  schwieriger,  als  sämmtliche  subjectiven  und  objectiven  Symp- 
tome bei  beiden  Affectionen  durchaus  deutlich  sein  können.  Die  einzigen,  zur 
Unterscheidung  verwerthbaren  Anhaltspunkte  bilden  einmal  der  Umstand,  das 
die  Magenneurosen  und  speciell  die  nervöse  Dyspepsie  einen  springenden 
Charakter  zeigen,  während  bei  chronischer  Gastritis  die  Beschw^erden,  von  kurzen 
Unterbrechungen  abgesehen  ein  stationäres  Verhalten  aufweisen.  Ferner  bietet  die 
Mageninhaltsuntersuchung  wichtige  Anhaltspunkte:  bei  Magenneurosen  pflegt 
der  Chemismus  entweder  normal  oder  schwankend  zu  sein,  fehlt  dennoch  Salz- 
säure, so  sind  doch  in  der  Regel  Enzyme  vorhanden.  Die  Differentialdiagnose 
zwischen  Gastritis  chronica  und  Magencarcinom  kommt  in  Betracht,  wo  pro- 
gressive Gewichtsabnahme  mit  dyspeptischen  Beschwerden  einhergeht  und  ein 
Tumor  fehlt.  Für  Carcinom  spricht  ein  plötzlicher  Beginn  inmitten  völliger 
Magengesundheit,  ferner  der  Mageninhaltsbefund.  Bei  Magencarcinom,  na- 
mentlich dem  des  Pylorus  und  der  kleinen  Curvatur  kommt  es  häutig  schon 
in  frühen  Stadien  zu  ausgeprägten  mechanischen  Störungen  mit  Stagnation 
der  Ingesta.  Ist  letztere  vorhanden,  so  tritt  in  der  Regel  intensive  Milcli- 
säureproduction  auf,  die  nach  meinen  Untersuchungen  bei  keinem  anderen 
chronischen  Leiden  in  irgendwie  vergleichbarer  Menge  beobachtet  wird. 

Therapi  e:  Bei  der  Therapie  der  chronischen  Gastritis  hat  man  zunächst 
zu  unterscheiden,  ob  ein  idiopathischer  oder  secundärer  Process  vorliegt.  Im 
letzteren  Falle  handelt  es  sich  zunächst  darum,  die  ursächlich  zu  Grunde 
liegenden  Processe  z.  B.  bei  Stauungszuständen  im  Pfortaderkreislauf  in  Folge 
eines  Vitium  cordis  dieses  letztere,  bei  Stauungskatarrh  in  Folge  von  Leber- 
cirrhose  das  Leberleiden  passend  zu  behandeln.  Es  liegt  klar  auf  der  Hand, 
dass    diese     theoretisch    durchaus   berechtigte    Indication    in    praxi    grossen 


718  GASTRITIS  CHRONICA. 

Schwierigkeiten  begegnet,  so  dass  man  auch  in  diesen  Fällen  die  complicirende 
Gastritis  meist  symptomatisch  zu  behandeln  gezwungen  sein  wird. 

Für  die  Therapie  der  idiopathischen,  chronischen  Gastritis  kommen  in 
Betracht:  passende  Diät,  Mineralwassercuren,  die  medikamentöse  Behandlung 
und  endlich  Magenausspülungen. 

Die  Diät  ist  je  nach  dem  Stadium  der  Krankheit  verschieden.  Bei  noch 
nicht  sehr  vorgeschrittenen  Fällen  mit  leidlich  erhaltener  Magensaftsecretion 
sind  im  Ganzen  eingreifende  diätetische  Maassnahmen  nicht  nothwendig.  Man 
muss  nur  dem  Patienten  häufige,  kleine,  entsprechend  gewürzte  Nahrungsmittel 
gestatten,  darunter  die  leichteren  Gemüsearten,  namentlich  solche,  die  in  Püree- 
form überzuführen  sind.  Da  die  peptische  Kraft  des  Magens  schon  in  frühen 
Stadien  zu  leiden  beginnt,  thut  man  gut,  die  Eiweisskost  in  möglichst  vorsich- 
tiger Form  zu  verordnen,  also  Geflügel,  Fisch,  Kalbfleisch,  Wild,  Kalbshirn, 
Kalbsmilch  u.  A.  Eine  möglichst  ausgiebige  mechanische  Zerkleinerung  ist 
auch  hier  zweckentsprechend.  Für  die  chronische  Gastritis  passen  auch  die 
häufig  missbräuchlich  verordneten  Suppen:  Mehl-,  Gries-,  Ptcis-,  Tapioca-,  Mon- 
daminsuppen werden  ebenso  gern  genossen  als  gut  vertragen.  Als  schonende 
und  angemessene  Kost  ist  hier  auch  die  Milch  in  ihren  verschiedenen  Zube- 
reitungsformen (Buttermilch,  dicke  Milch,  Kefir)  zu  empfehlen,  vorausgesetzt, 
dass  sie  subjectiv  gut  vertragen  wird,  worüber  ein  Vorversuch  entscheiden 
muss.  Auch  die  verschiedenen  Pepton-  oder  richtiger  Albumosepräparate 
werden,  namentlich  als  Zusätze  zu  Fleischbrühe  und  anderen  Suppen  gern 
genommen  und  gut  vertragen.  In  weiter  vorgeschrittenen  Stadien,  bei  gänz- 
lichem Fehlen  der  freien  Salzsäure  im  Mageninhalt  wird  man  mit  der  Eiweiss- 
darreichung  noch  vorsichtiger  sein  müssen;  aber  auch  hier  erweisen  sich  die 
eiweissreichen  Kohlenhydrate:  Reis,  Gries  in  den  verschiedensten  Zubereitungs- 
formen, dergleichen  Gemüse  (Spinat,  Linsen,  Erbsen,  Bohnen),  ebenfalls  durch- 
passirt,  am  geeignetsten.  Daneben  ist  gut  gebackenes  Weissbrod,  Zwieback, 
Cakes,  gelegentlich  auch  eine  feine  Schnitte  Grahambrod  recht  empfehlens- 
werth.  In  diesen  vorgeschrittenen  Fällen  ist  Milch  in  Gestalt  einer  Cur  wenig 
zweckmässig:  Das  Casein  der  Milch  wird  im  Magen  nicht  gefällt  und  darum 
auch  nicht  peptonisirt,  häufig  erfolgt  überdies  leicht  bei  Milchgenuss  Butter- 
säuregährung.  —  Bei  vorhandener  Obstipation  gelingt  es  leicht  den  Stuhl 
durch  Einschiebung  aperitiv  wirkender  Nahrungsmittel,  z.  B.  Honig,  Milch- 
zucker, Fruchtzucker,  Compots  und  Marmelade,  Buttermilch,  Kefir  u.  A.  zu 
regeln.  Bei  bestehender  Diarrhoe  kommt  man  ebenso  mit  adstringirenden 
Substanzen,  wie  sie  das  Haus  bietet,  Heidelbeersaft  oder  Heidelbeerwein, 
Eichelkaffee  oder  Cacao,  Hammelfleischsuppen  (mit  schleimigen  Zusätzen),  Reis 
u.  A.  völlig  aus.  Jede  zu  active  Therapie  ist  unter  diesen  Umständen  von 
Uebel,  das  Einfachste  ist  hier  das  passendste. 

Die  Mineral  was  Serbehandlung,  die  bei  der  chronischen  Gastritis 
in  den  passenden  Stadien  von  grosser  Bedeutung  ist,  hat  den  Zweck,  einmal 
den  Appetit  anzuregen,  sodann  den  Magen  von  etwa  vorhandenem  Schleim 
zu  befreien.  Mit  gutem  Grunde  wählt  man  daher  als  passendste  Zeit  die  im 
nüchternen  Zustande.  WelcheQuellensindzu  wählen?  Wir  können  einige 
sofort  ausschliessen:  das  ^nd  Bitterwässer,  da  dieselben  viel  zu  stark  reizend 
auf  die  Magen-  und  Darmschleimhaut  wirken.  Dagegen  kommen  sowohl  die 
schwachen  Glaubersalzwässer  in  massigen  Dosen,  als  auch  die  Kochsalzwässer 
und  endlich  auch  die  Säuerlinge  in  Betracht.  Die  ersteren  passen  in  den  nicht 
vorgeschrittenen  Fällen,  desgleichen  auch  die  Säuerlinge:  sie  wirken  in  kleinen 
Dosen  stimulirend  auf  die  Drüsenthätigkeit  und  gleichzeitig  schleimlösend. 
Ob  sie  auch  die  Appetenz  erhöhen,  erscheint  mir  fraglich.  Letzteres  ist 
fast  ausnahmslos  bei  Kochsalzwasserdarreichung  der  Fall,  die  in  allen  Fällen 
günstig  einwirkt.  Inwieweit  hieran  und  an  der  Wirkung  der  Glaubersalz- 
wässer und  Säuerlinge  der  COg -Gehalt  participirt,  muss  dahingestellt  bleiben: 


GASTRITIS  CHRONICA.  719 

jedenfalls  kann  ein  unterstützender  stimulirender  Effect  derselben  nicht  ohne 
Weiteres  in  Abrede  gestellt  werden. 

Aus  diesen  Betrachtungen  würde  sich  als  praktische  Consequenz  das  Folgende 
ergeben:  In  leichteren,  frischeren  Fällen  von  chronischer  Gastritis  und  ohne 
Appetitstörung  eignen  sich  die  Glaubersalzwässer,  in  erster  Reihe  das  unüber- 
treffliche Karlshader  Thermahvdsser^  in  zweiter  auch  Marienbad  (speciell  bei 
gleichzeitigen  Stauungen  im  Pfortaderkreislauf,  Fettleber  u.  A.),  Tarasp  (bei 
Prävaliren  nervöser  Symptome,  sitzender  Lebensweise).  Desgleichen  würde 
der  Gebrauch  der  Thermalwässer  von  Vicky^  Neuenahr,  Ems  zu  empfehlen 
sein.  Als  Versandtwässer  stehen  uns  eine  grosse  Zahl  mehr  oder  weniger 
kräftiger  Säuerlinge  zur  Verfügung:  hierzu  gehören  ausser  den  schon  ge- 
nannten (gleichfalls  zur  Versendung  kommenden):  Bilin,  Eau  de  Vals,  Giess- 
hübel,  Krondorf,  Fachingen^  Salvator,  Fellatlialquelle  u.  A.  Alle  diese  "Wässer 
werden  am  besten  kurz  vor  dem  Essen  (nicht  während  der  Mahlzeiten!)  ge- 
reicht. Auch  muss  ein  Uebermaass  derselben  möglichst  vermieden  werden. 
Für  alle  Stadien  der  chronischen  Gastritis  passen  die  Kochsalzwässer  (Kis- 
singen, Wiesbaden^  Homburg,  Bourbonne-les  Bains,  Soden,  Älso-Sebes  u.  A.). 
Der  Effect  in  den  Anfangsstadien  ist  meinen  Erfahrungen  nach  insofern  ein 
direct  curativer,  als  die  Salzsäureabscheidung  sehr  bald  nach  dem  Gebrauch 
der  betreffenden  Wässer  bis  zur  normalen  Grösse  gesteigert  wird  und  Hand 
in  Hand  damit  der  Appetit  zunimmt,  die  Verdauungsbeschwerden,  namentlich 
der  lästige  Druck  und  das  Aufstossen  schwinden.  In  den  vorgeschritteneren 
Stadien  wird  eine  wahrnehmbare  Beeinflussung  der  Magenschleimhaut  nicht 
mehr  beobachtet,  doch  werden  die  subjectiven  Symptome  auch  hier  wesent- 
lich gebessert.  In  der  ärmeren  Praxis  kann  man  den  Mineralwässern  zweck- 
mässig die  jetzt  fabriksmässig  dargestellten  Salze  (SANDOw'sche  Salze),  welche 
die  Hauptbestandtheile    der  genannten  Mineralwässer  enthalten,  substituiren. 

Die  medicamentöse  Behandlung  ist  in  vielen  Fällen  entbehrlich, 
ja  meiner  Meinung  nach  meist  schädlich.  Namentlich  muss  ich  auch  hier 
gegen  die  unzweckmässige  Darreichung  scharfer  Abführmittel,  welche  den  Ka- 
tarrh direct  steigern  können,  energisch  Einspruch  erheben.  Durch  letztere 
wird  das  Princip  der  Schonung,  das  in  erster  Reihe  als  therapeutischer 
Factor  in  Betracht  kommt,  in  einer  für  den  Kranken  schädlichen  Weise  durchbro- 
chen. Ausser  mit  den  Abführmitteln  wird  auch  wohl  theils  mit,  theils  ohne 
ärztliches  Placet  mit  den  Bittermitteln  viel  Unfug  getrieben.  Alle  die  viel- 
gepriesenen Antidyspeptica  wirken  gelegentlich  nach  Wunsch  —  aber  auch 
hier  nur  im  Verein  mit  entsprechender  Diät,  so  dass  ihr  Einfluss  schlechter- 
dings kaum  sicher  zu  bestimmen  ist.  Jedoch  wird  man  mit  vorsichtiger  und 
nicht  zu  lange  ausgesponnener  Darreichung  der  Bittermittel  wenigstens  keinen 
Schaden  sehen.  Ich  empfehle  hierzu  die  Condurangojyräjjarate,  das  Colombo 
(besonders  bei  Neigung  zu  Diarrhöen),  die  Nux  vomica,  und  die  bekannten 
„bitteren Tropfen"  {Tind.  Chin.  comp. Elixir.aur. comp.,  Tinct.Gentian.u. Ä.).  Da- 
gegen möchte  ich  das  Kreosot  für  diese;  Fälle,  wenn  überhaupt,  nur  in  sehr 
vorsichtigen  Dosen  empfehlen.  Neben  diesen  wird  theils  als  gleichfalls  appetit- 
steigerndes, theils  als  stimulirendes  Mittel  seit  der  Entdeckung  der  Salzsäure 
als  specifisches  Drüsensecret,  das  Äcid.  hydrochloricum  in  Dosen  von  5 — 10 
Tropfen,  von  einigen  Autoren  (Ev^^ald  u.  A.)  sogar  bis  50—60  Tropfen  gereicht. 
Nach  den  Untersuchungen  von  Mintz  und  Reichmann  soll  die  Salzsäure, 
anhaltend  gebraucht,  thatsächlich  die  mangelhaft  thätige  Drüsensecretion  acti- 
viren.  Das  mag  für  jene  Fälle  gelten,  wo  die  Gastritis  noch  nicht  die  höchsten 
Grade  erreicht  hat:  in  diesen  erzielt  man  aber  durch  eine  rein  diätetische 
Behandlung  verbunden  mit  entsprechenden  Mineralwassercuren  dieselben 
Effecte;  für  die  Fälle  von  Gastritis  mit  ausgedehntem  Enzymschwund  muss  ich 
eine  derartige  Wirkung  dagegen  durchaus  bestreiten.  In  den  geeigneten  Fäl- 
len reicht  man  die  Salzsäure  am  besten  vor  den  Mahlzeiten.  Dieselbe  stimu- 


720 


GASTEOSKOPIE  UND  GASTRODIÄPHANOSKOPIE. 


Gastroskop  von  liEiTEE. 


lii^ende  Wirkung  wird  aber  umgekehrt  auch  den  Alka- 
lien in  kleinen  Dosen  zugeschrieben,  ^Yofür  vollgiltige 
Experimente  aus  der  jüngsten  Zeit  von  du  Mesxil, 
vorliegen.  Auch  hier  reicht  man  dieselben  CNatrium, 
Kalimn  bicarbo7iic.  0'2o — O'o)  vor  den  Mahlzeiten. 
Ein  symptomatisch  vortreffliches  Mittel  ist  das  JFan- 
creaspulrer,  falls  es  in  wirksamer  Form  zu  haben 
ist.  Bekanntlich  wird  das  wirksame  Ferment  des  Pan- 
creas,  das  Pancreatin,  bei  Gegenwart  freier  Säure 
zerstört:  bei  der  chronischen  Gastritis,  zumal  in  spä- 
teren Stadien  und  Fehlen  freier  Salzsäure  entfaltet  es 
aber,  wie  Untersuchungen  von  PiEichmaxx  u.  A.  erge- 
ben haben,  eine  exquisit  peptische  Wii'kung, 

Magenausspülungen  bei  chi'onischer  Gastri- 
tis sind  nur  in  jenen  Fällen  indicirt,  wo  nachweislich 
eine  übermässige  Production  von  Schleim  das  Heran- 
treten der  Yerdauungssäfte  an  die  Ingesta  hindert. 
Die  Ausspülungen  werden  am  besten  Morgens  bei 
leerem  Magen  vorgenommen.  Dem  Spülwasser  wird 
zweckmässig  etwas  Kochsah,  Natriumhicarhonat  f0"5 — 
l^/o-igj,  oder  Kalkwasser  zugesetzt.  boas. 

Gastroskopie  und  Gastrodiaphanoskopie. 

Die  Gastro  skopie  verfolgt  das  Ziel  die  Magenhöhle 
direct  zu  beleuchten,  die  Gastrodiaphanoskopie  oder 
kürzer  auch  Gastrodiaphanie  genannt,  hat  die  Auf- 
gabe den  Magen  zu  durchleuchten  und  hierdurch 
seine  Lage  und  Grösse  sichtbar  zu  machen. 

Der  Apparat  für  die  Gastroskopie  ist  von 
dem  "Wiener  Mechaniker  J.  Leiter  construirt,  die  Me- 
thodik der  Gastroskopie  und  Oesopha- 
goskopie  ist  von  J.  jMjkulicz  auf  Grund 
zahlreicher  Versuche  an  Leichen  und 
am  Leben  begründet. 

Das  LErrER'sche  Gastroskop  (s. 
Fig.  Ij  besteht  aus  einem  57  c/w  langen, 
stumpfwinklig  abgebogenen,  16  mm  im 
Diu'chmesser  haltenden  Metallrohr  R, 
welches  zum  leichteren  Hinuntergleiten 
an  seinem  visceralen  Ende  mit  einer 
konischen,  sanft_  abgerundeten  Kuppe 
G  versehen  ist.  Diese  zum  Abschrauben 
eingerichtete  Kuppe  besitzt  ein  mit  einer 
Bergkristallplatte  gedecktes  Fenster  F 
zum  Durchtritt  der  Strahlen  der  Mig- 
non-Lampe  La.  Die  Ausleitungen  endi- 
gen am  Ocularende  des  Instrumentes 
in  die  Batterieklemmen  Le  Le.  Die 
Contactvorrichtung  C  dient  wie  bei  den 
übrigen  Apparaten  zum  Schliessen  und 
Oeöhen  des  Stromes.  Die  optische  Ein- 
richtung im  Innern  des  Instrumentes  ist 
gleichfalls  aus  der  Fig.  1  ersichtlich. 
Die  Lichtstrahlen  des  Bildes  der  be- 
leuchteten Partie  der  Magenschleimhaut 


GASTROSKOPIE  UND  GASTRODIAPHANOSKOPIE.  721 

werden  vom  ersten  Prisma  P  auf  die  beiden  Objectivlinsen  L  L  des  duiTli 
Punktlinien  im  Innern  des  Rohres  Pt  ersichtlich  gemachten  terrestrischen 
Fernrohres  geleitet,  passiren  im  Knickungswinkel  des  Instrumentes  das 
zweite  Prisma  P,  gehen  sodann  durch  die  Sammellinse  im  Vordertheil  des 
Piohres,  die  das  ursprüngliche  Bild  wieder  aufrecht  stellt  und  es  zugleich 
nach  vorn  projicirt,  wo  es  durch  die  im  Trichter  sichtbare  Ocularlinse  L 
betrachtet  werden  kann.  Dieses  terrestrische  Fernrohr  ist  nicht  fest  mit 
dem  Instrumente  verbunden,  sondern  zum  Herausziehen  eingerichtet;  zu 
diesem  Zwecke  besitzt  es  zwei  Gelenke  und  in  der  Gegend  des  ersten  Prismas 
eine  federnde  Spange.  Diese  Anordnung  ermöglicht  es,  mit  einem  Blicke  eine 
mehr  als  handtellergrosse  Partie  der  Magenschleimhaut  zu  überschauen.  Mit 
dem  Instrumente  ist  ein  Doppelgebläse  verbunden,  um  den  Magen  vor  der 
Besichtigung  mit  Luft  zu  füllen.  Zum  Einleiten  der  Luft  dienen  die  Sperr- 
hähne M  und  K,  bei  V  kann  die  Luft  wieder  aus  dem  Magen  entweichen. 
Für  kürzere  Untersuchung  genügt  die  genannte  Anordnung,  für  längere  ist 
aber  eine  Kühlvorrichtung  nothwendig,  die  in  verschiedener  Weise  angebracht 
werden  kann.  Das  genannte  Gastroskop  dient  zur  Besichtigung  des  Pylorus 
und  dessen  Umgebung ;  für  die  Inspection  des  Fundus  und  der  übrigen  Magen- 
partien bedarf  es  eines  zweiten  Instrumentes,  das  sich  von  dem  geschilderten 
nur  dadmxh  unterscheidet;  dass  es  das  Fenster  und  das  Aufnahmeprisma  an 
der  Hinter-,  beziehungsweise  Unterseite  des  Schnabels  hat. 

Für  die  gastroskopische  Untersuchung  muss  der  Magen  völlig 
leer  sein,  der  Einführung  des  Instrumentes  muss  eine  vorherige,  sorgfältige 
Magenspülung  vorangehen,  bis  das  Waschwasser  klar  abfliesst.  Der  Kranke 
wird  in  rechte  oder  linke  Seitenlage  gebracht  mit  stark  nach  rückwärts  abge- 
bogenem Kopfe  und  etwas  tiefer  gestelltem  Gesichte.  Sodann  bekommt  der 
Kranke  eine  volle  Spritze  einer  4'Vo-igen  Morphiumlösung,  bei  Kindern  oder 
schwächlichen  Personen  entsprechend  weniger.  Sodann  erfolgt  die  letzte  Aus- 
spülung des  Magens.  Die  Einführung  des  Gastroskopes  dürfte  jetzt  zweck- 
mässig unter  ausgiebiger  Cocainanästhesie  des  Pharynx  und  Oesophagus 
geschehen  müssen.  Die  Technik  der  Einführung  ist  im  Ganzen  die  der  Sonden- 
application,  doch  macht  die  gebogene  Beschaffenheit  des  Instrumentes  gelegent- 
lich Schwierigkeiten.  Jedenfalls  erfordert  die  Handhabung  des  Gastroskopes 
grosse  Vorsicht.  Nach  der  Einführung  des  Instrumentes  wird  vorsichtig  Luft 
in  den  Magen  gepumpt.  Da  durch  den  Druck  des  Instrumentes  erhöhte 
Speichelsecretion  angeregt  wird,  muss  der  Kopf  und  Hals  des  zu  L^ntersuchen- 
den  etwas  über  den  Kopfkissenrand  gelagert  werden,  damit  der  Speichel  un- 
gehindert abfliessen  kann.  Jetzt  kann  die  Betrachtung  der  Magenwand  beginnen. 
Durch  vorsichtiges  Vor-  und  Rückwärtsschieben,  durch  Drehungen  und  seit- 
liche Verschiebungen  können  nach  und  nach  sämmtliche  Partien  des  Magens 
dem  Blick  zugänglich  gemacht  werden.  In  etwa  20 — 25  Minuten  kann  bei 
günstigem  Verlauf  der  Untersuchung  die  gastroskopische  Sitzung  beendigt  sein. 

Die  Resultate  der  Gastroskopie  sind  im  Ganzen  noch  recht  spär- 
lich und  beziehen  sich  ausschliesslich  auf  die  Beobachtungen  von  Mikulk'z 
und  OsEß.  Unter  physiologischen  Verhältnissen  fanden  die  genannten  Autoren 
die  Magenschleimhaut  roth,  und  zwar  viel  röther  als  die  Oesophagusschleimhaut. 
Die  Oberfläche  der  Magenschleimhaut  zeigte  scharfe  und  glänzende  Licht- 
reflexe; an  zahlreichen  Stellen  präsentirte  sich  die  Schleimhaut  als  fein  gefaltet 
oder  tiefer  gefurcht,  beziehungsweise  gewulstet.  In  pathologischer  Beziehung 
lässt  sich  jede  Farbendifferenz  einer  entzündeten  oder  anämischen  Magenpartie 
von  der  gesunden  Magenschleimhaut  ganz  deutlich  und  präcise  unterscheiden 
und  stellen  sich  Geschwüre,  sowie  tiefgreifende  Gew^ebsveränderungen  der 
Magenwandungen  prägnant  ein.  Auf  diese  Weise  konnte  Mikulicz  Magen- 
carcinome  und  desgleichen  Magengeschwüre  auf  gastroskopischem  Wege  diagno- 
sticiren.    Für  die  Diagnose  des  Pyloruscarcinoms  fand  Mikulicz   ein   neues 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  46 


722  GASTROSKOPIE  UND  GASTRODIAPHANOSKOPIE. 

gastroskopiscli  deutlich  erkennbares  Symptom.  Während  nämlich  der  Pylorus 
der  Gesunden  gastroskopisch  als  ein  länglicher  Spalt  oder  als  dreieckige,  ovale, 
manchmal  auch  kreisrunde  Oeffnung  sich  darstellt,  welche  stets  von  einem 
Kranze  dicker,  lebhafter  rother  Schleimhautwülste  und  Falten  umgeben  ist;  fand 
Mikulicz  bei  Magencarcinom,  dass  die  AYülste  und  Faltungen  um  den  Pylorus 
herum  ganz  fehlten  oder  nur  ganz  seichte  Fältchen  auftraten.  Es  umgeben 
dann  den  Pylorus  ganz  glatte  Wandungen,  was  Mikulicz  dadurch  erklärt,  dass 
das  früher  bewegliche  und  faltbare  Organ  durch  die  carcinomatöse  Infiltration 
in  ein  starres  Rohr  umgewandelt  wird.  Weitere  Untersuchungen  über  die 
Gastroskopie  liegen  nicht  vor. 

Die  Gastrodlaphanoskopie  {Gastrodiaphanie)  gehört  gleichfalls  der  neuesten 
Zeit  an.  Zwar  führte  bereits  Miot  im  Jahre  1867  Durchleuchtungsversuche 
am  Cadaver  und  an  Thieren  aus  und  ähnliche  Mittheilungen  liegen  aus  dem 
Jahre  1868  von  Lazaeov^icz  (Charkow)  vor,  allein  in  die  Praxis  gingen  die 
Versuche  der  Magendurchleuchtung  erst  über,  als  im  Jahre  1889  Einhoei^  in 
New-York  am  lebenden  Menschen  den  Magen  durchleuchtete.  Doch  blieben 
seine  Versuche  im  Ganzen  unbeachtet.  Erst  nachdem  Heeyng  und  Reichmanx 
die  Magendurchleuchtung  an  zahlreichen  Fällen  geübt  und  erprobt  hatten, 
fand  die  Methode  die  verdiente  Beachtung.  Der  i^pparat  (s.  Fig.  2  und  3)  besteht 
aus  einer  weichen  Magensonde  von  ca.  12  mm  im  Durchschnitt  und  von  70  cm 
Länge,  an  deren  Ende  sich  die  Glühlampe  befindet.  Zum  besseren  Schutze 
derselben  und  zur  Verhütung  abnorm  starker  Erhitzung  ist  dieselbe  mit  einem 
Glasmantel  umgeben.  Die  in  der  Sonde  befindlichen  Leitungsdrähte  werden 
am  besten  mit  einem  Hieschmanx^ sehen  Accumulator,  eventuell  aber  auch  mit 
einer  kräftigen  constanten  Batterie  mit  möglichst  geringem,  inneren  Wider- 
stand (z.  B.  mit  einer  StöHEEE'schen  constanten  Batterie  von  20  El.)  in  Ver- 
bindung gesetzt.  Bei  dem  EixHOEx'schen  Gastrodiaphan  wurde  der  Apparat 
ohne  Weiteres  in  den  mit  Wasser  gefüllten  Magen  gebracht,  Heeyxg  und 
Keichmaxx  haben  eine  Vorrichtung  für  Wasserzu-  und  Abfluss  an  ihrem 
Apparat  angebracht.  Dieselbe  ist  aber  nach  neueren  Erfahrungen,  mit  denen 
meine  eigenen  übereinstimmen,  unnöthig. 

Die  Anwendung  des  vor  der  Einführung  zweckmässig  mit  etwas  Wasser 
oder  Glycerin  eingeführten  Apparates  setzt  voraus,  dass  der  Magen  von  Speise- 
resten entweder  völlig  oder  nahezu  völlig  frei  ist.  Sobald  letzteres  nicht  der 
Fall  ist,  muss  der  Magen  ausgewaschen  und  dann  mit  cca.  1  Liter  Wasser  gefüllt 
werden.  Die  Einführung  der  Durchleuchtungssonde  macht  in  der  Piegel  keine 
besonderen  Schwierigkeiten,  namentlich  falls  der  Patient  an  die  Sondenappli- 
cation  vorher  gewöhnt  ist.  In  der  Regel  schicke  ich  aber  doch  eine  sorgfältige 
Cocainisirung  des  Pharynx  voraus,  da  man  dann  eine  ruhige,  durch  Würgen 
und  Speichelsecretion  unbehinderte  Magendurchleuchtung  erreicht. 

Sobald  die  Sonde  sich  im  Magen  befindet,  stellt  man  die  Verbindung 
mit  dem  Stromgeber  her,  wobei  sofort  der  Magen,  am  besten  natürlich  im 
dunklen  oder  halbdunklen  Zimmer  als  mehr  oder  weniger  ausgedehnte  hell- 
rothe  Zone  erscheint.  Die  Durchleuchtung  kann  im  Stehen  oder  Liegen  der 
Patienten  vorgenommen  werden.  Die  Bilder  werden  oft  im  Stehen  schärfer 
und  grösser,  zuweilen  erscheint  aber  das  Bild  ausgedehnter  und  intensiver  im 
Liegen  (L.  Kuttxee  und  J.  Jacobsohx). 

Die  Möglichkeit,  den  Magen  zu  durchleuchten,  hat  die  diagnostische 
Verwendung  des  Gastro diaphans  nahe  gerückt  und  es  sind  mehrere  Beo- 
bachter, in  erster  Reihe  Einhoex,  sodann  L.  Kuttxee  und  Johx  Jacobsohx 
dieser  Frage  näher  getreten.")  Aus  den  erstgenannten  Arbeiten  und  meinen 
eigenen  Beobachtungen  geht  als  sicheres  Factum  hervor,  dass  man  durch  Magen- 


*)  Ich  selbst  liabe  in  meiner  Diagnostik  nnd  Therapie  der  Magenkrankheiten  (Theil  II, 
Leipzig  1893.)  die  diagnostische  Verwerthbarkeit  des  Gastrodiaphans  kurz  berührt. 


GASTROSKOPIE  UND  aASTRODIAPHANOSKOPIE. 


723 


durchleuchtung  einen  Tiefstand  des 
Magens  mit  Sicherheit  diagnosti- 
ciren  kann.    Einhorn  ist  der  An- 
sicht, dass  man  auch  eine  Magen- 
dilatation auf  diesem  Wege  erken- 
nen kann.     Er  gibt  als  charakte- 
ristisch hiefür  an,  dass  ein  Durch- 
leuchtungsbild   entsteht,    welches 
in  zwei  Zonen  zerfällt:  die  untere 
von  diesen  ist  hell  erleuchtet  und 
ist   mit   dem    unteren  Rande,  je 
nach    dem  Grade    der  Dilatation, 
verschieden  weit  unter  dem  Nabel 
gelegen,  sie  kann  zuweilen  bis  zur 
Symphyse    reichen.     Diese    stark 
beleuchtete  Zone  geht  nach  oben 
zu  in  eine  weniger  intensiv  durch- 
leuchtete Fläche  über,  welche  zu- 
weilen bis  zum  linken  Rippenrande 
hinaufreicht.     Es   wird    auf  diese 
Weise     die    vordere    Fläche    des 
Magens  in  toto  durchleuchtet,  d.  h. 
sowohl   der   mit  Wasser  als  auch 
mit  Luft  angefüllte  Theil  des  Ma- 
gens.  KüTTNER    und    Jacobsohn 
werfen  dem  gegenüber  mit  Recht 
ein,    dass     die    kleine    Curvatur, 
weil  vom  linken  Leberrande  über- 
lagert,    nothwendigerweise      un- 
durchleuchtet  bleiben  muss. 

Einhoen's  Beobachtung  ist 
demnach  als  specifisches  Zeichen 
für  Magendilatation  nicht  anzuse- 
hen. Dagegen  haben  Kuttner  und 
John  Jacobsohn  ein  anderes  diag- 
nostisches Zeichen  der  Magendila- 
tation, namentlich  zum  Unter- 
schied von  Gastroptose  angegeben. 
Während  nämlich  der  herunter- 
gesunkene Magen  keine  respira- 
torische Verschiebung  zeigt,  macht 
der  dilatirte  Magen,  da  der  Fun- 
dus mit  dem  Zwerchfell  in  inniger 
Berührun  gbleibt,  lebhafte,  respi- 
ratorische Excursionen.  Auch  diese  Angabe  erscheint  nach  meinen  Beobach- 
tungen unzutreffend,  da  man  auch  bei  Tiefstand  des  Magens  diaphanoskopisch 
deutlich  sichtbare  Magenexcursionen  zuweilen  beobachten  kann.  Aber  auch  ab- 
gesehen davon  ist  eine  derartige  Methode  für  diagnostische,  beziehungsweise 
differentialdiagnostische  Zwecke  völlig  entbehrlich,  da  eine  Gastroptose  mit 
unseren  bisherigen  diagnostischen  Hilfsmitteln  deutlich  erkennbar  ist.  Andrer- 
seits ist  für  die  Diagnose  Ectasie  nur  in  wenigen  Fällen  die  Grösse  allein, 
sondern  die  mechanische  Leistung  maassgebend;  falls  man  diesen  Gesichtspunkt 
ausser  Acht  lässt,  so  kann  man  leicht  in  die  Lage  kommen,  einen  einfach 
muskelschwachen  (atonischen),  im  Uebrigen  mechanisch  leidlich  gut  func- 
tionirenden  Magen  für  einen  dilatirten  zu  halten  und  umgekehrt. 

46* 


Von  oben  und  im  Durchschnitt  gesehen. 
Zufluss-,  a  Abflussrohr,  h  Sperrhahn,  j)  Contact, 
t  Lampe,  s  Schutzglocke. 


724  GEFÄNGNIS-PSYCHOSEN. 

Von  EiNHOEN,  KuTTNEE  Und  Jacobsohn  ist  endlich  noch  hervorgehoben 
worden,  dass  man  unter  geeigneten  Umständen  auch  Tumoren  des  Magens 
ihrer  Undurchleuchtbarkeit  wegen  als  solche  diagnosticiren  könne.  Dass  dies 
gelegentlich  einmal  vorkommen  mag,  soll  nicht  ohne  Weiteres  bestritten 
werden:  indessen  dürfte  ein  Tumor,  der  das  Licht  des  Gastrodiaphans  nicht 
durchscheinen  lässt,  doch  in  den  allermeisten  Fällen  der  Palpation  zugänglich 
sein,  Dass  ferner  die  Veränderungen  des  Mageninhaltes  viel  wichtigere  An- 
haltspunkte gewähren,  liegt  auf  der  Hand.  Von  Wichtigkeit  wäre  es,  ein 
beginnendes,  noch  nicht  palpables  Carcinom  zu  diagnosticiren,  indessen  ist 
hierzu  die  Gastrodiaphanie  augenscheinlich  nicht  das  geeignete  Mittel.  Im 
Allgemeinen  kann  man  sagen,  dass  die  Gastrodiaphanie  unsere  bisherigen 
diagnostischen  Untersuchungsmethoden  am  Magen  ergänzt  und  unterstützt, 
dass  sie  aber  unter  keinen  Umständen  diagnostisch  die  bisher  bekannten  Me- 
thoden übertrifft  oder  auch  nur  erreicht.  boas. 

Gefängnis-Psychosen.  Die  Gefängnis-Psychosen  sind  zwar  von 
streng  wissenschaftlichem  Gesichtspunkte  aus  keine  specifischen  Geistesstörungen, 
welche  von  anderweitigen  Psychosen  scharf  abgegrenzt  werden  könnten,  allein 
sie  zeigen  doch  in  ihrer  Entstehung,  ihrem  Symptomenbilde  und  ihrem  Verlaufe 
so  viele  charakteristische  Züge,  dass  ihre  besondere  Schilderung  vollkommen 
gerechtfertigt  erscheint. 

Die  moderne  Richtung  des  Strafvollzuges,  namentlich  auch  die  Ein- 
führung des  Isolirsystems,  hat  die  Thatsache  zweifellos  festgestellt,  dass  Geistes- 
störungen in  den  Strafanstalten  unendlich  viel  häufiger  (etwa  zehnmal  so 
häufig!)  als  in  der  freien  Bevölkerung  zur  Beobachtung  kommen.  Man  war 
eifrig  bemüht  deren  Quelle  au fzu decken.  Die  Untersuchungen  der  neueren 
Zeit  haben  nun  zu  dem  Ergebnisse  geführt,  dass  die  Ursachen  dieser 
Störungen  mindestens  ebenso  sehr  in  der  in  die  Strafanstalt  eingebrachten 
Veranlagung,  als  im  Gefängnisleben  gelegen  sind.  Eine  grosse  Zahl 
der  Verbrecher  ist  erblich  belastet  durch  Psychosen,  Neurosen,  Trunksucht 
oder  Entartung  ihrer  Eltern  oder  Voreltern.  Andere  sind  degenerirt  durch 
schlechte  Erziehung,  durch  Aufwachsen  in  einer  verbrecherischen  Umgebung, 
durch  Alkoholismus,  ausschweifendes  Leben  und  Syphilis,  oder  durch  ein  in 
Mangel  und  Noth  verbrachtes  Dasein.  Wieder  Andere  sind  durch  Kopf- 
Trauma,  Epilepsie  oder  andere  schwere  Erkrankungen  geschädigt.  Es  darf  nicht 
Wunder  nehmen,  dass  bei  einer  derartigen  mannigfaltigen  Prädisposition  die 
zweifellos  im  Strafvollzuge  liegenden  Schädigungen  geistiger  und  körperlicher 
Art  leicht  zu  Gelegenheitsursachen  werden,  Geistesstörungen  zur  Reife 
zu  bringen.  Diese  letzteren  Ursachen  sind  theils  psychischer  Art,  wie  pein- 
liche Gemüth seindrücke  durch  die  Freiheitsberaubung  und  Beschämung,  Ge- 
wissensbisse und  Reue,  Sorge  um  die  Zukunft  und  um  die  Angehörigen,  theils 
somatische,  wie  ungenügende  Nahrung  und  Luft,  ungewohnte  schwere  Arbeit 
u.  dgl.  m. 

Die  Erfahrung  hat  gelehrt,  dass  das  Isolirsystem  die  psychische  Ge- 
sundheit entschieden  mehr  gefährdet,  als  die  gemeinsame  Haft,  sie  hat  aber 
auch  festgestellt,  dass  diese  Gefahr  wesentlich  herabgemindert  werden  kann 
durch  zweckentsprechende  Gegeneinwirkungen,  wie  regelmässige  Arbeit,  Verkehr 
mit  Bediensteten,  Besuch  von  Schule  und  Kirche. 

Die  hier  in  Betracht  kommenden  Psychosen  sind  entweder  acute  oder 
chronische.  Die  ersteren  entstehen  mit  Vorliebe  in  der  Einzelhaft,  die  letzteren 
überwiegend  häufig  bei  gemeinschaftlicher  Einsperrung.  Diese  beiden  Gruppen 
unterscheiden  sich  so  wesentlich  von  einander,  dass  jede  eine  besondere  Be- 
sprechung erheischt. 

Die  acuten  Psychosen,  welche  man  auch  ganz  zutreffend  als  „Ein- 
zelhaftpsychosen" bezeichnen  kann,  stellen  sich  ganz  überwiegend  häufig   als- 


GEFÄNGNIS-PSYCHOSEN.  725 

acute  hallucinatorische  Melancholie  und  als  acuter  liallucinatorischer  Wahnsinn 
dar  und  bieten  durchaus  charakteristische  Krankheitsbilder  und  einen  typischen 
Verlauf. 

Bei  der  acuten  hallucinatorischen  Melancholie  stellt  sich  — • 
nach  prodromalen  somatischen  Störungen,  wie  Schlaf-  und  Appetitlosigkeit, 
Kopfdruck,  Rückgang  der  Ernährung  und  Anämie  —  eine  depressive  Ver- 
stimmung ein.  Dann  brechen  plötzlich,  in  der  Regel  zuerst  in  der  Stille  der 
Nacht,  Hallucinationen  und  zwar  zumeist  solche  des  Gehörs  hervor,  welche  eine 
angstvolle  Erregung  mit  Jammern  und  Schreien  auslösen.  In  zweiter  Linie 
kommen  solche  des  Gesichts,  seltener  in  anderen  Sinnesgebieten.  Der  Inhalt 
der  Stimmen  ist  stets  ein  depressiver,  wie  Vorwürfe,  Bedrohungen  u.  s.  w., 
die  Visionen  stellen  namentlich  schreckhafte  Gestalten  dar.  Die  lebhaften 
Sinnes-Delirien  wirken  in  intensiver  Weise  auf  das  kranke  Bewusstsein  und 
setzen  zeitweilig  schmerzhafte  Erregungszustände.  In  einer  nahezu  pathogno- 
mischen  Weise  stellen  sich  Präcordialangst-Anfälle  ein,  welche  bis  zum  Tae- 
dium  vitae  ansteigen  können.  Die  Erkrankung  führt,  nach  einer  Dauer  von 
2  Wochen  bis  6  Monaten,  in  der  Regel  zur  Genesung. 

Der  acute  hallucinatorische  Wahnsinn  steht  der  acuten  hallu- 
cinatorischen Melancholie  so  nahe,  dass  Uebergangsfälle  zwischen  beiden  Formen 
nicht  selten  sind.  Während  aber  die  letztere  durch  einen  ausgesprochenen 
Depressionszustand  eingeleitet  wird,  gehen  dem  ersteren  nur  die  oben  ange- 
führten somatischen  Störungen  prodromal  voraus.  Die  Sinnestäuschungen 
gehen  hier  direct  ausdemKerndesBewusstseins  hervor.  Sie  führen  rasch 
zur  Wahnbildung,  namentlich  zu  Verfolgungs-,  Grössen-,  religiösem  und  se- 
xuellem Wahn,  welcher  aber  weniger  als  bei  der  chronischen  Paranoia  systema- 
tisirt  ist.  Auch  hier  überwiegen  die  Hallucinationen  des  Gehörs,  es  können 
sich  aber  auch  solche  des  Gesichts,  Geruchs,  Geschmacks  und  Gemeingefühls 
einstellen.  Die  sehr  lebhaften  Sinnes-Delirien  führen  zu  energischen  Antrieben 
im  Sinne  des  Wahnes.  Die  Krankheitshöhe  ist  sehr  rasch  erreicht,  dann 
folgen  Remissionen  und  Exacerbationen  mit  zeitweiligen  Aufregungszuständen. 
Meist  fällt  dann  die  Störung  rasch  ab,  mitunter  durch  ein  kurzes  psychisches 
Schwächestadium  hindurch,  zur  Genesung  —  nach  einer  Dauer  von  1 — 7  Mo- 
naten. Zuweilen  wird  aber  auch  Uebergang  in  chronischen  Wahnsinn  beob- 
achtet. 

Die  acute  Manie  pflegt  nur  selten  in  der  Einzelhaft  aufzutreten,  sie 
ist  auch  eine  hallucinatorische,  zeigt  aber  im  Uebrigen  keine  Besonderheiten. 

Von  chronischen  Psychosen  können  wir  in  den  Strafanstalten  alle 
Formen  beobachten,  namentlich  die  verschiedensten  Grade  von  Schwach-  und 
Blödsinn,  nicht  selten  auch  die  Dementia  senilis,  deren  Träger  bereits  mehr 
oder  weniger  gestört  eingeliefert  wurden.  Diese  Fälle  bieten  nichts  Beson- 
deres, was  sie  von  den  täglich  in  den  Irrenanstalten  beobachteten  unter- 
scheidet. Als  charakteristisch  kommt  für  uns  nur  eine  bestimmte 
FormdeschronischenWahnsinnes  (Paranoia  chronica)  in  Betracht,  welche 
ihrer  Genese  nach  als  weitere  Entwicklung  des  sittlichen  Schwach- 
sinnes im  Sinne  des  Fortschreitens  auf  der  Bahn  der  psychischen  Degenera- 
tion aufgefasst  werden  kann.  Wir  finden  hier  psychopathische  Belastung, 
sittlichen  Schwach-  oder  Blödsinn  seit  der  Kindheit,  ein  träges  und  unbot- 
mässiges  Schülerleben,  später  Vagabondage,  unsittliche  Neigungen  (insbesondere 
zu  Diebstahl  und  Unzucht),  welche  weder  durch  Erziehung,  noch  vielfache  Ein- 
sperrungen gebessert  werden.  Solche  vom  Hause  aus  haltlose  und  unmoralische 
Menschen  werden  nun  durch  das  Gefängnis-Leben  weiter  geschädigt.  Es 
stellt  sich  bei  ihnen  eine  hochgradige  Gemüthsreizbarkeit  ein,  welche  sie  zum 
Schrecken  ihrer  Vorgesetzten  macht.  Jeder  Hausordnung  Hohn  sprechend, 
werden  sie  durch  Disciplinarstrafen  nicht  gebessert,  vielmehr  verschlimmert. 
Ganz  allmälig  (zuweilen  durch  ein  Stadium  des  Querulantenwahnes  hindurch  oder 


726  GEHIRNKRANKHEITEN. 

nach  einer  bis  zur  Verzweiflung  ansteigenden  Verstimmung)  geht  nun  in  der 
Strafanstalt  der  sittliche  Schwachsinn  in  Wahnsinn  über,  der  oft  lange  ver- 
kannt bleibt. 

Bei  der  Weiterentwicklung  pflegen  intensive  Sinnestäuschungen, 
und  zwar  in  allen  Sinnesgebieten,  eine  wichtige  Rolle  zu  spielen.  Zuerst 
kommen  Stimmen,  dann  krankhafte  Sensationen  der  verschiedensten  Art,  weiter 
illusorische  Geschmacks-  und  Geruchs- Apperceptionen,  seltener  Visionen.  Diese 
Sinne s-Delirien  bilden  in  der  Folge  die  wichtigste  Grundlage  für  die  Wahn- 
entwicklung. Der  Wahn  stellt  am  häufigsten  einen  reinen  Verfolgungswahn 
dar,  zuweilen  ist  er  mit  Grössenwahn  combinirt.  Selbst  noch  in  diesem  Sta- 
dium w^erden  die  schweren,  zumeist  sehr  gemeingefährlichen  Kranken  oft  nicht 
als  solche  erkannt  und  alle  ihre  pathologischen  Ausschreitungen  auf  Rechnung 
ihrer  „Verbrecher-Natur"  gesetzt,  bis  endlich  eine  reactionäre  Gewaltthat 
schlimmster  Art  (wie  Tödtung  des  vermeintlichen  Verfolgers)  die  leider  allzu 
späte  Aufklärung  bringt!  Der  Kranke  ist  inzwischen  unheilbar  geworden! 

Wenn  auch  diese  Krankheitsform  wissenschaftlich  dem  gewöhnlichen 
Verfolgungswahne  zugehört,  so  scheint  es  doch  vollkommen  berechtigt,  die- 
selbe angesichts  ihrer  eigenartigen  Entwicklung  und  ihres  typischen  Krankheits- 
bildes als  besondere  Unterform  festzuhalten.  Sie  düiite  in  zutrefiender 
Weise  als  „Verbrecherwahnsinn"  bezeichnet  werden. 

Diagnose,  Prognose  und  Therapie  fallen  mit  dem  Verfolgungs- 
wahn (einer  Form  der  Paranoia  chronica)  zusammen.  Kirn. 

Gehirnkrankheiten. 

I.  Circiilationsstörungen. 

Nach  Verwachsung  seiner  Nähte  und  Schliessung  der  Fontanellen  stellt  der  Hirn- 
schädel eine  geschlossene,  starre  Kapsel  dar.  Ihr  Inhalt  besteht  aus  der  festweichen  Gehirn- 
masse  und  zwei  Flüssigkeiten  —  dem  Blut  und  der  Arachnoidealfiüssigkeit,  die  auch  die 
Ventrikel  erfüllt.  Dieses  Contentum  muss  als  vollkommen  incompressibel  gelten,  wenigstens 
für  die  Kräfte,  die  in  physiologische  und  pathologische  Beziehung  zu  ihm  treten.  Daraus 
folgt  mit  Nothwendigkeit,  dass  der  eine  Bestandtheil  des  Schädelinneren  an  Volum  nur 
dann  variiren  —  wachsen  oder  abnehmen  —  kann,  wenn  die  beiden  anderen,  oder  wenigstens 
einer  von  ihnen,  in  eben  dem  Maasse  ab-  oder  zunehmen.  Entwickelt  sich  im  Schädel- 
inneren etwas  Neues,  das  Raum  beansprucht  —  eine  Geschwulst,  ein  Parasit,  ein  entzündliches 
Exsudat  —  so  müssen  Blut  und  Lymphe  Platz  machen,  sie  können  ausweichen,  die  Gehirn- 
substanz nicht.  Die  Lymphräume  des  Gehirns  (Subarachnoidealftüssigkeit)  steht  mit  dem 
Subarachnoidealraum  der  Wirbelsäule  in  offener  Verbindung,  sie  kann  in  ziemlich  beträcht- 
licher Menge  dahin  entweichen,  denn  das  Rückenmark  ist  nicht  allseitig  von  starren 
Wänden,  sondern  zum  Theil  auch  vom  elastischen  Apparatus  hgamentosus  eingeschlossen. 
Ein  solches  Verdrängtwerden  des  Liquor  cerebrospinalis  nach  der  Wirbelsäule  hin  bedeutet, 
entsprechend  der  nun  eintretenden  erhöhten  Spannung  des  Apparatus  ligamentos-us  stets  eine 
Erhöhung  des  intracerebralen  Druckes.  Auch  das  Blut  kann  aus  der  Schädelhöhle  und  sogar 
noch  viel  leichter  verdrängt  werden.  Es  resultirt  daraus  die  sogenannte  Anaemia  cerebri. 
Beide  Vorgänge,  das  Verdrängtwerden  des  Liquor  cerebrospinalis  und  des  Blutes  aus  der 
Schädelhöhle  brauchen  einige  Zeit.  Wird  sehr  plötzlich  von  einem  neuen  Eindringling  Raum 
in  der  Schädelhöhle  beansprucht,  z.  B.  durchbohrt  ein  Projectil  mit  grosser  Geschwindigkeit  die 
Schädelkapsel,  so  können  die  beiden  genannten  Flüssigkeiten  nicht  schnell  genug  ausweichen, 
es  steigt  momentan  der  Druck  im  Innern  der  Schädelhöhle  so  enorm,  dass  dadurch  der 
Schädel  geradezu  gesprengt  wird.  Wächst  diese  Drucksteigerung  nur  langsam,  so  können 
Blut  und  Liquor  cerebrospinalis  zwar  beide  schnell  abfiiessen.  Dabei  aber  ist  es  immer 
zuerst  das  Blut,  das  verdrängt  wird  und  Anämie  des  Gehirns  stellt  sich  pro  primo  ein,  dem 
Abfiiessen  des  Liquor  cerebrospinalis  sind  in  Folge  der  engen  Communicationswege  stärkere 
Widerstände  für  seine  Fortbewegung  entgegengestellt.  Dauert  dagegen  die  Raumbeschrän- 
kung in  der  Schädelhöhle  an,  so  vermag  auch  der  Liquor  cerebrospinalis  in  ausgiebiger 
Weise  abzufliessen,  die  Resorption  der  Lymphe  im  Gehirn  nimmt  unter  dem  erhöhten  Druck 
verhältnismässig  zu  und  so  kann  es  kommen,  dass  durch  letzteres  Moment  sogar  wieder 
etwas  mehr  Raum  für  das  Blut  geschaffen  werden,  das  Blut  also  wieder  zutreten  kann  und 
die  Anämie  sich,  aber  nur  bis  zu  einem  gewissen  Grad  wieder  ausgleicht;  denn  die 
Abscheidung  und  Resorption  der  Lymphe  im  Gehirn  ist  nicht  ausschliesslich  von  den  Druck- 
verhältnissen, sondern  zum  Theil  auch  von  den  vitalen  Eigenschaften  der  absondernden 
Zellen  abhängig. 


GEHIRNKRANKHEITEN.  727 

Daraus,  dass  der  Liquor  cerebrospinalis  in  vermehrtem  Maasse  sich  in  der  Schädelhöhle 
anhäufen,  oder  aus  derselben  abfiiessen  kann,  ergibt  sich  die  Möglichkeit  einer  Anaemiaund 
Hyperaemia  cerebri.  Beide  sind  aber,  wie  wir  noch  sehen  werden,  blos  anatomische 
Begriffe.  Die  Autopsie  ergibt  bei  Anaemia  cerebri  die  Gefässe  der  Hirnhäute  wenig  gefüllt, 
die  graue  Substanz  blasser  als  normal,  auf  der  Schnittfläche  der  weissen  Substanz  kommen 
auffallend  wenig  „Blutpunkte"  (aus  angeschnittenen  Gefässen  des  kleinsten  Kalibers)  zu 
Gesicht.  Als  Hyperaemia  cerebri  deutet  man  stärkere  Injection  der  pialen  Gefässe  und  an 
Zahl  vermehrte  Blutpunkte  auf  der  Schnittfläche  der  weissen  Substanz. 

In  der  Schädelhöhle  herrscht  normaler  "Weise  ein  geringer  positiver  Druck  (etwa  gleich 
dem  einer  100  mm  hohen  Wassersäule).  Dieser  ,,intracerebrale  Druck"  kann  schon  unter 
physiologischen  Verhältnissen  nicht  unbeträchtlich  schwanken;  er  leitet  sich  vom  Blutdruck 
her.  Würden  die  Arterien  frei  ins  Cavum  cranii  münden,  so  würde  der  arterielle  Druck 
sich  einfach  auf  die  Schädelhöhle  fortsetzen,  und  in  letzterer  müsste  ein  Druck  gleich  deüi 
arteriellen  Druck  herrschen.  Dieser  einfachen  Fortsetzimg  des  arteriellen  Drucks  in  die 
Schädelhöhle  wirkt  aber  die  Kraft  der  gespannten  Gefässwand  entgegen,  so  dass  überall  im 
Schädel  der  intracerebrale  Druck  gleich  der  Differenz :  Blutdruck  minus  Gefässpannung  zu 
setzen  ist.  Weil  aber  der  Druck  in  der  Schädelhöhle  überall  der  nämliche  ist,  so  ist  es 
selbstverständlich,  dass  an  den  Stellen  der  Blutstromgebiete,  wo  der  Blutdruck  ein  niederer 
ist,  ganz  in  entsprechendem  Maasse  auch  die  Gefässpannung  eine  schwächere  sein  muss.  Der 
intracerebrale  Druck  ist  also  jeweilig  von  zwei  Factoren  abhängig:  vom  Blutdruck  und  von 
der  Gefässpannung;  ersterer  aber  wird  bedingt  von  der  Triebkraft  des  Herzens,  letzterer 
ist  zum  Theil  Ausdruck  der  passiven  Dehnung  der  Gefässwand  durch  den  in  ihm  herr- 
schenden Druck,  zum  Theil  aber  auch  herbeigeführt  durch  die  Action  der  vasomotorischen, 
in  ihr  gelegenen  Muskeln,  die  vom  Sympathicus  oder  —  nach  manchen  Autoren  direct  vom 
Centrum  vasomotoricum  —  innervirt  werden.  Wirken  die  Vasoconstrictoren  stärker  —  spa- 
stische Contraction  der  Gefässwand  —  so  sinkt  der  intracerebrale  Druck,  lässt  er  nach.  — 
paralytische  Erweiterung  der  Gefässe  —  so  steigt  der  intracerebrale  Druck,  Weil  das  Spiel 
der  Vasomotoren  vorzugsweise  die  Arterien,  nicht  aber  die  Capillaren  und  kaum  die  Venen 
betrifft,  so  lässt  sich  noch  Folgendes  mit  Nothwendigkeit  schliessen:  Spasmus  der  Arterien 
schafft,  Paralyse  derselben  beansprucht  Raum  im  Gehirn.  Diese  Raumveränderung  wird 
sofort  ausgeglichen  durch  entsprechende  Füllung  der  Capillaren  und  Venen,  letztere  sind 
also  bei  Spasmus  der  Arterien  weiter,  bei  Erschlaffung  derselben  enger.  Es  wird  dadurch 
die  Circulation  im  Gehirn  im  ersten  Fall  erleichtert,  im  zweiten  erschwert.  Dies  ist  von  der 
allergrössten  Bedeutung  für  die  Function  des  Gehirns,  denn  letztere  ist  durchaus 
nicht  abhängig  von  dem  Quantum  Blut,  das  sich  im  Cavum  cranii  befindet, 
sondern  lediglich  gewährleistet  von  dem  Quantum  Blut,  das  in  der  Zeit- 
einheit die  Capillaren  durchströmt.  Ein  Gehirn  kann  strotzen  von  stagnirendem 
Blut  und  es  muss  ersticken,  weil  sich  das  Blut  nicht  fortbewegen,  nicht  ständig  erneuern 
kann,  etwa  deshalb,  weil  die  Venen  ausserhalb  des  Schädels  oder  in  diesem  selbst  com- 
primirt  oder  verlegt  sind.  Die  anatomischen  Begriffe  Anaemia  und  Hyperaemia 
cerebri  sind  demnach  in  physiologischem  und  klinischem  Sinn  vollkommen 
irrelevant  und  nur  die  gute  oder  schlechte  Durchfluthung  des  Gehirns 
mit  frischem,  sauerstoffhaltigem  Blut  von  Bedeutung. 

Man  kann  die  regelrecht  vor  sich  gehende  Durchblutung  des  Gehirns  Eudi- 
äniorrhysis,  ihre  Abweichung  nach  der  negativen  Seite  Adiämorrhj' sis,  die 
nach  der  positiven  Seite  Hyperdiämorrhysis  benennen. 

Die  Durchfluthung  des  Gehirns  ist  abhängig:  erstens  von  der  Differenz  des 
Druckes  in  den  Arterien  und  dem  in  den  Yenen  (dem  Gefälle),  zweitens  von  der 
Reibung,  die  bei  weitem  am  grössten  in  den  engen  Capillaren  ist,  und  von  dem  Ver- 
hältnis der  Gefässquerschnitte  am  Anfang  und  Ende  des  Stromgebietes,  indem 
Flüssigkeiten  ceteris  paribus  sich  leichter  aus  engen  in  weitere  Räume  ergiessen  als 
umgekehrt.  Aenderung  des  intracerebralen  Druckes  bewirkt  die  grösste  Aenderung 
des  Lumens  an  Yenen  und  Capillaren,  die  dünnwandig  sind  und  in  denen  ein  nur 
geringer  Druck  herrscht.  Wächst  der  intracerebrale  Druck,  so  werden  Yenen  und 
Capillaren  comprimirt  und  die  Durchfluthung  wird  eine  geringere.  NachGKASHEY  kommen 
dabei  die  Yenen  zum  Yibriren,  d.  h.  das  Blut  rückt  in  ihnen  nicht  mehr  continuirlich, 
sondern  nur  ruckweise  vorwärts.  Umgekehrt  wirkt  A^erminderung  des  intracerebralen 
Druckes  durch  Erweiterung  der  Yenen  und  Capillaren  ceteris  paribus  günstig  auf  den 
Gehirnkreislauf. 

Unzweifelhaft  sind  Einrichtungen  getroffen,  die  es  erlauben,  dem  Gehirn  zur 
Zeit  des  Mehrbedarfes  auch  mehr  Blut  zuzuführen,  dagegen  vermag  man  keinen 
pathologischen  Zustand  zu  nennen,  bei  dem  man  Hyperdiämorrhysis  als  Ursache 
annehmen    müsste,    höchstens    kämen    dabei    gewisse    Formen    von    Epilepsie    oder 


728  GEHIRNKRANKHEITEN. 

Hemicranie  in  Betracht,  bei  denen  vielleiclit  Spasmus  der  Hirnarterien  und  dadurch 
Hyperdiämorrhysis  besteht. 

Schlechte  Blutversorgung  des  Gehirns  allein  — -  Adiämorrhysis 
—  macht  Krankheits-Symptome.  Letztere  fallen  umso  intensiver  aus,  je 
rascher  die  Adiämorrhysis  eintritt;  während  das  Grehirn  sich  aller  Erfahrung  nach 
an  langsam  wachsende  Schädlichkeiten,  so  auch  an  chronische  schlechte  Ernährung 
bis  zu  einem  hohen  Grade  gewöhnen  kann. 

Dies  erhalb  und  wegen  der  ätiologischen  Momente  ist  eine  acute  und  eine 
chronische  Adiämorrhysis  cerebri  zu  unterscheiden. 

Weil,  wie  wir  gesehen  haben,  für  die  Eudiämorrhysis  cerebri  2  Factoren  von 
Belang  sind:  die  Triebkraft  des  Herzens  und  der  Tonus  der  Gefässe,  so  muss  man 
bei   der  Adiämorrhysis  cerebri  acuta  2  Formen  unterscheiden: 

1.  Die  vaso paralytische  Form  kommt  zu  Stande,  wenn  die  Vaso- 
constrictoren  der  Arterien  gelähmt  werden.  Es  sind  nicht  nur  Leute  mit  plethorischem 
Habitus,  Stiernacken,  starken  Fettpolstern  und  vollem  Gesicht,  welche  an  solchen  Attaquen 
von  Adiämorrhysis  vasoparalytica  laboriren,  sondern  auch  Leute,  die  man  eher  als 
anämisch  bezeichnen  möchte,  die  im  Ganzen  „nervös"  sind  oder  bei  denen  vorzugs- 
weise die  Innervation  des  Gefässystems  sich  in  labilem  Gleichgewicht  befindet, 
Neurastheniker  liefern  hier  ein  grosses  Contingent.  Als  Gelegenheitsursachen  sind 
zu  nennen,  psychische  Alteration:  Aerger,  Zorn,  Verlegenheit,  Scham;  Störungen  von 
Seite  des  Digestionsapparates,  Ueberladen  des  Magens,  Stuhlverstopfung,  übermässiger 
Genuss  von  AUvohol.  Die  Symptome  sind  vorzugsweise  subjectiver  Natur.  Es  entsteht 
Schwindel,  leichte  Benommenheit  des  Sensoriums,  die  sich  von  momentaner  Schwierigkeit 
die  Gedanken  zu  ordnen,  bis  zu  höheren  Graden,  ja  sogar  bis  zu  mehr  oder 
weniger  vollkommener  Bewusstlosigkeit  steigern  kann;  es  melden  sich  inzwischen 
Funkensehen,  Verdunklung  des  Gesichtsfeldes,  Klingen  vor  den  Ohren,  Uebelsein, 
eventuell  sogar  Erbrechen,  Kopfschmerz.  Dabei  —  und  dies  ist  für  diese  Form 
charakteristisch  —  ist  die  Herzkraft  nicht  geschädigt,  der  Puls  gut,  oft  sogar  auf- 
fallend kräftig,  wenn  auch  gewöhnlich  frequenter,  die  Carotiden  klopfen,  das  Gesicht 
strotzt  von  Blut,  die  Augäpfel  sind  bei  einem  starken  Anfall  vorgetrieben  und 
glotzen,  und  trotzdem  also  der  Kopf  und  wohl  auch  das  Gehirn  viel  arterielles 
Blut  enthält,  sind  dennoch  die  beschriebenen  Symptome  auf  schlechte  Durchfluthuug 
des  Gehirns,  auf  beginnende  Erstickung  desselben  zurückzuführen,  weil  unter  Steigen 
des  intracerebralen  Druckes,  im  gleichen  Maasse  wie  sich  die  Arterien  des  Gehirns 
ausdehnen,  auch  die  Venen  und  Capillaren  comprimirt  werden,  so  dass  eine  Stagnation 
des  Blutes  im  Gehirn  eintreten  muss.  Kegelmässig  klingt  ein  solcher  Anfall  mit 
oder  ohne  Kunsthilfe  nach  einiger  Zeit  ab  und  macht  normalem  Verhalten  Platz,  das 
Gesicht  verliert  seine  abnorme  Röthe  und  die  subjectiven  Erscheinungen  schwinden. 
Die  Prognose  ist  demnach  in  der  Regel  günstig,  bezüglich  der  Ausuahmsfälle  muss 
auf  das  verwiesen  werden,  was  bei  der  Haemorrhagia  cerebri  besprochen  werden  wird. 

Die  Regeln  für  die  Prophylaxe  und  Therapie  ergeben  sich  aus  der  an- 
geführten Aetiologie  von  selbst;  eine  Hauptrolle  spielt  Vermeidung  jeder  Excesse,  jeder 
psychischen  Aufregung,  Regelung  des  Stuhles,  der  Diät,  Behandlung  etwa  zu  Grunde 
liegender  Nervosität  und  Neurasthenie  oder  allgemeiner  Obesitas.  Li  einem  ernsteren 
Anfall  sind  alle  beengenden  Kleidungsstücke,  namentlich  am  Hals  zu  lockern  oder  zu 
entfernen,  der  Kopf  hochzulagern;  den  geschwundenen  Tonus  der  Gefässe  sucht  man 
durch  kalte  Umschläge  (Eisblase)  auf  den  Kopf  und  besonders  zweckmässig  durch 
kaltes  Waschen  der  Augen  zu  bekämpfen.  Es  ist  experimentell  festgestellt,  dass 
Kälte  von  den  Conjunctiven  aus  reflectorisch  Spasmus  der  Hirngefässe  („arterielle 
Anämie")  hervorzurufen  vermag.  Die  aufgeregte  Herzthätigkeit  wird  durch  allgemeine 
Ruhe,  Eisblase  aufs  Herz  beschwichtigt.  Entleerung  des  Darmes  durch  ein  reizendes 
Klystier  ist  entschieden  angerathen;  selten  wird  man  genöthigt  sein,  heisse  Hand- 
bäder etwa  mit  Zusatz  von  Senfmehl  oder  eine  Blutentziehung  örtlich  (Blutegel 
hinter  die  Ohren)  oder  gar  als  Venäsection  zu  appliciren.    Wo  die  vasoparalytische 


GEHIRNKRANKHEITEN.  729 

Adiämorrhysis  cerebri  Ausdruck  allgemeiner  Kervosität  bei  Anämischen  ist,  muss 
jede  Blutentziehung  als  contraindicirt  gelten. 

Von  ungleich  grösserer  Wichtigkeit  ist 

2.  die  sj^ncopale  Form  der  acuten  Adiämorrhysis  cerebri.  Sie  kommt 
durch  einen  Nachlass  der  Herzkraft  zu  Stande,  wodurch  die  Differenz  „arterieller 
minus  venöser  Druck"  also  das  Gefälle  in  den  Gehirncapillaren  verringert  wird. 
Alles,  was  die  Herzkraft  mehr  oder  weniger  rasch  zu  schädigen  vermag,  spielt  hier 
eine  ätiologische  Rolle,  vor  Allem  schwere  Blutverluste,  Vergiftungen,  namentlich 
mit  den  sogenannten  „Herzgiften",  heftige  Erschütterungen  des  ganzen  Körpers, 
ausgebreitete  Zermalmungen,  z.  B.  bei  Maschinenverletzungen.  Aber  auch  heftige 
Eindrücke  auf  die  Psyche  („psychische  Traumen")  können  jähen  Nachlass  der 
Herzkraft  mit  allen  Zeichen  der  schwersten  Adiämorrhysis  cerebri  hervorrufen,  endlich 
ist  in  vielen  Fällen  eine  prädisponirende  Nervosität  deutlich  zu  erkennen,  auf  deren 
Boden  schon  verhältnismässig  geringfügige  Anlässe  somatischer  oder  psychischer  Art 
dasselbe  zu  leisten  vermögen.  An  sich  geringfügige  Momente,  wie  Aufsitzen  aus 
dem  Liegen,  Verlassen  des  Bettes,  sind  es  auch,  welche  bei  schon  im  Allgemeinen 
Anämischen,  z.  B.  bei  Eeconvalescenten  nach  schwerer  Krankheit,  mit  schon  ge- 
schädigtem, nahezu  erschöpftem  Herz,  genügen,  um  alle  Gefahren  eines  schweren 
CoUapses  herbeizuführen. 

In  der  Form  des  Collapses  nämlich  melden  sich  die  Symptome  der  ernsten 
Form  der  acuten  syncopalen  Adiämorrhysis  cerebri.  Es  wird  den  Patienten  übel 
zu  Muthe,  trüb,  verschwommen,  schwarz  vor  den  Augen,  eventuell  Nausea  und  wirk- 
liches Erbrechen  gesellen  sich  hinzu  oder  ohne  diese  Zwischenfälle,  mitunter  überaus 
rasch  stürzen  die  Kranken  bewusstlos  zu  Boden.  Die  Haut  ist  kühl,  mit  klebrigem 
Schweiss  bedeckt,  die  Nase  spitz,  die  Gesichtszüge  entstellt,  die  Augäpfel  sinken 
zurück,  die  Pupillen  sind  Anfangs  weit,  dann  reactionslos,  die  Conjunctivalreflexe 
verschwinden,  der  Puls  Anfangs  klein,  frequent,  weich,  später  kaum  —  nicht  mehr, 
gerade  noch  an  den  Carotiden  zu  fühlen,  die  Athmung  kaum  wahrnehmbar,  ein  paar 
tiefe  Athemzüge  folgen,  und  eisige  Buhe  lagert  über  dem  schrecklich  veränderten 
Antlitz,  das  aufgesetzte  Stethoskop  constatirt  Buhe  des  Herzens  und  damit  den  Tod. 

Dieses  erschütternde  Bild  derSyncope,  des  unmittelbar  tödtlichen  Collapses, 
ist  die  höchstentwickelte  Form  der  acuten  Adiämorrhysis  cerebri.  Zum  guten 
Glück  kommt  es  in  den  meisten  Fällen  nicht  soweit.  Das  Bewusstsein  kann  voll- 
kommen aufgehoben  sein,  der  Puls  miserabel,  kaum  fühlbar,  und  dennoch  erholen 
sich  die  Patienten,  indem  das  blasse  Gesicht  wieder  Farbe  bekommt,  der  Puls  sich 
hebt,  und  das  Bewusstsein  wiederkehrt.  Ein  solcher  Ohnmachtsanfall  hinterlässt 
dann  häufig  Nachwehen  in  Form  von  Schwindel,  Kopfweh,  Funkensehen,  Schläfrigkeit 
bis  zur  leichten  Benommenheit,  ist  auch  mehrerer  sich  rasch  folgender  Recidive  fähig, 
so  dass  dann  die  Kranken,  wie  der  Volksmund  sich  ausdrückt,  „aus  einer  Ohnmacht 
in  die  andere  fallen". 

In  rudimentären  Attaquen  wird  das  Bewusstsein  wenig  oder  gar  nicht  ergriffen, 
es  wird  den  Kranken  nur  unsäglich  schlecht  zu  Muthe,  schwindlig,  es  klingt  und 
summt  ihnen  vor  den  Ohren,  flammt  vor  den  Augen,  sie  vermögen  ihre  Gedanken 
nicht  mehr,  wie  sie  es  wünschen,  zu  sammeln,  sie  taumeln,  müssen  eventuell  erbrechen, 
aber  rascher  oder  langsamer,  besonders  unter  geeigneter  Therapie  schwinden  alle 
diese  Erscheinungen  wieder. 

Vergleichen  wir  die  Symptome  der  (syncopalen)  Form  mit  der  ersteren  (vaso- 
paralytischen)  Form  der  Adiämorrhysis  cerebri,  so  sind  sie  wesentlich  dieselben  und 
aus  diesem  Grunde  musste  bisher  jeder  Versuch  einer  klinischen  Trennung  von  „Hirn- 
hyperämie" (unsere  erste  Form)  und  „Hirnauämie"  (unsere  zweite  Form)  noth- 
wendig  scheitern.  Nur  die  Begleiterscheinungen  am  ganzen  Körper,  besonders  am 
Gefässystem  lassen  die  beiden  Formen  von  einander  unterscheiden,  denen  aber 
beiden  die  ungenügende  Durchfluthung  des  Gehirnes  vollständig 
gemeinsam  ist.  In  dem  einen  Fall  arbeitet  das  Herz  kräftig,  im  anderen 
schwach,   im   ersten  besteht   Röthe   und   Hitze,   im   zweiten    Blässe    und  Kälte   des 


730  GEHIRNKKANKHEITEN. 

Gesiclits.  Yerschieden  ist  auch  für  beide  Formen  die  Aetiologie  und  da  auch  ihr 
Mechanismus  verschieden  ist,  so  muss  auch  die  Therapie  in  den  beiden  Formen 
ganz  verschiedenen  Indicationen  gerecht  werden. 

Therapie.  Der  schnelle  Ablauf  der  Erscheinungen  fordert  ein  rasches  Eingreifen : 
sofort  Tieflegen  des  Kopfes  und  Anreizen  des  Herzens  durch  Aether,  Campher  subcutan, 
Application  energischwirkender  Hautreize,  Bespritzen  des  Gesichtes  und  der  ent- 
blössten  Brust  mit  kaltem  Wasser,  Bürsten  der  Fussohlen,  Einathmenlassen  von  Aetz- 
ammoniak.  Selbstverständlich  ist  bei  Blutverlusten  die  möglichst  rasche  Stillung  der 
Blutung  die  wichtigste  Aufgabe,  denn  so  lang  dies  nicht  geschehen  ist,  bewirkt  jeder 
Herzreiz  eine  nur  noch  stärkere  Verblutung  des  Organismus.  Ganz  besonders  wichtig 
ist  es,  in  jedem  Fall  von  Collaps  die  Möglichkeit  einer  inneren  Blutung  zu  er- 
wägen. Ist  eine  solche  wahrscheinlich,  so  lässt  man  nur  den  Kopf  tieflegen,  reicht 
Morphium  subcutan,  legt  eine  grosse  Eisblase  auf  die  Stelle  der  vermutheten  Hämor- 
rhagie,  und  lässt  die  Erscheinungen  bis  zum  äussersten  Grad  anwachsen,  bevor  man 
sich  entschliesst,  den  drohenden  Exitus  letalis  durch  die  Herzreize  abzuwenden. 
Grosse  Euhe  in  liegender  Stellung,  gute  kräftige  Eimährung,  Alkohol  sind  in  der 
Reconvalescenz  die  wichtigsten  Heilmittel. 

Leichtere  Anwandlungen  von  „Ohnmacht"  oder  „Schwachwerden"  erfordern 
Zutritt  von  frischer,  kühler  Luft,  Hautreize,  einen  Schluck  kräftigen  Weines  oder 
Branntweines.  Ist  aber  das  Sinken  der  Herzkraft  z.  B.  bei  allgemeiner  Abkühlimg 
des  Körpers  (Erfrieren)  eingetreten,  so  ist  neben  mächtigen  Hautreizen  (Abreiben 
mit  Schnee)  nachfolgendes  Einpacken  in  gewärmte  Tücher  und  das  Einflössen  heisser 
Getränke   und    starken   Alkohols    (Glühwein,    Thee   mit    Cognac)  die  Hauptsache. 

Es  verdient  nochmals  hervorgehoben  zu  werden,  dass  Spasmus  der  Gehirngefässe 
bessere  Durchfluthung  nach  sich  zieht,  dass  also  die  Application  der  Eisblase  auf  den  Kopf 
auch  bei  dieser  Form  der  Adiämorrhysis  entschieden  indicirt  ist.  Die  an  den  weiten 
Pupillen  kenntliche  Sympathicusreizung  ist  in  dieser  Hinsicht  als  eine  Art  Selbst- 
hilfe des  Organismus  beim  Collaps  anzusehen.  Bekannt  ist  aus  dem  alltäglichen  Leben 
der  erfrischende  Einfluss  auf  die  Gehirnthätigkeit  durch  kalte  Waschung  des  Gesichtes 
und  namentlich  der  Augen. 

Chronische  Adiämorrhysis  cerebri  begleitet  Krankheiten,  in  denen 
die  Herzkraft  mehr  oder  weniger  daniederliegt,  oder  in  welchen  das  Blut  an  diesem 
oder  jenem  seiner  normalen  Bestandtheile  verarmt  ist.  In  letzterem  Fall  könnte  die 
Circulation  mechanisch  ganz  regelrecht  vor  sich  gehen  und  trotzdem  wegen  der 
qualitativ  veränderten  Beschaffenheit  das  Gehirn  in  seiner  Ernährung  Noth  leiden. 
Do  ch  ist  hier  wohl  stets  auch  das  Herz  schlecht  ernährt  und  in  seiner  Kraft  ge- 
schwächt, so  dass  also  die  chronische  Adiämorrhysis  auf  eine  Stufe  mit  der  2.  Form 
der  acuten  zu  stellen  ist,  nur  dass  noch  die  schlechte  Blutbeschaflenheit  die  Wirkung 
verstärkt,  andererseits  aber  hier  eine  sehr  wichtige  Eigenschaft  des  Gehirns  zur 
Geltung  kommt,  indem  letzteres  nämlich  in  sehr  hohem  Maasse  sich  Schädlichkeiten 
anpassen  und  sie  noch  ertragen  kann,  wenn  sie  nicht  plötzlich  auf  dasselbe  herein- 
brechen, sondern  in  recht  langsamer  Steigerung.  Bekäme  das  Gehirn  eines  gesunden 
Menschen  auch  nur  für  einen  Augenbhck  blos  soviel  Blut,  als  durch  die  Gehirn- 
capillaren  eines  chlorotischen  Mädchens  oder  die  eines  Krebskranken  geht,  der  viel- 
leicht noch  Wochenlang  damit  leben  kann,  so  würde  jedenfalls  eine  schwere  Bewusst- 
losigkeit,  wenn  nicht  directjder  Exitus  letalis,  herbeigeführt  werden. 

Die  Symptome  der  chronischen  schlechten  Ernährung  des  Gehirns  sind  demnach 
nicht  so  stürmisch  wie  die  der  acuten.  Die  gewöhnlichsten  Gehirnerscheinungen,  die 
man  in  Reconvalescenz  nach  schwerer  Krankheit  oder  starken  Blutverlusten,  im  Ver- 
lauf der  verschiedensten  chronischen  Krankheiten  des  Blutes,  der  Verdauungsorgane, 
der  Tuberculose,  der  Krebscachexie,  bei  fortgesetzten  Verlusten  von  Nährmaterial 
(Albuminurie,  protrahirte  Lactation)  zu  sehen  bekommt,  sind  nichts  anderes  als  der 
Ausdruck  chronischer  Adiämorrhysis.  So  die  Unlust  und  Unfähigkeit  mehr  noch  zu 
geistiger  als  körperlicher  Arbeit,  die  leichte  Ermüdbarkeit  bei  ersterer,  der  Kopf- 
schmerz,   der    schlechte,  durch  Träume    gestörte    Schlaf   (insoweit    dies   nicht   durch 


GEHIENKEANKHEITEN.  731 

Fieber  bedingt  ist),  die  geistige  und  körperliche  Unruhe,  umgekehrt  auch  Apathie 
und  Schläfrigkeit,  Gemüthsverstimmung.  Auch  wirkliche  Geisteskrankheiten  (Inauitions-, 
Erschöpfungspsychosen)  können  sich  entwickeln. 

Die  Prognose  richtet  sich  nach  dem  Grundleiden,  kann  dieses  gehoben  werden, 
so  schwinden  die  Gehirnerscheinungen  von   selbst. 

Es  ist  nur  zu  beachten,  dass  auf  dem  Boden  chronischer  Adiämorrhysis  auch 
schon  durch  geringfügige  Momente  überaus  leicht  eine  Attaque  der  acuten  mit  allen  ihren 
Gefahren  ausgelöst  werden  kann.  So  sind  Anämische  zu  Ohnmachtsanwandlungen  un- 
gemein geneigt,  so  kann  man  einen  Reconvalescenten  nach  einer  acuten  erschöpfenden 
Krankheit,  z.  B.  nach  Dysenterie  schliesslich  noch  bei  zu  raschem  Aufrichten  aus 
der  horizontalen  Lage  oder  beim    ersten  Versuch    das  Bett  zu  verlassen,  verlieren. 

Dies  ist  bezüglich  der  Prophylaxe  acuter  Anfälle  wohl  zu  berücksichtigen,  z.  B. 
auch  das  Baden  von  herabgekommenen  Typhuskranken  nur  unter  gleichzeitiger 
dreister  Darreichung  starker  Alcoholica  zu  riskiren.  Schliesslich  können  Inanitions- 
Psychosen  noch  selbständig  die  Gefahr  des  Suicidiums  heraufbeschwören. 

Die  Therapie  besteht  in  Behandlung  des  Grundleidens,  in  reichlicher  Er- 
nährung mit  gut  assimilirbaren  Stoffen,  wenn  der  Magen  krank  ist,  vom  Ptectum  her, 
in  Anreizung  des  Herzens  durch  Wein,  Thee,  Kaffee,  Kraftbrühen,  eventuell  durch 
die  Herzreize  xct'  Icoyj^y.  den  Campher,  das  Coffein,  die  man  ja  längere  Zeit  hin- 
durch ohne  Schaden  fortgebrauchen  lassen  kann.  Ob  die  Eisenpräparate,  abgesehen 
von  der  Chlorose,  irgend  einen  Xutzen  schaffen,  ist  mehr  als  zweifelhaft,  dagegen  kommt 
unter  den  „Tonicis"  dem  Chinin  entschieden  ein  günstiger  Einfluss,  wenigstens  auf  manche 
Erscheinungen  der  chronischen  Adiämorrhysis  zu,  z.  B.  auf  den  Kopfschmerz,  auch  wenn 
letzterer  nicht  typisch,  stets  zur  nämlichen  Tageszeit  sich  meldet,  was  er^  nebenbei 
bemerkt,  auch  thun  kann,  ohne  dass  Malaria  irgendwie  mit  im  Spiel  ist.  Auch  die 
anderen  in  neuerer  Zeit  so  beliebten  Nervina:  das  Antipyrin,  Acetanilid,  Phenacetin, 
Phenocoll,  Anaigen  u.  s.  w.  leisten  hier  eventuell  gute  Dienste.  Vor  Allem  darf  man 
auch  nicht  vergessen,  dass  für  die  Erholung  eines  erschöpften  Gehirnes  die  Euhe 
des  Schlafes  von  der  grössten  Wichtigkeit  ist.  Kann  man  letzteren  ohne  Morphium, 
Chloralhydrat,  Sulfonal  oder  Bromkalium  u.  s.  w.  erzielen,  z.  B.  durch  ein  pro- 
longirtes  warmes  Bad  am  Abend  oder  durch  ein  Glas  Bier  vor  dem  Schlafengehen,  dann 
desto  besser,  weil  damit  die  Gefahr  der  Gewöhnung  an  jene  zweischneidigen  Mittel 
vermieden  wird. 

Das  Oedema  cerebri  ist  charakterisirt  durch  eine  vermehrte  Menge  der 
subarachnoidealen  Flüssigkeit  und  des  Liquor  in  den  Ventrikeln,  sowie  durch  eine 
stärkere  Durchfeuchtung  der  Hirnsubstanz.  Das  Hirnödem  kommt  zu  Stande  durch 
allgemein  oder  local  bedingte  Stauung  (Thrombose  oder  Compression  der  Kopfvenen) 
sowie  als  Theilerscheinung  eines  allgemeinen  Hydrops,  z.  B.  bei  Morbus  Brightii 
oder  chronischen  Cachexien  mannigfacher  Art.  Vielleicht  entsteht  es  bei  den  letzteren 
auch  ex  vacuo,  weil  die  Blutmenge  im  Gehirn  immer  mehr  reducirt  wird,  stets  aber 
ist  eine  solche  Anaemia  cerebri  dem  Oedem  vergesellschaftet,  gleichviel  ob  man  erstere 
als  Ursache  oder  als  Folge  im  einzelnen  Fall  aufzufassen  hat.  Die  Erscheinungen 
sind  einfach  die  der  Adiämorrhysis  cerebri,  besitzen  gar  nichts  besonderes,  so  dass 
das  Oedema  cerebri  schlechterdings  nicht  zu  diagnosticiren  ist.  Nicht  einmal  beim 
Morbus  Brightii  und  allgemeiner  starker  Wassersucht  mit  Hirnerscheinungen  wird 
eine  Vermuthungsdiagnose  stets  durch  die  Section  bestätigt.  Prognose  und  Therapie 
zu  besprechen  ist  also  vollkommen  gegenstandslos. 

II.  Hämorrhagia  cerebri  {Apoplexia  sanguinea,  blutiger   Hirnschlag). 

Anatomischer  Befund.  Erfolgte  aus  einem  feineren  Arterienaste  im  Gehirn 
eine  Blutung,  so  findet  man  kurze  Zeit  nach  der  Katastrophe  einen  erbsen-  bis 
haselnussgrossen,  weichen  Herd  von  schwarzrother  Farbe,  der  ausser  Blut  auch  noch 
die  Reste  der  zertrümmerten  Gehirnsubstanz  enthält.  Die  nächste  Umgebung  der 
letzteren  ist  röthlich  gesprengelt,  was  von  sehr  kleinen  Blutungen  herrührt,  die  von 
der  Circulationsstörung  in  der   Nachbarschaft   sich    ableiten.     Bleibt   das  Leben    er- 


732  GEHIRNKRANKHEITEN. 

halten,  so  geht  der  Blutherd  Veränderungen  ein.  Bei  der  Gerinnung  verkleinert  er  sich, 
verliert  Wasser,  das  der  Lymphstrom  fortschafft,  wird  mehr  rothbraun.  Indem  der 
Herd  einer  langsamen  Resorption  anheimfällt,  wird  er  entweder  vom  Bindegewebe 
durchzogen  und  ersetzt,  so  dass  schliesslich  eine  etwas  derbere,  gelb  bis  braunroth 
gefärbte  Stelle  im  Gehirn,  die  apoplectische  Karbe,  zurückbleibt,  oder  er  wird  durch 
Flüssigkeit  ersetzt,  diese  aber  vom  derberen,  pigmentirten  Bindegewebe  gegen  die 
Nachbarschaft  abgekapselt  (apoplectische  Cyste).  Das  Pigment  leitet  sich  in  beiden 
Fällen  vom  veränderten  Blutfarbstoff  her  und  besteht  zum  Theil  aus  Eisenoxydhydrat, 
zum  Theil  aus  Hämatoi'din. 

Blutungen  aus  Capillaren  bilden  Herde  von  Hirsekorn-  bis  Erbsengrösse  und 
rundlicher  oder  länglicher  Form,  finden  sich  nicht  selten  in  grösserer  Zahl,  so  dass 
die  Schnittfläche  bunt  gesprengelt  erscheint.  Die  Gehirnmasse  ist  dabei  nicht  zer- 
trümmert, sondern  nur  bei  Seite  gedrängt,  der  Herd  besteht  nur  aus  Blut.  Ist  die 
piale  Gefässscheide  von  Blut  nicht  durchbrochen,  liegt  letzteres  also  noch  innerhalb 
derselben,  so  spricht  man  von  einem  xineurysma  dissecans. 

Die  Druckwirkung  auf  die  Umgebung  und  das  ganze  Gehirn  ist  vom  Umfang 
des  Blutherdes  abhängig.  Ist  letzterer  gross,  oder  gar  gegen  die  Gehirnoberfläche 
oder  in  einen  Tentrikel  durchgebrochen,  und  dadui'ch  eine  Massenhämorrhagie  ent- 
standen, so  findet  mau  die  Gyri  abgeplattet,  die  Sulci  verstrichen,  das  ganze  Gehii'n 
anämisch,  trocken. 

Am  häufigsten  treten  Blutungen  im  Bereiche  der  Aeste  der  Arteria  fossae  Sylvii 
auf,  welche  die  Stammganghen  und  die  innere  Kapsel  versorgen.  Sehr  selten  sind 
spontane  Blutungen  aus  den  feinen  Gefässen  der  Oberfläche;  dazwischen  liegen  be- 
züglich der  Häufigkeit  einer  Hämorrhagie :  Pons,  Pedunculus,  Cerebellum,  Centrum 
semiovale. 

Oft  findet  man  neben  dem  jüngsten,  tödtlichen  Herd  noch  an  den  verschiedensten 
anderen  Stellen  des  Gehirnes  die  Residuen  früherer  Attaquen.  Enorm  selten  ist  es, 
dass  gleichzeitig  oder  fast  gleichzeitig  an  2   Stellen  eine  Blutung  erfolgt. 

Aetiologie.  Ein  gesundes  Gefäss  widersteht  auch  dem  stärksten  Blut- 
druck. Die  Processe  aber,  welche  die  Gefässwand  in  ihrer  histologischen  Beschaffen- 
heit ändern  und  ihre  Widerstandskraft  schädigen,  kommen  erst  mit  den  Jahren  im 
Körper  zur  Geltung,  deshalb  ist  die  Hirnhämorrhagie  vorwiegend  eine  Krankheit 
der  vorgerückteren  Lebensjahre,  Vorbereitet  wird  der  Riss  hauptsächhch  durch  das 
Atherom  und  die  Entwicklung  der  ominösen  miliaren  Aneurysmen,  aus  welchen  in 
den  meisten  Fällen  die  Blutung  erfolgt.  Wenn  schon  hoher  Druck  in  den  Arterien 
eine  gesunde  Gefässwand  nicht  zum  Bersten  bringen  kann,  so  ist  auf  der  anderen 
Seite  zu  bedenken,  dass  solche  Druckst eigeruugen,  wenn  sie  sich  oft  wiederholen, 
ihrerseits  sehr  wohl  jene  Veränderungen  in  der  Gefässwand,  speciell  das  Atherom  ver- 
anlassen und  dadurch  den  Boden  für  den  blutigen  Hirnschlag  vorbereiten  können.  Sehr 
oft  beobachtet  man  Hirnhämorrhagie  bei  Hypertrophie  des  linken  Ventrikels  (idio- 
pathische Hypertrophie,  Aorteninsufficienz,  Xierenschrumpfung  etc.),  ferner  bei  weit 
verbreiteter  Atheromatose  der  Gefässe,  sowie  dann,  wenn  entweder  von  Haus  aus 
eine  abnorme  Zerreisslichkeit  der  Gefässe  ererbt  oder  erworben  wurde,  wie  bei 
den  Bluterkrankungen,  Hämophilie,  Scorbut,  Purpura  interna  oder  wenn  in  Folge 
schwerer  Allgemeinleiden  (Anaemia  perniciosa,  Leukämie,  Cachexien  etc.)  die  Ernäh- 
rung der  Gefässwand  lange  Zeit  nothgelitteu  und  letztere  ihre  Widerstandskraft 
mehr  oder  weniger  eingebüsst  hat.  Daraus  folgt,  dass  wohl  mindestens  ebenso  oft 
blasse,  dürftig  aussehende  Individuen  vom  blutigen  Hirnschlag  getroffen  werden,  wie 
solche,  denen  ein  besonderer  Habitus  apoplecticus  zugeschrieben  wird:  kurze,  ge- 
drungene Gestalt,  Stiernacken,  grosse  Saftfülle,  rother,  dicker  Kopf  mit  glotzenden 
Augen.  Als  letzte  Gelegenheitsursache,  welche  die  schon  vorbereitete  Berstung  eines 
Gefässes  herbeiführt,  tritt  eine  arterielle  Druck  Steigerung  auf,  wie  durch  Pressen  beim 
Stuhlgang,  Heben  schwerer  Lasten,  psychische  Erregungen,  starke  Erhitzung,  nament- 
lich des  Kopfes,  Indigestionen.    Oft  genug  freilich  kommt  die  Katastrophe  mitten  in 


GEHIRNKRÄNKHEITEN.  733 

der  Nacht,  ohne  dass  anscheinend  irgend  eines  der  genannten   Momente    dabei  eine 
Rolle  gespielt  hätte. 

Bei  langem  Pressen  wird  der  Liq.  cerebralis  aus  der  Schädelhöhle  verdrängt,  Arte- 
rien und  Venen  sind  stärker  gefällt,  eine  Blutung  kann  aber  wegen  des  gesteigerten  intra- 
cerebralen Drucks  nicht  erfolgen.  Gefährlich  ist  der  Moment,  wo  das  Pressen 
aufhört,  namenthch  wenn  zugleich  eine  tiefe  Inspiration  erfolgt,  das  Blut  aus  den  Gehirn- 
Tenen  gegen  die  Brusthöhle  aspirirt  wird,  der  intracerebrale  Druck  rasch  sinkt;  dann  er- 
folgt aus  den  prall  gefüllten  Arterien  des  Gehirns  leicht  eine  Blutung. 

Symptome.  Mitunter  sind  schon  kürzere  oder  längere  Zeit  warnende 
Prodromalerscheinungen  vorangegangen,  haben  leichte  Anfälle  von  ..Schwindel"  u.  dgl. 
den  Kranken  geängstigt,  nun  setzt  die  Hii'nhämorrhagie  ausserordentlich  acut  ein. 
Es  wird  dem  Patienten  plötzlich  übel,  schwindlig,  kaum  kann  er  sich  vielleicht  noch 
vor  dem  Fallen  ins  Bett,  auf  einen  Stuhl  retten,  so  schwindet  schon  sein  Be- 
wusstsein  und  er  verfällt  in  tiefes  Coma.  Selten  wird  die  einleitende  Scene  beobachtet, 
meist  kommt  der  Arzt  zu  dem  bereits  bewusstlosen  Kranken  und  hat  das  Bild  des 
ap oplec tischen  Insults  *)  vor  sich.  Der  Kranke  ist  weder  dui'ch  Anrufen  noch 
durch  Hautreize  zu  wecken,  die  Augen  sind  geschlossen,  die  Respiration  ist  ruhig 
wie  die  eines  Schlafenden,  oder  frequent  und  oberflächlich  oder  auch  mühsam  und 
stöhnend.  Blutrother  Kopf  und  klopfende  Carotiden,  in  anderen  Fällen  Todesblässe 
des  Antlitzes  lassen  auf  den  ersten  Blick  die  schwere  Katastrophe  erkennen.  Erhebt 
man  die  Extremitäten,  so  fallen  sie  schlaff,  wie  leblos,  einfach  dem  Gesetz  der 
Schwere  gehorchend,  zurück,  es  scheint  also  weit  ausgebreitete  motorische  Lähmung 
zu  bestehen.  Oeffnet  man  die  geschlossenen  Augen,  so  findet  man  häufig  die  Bulbi 
in  conjugirter  Deviation  nach  oben  und  einer  Seite  gedreht ;  auf  dieser  Seite  sitzt 
der  Blutherd,  den  „die  Kranken  ansehen".  Mitunter  wurde  Stuhl  und  Urin  ohne 
Bewusstsein  entleert.  Bald  nach  dem  Eintritt  der  ersten  Veränderungen,  vielleicht 
ohne  dass  eine  solche  überhaupt  deutlich  wurde,  kann  der  Kranke  den  letzten 
Athemzug  tief  seufzend  oder  mit  leisem  Schrei  thun  und  sogleich  todt  zui'ücksinlven 
(Apoplexie  foudroyante) .  Oder  aber  die  Entwicklung  des  Insults  zieht  sich  über 
Stunden  und  Tage  hin,  Schwindel,  Uebelsein,  Erbrechen  stellen  sich  allmälig  ein, 
der  Patient  wird  der  "Willkür  über  seine  Glieder,  der  Sprache  nach  und  nach 
beraubt,  immer  mehr  benommen  und  schliesslich  erst  versinkt  er  in  Coma.  Das 
ist  der  protrahirte  Insult.  Es  braucht  aber  dieses  höchste  Stadium  des  Insults, 
das  Coma,  gar  nicht  immer  einzutreten.  Oft  genug  kommt  es  blos  zum  Sopor, 
aus  dem  der  Patient  noch  mit  Mühe  und  für  kurze  Zeit  zu  erwecken,  zu  kurzer 
Reaction  auf  Reize,  Anrufen  zu  bringen  ist,  oder  nur  Sonmolenz  stellt  sich  ein  oder 
schliesslich  eine  Bewusstseinstörung  ist  gar  nicht  oder  nur  ganz  leicht  angedeutet 
und  nur  gewisse  Folgeerscheinungen  der  Hämorrhagie,  z.  B.  Lähmung  von  Arm  und 
Bein,  oder  eines  Augenmuskels,  der  Verlust  der  Sprache  haben  sich  plötzlich  ge- 
meldet und  können  auf  die  richtige  Diagnose  hinweisen.  Das  sind  dann  Fälle  von 
Hirnblutung  ohne  oder  mit  nur  rudimentärem  Insult. 

In  einem  mittelschweren  Fall  erwacht  der  Patient  nach  Stunden  oder  längstens 
einem  Tag  für  kurze  Zeit,  murmelt  einiges,  schaut  sich  erstaunt  um,  gibt  vielleicht 
deutlich  Zeichen,  dass  er  seine  Umgebung  kennt,  schliesst  die  Augen  aber  sehi'  bald 
wieder,  diesmal  vor  Erschöpfung,  und  tiefer,  dem  Coma  noch  sehr  ähnlicher  Schlaf 
tritt  von  Xeuem  ein.  Die  geschöpfte  Hoffnung  rechtfertigt  sich,  mau  kann  dem 
Kranken  beim  Wiedererwachen  etwas  flüssige  Nahrung  beibringen,  er  schluckt  sie, 
die  Perioden  des  "Wachens  werden  häufiger,  dauern  länger,  das  Bewusstsein  wird 
dabei  freier,  der  Anfangs  noch  nicht  orientirte  Kranke  findet  sich  in  seiner  Umgebung 
zurecht,  ahnt,  weiss  schliesslich,  was  mit  ihm  geschehen  und  dass  er  schwer  krank 
ist,  und  allmälig  geht  sein  Zustand  in  den  regelmässigen  "Wechsel  von  Schlaf  und 
"Wachen  über. 

V\''endet  sich  die  Kranlvheit  aber  zum  Schlimmen,  so  melden  sich,  ohne  dass 
das  Bewusstsein  wiedergekehrt   wäre,    böse    Sjanptome.     Der  Puls   ist  Anfangs  ver- 


*)  Vergl.  ^Äpoplectisclier  Insult"  (E.  Jexdrassik),  des  Bd.  der  „Bibliothek"  pag.  101. 


734  GEHIRNKEANKHEITEN. 

langsamt,  dann  frequent,  die  Pupillen  sind  starr  und  eng,  der  Leib  kahnförmig 
eingezogen,  der  Kranke  erbricht  (Zeichen  von  „Gehirndruck"),  die  Respiration  wird 
mühsam  aufgeregt,  tief  und  schnaubend  oder  sehr  frequent  und  oberflächlich,  sie 
wird  schliesslich  begleitet  von  Stertor  und  lautem  Tracheairasseln,  indem  bei  vernichteter 
Reflexerregbarkeit  des  Kehlkopfes  und  der  Trachea,  die  sich  in  letzterer  sammelnden 
Schleimmassen  mechanisch  bei  jeder  Respiration  hin  und  her  geworfen,  nicht  aber 
ausgehustet  werden.  Urin  und  Stuhl  ist  entweder  angehalten  oder  wird  unwill- 
kürlich entleert,  die  Temperatur  steigt  mitunter  noch  zum  Schluss  jäh  in  die  Höhe, 
manchmal  bis  zu  exorbitanten  Graden,  oder  unter  allmäliger  Abkühlung  des  ganzen 
Körpers  wird  der  Puls  immer  kleiner,  weicher,  unzählbar,  die  Athmung  rhythmisch, 
immer  länger  aussetzend  und  endlich  kommt  eine  Pause,  auf  die  kein  Athemzug 
mehr  folgt. 

Der  apoplectische  Insult  ist  der  Ausdruck  der  Functionsstörung  des  Gesammt- 
gehirns.  Diese  Störung  vollzieht  sich  in  folgender  Weise  :  Reisst  an  irgend  einer 
Stelle  die  Gefässwand  ein,  so  setzt  sich  der  hier  im  Gefäss  herrschende  Blutdruck 
unmittelbar  auf  das  ganze  Gehirn  fort,  die  Gefässpannung,  die  ihm  bisher  entgegen- 
wirkte, ist  durch  den  Riss  in  Wegfall  gekommen  und  dem  Austritt  des  Blutes 
wirken  nur  noch  2  Momente  entgegen:  die  Cohärenz  der  Gehirnmasse  und  der 
intracerebrale  Druck.  Die  erstere  vermag  da  nicht  mehr  zu  wirken,  wo  sich  das 
ergossene  Blut  seinen  Weg  in  einen  Yentrikel  oder  an  die  Gehirnoberfläche  gebahnt 
hat,  weshalb  solche  Blutungen  regelmässig  sehr  bedeutende  Dimensionen  annehmen. 
Der  intracerebrale  Druck  wird  sofort  durch  den  Eintritt  der  Blutung  erhöht  und 
damit  das  wichtigste  Moment  für  das  Stehen  der  Blutung  geschaffen. 
Diese  Erhöhung  des  intracerebralen  Druckes  ist  es  aber  auf  der 
anderen  Seite,  was  durch  Compression  der  Yenen  und  Capillaren 
acute  Adiämorrhysis  cerebri  i.  e.  den  eigentlichen  „Insult"  bedingt. 

Die  Schwere  des  Insultes  ist  abhängig  vom  Kaliber  des  geborstenen  Gefässes, 
sowie  von  der  Weite  des  Risses.  Eventuell  kann  bei  ganz  langsam  aus  minimaler 
Oeffnung  aussickerndem  Blut  der  Liquor  cerebrospinalis  Zeit  gewinnen  auszuweichen 
und  ein  protrahirter  oder  ein  rudimentärer  Insult  kann  sich  einstellen,  während 
vielleicht  ein  sehr  umfänglicher  Blutherd  im  Gehirn  sich  entwickelt,  der  späterhin 
die  unangenehmsten  irreparablen  Folgen  als  „Herderkrankung"  nach  sich  ziehen 
kann,  denn  gerade  hier  tritt  ja  die  für  die  Stillung  der  Blutung  so  wünschenswerthe 
Erhöhung  des  iutracerebralen  Druckes  nur  in  geringfügigem  Maasse  ein. 

Die    früher    schon    erwähnten    „Symptome   von  Gehirndruck"  melden    sich  bei 
schweren  apoplectischen  Insulten  und  sind  dann  lediglich  Ausdruck  einer  acuten  inten- . 
siven  Adiämorrhysis,   wie    sie   durch    einen  grossen  Blutherd,  besonders  wenn  dieser 
rasch  sich  entwickelt,    resultirt,  wie  z.  B.  bei  Ventrikelblutungen. 

Die  Reflexe  sind  bei  schwerem  Insult  Anfangs  sammt  und  sonders  aufgehoben, 
später  macht  sich  ein  sehr  bemerkenswerther  Gegensatz  zwischen  den  tiefen  (Sehnen-, 
Periost-,  Fascienreflexen)  und  den  oberflächlichen  (Hautreflexen)  geltend.  In  dem 
Bereich  der  motorischen  Lähmung,  die  eventuell  durch  eine  Blutung  etwa  in  der 
Gegend  der  inneren  Kapsel  sich  entwickelt,  sind  die  tiefen  Reflexe  gesteigert 
(Lähmung  der  Reflexhemmungsfasern),  die  oberflächlichen,  einige  besonders  constant, 
abgeschwächt  oder  aufgehoben. 

Während  noch  Bewusstlosigkeit  besteht  und  alle  4  Extremitäten,  passiv  erhoben, 
fast  anscheinend  gleichmässig  schlaff,  der  Schwere  gehorchend,  wieder  niederfallen, 
vermag  man  aus  dem  Fehlen  der  Hautreflexe  schon  die  Seite  zu  erkennen,  auf  der 
sich  eine  „Hemiplegie"  später  manifestiren  wird.  Kein  Reflex  ist  in  dieser  Hinsicht  so 
wichtig,  wie  der  sogenannte  Cremasterreflex  (besser  Obliquus-  oder  Leistenreflex 
genannt,  weil  er  auch  beim  Weibe  zu  prüfen  ist).  Er  besteht  bei  beiden  Ge- 
schlechtern in  einer  Verkürzung  der  untersten  Fasern  des  M.  obliquus  internus  und 
wird  durch  rasches  Streichen  mit  einem  spitzen  Gegenstand  an  der  Innenseite  des 
Oberschenkels  gegen  die  Schamtheile  oder  unterhalb  des  Lig.  Poupartii  ausgelöst.  Die 
reflectorische  Contraction  des  M.  obliquus  internus   ist    oberhalb  des  Lig.  Poupartii 


GEHIRNKRANKHEITEN.  735 

und  parallel  demselben  siclitbar,  beim  Mann  wird  gleich  zeitigder  Hoden  der  betreffen- 
den Seite  gehoben. 

Veränderungen  in  der  Koth-  und  ürinabscheidung,  Retention  und  unwill- 
kürlicher Abgang  sind  sehr  häufig,  vermehrte  Urinsecretion  bei  niederem  specifischem 
Gewicht  (Polyurie),  Glj'cosurie  und  Albuminurie  kommen  seltener  vor  und  sind  auf 
directe  oder  indirecte  Schädigung  der  Gegend  des  IV.  Ventrikels  nach  physiologischen 
Grundsätzen  zu  beziehen.  Niemals  versäume  man  bei  constatirter  Albuminuiie 
das  Urinsediment  mikroskopisch  zu  untersuchen,  um  keine  Nephritis  zu  übersehen, 
als  deren  Terminalerscheinung  eine  Apoplexie  sich  einstellen  kann. 

Diagnose.  Obwohl  die  Gehiruhämorrhagie  fast  stets  den  apoplectischen 
Insult,  also  die  Erscheinungen  einer  diffusen  Gehirnerkrankuug  setzt,  ist  sie  in 
letzter  Instanz  doch  eine  circumscripte  Affection  und  muss  in  den  meisten  Fällen 
auch  Herdsymptome  zur  Folge  haben.  Dieser  Punkt  ist  für  die  Diagnose  von 
ausschlaggebender  Bedeutung.  Schwere  Benommenheit,  Coma,  Convulsionen,  Er- 
brechen und  alles  was  sonst  im  apoplectischen  Insult  beobachtet  wird,  kann  auch 
durch  ganz  heterogene  Ursachen  hervorgerufen  werden,  so  durch  alle  schon  früher 
besprochenen  Formen  acuter  Adiämorrhysis,  durch  Vergiftungen  des  Gehirns,  z.  B. 
durch  Narcotica  (Alcohol,  Morphium,  Atropin  etc.),  durch  Autointoxication,  wie  bei 
der  Urämie,   dem  Coma  diabeticum. 

Der  Rausch  wird  leicht  durch  den  Geruch  des  Athems  nach  Alcohol  erkannt, 
der  urämische  Anfall  als  solcher  durch  die  Untersuchung  des  Urins,  der  Eiweiss 
und  metamorphosirte  Cylinder  enthält,  ferner  durch  die  Untersuchung  des  Augen- 
hintergrundes (Retinitis  albuminurica),  sowie  durch  den  Nachweis  einer  linksseitigen 
Herzhypertrophie.  Doch  darf  nicht  vergessen  werden,  dass  gerade  bei  chronischer 
Nephritis  auch  eine  Gehirnblutung  recht  häufig  eintritt.  Der  frühzeitige  Nachweis, 
dass  durch  die  schweren  AUgemeinerscheinuugen,  die  die  Scene  vollständig  beherrschen, 
eine  Herdaffection  maskirt  wird,  liefert  das  schon  beschriebene  Verhalten  der  Reflexe, 
sowie  die  erwähnte  Zwangsstellung  der  Augen  (conjugirte  Deviation),  die  nach  einer 
Seite  abweichen  und,  wenn  sie  gleich  eventuell  hin  und  her  pendeln  (Nystagmus)  immer 
wieder  nach  einer  Seite  und  zugleich  nach  oben  abweichen.  Ist  man  in  der  Diagnose 
nun  soweit  gekommen,  dass  man  eine  einseitige  Affection  des  Gehirns  annehmen 
kann,  so  kommen  d  i  f  f  e  rentiell-diagnostisch  nur  noch  in  Betracht :  encephalomala- 
cischer  Herd,  Abscess,  Pachymeningitis,  Tumor  cerebri  und  progressive  Paralyse.  Die 
bisweilen  unmögliche  Unterscheidung    hievon   wird  weiter    unten  zu  besprechen  sein. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort  von  den  Krankheitserscheinungen  zu  berichten, 
welche  als  Herdsymptome  nach  einer  Hirnblutung  zurückbleiben  können,  dieselben 
sind  nach  dem  Sitz  der  Blutung  verschieden  und  nach  den  Gesetzen  der  topischen 
Diagnostik  zu  betrachten.  Die  Leitungsbahnen,  welche  durch  die  Blutung  zerstört 
sind,  werden  nicht  wieder  gangbar.  Was  aber  durch  den  Blutherd  nur  indirect 
geschädigt,  gedrückt  wurde,  kann  sich  wieder  erholen,  wenn  eine  Verkleinerung  des 
Extravasats  eintritt  und  die  Circulatiousstörung  sich  wieder  ausgleicht.  Eine  solche 
Reparation  vollzieht  sich  in  der  Regel  im  Verlauf  des  ersten  halben  Jahres.  Was 
danach  von  Lähmung  zurückbleibt,  ist  persistent  per  totam  vitam.  Als  geradezu 
typisch  für  die  Hirnhämorrhagie  muss  übrigens  die  Hemiplegie  angesehen  werden, 
die  sich  auf  der  contralateralen  Seite  einstellt.  Arm,  Bein,  die  unteren  Aeste  des 
Facialis,  eventuell  auch  noch  den  Hypoglossus  befällt,  entsprechend  dem  Lieblings- 
sitze der  Blutung  in  der  Gegend  der  inneren  Kapsel. 

Die  Lähmung  ist  Anfangs  eine  schlaffe,  bald  aber  stellt  sich  eine  Contractur 
ein,  der  Arm  wird  im  Ellbogen  gebeugt,  adducirt,  die  Hand  pronirt,  die  Finger 
werden  gebeugt  gehalten.  Die  krampfhaft  geschlossene  Hohlhand  kann  bei  unacht- 
samer Pflege  Sitz  von  Unreinlichkeit  und  Entzündungen  werden;  vermehrte  Schweiss- 
bildung  und  Kälte  wird  an  den  gelähmten  Theilen  häufig  beobachtet.  Der  Fuss 
wird  in  Equino-varus-Stellung  gehalten,  der  Gang  ist  sehr  charakteristisch,  der  Accent 
des  Schrittes  fällt  auf  den  gesunden  Fuss,  der  gelähmte  wird  langsam  und  im  Bogen 
nach  vorn  gezogen,  bleibt  dabei    mit  der  Spitze  und  dem  äusseren  Rand  am  Boden 


'^36  GEHIRNKEANKHEITEN. 

liaften.  Auf  der  gelähmten  Seite  des  Gesichtes  hängt  der  Mundwinkel,  die  Xaso- 
labialfalte  ist  verstrichen  oder  weniger  ausgeprägt  als  auf  der  anderen  Seite,  die 
Zunge  weicht  bei  Betheiligung  des  Hvpoglossus  nach  der  gelähmten  Seite  ab.  Die 
tiefen  Reflexe  sind  im  Bereiche  der  Lähmung  gesteigert,  der  elektrische  Befund 
an  den  Xerven  und  Muskeln  in  fast  allen  Fällen  normal. 

Prognose.  Der  geringste  Theil  der  Kranken  erhegt  der  ersten  Attaque  im 
Insult  (ein  gleich  geringer  Theil  behält  keine  bleibenden  Herdsj-mptome),  bei  Weitem 
die  Mehrzahl  kommt  mit  dem  Leben  zunächst  davon,  hat  aber  dauernden  Schaden 
in  Form  von  Lähmungen,  Aphasie  etc.  und  die  fast  gewisse  Aussicht  auf  schliessliche 
letale  Wiederholung  der  Blutung,  weil  ja  die  Grundursachen  (Atherom,  Schrumpfniere  etc.) 
irreparabel  sind.  Ausgenommen  hievon  sind  vielleicht  syphilitische  Yeränderungen 
der  Hirngefässe,  die  dui'ch  Jod  und  Quecksilber  geheilt  werden  können  und  die 
transitorischen  Krankheiten  des  Blutes  (Purpura),  Pertussis  etc. 

Quoad  vitam  ist,  wo  die  Patienten  nach  den  ersten  24  Stunden  nicht  wenigstens 
einmal  erwachen,  die  Prognose  sehr  ungünstig,  ebenso  wenn  Tracheairasseln,  Chetxi:- 
STOCKEs'sches  Athmen  sich  einstellt,  oder  der  Anfangs  verlangsamte  Puls  frequent  imd 
klein  wird.  Complicirende  hypostatische  Pneumonie  kündet  in  der  Piegel  das  Ende 
an,  Yentrikelblutungen  mit  ihren  stürmischen  Erscheinungen  verlaufen  fast  ausnahms- 
los in  kurzer  Zeit  tödtlich.  Tritt  während  des  Insultes  oder  rasch  auf  ihn  folgend 
nochmalige  plötzliche  Verschlimmerung  des  Zustandes  eia,  so  handelt  es  sich  um  den 
seltenen  Fall  einer  zweiten  Blutung  oder  einer  solchen  aus  dem  nämlichen  Eiss  und 
der  Tod  ist  fast  immer  besiegelt.  Dagegen  gibt  geringe  Entwicklung  "  der  Insult- 
erscheinungen, frühzeitiges  Erwachen  aus  der  Bewusstlosigkeit  gute  Aussicht  auf  Er- 
haltung des  Lebens.  Wo  aber  Anfangs  schwache  Erscheinungen  sich  stetig  steigern, 
gibt  dieser  protrahii'te  Insult  nur  sehr  wenig  Hoffnung  Eaum.  Immer  aber  kann 
man  in  einer  geringen  Anzahl  von  Fällen  Ausnahmen  von  diesen  Eegeln  nach  der 
guten  wie  nach  der  schlechten  Seite   erleben. 

Wie  nach  glücklich  überstandenem  Insult  sich  für  das  fernere  Leben  die  zurück- 
bleibende Schädigung  der  Hirnfunctionen,  die  Lähmung,  die  Störung  der  Sprache  etc. 
verhalten  werden,  ist  in  der  ersten  Zeit  nicht  vorauszubestimmen.  Wohl  gibt  eine 
nicht  vollständig  ausgesprochene  und  wenig  weitverbreitete  Lähmung  mehr  Aussicht 
auf  vollständige  Heilung,  auf  der  anderen  Seite  zeichnen  sich  aber  gerade  Mono- 
plegien oft  durch  ihre  absolute  Unheilbarkeit  aus.  Wenige  Fälle  heilen  ganz  aus, 
wenige  erweisen  sich  fürs  ganze  Leben  vom  Heilbestreben  der  Xatiu'  und  von  der 
Kunsthilfe  unbeeinflussbar,  die  meisten  Lähmungen  erfahren  in  den  ersten  Monaten 
nach  dem  Schlagaufall  eine  mehr  oder  weniger  weitgehende  Besserung.  Dabei  ist  es 
in  der  Eegel  das  Bein,  das  früher  und  vollständiger  der  Willkür  wieder  unterworfen 
wird,  so  dass  die  Patienten  schon  wieder  gehen  können,  während  ihr  Arm  z.  B. 
noch  vollständig  seiner  Function  beraubt  ist  und  in  Contractur  verharrt.  Auch  die 
Lähmung  des  Facialis  und  Hypoglossus  heilt  meistens  früher.  Was  von  den  Störungen 
nach  einem  halben  Jahr  noch  besteht,  erfährt  auch  durch  die  ärztliche  Kunsthilfe 
in  der  Eegel  keine  nennenswerthe  Besserung  mehr. 

Prophylaxe.  Leute,  bei  denen Hii'nhämorrhagie  schon  einmal  dagewesen,  oder 
bei  denen  sonst  eine  solche  zu  fürchten  ist  (vergl.  Aetiologie)  müssen  jede  körperliche 
schwere  Anstrengung,  Heben  schwerer  Lasten  u.  dgl.,  jeden  Excess  in  baccho  etvenere, 
jede  psychische  Alteration  sorgfältig  meiden,  kurz  Alles  das,  was  das  Herz  zu  ver- 
mehrter Arbeit  anspornt.  Kaltes  Baden,  namentlich  bei  erhitztem  Körper  ist  ge- 
fährlich, desgleichen  copiöse  Mahlzeiten,  lieber  soll  häufig  imd  weniger  gegessen 
werden.  Eiweissreiche,  leicht  verdauliche  Xahrung,  die  wenig  Koth  bildet,  ist  anzu- 
rathen.  Kohlensäurereiche  Getränke,  die  rasch  ins  Blut  gehen  und  damit  den  Blut- 
druck erhöhen,  sind  verboten.  Sorgfältig  muss  für  offenen  Stuhl  gesorgt  werden 
durch  regelmässige  Klysmata  oder  Abführmittel.  Zu  hohe  Temperatur  der  Speisen 
und  Getränke  ist  schädlich,  ebenso  Einwirkung  äusserer  Hitze  auf  den  Kopf  wie  die 
Strahlen  der  Sonne  oder  einer  nah  stehenden,  nicht  abgeblendeten  Lampe.  Im 
Sommer  ist  das  Tragen  leichter  heller  Kleider,  eines    Sonnenschirmes    dringend   an- 


GEHIKNKEANKHEITEN,  737 

zurathen,  wenn  der  Aufenthalt  im  Freien  in  der  Sonne  nicht  durchweg  vermieden 
werden  kaim. 

Therapie.  Bei  eingetretenem  blutigen  Hirnschlag  muss  der  Kranke  sofort 
vorsichtig  zu  Bett  gebracht  werden,  alle  beengenden  Kleidungsstücke  werden  entfernt, 
der  Kopf  massig  hoch  gelagert.  Man  suchte  (praktisch  noch  nicht  erprobt)  den  Blutdruck 
herabzusetzen  durch  Abbinden  aller  4  Extremitäten  bis  zur  venösen  Stase,  die  man 
etwa  eine  Stunde  laug  währen  lässt,  dann  darf  der  Blutkreislauf  nur  langsam  und  nicht  so- 
gleich an  allen4  Extremitäten  wieder  freigegeben  werden.  Der  Darm  muss  durch  ein  Kly- 
stier  mit  Zusatz  von  Kochsalz  (2  Esslöffel  auf  ^2  Liter)  oder  durch  Einspritzen  von 
5  g  Glycerin  in  anum  oder  durch  eines  der  käuflichen  Glycerinzäpfchen  entleert 
werden.  Kann  der  Kranke  schlucken,  ist  überhaupt  der  Anfall  ein  leichter,  so  sind 
die  Mittelsalze  in  abführender  Dosis  per  os  zu  reichen.  Nur  wenn  die  Zeichen 
vermehrten  intracerebralen  Druckes  (vergl.  oben)  aufgetreten  sind,  darf  die  Eisblase 
auf  den  Kopf  gelegt  werden.  Grleich  Anfangs  sie  anzuwenden,  ist  ein  grosser  Fehler, 
weil  dadurch  nur  eine  Vergrösserung  der  Blutung  herbeigeführt  werden  kann;  das 
Gleiche  gilt  von  der  Anwendung  des  Ergotin.  Ist  der  Insult  ein  sehr  schwerer  und 
will  der  Kranke  nach  24  Stunden  nicht  erwachen,  so  ist,  wenn  nicht  allgemeine 
Anämie  es  contraindicirt,  eine  ausgiebige  Venaesection  am  Platze.  Bei  gefüllter  Blase 
muss  diese  durch  den  Catheter  entleert  werden,  grosse  Sorgfalt  erheischt  die  Haut- 
pflege (Luftkissen,  Waschen  mit  Franzbranntwein),  um  den  Decubitus  zu  vermeiden. 
Vom  2.  Tag  an  muss  Imal  im  Tag  eine  Untersuchung  der  Unterlappen  der  Lunge 
vorgenommen  werden,  bei  beginnender  Hypostase  lagert  man  den  Patienten  auf  die 
derselben  entgegengesetzte  Seite. 

Hat  sich  der  Kranke  vom  Insult  erholt,  so  tritt  die  Prophylaxe  (vergl.  diese)  mit 
aller  Strenge  in  ihr  Recht,  man  lässt  den  Kranken  nur  so  viel  gemessen,  als  er  für  die 
nächsten  Tage  zum  Leben  nothwendig  braucht,  vermeidet  alle  Herzreize;  namentlich 
zu  hohe  Temperatur  der  Speisen  und  Getränke.  Die  Nachbehandlung  der  zurück- 
bleibenden Schädigungen  ist  je  nach  der  Natur  derselben  natürlich  verschieden.  Für 
die  typischen,  gewöhnlichsten  Fälle  von  Aphasie  und  Hemiplegie  kommen  haupt- 
sächlich in  Betracht  methodische  Lese-  und  Sprachübungen,  Massage,  Heilgymnastik 
und  der  elektrische  Strom.  Die  periphere  Faradisation  der  gelähmten  Glieder  kann 
4  Wochen,  die  vorsichtige  Galvanisation  des  Gehirns  3  Monate  nach  dem  Insult 
angefangen  werden.  Bei  der  letzteren  sind  grosse,  wohl  durchfeuchtete  Elektroden- 
platten anzuwenden,  der  Strom  darf  weder  unterbrochen,  noch  gewendet,  muss  vor- 
sichtig ein-  und  ausgeschlichen  werden,  die  Stärke  des  Stroms  ist  ganz  niedrig  zu  greifen 
(so  stark,  das  der  Schluss  desselben  im  Auge  des  Arztes,  wenn  die  Elektroden  an 
dessen  Schläfen  sitzen,  gerade  eine  Lichterscheinung  im  Auge  hervorruft),  die  Dauer 
der  Sitzung  soll  5  Minuten  höchstens  nicht  überschreiten,  diese  ist  wöchentlich  4-  bis 
5mal  zu  wiederholen. 

III.  EmboUe  und  Thrombose. 

Die  Verschliessung  einer  Gehirnarterie  kann  durch  Embolie"^'),  Thrombose  oder 
durch  beides  erfolgen.  Ein  Embolus  fährt  viel  häufiger  durch  eine  Carotis  (öfter 
die  linke)  als  durch  die  Arteria  vertebralis  ins  Hirn.  Er  kann  von  einer  Thrombose  im 
Gebiet  der  Lungenvenen,  oder  im  linken  Herzohr  (Mitralfehler)  stammen,  oder  bei 
Endocarditis  und  Endarteritis  können  Partikel  vom  Blutstrom,  Fibringerinnsel,  die  an 
rauhgewordenen  Klappen  oder  Gefässwänden  sich  secundär  niederschlagen,  fortgespült 
werden  und  das  Material  für  den  Embolus  liefern. 

Thrombose  entsteht  entweder  um  einen  Embolus  herum,  der  zu  klein  war,  das 
Lumen  des  Gefässes,  wo  er  festgefahren,  vollständig  zu  verlegen  oder  sonst,  wo  das 
Lumen  verengt,  die  Gefässwand  rauh  geworden  (Sclerose,  Atherom  der  Gehirnarterieu), 
namentlich  dann,  wenn  gleichzeitig  aus  noch  anderen  Gründen  (Herzschwäche,  Marasmus) 
die  Stromgeschwindigkeit  in  der  Arterie  gesunken  ist. 


*)  vergl.  y,Embolie  der  Arterien'^  (Litten)  ds.  Bd.  pag.  530. 

Eibl.  med.  Wissenschaften.    I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  ^ 


738  GEHIRNKRANKHEITEN, 

Embolie ■  kann  in  jedem  Lebensalter  vorkommen.  Thrombose  der  G-ehirnarterien 
ist  eine  Krankheit  der  vorgerückten  Jahre,  vor  den  Vierzigern  selten,  es  sei  denn, 
dass  Lues  die  Ursache  für  die  Gefässveränderungen  abgibt. 

Anatomischer  Befund.  Post  mortem  findet  man  den  Gehirnabschnitt,  der 
durch  Verlegung  seines  zuführenden  Gefässes  ischämisch  geworden,  im  Zustande  der 
Erweichung.  Einfache  weisse  Erweichung  stellt  sich  ein,  wenn  Blutungen  in  den 
Herd  hinein  fehlen;  je  mehr  solche  sich  ausgebildet  haben,  desto  mehr  erscheint  das 
Bild  der  gelben  oder  sogar  der  rothen  Erweichung.  Ein  solcher  Erweichungsherd 
kann  durch  Bindegewebswucherung  in  der  Umgebung  abgekapselt  werden,  was  be- 
sonders leicht  bei  jugendlicheren  Individuen  vorkommt,  und  kann  bei  der  nachfolgenden 
Umwandlung  der  Zerfallsproducte  der  Gehirnsubstanz,  sowie  des  abgelagerten  Blut- 
farbstoffes später  von  einer  alten  Hirnhämorrhagie  durch  Nichts  sich  mehr  unter- 
scheiden. Liegt  der  Herd  nahe  an  der  Oberfläche,  so  sinkt  diese  ein  und  der  frei 
werdende  Raum  wird  durch  vermehrte  Subarachnoidealflüssigkeit  ausgefüllt. 

Die  Grösse  und  Zahl  solcher  Erweichungsherde  schwankt  ungemein.  Bald 
vermag  sie  nur  das  Mikroskop  zu  entdecken,  bald  sind  sie  makroskopisch  wohl  sichtbar 
und  klein,  dabei  so  massenhaft  vorhanden,  dass  der  sogenannte  Etat  crible  des  Ge- 
hirnes zum  Vorschein  kommt,  bald  sind  erbsen-,  haselnussgrosse  Herde  vorhanden 
oder  ganze  grosse  Provinzen  des  Gehirnes  sind  der  ischämischen  Encephalomalacie 
verfallen.  Wie  gross  aber  ein  solcher  encephalomalacischer  Herd  auch  sei, 
stets  fehlen,  auch  in  frischen  Fällen,  am  Gehirn  die  Zeichen  erhöhten  Druckes  im 
Gegensatz  zur  Hirnhämorrhagie.  Viele  kleine  Herde  finden  sich  häufiger  an  der 
Hirnrinde  als  Folge  von  Gefässveränderungen  in  der  Pia,  während  grössere  solitäre 
auf  dem  Wege  der  Embolie  sich  oft  im  Gebiet  der  Arteria  fossae  Sylvii  oder  einer 
anderen  grösseren  Stammarterie  einstellen.  Man  kann  in  letzteren  Fällen  den  Embolus 
in  der  Arterie,  meist  reitend  auf  einer  Gabelungsstelle,  nachweisen.  Sclerose  und 
Atherom  der  Gehirnarterien  künden  sich  an  den  verengten  Gefässen  als  Verdickung 
und  Erhärtung  der  Intima  mit  Piundwerden  der  Innenfläche  an,  welche  Veränderungen 
sich  auch  auf  die  anderen  Häute  der  Gefässwand  fortsetzen  können,  man  sieht  dann 
am  Durchschnitt  des  Gehirns  die  starren  Gefässe  hervorragen. 

Symptome.  Die  Mechanik  des  Insultes  bei  Embolie  ist  folgendermaassen  aufzu- 
fassen. Wird  ein  Gefäss  verstopft,  so  ist  stromabwärts  von  der  verlegten  Stelle  im  Gefäss 
der  Blutdruck  unwirksam,  die  gespannte  Gefässwand  kann  sich  ungehindert  zusammen- 
ziehen. Die  Verengerung  dieses  Gefässabschnittes  bedingt  eine  sofortige  entsprechende 
Erweiterung  aller  übrigen  Gefässprovinzen,  in  denen  einen  Moment  lang  also  das  vom 
Herzen  nachströmende  Blut  zu  dieser  Erweiterung  verbraucht  wird  und  nicht  in  die  Capil- 
laren  strömt,  in  welch'  letzteren,  wie  die  Theorie  zeigt,  sogar  eine  retrograde  Strömung  von 
kurzer  Dauer  entstehen  kann.  Auf  di  ese  kurzdauernde,  aber  sehr  plötzlich 
eintretende  allgemeine  Adiämorrhysis  antwortet  das  G-ehirn  mit 
den  Symptomen  des  Insultes,  die  also  denen  bei  blutigem  Hirnschlag  im  Allge- 
meinen gleichen  müssen,  weswegen  auf  letzteren  zurückverwiesen  werden  kann,  da  ja 
auch  bei  der  Hirnhämorrhagie  der  Insult  durch  Adiämorrhysis  bedingt  ist.  Der  Insult 
bei  Embolie  ist  umso  stärker,  je  grösser  das  embolisirte  Gefäss  ist  und  je  rascher 
der  vollständige  Verschluss  erfolgte. 

Ein  rudimentärer  Schlaganfall  bildet  sich  aus,  wenn  nur  kleinere  Gefässbezirke, 
oder  grössere  allmälig,  ausser  Circulation  gesetzt  wurden.  Naturgemäss  beobachtet 
man  also  den  rudimentären  Insult,  bei  dem  es  vielleicht  nur  zu  Schwindel,  Uebelsein, 
Ohnmachtsanwandluug,  rasch  vorübergehender  Bewusstseinsstörung  und  etwa  noch  irgend 
einem  flüchtigen  Herdsymptom,  Verlust  der  Sprache,  Sehstörung,  Parese  von  Arm 
und  Bein  kommt,  bei  Thrombose  der  Gehirnarterien,  besonders  bei  hochbetagten 
Leuten.  In  einem  solchen  Fall  führt  in  den  veränderten  und  verengten  Gefässen 
der  sich  bildende  Thrombus  erst  allmälig  völligen  Verschluss  des  Gefässes  herbei. 
Aber  auch  bei  Embolie  der  Gehirnarterien  kann  ein  solcher  protrahirter  Insult 
beobachtet  worden,  dann  nämlich,  wenn  der  Embolus  wegen  seiner  Grösse  und  Gestalt 
das  Lumen  des   Gefässes,    in  welchem   er    stecken   blieb,  nicht  vollständig  obturirte. 


GEHIRNKRANKHEITEN.  789 

an  ihn  aber  eine  weitere  Blutgerinnung  sich  anschloss  und  das  Gefäss  vollends  für 
den  Blutstrom  unwegsam  machte.  In  den  meisten  Fällen  freilich  tritt, 
weil  plötzlich  und  mit  einem  Schlage  durch  das  Hineinfahren  des  Pfropfes  in  eine 
Gehirnarterie  die  schweren  Veränderungen  in  der  Circulation  des  Gehirns  gesetzt 
werden,  auch  der  apoplectische  Insult  bei  der  Gehirnembolie  ausser- 
ordentlich   acut  ohne  alle  Prodrome  in  die  Erscheinung. 

Wie  schwer  der  Insult  ausfällt,  ob  er  günstig  verläuft,  oder  in  ihm  das  Leben 
erlischt,  ob  direct  und  indirect  Herdsymptome  dabei  ausgesprochen  sind,  hängt  von 
der  Grösse  des  verstopften  Gefässes  ab.  Die  Veränderungen  in  der  Nachbarschaft 
des  encephalomalacischen  Herdes  sind  geringeren  Grades  als  bei  einer  Hirnblutung,  der 
schädliche  Einfluss  vermehrten  intracerebralen  Druckes,  der  bei  letzterer  in  so  deletärer 
Weise  andauernde  Adiämorrhysis  cerebri  herbeiführen  kann,  ist  naturgemäss  nicht 
zu  fürchten.  So  kommt  es,  dass  man  gerade  bei  der  Gehirnembolie  auch  auf 
schwere  Insulterscheinungen  häufig   rasche  Besserung    und  Erholung    eintreten  sieht. 

Stellt  sich  längstens  nach  2X24  Stunden  in  den  vom  Blutzufluss  ausgeschalteten 
Gehirnbezirken  ein  ausreichender  Collateralkreislauf  durch  Erweiterung  der  Gehirn- 
capillaren  wieder  her,  so  kann  sich  die  geschädigte  nervöse  Substanz  wieder  erholen 
und  der  Insult  wird  vom  Kranken  ohne  allen  bleibenden  Nachtheil  überstanden. 
Im  anderen  Falle  stellt  sich  rettungslos  die  erwähnte  Erweichung  im  betreffenden 
Bezirk  ein  und  die  daselbst  liegenden  nervösen  Organe  sind  und  bleiben  für  den 
Patienten  verloren.  Je  nach  Ort  und  Ausbreitung  der  hiedurch  gesetzten  Zer- 
störung des  Gehirns  gestalten  sich  die  bleibenden  Herdsymptome  verschieden.  Bei 
keiner  anderen  Gehirnerkrankung  kommen  diese  Herdsymptome  so  rein  und  un- 
vermischt,  so  eindeutig  zum  Ausdruck  und  sind  so  gut  für  die  topische  Gehirn- 
diagnostik zu  verwerthen,  wie  gerade  bei  der  embolischen  oder  thrombotischen  Encephalo- 
malacie,  weil  hiebei  die  nächste  Umgebung,  später  wenigstens,  am  mindesten  gestört 
ist  und  Fernwirkungen  des  Krankheitsherdes,  weil  er  den  Raum  der  Schädelhöhe  ja 
nicht  beengt,  nicht  auftreten  können.  Prädilectionsstelle  für  eine  Embolie  ist  das 
Gebiet  der  Arteria  fossae  Sylvii,  welche  die  Stammganglien,  die  innere  Kapsel  versorgt. 
Demgemäss  ist  die  häufigste  Folge  einer  Gehirnembolie  zurückbleibende  Lähmung 
von  Arm  und  Bein  auf  der  gekreuzten  Seite,  gerade  wie  bei  der  Hämorrhagie,  oft 
rechtsseitig  auftretend  und  dann  häufig  mit  Aphasie  verbunden,  weil  öfter  auf  der 
linken  Seite  des  Gehirns  die  Embolie  erfolgt.  Thrombose  kleinerer  Gehirnarterien 
macht  sich  meist  gegen  die  Hirnrinde  zu  geltend.  Ptindensymptome :  Monoplegien, 
Sprachstörungen,  Sehstörungen  bei  normalem  Befund  am  Augenhintergrund  (Herd  im 
Occipitallappen)  u.  s.  w.  werden  dann  beobachtet.  Unmöglich  können  hier  alle 
Vorkommnisse  aufgezählt  werden,  welche  aus  dem  mannigfachen  Sitz  der  Erweichungs- 
herde resultiren.  Eventuell  kann  durch  acute  Anämie  der  lebenswichtigen  Centren 
der  momentane  Tod  als  Herdsymptom  auftreten. 

Der  Verlauf  einer  zurückbleibenden  Lähmung  gestaltet  sich  im  grossen  Ganzen 
conform  dem  früher  beschriebenen,  durch  Hirnblutung  entstandenen.  Nur  kommen 
bei  der  Embolie  rasche  und  ausgiebige  Besserungen  aller  Symptome  verhältnismässig 
häufig  vor. 

Diagnose:  Wie  man  die  Frage  entscheidet,  ob  überhaupt  ein  „Gehirnschlag" 
vorliegt,  wurde  bereits  gelegentlich  der  Besprechung  der  Gehirnblutung  ausgeführt. 
Die  zweite  Frage,  die  sich  danach  aufwirft,  ob  Hirnhämorrhagie  oder  Embolie, 
allenfalls  Thrombose  der  Gehirnarterien  vorliegt,  ist  ausserordentlich  schwer,  häufig 
gar  nicht  mit  Sicherheit  zu  beantworten.  Die  Beobachtung  folgender  Unterscheidungs- 
merkmale führt  auch  geübte  und  erfahrene  Beobachter  durchaus  nicht  immer  zum 
richtigen  Ziel. 

Im  höheren  Lebensalter  kommt  sowohl  Hämorrhagie  wie  Embolie  und  Thrombose 
häufiger  vor  wegen  der  Greisenkrankheit,  der  Atheromatose.  Jugendliches  Alter 
spricht  dagegen  entschieden  mehr  für  Embolie.  Nachgewiesenes  Atherom  spricht 
mehr  für  Hämorrhagie  oder  Thrombose,  direct  nicht  für  Embolie.  Besteht  ein 
Herzfehler,    so  ist  zunächst   eine  Embolie   wahrscheinlich.     Nephritis    chronica,  Blut- 

47* 


740  GEHIRNKRANKHEITEN. 

erkranliimgeii,  Scorbut,  Morbus  maculosus  Werlhofii  u.  s.  w.  disponireu  zur  Hirn- 
blutung. Embolien  finden  öfter  links  als  rechts  statt,  führen  also  meist  rechtsseitige 
Hemiplegie  mit  Aphasie  herbei.  Coustitutionelle  Syphilis  ist  oft  Basis  für  Thrombose 
des  Gehirns.  Plötzlich  eintretender  Insult,  besonders  mit  rasch  folgender  sehr  erheb- 
licher Besserung  ist  charakteristisch  für  Embolie.  Sehr  protrahirter  Insult  macht 
im  Ganzen  Thrombose  der  Gehirngefässe  wahrscheinlich.  Im  Verlauf  ist  für  eine 
Embolie  bezeichnend,  dass  zwar  baldige  erhebliche  Besserung,  das  Maximum  derselben 
aber  auch  sehr  früh  eintritt  und  nach  etwa  2 — 3  Monaten  die  zurückbleibende  Schädi- 
gung permanent  bleibt. 

Die  Prognose  des  durch  Verstopfung  der  Gehirnarterien  entstandenen  apo- 
plectischen  Insults  ist  umso  ungünstiger  je  schwerer  und  anhaltender  das  Bewusstsein 
gestört  ist.  Doch  kann  bei  Embolie  das  Bewusstsein  erst  am  3.  oder  4.  Tag 
wiederkehren  und  doch  der  Kranke  mit  dem  Leben  davonkommen.  Schlechtwerden 
des  Pulses,  rhythmisches  Athmen,  hypostatische  Pneumonie,  Trachealrasselu  sind  in 
der  Eegel  tödtliche  Zeichen.  Die  Prognose  der  Functionsstörung  ist  gewöhnlich 
günstiger  als  bei  der  Hämorrhagie,  indem  raschere  und  vollständigere  Besserung  der 
aufgetretenen  Lähmung  häufig  beobachtet  wird.  Dagegen  besteht  geringere  Aussicht, 
dass  im  ferneren  Verlauf,  nach  etwa  2 — 3  Monaten  ein  noch  weiterer  Rückgang  der 
Erscheinungen  auch  durch  therapeutische  Maassnahmen  erzielt  werden  kann.  Es  sind 
eben  die  indirecten  Herdsymptome  bei  der  Embolie  weniger  ausgebildet  und 
jedenfalls  stets  viel  flüchtigeren  Charakters  als  bei  der  Gehirnblutung.  Diese  indirecten 
Herdsymptome  bilden  aber  den  einzigen  Angriffspunkt  der  heilenden  Zeit  und  unserer 
therapeutischen  Eingriffe.  Was  einmal,  sei  es  durch  Ischämie,  sei  es  durch  zer- 
trümmernde Blutung,  —  ganz  zerstört  ist,  bleibt  es  auch.  Wiederholungen  des 
Insultes  sind  wegen   der  Natur    des  Grundleidens  ausserordentlich  häufig. 

Therapie.  Theoretisch  gefordert  ist  bei  Insult  durch  Embolie  oder  Throm- 
bose sofortiges  Tieflegen  des  Kopfes  und  Anspornen  der  Herzthätigkeit  durch  Wein, 
Campher,  später  Digitalis.  Nur  schade,  dass  die  präcise  Diagnose  gegenüber  der 
entgegengesetzt  zu  behandelnden  Hämorrhagie  nur  in  den  seltensten  Fällen  möglich 
ist.  Dagegen  ist  bei  den  Affectionen  die  Nachbehandlung  der  zurückbleibenden 
Lähmungen  etc.  die  gleiche,  nicht  aber  wieder  die  Prophylaxe  gegen  Eecidive.  Hier 
muss  die  Herzkraft  möglichst  dauernd  gehoben  und  immer  wieder  augespornt  werden, 
damit  nicht  von  Neuem  sich  Gerinnsel  und  damit  Quellen  für  Embolien  bilden. 
Freilich  liegt  hier  die  eben  nicht  zu  vermeidende  Gefahr  vor,  dass  gerade  hiedurch 
die  verstärkte  Herzaction  schon  vorhandenes  Thrombenmaterial  mobil  macht  und  eine 
Embolie  herbeiführt. 

IV.  Entzündung  und  Abscess. 

Aetiologie.  Der  Gehiruabscess  entsteht,  wenn  eitererregende  Mikro- 
organismen in  die  Gehirnsubstanz  gelangen  und  daselbst  festen  Fuss  fassen.  Das 
kann  geschehen,  indem  sich  per  contiguitatem  eine  Entzündung  von  der  Umgebung  her 
aufs  Gehirn  fortpflanzt.  So  beobachtet  man  (als  ziemlich  nebensächlichen  Befund) 
den  Gehirnabscess  zuweilen  bei  Leptomeningitis  purulenta,  ferner  aber  bei  Caries  des 
Felsenbeins,  des  Siebbeins,  bei  Thrombose  mid  eitriger  Entzündung  eines  Hirusinus. 
Hierzu  geben  besonders  Phlegmonen  am  Gesicht  und  Kopf,  Erysipelas  faciei,  schwere 
Furunkel  am  Kopf,  Gesicht,  Nacken  u.  s.  w.  Veranlassung.  Es  kann  aber  auch 
auf  dem  Blutweg  eine  Verschleppung  der  Entzündungserreger  aus  entfernten  Pro- 
vinzen ins  Gehirn  erfolgen.  In  erster  Linie  sind  hier  eitrige  Processe  in  den 
Lungen  und  der  Pleura:  Empyema,  Bronchiectasie  mit  Bronchialblenorrhoe,  ferner 
Endocarditis  septica  zu  nennen  als  Processe,  von  denen  aus  auf  dem  Wege  von 
Thrombose  und  Verschleppung  eitriginficirten  Thrombenmaterials  die  Infection  des 
Gehirns  erfolgen  kann.  Bei  Endocarditis  septica  sind  die  Entzündungserreger,  welche 
ihren  zerstörenden  Einfluss  am  Endocard  entfalten,  ohnehin  dem  Blutstrom  leicht 
zugänglich  und  können  wie  sonst  überall  im  Körper,  so  auch  einmal  im  Gehirn 
einen   metastatischen   Abscess  anregen.     Auch    ohne    eine  Endocarditis    als  ver- 


GEHIENKRANKHEITEN.  741 

mittelndes  Biucleglied  kann  die  Encephalitis  purulenta  als  locale  Theilerscheiuung 
allgemeiner  septico-pyäniischer  Infection  auftreten,  ebenso  in  seltenen  Fällen 
bei  schwerer  typhöser  Variola  u.  s.  w.  Eine  Sonderstellung  diesen  secundären 
Formen  von  Grehirnabscess  gegenüber  nehmen  diejenigen  seltenen  Fälle  ein,  wo  auch 
das  Messer  des  Anatomen  schlechterdings  keinen  Ausgangspunkt  für  die  Eiterbildung 
im  Gehirn  nachweisen  kann.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  aber  auch  noch  nicht 
sicher  erwiesen,  dass  diese  Fälle  von  sogenannten  primären  oder  idiopatliischen 
Hirnabscessen  nur  anomale  Localisationen  des  Giftes  der  Meningitis  cerebrospinalis 
epidemica  darstellen. 

Anatomischer  Befund.  Die  circumscripte  purulente  Hirnentzündung  bildet 
im  Beginn  kleine  röthliche  bis  rothe  Herde,  die  sich  vergrössern  und  dabei  gelbweiss 
bis  röthlich  werden  und  durch  die  massenhafte  Anhäufung  von  Leucocyten  immer 
mehi"  den  Charakter  von  richtigen  Abscessen  annehmen.  Die  Wand  eines  solchen  ist 
Anfangs  sehr  unregelmässig  begrenzt,  die  Umgebung  ödematös,  eventuell  durch  Blutungen 
röthlich  gesprengelt,  der  Eiter  ist  rahmig,  von  gelbweisser  oder  grünlicher  Farbe, 
fadem  Geruch.  Die  Dimensionen  wechseln  von  Hirsekorn-  bis  Wallnuss-  und  Eigrösse, 
es  kann  sogar  der  grösste  Theil  eines  ganzen  Lappens  eingeschmolzen  sein.  Lieblings- 
sitz für  die  embolischen  Abscesse  sind  die  Hemisphären  des  Gross-  und  Kleinhirns, 
seltener  wird  der  Hirnstamm  betroflen.  Ganz  kleine  Abscesse  können  noch  resorbirt 
werden  und  durch  Xarbenbildung  heilen,  grössere  werden  durch  eine  Granulations- 
schichte, später  durch  faseriges  Bindegewebe  gegen  die  Umgebung  abgegrenzt  und 
können  so  Jahrzehnte  lang  bestehen,  aber  es  wachsen  solche  chronische  Abscesse 
doch  von  der  Granulationsmembran  aus  langsam  fort,  es  wird  die  Umgebung  atro- 
phisch und  degenerirt. 

Symptome  und  Verlauf.  Der  Gehiruabscess  entwickelt  sich  meist  chronisch 
im  Verlauf  von  Wochen  und  Monaten.  Lange  Zeit  bestehen  mitunter  nur  ganz  vage 
Symptome  eines  Kopfleidens,  welche  einer  Deutung  nicht  fähig  sind.  Erst  wenn 
diese  schon  in  den  Vordergrund  treten,  die  Kopfschmerzen  überhandnehmen,  Er- 
brechen sich  einstellt,  das  Bewusstsein  gestört  wird,  Delirien,  Sopor  sich  melden, 
denkt  mau  beispielsweise  bei  einer  Bronchiectasie  an  das  ominöse  complicirende  Leiden. 
Umso  eher  natürlich,  wenn  Herdsymptome  zur  Beobachtung  kommen.  Diese  sind 
begreiflicherweise  je  nach  dem  Sitz  des  Abscesses  mannigfacher  Art.  Sie  zeichnen 
sich  dadurch  aus,  dass  sie,  irreparabel,  immer  schlimmer  werden,  weitere  Verbreitung 
aimehmen.  Weiterumsichgreifen  dieser  Herdsymptome,  der  auftretenden  Lähmungen 
an  den  Muskeln  des  Kopfes  und  der  Extremitäten,  au  den  Sinnesorganen  u.  s.  w.  wird 
oft  eingeleitet  durch  Convulsionen.  Von  grosser  Bedeutung  für  die  Diagnose  ist  der 
fieberhafte  Charakter  des  Processes,  doch  hat  das  Fieber  einen  wenig  charakteristischen 
Verlauf  und  ist  mitunter  so  geringen  Grades,  dass  nur  sorgfältige  und  oft  wieder- 
holte Messung  es  erkennen  lässt.  Wenn  gleichzeitig,  wie  das  oft  der  Fall  ist, 
noch  eine  andere  fieberhafte  Krankheit,  Pyämie,  Bronchitis  u.  s.  w.  im  Körper 
tobt,  so  kann  begreiflicherweise  die  beobachtete  Temperatursteigerung  nicht  für  die 
Annahme  eines  Hirnabscesses  verwerthet  werden.  Unter  solchen  Umständen  ent- 
geht die  Gehirnkrankheit,  wenn  nur  allgemeine  Hirnsymptome:  Benommenheit, 
Delirien,  Kopfschmerzen  auftreten,  die  auch  eventuell  auf  den  Gruudprocess  bezogen 
werden  können,  lang  oder  überhaupt  der  Diagnose.  Ganz  plötzlich  auftretende 
Exacerbationen  der  cerebralen  Symptome,  das  Hinzutreten  von  Herdsymptomen, 
die  freilich  bei  allgemeiner  schwerer  Infection  des  Gehirns  oft  gar  nicht  unzwei- 
deutig zum  Ausdruck  gelangen,  machen  eventuell  darauf  aufmerksam,  dass  im  Ge- 
hirn noch  etwas  Besonderes  geschehen  ist.  Indem  die  diffusen  Hii'nsymptome  immer 
mehr  zunehmen,  das  Bewusstsein  schwindet,  nachdem  moussitireude  oder  furibunde 
Delirien  vorausgingen,  Stuhl  und  Urin  unwillkürlich  entleert  wird,  kommt  allmälig 
der  Tod  unter  Xachlass  der  Herzaction,  vielleicht  nachdem  sich  noch  finem  versus 
eine  hypostatische  Pneumonie  ausgebildet  hat.  Meist  braucht  ein  Hirnabscess  bis  zum 
tödtlichen  Ende  längere  Zeit,  mehrere  Monate,  ein  Jahr  und  darüber.  Xicht  immer 
sind  selbst  bei  so  langer  Dauer  der  Krankheit  Herdsymptome  zur  Beobachtung  ge- 


742  GEHIRNKRANKHEITEN. 

kommen,  sehr  oft  contrastirt  eine  weit  ausgebreitete  Zerstörung  des  Centrum  semiovale 
Vieussenii  post  mortem  mit  der  Geringfügigkeit  der  intra  vitam  beobachteten  Er- 
scheinungen. In  manchen  Fällen  entwickelt  sich  der  Gehirnabscess  viel  acuter,  in 
Tagen  oder  Wochen  tritt  schon  der  Tod  ein,  das  sind  die  Fälle,  welche  unter  dem 
anscheinenden  Bild  der  Meningitis  verlaufen  und  von  dieser  intra  vitam  auch  fast 
niemals  unterschieden  werden.  Auch  im  gewöhnlichen  chronischen  Verlauf  des  Hiru- 
abscesses  kann  jederzeit  eine  acute  Verschlimmerung  unter  stürmischen  Symptomen, 
Covulsionen,  Nackenstarre,  Coma,  Tod  eintreten.  Es  ist  dies  regelmässig  der  Fall, 
wenn  der  Abscess  in  den  Ventrikel  oder  gegen  die  freie  Hirnoberfläche  durchbricht. 
Ist  der  Hirnabscess  vorher  symptomlos  verlaufen,  dann  ist  eine  derartige  plötzlich  ein- 
tretende Katastrophe  nur  schwer  oder  gar  nicht  richtig  zu   deuten. 

Für  die  sichere  Diagnose  des  Hirnabscesses  ist  der  Nachweis  eines  der 
oben  erwähnten  ätiologischen  Momente  von  der  grössten  Bedeutung.  Hirnabscess  ist 
(ausgenommen  Meningitis)  die  einzige  fieberhafte  Gehirnkrankheit,  ersetzt  diffuse 
und  Herdsymptome,  oft  sprungweise  fortschreitend,  hat  fast  niemals  Hirndruck  und 
Stauungspapille  im  Gefolge.  Die  Entzündung  der  Hirnsubstanz,  die  nicht  zum  Abscess 
führt,  wie  die,  welche  eine  Meningitis  zu  begleiten  pflegt,  ist  keiner  speciellen  Dia- 
gnose fähig. 

Die  Prognose  des  Hirnabscesses  ist  sehr  ungünstig,  nach  kürzerer  oder  längerer 
Frist  erfolgt  der  Tod,  auf  dessen  unangemeldeten  plötzlichen  Eintritt  man  in  jedem 
Stadium  der  Krankheit  gefasst  sein  muss. 

Die  Therapie  kann  nur  eventuell  eine  operative  sein.  Wenn  der  Eiterherd 
oberflächlich  genug  liegt,  dass  man  ihn  nach  einer  Trepanation  erreichen  kann,  wenn 
die  topische  Diagnostik,  welche  hier  von  eminent  praktischer  Bedeutung  wird,  ihre 
Probe  bestanden  hat,  kann  man  hoffen  durch  Function  des  Abscesses  Heilurg  herbei- 
zuiühren.  Dies  muss  mit  aller  Anstrengung  versucht  werden  und  ist  auch  schon  ge- 
lungen. In  den  meisten  Fällen  spielt  die  symptomatische  Anwendung  der  Kälte  und 
der  Narcotica  die  Hauptrolle. 

V.  Tuberciüose  des  Gehirns. 

Die  Tuberculose  des  Gehirns*)  ist  meistens  embolischen  Ursprungs  und  zwar 
ist  das  Primäre  gewöhnlich  Tuberculose  des  Eespirationstractus.  Doch  braucht  nicht 
ausgesprochene  Lungentuberculose  zu  bestehen,  oft  genügt  die  Verkäsung  weniger 
peribronchialer  Lymphdrüsen,  wie  sie  z.  B.  nach  Masern  oder  Keuchhusten  nicht  selten 
sich  einstellt,  um  das  Depot  für  das  tuberculose  Gift  abzugeben,  aus  welchem  letzteres 
gelegentlich  frei  werden  und  das  Hirn  und  seine  Adnexa  ergreifen  kann.  Sehr  viel 
seltener  ist  eine  Verbreitung  per  contiguitatem  z.  B.  bei  Caries  des  Felsen-  oder 
Siebbeins. 

Die  Tuberculose  tritt  in  2  Formen  auf:  1.  Als  disseminirte  Meningo-encephalitis 
(Meningitis   tuberculosa,    basilaris,    Hydrocephalus  acutus),    2.  als  solitärer  (cruder) 

Tuberkel. 

1 .  D  i  e  M  e  n  i  n  g  o-e  n  c  e  p  h  a  1  i  t  i  s  t  u  b  e  r  c  u  1 0  s  a  ist  anatomisch  charakterisirt 
durch  die  Aussaat  miliarer  Tuberkel,  die  als  kleine  graue  Knötchen  in  der  Pia,  im 
Subarachnoidealgewebe,  aber  auch  in  der  Hirnmasse  selbst  sich  entwickeln.  Am  reich- 
lichsten finden  sie  sich  entlang  den  Gefässen  (mit  Vorliebe  der  Arter.  fossae  Sylvii), 
Sämmtliche  Häute  der  letzteren  können  von  Zellen  durchsetzt,  an  den  Arterien  besonders 
die  Intima  bis  zum  völligen  Verschwinden  des  Lumen  verdickt  werden.  Das  Auftreten 
dieser  miliaren  Tuberkel  ist  von  Entzündungserscheinungen  begleitet,  die  nicht  nur 
an  den  benachbarten  Gefässen  Hyperämie  und  Auswanderung  farbloser  Blutkörperchen 
setzen,  sondern  auch  zur  Abscheidung  eines  eitrig-serösen  oder  eitrig-fibrinösen  Ex- 
sudates führen,  das  besonders  massenhaft  an  der  Basis  des  Gehirns  und  in  den 
Ventrikeln  sich  findet,  wenn  die  Plexus  chorioidei  eine  Aussaat  miliarer  Knötchen 
enthalten;  doch  ist  das  Uebergreifen  des  Processes  auch  auf  die  Convexität  von  der 


*)  Vergl.  den  Artikel  „Tuberculose". 


GEHIRNKRANKHEITEN.  743 

Fossa  Sylvii  herauf  keineswegs  selten,  weshalb  die  Bezeichnung  Meningitis  basilaris 
zu  eng  gefasst  ist.  Auch  der  Name  Meningitis  erschöpft  nicht  die  Erscheinungen, 
weil  regelmässig  eine  Entzündung  wenigstens  der  oberflächlichen  Schichte  der  Gehirn- 
substanz mit  coincidirt,  wohin  sich  der  Process  entlang  der  pialen  Scheiden  der  Ge- 
lasse zu  verbreiten  pflegt.  Zeichen  vermehrten  intracraniellen  Hirndrucks  (Abplattung 
der  Gyri,  Verstrichensein  der  Sulci)  sind  die  Folge  eines  massenhaften,  entzündlichen 
Exsudats.  Hat  sich  letzteres  nur  in  den  Ventrikeln  gebildet,  so  sind  diese  mächtig 
erweitert,  dafür  die  Arachnoidealflüssigkeit  verdrängt,  die  Oberfläche  des  Gehirns 
auffallend  trocken.  An  den  tuberculösen  Herden  macht  sich  Verkäsung  bald  bemerkbar. 

2.  Vom  solitären  Tuberkel  glaubt  man,  dass  er  einer  localen  Embolie  mit 
tuberculösem  Gift  seine  Entstehung  verdanke.  Entwickelt  er  sich  in  der  Gehirnsubstanz 
selbst,  so  stellt  er  einen  Knoten  von  rundlicher  Form,  bald  derber,  bald  weicherer 
Consistenz  dar,  das  Centrum  ist  gelbweiss,  verkäst,  mitunter  erweicht  oder  verflüssigt 
oder  zum  Theil  verkalkt,  begrenzt  ist  der  Knoten  von  grauröthlichem  Granulations- 
gewebe oft  mit  eingesprengten  miliaren  Tuberkeln.  In  der  Pia  und  im  subarachnoidealen 
Gewebe  nehmen  die  solitären  Tuberkel  eine  mehr  flächenhafte  Ausbreitung  an.  Die 
Grösse  eines  Solitär-Tuberkels  kann  ein  Hühnerei  übertreffen,  Lieblingssitz  ist  Kleinhirn 
und  Hirnstamm.  Es  können  mehrere  Knoten  an  verschiedenen  Stellen  sich  zugleich 
oder  nach  einander  entwickeln  und  sie  selbst  können  zur  disseminirten  miliaren 
Tuberculose  des  Gehirns  und  der  Meningen  Veranlassung  geben. 

Beide  Formen  der  Tuberculose  kommen  im  Kindesalter  ungleich  häufiger  vor 
als  bei  Erwachsenen. 

Die  Symptome  der  ersten  Form  sind  die  einer  in  der  Regel  in  3 — 6  Wochen 
tödtlich  endenden  fieberhaften  Meningitis  (vergl.  diese!)  Charakteristisch  für  den  tuber- 
culösen Charakter  ist  das  ätiologische  Moment,  (kann  aber  durchaus  nicht  immer  als 
Lungen-  oder  Knochentuberculose  nachgewiesen  werden),  ferner  die  frühzeitige  Lähmung 
von  Hirnnervenstämmen  (basilare  Meningitis),  häufig  starke  „Drucksymptome",  be- 
weisend lediglich  das  Auffinden  von  freilich  selten  complicirenden  Chorioideal-Tuberkeln 
durch   den  Augenspiegel. 

Der  solitäre  Tuberkel  macht  nur  die  Erscheinungen  eines  Hirntumors  im  All- 
gemeinen. Sonstige  Tuberculose  ist  nur  selten  manifest,  erkannt  wird  seine  Natur, 
wenn  sich  rasch  die  Zeichen  einer  (tuberculösen)  Meningitis  bei  einem  an  diagnosticirtem 
Hirntumor  Leidenden  entwickeln  (vergl.  Capitel   „Hirntumor.") 

Wenngleich  der  Nachweis  der  Heilbarkeit  tuberculöser  Meningitis  durch  v. 
Leube  erbracht  ist,  muss  praktisch  die  Prognose  für  beide  Formen  als  sehr  un- 
günstig gelten.  Wenn  bei  der  disseminirten  Form  auch  sehr  schwere  Krankheits- 
bilder mitunter  (aber  recht  selten)  aufzutreten  scheinen,  so  treten  wohl  fast  immer 
über  kurz  oder  lang  Nachschübe  auf,  denen  die  Patienten  erliegen. 

Die  Behandlung  wird  geführt  wie  sonst  bei  Meningitis,  resp.  Tumor,  nur  ver- 
dient vielleicht  daneben  noch  Empfehlung  Einreiben  des  kahl  rasirten  Schädels  mit 
1  gr  Jodoform  auf  5  gr  Fett  einmal  pro  die,  was  von  englischen  Aerzten  warm  em- 
pfohlen worden  ist  und  wovon  man  in   der  That  mitunter  recht  guten  Erfolg  sehen  kann. 

VI.  Hirnsyphilis. 

Die  Syphilis  befällt  das  Gehirn  besonders  im  tertiären  Stadium,  sie  liefert  dann 
die  für  sie  charakteristische  Granulationsgeschwulst,  das  Syphilom.  Dieses  kommt  als 
Gummaknoten  in  den  Häuten  des  Gehirns  oder  in  diesem  selbst  vor,  meist  sitzt  es 
an  der  Gehirnoberfläche,  gern  an  der  Basis  des  Hirnstammes.  Anatomisch  sind  solche 
Gummageschwülste  mitunter  nur  sehr  schwer  von  Tuberkeln  zu  unterscheiden,  wenngleich 
sie  im  Allgemeinen  mehr,  den  Contouren  des  Gehirns  folgend  und  in  den  Furchen 
sich  ausbreitend,  in  die  Fläche  wachsen  und  von  unregelmässigerer  Begrenzung 
sind.  Die  Gefässe  in  der  Nachbarschaft  einer  solchen  Geschwulst  sind  stark  verändert, 
alle  3  Häute,  besonders  die  Intima,  verdickt,  mit  Zellen  durchsetzt,  Verschluss  und 
Thrombose  des  Lumens  häufig.  Manifestirt  sich  die  Syphilis  in  dieser  Weise,  so  wird 
einfach  die  Krankheitserscheinung  des  Hirntumors  hervorgerufen.     Die    Besprechung 


744  GEHIRNKRANKHEITEN. 

des  Gumma  fällt  ganz  und  gar  in  das  Cai^itel  des  letzteren.  Dagegen  kommt  noch 
eine  wichtige  Localisation  der  si^ecifischen  Neubildung  vor,  die  für  sich  besprochen 
werden  muss.  Es  ist  die  von  Heubnee,  nachgewiesene  syphilitische  Erkranlvung  der 
Hirngefässe.  In  diesen,  besonders  in  der  Intima,  bilden  sich  kleine  Syphilome,  die 
zellige  Infiltration  und  fibröse  Hyperplasie  der  Gefässhäute  nach  sich  ziehen.  Die 
Verengerung  des  Lumens  ist  wesentlich  auf  Gewebs-Hyperplasie  der  Intima  zu  be- 
ziehen, in  ihr  ruht  die  Hauptgefahr  vollständiger  Obturation  des  Gefässes  oder  Ein- 
leitung von  Thrombose.  Aber  auch  wenn  und  so  lang  diese  schlimmen  Ereignisse, 
deren  Folgen  schon  erörtert  wurden,  nicht  eingetreten  sind,  darf  man  erwarten,  dass 
der  Kreislauf  in  toto,  oder  mehr  in  einzelnen  Theilen  des  Gehirns,  geschädigt  ist  durch 
den  vermehrten  Widerstand,  den  das  Blut  in  den  verengten,  zudem  noch  rauh  ge- 
wordenen Gefässen  erfährt.  Da  dieser  anatomische  Yorgang  nach  seiner  Intensität 
und  örtlichen  Yerbreitung  alle  Möglichkeiten  eingehen  kann,  so  ist  ein  einheitliches 
Krankheitsbild  dieser  Gehii*nsyphilis  nicht  zu  erwarten.  In  der  That  ist  all  das,  was 
man  mit  grösserem  oder  geringerem  Recht  auf  solche  syphilitische  Gefässveränderungen 
im  Gehirn  zurückgeführt  hat,  sehr  vager  Natur:  chronischer  Kopfschmerz,  Schwindel, 
allgemeine  Yerwirrtheit,  Benommenheit,  locale  Erscheinungen  der  mannigfaltigsten  Art, 
Dinge,  mit  denen  sich  wenig  anfangen  lässt. 

Dem  Ausbruch  schwerer  Symptome  (Apoplexie,  Epileptischer  Insult,  psychische 
Störungen,  Lähmungserscheinungen  [besonders  häufig  der  Augenmuskelnerven])  und 
Eeizsymptome  der  mannigfaltigsten  Art  gehen  häufig  Prodrom!  vager  Natur,  Kopf- 
schmerz, Schwindel,  Abnahme  des  Gedächtnisses,  psychische  Aufregung,  Schlaflosig- 
keit vorher.  Als  für  Syphilis  besonders  charakteristisch  führt  mau  mitunter  lang 
währende  Zustände  allgemeiner  Verwirrung  oder  rauschähnlicher  Benommenheit  an. 
Solche  können  durch  eine  antisyijhilitische  Cur  noch  redressirt  werden,  sonst  direct 
in  Coma  und  Tod  übergehen.  Ferner  wird  nicht  mit  Unrecht  laugsame,  zögernde 
Entwicklung,  ein  gewisses  Schwanken  in  allen  Symptomen,  die  selten  die  maximale 
Intensität  erreichen,  als  für  Gehirnsyphilis  bezeichnend  angesehen.  Die  Diagnose 
gründet  sich  übrigens  mehr  auf  den  Nachweis  stattgehabter  Infection  und  ander- 
weitiger Zeichen  von  Syphilis  am  Körper  als  auf  die  Analyse  der  Hirnsymptome  allein. 

Nur  der  Grundsatz  muss  festgehalten  werden,  dass  man  bei  jeder  schwer  ab- 
grenzbaren Hiruaffection  die  Möglichkeit  von  Hirnsyphilis  erwägen  muss.  Ebenso 
aber  auch  bei  jedem  apoplectischen  Insult,  der  ja  Folge  einer  Endarteritis  syphilitica 
sein  kann.  Wenn  nicht  Sjqjhilis  mit  aller  Sicherheit  ausgeschlossen  werden  kann 
(und  wie  selten  wird  man  das  je  können),  so  ist  eine  sofortige  energische  antiluetische 
Cur  einzuleiten.  Die  Syphilis  des  Gehirns  gehört  zu  den  Formen  intestinaler  Lues, 
die  verhältnismässig  am  sichersten  und  leichtesten  heilbar  sind.  Demgemäss  ist  die 
Prognose,  wenn  das  Leiden  rechtzeitig  erkannt  und  richtig  behandelt  wurde,  weit 
besser  als  in  anderen  anscheinend  gleichartig  gelagerten  Fällen,  wo  nicht  Lues  die 
Ursache  ist.  War  der  Patient  schon  reichlich  mit  Quecksilber  behandelt,  so  wirkt 
Jodkalium  oft  zauberhaft,  besonders  wenn  nicht  freventlich  schon  früher  bei  jeder 
Quecksilbercur  auch  das  Jod  verschwendet  wurde.  War  der  Organismus  noch  nicht 
oder  nur  ungenügend  mercurialisirt,  so  verdient  eine  energische  Schmiercur  den 
Vorzug  vor  Allem  anderen.  Wenn  gar  keine  Zeit  zu  verlieren  ist,  wie  bei  syphi- 
litischer Arterienthrombose  mit  apoplectischem  Insult  mag  man  Quecksilber  uud  Jod 
zugleich,  etwa  als  Hydrargyrum  bijodatum  wie  in  der  bekannten  Ricokd' sehen  Recept- 
formel  anwenden. 

VII.  Tumor  cerebri. 

Folgende  Geschwulstformen  sind  schon  im  Gehirn  beobachtet  worden: 
Gliom,  Gliomj'xom,  Gliosarcom,  Angiosarcom,  Sarcom,  (Fibrom?)  Osteom,  Lipom,  Tuber- 
kel, Gumma,  Dermoidcysten  (ohne  klinische  Bedeutung).  In  den  Adnexis  fanden  sich:  Sar- 
com (Alveolarsarcom,  Endotheliom,  Myxosarcom,  Melanosarcom,  Myxom,  Angiosarcom, 
Angiomyxom,  Angiomyxosarcom,  Angiom,  Fibrom,  Lipom,  Chondrom,  cystisches  Lymph- 
angiom,  (Psammom),    Carcinom    (in    den  Ventrikeln  von  der    epithelialen  Decke   der 


GEHIRNKRANKHEITEN.  745 

Plexus  oder  von  Epeudymepithel  ausgehend),  Cholesteatom,  Hyperplasie  der  Zirbel- 
drüse, (Struma  pituitaria).  Tumor  im  klinischen  Sinn,  d.  h.  eine  Krankheit,  mit  allen 
Tumorsymptomen  verlaufend,  sind  auch  das  Aneurysma  der  Gehiruarterien  und  die 
Parasiten  des  Gehirns  (Echinococcus  und  Cysticercus).  Von  einer  histologischen 
Beschreibung  der  einzelnen  Formen  muss  hier  abgesehen  werden.  Yon  praktischer 
Bedeutung  sind  folgende  Punkte.  Das  Gliom  ist  im  erwachsenen  Alter  der  bei  Weitem 
häufigste  Tumor  und  zugleich  auch  der  gefässreichste,  oft  findet  mau  ihn  durchsetzt 
mit  älteren  und  frischeren  Hämorrhagien;  unter  allen  Tumoren  scheint  er  das  lang- 
samste Wachsthum  zu  haben.  Die  nächste  Umgebung  aller  Tumoren  ist  mehr  oder 
minder  geschädigt,  aber  in  sehr  verschiedenem  Grade,  bei  den  am  schärfsten  be- 
grenzten (Prototyp:  Psammom,  Cholesteatom,  Cysticercus,  Aneurysma)  beschränkt  sich 
die  Wirkung  auf  Anämie,  allenfalls  Erweichung,  während  andere  Formen  (Prototyp: 
Carcinom,  Sarcom),  geradezu  zerstörend  in  die  Xachbarschaft  eindringen  und  diese  nicht 
nur  mechanisch  verdrängen,  sondern  vermöge  ihrer  vitalen  Eigenschaften  vernichten. 
Das  Carcinom  kann  sogar  die  Schädeldecke  perforiren  und  frei  als  Geschwulst  zu 
Tage  treten.  Tumoren  können  einzeln  oder  zu  zweien  und  mehreren  sich  finden  und 
zwar  allenthalben  im  Gehirn  und  seinen  Adnexis. 

Actio logie.  Alle  Tumoren,  auch  die  Aneurysmen  und  Parasiten  befallen 
etwas  häufiger  das  männliche  wie  das  weibliche  Geschlecht.  Für  Tuberkel,  Gumma 
und  die  Parasiten  ist  die  Aetiologie  für  sich  klar,  dagegen  für  alle  übrigen  Tumoren 
fast  nur  auf  Vermuthungen  beschränkt.  Nur  für  die  Gliome  hat  Geehaedts  Meinung 
viel  für  sich,  das  sie  häufig  Folge  eines,  wenngleich  weit  zurückliegenden,  schweren 
Trauma  sind,  das  den  Kopf  direct  oder  indirect  wie  bei  Fall  aus  grosser  Höhe  be- 
troffen hat. 

Symptom.  Der  Hirntumor  stellt  eine  chronische  Krankheit  dar,  deren  Ab- 
lauf unauthaltsam  zum  schlimmen  Ende  tendirt,  so  dass  die  Krankheitserscheinungen 
im  grossen  Ganzen  stetig  wachsen,  eine  Besserung  fast  nie  aufweisen.  Nur  die  sehr 
blutreichen  Formen  (Gliome)  machen  davon  durch  einen  häufigeren  Wechsel  rascher 
Yerschlimmerung  und  zeitweiliger  Besserung  eine  Ausnahme. 

Kopfschmerz,  Schwindel,  Convulsionen,  intercurrente  apoplectische  und  epileptische 
Anfälle,  Störungen  der  Psyche,  des  Bewusstseins,  Somuolenz  bis  zum  terminalen 
Coma,  Erbrechen  (besonders  morgens  nüchtern),  Starre  der  Pupillen,  Verlangsamuug 
des  Pulses  (Vagus-Puls,  gegen  Ende  ins  Gegentheil  umschlagend),  eingezogener  Leib 
sind  alles  Allgemeinsym'ptome,  welche  auf  die  Anwesenheit  des  Tumors  und  seines 
Wachsthums  im  Gehirn  überhaupt  zu  beziehen  sind,  sie  sind  also  von  dessen  Grösse, 
nicht  aber  von  seinem  Sitz  abhängig.  Alle  w^erden  durch  vermehiten  iutracerebralen 
Druck  und  consecutive  Adiämorrhysis  bedingt,  obwohl  man  gewöhnlich  nur  Erbrechen, 
Pupillenstarre,  Yaguspuls  und  eingezogenen  Leib,  sowie  die  noch  zu  besprechende 
Stauungspapille  als  Drucksymptome  im'  engeren  Sinn  bezeichnet.  Auf  der  anderen 
Seite  kann  jedes  der  angeführten  Allgemeinsymptome  gelegentlich  richtiges  Herd- 
symptom und  durch  einen  ganz  kleinen  Tumor,  der  an  bestimmter  Stelle  sich  findet, 
hervorgerufen  w^erden,  so  Kopfschmerz  bei  Affectionen  der  Dura  mater,  Schwindel 
bei  Tumoren  der  hinteren  Schädelgrube  (Wurm  etc.),  Convulsionen  und  epileptiforme 
Anfälle  durch  Tumoren  an  der  Gehirnoberfläche,  speciell  in  der  Gegend  der  vorderen 
Centralwindung,  sogar  die  mächtigste  Erhöhung  des  intracerebralen  Drucks  und  mit- 
hin die  typischsten  Drucksymptome  einschliesslich  der  Stauungspapille  kann  ein  ver- 
hältnismässig kleiner  Tumor  bewirken,  wenn  er  gerade  auf  die  vena  magna  Galeni 
drückt  und  durch  Stauung  einen  bedeutenden  Hydrops  ventriculorum  gesetzt  hat. 
Die  Stauungspapille  kann,  besonders  einseitig  auftretend,  auch  ein  wichtiges  Herdsymptom 
sein  und,  ohne  dass  der  intracerebrale  Druck  überhaupt  in  toto  gesteigert  wäre,  etwa 
nur  von  einem  ganz  kleinen  Tumor,  selbst  von  einem  miliaren  Tuberkel  abhängen,  der 
sich  in  der  Scheide  des  Nervus  opticus  etablirt  hat  und  zu  localer  Stauung  der  Lymphe 
im  Auge  Veranlassung  gibt. 

Es  ist  unmöglich,  alle  Herdsymptome  und  ihre  Combinationen  aufzuzählen,  die 
durch  einen  Tumor  cerebri  hervorgerufen  sein  können,  an  anderer  Stelle  werden  die 


746  GEHIRNKRANKHEITEN. 

Gesichtspunkte  erläutert  werden,  nach  denen  die  topische  Diagnose  einzurichten  ist*). 
Nur  so  viel  soll  erwähnt  werden,  dass  letztere  gerade  beim  Tumor  des  Gehirns  nur 
mit  grosser  Reserve  zu  stellen  ist,  wegen  der  gewöhnlich  sehr  beträchtlichen  Fern- 
wirkung des  Krankheitsherdes  auf  andere  Gehirnregionen  und  der  Möglichkeit,  dass 
nicht  ein  Tumor,  sondern  ihrer  2  oder  mehrere  sich  entwickelt  haben. 

Für  die  Diagnose,  dass  überhaupt  ein  Tumor  vorliegt,  müssen  in  der  Regel 
die  erwähnten  Allgemeinerscheinungen  ausreichen.  Auch  diese  sind  nicht  in  allen 
Fällen  vollzählig  und  gleichmässig  entwickelt,  ein  Symptom  kann  lang,  sogar  Jahre 
lang  ganz  allein  bestehen  und  erst  dann  kommen  rascher  oder  ganz  allmälig  neue 
hinzu.  Besonders  häufig  treten  Convulsionen  und  epileptiforme  Anfälle  als  einziges 
Symptom  auf,  geschieht  dies  nach  dem  30.  Lebensjahr,  so  kann  man  sicher  sein,  dass 
man  es  nicht  mit  genuiner  Epilepsie,  sondern  höchstwahrscheinlich  mit  einem  Hirntumor 
zu  thun  hat.  Was  die  Dignität  der  übrigen  AUgemein-Symptome  betrifft,  so  steht 
der  Kopfschmerz  obenan,  insofern  er  nur  äusserst  selten  fehlt,  (öfter  nur  im  Kindes- 
alter, wo  wieder  Erbrechen  häufiger  ist)  und  in  der  Regel  sehr  ausgesprochen  ist, 
ja  die  exorbitantesten  Grade  erreichen,  den  Hauptgrund  der  Klagen  des  Kranken 
darstellen  kann;  nach  der  positiven  Seite  ist  er  freilich  für  die  Diagnose  kaum  zu 
verwerthen,  weil  er  nicht  auf  seine  Realität  geprüft  werden  kann  und  bei  zahl- 
losen anderen  Krankheiten  auch  vorkommt.  In  letzterer  Hinsicht  wird  die  Stauungs- 
papille das  werthvoUste  Symptom,  weil  es  objectiv  leicht  sicher  gestellt  werden  kann 
und  auch  fast  immer  (vergl.  oben)  die  Anwesenheit  eines  Tumors  beweist.  Aehnlich 
verhält  es  sich  mit  den  übrigen  Drucksymptomen  sensu  strictiori;  freilich  lassen  sie 
in  ihrer  vollen  Entwicklung  oft  lang,  bis  gegen  das  Ende  des  Lebens  hin,  auf  sich 
warten.  Eine  Yerwechslung  lassen  sie  nur  zu  mit  chronischer  Meningitis,  Hydro- 
cephalus  der  Erwachsenen  wie  beispielsweise  nach  abgelaufener,  bis  dahin  glück- 
lich   überstandener  Meningitis  epidemica. 

In  vielen  Fällen  sind  so  ausgeprägte  Symptome  und  in  so  grosser  Anzahl  vor- 
handen, dass  man,  aus  dem  Vollen  schöpfend,  kaum  in  der  Diagnose  irren  kann, 
dagegen  kommen  als  anderes  Extrem  auch  Fälle  vor,  welche  lange  Zeit  ganz 
symptomlos  verlaufen  und  nothwendig  der  Diagnose  entgehen  müssen.  So  kann  die 
Blutung  in  ein  bis  dahin  latentes  Gliom  gar  kein  anderes  Bild  als  das  der  Hirn- 
hämorrhagie  hervorrufen.  Bleibt  der  Patient  im  apoplectischen  Insult,  so  deckt  erst 
die  Section  den  wahren  Sachverhalt  auf,  entschuldigt  und  rechtfertigt  aber  zugleich 
den  Diagnostiker;  wird  der  Schlaganfall  überstanden,  dann  kann  freilich  eine  längere 
Beobachtung  zur  Aenderung  der  ursprünglichen  Diagnose  und  auf  den  richtigen  Weg 
führen. 

Ist  die  erste  Aufgabe  der  Diagnose  gelöst  und  die  Anwesenheit  eines  Tumors 
überhaupt  constatirt,  ist  auch  nach  den  Regeln  der  topischen  Diagnostik  die  zweite 
erfüllt,  und  der  Tumor  nach  Möglichkeit  an  eine  bestimmte  Stelle  im  Schädelraum 
verlegt,  so  kommt  noch  die  dritte,  schwierigste  Aufgabe,  die  Natur  der  Geschwulst 
zu  bestimmen.  Selten  (Cysticercus,  Choriodealtuberkel  im  Aug)  ist  die  Diagnose  sicher  zu 
stellen.  Im  Kindesalter  ist  der  Tuberkel  wahrscheinlicher  als  alles  andere,  da  er 
häufiger  als  in  der  Hälfte  aller  Fälle  angetroffen  wurde,  bei  Erwachsenen  das  Gliom. 
Tumoren  an  der  Basis  sind  wahrscheinlich  Sarcome  oder  Gummigeschwülste,  (letztere 
bedingen  auffallend  häufig  und  frühzeitig  Ptosis),  solche  an  der  Convexität  (Epilepsie) 
vielleicht  Cysticerken.  Bösartige  Geschwülste  an  anderen  Stellen  des  Körpers,  die  schon  län- 
ger bestehen,  geben  der  Vermuthung  Raum,  dass  eine  Metastasirung  ins  Gehirn  stattge- 
funden habe.  Rascher  Wechsel  in  der  Intensität  der  Allgemeinsymptome  ist  für  die 
gefässreichen  Gliome  charakteristisch.  Kann  man  hereditäre  oder  acquirirte  Syphilis 
nachweisen,  so  muss  unter  allen  Umständen  ein  Gumma  angenommen  und  an  dieser 
Diagnose  festgehalten  werden,  bis  die  Fruchtlosigkeit  der  energischsten  antisyphilitischen 
Curen  diese  Annahme  unwahrscheinlich  macht,  freilich  auch  nicht  mit  aller  Sicherheit 
widerlegt.     Ueberhaupt   handelt    der  Praktiker   am  klügsten,  der  bei  jedem  Tumor 


*)  Vergl,  yLocalsymjitome  der  Geliirnkranhheiten"  {Topische  Diagnostik),  (Singer). 


GEHIRNKRANKHEITEN.  747 

zunächst  Syphilis  annimmt  und  demgemäss  vorgeht,  denn  einerseits  ist  ja  doch 
absohites  Ausschliessen  sj'philitischer  Infection  immer  eine  missliche  Sache,  andererseits 
alles,  was  man  gegen  Tumoren  anderer  Art  anfangen  kann,  nahezu  vollkommen 
aussichtslos. 

Die  Prognose  ist  demgemäss  für  alle  nicht  syphilitischen  Tumoren  schlecht, 
dubiös,  aber  sehr  viel  besser,  für  diese.  Eine  Ausnahme  davon  machen  nur  manchmal 
die  Cysticerken,  die  relativ  unschädliche  Gäste  sein  können,  wenigstens  in  vielen 
Fällen  nicht  zum  Tode  führen.  Sonst  tritt  dieser  in  der  Regel  nach  1 — 2  Jahren 
ein,  nur  die  Gliome  wachsen  so  langsam,  dass  das  Leiden  mehrere  Jahre,  ja  bis  zu 
15  Jahren  währen  kann. 

Die  Therapie  ist  nach  dem  Gesagten  in  weitaus  den  meisten  Fällen  eine 
symptomatische,  die  ihre  Hauptaufgabe  im  letzten  trostlosen  Stadium  findet,  wenn 
die  Patienten  bereits  bettlägerig,  unrein  geworden  und  den  Gefahren  des  Decubitus, 
der  hypostatischen  Pneumonie  ausgesetzt  sind.  Doch  sollte  bei  jedem  Tumor 
wenigstens  das  Jodkalium  versucht  werden,  dessen  „resorptiver  Einfluss"  sich  auch 
bei  nichtsyphilitischen  Tumoren  ab  und  zu  bewährt  haben  soll.  Tumoren,  deren  Sitz 
an  der  Gehirnoberfläche  mit  hinreichender  Sicherheit  bestimmt  wurde,  können 
eventuell  Gegenstand  eines  chirurgischen  Eingriffes  werden.  Exostosen  des  Schädel- 
daches mit  ihren  wahnsinnigen  Kopfschmerzen  und  epileptiformen  Anfällen,  Cysticerken 
und  solche  eng  begrenzte  Affectionen  können  in  der  That  ope  cultris  zur  völligen 
Heilung  gebracht  werden,  nicht  aber  diffus  und  weit  sich  verbreitende  Geschwulst- 
formen, deren  Ausdehnung  mau  selbst  bei  der  Section  häufig  genug  mit  dem  blossen 
Auge  nicht  sicher  bestimmen  kann,  blutreiche  Geschwülste  (Gliome)  geben  die 
geringsten  Chancen  für  einen  operativen  Eingriff'. 

IX.  Sclerose  des  Gehirns. 

Diffuse  Gehirnsclerose  ist  anatomisch  durch  Wucherung  der  Glia 
charakterisirt,  die  besonders  die  weisse  Substanz  in  weitem  Umfang  ergreift.  Die 
Krankheit  befällt  mit  Vorliebe  Männer  in  den  mittleren  Lebensjahren.  Was  man 
als  Aetiologie  angeführt  hat  (Alcoholismus,  geistige  Ueberarbeituug)  erhebt  sich 
nicht  über  vage  Vermuthungen.  Die  Symptome  (Schwindel,  Kopfschmerz,  Paresen 
und  Paralysen,  Sprachstörungen,  Ataxie,  Tremor,  Blasen-  und  Mastdarmlähmung, 
Demenz,  intercurrente  Schlaganfälle)  sind  nach  keiner  Richtung  prägnant,  die 
Diagnose  der  Krankheit  ist  unmöglich.  Die  Dauer  der  Krankheit  beträgt  in 
der  Regel  mehrere  Jahre,  die  Therapie  ist  ausschliesslich  symptomatisch. 

Inwieweit  diffuse  Sclerose  des  Gehirns  von  grossen  Gliomen    überhaupt    zu    trennen 
ist,    soll  nicht  entschieden  werden,    die    Besprechung    der   disseminirten    Herdsclerose    des 
.  Hirns  und  Rückenmarks  erhält  eine  gesonderte  Besprechung  an  anderem  Platze  *). 

X.  Hypertrophie  des  Gehirns. 

Dies  ist  eine  sehr  seltene  Affection,  die  sich  fast  ausschliesslich  im  Kindesalter 
entwickelt.  Die  Aetiologie  ist  noch  vollkommen  unklar,  manchmal  findet  sich 
hereditäre  Belastung,  häufig  Rhachitis.  Die  Krankheit  besteht  in  einer  Volumszunahme 
der  Hirnmasse  und  zwar  fast  ausschliesslich  des  ganzen  Grosshirns.  Hypertrophie 
des  Kleinhirns  gehört  zu  den  grössten  Raritäten.  Ebenso  ist  auch  partielle  Hyper- 
trophie selten.  Da  Volumen  und  Gewicht  des  Gehirns  auch  in  physiologischen 
Breiten  ausserordentlich  schwanken,  so  kann  das  Pathologische  des  Zustandes  nur 
in  dem  Missverhältnis  zwischen  Gehirnmasse  und  Schädelraum  gesucht  werden  (Hasse.) 
Man  findet  bei  der  Section  nach  Eröffnung  des  Schädeldachs  das  Gehirn  mitunter 
so  stark  vorquellen,  dass  es  unmöglich  mehr  ganz  reponirt  werden  kann,  dabei  die 
gewöhnlichen  Zeichen  des  Hirndrucks:  Abgeplattete  Gyri,  verstrichene  Sulci,  enge 
Ventrikel,  wenig  Blutpunkte  auf  der  Schnittfläche,  die  Consistenz  des  Gehirns  vermehrt, 
auffallend   „gummiartig". 


*)  Vergl.  Art.  ^Sderosis  insularis  multiplex-' 


748  GEHIRNKRANKHEITEN. 

Symptome  und  Verlauf.  Entwickelt  sich  die  Hypertrophie,  so  lange  die 
Fontanellen  nocli  nicht  geschlossen  sind,  so  gibt  die  Schädelkapsel  nach  und  nimmt 
eine  Form  und  Grösse  wie  beim  Hydrocephalus  chronicus  an.  Solche  Kinder  sind 
im  Gegensatz  zu  Hydrocephalen  von  Yiechow  Kephalonen  genannt  worden.  So  kann 
das  Leiden  ohne  wesentliche  körperliche  oder  psychische  Schädigung,  ja  symptomlos 
mitunter  Jahre  lang  ertragen  werden,  sogar  geistige  Frühreife  ist  beobachtet  worden, 
obwohl  Idiotie,  Epilepsie  häufiger  angetroffen  werden.  Anders,  wenn  die  Nähte 
bereits  geschlossen  sind;  nothw endig  muss  dann  der  intracerebrale  Druck  so  lang 
anwachsen,  bis  er  eines  Tages  die  schwersten  Symptome  hervorruft  und  das  Ende 
einleitet.  Bei  rascher  und  bedeutender  Entwicklung  entsteht  dabei  mitunter 
Lockerung  und  Diastase  der  Nähte  mit  röthlicher  Suffusion  der  Nahtknorpel 
(EoKiTANSKT.)  Wohl  jede  Hirnhypertrophie  ist  ein  chronisches  Leiden,  wenngleich 
häufig  nur  das  stürmische  terminale  Stadium  zur  Beobachtung  des  Arztes  kommt 
und  dann  als  acute  Affection  imponirt.  Unter  den  Zeichen  des  „Hirndrucks",  wobei 
der  Puls  häufig  von  Anfang  an  stark  beschleunigt  ist,  unter  Coma  und  heftigen 
Convulsionen  erlischt  dann  das  Leben  in  der  Regel  nach  einigen  Wochen. 

Eine  Diagnose  der  Hirnhypertrophie  ist  nicht  möglich.  Die  Unterscheidungs- 
merkmale, die  man  gegenüber  dem  Hydrocephalus  angegeben  hat,  sind  anzuführen 
nicht  einmal  der  Mühe  werth.  Demgemäss  kann  eine  Prognose  nicht  formulirt,  eine 
Therapie  nur  symptomatisch  und  palliativ  geführt  werden,  stets  wird  man  einen 
Hydrocephalus  vor  sich  zu  haben  glauben,  und  daraus  kann  sogar  die  Unannehm- 
lichkeit erwachsen,  dass  man  in  der  Absicht,  das  Fluidum  zu  entleeren,  einmal  einen 
Kephalonen  punktirt. 

XI.  Atrophie. 

Einfache  Atrophie  des  Geliirns,  d.  h.  Schwund  der  nervösen  Bestandtheile  ohne 
Texturveränderung  kommt  allgemein  und  local  vor.  Sie  kann  die  graue  und  die 
weisse  Substanz  betreffen.  Das  verminderte  Volumen  des  Schädelinhalts  wird  durch 
Vermehrung  der  Flüssigkeiten,   in   erster  Linie    der    subarachnoidealen  ausgeglichen. 

Angeborene  Atrophie  (häufig  bei  hereditärer  nervöser  Belastung)  betrifft  vorzugs- 
weise den  Balken  oder  das  Kleinhirn  oder  findet  sich  halbseitig.  Atrophie  des 
Balkens  pflegt  in  der  Regel  Stumpfsinn  bis  zur  völligen  Idiotie  nach  sich  zu  ziehen, 
doch  werden  auch  die  psychischen  Fähigkeiten  unvermindert  getroffen  bei  nur  unvoll- 
ständiger Atrophie  der  queren  Commissuren.  Auch  bei  halbseitiger  Gehirnatrophie 
der  Kinder  ist  Blödsinn  und  Idiotie  häufig,  daneben  Paresen  und  Anästhesien, 
besonders  stark  an  den  Armen,  ferner  Contracturen  und  epileptische  Anfälle.  Klein- 
hirnatrophie bedingt  starke  Ataxie  wie  sonstige  Kleinhirnerkraukungen  (Tumor  etc.) 
auch.  Charakteristisch  für  solche  angeborene  Atrophien  (besser  wohl  Bildungs- 
hemmungen) ist  das  Fehlen  von  Gehirndrucksymptomeu. 

Für  die  erworbene  Atrophie  kommen  Druck  von  der  Nachbarschaft  her,  wie 
bei  Exostosen  des  Schädeldaches,  bei  Hirntumoren,  chronischer  Meningitis,  schlechte 
Ernährung,  wie  bei  Atheromatose  der  Gefässe,  bei  chronischen  Anämien,  Störungen 
in  Folge  von  Herzfehlern,  Emphysem  etc.  als  ätiologische  Momente  in  Betracht. 
Von  der  chronischen  Bleivergiftung  und  dem  Abusus  spirituosorum  glaubt  man  eine 
mehr  directe  Schädigung  der  nervösen  Bestandtheile  des  Gehirns  ableiten  zu  dürfen. 
Die  Atrophie,  welche  sich  bei  Greisen  hauptsächlich  an  der  Gehirnrinde  einstellt, 
ist  wohl  zum  grössten  Theil  auf  schlechte  allgemeine  und  local  gestörte  Ernährung 
durch  Gefässveränderungen  zu  beziehen.  Theoretisch  hochinteressant  ist  die  Atrophie, 
welche  in  ganz  bestimmten  Gehirnregionen  eintritt,  wenn  bei  neugeborenen  Thieren 
Sinnesorgane  zerstört  oder  Extremitäten  abgetragen  werden. 

Locale  Atrophien  sind  von  anderen  Herdaffectioueu,  namentlich  entzündlichen 
Degenerationen,  von  Erweichungsprocessen  nicht  zu  trennen  und  sind  der  Diagnose 
unzugänglich.  Allgemeine  oder  weit  verbreitete  Atrophie  verschuldet  wohl  häufig  einen 
guten  Theil  der  Symptome,  wie  man  sie  beispielsweise  bei  kindisch  werdenden  Greisen 
beobachtet,  wie  der  Nachlass  des  Gedächtnisses  namentlich  für  jüngst  verflossene  Be- 


GEHIRNKRANKHEITEN.  749 

gebenheiten,  der  Maugel  der  Initiative,  die  Theilnahmslosigkeit  an  ihrer  Umgebung,  wo- 
mit grosser  Egoismus  und  Halsstarrigkeit  verbunden  sein  kann,  weil  das  Gebirn  dem 
Einfluss  von  Aussen  wirkender  Motive  auf  seine  Beschlüsse  nicht  mehr  wie  früher 
unterworfen  ist.  Allmälig  umnachtet  sich  unter  solchen  Umständen  das  Geistesleben 
immer  mehr,  während  die  vegetativen  Functionen  in  der  Regel  noch  längere  Zeit 
ungestört,  ja  sogar  auffallend  gut  ablaufen,  der  Appetit  sich  zur  Gefrässigkeit  steigert, 
die  Ernährung  eine  vorzügliche  sein  kann.  Unreinlichkeit,  Unachtsamkeit  auf  die 
Entleerung  von  Stuhl  und  Urin  macheu  den  geistigen  Verfall  um  so  deutlicher,  das 
Bild  umso  trauriger  für  die  Umgebung.  Die  Gefahren  des  Decubitus  sind,  sobald 
die  Kranken  bettlägerig  werden,  imminent,  oder  eine  hypostatische  Pneumonie,  ein 
Schlaganfall  setzt  dem  Leben  des  Kranken  ein  Ziel,  denn  meist  ist  für  einen  solchen 
der  Boden  wohl  vorbereitet.  Uebrigens  ist  überhaupt  auch  aus  den  beschriebenen 
Erscheinungen  keineswegs  die  Diagnose  auf  rein  atrophische  Veränderungen  im  Gehirn 
zu  stellen,  vielmehr  spielen  Encephalomalacie,  capilläre  Blutungen  wohl  stets  eine  wich- 
tige Rolle  mit.  Wo  es  gelingt,  des  ätiologischen  Moments  Herr  zu  werden,  wie  bei  Anämien 
nach  schweren  Krankheiten,  bei  Encephalopathia  saturnina,  chronischem  Alcoholismus 
kann  man  hoffen,  auch  den  Process  im  Gehirn  zum  Stillstand  zu  bringen.  Mehr  kann 
man  wohl  kaum  je  erreichen,  indem  schon  atrophisch  gewordene  Theile  sich  wohl 
niemals  wieder  erholen;  zu  versuchen  wäre  allenfalls  die  Galvanisation  des  Gehirns. 

XII.  Parasiten. 

Im  Gehirn  kommen  zwei  Parasiten  *)  vor,  der  Ct/sticercus  und  der  Echinococcus. 
Gelangt  das  Ei  oder  eine  geschlechtsreife  Proglottide  eines  Bandwurms,  Taenia  sohum 
(Wirth:  das  Schwein)  oder  Taenia  mediocanellata  sive  saginata  (Wirth:  das  Rind) 
in  den  Magen,  so  entwickelt  sich  daraus  ein  Cysticercus  cellulosae,  der  wie  in 
anderen  Organen  so  auch  im  Gehirn  sich  ansiedeln  und  seine  definitive  Grösse,  etwa  die 
einer  Erbse  im  Verlauf  von  2 — 3  Monaten  erreichen  kann.  Eine  nur  dem  Gehirn 
eigenthümliche  Form  ist  der  Cysticercus  racemosus,  der  innere  und  äussere  Tochter- 
bläschen, grosse  gelappte  Formen  bildet  und  meist  steril  bleibt.  In  seiner  nächsten 
Umgebung  pflegt  sich  eine  Entzündung  mit  Bindegewebswucherung  einzustellen.  Stirbt 
(nach  Jahren)  die  Finne  ab,  so  schrumpft  die  Blase  und  der  Inhalt  verkreidet. 
Lieblingssitz  der  Finne  sind  die  Hirnhäute,  auch  frei  in  den  Ventrikeln  sind  sie 
(ohne  dass  sie  Symptome  machten)  gefunden  worden,  mitunter  sind  ihrer  mehrere 
oder  sogar  sehr  viele  im  Gehirn  und  seinen  Häuten  vorhanden. 

Der  Echinococcus  entwickelt  sich,  wenn  das  Ei  der  Tänia  Echinococcus  (Wirth 
ist  der  Hund)  in  den  Magen  gelangt.  Er  bildet  im  Gehirn  einfache  oder  mehrfache 
Blasen,  in  deren  Umgebung  sich  leichte  entzündliche  Reaction  und  Bindegewebs- 
wucherung   oder  selbst  Erweichung  einstellen  kann. 

Wo  durch  Parasiten  überhaupt  Symptome  gesetzt  werden,  sind  es  die  eines 
Tumors.  Dies  gilt  im  vollen  Umfang  bezüglich  des  Echinococcus.  Beim  Cysticercus 
wird  verhältnismässig  häufig  nur  Epilepsie  (Emdenepilepsie)  beobachtet,  sonst  treten 
Cysticerken  oft  nur  als  zufälliger  Sectionsbefund  auf,  wo  man  sie  im  Leben  nicht 
hätte  vermuthen  können,  entweder  anscheinend  völlige  Gesundheit  des  Gehirns  bestand 
oder  aber  eine  Geisteskrankheit  (Paranoia),  bei  der  wir  eine  specifische  Wirkung  der 
Parasiten  nicht  annehmen  können.  Da  der  Cysticercus  eine  bestimmte  geringe 
Grösse  nicht  überschreitet,  ist  er  (ausgenommen  der  racemosus)  lang  mit  dem  Leben 
verträglich. 

Die  Diagnose  ist  nur  in  den  seltenen  Fällen  mit  Sicherheit  zu  stellen, 
wo  zugleich  ein  Cysticercus  im  Auge  sich  entwickelt  und  damit  direct  sichtbar 
wird,  sonst  fällt  sie  und  damit  auch  Prognose  und  Therapie  mit  der  des  Hirn- 
tumors zusammen.  Für  einen  operativen  Eingriff'  geben  oberflächlich  gelegene  Parasiten 
verhältnismässig  sehr  günstige  Aussichten  auf  definitiven  Erfolg. 

RICHARD    GEIGEL. 


*)  Vergl.  Artikel   „Evigeiveidetvürmer  des  Menschoi,^  (C.  Claus)  pag.  471  ds.  Bd.    der 
,BMiothe]c". 


750  GELBFIEBER. 

Gelbfieber  („Couj)  de  bm-re,^'  ..Black  Vomit,'-'-  Fe//o?; /<?fer)  ist  eine  acute 
Infectionskrankheit,  als  deren  Heimat  die  Inselgruppe  der  grossen  Antillen 
gilt.  Sie  herrscht  endemisch  in  gewissen  Strichen  Amerikas  {Neugranada,  Mexico, 
Venezuela,  Brasilien),  ferner  an  der  Westküste  von  Afrika  in  Sierra- Leone  und 
hat  von  hier  aus,  dem  Schiffsverkehr  folgend,  in  anderen  amerikanischen  Ge- 
bieten, sowie  in  Europa,  hier  namentlich  in  den  Hafenstädten  Italiens,  Grie- 
chenlands, Spaniens,  Englands,  Frankreichs  und  Norddeutschlands  in  grossen 
Epidemien  namhafte  Verheerungen  angerichtet  (Epidemie  in  Lissabon  1857/1858, 
in  Barcelona  1870). 

Aetiologie:  Abgesehen  von  gewissen,  die  Entstehung  des  Gelbfiebers 
begünstigenden  Momenten,  von  denen  unten  die  Rede  sein  soll,  ist  das  Gelb- 
fiebergift wahrscheinlich  in  einem  Infectionsstoff  miasmatischer  Natur  zu  suchen, 
welches  in  den  menschlichen  Organismus  eingedrungen,  sich  daselbst  nicht 
vermehrt;  durch  Berührung  eines  mit  dem  Gifte  behafteten  Individuums  kann 
die  Krankheit  nicht  übertragen  werden.  —  Das  Gelbfieber  ist  demnach  keine 
contagiöse  Krankheit.  Man  kann  sich  die  Uebertragung  des  Giftes  so  erklären, 
dass  auf  indirectem  Wege  die  Krankheitserreger  mit  den  erbrochenen  Massen 
in  die  Kleidungsstücke,  den  Schiffsboden  und  Kielraum  gelangen  und  in  den 
Städten,  wo  die  Schiffe  landen,  dann  eine  Gelbfieber-Epidemie  erzeugen,  wenn 
sie  daselbst  den  zu  ihrer  Weiterentwicklung  günstigen  Boden  finden,  d.  h. 
wenn  die  unten  zu  erwähnenden  begünstigenden  Nebenumstände  vorhanden  sind. 

Der  Inf ectionserreger  des  Gelbfiebers  ist  bis  zur  Gegenwart 
nicht  mit  Sicherheit  festgestellt.  Die  in  der  Literatur  diesbezüglichen  Mit- 
theilungen sind  einander  so  gegensätzlich,  dass  man  nur  schwer  für  die  Rich- 
tigkeit des  einen  oder  anderen  Befundes  eintreten  kann. 

Carmona  y  Yalle  (Mexico)  will  im  Urin,  im  Blute  und  in  den  Geweben  von  an  Gelbfieber 
gestorbenen  Personen  einen  Schimmelpilz,  Peronospora  lutea,  gefunden  haben,  welchem 
Befunde  aber  Heinemakk  insoferne  widerspricht,  als  er  denselben  Pilz  in  jedem  sauren 
eiweisshältigen  Urin  fand ;  nach  Heikemakn  steht  somit  der  genannte  Schimmelpilz  in  gar 
keinem  Zusammenhange  zum  Gelbfieber.  Nach  Delgado  und  Fiklay  soll  der  Micrococcus 
versatilis  der  Erreger  des  Gelbfiebers  sein.  Derselbe  tritt  in  den  verschiedenartigsten  Formen 
auf  (gross,  klein  —  weiss,  gelb),  daher  der  Name.  Gegen  die  Pdchtigkeit  der  Angabe  von 
Delgado  und  Finlay  spricht  der  Umstand,  dass  derselbe  Micrococcus  auf  der  Haut  gesunder 
Menschen  gefunden  wurde. 

Vielfach  hat  sich  mit  der  Frage  der  Infectionsursache  des  Gelbfiebers  Freire  (ßio- 
Janeiro)  beschäftigt;  im  Vereine  mit  Paul  Girier  und  Ch.  Rebourgeon  theilte  er  im 
Jahre  1880  mit,  dass  der  Erreger  des  Gelbfiebers  ein  kleiner  Mikroorganismus  sei,  der 
nur  in  den  Tropen  gedeihen  kann,  ein  kettenförmiges  Aussehen  hat  und  sich  mit  Anilin- 
farben (Methylviolett,  Bismarkbraun,  Rosanilin)  gilt  färbt.  Er  nannte  ihn  Crypfococcus 
xunthogenims.  In  seinen  letzten  Mittheilungen  sind  folgende  Resultate  enthalten:  Der 
Cryptococcus  xantliogenicus  {Amarilliis-Bacteriitm)  gehört  zu  den  Algen.  Er  findet  sich  in 
einer  einzelligen  Form  als  „runder  Punkt"  entstehend  und  ist  erst  bei  einer  Vergrösserung 
von  über  700  zu  erkennen.  Diese  Zellen  sind  von  einer  grauen  oder  schwarzen  Hülle  um- 
geben und  enthalten  im  Innern  Protoplasmamassen.  Infolge  Berstung  der  Hüllen  entstehen 
Läppchen,  an  denen  die  Keimzellen  hängen  (Sporen).  FREmE  führt  die  Symptome  des 
Gelbfiebers  auf  die  Einwirkung  von  Toxinen,  der  Producte  des  Amarillus-Bacterium 
auf  den  Vagus  und  Sympathicus  zurück.  Auf  Agar  haben  die  Culturen  die  Form  eines 
weissen  Nagels,  dessen  Kopf  auf  der  Oberfläche  der  Gelatine  wie  ein  weisser  Haken  aus- 
sieht. Es  soll  Freire  auch  gelungen  sein,  einerseits  mit  Culturen  Gelbfieber  am  Thiere  zu 
erzeugen,  anderseits  durch  Impfung  abgeschwächter  Culturen  die  Immunität  gegen  Gelb- 
fieber hervorzurufen.  Der  Vorgang  und  die  Art  der  Impfung  findet  in  der  Therapie  Be- 
sprechung. Den  Ausführungeil  Freire's  widerspricht  Sternberg,  indem  er  mittheilt,  dass  er 
den  Cryptococcus  xcmtliogenicus  nicht  finden  konnte,  hingegen  will  er  bei  seinen  Unter- 
suchungen Mikroorganismen  constatirt  haben,  die  mit  den  Formen  von  Babes  und  Lacerda 
identisch  gewesen.  Die  letztgenannten  Bakteriologen  fanden  nämlich  in  den  Lebern  und 
Nieren  von  6  an  Gelbfieber  verstorbenen  Menschen  eine  Bakterienform,  die  in  ästigen 
Ketten  mit  mehrfach  gabeligen  Verzweigungen  auftritt  und  kugelförmig  erscheint.  In  der 
Leber  fanden  sie  dieselbe  im  Parenchym,  in  den  Gallengängen  und  in  den  Capillaren.  in 
der  Niere  hingegen  in  den  Harncanälchen,  Glomerulis  und  Blutgefässen.  Auch  Goes  hat  im 
Blute  von  Gelbfieberkranken  eine°der  von  Babes  gefundenen  ähnliche  Bacterienart  constatirt. 
Im  Anschlüsse  an  die  erwähnten  bakteriologischen  Funde  wäre  die  Anschauung 
Alvarado's  zu  erwähnen,  der  das  Gelbfieber  als  eine  Selbstvergiftung  des  Blutes  durch  Phos- 


GELBFIEBER.  751 

phorsäure  aiiffasst.  Dieselbe  entstellt  nach  Alvarado  durch  Verbrennung  von  phosphorsaurem 
Natron  oder  durch  Freiwerden  von  Phosphor-Glycerinsäure  (Lecithin)  in  Folge  von  Reac- 
tionen,  welche  Bacterien  auf  die  Blutflüssigkeit  ausgeübt  haben.  Nach  Alvarado  hat  das 
Gelbfieber  2  Entwicklungsstadien.  Die  Symptome  des  ersten  werden  hervorgerufen  durch 
einen  Ueberschuss  von  Milchsäure  im  Blut ;  durch  Einwirkung  dieses  üeberschusses  auf  das 
Blut  bildet  sich  Phosphorsäure,  welche  die  Symptome  des  zweiten  Stadiums  verursacht. 

Als  begünstigende  Nebenmnstände  sind  zu  erwähnen:  Das  Klima,  die 
terrestrischen  Verhältnisse,  in  geringerem  Grade  die  individuelle  Disposition. 
Damit  Gelbfieber-Epidemien  A^erbreitung  finden  können,  muss  die  mittlere  Jahres- 
temperatur eine  heisse  sein  (durchschnittlich  22 — 2.5°C.):  niedrigere  Tempera- 
turen können  die  Propagation  des  Gelbfiebers  hindern,  plötzlich  eintretender  Frost 
dasselbe  ganz  zum  Stillstand  bringen.  Der  Umstand,  dass  die  Temperatur 
eine  gleichmässige  sein  müsse  (26 — 27"  ß.),  damit  eine  Gelbfieber-Epidemie 
ausbreche  (Geiesinger)  wird  von  westindischen  Aerzten  in  Abrede  gestellt,  da 
letztere  auf  das  Sinl^en  der  Temperatur,  innerhalb  bestimmter  Grenzen,  nichts- 
destoweniger eine  Gelbfieber-Epidemie  folgen  sahen. 

Die  terrestrischen  Verhältnisse  anlangend,  sind  es  vor  allem  Städte 
mit  Schifisverkehr,  in  denen  es  zur  Epidemie  kommen  kann,  und  in  diesen 
umso  eher  und  leichter,  je  schlechter  die  sanitären  Verhältnisse  derselben 
sind,  je  unsauberer  die  dieselben  bewohnenden  Einwohner,  je  ärmer  die  Bevöl- 
kerung ist.  Das  Gelbfieber  ist  aber  nicht  nur  eine  Kränkelt  der  Hafenstädte, 
sondern  auch  eine  Krankheit  der  Niederungen,  nicht  aber  der  höher  gelegenen, 
gebirgigen  Gegenden,  mögen  letztere  noch  so  schlechte  sanitäre  Verhältnisse 
zeigen.  Dass  dies  der  Fall  ist,  hat  wohl  zunächst  darin  seinen  Grund,  dass  die 
letzteren  keinen  Schiffsverkehr  haben  und,  wie  bereits  oben  bemerkt,  dieser  es 
besonders  ist,  der  vorzüglich  die  Möglichkeit  zur  Verbreitung  der  Krankheit 
bietet.  Dass  unsaubere  Zustände  in  den  Städten  das  Entstehen  einer  Gelb- 
fieberepidemie l)egünstigen,  ist  oben  erwähnt;  es  muss  aber  auch  bemerkt 
werden,  dass  nach  der  Ansicht  der  Autoren  ebensolche  auf  den  Schiffen  selbst 
(verschiedene  Abfälle,  in  Verwesung  begriffene  Objecte  etc.)  die  Wirksamkeit 
des  Krankheitsgiftes  wohl  unterhalten,  es  aber  nicht  erzeugen  können. 

Was  endlich  die  Abhängigkeit  der  Verbreitung  einer  Gelbfieber-Epidemie 
von  den  Individuen  selbst  anlangt,  so  spielen  diese  ebenfalls  eine,  wenn 
auch  geringere  Rolle,  als  die  klimatischen  und  terrestrischen  Verhältnisse. 
Dabei  kommen  hauptsächlich  in  Betracht  die  Race,  die  Heimat,  weniger  das 
Alter  und  Geschlecht.  Was  die  Bace  anlangt,  so  ist  es  bemerkenswerth,  dass 
die  Neger  von  der  Krankheit  ganz  verschont,  gleichsam  immun  gegen  dieselbe 
sind,  während  sie  unter  den  Weissen  zahlreiche  Opfer  fordert.  Nach  v.  Hum- 
boldt sollen  auch  die  kupferrothen  Indianer  immun  gegen  diese  Krankheit 
sein.  Gegen  diese  Angabe  spricht  die  Thatsache,  dass  trotzdem  in  der  im 
Jahre  1849  in  Bahia  ausgebrochenen  Epidemie  viele  Schwarze  den  Tod  ge- 
funden haben.  (Wucherer.) 

Was  die  Acclimatisation  betrifft,  so  sind  die  neu  eingewanderten 
Weissen  der  Gefahr  sehr  stark  ausgesetzt  und  dies  umso  eher,  je  weiter 
deren  Heimat  von  der  Gegend,  wo  eine  Gelbfieberepidemie  wüthet,  entfernt 
ist.  Mit  dem  längeren  Verbleiben  in  einer  Gelbfiel)ergegend,  oder  gar  mit 
dem  Ueberstehen  einer  derartigen  Krankheit  erwirbt  der  Betreffende  eine 
Immunität,  die  aber  merkwürdigerw^eise  schwindet,  sobald  er  sich,  wenn  auch 
für  kurze  Zeit,  in  eine  andere,  vom  Gelbfieber  freie,  vielleicht  etwas  kältere 
Gegend  begeben  hat.  Ein  solcher  ist,  wenn  er  in  die  Gelbfiebergegend  zurück- 
kehrt, vordem  Ergriffenwerden  von  dieser  Epidemie  nicht  sicher;  es  ist  jedoch 
Thatsache,  dass  sich  der  Betreffende  leichter  acclimatisiren  und  leichter 
und  nach  kürzerem  Aufenthalte  als  sonst  die  Immunität  erwerben  kann. 
Das  Geschlecht  und  Alter  betreffend,  werden  Männer  im  bestem  Mannesalter 
von  Gelbfieber  heimgesucht.  Während  der  Epidemie  in  Lissabon  vom  Jahre 
1857    kamen    auf    5161  Kranke,    die    an    Gelbfieber    erkrankt    waren,    4043 


752  '  GELBFIEBER. 

männliche  und  1118  weibliche  Kranke.  Greise,  noch  eher  Kinder  zeigen 
eine  geringere  Disposition.  Nicht  ohne  Einfluss  bleibt  das  jeweilige  Gewerbe 
der  Individuen.  Im  Allgemeinen  pflegen  Leute,  die  sich  der  Hitze  aussetzen 
müssen  (Bäcker,  Köche,  Schlosser,  Schmiede)  eher  von  der  Krankheit  befallen 
zu  werden,  als  solche,  die  in  Folge  ihres  Gewerbes  fortwährend  in  staubiger 
Luft  leben  müssen  (Lohgerber,  Seifensieder,  Metzger,  Strassenreiniger,  Leder- 
arbeiter u.  A.). 

Dass  die  klimatisclien  und  terrestrischen  Verhältnisse  auf  die  Entwicklung  und  Wei- 
terverbreitung  einen  grösseren  Einfluss  haben,  als  die  individuellen  Dispositionen,  zeigt 
die  Gelbfieber-Epidemie  in  Barcelonette  vom  Jahre  1821.  Daselbst  wohnen  die  wohl- 
habenderen Leute  in  der  Nähe  des  Hafens,  während  die  ärmere  Bevölkerung  weiter  entfernt 
von  demselben  wohnt.  Es  zeigte  sich  nun,  dass  die  Epidemie  gerade  vom  Viertel  der 
"Wohlhabenden  ihren  Anfang  genommen  und  sich  von  da  aus  weiter  verbreitet  hat. 

Krankheitsverlauf  und  Symptome.     Es  wäre  zu  gezwungen  und 
ohne  jeden  praktischen  Nutzen,  wollte  man  nach  dem  Verlauf  des  Gelbfiebers 
verschiedene  Formen    annehmen    {inflammatorische  und  congestive  Form    nach 
La  Roche,    eine   leichte,    schwere    und  Mittelform  nach  Alvaeenga).     Wohl 
aber  lässt  sich  eine  schwerere  und  leichtere  Form  des  Gelbfiebers  —  vv^ie 
bei  jeder  anderen  Infectionskrankheit   —  annehmen.     Wir  unterscheiden   ein 
Incubationsstadium,   ein  Prodromalstadium    und   das    eigentliche    Krankheits- 
stadium.    Sehr  schwankend  sind  die  Angaben,  die  Incubation  betreffend.     Es 
existiren    Mittheilungen   über    ein   Prodromalstadium    von     einigen    wenigen 
Stunden  bis  zu  mehreren  Monaten;  in   der  Ptegel  kann  man  die  Incubation, 
die   Zeit   von    der   Infection   mit   dem  Gelbfiebergifte  bis  zum  Ausbruch  der 
Symptome,    auf    1 — 3    Tage    ansetzen.     Das  Prodromalstadium    kennzeichnet 
sich  durch  allgemeines  Unbehagen,  Appetitlosigkeit,  Kopfschmerzen  (Schläfen- 
gegend),   Gliederschmerzen,    Symptome,    die    fast  jede    infectiöse   Krankheit 
einleiten.    Die  eigentliche  Krankheit   beginnt   plötzlich  und   lässt  sich  in    3 
Stadien   theilen:   1.    Das    Fieberstadium    (3 — 4    Tage),    2.    Stadium   der  Re- 
mission  (mehrere   Stunden  bis    1    Tag)    und   3.   Stadium   der  Blutdissolution 
(1^3   Tage).     Waren  schon    die   Prodromalsymptome    gar  nicht  kennzeich- 
nend für  Gelbfieber,  so  ist  es    ebensowenig   das   Fieberstadium,  welches    auf 
die  Diagnose    „Gelbfieber"   führen  kann.  Es  lässt  sich  in  diesem  Stadium   — 
namentlich   am    1.   Tage  —  höchstens  die  Diagnose  einer  acuten   Infections- 
krankheit stellen.     Die  Krankheit  beginnt  mit  einem  einzigen  oder  mit  meh- 
reren kurz  aufeinander  folgenden  Schüttelfrösten,  die  Temperatur  erreicht  nach 
einigen  Stunden  eine  Höhe  von  39",  der  Betreffende  fühlt  sich  schwer  krank; 
das  Gesicht  ist  geröthet,  das   Auge  zeigt  einen    eigenthümlichen    Glanz,    der 
Kranke  verbreitet  einen  charakteristisch  aashaften  Geruch,  welcher  nach  Stone 
schon  längere  Zeit  vor  Ausbruch  der  Krankheit   und   nach   Dunlop   noch  8 
Tage  nach  Ablauf  der  Krankheit  an  den  Kleidern  wahrnehmbar  war;  die  Zunge 
ist  geschwollen,  grau  belegt,  an  den  Rändern   mit  Zahneindrücken  versehen, 
es  besteht  lebhafte   entzündliche   Injection    des  Pharynx   mit   nachfolgendem 
Oedem,  das  Zahnfleisch  ist  gelockert,  blutet   leicht,   "die    Magengegend  weist 
hochgradige   Empfindlichkeit   auf,    es    besteht    gewöhnlich    Stuhlverstopfung, 
selten  Diarrhoe;  häufig  stellen  sich  Schmerzen  in  der  Nierengegend  ein.  Der 
Harn  enthält  Eiweiss,  wird  immer  spärlicher  und  es  kann  sogar  zur  völligen 
Anurie  kommen.     Die  Temperatur  ist  inzwischen  gestiegen  und  erreicht  eine 
Höhe  von  40 — 40-5°  C,  ebenso  steigern  sich  die  anderen  Erscheinungen  und 
erreichen  am  3.  oder  4.  Tage  ihr  Maximum.     Manchmal  beobachtet  man  zu 
Ende  des   1.  oder    2.  Stadiums  die    charakteristische    Gelbfärbung   der   Haut 
und   der    Sclera,    der  Harn   zeigt  die  Gallenfarbstoöreaction,   selten   gesellen 
sich  sogar  zu  dieser  Zeit  den  erwähnten  Symptomen  noch  blutiges  Erbrechen 
hinzu,    was   als  ein    Signum  pessimi    ominis    aufzufassen   ist   —   gewöhnlich 
gehen    auch    die  Betreffenden   in    dieser   Zeit   zu    Grunde.     Im    2.    Stadium 
(Remissionsstadium)  stellt  sich  bei  fiebernden  Kranken  kritischer  Abfall  der 


GELBFIEBER.  753 

Temperatur  mit  reichlichem  Schweissausbruch  ein,  die  Patienten  fühlen  sich 
wohler  und  häufig  kann  sich  daran  vollständige  Genesung  anschliessen,  nach- 
dem sich  natürlich  auch  alle  anderen  Symptome  wesentlich  gebessert  haben. 
Sehr  selten  kann  dieses  2.  Stadium  ganz  fehlen,  so  dass  sich  das  3.  Sta- 
dium direct  dem  1.  anschliesst.  Häufig  folgt  dem  schweren  3.  Stadium 
das  2.  und  macht  alle  Hoffnungen  auf  Besserung  zu  nichte.  Es  ist  dies 
das  Stadium  der  Blutdissolution  oder  des  Collapses,  welches  die  aller- 
grössten  Gefahren  mit  sich  bringt  und  eine  Durchschnittsdauer  von  1 — 3 
Tagen  besitzt.  Es  heisst  auch  „Stadium  der  Gelbsucht,"  weil  in  diesem  der 
bereits  bestandene  Icterus  unverhältnismässig  stark  zunimmt,  ebenso  nimmt 
die  Harnmenge  bedeutend  ab  bis  zur  vollständigen  Anurie,  der  Gehalt  an  Gallen- 
farbstoff hingegen  zu.  Zu  den  charakteristischesten  Symptomen  dieses  Stadiums 
gehören  die  Blutungen,  die  unter  der  Haut,  aus  der  Nase,  aus  Mund-  und  Rachen- 
höhle, aus  den  Harnwegen,  Geschlechtstheilen,  vorzüglich  aber  aus  dem  Magen 
stammen,  welch'  letzteres  als  das  sogenannte  „schwarze  Erbrechen"  so  sehr 
gefürchtet  wird  und  der  Krankheit  den  Namen  ,,  Black  VomW  gegeben  hat. 
Die  erbrochenen  Massen  sehen  russartig  aus  und  enthalten:  Epithelzellen, 
Speisereste,  rothe  Blutzellen,  Pilze  (Gipps).  Die  Temperatur,  die  im  2.  Sta- 
dium zurückgegangen,  steigt  rasch  an  bis  40°,  der  Puls  ist  unregelmässig  und 
vor  dem  Exitus  klein,  fadenförmig.  Das  Sensorium  ist  frei;  manche  Kranke 
liegen  ganz  apathisch  mit  collabirtem  Gesicht  da,  andere  äussern  furibunde 
Delirien,  unter  denen  sie  häufig  zu  Grunde  gehen,  wieder  andere  haben  gar 
keine  Ahnung  von  ihrem  Zustande,  stehen  in  unbewachtem  Momente  auf,  um 
ihrer  Beschäftigung  nachzugehen  und  fallen  todt  nieder. 

Am  häufigsten  schliesst  dieses  Stadium  mit  dem  Tode  ab,  der  unter 
den  verschiedensten  oben  erwähnten  Umständen  (Delirien,  Urämie,  Apathie 
etc.)  eintreten  kann.  Häufig  wird  vor  dem  Tode  ein  Temperaturabfall  auf  38" 
beobachtet.  Nur  ein  geringer  Theil  geht  in  Genesung  über.  Die  Reconvalescenz, 
während  welcher  sich  hie  und  da  Parotitiden,  Furunkelbildung,  Myositis, 
Gangraen  der  Zehen  u.  s.  w.  als  Nachkrankheiten  einstellen,  dauert  längere 
Zeit,  besonders  lange  bleibt  die  Empfindlichkeit  des  Magens  bestehen.  Diese 
Fälle,  bei  denen  das  Krankheitsbild  ein  derartiges  ist,  können  als  „schwere" 
aufgefasst  werden,  denen  die  „leichten"  oder  Abortivfälle  gegenüber  gestellt 
werden.  Der  Beginn  ist  auch  hier  ein  plötzlicher,  mit  Schüttelfrost,  jedoch 
fehlen  die  heftigen  Schmerzen,  fehlt  das  Erbrechen  und  häufig  sogar  die 
Gelbfärbung;  auch  hier  dauert  die  Pteconvalescenz  lange   Zeit. 

Pathologische  Anatomie:  Das  äussere  Colorit  der  Haut  und  sichtbaren  Schleim- 
häute ist  ein  ausgesprochen  icterisches,  ebenso  kann  man  Gelbfärbung  etwaiger  Trans-  und 
Exsudate,  sowie  von  Blutgerinnseln  wahrnehmen;  die  Todtenstarre  tritt  rasch  ein  und  ist 
hochgradig,  ferner  sind  Blutungen  an  verschiedenen  Stellen  (subcutanes  Zellgewebe,  Muskeln, 
Intestinaltract  u.  s.  w.)  nachzuweisen,  fettige  Degeneration,  Schlaffheit  des  Herzmuskels. 
Die  Schleimhäute  des  Intestinaltractes  zeigen  Zeichen  des  Katarrhs,  häufig  finden  sich  Ero- 
sionen, Geschwüre.  Die  Leber  ist  gelb,  fettig  degenerirt,  ähnlich  der  acuten  gelben  Leber- 
atrophie; Katarrh  der  Gallenwege  besteht  nicht,  die  Fäces  verlieren  nicht  ihre  gallige 
Färbung  und  es  können  keine  Gallensäuren  im  Blute  nachgewiesen  werden,  daher  ist  die 
Annahme  berechtigt,  dass  der  Icterus  hämatogener,  nicht  hepatogener  Natur  sei.  Viele 
Organe  befinden  sich  im  Zustande  venöser  Hyperämie,  flüssiges  oder  coagulirtes  Blut  ist 
immer  in  den  Ovarien  und  im  Uterus  anzutreffen.  Am  Gehirn  und  Päickenmark,  an  den 
Respirationsorganen  und  der  Milz  sind  keine  besonderen  Veränderungen  wahrzunehmen. 

Diagnose  und  Differentialdiagnose.  Zur  Zeit  einer  Gelbfieber-Epi- 
demie wird  es  wohl  kaum  schwer  sein,  mit  Berücksichtigung  der  Aetiologie, 
der  Face  und  der  geographischen  Verhältnisse,  die  richtige  Diagnose  „Gelb- 
fieber" zu  stellen;  umso  schwieriger  ist  aber  dieselbe  bei  sporadischen  Fällen, 
wo  es  sich  darum  handelt,  andere  Infectionskrankheiten,  mit  denen  das  Gelb- 
fieber verwechselt  werden  könnte,  auszuschliessen.  Es  kommen  da  folgende 
Krankheiten  in  Betracht: 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  4ö 


754  GELBFIEBER. 

1.  Schwere  Malaria  formen.  Differentialdiagnostiscli  wichtig  sind 
folgende  Momente:  die  Verschiedenheit  der  Widerstandsfähigkeit  und  der 
Verbreitungsweise  des  krank  machenden  Miasma;  bei  Malaria  ist  die 
Milz  stark  vergrössert,  bei  Gelbfieber  gar  nicht  verändert,  Malaria  geht  auf  Be- 
handlung mit  Chinin  ziu-ück,  Gelbfieber  nicht. 

2.  Phosphorvergiftung.  Hiebei  muss  die  Anamnese  genau  ermittelt 
werden  und,  wenn  dies  nicht  möglich  ist,  muss  der  Mageninhalt,  sowie  das 
Erbrochene  auf  Geruch  und  Gehalt  an  Phosphor  geprüft  werden. 

3.  Typhus  recurrens  und  biliöses  Typhoid.  Hiebei  ist  das 
Auffinden  von  Spirillen  im  Blute  charakteristisch,  ferner  ist  die  Milz  vergrössert. 

4.  Acute  gelbe  Leberatrophie.  Dieser  Zustand  liesse  sich  am 
Anfang  noch  am  ehesten  mit  Gelbfieber  verwechseln,  jedoch  tritt  bei  ersterer 
nach  kurzer  Zeit  bedeutende  Verkleinerung  der  Leber  ein,  was  bei  Gelbfieber 
nicht  der  Fall  ist. 

Prognose.  Die  Prognose  muss  im  Allgemeinen  als  eine  schlechte  be- 
zeichnet werden.  Es  ist  dies  begründet  in  der  Neigung  der  Weissen  an  Gelb- 
fieber zu  erkranken,  in  der  leichten  Verschleppbarkeit  der  Krankheitserreger 
und  in  der  Schwere  der  Krankheitssymptome.  Die  Sterblichkeit  ist  am 
Beginne  einer  Epidemie  eine  grössere,  als  später;  in  den  leichtesten  Fällen 
beobachtet  man  eine  solche  von  1 5*^/0,  in  den  schwersten  von  75%-  Eine 
in  Europa  wüthende  Epidemie  verschont  wenige;  so  wurden  in  Sevilla  von 
80.000  Einwohnern  76.000,  und  in  Gibraltar  von  9000  Einwohnern  782 
von  der  Krankheit  ergriffen.  Soll  in  einem  speciellen  Falle  die  Prognose 
gestellt  werden,  so  ist  dieselbe  von  mehreren  Momenten  abhängig:  arme, 
schlecht  genährte,  in  unsauberen  Wohnungen  wohnende  Kranke,  ebenso  Alko- 
holiker werden  zur  Stellung  einer  schlechteren  Prognose  Anlass  geben,  als 
Kranke,  die  bequem  in  guter  Luft  sich  befinden  und  kräftig  genährt  werden 
können.  Die  Erscheinungen  des  sogenannten  schwarzen  Erbrechens,  ebenso 
Blutaustritte  und  aashafte  Ausdünstungen  geben  gewiss  eine  schlechte  Prog- 
nose mit  sicher  zu  erwartendem  Exitus  letalis.  Endlich  muss  noch  nach 
Ballt  der  Eiweissgehalt  des  Harnes  während  des  2.  Stadiums  in  Betracht 
gezogen  werden.  Ist  die  Albuminurie  in  Abnahme  begriffen,  so  ist  eine  Besse- 
rung des  Zustandes,  ist  sie  ganz  geschwunden,  sogar  völlige  Heilung  zu  er- 
warten. Nimmt  jedoch  der  Eiweissgehalt  zu,  so  ist  die  Vorhersage  sehr 
schlecht,  der  Exitus  steht  bevor.  Alvaeenga  ist  derselben  Ansicht,  jedoch 
stellte  er  seine  diesbezüglichen  Beobachtungen  im  3.  Stadium  an. 

Therapie:  Dieselbe  scheidet  sich  in  eine  p  r  0 p  h y  1  a  c  t  i  s  ch e  und  s y  m  p- 
tomatische.  Die  erstere  ist  verschieden,  je  nach  den  Gegenden,  wo  das 
Gelbfieber  endemisch  oder  epidemisch  durch  Einschleppung  des  Giftes  vorkommt. 
In  den  ersteren  ist  es  die  Aufgabe  des  Staates  Polizeiorgane  die  Aufsicht  über 
Pteinlichkeit  und  Wegschaff'ung  der  das  Gelbfieber  begünstigenden  Elemente  hand- 
haben zu  lassen,  für  die  letzteren  ist  die  Anordnung  einer  1 — 3-wöclientlichen 
Quarantaine  unumgänglich  nothwendig.  Während  derselben  muss  eine  gründ- 
liche Desinfection  der  Schiffe  mit  Carbolsäure  vorgenommen  werden,  gleich- 
giltig,  ob  auf  denselben  Krankheitsfälle  vorkommen  oder  nicht.  Ist  ersteres 
der  Fall,  so  müssen  die  Kranken  sofort  desinficirt  und  ans  Land  in  eigene 
Lazarethe  gebracht  werden,  denn  nur  dadurch  ist  die  Gefahr  der  Weiter- 
entwicklung des  Giftes  ausgeschlossen.  Die  Prophylaxe  für  diejenigen  Menschen, 
die  sich  mitten  in  einer  Epidemie  befinden,  besteht  darin,  dass  sie  sich  ent- 
weder in  nahe  gelegene  gebirgige  Gegenden  flüchten,  oder,  wenn  dies  nicht 
möglich,  wenigstens  alle  das  Gelbfieber  begünstigenden  Momente  meiden.  Von 
prophylactischen  Medicamenten  sind  angegeben  das  Chinin  (Cummins)  und  das 
Quecksilber  (Walker.) 


GELENKRHEUMATISMUS.  755 

In  neuerer  Zeit  hat  Domingo  Freire  in  Rio- Janeiro  Schutzimpfungen  empfohlen, 
indem  er  meint,  dass  er  dadurch  die  Leute  gegen  das  Gelbfiebergift  immun  mache.  Er 
injicirt  Meerschweinchen  das  Blut  von  an  Gelbfieber  erkrankten  Personen,  und  überimpft 
dasselbe  von  einem  Thier  auf  ein  anderes  bis  zum  7.  Thier.  Aus  dem  Blute  des  letzteren 
stellt  er  nun  Reinculturen  des  von  ihm  gefundenen  Mikroorganismus  an  und  mit  diesen 
nimmt  er  Impfungen  vor.  Die  Culturflüssigkeit  wird  in  4 — 8  g  fassenden,  sterilisirten,  luftdicht 
verschlossenen  R,öhrchen  aufbewahrt  und  2 — 15  Tropfen  je  nach  dem  Alter  der  zu  Impfenden 
subcutan  injicirt.  Nach  der  Impfung  stellen  sich  Symptome  ein,  die  denen  des  gelben  Fiebers 
gleichen:  Kopf-,  Gliederschmerzen,  Temperattirsteigerung,  Uebelkeit,  Erbrechen,  die  aber 
nach  48  Stunden  wieder  schwinden.  Nach  seinen  Zusammenstellungen  beträgt  die  Durch- 
schnittzahl der  Todesfälle  bei  Geimpften  kaum  vier  Zehntel  (von  6942  geimpften  Personen 
starben  nur  15),  trotzdem  unter  diesen  sich  solche  befanden,  die  sehr  empfänglich  für  das 
Gelbfiebergift  gelten  mussten;  es  waren  nämlich  hauptsächlich  neu  in  Rio-Janeiro  Einge- 
wanderte, die  in  schmutzigen  Vierteln  wohnten. 

Um  der  Causa  morbi,  den  Mikroorganismen,  beizukommen,  wurde 
die  Behandlung  mit  Antiparasiticis  {Aciclum  carholicum,  Äcidiim  henzoiciim 
Acidum  salicylicum)  vorgeschlagen;  doch  äussern  sich  die  diesbezüglichen  Mit- 
theilungen über  die  Erfolge  dieser  Behandlung  sehr  zweifelhaft.  Schönlein 
empfielt  das  Ozon  und  Gibife  (New-York)  fand  durch  Experimente,  dass 
Ozon  und  Wasserstoffsuperoxyd  tödtend  auf  den  Gelbfieber-Mikroorga- 
nismus wirken  und  empfiehlt  namentlich  das  letztere  wegen  seiner  geringen 
toxischen  Eigenschaften  für  die  Praxis.  Domingo  Freiee  befürwortet  die  subcu- 
tane  Injection  von  scüicylsaurem  Natron,  Nägeli  die  Anwendung  von  Kairin. 

Was  die  symptomatische  Behandlung  anlangt,  so  darf  man  nicht 
schablonenmässig  vorgehen,  sondern  streng  individualisiren.  Die  Behandlung  wird 
mit  der  Darreichung  von  Oleum  Ricini  und  Calomel  eingeleitet,  um  die  gewöhnlich 
bestehende  Stuhlverstopfung  zu  heben;  gegen  die  heftigen  Kreuzschmerzen 
kommen  trockene  Schröpfköpfe  oder  auch  Vesicantia  zur  Anwendung,  bei  be- 
stehenden Kopfschmerzen  kühle  Waschungen  oder  Ueberschläge,  bei  starkem 
Erbrechen  und  Magenschmerzen  eignet  sich  MorpMuminjection  ins  Epigastrium, 
Verschlucken  von  Eispillen  (Cocain  innerlich,  James  Thoeingthon),  bei  co- 
piösen  Blutungen  Eis  innerlich  oder  in  Form  von  Compressen  in  der  Magen- 
gegend, Styptica,  bei  bestehendem  Collaps  Excitantia;  endlich  wäre  noch  eine 
Transfusion  zu  versuchen  in  der  Absicht,  das  Gelbfiebergift  abzuschwächen. 
Bei  all'  diesem  medicamentösen  Verfahren  muss  man  aber  darauf  bedacht 
sein,  die  Kräfte  der  Patienten  zu  erhalten.  Wenn  der  Magen  wieder  Nahrung 
aufnehmen  kann,  wird  eine  leichte,  kräftige  Diät  verordnet,  daneben  Wein, 
Chinin,  Eisen.  n.  e. 

Gelenkrheumatismus.  (Polyarthritis  rheumatica)  muss  zu  den  In- 
fectionskrankheiten  gerechnet  werden,  wenngleich  der  Träger  der  Infection 
noch  nicht  mit  hinlänglicher  Sicherheit  bekannt  ist. 

Aetiologie  und  Wesen  der  Krankheit.  Mikrococcen  und  Bacillen, 
die  KiLSON,  Peteone  und  Mentle  im  Blute  und  in  der  Gelenkflüssigkeit  beim 
acuten  sowohl  wie  beim  chronischen  Rheumatismus  fanden,  können  bis  auf 
weitere  Beweise  weder  als  specifisch  noch  als  Erreger  der  Krankheit  angesehen, 
und  die  Gründe  für  die  infectiöse  Natur  des  Rheumatismus  müssen  vor  der 
Hand  wesentlich  aus  der  klinischen  Erscheinungsform  geschöpft  werden.  In 
der  That  verläuft  er  durchaus  unter  dem  Bilde  einer  echten  Infectionskrank- 
heit.  Aetiologisch  scheint  auf  den  ersten  Blick  die  von  Alters  her  bekannte 
und  auch  heute  noch  bei  strengster  Kritik  als  giltig  anzusehende  Erfahrung, 
dass  in  der  Mehrzahl  (^/g — ^j^)  der  Fälle  eine  Erkältung  dem  Ausbruch  der 
Krankheit  vorangeht  und  also  doch  wohl  in  einen  ursächlichen  Zusammenhang 
mit  ihr  zu  bringen  ist,  nicht  zu  dieser  Anschauung  zu  passen.  Wir  verstehen 
dabei  unter  Erkältung  den  Vorgang,  bei  welchem  die  schwitzende  oder  doch 
wenigstens  mehr  als  gewöhnlich  perspirirende  Haut  eine  plötzliche  Abküh- 
lung erfährt  und  dadurch  die  Schweissecretion  unterdrückt  wird.  Nur  muss 
der  Schweiss,  dessen  Unterdrückung  Rheumatismus  bringen  soll,  durch  Muskel- 

48* 


756  GELENKRHEUMATISMUS. 

arbeit,  starke  körperliche  Anstrengung,  nicht  durch  Zuführung  äusserer  Wärme 
hervorgerufen  sein.  Es  liegt  nahe,  bei  diesem  Vorgang  an  die  Ketention  ge- 
wisser, sonst  mit  dem  Schweisse  ausgeschiedener  Stoffe  zu  denken  und  eine 
Zeitlang  glaubte  man  in  der  Milchsäure  den  Stoff  gefunden  zu  haben,  dessen 
Ketention  ganz  specifisch  Eheumatismus  acutus  erzeuge. 

RiCHARDSON  war  es  gelungen  durch  Injection  von  Milchsäure  bei  Thieren  gewisse 
Erscheinungen  des  Rheumatismus  experimentell  zu  erzeugen.  Freilich  war  es  kein  echter 
Gelenkrheumatismus,  aber  da  dieser  bei  den  benutzten  Thierspecies  spontan  nicht  vor- 
kommt (wie  überhaupt  nicht  bei  Thieren),  wäre  am  Ende  über  diesen  Einwand  hinweg- 
zukommen. Es  wurden  Fälle  bekannt  (Foster,  Külz),  in  denen  bei  Menschen  nach  reich- 
lichen Milchsäuregaben  Rheumatismus  acutus  auftrat.  So  schienen  diese  Beobachtungen 
wohl  geeignet,  die  Genese  des  Rheumatismus,  aus  Erkältung  der  Erklärung  näher  zu  führen 
und  in  vielem  Betracht  war  diese  Theorie  so  verlockend,  dass  auch  die  gegentheiligen  Re- 
sultate der  Versuche  von  Möller  und  Reiher,  die  durch  Milchsäure  keine  Endocarditis 
erzeugen  konnten  und  der  Mangel  des  Nachweises  von  Milchsäure  im  Schweisse  sie  nicht 
vollständig  beseitigen  konnte.  Man  kann  sich  vorstellen,  dass  wenn  nach  starker  körper- 
licher Arbeit  —  bei  der  die  Muskeln  bekanntlich  Milchsäure  produciren  —  der  Schweiss 
durch  Erkältung  unterdrückt  wird,  dadurch  Gelegenheit  gegeben  ist  zur  Retention  oder 
Wiederaufsaugung  der  Milchsäure,  die  im  Begriff  war  durch  den  Schweiss  ausgeschieden  zu 
werden.  Darnach  würde  der  Rheumatismus  als  Autointoxication  aufzufassen,  als  eigent- 
liche Noxe    die    im  Körper  selbst  producirte  Milchsäure  zu  betrachten  sein. 

Dem  gegenüber  sprechen  mancherlei  Gründe  dafür,  dass  das  Rheuma- 
tismusgift ausserhalb  des  Körpers,  u.  zw.  in  den  Wohnräumen,  viel- 
leicht im  Boden  sich  findet  und  von  daher  in  den  Körper  gelangt.  Man  findet 
nämlich,  dass  die  Bewohner  bestimmter  Häuser,  resp.  Häusergruppen  in  auf- 
fälliger Häufigkeit  vom  Rheumatismus  heimgesucht  werden;  auch  wechselnde 
Bewohner,  denen  Nichts  gemeinsam  ist  als  die  nacheinander  bezogene  Woh- 
nung und  bei  denen  sich  keines  der  sonst  für  die  Krankheit  ätiologisch  ver- 
antwortlich zu  machenden  Momente  nachweisen  lässt.  So  kann  man  in  der 
That  von  Rheumatismushäusern  sprechen  wie  von  Pneumoniehäusern.  Fälle 
wie  der  von  Edlefsen  mitgetheilte,  in  dem  ein  weit  über  das  für  Rheumatis- 
mus disponirende  Alter  hinaus  Bejahrter,  von  Auswärts  in  ein  solches  Rheu- 
matismushaus zugezogen,  alsbald  die  Krankheit  acquirirte,  legen  die  Deutung 
sehr  nahe,  dass  der  Keim  derselben  in  der  Wohnung  zu  suchen  sei.  Da  nun 
auch  —  noch  ausserhalb  des  gehäuften  Vorkommens  von  Rheumatismusfällen 
unter  bestimmten  Witterungsverhältnissen  von  epidemieartigem  Auftreten  der 
Krankheit  hier  und  da,  wenn  auch  selten  berichtet  wird,  dagegen  gar  keine 
Thatsachen  bekannt  sind,  die  auf  eine  Uebertragung  von  Person  zu  Person 
oder  durch  Zwischenträger  hinweisen,  so  muss  man  das  nach  obiger  Anschau- 
ung statuirte  Rheumatismusgift  als  ein  miasmatisches  ansprechen,  das  sich  im 
Innern  des  Körpers  nicht  reproducirt  und  von  Aussen  in  denselben  aufgenom- 
men wird.  Auf  welchem  W^ege  dies  geschieht,  darüber  gibt  es  noch  nicht 
einmal  Vermuthungen.  Die  ganze  Frage  ist  noch  nicht  spruchreif,  umso- 
weniger  als  selbst  die  grundlegenden  Berichte  über  das  gehäufte  Vorkommen 
der  Rheumatismen  in  einzelnen  Localitäten  nicht  ganz  einwandfrei  dastehen. 

Ueber  den  inneren  Zusammenhang  der  Symptome  mit  der  Noxe  ist  weder 
in  dem  einen  noch  in  dem  anderen  Falle  etwas  auszusagen.  Der  Annahme, 
dass  die  Noxe  in  die  allgemeine  Säftemasse  übergehe,  resp.  mit  dem  Blute 
circulire,  steht  der  Umstand  nicht  entgegen,  dass  die  Erscheinungen  der  Krank- 
heit wesentlich  an  bestimmten  Stellen  des  Körpers  (den  Gelenken  und  den 
serösen  Häuten)  localisirt  auftreten.  Denn  dafür  finden  sich  Analogien  genug 
in  der  Pathologie.  Das  Scharlach-  wie  das  Syphilisgift,  der  Typhusbacillus 
wie  das  Blei  und  der  Alkohol  u.  s.  w.,  circuliren  auch  im  ganzen  Blute 
und  machen  doch  nur  an  bestimmten  Organen  und  Prädilectionsstellen  ihre 
Angriffe.  Wir  müssen  dafür  bestimmte  biologische,  chemische  oder  me- 
chanische Gründe  voraussetzen,  die  freilich  noch  unbekannt  sind.  Indes  ist 
doch  in  allen  diesen  Fällen  wenigstens  der  Nachweis  erbracht,  dass  die  Noxe 
in  den  ergriffenen  Organen  vorhanden  ist,  während  dieser  Nachweis  für  dea 


GELENKRHEUMATISMUS.  757 

Eheumatisnius  noch  aussteht,  und  ausstehen  muss,  so  lange  über  die  Noxe 
selbst  nichts  Genaueres  bekannt  ist.  Eine  andere  schon  von  Canstatt  und 
Fkoriep  angedeutete,  neuerdings  von  Friedländer  weiter  ausgebaute  An- 
schauung verlegt  den  Angriffspunkt  der  Noxe  in  das  Centralnervensystem  und 
zwar  speciell  in  die  Medulla  oblongata  in  die  Gegend  der  Vagus-Glossopharyn- 
geuskerne  und  will  demgemäss  die  Gelenkaffection  beim  acuten  Gelenkrheu- 
matismus als  Gelenkneurose  aufgefasst  wissen.  Es  wird  ein  besonderes  Gelenk- 
nervencentrum  dafür  angenommen,  dessen  Existenz  aber  sonst  nicht  weiter 
nachgewiesen  ist.  Da  die  ersten  Erscheinungen  an  den  Gelenken  allerdings 
einfache  Hyperämien  sind  und  nicht  den  Namen  einer  Entzündung  verdienen, 
können  sie  leicht  auf  Nerveneinflüsse  zurückgeführt  werden.  Später  folgen 
aber  echte  Entzündungen,  selbst  Eiterungen  und  ob  man  diese  schlankweg  aut 
den  Hinzutritt  einer  neuen  Noxe  (Eitercoccen  u.  s.  f.)  zurückführen  darf, 
bleibe  dahingestellt. 

Was  man  über  das  Vorkommen  der  uns  beschäftigenden  Krankheit  weiss,  entzieht 
sich  wie  immer  jeder  ätiologischen  Deutung.  Sie  findet  sich  in  allen  Klimaten  —  mit  Aus- 
nahme etwa  der  frei  bleibenden  Polargegenden  —  gleichmässig  verbreitet.  Ob  sie  das  ge- 
mässigte Klima  mit  seinen  Winden  und  seinem  Witterungswechsel  bevorzugt,  ist  mindestens 
noch  nicht  bewiesen.  Berufsarten,  die  einerseits  starke  körperliche  Arbeit  und  Schweiss 
begünstigen,  andererseits  Gelegenheit  zu  Abkühlungen  bieten,  scheinen  mehr  ausgesetzt, 
doch  fehlt  sie  keineswegs  ganz  bei  Stubenhockern.  Ob  eine  bestiminte  Jahreszeit  ihr  Auf- 
treten begünstige,  lässt  sich  nach  den  vorliegenden  Statistiken  nicht  mit  Bestimmtheit  sagen. 
Vielfach  wird  hervorgehoben,  dass  trockene  Witterung  mehr  Rheumatismen  bringe,  anderer- 
seits scheint  der  Frühling  und  der  Wintersanfang  besonders  gefährdet.  Edlefsen  und  Andere 
finden,  dass  die  Häufigkeit  der  Rheumatismusfälle  den  Niederschlagsmengen  umgekehrt 
proportional  ist;  wenn  die  letzteren  steigen,  sinkt  die  erstere  und  umgekehrt.  Ein  Einfluss 
der  Temperatur,  weder  der  hohen  oder  niederen  Mitteltemperatur  noch  der  Temperatur- 
schwankungen, lässt  sich  nicht  nachweisen. 

Männliches  und  weibliches  Geschlecht  zeigen  keine  merkliche  Verschiedenheit  in  der 
Neigung  zu  Rheumatismus.  Sehr  entschieden  ist  dagegen  seine  Bevorzugung  des  jugendlichen 
Alters.  13is  zum  zweiten  Lebensjahre  tritt  er  äusserst  selten  auf;  als  ganz  besondere  Ausnahmen 
müssen  die  Fälle  von  Pocogk  und  Schäfer  gelten,  die  Kinder  mit  allen  Erscheinungen  des 
acuten  Gelenkrheumatismus  geboren  werden  sahen,  wobei  die  Erfolge  der  Salicyltherapie 
die  Diagnose  bestätigten.  Mit  fortschreitendem  Alter  kommt  der  Rheumatismus  immer  häufiger 
vor,  hauptsächlich  aber  trifft  er  Individuen  im  Jünglingsalter  zwischen  15  und  30  Jahren. 
Jenseits  der  Dreissig  wird  die  Zahl  der  Erkrankungen  schon  merkbar  geringer  und  jenseits 
der  Sechzig  erscheint  sie  wiederum  als  Seltenheit. 

Durch  das  einmalige  Ueberstehen  der  Krankheit  wächst  die 
Disposition,  so  dass  im  Gegensatz  zu  vielen  anderen  Infectionskrankheiten, 
wer  einmal  am  acuten  Gelenkrheumatismus  erkrankt  war,  viel  mehr  Wahr- 
scheinlichkeit hat,  abermals  daran  zu  erkranken  als  ein  Freigebliebener.  Die 
späteren  Anfälle  pflegen  allmälig  weniger  acut  zu  werden,  bis  schliesslich 
die  ganze  Affection  in  die  chronische  Form  übergeht.  Ganz  besonders  sind 
den  Wiederholungen  jene  ausgesetzt,  die  eine  Herzaffection  zurückbehalten 
haben. 

Vielfach  stellt  sich  der  acute  Gelenkrheumatismus  als  Folge-,  resp. 
Nachkrankheit  ein.  Besonders  häufig  nach  Scharlach,  so  dass  man  in  der 
That  einen  vorläufig  noch  gänzlich  unbekannten  Zusammenhang  zwischen 
Rheumatismus-  und  Scharlachgift  anzunehmen  sich  veranlasst  sehen  kann. 
Die  Häufigkeit  dieser  Complication  ist  in  verschiedenen  Scharlachepidemien 
verschieden,  es  gibt  deren,  wo  mehr  als  die  Hälfte  der  Fälle  dem  Rheuma- 
tismus verfällt,  während  andere  ganz  ohne  ihn  verlaufen.  Der  Scharlach- 
rheumatismus tritt  der  Regel  nach  in  der  Abschuppungsperiode  auf;  durchaus 
nicht  blos  nach  schweren  Fällen,  oft  nach  latentem  Scharlach,  verläuft  meist 
mild  und  auf  wenige  Gelenke  beschränkt,  unter  denen  im  Gegensatz  zum  ge- 
ineinen  Rheumatismus  das  Handgelenk  obenan  steht,  documentirt  aber  doch 
hier  und  da  durch  Hinzutreten  von  Herzcomplicationen  seine  Zugehörigkeit 
zum  echten  Rheumatismus.    Wahrscheinlich  liegen  Mischinfectionen  vor,  wie 


758  GELENKRHEUMATISMUS. 

denn  auch  Edlefsen  den  Scharlach  in  Rheumatismushäusern  besonders  häufig 
auftreten  sah, 

Aehnlicli  verhält  es  sich  mit  dem  an  Häufigkeit  zunächst  stehenden  Auftreten  des 
Rheumatismus  im  Puerperium.  Nur  hat  man  sich  hier  vor  der  diagnostischen 
Verwechslung  mit  pyämischen  Grelenkaffectionen  zu  hüten.  Auch  Ruhr,  Angina,  Diphtheritis, 
Typhus  können  Rheumatismus  im  Gefolge  haben.  Der  Versuch  Bertholo:ns  aber,  auch  die  Malaria 
zur  Veranlassung  desselben   zu  stempeln,   muss   als  missglückt  betrachtet  werden. 

Die  gonorrhoische  Gelenkentzündung  darf  man  nicht  zum  Rheu- 
matismus acutus  rechnen,  nachdem  sich  im  Eiter  der  befallenen  Gelenke 
Gonococcen  gefunden  haben.  Sie  kann  allerdings  in  seltenen  Fällen  eine  dem 
wahren  Rheumatismus  sehr  ähnliche  polyarticuläre  Form  annehmen  und  alle 
Erscheinungen  desselben,  inclusive  der  Herzaffectionen,  darbieten;  meist  aber 
beschränkt  sie  sich  auf  ein  Gelenk,  am  häufigsten  das  Kniegelenk,  ist  viel 
stabiler  als  die  typische  Rheumatismusaffection,  setzt  viel  reichlicheres  flüssiges 
Gelenkexsudat  und  ist  viel  häufiger  von  Eiterungen  und  langwierigen  Gelenk- 
affectionen  gefolgt.  Manchmal  kann  fraglich  sein,  ob  ein  ursächlicher  Zu- 
sammenhang zwischen  Gonorrhoe  und  Gelenkaffection  vorliegt,  oder  ob  nicht 
vielmehr  zufällig  der  Gelenkrheumatismus  ein  tripperkrankes  Individuum  be- 
fallen hat.  Je  mehr  man  der  Ansicht  von  der  grossen  Verbreitung  und  der 
Hartnäckigkeit  der  Gonorrhoeen  zuzustimmen  geneigt  ist,  desto  eher  wird  man 
an  ein  solch'  zufälliges  Zusammentreffen  glauben.  Auch  die  Diagnose  ex  ju- 
vantibus  lässt  im  Stich  da,  wenn  auch  nicht  der  Regel  nach  doch  hier  und 
da  echte  Tripperrheumatismen  (mit  Gonococcen  in  den  Gelenken)  dem  Salicyl 
weichen. 

Symptome.  Im  Mittelpunkt  der  Erscheinungen  beim  acuten  Gelenk- 
rheumatismus steht  die  Gelenkaffection.  Für  das  einzelne  Gelenk  ist  sie 
gekennzeichnet  durch  Schmerz,  Schwellung  und  Röthung.  Der  Schmerz  ist 
kein  ganz  fixer,  er  ist  gering  oder  Null  bei  absoluter  Ruhe,  erreicht  aber 
enorm  hohe  Grade  bei  Druck  oder  bei  Bewegungen.  Die  Erfahrung  lehrt  dies 
dem  Kranken  und  die  Stärke  der  Schmerzen  wird  am  Besten  gekennzeichnet 
durch  die  bei  jedem  irgendwie  beträchtlichen  Gelenkrheumatismus  sich  wieder- 
holende Erscheinung,  dass  die  Kranken  schon  bei  dem  Gedanken  an  die  Mög- 
lichkeit einer  Berührung  oder  gar  Bewegung  in  die  äusserste  Angst  gerathen 
und  schreiend  abwehren.  Der  Druck  der  leichtesten  Bedeckung,  der  Zug  durch 
die  Schwere  des  Gliedes  selbst,  werden  unerträglich.  Der  Charakter  der 
Schmerzen  ist  ein  brennender,  schneidender,  weniger  drückender,  bei  voll- 
ständiger Ruhe  nur  ein  leises  Gefühl  der  Spannung  und  Hitze,  immer  aber 
vergesellschaftet  mit  der  ängstlichen  Erwartung  einer  Exacerbation.  Unter 
diesen  Umständen  sucht  der  Kranke  instinctiv  das  befallene  Gelenk  festzu- 
stellen und  spannt  zu  diesem  Zwecke  die  Muskeln,  Agonisten  und  Antago- 
nisten gleichzeitig,  oder  auch  nur  einzelne  Gruppen,  je  nachdem  bei  einer 
oder  der  anderen  Lage  der  Druck  innerhalb  des  Gelenkes  oder  an  einzelnen 
besonders  afificirten  Stellen  desselben  am  Geringsten  ist.  So  kommt  es  zu 
gewissen  typischen  Stellungen.  Die  Zehen  werden  möglichst  gestreckt,  der 
Fuss  in  rechtwinkliger  Beuge  gehalten.  Die  Kniee  werden  leicht  gekrümmt, 
ebenso  die  Hand  und  namentlich  die  Finger,  letztere  dabei  leicht  gespreizt. 
Aus  der  Anatomie  der  Gelenke  lässt  sich  nachweisen,  dass  für  jedes  Gelenk 
diejenige  Lage  gesucht  und  festgehalten  wird,  bei  welcher  der  Druck  der 
Gelenkenden  auf  einander  am  Geringsten  ist  und  die  Sehnen  und  Bänder  die 
wenigste  Dehnung  erfahren.  Wenn  aber  die  Muskeln  in  constanter  Spannung 
diese  Stellung  bewahren,  so  ermüden  sie  und  es  kommt  zu  Zuckungen  ein- 
zelner Muskelbündel  und  Fibrillen,  die  ihrerseits  wieder  die  Ursache  neuer 
Schmerzanfälle  werden. 

Gleichzeitig  oder  wenigstens  nahezu  gleichzeitig  mit  dem  Eintreten  des 
Schmerzes  röthet  sich  die  das  Gelenk  umgebende  Haut:  eine  leichte,  rosen- 
rothe,  nicht  scharf  umschriebene,  meist  streifige,   den  Gefässen  folgende  Rö- 


GELENKRHEUMATISMUS.  759 

thung.  Wird  sie  dunkler,  etwa  gar  blauroth,  so  deutet  das  auf  tiefergehende 
Veränderungen  im  Gelenk  oder  allgemeine  Circulationsstörung.  Die  rothen 
Streifen  erstrecken  sich,  allmälig  verlaufend,  häufig  über  die  Gelenkgegend 
hinaus.  In  vielen  Fällen  fehlt  allerdings  die  Röthung  und  der  Regel  nach 
wird  sie,  je  länger  der  Fall  dauert,  desto  geringfügiger,  so  dass  die  später 
oder  die  zum  zweitenmale  befallenen  Gelenke  sie  immer  seltener  zeigen. 
Dass  sie  nicht  an  allen  Gelenken  gleich  deutlich  ausgesprochen  ist,  liegt  an 
der  Dicke  der  das  Gelenk  umhüllenden  Theile.  Am  Fuss-,  am  Hand-,  an 
den  Finger-,  auch  an  den  Kniegelenken  pflegt  sie  deutlich  zu  sein;  am  Ell- 
bogengelenk wenig  ausgesprochen,  fehlt   sie  am  Schultergelenk  meistentheils. 

Aehnlich  verhält  es  sich  mit  der  Schwellung  der  das  Gelenk  um- 
gebenden Haut.  Dieselbe  fühlt  sich  teigig  an,  die  Gelenkcontouren  werden 
undeutlich  oder  verschwinden  ganz,  selten  kommt  es  zu  so  starkem  Oedem, 
dass  der  drückende  Finger  eine  Grube  zurückliesse.  Die  geringe  Schwellung 
ist  ein  sehr  constantes  Symptom,  viel  häufiger  als  die  Röthung  und  von  viel 
längerer  Dauer,  ja  sie  bleibt  mehr  weniger  —  oft  sehr  lange  —  bestehen, 
auch  wenn  Schmerz  und  Röthung  längst  verschwunden  sind. 

Die  hervorragendste  Eigenthümlichkeit  aber  dieser  Ge- 
lenkaffection  ist  ihre  Flüchtigkeit.  Schmerz  und  Röthung  können  beinahe 
momentan  verschwinden  und  das  Gelenk  wieder  functionsfähig  werden,  selten  hält 
die  Affection  eines  Gelenkes  länger  als  einige  Tage  an.  Häufig  verschwindet 
der  Schmerz,  ohne  dass,  wenn  man  so  sagen  darf,  der  Kranke  selbst  es  gewahr 
wird.  Er  hat  das  Gelenk  aus  Furcht  noch  peinlich  steif  und  unbeweglich  ge- 
halten bis  eine  unwillkürliche  Bewegung,  eine  zufällige  Berührung  ihm  zu 
seinem  Erstaunen  zeigen,  dass  es  schmerzfrei  ist.  Höchstens  eine  geringe 
Steifigkeit  ist  zurückgeblieben,  so  lange  die  ödematöse  Durchfeuchtung  der 
Gewebe  noch  besteht,  die  nicht  so  schnell  verschwindet  wie  Schmerz  und  Hyper- 
ämie. Im  Allgemeinen  hält  sich  die  Affection  der  kleinen,  namentlich  der 
Fingergelenke  länger  als  die  der  grossen,  doch  ist  eine  durchaus  giltige 
Regel  nicht  aufzustellen.  Auch  zur  Intensität  steht  die  Dauer  des  Schmerzes 
in  keinem  festen  Verhältnisse.  Auf  keinen  Fall  ist  der  stärkste  Schmerz 
auch  der  längstdauerde,  eher  das  Umgekehrte.  Höchst  bemerkenswerth 
ist  die  Schnelligkeit  dieses  Verschwindens.  Man  kann  es  wirklich  als  mo- 
mentan bezeichnen;  wenigstens  in  den  typischen  Fällen.  In  anderen  geht  es 
langsamer,  manchmal  bleiben,  wenn  auch  der  Schmerz  im  Allgemeinen  ver- 
schwunden ist,  einzelne  Stellen  des  Gelenkes  und  bestimmte  Bewegungen  noch 
kurze  Zeit  schmerzhaft.  Aber  ein  irgendwie  länger  fortdauernder  Schmerz 
zeigt  immer  an,  dass  eine  Abnormität  im  Gelenk  zurückgeblieben  ist,  die,  wenn 
sie  auch  Folge  des  acuten  Rheumatismus  ist,  doch  nicht  als  zum  typischen 
Bilde  desselben  gehörig  angesehen  werden  kann. 

Leider  ist  aber  mit  dem  Freiwerden  des  einen  Gelenkes  die  Krankheit 
nicht  abgethan.  Denn  noch  während  die  Affection  desselben  in  voller  Blüthe 
ist,  werden  andere  Gelenke  ganz  in  gleicher  Weise  und  unter  den  gleichen  Er- 
scheinungen befallen.  Oft  genug  erkranken  auch  gleich  von  Anfang  herein 
mehrere  gleichzeitig,  jedenfalls  ist  dies  auf  der  Höhe  der  Krankheit  der  Regel 
nach  der  Fall.  Daher  auch  der  Name  ^^polyarticulär er  Rheumatismus.'-'  Der  „mono- 
articuläre",  dem  Namennach  auf  ein  Gelenk  beschränkte,  ist  jedenfalls  selten, 
sofern  man  den  Begriff  streng  nimmt  und  alle  Gelenkaffectionen  davon  aus- 
schliesst,  die  ätiologisch  nicht  zu  Rheumatismus  acutus  gehören.  Im  Allgemeinen 
schreitet  die  Krankheit  von  den  unteren  Gelenken  nach  den  oberen  hin,  so 
dass  zuerst  die  Fuss-,  dann  die  Kniegelenke;  dann  Hand-,  Ellenbogen-,  Hüft- 
und  Schultergelenk  ergriffen  werden,  die  Fingergelenke,  Kiefer  u.  s.  w.  erst 
später  an  die  Reihe  kommen.  Die  Gelenke  werden  meist  nicht  beiderseits  auf 
einmal  (also  nicht  symmetrisch)  befallen,  sondern  in  unregelmässiger  Folge. 


760  GELENKRHEUMATISMUS. 

Friedläzvder  meint  eine  bestimmte  typische  Reihenfolge  herauszuerkennen  imd  will 
daraus  auf  das  seiner  Meinung  nach  der  Krankheit  zu  Grunde  liegende  allmälige,  aber  in 
der  Kachbarschaft  typisch  um  sich  greifende  Fortschreiten  der  anatomischen  Erkrankung 
der  MeduUa  oblongata  schliessen,  die  er  für  das  Wesentliche  bei  unserer  Krankheit  hält. 
Er  muss  aber  selbst  zugeben,  dass  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  dieses  ^Yeiterwandern  in  man- 
nigfachster Weise  unterbrochen  und  variirt  erscheint,  also  nicht  typisch  ist. 

Und  wirklich  maclit  die  unbefangene  Beobachtung  der  Eeihenfolge,  in 
der  im  Einzelfalle  die  Gelenke  afiicirt  werden,  den  Eindruck  ganz  unregelmässigen 
Springens.  Man  muss  wohl  annehmen,  dass  kleine  zufällige  Einflüsse :  eine 
unwillkürliche  Bewegung,  ein  Muskelzug,  ein  Reflex  und  dergleichen  die  Ver- 
anlassung zur  Localisation  in  dem  oder  jenem  Gelenke  geben,  es  gelingt  daher 
nur  selten  dergleichen  einzeln  nachzuweisen.  Dass  die  grossen  Gelenke  der 
unteren  Extremitäten  meist  zuerst  erkranken,  mag  wohl  von  solcher  Ursache 
abhängen;  sind  sie  doch  der  Eegel  nach  von  allen  Gelenken  des  Körpers  am 
Meisten  in  Anspruch  genommen. 

Ein  und  dasselbe  Gelenk  kann  mehrmals  im  Laufe  der  Krankheit 
befallen  werden,  ja  bei  einem  irgend  erheblicheren  Piheumatismus  ist  dies  die 
Regel.  Ob  längere  oder  kürzere  freie  Zeit  zwischen  den  einzelnen  Attaquen 
liegt,  ist  durchaus  zufällig  und  weder  für  dasselbe  Gelenk,  noch  für  denselben 
Fall,  noch  gar  für  verschiedene  Fälle  irgend  einer  Regel  unterworfen.  Bei 
der  langen  Dauer  der  Krankheit  kann  ein  und  dasselbe  Gelenk  viele,  bis 
zwölf  und  mehr  solcher  Attaquen  durchzumachen  haben.  Je  häufiger  sie 
sich  wiederholen,  desto  leichter  bleibt  auch  in  der  Zwischenzeit  Steifigkeit 
zurück  und  desto  näher  rückt  die  Gefahr  bleibender  anatomischer  Veränderungen. 
Dagegen  pflegen  die  acuten  Erscheinungen,  Schmerz  und  Röthung  bei  den 
späteren  Anfällen  nicht  so  hohe  Grade  zu  erreichen,  wie  bei  den  ersteren. 

Die  Fähigkeit  vom  Rheumatismus  befallen  zu  werden  kommt  allen 
Gelenken  zu.  Selbst  die  Symphysen  der  Beckenknochen  und  das  Sacral- 
gelenk  geben  hier  und  da  durch  Empfindlichkeit  und  Schmerz  bei  Druck 
Zeichen  von  Erkrankung  und  dass  das  Kiefergelenk,  die  Rippen-,  die  Wirbel- 
gelenke befallen  sind,  kann  wenn  auch  glücklicher  Weise  nicht  allzu  häufig,  doch 
von  jedem  Beobachter,  der  eine  Anzahl  Rheumatismuskranker  gesehen  hat,  be- 
stätigt werden.  Ich  sage  ausdrücklich  gesehen  „hat",  weil  in  neuerer  Zeit, 
seitdem  wir  den  Rheumatismus  frühzeitig  mit  Erfolg  zu  bekämpfen  gelernt 
haben,  seine  Ausbreitung  auf  die  kleineren  Gelenke  seltener  zu  werden  scheint. 
Wenn  viele  Gelenke  gleichzeitig  erkrankt  sind,  ergibt  sich  ein  äusserst  qual- 
voller Zustand.  Abgesehen  von  den  Schmerzen,  ist  schon  die  totale  Unbeweg- 
lichkeit  des  ganzen  Körpers  äusserst  peinlich;  in  extremen  Fällen  nimmt  er 
eine  Steifigkeit  an,  wie  sie  sonst  nur  bei  ausgebreiteter  Trichinose  und 
Tetanus  vorkommt.  Die  abwehrenden  Schreie,  wenn  die  leiseste  Berührung  oder 
auch  nur  eine  Erschütterung  der  Lagerstätte  droht,  erinnern  an  Lyssa  und 
Tetanus.  Decubitus  und  Hypostasen  können  die  Folgen  davon  sein  und  — 
wenn  Kiefer-  oder  Rippengelenke  betheiligt  sind  —  die  ernstesten  Gefahren  für 
Ernährung  und  Respiration.  Glücklicher  Weise  sind  solche  extreme  Fälle 
selten  und  in  der  grossen  Mehrzahl  bleibt  die  Zahl  der  befallenen  Gelenke 
eine  beschränkte.  Wie  viele  und  welche  in  jedem  Einzelfalle  erkranken,  ist 
durchaus  unbestimmt.  Je  "mehr  ergriffen  werden,  desto  schwerer  ist  der  Fall: 
es  liegt  nahe,  daraufhin  die  Zahl  der  befallenen  Gelenke  mit  der  Intensität 
der  Infection  (Menge  oder  Virulenz  des  aufgenommenen  Giftes)  in  Beziehung 
zu  bringen,  andererseits  weisen  einige  schon  erwähnte  Thatsachen  darauf  hin, 
dass  besondere  Zustände  einzelner  Gelenke  (starker  Gebrauch  u.  s.  w.)  die 
Erkrankung  begünstigen.  Aber,  wie  gesagt,  eine  bestimmte  Regel  lässt  sich 
nicht  ableiten  und  demnach  noch  viel  weniger  in  jedem  Falle  voraussagen, 
ol)  viel  oder  wenig  und  welche  Gelenke  im  Laufe  der  Krankheit  werden  er- 
griffen werden. 


GELENKRHEUMATISMUS.  761 

Pathologisclie  Anatomie.  Auch  ohne  die,  wenn  auch  nicht  zahlreich,  doch  in 
genügender  Menge  vorliegenden  anatomischen  Befunde  an  erkrankten  Gelenken,  würde  man 
die  anatomische  Grundlage  aller  Erscheinungen  an  denselben  in  Hyperämie  und  seröser 
Durchtränkung  der  das  Gelenk  bildenden  Gewebstheile  zu  suchen  und  zu  finden  haben. 
Die  Gelenkknorpel  auch  die  Knochentheile  bleiben  frei;  in  den  Gelenkhöhlen  findet 
sich  nur  eine  sehr  geringe  Menge  von  Flüssigkeit,  die,  etwas  trübe,  nur  eine  Hypersecretion 
der  Synovia  darstellt.  Die  Synovialhaut  ist  aufgelockert,  geröthet,  durchfeuchtet,  die  Bänder 
und  Sehnen  ebenso  und  nicht  zum  Mindesten  die  das  Gelenk  bedeckende  Haut.  Tiefere  Ver- 
änderungen: ülcerationen  der  Synovialhaut,  Usur  der  Knorpel,  Verdickungen  der  Kapsel 
u.  s.  w.  setzt  der  echte  acute  Gelenkrheumatismus  nicht  oder  doch  nur  als  accidentelle 
Folgekrankheit  und  ist  schon  angeführt,  dass  Friedlä:\'der  jede  Eiterbildung  im  Gelenke 
nicht  von  der  Noxe  des  Gelenkrheumatismus,  sondern  von  einem  zufällig  neben  derselben 
einwirkenden  Entzündung  erregenden  Agens  ableitet. 

Als  zweites  Hauptsymptom  hat  man  das  Fieber  anzusehen.  Wenngleich 
Feiedläxder  auch  für  dieses  einen,  übrigens  schon  von  Wunderlich  ange- 
gebenen typischen  Gang  findet,  so  hat  doch  die  Curve  —  in  der  gewöhnlichen 
Weise  ausgezogen  —  so  wenig  Charakteristisches,  und  es  kommen  so  viele 
Abweichungen  von  dem  als  typisch  angesehenen  Gange  vor,  dass  es  un- 
möglich ist,  aus  dem  Gange  der  Temperatur  einen  Schluss  auf  den  Gang  der 
Krankheit  zu  ziehen  oder  gar,  wde  bei  anderen  Infectionskrankheiten,  aus  der 
Curve  die  Natur  der  Krankheit  zu  erkennen.  Das  Fieber  steigt  in  der  Regel 
nur  allmälig  an;  innerhalb  des  Anstiegs  machen  sich  natürlich  die  regelmässigen 
Exacerbationen  und  Remissionen  bemerkbar;  doch  erreicht  es  selten  hohe 
Grade,  sondern  hält  sich  um  39°  C.  herum.  Die  Akme  wird  nach  5 — 6  Tagen 
erreicht,  hat  aber  keine  Dauer,  sondern  an  die  erreichte  höchste  Temperatur 
schliesst  sich  unmittelbar  der  Abfall  an,  der  seinerseits  durch  6 — 8  Tage  sich 
hinzieht  unter  den  gewöhnlichen  hier  wenig  ausgesprochenen  Tagesschwan- 
kungen. Schüttelfrost  gehört  nicht  zum  typischen  Bilde,  sein  Auftreten  zeigt 
Eiterung  an:  von  den  Hyperpyrexien,  die  vorkommen  können,  wird  weiterhin 
die  Rede  sein.  Abgesehen  auch  von  ihnen  kommen  von  dem  geschilderten 
Temperaturverlaufe  die  mannigfachsten  Abweichungen  vor;  meist  in  der  Weise, 
dass  eine  mittelhohe  Temperatur  mit  geringen  Tagesschwankungen  und  ab- 
steigender Tendenz  sich  lange  Zeit  hinzieht. 

Kur  ganz  im  Allgemeinen  kann  man  die  Temperatur  mit  der  Intensität 
der  Erkrankung  in  Beziehung  bringen.  Wir  finden  hohe  Temperaturen,  wenn 
nur  wenige  Gelenke  und  nicht  sehr  stark  befallen  sind  und  ebenso  häufig 
das  Umgekehrte.  Bei  einem  Wiederaufflackern  der  Krankheit  stellt  sich  auch 
das  Fieber  wieder  ein.  Es  ist  die  Meinung  ausgesprochen  worden,  dass  das 
Fieber  unabhängig  von  den  Localisationen  der  Krankheit  auftrete;  als  Coeftect 
derselben  Ursache  oder  gar  als  essentielles  Fieber.  Dafür  sprechen  die  Fälle, 
in  denen  Fieber  vor  aller  und  jeder  Localerscheinung  an  irgend  einem  Gelenk 
beol)achtet  worden  ist.  Immerhin  sind  diese  Fälle  Ausnahmen,  auch  ver- 
schiedener Deutung  zugänglich:  der  Regel  nach  beginnt  die  Krankheit  mit 
der  Gelenkafi'ection  und  erst  nachher  folgt  die  Temperaturerhöhung.  Ab- 
gesehen von  den  allgemeinen  Gründen,  die  gegen  die  Ausnahme  eines  quasi 
essentiellen  Fiebers  sprechen,  ist  für  den  acuten  Gelenkrheumatismus  be- 
sonders der  Effect  der  specifischen  Gegenmittel,  die  sämmtlich  gleichzeitig 
temperaturherabsetzend  wirken  als  Beweis  für  den  innigen  Zusammenhang 
zwischen  Fieber  und  Localaffection  anzusehen. 

Die  verhältnismässige  Geringfügigkeit  der  Temperaturerhöhung  beim 
Rheumatismus  erklärt  sich  am  Einfachsten  durch  das  beinahe  regelmässige 
Auftreten  profuser  Seh  weisse.  Wenn  die  Haut  der  Kranken  trocken  wird, 
so  tritt  Hyperpyrexie  ein  (s.  u.).  Wenn  wir  auch  über  den  Zusammenhang 
dieser  Schweisse  mit  der  Krankheit  noch  absolut  Kichts  wissen,  nicht  einmal 
einen  Erklärungsversuch  dafür  halben,  so  steht  doch  die  Thatsache  fest,  dass 
die  bei  Weitem  überwiegende  Mehrzahl  der  Rheumatismuskranken  eine  Menge 
von  Schweiss  vergiesst,  die  ganz  ausser  ^'erhältnis  steht  zu  der  niedrigen 
Fiebertemperatur  und  der  gezwungenen    absoluten    Ruhe.     Da    man    heutzu- 


762  GELENKRHEUMATISMUS. 

tage  die  Nutzlosigkeit  und  Grausamkeit  des  früheren  Verfahrens,  durch  Zu- 
führung äusserer  Wärme,  Bedeckung  u.  s.  w.  den  Schweiss  möglichst  zu  be- 
fördern, zu  „unterhalten",  eingesehen  hat,  so  tritt  seine  selbständige  Be- 
deutung als  eines  wesentlich  dem  acuten  Gelenkrheumatismus  angehörigen 
Symptomes  umso  deutlicher  hervor.  Analoges  finden  wir  bei  Trichinose  und 
Tetanus,  wodurch  auch  für  den  Rheumatismus  auf  musculäre  Genese  des- 
selben hingewiesen  wird.  Irgend  welche  Besonderheiten  bietet  er  nicht;  der 
stark  saure  Geruch,  die  Miliaria  erklären  sich  leicht  aus  seiner  grossen  Menge; 
dass  man  vergeblich  in  ihm  nach  Milchsäure  gesucht  hat,  ist  schon  erwähnt. 
Die  Schweisse  und  eine  grosse  Geneigtheit  zu  solchen  bleiben  bis  tief  in  die 
Reconvalescenz  und  über   dieselbe  hinaus  bestehen. 

Was  sonst  noch  als  Erscheinung  des  Rheumatismus  acutus  anzusehen 
ist,  erklärt  sich  leicht  aus  dem  Fieber  und  dem  starken  Wasserverlust  durch 
den  Schweiss.  Der  Urin  ist  hochgestellt,  stark  concentrirt  und  wird  in  ge- 
ringer Menge  secernirt.  Harnstoff  und  Harnsäure  sind  vermehrt,  die  Phosphate 
vermindert  u.  zw.  nicht  blos  procentisch,  sondern  absolut.  Häufig  setzen 
sich  beim  Erkalten  die  ziegelrothen  Niederschläge  der  Harnsäure  und  ihrer 
Salze  ab.  Es  besteht  Neigung  zu  Obstipation,  Appetitmangel  und  Durst.  Der 
Puls  zeigt,  wenn  nicht  Complicationen  von  Seiten  des  Herzens  eintreten,  keine 
Besonderheiten;  seine  Frequenz  entspricht  der  Temperaturhöhe,  seine  Weichheit 
den  Schweissen.  Das  Sensorium  bleibt,  abgesehen  von  den  Fällen  von  Cerebral- 
rheumatismus  (s.  u.)  frei.  Zu  erwähnen  ist  noch,  dass  der  Fibringehalt 
des  Blutes  am  stärksten  von  allen  fieberhaften  Krankheiten  beim  Gelenk- 
rheumatismus, bis  auf  das  Vierfache  der  Norm,  sich  vermehrt  —  eine  Er- 
scheinung, der  man  freilich  in  der  Aera  der  Blutentziehungen  mehr  diagno- 
stische und  pathologische  Wichtigkeit  beilegte,    als  jetzt    angängig  erscheint. 

Complicationen.  Am  Wichtigsten  wird  der  acute  Gelenkrheumatismus 
durch  seine  Beziehungen  zu  Erkrankungen  des  Herzens  :  Beziehungen 
über  die  wir  freilich  nichts  weiter  wissen,  als  dass  sie  existiren,  und  zwar  in 
dem  Sinne,  dass  der  Rheumatismus  als  Ursache  der  Herzerkrankung  zu  gelten 
hat.  Auch  kann  man  nicht  näher  präcisiren,  welcher  Theil  des  Herzens 
besonders  ausgesetzt  ist;  Endocard,  Myocard,  Pericard  sind  gleichmässig  be- 
theiligt. Besonders  häufig  scheint  das  Myocard  ergriffen  zu  werden,  so  häufig, 
dass  ich  die  Myocarditis  als  ständige  Begleiterin  des  Rheumatismus  ansprechen 
möchte,  wenn  nicht  beim  Ausgang  in  Genesung  und  falls  die  Localisation 
im  Herzfleisch  nicht  derart  ist,  dass  Störungen  in  der  Function  der  Klappen 
resultiren,  die  Diagnose  immer  zweifelhaft  bliebe.  Wenigstens  hört  man  auch 
in  solchen  Fällen,  wo  nach  vollständiger  Genesung  das  Herz  sich  frei  von 
Residuen  etwaiger  Endocarditis  erweist,  Unreinheiten  an  den  Herztönen,  ver- 
waschene erste  Töne,  Unregelmässigkeiten  der  Aufeinanderfolge,  die  auf  nichts 
Anderes  bezogen  werden  können,  als  eine  Affection  des  Herzfleisches;  umso 
sicherer,  wenn  sie  später  wieder  verschwinden.  Kommt  nebenbei  noch  Ver- 
grösserung  (Dilatation)  des  Herzens,  Verschwinden  des  Stosses,  Schmerz  in 
der  Herzgegend  und  Unregelmässigkeit  der  Action  hinzu,  so  darf  man  die 
Diagnose  als  gesichert  ansehen.  Die  Form  der  Myocarditis  ist  die  degenerative: 
keine  Hyperämie,  kein  Exsudat,  sondern  Trübung,  Erschlaffung  und  schliesslich 
fettige  Entartung  der  Fibrillen,  selten  mit  dem  Ausgang  in  Schwielen- 
bildung. 

Die  dem  acuten  Gelenkrheumatismus  zukommende  Endocarditis  ist 
stets  von  der  fibrösen  Form.  Sie  wird  nur  wichtig,  wenn  sie  an  den  Klappen 
und  Ostien  localisirt,  deren  Form  beeinträchtigt;  an  anderen  Stellen  bleibt 
sie  belanglos.  Sie  erscheint  zunächst  als  Trübung,  demnächst  als  Verdickung 
des  Endocards,  hervorgerufen  durch  Wucherung  des  subepithelialen  Binde- 
gewebes, das  Epithel  selbst  bleibt  intact.  Im  weiteren  Verlauf  schrumpfen 
die  aflicirten  Stellen  in  narbiger  Contraction    und  dadurch  werden,  wenn  die 


GELENKRHEUMATISMUS.  763 

Afiection,  wie  sie  gern  thut,  an  den  Klappensegeln  und  am  Limbus  sich  an- 
siedelt, die  mannigfachsten  Formverändenmgen  erzielt,  die  auch  nach  Ablauf 
der  Grundkrankheit  fortbestehend,  die  anatomische  Grundlage  der  Herzklappen- 
fehler darstellen,  und  bei  diesen  des  Näheren  abgehandelt  werden.  In  der 
Mehrzahl  der  Fälle  handelt  es  sich  bei  den  durch  Rheumatismus  entstandenen 
Endocarditiden  um  die  Mitralklappe;  sehr  viel  seltener  wird  dabei  die  Aorten-, 
beinahe  nie  die  Pulmonal-  und  Tricuspidalklappe  in  Mitleidenschaft  ge- 
zogen. Embolien  in  entfernten  Organen  können  als  Folge  der  Wucherungen 
sich  einstellen. 

Die  im  Gefolge  des  Gelenkrheumatismus  auftretende  Pericarditis 
endlich  ist  ebenfalls  recht  häufig;  in  ihren  massigen  Graden  jedenfalls  viel 
häufiger  als  sie  diagnosticirt  werden  kann.  Sie  ist  als  einfache  Entzündung 
zu  bezeichnen,  mit  Hyperämie,  Auflockerung  und  Schwellung  des  Pericards 
und  schliesslich  serös-fibrinösem  Exsudat  und  unterscheidet  sich  anatomisch 
und  klinisch  nicht  von  der  gemeinen.  Auch  ihr  Verlauf  ist  unabhängig  von 
dem  des  veranlassenden  Ptheumatismus. 

Nächst  dem  Herzen,  aber  viel  seltener,  ist  die  Pleura  beim  Rheumatismus 
secundären  Entzündungen  ausgesetzt.  Auch  bei  ihr  handelt  es  sich  um  ein  ein- 
faches serös-fibrinöses  Exsudat,  welches  durchaus  dieselben  Erscheinungen  setzt 
wie  jedes  andere  Pleuraexsudat  derselben  Natur.  Seine  Zugehörigkeit  zum 
Rheumatismus  documentirt  sich  aber  im  Gegensatz  zu  der  Hartnäckigkeit 
sonstiger  solcher  Exsudate  dadurch,  dass  es  durch  antirheumatische  Mittel 
oft  schnell  zur  Resorption  gebracht  wird. 

Dass  Pneumonien,  Anginen  und  in  seltenen  Fällen  auch  Menin- 
gitis, Peritonitis,  Nephritis  als  Begleiterinnen  des  acuten  Gelenkrheu- 
matismus auftreten,  sei  nur  erwähnt,  üeber  die  Art  des  Zusammenhanges 
wissen  wir  Nichts;  auch  unterscheiden  sie  sich  in  Nichts  von  den  auf  andere 
Weise  entstandenen  -Formen. 

Die  Wahrscheinlichkeit  der  einen  oder  der  anderen  dieser  Complicationen 
hängt  nicht  von  der  Schwere  und  Ausbreitung  des  Rheumatismus  ab.  Sie  können 
bei  ganz  leichter,  auf  wenige  Gelenke  beschränkter,  selbst  monoarticulärer  Er- 
krankung auftreten,  bei  den  schwersten  Fällen  fehlen.  Auch  die  Periode  der 
Erkrankung,  in  welcher  sie  auftreten  können,  ist  völlig  unbestimmt.  Meist 
allerdings  erscheinen  sie  in  ihren  ersten  Anfängen  dem  aufmerksamen  Be- 
obachter schon  sehr  frühzeitig,  doch  muss  man  während  des  ganzen  Ver- 
laufes mit  ihnen  rechnen.  Wenn  einmal  eine  Herzaffection  dagewesen,  wenn 
sie  gar  bleibende  Residuen  hinterlassen  hat,  ist  eine  neue  Auflage  derselben 
bei  einer  etwaigen  Wiederholung  des  Rheumatismus  mit  grosser  Wahrschein- 
lichkeit zu  erwarten. 

Eine  etwas  andere  Stellung  und  nicht  als  Complicationen  zu  betrachten, 
nehmen  ein  Paar  andere  Vorkommnisse  ein,  die  glücklicher  Weise  selten 
ab  und  zu  im  Laufe  eines  acuten  Rheumatismus  zur  Beobachtung  kommen. 
Erstens  die  Blutungen,  die  man  als  Zeichen  von  Blutdissolution  anzusehen 
sich  gewöhnt  hat.  Am  häufigsten  finden  sie  sich  auf  der  Haut  in  der  Form 
von  Petechien,  Vibices  und  Ecchymosen,  besonders  an  den  unteren  Extremitäten ; 
sie  kommen  aber  auch  auf  den  Schleimhäuten  vor,  namentlich  der  Nase,  von 
wo  das  Blut  dann  auch  zu  Tage  tritt;  und  in  den  inneren  Organen,  besonders 
den  serösen  Häuten,  hier  selbstverständlich  von  der  übelsten  Vorbedeutung. 
Wie  weit  man  diese  Fälle  die  Schönlein  als  besondere  Krankheitsgruppe 
unter  dem  Namen  der  Peliosis  rheumatica  oder  Purpura  rheumatica  zusam- 
menfasste,  zum  Rheumatismus  rechnen  darf,  erscheint  noch  fraglich.  Die 
Mehrzahl  der  Autoren  will  sie  ganz  getrennt  wissen  und  sieht  die  Schmerzen 
und  Arthropathien,  die  zum  Bilde  der  Peliosis  gehören,  als  Symptome  der- 
selben an,   die   nichts   mit   denen   des  acuten   Gelenkrheumatismus   zu  thun 


764  GELENKEHEUMATISMÜS. 

haben.  Nach  Ausscheidung  dieser  Fälle  muss  man  das  Auftreten  von  Blu- 
tungen beim  Gelenkrheumatismus  als  selten,  doch  nicht  unerhört,  bezeichnen. 
Es  ist  möglich,  dass  zwischen  den  Petechien  der  PeUosis  rheumatica 
und  den  Knötchen,  die  das  Merkmal  des  von  Rehx  sogenannten  Rheumatis- 
mus  nodosus  bilden,  ein  innerer  Zusammenhang  existirt.  Seitdem  einmal  die 
Aufmerksamkeit  auf  diese  freilich  schon  von  Froeiep  beobachtete  Erscheinung 
gelenkt  ist,  melu^en  sich  die  Beobachtungen,  so  dass  sie  in  der  That  häufiger 
vorzukommen  scheint  als  man  vermuthete.  Im  Beginn  oder  im  Verlaufe  des 
acuten  Gelenkrheumatismus  erscheinen,  inbesondere  bei  Kindern,  an  den  peri- 
articulären  Ligamenten,  Sehnen,  oberflächlichen  Aponeurosen  oder  auch  am 
Periost  subcutan  und  nicht  mit  der  Haut  verwachsene  Knötchen  von  Hirse- 
korn- bis  Erbsen-,  höchstens  Bohneugrösse,  verschieblich,  kaum  schmerzhaft, 
oft  in  grosser  Menge,  nicht  blos  an  den  erkrankten  Gelenken,  sondern  auch 
an  entfernteren  Stellen  (Schädel),  die  in  Schüben  auftreten,  so  dass  während 
das  einzelne  Knötchen  eine  Lebensdauer  von  4 — 6  Tagen  hat,  die  ganze  Erup- 
tion sich  der  Regel  nach  4 — 6  Wochen,  manchmal  auch  Monatelang  hinzieht. 
Während  die  einen  Beobachter  (Hirschsprung,  Barlow  u.  A.)  sie  aus  jungem 
Bindegewebe  mit  reichlichen  Gefässen  bestehen  lassen,  findet  Nepveu  im 
Centrum  einen  kleinen  necrotischen  Herd,  umgeben  von  einer  Zone  weisser 
Blutkörperchen  mit  Micrococcen,  so  dass  sie  auf  Embolien  zurückzuführen 
wären. 

Aehnlichen  Ursprungs  mögen  auch  die  partiellen  circuniscripten  Hautödeme 
sein,  die  in  ganz  seltenen  Fällen  als  Begleiterscheinung  des  acuten  Rhematismus  beobachtet 
sind. 

Der  cerebrale  Ptheumatismus  endlich,  früher  als  Metastase  be- 
zeichnet und  gefürchtet,  tritt  glücklicher  Weise  selten,  in  höchstens  47o  der 
schweren  Rheumatismusfälle  auf.  Man  versteht  darunter  das  plötzliche  un- 
vermittelte Auftreten  schwerer  Hirnsymptome  —  Sopor,  mussitirende,  auch 
hier  und  da  furibunde  Delirien,  Coma,  stertoröses  Athmen  u.  s.  w.  —  mitten 
im  Verlauf  derRheumatismuserkrankung.  Die  Metastasentheorie  fand  gerade 
hier  die  scheinbar  besten  Stützen,  insofern  als  meist  mit  dem  Auftreten  der 
cerebralen  Symptome  die  Schmerzen  in  den  befallenen  Gelenken  nachlassen 
und  ganz  aufhören,  so  dass  die  Kranken  die  eben  noch  kein  Glied  rühren 
konnten,  in  fortwährender  Unruhe  und  Jactation  sie  herumwerfen,  ja  bei  den 
furibunden  Delirien  die  grössten  Kraftäusserungen  leisten.  Es  gibt  Fälle,  wo 
die  Affection  wahrhaft  fulminant  einsetzt:  binnen  weniger  als  einer  Stunde 
einen  wenn  auch  schweren,  doch  anscheinend  gutartigen  Rheumatismus  zum 
letalen  Ausgang  führt;  der  Regel  nach  kündigt  sie  sich  durch  Kopfschmerz 
(der  sonst  nicht  zum  Krankheitsbilde  des  Rheumatismus  gehört)  und  leichte 
Benommenheit  des  Sensoriums  an,  führt  aber  ebenfalls  unter  rascher  Steige- 
rung der  Symptome  binnen  2—4  Tagen  zum  Tode.  Das  hervorragendste 
Symptom  ist  die  Hyperpyrexie.  Man  darf  zwar  noch  nicht  behaupten,  dass 
alle  Fälle  von  cerebralem  Rheumatismus  excessive  Temperaturen  zeigen,  eben- 
sowenig wie  alle  Rheumatismuskranken  mit  sehr  hohen  Temperaturen  cere- 
brale Erscheinungen  bekommen,  denn  es  liegen  gegentheilige  Beobachtungen 
vor;  allein  je  mehr  die  Aufmerksamkeit  sich  auf  das  Symptom  gelenkt  hat, 
desto  häufiger  wird  von  der  Coincidenz  beider  Erscheinungsreihen  berichtet 
und  so  darf  als  wahrscheinlich  gelten,  dass  ein  innerer  Zusammenhang  be- 
steht. Es  handelt  sich  um  Temperaturen  bis  44-2,  also  vollständig  an  der 
Grenze  des  Möglichen.  Die  Entscheidung  ist  wichtig  für  die  Erklärung  des 
Vorgangs,  umsomehr  als  uns  die  pathologische  Anatomie  (da  mindestens 
drei  Viertel  der  Fälle  dem  Tode  verfallen,  verfügt  sie  über  ein  verhältnis- 
mässig beträchtliches  Material)  in  dieser  Beziehung  vollständig  im  Stich  lässt. 
Starke  Hyperämie  des  Gehirns  und  seiner  Häute  mit  obligatem  Oedem  ist 
Alles,  was  die  Obduction  ergibt  und  auch  dies  nicht  in  allen  Fällen.    Diese 


GELENKRHEUMATISMUS.  765 

Hyperämie  kann  aber  ebensogut  als  Folge  der  hohen  Temperatur  angesehen 
werden,  wie  als  Ursache  derselben.  In  letzterem  Falle  bleibt  dann  Nichts 
übrig,  als  eine  directe  Einwirkung  der  Rheumatismusnoxe  auf  das  Central- 
nervensystem  anzunehmen  und  Aufklärung  durch  weitere  Beobachtungen  zu 
erwarten.  Verschwiegen  sei  nicht,  dass  die  vortreftliche  Wirkung  wärmeent- 
ziehender Proceduren,  wie  kalte  Bäder  u.  s.  w.  (Fox)  beim  cerebralen  Rheu- 
matismus beinahe  zwingt,  die  Hyperpyrexie  in  der  That  als  den  Grund  der 
bedrohlichen  Erscheinungen  anzusehen. 

Ueber  den  Verlauf  der  Krankheit  ist  dem  Gesagten  wenig  hinzuzu- 
fügen. Soweit  sie  uncomplicirt  bleibt,  ist  derselbe  ein  ziemlich  regelmässiger. 
Der  Anfang  pflegt  sehr  scharf  markirt  zu  sein  durch  Auftreten  von  Schmerzen 
gewöhnlich  in  einem  Fussgelenk.  Nach  einer  Statistik  von  Gerhardt  wurden 
zuerst  befallen  eines  der  beiden  Fussgelenke  in  35°/o5  Knie  in  257o,  Schulter 
in  107o,  Handgelenk  in  6^'o:  also  in  %  der  Fälle  die  untere  Extremität.  Schon 
dadurch  kommt  der  Kranke  sofort  zum  Liegen ;  meist  dauert  es  auch  nicht 
lange,  dass  weitere  Gelenke  schmerzhaft  werden  und  nun  verläuft  die  Krank- 
heit unter  dem  beschriebenen  Wechsel  in  den  Gelenklocalisationen  mit  wenig 
verändertem  Krankheitsbild  gleichförmig  weiter.  Schwankungen  treten  ein,  je 
nachdem  mehr  oder  weniger  Gelenke  gleichzeitig  befallen  sind ;  es  kommen 
Tage,  an  denen,  bei  entsprechender  Behandlung,  viele,  ja  alle  frei  sind,  andere, 
an  denen  wieder  die  Zahl  der  befallenen  Gelenke  sich  häuft.  Das  Ende  der 
Erkrankung  ist  ganz  verwaschen.  Nachdem  mehrere  Tage  ganz  ohne  Schmerz, 
Gelenkaffection  und  Fieber  verlaufen  sind,  können  plötzlich  wieder  Steige- 
rungen eintreten  und  oft  finden  sich  noch  lange,  nachdem  die  Hauptkraft  der 
Krankheit  gebrochen  ist,  wieder  flüchtige  Schmerzen  in  dem  oder  jenem  Ge- 
lenk ein ;  ein  Umstand  der  bei  der  Behandlung  und  bei  der  Entscheidung 
der  Frage,  wann  der  Kranke  wieder  seiner  Beschäftigung  nachgehen  soll,  nicht 
ausser  Acht  zu  lassen  ist. 

Die  mittlere  Dauer  der  in  Genesung  übergehenden  uncomplicirten 
Fälle  lässt  sich  auf  40 — 50  Tage  veranschlagen.  x4.uch  für  leichtere  und  für 
solche  Fälle,  in  denen  es  gelang  durch  eine  geeignete  Medication  die  Schmerzen 
und  alle  Nebenerscheinungen  auf  sehr  niedrigem  Grad  zu  halten,  respective 
ganz  zu  vermeiden,  pflegt  dieser  Zeitraum  durch  leichte  Andeutungen  der 
Gelenkaffection  und  Anderes  ausgefüllt  zu  werden,  so  dass  auch  für  sie  die 
Krankheit  ihre  typische  Dauer  festhält,  auch  dadurch  ihren  Charakter  als  In- 
fectionskrankheit  documentirend. 

Der  Tod  tritt  in  3 — 47o  der  Fälle  ein,  wohl  immer  in  Folge  einer  der 
erwähnten  Complicationen.  In  cca  20^0  bleibt  ein  Herzfehler  zurück;  ob 
für's  ganze  Leben  oder  nur  bis  zum  allmäligen  Ausgleich  in  Jahren,  das  hängt 
von  der  Intensität  der  Herzaffection  und  sehr  wesentlich  vom  Alter  des  Pa- 
tienten ab.  Je  jünger  das  Individuum,  desto  mehr  kann  man  hoflen,  im  Laufe 
der  Jahre  noch  eine  Rückbildung  eintreten  zu  sehen.  Jedenfalls  muss  man 
Jahre  verstreichen  lassen,  ehe  man  einen  durch  Rheumatismus  erworbenen 
Herzfehler  als  stationär  ansehen  darf. 

In  gewissem  Sinne  kann  man  die  Chorea  als  nicht  seltene  Nachkrankheit 
des  Rheumatismus  bezeichnen,  insofern  man  bei  vielen  Choreakranken  die 
Anfänge  der  Krankheit  auf  einen  solchen  zurückführen  kann.  Fraglich  ist 
nur,  ob  es  dazu  des  Mittelgliedes  einer  Herzaffection  bedarf.  Wenn  auch  ein- 
zelne Beobachter  die  Chorea  ohne  eine  solche  dem  Rheumatismus  haben 
folgen  sehen,  wird  man  sich  doch  eines  abschliessenden  Urtheils  enthalten 
müssen,  ehe  nicht  das  Wesen  der  Chorea  selbst  besser  erkannt  und  damit 
ihr  Verhältnis  zu  den  Endocarditiden  überhaupt  durchsichtiger  geworden  ist. 

Schwierigkeiten  für  die  Erklärung  bieten  auch  die  Fälle  von  Neuralgie  nach  Piheu- 
matismus  und  besonders  die  Muskelatrophien,  die  als  reine  Inactivitätsatrophien  zu 
charakterisiren  ihr  manchmal  sehr  rasches  Auftreten  nach  kurzem  Bestehen  des  Piheumatismus 


766  GELENKRHEUMATISMUS. 

zu  verbieten  scheint.  Es  bleibe  dahingestellt,  ob  man  zur  Erklärung  dieser  übrigens  seltenen 
Folge  auf  trophoneurotische  Störungen  zurückgreifen  muss. 

Bei  einer  kleinen  Zahl  von  Fällen  geht  der  acute  Gelenkrheu- 
matismus in  den  chronischen  über.  Es  ist  sehr  fraglich,  ob  dabei  wirklich 
die  typische  Form  des  Gelenlo-heumatismus,  d.  h.  die  eben  besprochene  In- 
fectionskrankheit  zu  Grunde  liegt,  oder  nicht  vielmehr  von  vorn  herein  andere 
Formen:  multiple  Gelenkentzündungen  u.  s.  w.  ihn  vorgetäuscht  haben.  Das- 
selbe gilt  von  Difformitäten  der  Gelenke  mannigfaltigster  Art,  die  nur  zu 
häufig  auf  einen  acuten  Gelenkrheumatismus  zurückgeführt  werden. 

Therapie.  Die  Behandlung  des  acuten  Gelenkrheumatismus  ist  mit 
der  epochemachenden  Entdeckung  der  antirheumatischen  Kraft  des  Salicyl 
(Maclagan  1874  mit  der  wunderlichen  Begründung,  dass  ein  Stoff,  den  die 
auf  feuchtem  Boden  am  Besten  gedeihenden  Salixarten  produciren,  auch  gegen 
die  auf  solchem  Boden  entspriessenden  Krankheiten  wirksam  sein  müsse,  ferner 
Buss,  Steicker,  Senator)  in  ein  neues  Stadium  getreten.  Es  erübrigt  daher 
von  den  alten  Mitteln  viel  zu  reden,  als  da  waren  JSatron,  Chinin,  Digitalis, 
Colchicmn,  Jodkal>,  Citronsäure,  Ammoniak^  Eisenchlorid,  Brechweinstein  u.  s.  w. 
Zweifellos  sind  viele  Bheumatismuskrauke  unter  dem  Gebrauch  eines  oder  des 
anderen  dieser  Mittel  genesen;  aber  schon  ihre  Menge  spricht  deutlich  aus, 
dass  keines  derselben  allgemeine  Anerkennung  sich  hat  erringen  können  und 
selbst  wenn  man  geneigt  wäre  einzelne  Beobachtungen  nicht  nach  dem  post 
hoc,  sondern  nach  dem  propter  hoc  zu  deuten,  wäre  man  immer  nicht  in  der 
Lage  anzugeben,  in  welchen  besonderen  Umständen  des  Krankheitsfalles  das 
eine  oder  das  andere  sich  wirksamer  zeigte.  Man  darf  sie  sämmtlich  als  der 
Vergessenheit  anheimgefallen  bezeichnen. 

Nicht  viel  anders  steht  es  mit  den  Vesicatoren  (Davies),  die  in 
fingerbreiten  Streifen  ringförmig  ober-  und  unterhalb  des  erki^ankten  Gelenkes 
um  das  Glied  gelegt  wurden  und  mit  den  subcutanen  Injectionen  von  2°/o-iger 
Carbolsäure  zu  4 — 8  rings  um  das  Gelenk  herum  (Kuis^tze),  sowie  den  sub- 
cutanen Kaltwasserinjectionen  oder  gar  den  Bienenstichen  rings  um  das  er- 
lo-ankte  Gelenk  herum  (Terc)  und  der  darauf  gebauten  Apiolintherapie. 

Eher  wird  noch  eine  oder  andere  der  früher  üblichen  äusseren  Applicationen 
in  Anwendung  gezogen:  die  Wärme  in  Form  von  warmen  trockenen  Ein- 
wickelungen  (Werg,  Watte,  event.  mit  Wachholderdämpfen  durchzogen)  oder 
die  Kälte  in  der  Form  von  Eisblasen  auf  die  schmerzenden  Gelenke.  Sie 
müssen  natürlich  von  einem  Gelenk  zum  anderen  wandern,  je  nachdem  Schmerzen 
auftreten.  Wenn  auch  die  Schmerzen  dadurch  auf  einen  erträglichen  Stand 
gehalten  und  das  Fieber  ermässigt  wird,  freilich  ohne  den  Verlauf  der  Krankheit 
abzukürzen,  so  ist  doch  die  Unbequemlichkeit  für  den  Kranken  noch  gross 
genug.  Dasselbe  gilt  von  der  Immobilisirung  der  Gelenke  durch  feste  Ver- 
bände (Heubner).  Mit  der  Einführung  der  Salicylbehandlung  sind  auch  diese 
Hilfsmittel  für  die  bei  Weitem  überwiegende  Mehrzahl  der  Fälle  entbehrlich 
geworden. 

Man  gibt  am  Besten  das  salicylsaure  Natron.  Bedingung 
der  Wirksamkeit  ist,  dass  es  in  genügender  Dosis  verabfolgt  wird;  bei  irgend 
erheblichen  Krankheitserscheinungen  darf  man  nicht  unter  2  g  pro  dosi,  6 
pro  die  heruntergehen,  braucht  sich  aber  auch  nicht  zu  scheuen  auf  6  pro 
dosi,  20  pro  die  zu  steigen.  Die  unangenehmen  Nebenwirkungen:  Schweiss, 
Ohrensausen,  Augenflimmern,  Benommenheit,  Bausch  sind  einfach  in  den  Kauf 
zu  nehmen,  da  sie  nach  dem  Aussetzen  des  Mittels  rasch  vorübergehen,  und  die 
Unannehmlichkeiten—  mehr  ist  es  nicht  —  in  gar  keinem  Verhältnis  stehen 
zu  dem  Nutzen  der  Schmerzfreiheit  und  Verminderung  der  Gefahren.  Nur 
Erbrechen  und  Dyspnoe  verbieten  al)solut  den  Weitergebrauch.  Schliesslich, 
bei  manchen  Kranken  schon  sehr  bald,  kommt  freilich  ein  Zeitpunkt,  wo  nicht 
allein  die  erwähnten  Nebenwirkungen,  sondern  vor  Allem  ein  unüberwindlicher, 


^  GERUCHSEMPFINDUNGSSTÖRUNGEN.  767 

immer  steigender  Widerwille  das  Mittel  umiiöglicli  machen.  Allein  meist  ist 
es  gar  nicht  nöthig  den  Gebrauch  bis  zu  diesem  Zeitpunkt  fortzusetzen,  da 
in  wenigen  Tagen,  2  höchstens  4,  die  Krankheit  gebrochen  ist,  Schmerzen  und 
Fieber  sich  aufgelöst  haben.  Dann  pflegt  nur  eine  geringe  Steifigkeit  der  Gelenke, 
Neigung  zu  Schweiss  zurückzubleiben  und  in  unregelmässiger  Folge  durch  eine 
kleine  Anstrengung,  eine  locale  Erkältung  oder  ohne  nachweisbare  Ursache 
wieder  Schmerz  in  dem  oder  jenem  Gelenk  sich  einzustellen.  Während  dieser 
Zeit  führt  man  die  Salicylbehandlung  weiter,  entweder  so  dass  man  sofort  bei 
jedem  Wiederaufflackern  der  Schmerzen  mit  einer  vollen  Dose  von  1 — 2  g 
eingreift  —  die  Kranken  lernen  bald  selbständig  zu  dem  Mittel  zu  greifen 
■ —  oder  dass  man  es  in  geringen  Mengen,  die  ohne  Nebenwirkung  vertragen 
werden,  regelmässig  weiter  nehmen  lässt.  Sehr  gut  lässt  sich  zu  diesem  Zwecke 
ein  künstliches  Salicylwasser  verwenden,  dem  man  mit  Vortheil  Natron  zusetzt 
und  das  auch  nach  vollständigem  Erlöschen  des  Rheumatismus  als  Nachcur 
lange  fortgebraucht  werden  kann. 

Bei  echtem  Gelenkrheumatismus  wird  man  in  wenigstens  757o  der  Fälle 
mit  dieser  Medication  den  Erfolg  haben,  dass  die  Krankheit  sehr  gelinde  ver- 
läuft und  die  drohenden  Complicationen,  namentlich  Seitens  des  Herzens,  sehr 
viel  seltener  werden,  wenn  auch  nicht  mit  Sicherheit  in  jedem  Falle  auf  eine 
Abkürzung  der  Gesammtdauer  gerechnet  werden  kann. 

An  Stelle  des  salicylsauren  Natrons  kann  man  die  reine  Salicylsäure  anwenden  in 
Schüttelmixtnr  oder  alkoholischer  Lösung  mit  irgend  einem  Bittermittel  bis  zu  6  </  pro 
die.  Es  hat  mir  geschienen  als  ob  bei  stark  hervortretender  Endocarditis,  besonders  wenn 
dieselbe  am  Aortenostium  localisirt  ist,  die  reine  Säure  den  Vorzug  vor  den  Salzen  verdiene. 

Die  Salicylbehandlung  hat  den  Vorzug,  dass  sich  ihre  Wirksamkeit  oder 
Erfolglosigkeit  sehr  bald  beurtheilen  lässt.  Denn  im  ersteren  Falle  macht  sich 
schon  nach  den  ersten  Dosen  die  Besserung  sehr  deutlich  bemerklich;  wenn 
das  nicht  der  Fall  ist,  kann  man  auch  von  einer  Fortsetzung  keine  erwarten. 
Dann  greife  man  zum  hemoesauren  Natron  (Senator)  in  denselben  Dosen  wie 
das  salicylsäure.  In  einer  Anzahl  von  Fällen,  wenn  das  Salicyl  im  Stiche  liess, 
wird  man  damit  den  vermissten  Erfolg  erzielen. 

Als  Ersatz  für  das  salicylsäure  Natron,  ohne  dessen  unangenehme  Neben- 
wirkung, aber  auch  nicht  mit  ganz  so  sicherem  Erfolg,  haben  zu  gelten  das 
Salol  (Sahli),  welches  sich  im  Darm  in  Carbol-  und  Salicylsäure  als  die  beiden 
auch  einzeln  gegen  den  Rheumatismus  wirksamen  Mittel  spaltet,  in  Dosen  von 
2  g^  ferner  Salijjijrin,  Scdicin,  Salophen,  Exalgin  als  Verwandte  des  Salicyls. 
Mit  gutem  Erfolg  sind  auch  angewendet  Antijjgrin  6 — 8  g  pro  die  (auch  sub- 
cutan zu  0'25),  Phenacetin  6  gr,  Antifehrin  l'ö—S'O  g,  Phenocoll  3 — 4  g  und 
endlich  das  dithsolsalicylsaure  Natron  zweimal  des  Tags  0'2  g.  Es  ist  unmöglich 
anzugeben  ob  und  in  welchen  Fällen  das  eine  dieser  Mittel  den  Vorzug 
vor  dem  andern  verdient.  Und  wie  für  diese  steht  auch  für  die  Wirkung 
des  Salicyls  die  Erklärung  aus.  Die  nahe  chemische  Verwandtschaft  aller  der 
genannten  Mittel  legt  den  Gedanken  nahe,  dass  sie  in  der  That  ein  directes 
Gegengift  gegen  das  Rheumatismusgift  darstellen  oder  enthalten,  aber  eine 
genügende  Erklärung  ist  damit  umso  weniger  gegeben,  als  ja  die  Natur  der 
Rheumatismusnoxe  selbst  noch  unbekannt  ist.  kohlschütter. 

Geruchsempfindungsstörungen  können  sich  in  verschiedener  Weise 
geltend  machen: 

1.  Es  kann  das  Vermögen  zu  riechen  ganz  oder  theilweise  aufgehoben 
sein:  Anosmie. 

2.  Die  Geruchsempfindung  ist  über  die  Norm  gesteigert:  Hyperosmie. 

3.  Es  besteht  Perversion  des  Geruchssinnes,  die  Gerüche  werden  anders- 
artig empfunden  und  nach  dem  momentanen  Geruchseindruck  bleibt  häutig 
eine  stunden-  und  tagelang   dauernde  Nachempfindung  meist  unangenehmer 


768  jGERüCHSEMPFINDÜNGSSTÖEUNGEN. 

Natur  bestellen:  Parosmie.  Dieser  Zustand  ist  wohl  zu  unterscheiden  von  den 
Hailuc inationen  des  Geruches,  die  auch  dann  entstehen,  wenn  gar  kein 
Geruchsreiz  eingewirkt  hat  und  den  Illusionen,  welche  durch  irgendeinen 
nicht  specifischen  peripheren  Reiz  hervorgerufen  werden. 

Die  Anosmie  ist  entweder  eine  periphere  oder  centrale.  Die  periphere 
Anosmie  kann  in  verschiedener  AVeise  zu  Stande  kommen. 

1.  Es  kann  den  Riechstoffen  durch  eine  nasale  Stenose  der  Weg  zur 
Riechspalte  verlegt  sein.  Ist  der  Zugang  von  vornher  verschlossen,  so  riecht 
man  von  aussen  kommende  Gerüche  nicht:  Änosmia  respiratoria.  Dieselbe  fin- 
det sich  also  bei  Nasenkatarrhen  mit  Verdickung  der  Schleimhaut,  Deviationen 
des  Septum,  Polypen  und  Tumoren.  Ist  die  Choane  verschlossen,  so  fällt 
die  Gerucliscomponente  des  Geschmacks  aus  (Anosmia  gustatoria.  Zwaaede- 
makee).  Als  ätiologisches  Moment  kommt  hier  hauptsächlich  Verwachsung 
des   Gaumensegels  mit  der  hinteren  Rachenwand  in  Betracht. 

2.  Durch  destructive  Veränderungen  in  der  Riechschleimhaut  kommt  es 
zu  einer  Unempfindlichkeit  der  Riechzellen. 

Deren  unmittelbarer  Zusammenhang  mit  den  Olfactoriusfasern  wurde  durch  die 
neuereu  Untersuchungen  von  P.  und  S.  Piamox,  Dogiel,  von  GEHUCHTE^^  Castranugvo  und 
B.  Grassi  dargethan  und  durch  von  Brün:\'  und  His  auch  beim  Menschen  ausser  Zweifel 
gestellt,  nachdem  es  schon  durch  CHRisTiiAs-DmcKiNCK-Hoi-iWFFXD,  der  nach  Durchschnei- 
dung der  Bulbi  olfactorii  fettige  Degeneration  der  Piiecbzellen  beobachtet  hatte,  während 
die  Epithelzellen  erst  4 — 5  Monate  später  zu  entarten  anfingen,  wahrscheinlich  gemacht  war, 
dass  die  Piiechzellen  die  wahren  Endorgane  der  Riechnerven  bilden  und  dass  die  Epithel- 
zellen nicht  in  directem  Zusammenhang  mit  den  letzteren  stehen.  Auch  Suchaxnek  bestreitet 
die  von  Exa'er  und  Preorbasche:n-sky  behauptete  Gleichwerthigkeit  der  Stütz-  und  Piiech- 
zellen auf  Grund  anatomischer  Untersuchungen  und  pathologischer  Beobachtung.  Ebenso 
sprechen  die  mikrochemischen  Untersuchungen  von  Blxhalow  gegen  diese  Gleichwerthigkeit. 

Die  essentielle  Anosmie  ist  also: 

1.  Eine  Folge  von  entzündlichen  Processen  in  der  Riechschleimhaut. 

2.  Kann  sie  durch  Intoxication  bedingt  sein,  indem  Gifte  in  gasförmiger, 
flüssiger  oder  pulverförmiger  Gestalt  einen  schädigenden  Eintiuss  auf  die 
Riechschleimhaut  ausüben.  Auch  als  Theilerscheinung  allgemeiner  Intoxicationen 
tritt  Anosmie  auf. 

So  hat  BiCHAT  (Cloquet  Ophresiologie)  bei  einer  Quecksilbervergiftung.  Edw.  J.  Parker 
in  Folge  von  Tabacksvergiftung  Anosmie  gesehen.  Wenn  auch  Parker's  Fall  nicht  ganz 
einwandsfrei  ist,  da  sein  Patient  an  Pi,hinitis  atrophicans  litt,  so  ist  doch  immerhin  bemer- 
kenswerth.  dass  die  Anosmie  nach  Beseitigung  der  Ursache  wieder  verschwand. 

3.  Verwandt  mit  den  Intoxicationsanosmien  sind  die  nach  schweren  er- 
schöpfenden Krankheiten  imd  Infectionskrankheiten  auftretenden  Geruchs- 
störungen. So  hat  ZwAAEDEMAKEE  uach  Influenza  Anosmie  beobachtet,  ohne 
dass  das  rhinoscopische  Bild  eine  Abweichung  von  der  Norm  darbot.  Zwaae- 
DEMAKEE  setzt  dicsc  Fälle  in  Analogie  mit  der  nach  Typhus  vorkommenden 
Anaesthesia  retinae. 

Ghislani-Dueaxt  sah  Anosmie  in  Folge  von  Gicht. 

4.  Bedingt  der  Verlust  des  der  Riechschleimhaut  eigenthümlichen  Pig- 
mentes Geruchsunempfindlichkeit,  wie  die  Fälle  von  Hamiltox-Ogle  und 
Althaus  beweisen. 

5.  Dahingestellt  mag  bleiben,  ob  die  Anosmie,  die  während  des  Klimac- 
teriums  auftritt,  zu  den  essentiellen  oder  centralen  zu  rechnen  ist.  Sehr  inter- 
essant ist  ein  Fall  von  G^ottschalk,  der  nach  operativer  Entfernung  beider 
Eierstöcke  völliges  Erlöschen  der  Geruchsemptindung  beobachtete.  Gottschalk 
nimmt  an,  da  das  rhinoscopische  Bild  normal  und  eine  centrale  Ursache 
auszuschliessen  war,  dass  es  sich  um  eine  rein  functionelle  (d.  h.  essen- 
tielle) Anosmie  gehandelt  habe.  Die  Castration,  das  künstliche  Klimacterium, 
wirkt  also  ebenso  wie  das  natürliche. 

Eine  für  den  Kliniker  ausreichende  und  sehr  bequeme  quantitative  M  e- 
thode,  um  den  Grad  der  Abstumpfung  des  Geruches  zu  messen,  hat  Zwaae- 
DEMAKEE  angegeben.  Der  Z\^'AAEDEMAKEE"sclie  Riechmesser  besteht  im  Wesent- 


r  i\ 


> 


C      x 


? 

> 

p 

G 

•"zr 

k5 

^ 

^^ 

> 

X 

X 

X 

_r; 

— 

.••-^ 

y: 

ü 


'^^^ 


rr. 

— 

f=^    . 

^- 

C     '-/^ 

' ' 

*— *       V- 

•„^ 

__ 

-1-^    -^1 

__ 

^ 

■j^    5' 

r^ 

X 

S   '^ 

—1 

> 

r^     r^ 

X 

^ 

a  ^ 

'" 

r  j 

?^.^ 

.^ 

— 

;■— ^     ^^^^ 

— ' 

:^ 

^-  > 

■" 

'-^ 

r- 

^-^ 

-•— 

O      C! 

a^ 

— ' 

:z  ^' 

■;^    _  p3  r: 


-  ^  ■-. 


i 


GERüCHSEMPFINDUNGSSTÖßUNGEN.  769 

liehen  aus  einem  central  durchbohrten  äusseren  Riechcylinder,  in  dem  ein  Glas- 
röhrchen läuft,  an  dessen  umgebogenen  freien  Ende  man  riecht.  Dieses  letz- 
tere ist  in  einem  gestielten  Brettchen  befestigt,  das  nicht  nur  als  Handhabe 
dient,  sondern  auch  den  von  dem  Riechcylinder  ausströmenden  Riechtheilchen 
den  directen  Zugang  zur  Nase  abschneidet.  Sind  beide  Röhren  übereinander 
geschoben,  so  passirt  die  Luft  nur  das  innere  Glasrohr.  Wird  der  Riech- 
cylinder ausgezogen,  so  streicht  die  Luft  zuerst  über  die  Innentiäche  dessel- 
ben, von  der  umso  mehr  Riechpartikelchen  abgegeben  werden,  je  weiter  man 
den  Cylinder  herausschiebt.  Die  Riechkraft  ist  also  proportional  der  ausgezo- 
genen Cylinderlänge,  die  Geruchsschärfe  wird  ausgedrückt  durch  einen  Bruch, 
dessen  Zähler  durch  den  normalen  Schwel lenwerth  gebildet  wird,  während  in 
den  Nenner  die  für  die  untersuchte  Person  gefundene  Cylinderlänge  gesetzt 
wird. 

Normaler  Schwellenwerth 
Die   Geruchsschärfe  (Olfactus)  ist  also  0  =   Schwellenwerth  der  unter" 

sachten  Person. 

Als  Riechstoffe  sind  nur  Substanzen  mit  möglichst  constantem  Gerüche 
zu  verwenden.  Zw^aardemaker  bedient  sich  des  Kautschuks  {Siegellackgeruch), 
einer  Mischung  von  gleichen  Theilen  Guttapercha  und  Gummi  ammoniacum 
(Lakritzengeruch),  der  Resina  'Benzoe  (Vanillegeruch)  und  der  Radix  Sumbal 
(Moschusgeruch).  Die  Cylinder  werden  am  normalen  Geruch  geaicht,  jedoch 
muss  die  Aichung,  da  die  Riechstoffcylinder  nicht  absolut  constant  sind,  von 
Zeit  zu  Zeit  wiederholt  werden.  Für  feinere  Messungen,  speciell  für  die  ner- 
vösen Anosmien  empfiehlt  es  sich  daher  statt  der  festen  Riechstoffcylinder 
poröse  Porzellancylinder  (wie  sie  auf  Zwaardemaker's  Veranlassung  von  der 
Firma  't  Hoofd  und  Laboucherein  Delft  angefertigt  werden)  zu  verwenden, 
die  für  riechende  Flüssigkeiten  leicht  durchgängig  sind.  Für  diese  Lösungen 
wählt  man  am  besten  Stoffe  aus  den  HAYCRAFx'schen  Reihen  in  der  Weise, 
dass  man  hintereinander  mit  einem  hohen  und  niedrigen  Werth  der  Reihe 
untersucht.  Für  klinische  Zwecke  tränkt  Zwaardemaker  den  Cylinder  meist 
mit  einer  l°/o  Lösung  von  Aqua  amygd.  amar.,  während  Goldscheider  zu  dem 
gleichen  Zwecke  eine  schwache  Lösung  von  Valeriansäure  benützt.*) 

Der  Gang  der  Untersuchung  ist  folgender:  Nach  dem  Vorgang 
Zwaardemaker's  pflege  ich  den  Patienten  zuerst  mit  dem  Gerüche  des  zur 
Untersuchung  verwandten  olfactometrischen  Cylinders  bekannt  zu  machen, 
indem  ich  ihm  denselben  einen  Augenblick  unter  die  Nase  halte.  Dann  schiebe 
ich  den  Cylinder  wieder  über  das  sorgfältig  gereinigte  Innenröhrchen,  nach- 
dem ich  mir  zuvor  die  Hände  gewaschen  und  mich  davon  überzeugt  habe, 
dass  auch  das  Brettchen,  in  dem  der  Apparat  befestigt  ist,  absolut  geruchfrei 
ist.  Nun  ersuche  ich  den  Patienten,  das  so  vorbereitete  Instrument  in  den 
vordersten  Theil  des  Nasenlochs  einzuführen  und  ruhig  daran  zu  riechen, 
ohne  dass  das  andere  Nasenloch  geschlossen  wird,  vielmehr  muss  dabei  ganz 
natürlich  und  ruhig  geathmet  werden.  Die  Reizschwelle  wird  dann  in  der 
Weise  bestimmt,  dass  man  abwechselnd  von  zu  starken  zu  ein  wenig  zu  schwa- 
chen und  von  zu  schwachen  zu  etwas  stärkeren  Reizen  übergeht.  Die  Be- 
stimmung erhält,  worauf  schon  Zwaardemaker  aufmerksam  gemacht  hat,  einen 
hohen  Grad  von  Genauigkeit,  wenn  man  hin  und  wieder  mit  der  absoluten 
Geruchsunempfindlichkeit  vergleicht,  die  entsteht,  wenn  man  den  Riechmesser 
in  den  hinteren  Theil  des  Nasenloches  bringt.  Verfährt  man  in  dieser  Weise, 
so  genügen  in  der  Regel  V2  Dutzend  Beobachtu;igen,  um  das  Minimum 
perceptibile  sicher  festzustellen. 

*)  Nach  einer  Reihe  in  letzter  Zeit  von  mir  angestellten  Untersuchungen  schwankt 
der  normale  Schwellenwerth  für  eine  Lösung  von  Acid.  Valerian.  hydr.  Ph.  g.  I  —  Merk. 
1  zu  10,000  Aqu.  dest.  von  07  —  1-5  cm.  Am  häufigsten  habe  ich  0.8  cm.  gefunden. 
Diese  Länge  ist  also  als  Norm  anzusehen. 


Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten, 


49 


770  GERUCHSEMPFmDüNGSSTÖRUNGEN. 

Andere  Methoden  der  Geruchsmessung  sind  von  Valentin,  Fischer  und  Penzolot, 
DiBiTTs,  Passy,  Aronsohn,  Henry  und  Savelieff  angegeben  worden.  Eine  Kritik  dieser 
Methoden  findet  sich  in  einem  im  „Neurologischen  Centralblatt"  veröffentlichten  Artikel  von 
Zwaardemaker  „Zur  Methodik  der  khnischen  Olfactometrie." 

In  demselben  weisst  Zwaardemaker  nach,  „dass  eine  olfactometrische  Methode,  die 
sich  in  der  Klinik  bewähren  soll,  folgenden  Forderungen  genügen  muss: 

1.  Dass  sie  erlaiibt  mit  den  schwächsten  Pieizen  anzufangen  und  erst  allmälig  zu 
den  stärkeren  überzugehen, 

2.  dass  man  sehr  schnell  und  in  continuirlicher  Reihe  von  den  schwächsten  zu  den 
stärksten  Riechreizen  steigen  kann. 

Der  ersten  Anforderung  entsprechen  die  Methoden  Valentin-Passy's,  Fröhlich's  und 
Zwaardem  a  ker's. 

Die  zweite  Forderung  wird  zur  Zeit  nur  durch  das  Princip  der  in  einander  schieben- 
den Cylinder  erfüllt. 

Nach  den  bisher  vorgenommenen  Messungen  ist  nun  die  periphere  Anosmie 
stets  eine  totale,  d.  h.  für  alle  Energien  gleichmässig  Platz  greifende,  wenn 
auch  die  Möglichkeit,  dass  es  Fälle  von  partieller  Anosmie  (Dysosmie,  Peeyer) 
nicht  bestritten  werden  soll. 

Die  Behandlung  der  peripheren  Anosmie  soll  in  erster  Linie 
eine  causale  sein.  Wenn  es  gelingt,  das  ursächliche  Moment,  z.  B.  Schleim- 
polypen, Exostosen,  Deviationen  des  Septums  und  Schleimhautschwellungen  zu 
beseitigen,  so  sieht  man  selbst  lange  Jahre  hindurch  bestehende  Anosmien 
wieder  verschwinden. 

A.  d'AQüANNO  hat  einen  derartigen  Fall  publicirt,  wo  eine  seit  40  Jahren  bestehende 
respiratorische  Anosmie  durch  Behandlung  der  Nasenaffection  geheilt  wurde. 

Sonst  ist  man  auf  eine  symptomatische  Behandlung  angewiesen.  Beard 
und  Rockwell  haben  die  Galvanisation  empfohlen,  doch  ist  nach  Althaus 
ein  so  kräftiger,  mit  so  unangenehmen  Nebenwirkungen  verbundener  Strom 
erforderlich,  um  die  Riechzellen  zu  erregen,  dass  nach  Mackenzie  diese 
Methode  nicht  empfohlen  werden  kann.  Andrerseits  hat  Luc  zwei  Fälle 
von  Anosmie,  die  nach  galvanocaustischer  Aetzung  der  hypertrophischen  unteren 
Muscheln  entstanden  war,  durch  den  constanten  und  faradischen  Strom  geheilt. 
„Die  eine  Elektrode  wurde  in  die  Nasenhöhle,  die  andere  auf  die  Nasen wm^zel 
gesetzt,  secundenweise  schnelle  Steigerung  und  Verminderung  der  Stromstärke, 
ohne  dass  0*003  Milliamperes  überschritten  wurden,  beide  Elektroden  abwech- 
selnd in  Verbindung  mit  dem  -f-  und  —  Pol  einer  constanten  Batterie,  ferner 
Faradisation  mittelst  inducirten  Stromes.  Die  Dauer  jeder  Sitzung  betrug  10 
Minuten  für  jede  Hälfte  der  Nase,  5  Minuten  galvanischer  und  5  Minuten 
faradischer  Strom." 

In  dem  oben  erwähnten  Falle  von  Gottschalk  führte  eine  sechsmonatliche  Be- 
handlung mit  dem  galvanischen  Strom  erhebliche  Besserung  herbei. 

Auch  Einblasungen  von  Strychnin  0-003 — O'OOS  pro  dosi  werden  auf 
Grund  der  von  Fröhlich  gefundenen  Thatsache  empfohlen,  dass  Strychnin  die 
Geruchsschärfe  zu  steigern  vermag. 

F.  Felici  hat  einen  Fall  von  Anosmie  mit  Ageusie,  der  durch  fötide  Rhinitis  gum- 
mosa bedingt  war,  durch  Localbehandlung,  Alkohol  und  irritirende  Pulver  geheilt.  Gegen 
intermittirende  Anosmie  hat  Maurice  Raynaud  Chinin  empfohlen.  Sehr  interessant  ist  ein 
von  Francis  L.  Parker  veröffentlichter  Fall  von  doppeltseitiger  intermittirender  Anosmie, 
die  durch  operative  Entfernung  einer  Exostose  des  Vomers,  der  auf  die  linke  untere  Muschel 
hinüberreichte,  geheilt  wurde.  Ghislany  Durant  hat  einen  Fall  von  arthritischer  Anosmie 
durch    Ichthyol  geheilt. 

Die  Diagnose  auf  centrale  Anosmie  ist  man  nur  dann  zu  stellen  be- 
rechtigt, wenn  die  Möglichkeit  einer  peripheren  Anosmie,  beziehungsweise  einer 
Erkrankung  der  von  der  Peripherie  zum  Centrum  führenden  Leitungsbahnen 
mit  Sicherheit  auszuschliessen  ist.  Die  centrale  Anosmie  ist  entweder  ange- 
boren oder  erworben.  Ausser  bei  den  Arhinencephalen,  bei  denen  das  Riechhirn 
fehlt,  kommen  leichtere  Grade  von  Olfactoriusmangel  nach  Kündeat  auch  bei 
sonst  gut  gebildeten  Individuen  vor. 

Derartige  Fälle  sind  von  Bonet,  Cerutti,  Pressat,  Frankmann,  Claude  Bernard, 
Rosenmüller  und  neuerdings  von  Trillesky  beschrieben. 


GERUCHSEMPFINDUNGSSTÖRÜNGEN.  771 

Die  Diagnose  der  angeborenen  centralen  Anosmie  lässt  sich  beim  Leben- 
den nur  mit  Wahrscheinlichkeit  stellen,  wenn  seit  frühester  Jugend  doppel- 
seitige vollkommene  Geruchsunempfindlichkeit  besteht.  Die  Diagnose  wird 
wesentlich  gestützt,  wenn  sich  Vererbung  nachweisen  lässt. 

Auch  eine  der  Farbenblindheit  analoge  congenitale  Anosmie  scheint  vor- 
zukommen. So  berichtet  Mackenzie  von  einem  Menschen,  der  Bartnelken 
und  Knoblauch  nicht  unterscheiden  konnte  und  von  einem  Arzte,  für  den 
Veilchen  wie  Phosphor  rochen.  Manche  Menschen  besitzen  für  Vanille  keinen 
Geruch,  andere  für  Reseda.  In  dieser  Lage  war  z.  B.  Johannes  MtJLLER. 

Auch  erworben  kommt  dieser  Zustand  (nach  Clinton- Wagner)  vor,  der 
von  einem  Mehlaufseher  erzählt,  der  die  Fähigkeit  verlor,  gutes  von  schlechtem 
Mehl  zu  unterscheiden,  obwohl  er  früher  als  Sachverständiger  in  dieser  Frage 
galt.  Clinton- Wagner  nimmt  an,  dass  der  Riechnerv,  dauernd  dem  Mehlgeruch 
ausgesetzt,  gegen  diesen  unempfindlich  wurde,  im  übrigen  war  der  Geruch 
normal.  Es  würde  sich  also  um  eine  partielle  essentielle  Anosmie  handeln. 

Im  Gegensatz  zu  der  angeborenen  Anosmie  wird  die  Altersanosmie  nach 
den  Untersuchungen  von  Prevost  durch  Atrophie  des  N.  olfactor.  hervorge- 
rufen. Nach  ZwAARDEMAKER  gchcu  dem  Verlust  des  Geruches  in  diesen  Fäl- 
len perverse  Geruchsempfindungen,  meist  unangenehmer  Natur  voraus. 

Auch  in  Folge  von  Tabes  dorsal,  kann  es  zu  Atrophie  des  Olfactor. 
kommen,  (Althaus),  wobei  ebenfalls  Parosmie  dem  vollständigen  Schwinden  der 
Geruchsempfindung  vorausgeht.  Gegenüber  diesen  mehr  allgemeinen  Formen 
der  centralen  Anosmie  Ijeanspruchen  jene  Fälle,  bei  denen  die  Anosmie  als 
Theilerscheinung  von  cerebralen  Störungen  auftritt,  für  die  Localisation  der 
Hirnaffection  eine  hervorragende  Bedeutung.  Hierfür  ist  freilich  eine  genaue 
Kenntnis  des  Riechcentrums  Vorbedingung.  Glücklicher  Weise  hat  die  histo- 
logische Anatomie  des  Centralnervensystems  in  neuerer  Zeit  solche  Fortschritte 
gemacht,  dass  wir  von  diesem  Ziel  nicht  mehr  zu  weit  entfernt  sind. 

Der  Olfactorius  ist  entwicklungsgeschichtlich  und  histologisch  kein 
eigentlicher  Nerv,  sondern  ein  rudimentärer  Hirnlappen.  Während  bei  osmo- 
tischen Thieren  der  Riechlappen  mächtig  entwickelt  ist,  zeigt  er  bei  einer 
grossen  Zahl  von  Säugethieren  und  beim  Menschen  eine  entschiedene 
Tendenz  zur  Rückbildung.  Die  an  dieser  Rückbildung  theilnehmenden  Ab- 
schnitte des  Grosshirns  verrathen  sich  als  Riechcentrum  (Methode  der  paral- 
lelen Massenentwicklung). 

Nach  dieser  Methode  hat  Zuckerkandl  festgestellt,  dass  beim  Menschen 
das  Gebiet  des  Gyr.  fornicatus  und  der  unter  ihm  liegenden  rudimentären 
Rindentheile  das  Riechcentrum  bilden,  während  sich  bei  den  Thieren  3  Rinden- 
formationen finden: 

1.  Der  Lobus  limbicus,  bestehend  aus  dem  Lobus  corporis  callosi  und 
Lobus  hippocampi 

2.  Der  Gyrus  marginalis,  welcher  in  den  Gyrus  dentatus  (Fascia  dentata 
Tarsini,  auch  beim  Menschen  gut  entwickelt),  supracallosus  (Striae  Lancissii) 
und  Gyrus  geniculi  zerfällt. 

3.  Der  innere  Randbogen,  bestehend  aus  der  Fimbria,  dem  Körper,  dem 
vorderen  Schenkel  des  Gewölbes  und  Septum  pellucidum. 

Nach  SiGM.  Freud  gehört  auch  das  Gebiet  der  Fossa  Sylvii,  aus  deren 
vorderen  Theil  man  bei  menschlichen  Embryonen  den  Tractus  olfactor.  hervor- 
kommen sieht,  mit  zum  Riechcentrum.  Eine  vorzügliche  Beschreibung  des 
Riechcentrums  verdanken  wir  Dana.  Nach  ihm  bilden  Bulbus  und  Tractus  ol- 
factor., Radix  externa,  Hippocampus,  Uncus  und  Ammonshorn  die  Riecharea. 
Ausserdem  nimmt  Dana  an,  dass  der  Geruch  wie  alle  Sinnesorgane  eine  Art 
von  Repräsentation  im  Thalamus  opticus  habe.  Riechimpulse  müssen  den- 
selben durch  die  äussere  Wurzel,  Fimbria,  Fornix  und  Corpus  mamillare  errei- 

49* 


772  GERÜCHSEMPFINDUNGSSTÖRUNGEN. 

chen,   von   dem  Thalamus   opticus   sollen   dann   die  Riechimpulse   nach  der 
Rinde  ausstrahlen. 

Teolaed  nennt  die  sensitive  Platte,  welche  die  Trunci  olfactor.  im  Ni- 
veau der  Substantia  perforata  anterior,  durch  Ausbreitung  ihrer  weissen  Fa- 
sern bilden,  Campus  olfactorius.  Dieser  ist  in  Beziehung  gesetzt:  1.  Mit  dem 
verlängerten  Mark,  ein  Markbündel,  das  wahrscheinlich  seinen  Ursprung  am 
Boden  des  4.  Ventrikels  nimmt,  durchschneidet  den  Campus  olfactorius. 
2.  Mit  dem  tuberculum  anterius  des  Thalamus  opticus.  3.  Mit  der  Hirnrinde. 

Das  Rindencentrum  wird  durch  den  gezackten  Streifen  (Corps  godronne) 
und  das  Ammonshorn  gebildet,  das  sich  in  den  der  Windung  des  Corpus  cal- 
losum  sich  anlegenden  oberen  gezackten  Streifen  fortsetzt. 

Nach  Schwalbe  ist  der  Bulbus  und  Tractus  olfactor.  durch  die  äussere 
Wurzel  mit  dem  Gyrus  cinguli,  durch  die  obere  Wurzel  mit  dem  Mark  des 
Stirnlappens  und  durch  die  Pars  olfactor.  Ganser,  mit  der  Comissura  anterior 
verbunden. 

MuNK  sah  bei  einem  Hunde,  dem  er  eine  Sehsphäre  weggenommen  hatte 
und  der  darnach  geruchsunempfindlich  geworden  war,  Erweichung  beider  Gyri 
hippocampi,  und,  da  diese  bei  osmotischen  Thieren  stark  entwickelt  sind, 
schliesst  er,  dass  hier  das  Riechcentrum  zu  suchen  sei.  Ein  ähnlicher  Fall  ist 
von  Feigeeie  beschrieben.  Die  Section  eines  Geisteskranken,  der  an  Per- 
version des  Geruches  gelitten  hatte,  ergab  Atrophie  des  linken  pes  hippo- 
campi maior. 

Caebooteei  fand  als  Ursache  von  Geruchshallucinationen  einen  nuss- 
grossen  Tuberkel  des  Gyr.  occipito-temporal.  und  Gyr.  hippocamp.  Er  spricht 
die  Vermuthung  aus,  dass  vielleicht  irritative  Erscheinungen,  Perversion  des 
Geruches  durch  Läsion  dieses  Centrums  hervorgerufen  werden,  während  Anosmie 
einer  Degeneration  des  Bulbus  und  Tractus  olfactorius  zugeschrieben  werden 
müsse. 

Nach  diesen  Beobachtungen  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  dass  die  Radix 
externa  den  Olfactorius  mit  einem  im  Gyrus  uncinatus,  hippocampus  und 
Ammonshorn  liegenden  Rindencentrum  für  den  Geruch  verbindet.  Dagegen 
wissen  wir  noch  nichts  über  die  Bedeutung  der  durch  die  Striae  olfact.  med. 
et  int.  (Radix  med.  et  int.)  mit  dem  Olfactorius  verbundenen  Gehirnabschnitte 
und  über  den  Zusammenhang  mit  dem  Mark  des  Stirnlappens  durch  die  dorso- 
mediale  Markschicht  des  Tractus. 

Höchst  wahrscheinlich  verlaufen  auch  Riechfasern  in  der  grossen  Heer- 
strasse, wo  sich  alle  Sinnesnerven  zusammendrängen,  in  der  Capsula  interna 
und  zwar  im  hintersten  Drittel  des  hinteren  Abschnittes  (carrefour  sensitif), 
die  aber  bislang  nicht  einmal  anatomisch  nachgewiesen  sind. 

Ebenso  wenig  wissen  wir,  ob  ein  Chiasma  der  Riechfasern  besteht 
(Meyneet).  Nach  Gansee  der  fand,  dass  nach  Exstirpation  des  Bulbus  der 
einen  Seite  der  Riechantheil  der  vorderen  Commissur  total,  nicht  partiell,  wie  es 
nach  Meyneet  sein  müsste,  atrophirt,  ist  es  jedenfalls  sehr  unwahrscheinlich, 
dass  diese  Kreuzung  in  der  vorderen  Commissur  stattfindet,  wogegen  auch  die 
Beobachtung  von  Gudden  spricht,  der  nach  Exstirpation  des  Bulb.  olfact.  nur 
den  auf  derselben  Seite  liegenden  Gyrus  uncinat.  atrophiren  sah.  Trotzdem  ist  es 
durchaus  nicht  sicher,  ob  nicht  doch  ein  Chiasma  stattfindet.  Jedenfalls  sprechen 
manche  pathologische  Beobachtungen  für  diese  Möglichkeit,  ganz  abgesehen 
davon,  dass  die  Annahme,  als  ob  Reize  direct  von  der  Peripherie  zur  Rinde 
gelangen  können,  sehr  unwahrscheinlich  ist.  Die  als  Begleiterscheinung  der 
CHAECOT'schen  hysterischen  Hemianästhesie  auftretende  Hemianosmie  ist  z.  B. 
wie  alle  übrigen  sensitiven  Erscheinungen  gekreuzt. 

Besonders  bemerkenswerth  unter  den  corticalen  Anosmien  ist  aber  die 
bei  rechtsseitiger  Hemiplegie  und  Aphasie  sich  findende  linksseitige  Anosmie. 
Das  Centrum,  das  hier  zugleich    mit    dem  Sprachcentrum   betrofien  ist,  kann 


GERUCHSEMPFINDUNGSSTÖRUNGEN.  773 

nur  die  Frontalwindung  sein,  in  die  nach  Zuckeekandl  die  mittlere  Wurzel 
übergeht.  Am  wenigsten  eignen  sich  wie  für  die  Lokalisation  in  cerebro  über- 
haupt so  für  die  Lokalisation  einer  centralen  Anosmie  Tumoren,  da  bei  ihnen 
stets  Fernwirkung  zu  berücksichtigen  ist.  So  hat  Oppenheim  bei  einem  Fall 
von  Kleinhirntumor  Anosmie  gesehen,  die,  wie  die  Section  bewies,  durch  die  in 
Folge  von  Hydrocephalus  internus  blasig  vorgetriebene  Ventrikelwand,  wo- 
durch es  zu  Druckatrophie  der  Olfactor.  gekommen  war,  verursacht  war.  Be- 
merkenswerth  ist  es  auch,  dass  Ball  und  Krishaber  in  185  Fällen  von 
Hirntumoren  sechsmal  doppeltseitige,  aber  keine  einseitige  Anosmie  fanden. 
TraumatischeAnosmie  entsteht  durch  äussere,  den  Schädel  treffende 
Gewalten.  Durch  Fall  auf  den  Hinterkopf,  wenn  das  Gehirn  in  seiner  Bewegung 
nach  hinten  plötzlich  gehemmt  wird,  reissen  die  Olfactorii  in  Folge  ihrer 
weichen  Beschaffenheit  vom  Gehirn  ab.  Derartige  Fälle  sind  von  Notta,  Ogle, 
Mackenzie  und  Heinemann  beobachtet.  Fracturen  der  Schädelbasis  führen 
durch  directe  Verletzung  des  Gehirns  oder  durch  ein  die  Olfactorii  comprimi- 
rendes  Blutextravasat  ebenfalls  zu  Anosmie.  Einen  derartigen  Fall  hat  Heine- 
mann ausführlich  beschrieben, 

Anosmie  in  Folge  directer  Schussverletzung  des  Olfactorius  sahen  Jobert,  König  und 
Riedel.  Ina  Sanitätsbericht  des  deutschen  Heeres  sind  4  Fälle  von  Schussverletzung  des 
Olfactorius  erwähnt.  Eine  ausführliche  Zusammenstellung  derartiger  Fälle  findet  sich  in  v. 
Bergmann's  Lehrbuch  von  den  Kopfverletzungen.  Neuerdings  ist  von  Sgheyer  ein  hier- 
hergehöriger Fall  beobachtet  worden. 

In  ähnlicher  Weise  wie  die  Blutung  bei  Fracturen,  führen  entzünd- 
liche Exsudate  an  der  Basis  durch  Druck  auf  die  Olfactor.  zu  Anosmie. 
Einen  derartigen  Fall,  bei  dem  es  nach  Meningitis  cerebrospinalis  zu  links- 
seitiger Hemianästhesie,  Anosmie  und  Ageusie  gekommen  war,  ist  z.  B.  von 
Bamberger  beschrieben.  Auch  Tumoren  können  durch  unmittelbaren  Druck 
auf  den  Olfactorius  Anosmie  bewirken.  Derartige  Fälle  wird  man  jedoch  weniger 
auf  den  Nervenabtheilungen  als  vielmehr  in  den  ophthalmologischen  Kliniken  zu 
Gesicht  bekommen,  da  Exophthalmus,  Blindheit  und  Augenschmerzen  die 
Patienten  zum  Augenarzt  führen.  Endlich  kann  Syphilis  centrale  Anosmie  her- 
vorrufen. Nur  in  diesem  Falle  wird  eine  antiluetische  Behandlung  Heilung, 
beziehungsweise  Besserung  der  Anosmie  bewirken  können,  die  übrigen  Formen 
der  centralen  Anosmie  sind  einer  Behandlung  nicht  zugänglich. 

Hyperosmie.  Die  abnorme  Steigerung  der  Geruchsempfindung  (Hyper- 
aesthesia  nervi  olfactor.)  scheint  nur  als  Theilerscheinung  der  gesteigerten  Er- 
regbarkeit des  Gesammtnervensystems  vorzukommen.  Vom  alten  Heim  wird 
berichtet,  dass  er  die  acuten  Exantheme  durch  den  Geruch  erkannt  habe 
(VoLTOLiNi).  In  allen  näher  untersuchten  Fällen,  welche  in  der  Literatur 
bekannt  sind,  litten  die  Patienten  an  Hysterie,  Hypochondrie  und  Neurasthe- 
nie. Bekannt  ist  auch,  dass  der  Geruchssinn  von  Veränderungen  an  den  weib- 
lichen Genitalien  sehr  leicht  beeinflusst  wird.  In  der  Zeit,  wo  der  Geschlechts- 
apparat am  meisten  thätig  ist,  in  der  Schwangerschaft,  werden  nicht  nur 
perverse  Geruchsempfindungen,  sondern  auch  Hyperosmie  reflectorisch  ausgelöst. 

Die  Hyperosmie  kann  entweder  durch  grosse  Reizbarkeit  des  Nerv,  olfac. 
oder  durch  Hallucination  bedingt  sein  und  bildet  häufig  ein  für  die  Patienten 
sehr  unangenehmes  Symptom  der  genannten  Nervenleiden;  berichtet  doch  van 
SwiETEN  nach  Aretaeus,  dass  durch  Geruchseindrücke  selbst  epileptische  An- 
fälle hervorgerufen  werden  können  (Voltolini).  Seltener  ist  die  Hyperosmie 
eine  Folge  von  pathologischen  Veränderungen.  Wenigstens  habe  ich  in  der 
mir  zugänglichen  Literatur  nur  2  derartige  Fälle  von  Baumgarten  publicirt 
gefunden,  von  denen  der  eine  nicht  einmal  einwandsfrei  ist,  da  er  eine  an 
Neurasthenie  leidende  Dame  betraf,  bei  der  sich  nach  jeder  Erkältung 
Krampfhusten,  Beklemmung,  Stimmbandparese  einstellten.  Dieselben  Erschei- 
nungen traten  auch  nach  Gasgeruch  auf,  gegen  den  die  Patientin  sehr  em- 
pfindlich   ist.     Die    Untersuchung   der   Nase    ergab   Rhinitis   hyperplastica. 


774  GEEÜCHSEMPFINDUNGSSTÖEUNGEN. 

Nach  galvanocaustischer  Behandlung  der  hypertrophischen  unteren  Muscheln 
trat  Heilung  ein.  Der  zweite  Fall  betraf  einen  Herrn  mit  Ehinopharyngitis 
hyperplastic,  der  an  Hustenkrämpfen  mit  Erbrechen  litt  und  so  hyperosmo- 
tisch war,  dass  er  einen  Anfall  bekommen  konnte,  wenn  er  am  Arm  des 
Mannes  roch,  der  ihn  kalt  abrieb.  Ausbrennen  der  Nase  und  des  Kachens 
führte  auch  hier  zur  Heilung.  „Baumgaeten  gibt  zu  bedenken,  ob  die  hallu- 
cinatorisch  gesteigerte  Hyperosmie  nicht  auch  reflectorisch  von  einem  an- 
deren Sinn  zu  Stande  kommen  kann,  wie  dies  bei  der  audition  coloree 
der  Fall  ist.  Wie  bei  der  Einwirkung  eines  gewissen  Tones  eine  gewisse 
Farbe  gesehen  werden  kann,  so  kann  auch  beim  Sehen  und  Hören  eine  ge- 
wisse Geruchsempiindung  auftreten." 

Die  Behandlung  der  Hyperosmie  muss  sich,  wenn  nicht,  wie  in  den 
Fällen  von  Baumgarten  eine  locale  Ursache  vorliegt,  die  durch  chirurgische 
Maassnahmen  beseitigt  werden  kann,  auf  die  Verordnung  von  narkotischen 
Schnupfpulvern  beschränken.  Voltolini  empfiehlt  Herb,  conii  maculat.,  Hyos- 
cyam.  und  trocken  narkotische  Extracte.  Auch  Cocain  ist  bei  heftigen  Beschwer- 
den zu  empfehlen,  obwohl  der  durch  dasselbe  bedingten  Herabsetzung  der 
Geruchsschärfe  eine  Steigerung  derselben  vorangeht  (Zwaaedemaker). 

Parosmie.  Perverse  Geruchsempfindungen  können  ebenso  wie  die  son- 
stigen Geruchsstörungen  eine  periphere  oder  centrale  Ursache  haben.  Im 
ersteren  Falle  handelt  es  sich  um  eine  Reizung  der  Nervenendigungen  durch 
abnorme  Nasensecrete.  Derartige  Fälle  sind  unter  anderen  von  Onodi 
nach  Influenza  beobachtet  worden.  Sämmtliche  Patienten  waren  CoUegen. 
Der  eine,  der  früher  nie  perverse  Geruchsempfindungen  gehabt  hatte,  empfand 
3  Tage  lang  den  Geruch  von  Theer  und  Pech,  der  zweite  abwechselnd  den 
Geruch  von  Schellack,  Schwefel,  Knoblauch  und  Leichen,  der  dritte  14  Tage 
hindurch  den  Geruch  faulenden  Fleisches.  Auch  bei  Rhinitis  chron.  mit 
übelriechendem  Secret  hat  Onodi  einmal  eine  zweimal  wöchentlich  auftretende 
Parosmie  gesehen,  während  deren  Patient  Moschus,  Petroleum  und  Urin  roch. 
Nach  Galvanocaustik  der  unteren  Muscheln  und  Borausspülungen  trat  Heilung 
ein."*)  Bei  der  peripheren  Parosmie  wird  der  Geruch  besonders  beim  Eindringen 
eines  starken  Luftstromes  in  die  Nase  (Inspiration,  Schnauben)  wahrgenommen 
(Grassi).     Die  Kranken  beziehen  den  üblen  Geruch  meist  auf  den  Mund. 

Eine  periphere  Parosmie  kann  weiter  auftreten  durch  Obstruction  der 
Nase  nach  Epistaxis,  ebenso  in  Folge  von  Cauterisationen  und  Operationen 
in  der  Nase,  dauert  dann  aber  nicht  lange. 

Viel  häufiger  als  die  periphere  Parosmie  ist  die  centrale.  Dieselbe 
findet  sich  meist  bei  Geisteskranken  und  ist  dann,  wie  schon  Schläger 
auseinandergesetzt  hat,  wohl  häufiger  auf  eine  das  Riechcentrum  schädigende 
Läsion  als  auf  Hallucinationen  zurückzuführen. 

Ausser  den  bei  Mackenzie  citirten  Fällen  von  Lockemann,  (entenei- 
grosser  carcinomatöser  Tumor  der  linken  Hemisphäre,  der  den  linken  Tractus 
olfact.  zerstört  hatte)  von  Sander  (apfelgrosses  Gliom  des  linken  Schläfen- 
lappens, in  den  sich  der  linke  Tractus  olfactor.  verlor)  und  Westphal,  wo 
sich  bei  der  Section  eines  syphilitischen,  an  Convulsionen  und  Parosmie  lei- 
denden Patienten  der  Bulbus  olf.  der  Pia  adhärirend  und  in  der  Nähe  2 
Gummata  fanden,  gehören  die  obenerwähnten  Fälle  von  Carbonieri  (nuss- 
grosser  Tuberkel  im  Gyr.  occipito-tempor.  ext.  und  Gyr.  hippocampi)  und  Felici 
(Atrophie  des  linken  pes  hippocamp.  maior)  hierher.  Auch  in  folgendem  von 
A.  Peyer  beschriebenen  Fall  liegt  schwerlich  eine  reine  Geruchshallucination  vor. 


*)  Eine  ZusammenstelkiBg  anderer  Fälle  siehe  bei  Mackenzie  ,  Krankheiten  des 
Halses"  S.  666,  667,  Voltolini  „Krankh.  d.  Nase"  S.  265—267  und  Cloquet,  Ophriseologie 
oder  „Lehre  von  den  Gerüchen,  dem  Geruchssinn  und  den  Geruchsorganen  und  deren 
Krankheiten"  aus  dem  Französischen  übersetzt.  Weimar  1824. 


GESCHMACKSSINNSTÖRUNGEN.  775 

Ein  hochgradiger  Spermatorrhoiker  und  Riiminant  bot  auf  der  Höhe  seines  Leidens 
folgende  Erscheinungen  dar: 

„1— 1^/2  Stunden  nach  dem  Frühstück  bemerkt  Patient  eine  sonderbare  Schwere  seiner 
Zunge,  kann  längere  Worte  nicht  aussprechen,  Denken  fast  unmöglich,  düstere  Gemüths- 
stimmung.  Der  Geruch  während  dieser  Zeit  sehr  reducirt,  manchmal  riecht  Patient  gar 
nichts,  manchmal  treten  sehr  unangenehme  Geruchshallucinationen  auf." 

Ob  die  Angabe  von  Grassi  zutrifft,  dass  die  Perversion  bei  Geistes- 
kranken zwar  constant  vorhanden,  aber  bei  etwa  auftretenden  Nasenkrank- 
heiten  intensiver  ist,  mag  dahingestellt  bleiben. 

Directe  Reizung  des  Olfactorius  kann  ebenfalls  zu  Parosmie  führen. 

Bekannt  ist  der  Fall  von  Robertson.  Eine  50-jährige  Dame  erkrankte  8  Tage  nach 
einer  Staaroperation  an  Irido Chorioiditis.  Diesen  Symptomen  folgten  subjective  Sensationen 
von  Gerüchen  der  allerekelhaftesten  Art,  welche  aber  nach  einer  subcutanen  Morphium- 
injection  sofort  wieder  verschwanden. 

Auch  die  der  Altersatrophie  und  der  Atrophie  bei  Tabes  dorsualis  vorher- 
gehende Neuritis  olfactor.  ruft  wie  schon  oben  erwähnt  Parosmie  hervor. 
(Althaus,  Zwaardemaker). 

Die  centrale  Parosmie  ist  unheilbar,  sistirt  nur  bei  Zerstörung  der 
Olfactoriusfasern.  Voltolini  hat  von  der  Erwägung  ausgehend,  dass  bei  gleich- 
zeitiger Einwirkung  stärkere  Gerüche  schwächere  vernichten,  als  Palliativmittel 
empfohlen,  den  subjectiven  Geruch  bei  centraler  Parosmie  durch  einen  starken 
objectiven  zu  übertäuben  und  zu  diesem  Zweck  stark  wohlriechende  Substanzen 
auf  Watte  in  die  Nase  einzuschieben,  beziehungsweise  einen  starkriechenden 
Schnupftabak  zu  verordnen.  Bei  der  peripheren  Parosmie  hat  sich  die  Be- 
handlung gegen  das  zu  Grunde  liegende  Nasenleiden  zu  richten.  Ueberdies 
ist  zu  berücksichtigen,  dass  dieselbe  nach  Aufhören  des  causalen  Reizes  meist 
spontan  wieder  verschwindet  (cf.  oben  die  Fälle  von  Onodi). 

Falls  eine  causale  Behandlung  nicht  eingeleitet  werden  kann,  hat  man 
sich  auf  die  Verordnung  calmirender  Arzneimittel,  vor  allem  von  Cocain  zu 
beschränken.  reuter-ems. 

Geschmackssinnstörungen.  Als  Geschmacksorgan  gelten  die 
Endapparate  der  Geschmacksnerven.  Es  sind  dies  knospenartige  Gebilde 
(Schmeckbecher),  welche  in  dem  Epithel  der  Zunge,  speciell  in  den  Seiten- 
flächen der  Papillae  circumvallatae  und  in  den  Papulae  fungiformes,  einge- 
bettet sind.  Jede  Geschmacksknospe  besteht  aus  Deckzellen,  welche  gleichsam 
den  Kelch  der  Knospen  bilden  und  den  Geschmackszellen,  welche  in  deren 
Mitte,  den  Staubgefässen  einer  Blüthe  vergleichbar,  sich  befinden.  Die  basalen 
Fäden  der  letzteren  stehen  mit  den  letzten  Ausläufern  der  Geschraacksnerven 
in  Verbindung.  Im  Alter  sollen  nach  A.  Hoffmann  viele  Geschmacksknospen 
degeneriren. 

Die  Geschmacksneigung  ist  sehr  individuell.  Der  eine  verabscheut,  was  dem  andern 
der  höchste  Kitzel  seines  Gaumens.  Dem  gemeinen  Mann  sind  Sauerkraiit  und  Schweine- 
fleisch ebenso  gustiös,  wie  dem  Reichen  Austern,  Ragout  und  grünschimmliger  Käse.  Je 
verwöhnter  und  vornehmer  der  Träger  einer  Zunge,  desto  schärfere  und  pikantere  Berei- 
tung der  Speisen  verlangt  dieselbe.  Die  Reizstoffe  haben  einen  ererbten  Platz  in_  der 
Nahrung  des  Wohlhabenderen,  wenngleich  sie  auch  der  Arme  nicht  gänzlich  zu  vermissen 
vermag  und  sie  nur  in  etwas  roherer  Form  geniesst.  Der  Brite  liebt  sein  halbrohes  Rost- 
beef,  der  Ungar  sein  starkpapricirtes  Gulyäs,  der  Pole  süsse  Fische.  Complicirt  sind  die 
Delicatessen  der  französischen  Küche,  wenngleich  deutsche  Reisende  sie  nicht  zu  gustiren 
vermögen.  Die  Spartanersuppe  und  die  Nachtigallenzungen  auf  den  Tafeln  der  römischen 
Kaiser  sind  Aeusserungen  einer  längst  entschwundenen  Geschmacksrichtung.  So  veränder- 
lich ist  der  Geschmack  nach  Ständen,  Nationen  und  Zeitaltern,  nach  Geschlecht,  Jahren, 
ererbten  Neigungen  und  —  besonderer  Individualität.  Der  Geschmack  und  seine  Aeusser- 
ungen ist  ein  beliebtes  Thema  aller  älteren  und  neueren  Philosophen.  Ins  Breite 
gehende  Besprechung  hat  —  um  uns  anatomisch-physiologisch  auszudrücken  —  diese  Func- 
tion eines  psychosensiblen  Centrums  von  Seiten  der  populären  Philosophen,  deren  Schriften 
für  die  Masse  berechnet  sind,  erfahren  —  von  J.  K.  Weber  bis  Mantegazza. 

Aber  auch  Krankheiten  beeinflussen  das  psychosensible  Centrum  des  Geschmackes. 
Functionelle  und  organische  Veränderungen  des  Gehirns  lähmen,  hemmen  oder  pervertiren 
die  Geschmacksempfindung.     Das  Vorhandensein  des  Bewusstseins  ist  nicht  unbedingt    an 


776  GESCHMACKSSINNSTÖßUNGEN. 

die  Gesclimacksäusserungen  geknüpft,  wir  sehen  oft  schwere  Somnolente  bei  Einflössung 
von  bitterschmeckenden  Substanzen  sehr  charakteristisch  reagiren  — .  doch  geht  dies  immer 
nur  bis  zu  einer  gewissen  Grenze.  Bekannt  ist  die  Neigung  der  Chlorotischen  für  die  un- 
verdaulichsten Dinge,  namentlich  Kreide  und  Erde  (Pica  chlorotica),  ebenso  das  Verlangen 
der  Graviden  nach  stark  sauerschmeckenden  Substanzen  und  endlich  die  Scheu  von  Gelb- 
süchtigen gegen  alles,  was  den  Fettgeschmack  an  sich  trägt.  Gerade  aus  dem  letztgenann- 
ten Beispiele  geht  hervor,  dass  es  sich  -vielleicht  um  instinctive  Vorgänge  handelt,  deren 
wahrer  Grund  in  abnormer  Functionirung  einzelner  Organe  liegen  dürfte.  Es  führt  uns 
dies  in  praktischer  Hinsicht  wohl  auch  darauf,  diesen  Neigungen  durch  passende  Medi- 
cation  nachzuhelfen,  weil  wir  hiedurch  entsprechenden  Abnormitäten  entgegenwirken.  Aber 
auch  diese  Abnormitäten  auf  diesem  Wege  aufzufinden,  erscheint  ein  lohnendes  Ziel. 

Man  unterscheidet  4  Qualitäten  des  Geschmackes :  süss,  bitter,  sauer 
und  salzig.  Ob  für  jede  Geschmackssinnqualität  besondere  Nervenbahnen 
und  Nervenendigungen  existiren,  ist  bisher  mit  Sicherheit  noch  nicht  er- 
wiesen. 

Oehewall  wies  darauf  hin,  dass  die  einzelnen  Papillen  functionelle 
Verschiedenheit  gegenüber  den  einzelnen  Geschmacksqualitäten  darbieten. 
GoLDSCHEiDER  Und  ScHMiDT  fanden  in  der  Mittellinie  des  harten  und  weichen 
Gaumens  Papillen,  welche  nur  süss  verspüren;  an  der  Unterseite  der  Zungen- 
spitze scheint  die  Empfindung  für  das  Salzige,  an  der  oberen  die  für  das 
Bittere  vorzuwiegen,  die  Papulae  circumvallatae  sind  für  „sauer"  unem- 
pfindlich, für  die  anderen  Qualitäten  sehr  empfänglich.  Ein  Gemisch  von 
Chinin  und  Zucker  ruft  auf  der  einen  Seite  der  Zunge  „süss,"  auf  der 
anderen  „bitter"  hervor.  Die  elektrische  Keizung  ruft  an  jeder  Papille  die 
Empfindung  jener  Geschmacksqualität  hervor,  für  welche  sie  besonders  em- 
pfindlich ist.  Alle  diese  Befunde  sprechen  sehr  zu  Gunsten  der  Annahme 
specifischer  Endapparate  für  die  Geschmackscategorien. 

Nach  den  bisher  vorliegenden  Untersuchungen  besteht  keine  sichere 
Kenntnis  über  die  Localisation  des  Geschmackssinnes  in  der 
Hirnrinde.  Ferriee  versetzt  Geruchs-  und  Geschmackscentrum,  welche  beide 
nicht  deutlich  von  einander  zu  trennen  sind,  in  den  Gyrus  uncinnatus. 
Nach  Stscherbak  verbreitet  sich  das  Geschmacksceutrum  ungefähr  2 — 3  mm 
nach  vorne  und  hinten  einer  Linie,  welche  parallel  zur  Coronarnaht  an  der 
Hirnbasis  durch  den  hinteren  Rand  des  Chiasma  nervi  optici  geht;  es  liegt 
auf  der  ganzen  convexen  Fläche  der  Hemisphäre  von  der  Fissura  longitudinalis 
bis  zum  unteren  Rand  im  Gebiete,  welches  dem  Parietallappen  entspricht, 
gekreuzt  über  die  beiden  Zungenhälften. 

Der  intercerebrale  Verlauf  der  Geschmacksnervenfasern  ist  auch 
nicht  mit  Sicherheit  bestimmt,  wahrscheinlich  verlaufen  sie  durch  das  hintere 
Drittel  des  hinteren  Schenkels  der  Capsula  interna,  da  Zerstörungen  dieser 
Partie  nebst  Anästhesie  der  contralateralen  Körperhälfte  auch  contralateralen 
Verlust  des  Geschmackes  hervorrief.  Stscherbak  beobachtete  Geschmacks- 
verlust nach  Zerstörungen  der  hintersten  Fasern  des  Stabkranzes. 

Seit  P ANIZZA  wird  der  Nervus  glossopharyngeus  für  den  Ge- 
schmacks-, der  N  e  r  V  u  s  1  i  n  g  u  a  1  i  s  für  den  Gefühls-  und  der  H  y  p  o  g  1  o  s  s  u  s 
für  den  Bewegungsnerven  erklärt.  Lähmungen  des  Hypoglossus  erzeugen  Ab- 
stumpfung des  Geschmackssinnes  wegen  der  Unmöglichkeit  der  Reibebewegungen 
der  Zunge.  Der  Nervus  lingual is  ist  der  sensible  Nerv  der  Zunge,  der 
vorderen  Gaumenbögen,  der  Tonsillen  und  des  Mundhöhlenbodens,  er  ist  aber 
ferner  der  Geschmacksnerv  für  die  Spitze  und  Ränder  der  Zunge,  welche  der 
Nervus  glossopharyngeus  nicht  versorgt.  Einerseits  wird  behauptet,  dass  die 
Geschmacksfasern  des  Nervus  lingualis  vom  Trigeminusstamme  herrühren. 

Sie  ziehen  aus  dem  2.  Aste  dieses  Nerven  zum  Ganglion  sphenopalatinum,  von  dort 
durch  den  N.  vidianus  zum  Ganglion  geniculatum  des  Facialis  und  gelangen  von  dort  erst 
durch  die  Chorda  zum  Lingualis.     i Schiff  : 

Anderseits  hat  sich  auch  die  Ansicht  Geltung  verschafft,  dass  die  Ge- 
schmacksfasern der  kleinen  Wurzel  des  Facialis  entstammen.     Siege- 


GESCHMACKSSINNSTÖRUNGEN.  777 

langen  ebenfalls  aut     dem   Wege  der  Chorda  tympani   zum   Nervus  lingualis 
(Lussana). 

Klinische  Befunde  sprechen  zum  Theil  zu  Gunsten  der  ersten,  zum  Theil 
zu  Gunsten  der  zweiten  Annahme.  Für  die  erste  werden  Fälle  von  Erb  und 
Sexator  angeführt;  auch  Gowers,  Hirschfeld,  Guttmaxx  u.  A.  beobach- 
teten Fälle  von  isolirter  Quintuslähmung  mit  Geschmacksstörung  in  den  zwei 
vorderen  Zungendritteln.  Dem  gegenüber  stehen  Mittheilungen  von  Vizioli, 
Althaüs,  Lussaxa  u.  A.,  wo  bei  vollkommener  Lähmung  aller  drei  Aeste  des 
Trigeminus  zwar  das  Empfindungsvermögen  der  Zunge  verloren  gegangen, 
die  Geschmacksempfindung  hingegen  erhalten  geblieben.  Direct  zu  Gunsten 
der  oben  zweitgenannten  Annahme  sprechen  3  Fälle  von  Lussaxa,  ein  Fall  von 
K.  B.  Lehmaxx  u.  A.,  wo  bei  Lähmung  des  Facialis  der  Geschmack  in  der 
vorderen  Zungenhälfte  verloren  gegangen.  Schiff  bezweifelt  die  Beweiskraft 
von  Lähmung  des  Quintus  mit  Erhaltung  des  Geschmackes,  da  einzelne 
Stämme  intact  geblieben  sein  können,  während  anderseits  Laxdois  die  Fälle 
von  Geschmackssinnstörung  bei  totaler  Trigeminuslähmung  als  „Abweichungen 
von  der  allgemeinen  Regel"  bezeichnet. 

Als  Beweis  des  Verlaufes  von  Geschmacksfasern  in  der  Chorda  tympani 
spricht  der  Fall  von  Carl.  Derselbe  verlor  durch  Erkrankung  des  linken  Mittelohres  das 
Trommelfell;  wenn  er  die  Chorda  tympani  auf  dieser  Seite  börührte.  hatte  er  Geschmacks- 
empfindungen auf  der  vorderen  Zungenhälfte.  Einen  analogen  Fall  beobachtete  ürbajs'- 
TSCHiTSCH  mit  gleichem   Befunde. 

Bei  der  Durchsicht  dieses  so  bedeutende  Gegensätze  bietenden  Literatur- 
materiales  scheint  eine  vermittelnde  Hypothese  möglich  zu  sein.  Als  sicher- 
stehend ist  es  wohl  anzusehen,  dass  die  Geschmacksfasern  durch  die  Chorda 
tympani  dem  Lingualis  zugeführt  werden.  Ist  nun  der  Quintusstamm  afficirt, 
so  trifft  dies  secundär  seinen  Ast,  den  Lingualis,  und  hiemit  in  dritter  Reihe 
die  seinem  Verlauf  beigesellten  Chordafasern.  In  jenen  Fällen  von  Trigeminus- 
stammaffection,  in  denen  die  als  „Gast"  im  Lingualis  verlaufenden  Chorda- 
fasern mit  afficirt  sind,  besteht  Geschmackssinnstörung:  in  jenen  Fällen,  in 
denen  dieselben  intact  geblieben,  fehlt  dieselbe. 

Die  Fasern  der  Geschmacksnerven  vertheilen  sich  nicht  allein  auf  der 
Zunge.  Ein  Zungenloser  bot  nach  F.  Thiery  keine  Geschmacksempfindung 
an  den  Lippen,  Zahnfleisch,  innerer  Wangenfläche  und  hartem  Gaumen,  wohl 
aber  am  weichen  Gaumen  und  den  Gamnenbögen.  Bei  einem  Kranken,  dem 
die  ganze  Zunge  bis  zur  Basis  exstirpirt  worden,  war  die  Empfindung  des  süssen, 
bitteren  und  sauren,  aber  nicht  des  salzigen  Geschmackes  durch  Berührung  der 
hinteren  Rachenwand  auszulösen.  P.  Michelsox  konnte  mittels  Chinin 
und  Zucker  Geschmacksempfindungen  von  der  Innenseite  des  Kehldeckels 
aus  hervorrufen.  Diese  Beobachtungen  haben  jedenfalls  auch  praktisches 
Interesse  rücksichtlich  der  Zungenoperationen. 


Der  völlige  Verlust  des  Geschmackes  für  alle  Qualitäten  heisst  Ageusie- 
Man  unterscheidet  3  Arten  der  Ageusie: 

1.  Die  centrale  Ageusie:  Die  Rindencentren,  die  der  Beurtheilung  des 
Geschmackes  vorstehen,  sind  aus  irgend  einer  pathologischen  LTrsache  nicht 
functionsfähig. 

2 .  Die  Leitungs-Ageusie:  Die  zur  Innervation  der  Geschmacksnerven 
dienenden  Nervenbahnen  (N.  glossopharyngeus,  N.  lingualis)  sind  in  ihrer 
Function  gestört. 

Wenn  der  Nerv,  hypoglossus  functionsunfähig,  kann  Ageusie  eintreten,  weil  die  zur 
Geschmacksempfindung  nothwendigen  Reibebewegungen  der  Zunge  fehlen;  fraglich  erscheint 
es.  ob  diese  Art  der  Ageusie  nicht  zu  der  nächsten  Form   zu  zählen  wäre. 

Nach  der  oben  gegebenen  Darstellung  des  Verlaufes  der  Geschmacks- 
nervenfasern sind    ferner  Facialis-    sowohl  als  auch  Trigeminusaffec- 


778  GICHT. 

tionen  (Tiuroren  an  der  Hirnhasis)  des  öfteren  mit  Ageusie  verbunden.  In 
der  Literatur  finden  sich  eine  Reihe  von  klinischen  und  anatomischen 
Befunden  hiefür  (s.  o.). 

3.  Periphere  Ageusie:  Die  periphere  Endorgane  der  Geschmacks- 
nerven sind  nicht  mehr  perceptionsfähig  (Zungenexstirpation  s.  o.,  Zungen- 
belag, Trockenheit  der  Zunge  beim  Fieber,  Aetzung,  Cocainisirung,  Ver- 
brennung des  Zungenrückens  etc.). 

Dysgeusie  ist  der  Verlust  des  Geschmackes  für  gewisse  Qualitäten. 

Par  ageusie  ist  die  Verwechslung  verschiedener  Geschmacksqualitäten 
mit  einander.  (Hysterie,  Tabes,  Dementia.) 

Eine  besondere  Form  der  Geschroacksstörung  ist  bei  Aphasie  zu  beobachten.  Der 
Kranke  empfindet  die  Geschmacksempfindung  ganz  deutlich,  doch  fehlt  ihm  der  Wortaus- 
druck hiefür.  Er  nickt  mit  dem  Kopfe,  wenn  man  das  zutreffende  Wort  nennt,  vermag 
es  aber  spontan  nicht  auszusprechen  oder  gibt  stammelnd  den  falschen  Ausdruck  an. 
(Falsche  Ageusie  s.  falsche  Parageusie.) 

Geschmacks  Sinnprüfung.  Für  praktische  Zwecke  genügt  es  die 
Zunge  nach  3  Portionen  getheilt  (vordere,  mittlere  und  rückwärtige)  beiderseits 
zu  prüfen.  Man  verwendet  hiezu  gewöhnlich  einen  Pinsel,  den  man  in  ver- 
schieden schmeckende,  verdünnte  Lösungen  taucht  und  hernach  einzelne  Stellen 
damit  berührt.  Als  solche  Lösungen  empfiehlt  man  Glycerin  (süss),  Kochsalz 
(salzig),  Chinin  (bitter),  Milchsäure   (sauer),  Soda   (laugenhaft). 

Ich  verwende  gewöhnlich  nur  vier  1— 3»/o  Lösungen  von  Zucker,  Salz,  Chinin  und 
Essig.  Statt  des  Pinsels  halte  ich  es  für  praktischer  die  Fläs  chchen  mit  den  Flüssig- 
keiten mit  gläsernen  Tropfstöpseln  zu  verschliessen  und  diese  letzteren  statt  des 
Pinsels  zu  verwenden.  Der  Gebrauch  eines  derartigen  „Instrumentariums"  hat  leicht  ein- 
zusehende Vortheile  vor  der  üblichen  Pinselprüfung. 

Sehr  verdünnte  Lösungen  werden  nur  dann  „specifisch  empfunden,"  wenn 
der  Geprüfte  die  Zunge  zurückzieht  und  sie  an  dem  harten  Gaumen  reibt, 
stärkere  Lösungen  werden  auch  bei  heraushängender  Zunge  deutlich  und  richtig 
percipirt. 

Für  die  Prüfung  der  Geschmacksempfindung  sind  jene  Factoren  zu  wissen 
nothwendig,  von  denen  die  Intensität  der  Perception  abhängt.  Es  sind  dies 
1.  die  Grösse  der  afficirten  Fläche,  2.  die  Concentration  der  ange- 
wendeten Substanz,  3.  die  Zeit  zwischen  Application  und  Eintritt  der  Empfin- 
dung, 4.  die  Temperatur  der  angewendeten  Lösung,  5.  die  individuelle 
Feinheit  des  Geschmackes.  Nur  bei  gleichmässiger  Berücksichtigung  aller 
dieser  Factoren  ist  die  Discussion  einer  bestimmten  Geschmackssinnprüfung 
möglich.  JUL.  WEISS. 

Gicht.  Die  Gicht  {Arthritis  uratica  s.  urica)  ist  eine  chronische,  durch 
eine  pathologische  Veränderung  des  Stoffwechsels  bedingte  Erkrankung  des 
Organismus;  sie  äussert  sich  zunächst  in  sehr  charakteristischen  Anfällen, 
deren  Hauptsymptom  eine  acute  Entzündung  einzelner  bestimmter  Gelenke 
ist;  nach  längerem  Bestände  breitet  sie  sich  über  den  grössten  Theil  der- 
selben aus,  kann  aber  auch  in  inneren  Organen  Wurzel  fassen  und  dadurch 
ernste,  das  Leben  bedrohende  Störungen  verursachen. 

Vorkommen:  Schon  im  Alterthiim  war  die  Gicht  bekannt  und  zur  Zeit  der 
römischen  Kaiser,  als  Luxus  und  Verweichlichung  in  erschreckender  Weise  um  sich 
griffen,  weit  verbreitet.  In  der  Gegenwart  ist  England  das  hauptsächlich  von  dieser 
Krankheit  heimgesuchte  Land,  in  den  anderen  Reichen  Europas  tritt  sie  viel  spärlicher 
auf  und  beschränkt  sich  fast  lediglich  auf  die  wohlhabenderen  Schichten  der  Bevölkerung. 
In  Griechenland  und  Italien,  wo  die  Gicht  in  alten  Zeiten  häufig  anzutreffen  war,  soll  die- 
selbe gegenwärtig  eine  nur  geringe  Ausbreitung  haben.  Die  Gicht  befällt  vorzugsweise 
Männer,  bei  Frauen  ist  sie  viel  seltener  beobachtet.  Das  von  der  Krankheit  bevorzugte 
Alter  ist  das  30.  bis  40.  Lebensjahr,  doch  sind  die  ersten  Anzeichen  derselben  ausnahms- 
weise auch  bei  Knaben   von  acht   und  bei  Greisen   von  zweiundsiebzig  Jahren  aufgetreten. 

Aetiol  ogie :  Unter  den  Ursachen  der  Gicht  ist  von  besonderem  Gewicht 
die  Erblichkeit.  Ungefähr  fünfzig  Procent  aller  Kranken  stehen  unter 
ihrem  Einflüsse.  Wo  dieselbe  eine  Rolle  spielt,  stellen  die  ersten  Symptome 
sich  verhältnismässig   früh  ein,  mitunter  schon   im  zarten   Kindesalter;   der 


GICHT.  779 

Verlauf  ist  ein  auffallend  schwerer  und  die  Krankheit  zeigt  die  Neigung,  von 
dem  typischen,  regulären  Gange  abzuweichen.  Auch  durch  die  rationellste 
Lebensweise  können  hier  die  Anfälle  oft  nicht  unterdrückt  werden. 

Gleiche  Bedeutung  für  das  Entstehen  der  Krankheit  hat  eine  unmässige, 
zügellose  Lebensführung,  insbesondere  Unmässigkeit  im  Essen  und 
Trinken.  Von  ersterem  ist  hauptsächlich  der  zu  reichliche  Genuss  stick- 
stoffhaltiger Lebensmittel,  also  der  Fleischspeisen  anzuschuldigen,  von  letzterem 
der  gewohnheitsmässige  Gebrauch  schwerer,  feiner  Weine  und  gehaltvoller 
Biere,  während  der  einfache,  reine  Branntwein,  welcher  in  vielen  Beziehungen 
schädlicher  ist,  hier  weniger  verderbliche  Wirkungen  entfaltet.  Unterstützend 
treten  mangelnde  körperliche  Bewegung  und  sonstige  Unregelmässigkeiten 
hinzu,  welche  mit  den  angeführten  Schädlichkeiten  vergesellschaftet  zu  sein 
pflegen.  Es  ist  aus  diesen  Gründen  leicht  verständlich,  warum  vorwiegend 
Angehörige  der  wohlhabenderen,  dem  Luxus  und  Wohlleben  sich  hingebenden 
Stände  an  der  erworbenen  Gicht  leiden. 

Gewisse  Intoxicationen  scheinen  ebenfalls  eine  Prädisposition  für  diese 
Erkrankung  im  Organismus  zu  schaffen.  So  ist  von  Gäeeod  besonders  auf 
das  häufige  Vorkommen  derselben  bei  den  an  chronischer  Bleivergif- 
tung leidenden  Arbeitern  hingewiesen  worden. 

Classification:  Die  mannigfachen,  im  Verlaufe  der  Gicht  auftreten- 
den krankhaften  Erscheinungen  haben  behufs  übersichtlicher  Zusammenfassung 
und  Darstellung  zu  verschiedenen  Zeiten  sehr  von  einander  abweichende  Ein- 
theilungen  erfahren.  Die  alten  Aerzte  entlehnten  ihre  Bezeichnungen  dem 
jedesmaligen  Sitze  der  Erkrankung  und  unterschieden  demnach  Podagra, 
Chiragra,  Gonagra,  Omagra,  Cleisagra,  Pechyagra,  Dentagra  etc.  Eine  solche, 
nur  die  äusseren  Merkmale  berücksichtigende  Eintheilung  konnte  selbstver- 
ständlich nicht  befriedigen;  es  wurden  daher  vielfach  Versuche  unternom- 
men, dem  inneren  Wesen  der  Krankheit  mehr  entsprechende  Classificationen 
aufzustellen.  Nur  die  wichtigsten  neueren  seien  hier  erwähnt,  wobei  zugleich 
bemerkt  werden  muss,  dass  keine  derselben  einer  allgemeinen  Anerkennung 
sich  zu  erfreuen  gehabt  hat.  Cullen  unterschied  1.  die  reguläre  Gicht  mit 
typischen  Anfallen,  2.  die  atonische,  3.  die  zurückgetretene,  4.  die  anomal 
localisirte  Gicht.  Garrod  stellt  nur  zwei  Hauptformen  auf  „1.  die  regidäre 
Gicht,  die  acut  und  chronisch  auftreten  kann  und  hauptsächlich  in  einer 
specifischen  Entzündung  der  Gewebe  in  oder  um  ein  oder  mehrere  Gelenke 
besteht ;  2.  die  irreguläre  Gicht,  welche  als  schwere  Functionsstörung  in  ir- 
gend einem  Organ  oder  als  Entzündung  in  solchen  Theilen  auftritt,  die  nicht 
mit  den  Gelenken  in  Verbindung  stehen."  Ebstein  hält  die  von  Garrod 
gewählten  Bezeichnungen  für  unrichtig  und  verwirrend,  da  auch  die  im  Ver- 
laufe der  Gicht  auftretenden  Entzündungen  innerer  Organe  durchaus  typisch 
gichtische  (durch  Harnsäure  bedingte)  und  mithin  auch  reguläre  sind.  Er 
schlägt   die  Namen   „primäre    Gelenkgicht"    und    „primäre  Nierengicht"  vor. 

Wir  wollen  im  Folgenden  ohne  Rücksicht  auf  die  verschiedenen  Ein- 
theilungsprincipien  zunächst  die  Erscheinungen  des  acuten  Anfalls,  dann  die 
der  chronischen  Gicht  besprechen  und  schliesslich  die  Afiectionen  innerer  Or- 
gane, sowie  Abnormitäten  im  Verlauf  der  ganzen  Krankheit  anfügen. 

Symptomatologie:  Dem  acuten  Gic  htanf  all  gehen  mitunter  unbe- 
stimmte Krankheitssymptome  voraus,  welche  als  Vorläufer  gedeutet  sind.  Die- 
selben bestehen  in  allgemeinem  Unbehagen,  Abnahme  des  Appetits,  Einge- 
nommenheit des  Kopfes,  ziehenden  Muskelschmerzen,  gereizter  Stimmung,  und 
sind  gewöhnlich  so  geringfügig,  dass  die  Kranken  denselben  kaum  Beachtung 
schenken.  Sehr  häutig  fehlen  aber  auch  solche  Prodromalsymptome  vollständig, 
die  Krankheit  setzt  inmitten  völligen  Wohlbefindens  ein.  Der  erste  Anfall 
pflegt  sich  Nachts  einzustellen.  Nach  einigen  Stunden  gesunden  Schlafes 
werden  die  Patienten  zwisclien  12  und  3  Uhr  Morgens  plötzlich  durch  einen 


.780  GICHT. 

heftigen,  bohrenden  Schmerz  in  dem  Metatarso-Phalangealgelenke  einer  grossen 
Zehe  erweckt.  Sie  haben  die  Empfindung,  als  ob  das  Gelenk  in  einen  Schraub- 
stock eingezwängt  ist,  werden  durch  den  Druck  des  Deckbettes  belästigt  und 
suchen  durch  Lagewechsel  einen  Nachlass  des  unerträglichen  Schmerzes  her- 
beizuführen; aber  alle  Anstrengungen  in  dieser  Beziehung  sind  vergeblich  und 
so  wälzen  sie  sich  mehrere  Stunden  heftig  gepeinigt,  ruhelos  auf  ihrem  Lager 
umher.  Endlich  gegen  Tagesanbruch  lässt  der  Schmerz  nach,  die  Kranken 
geniessen  einige  Stunden  ruhigen  Schlafes,  finden  aber  beim  Erwachen  das 
Grosszehengelenk  stark  geschwollen,  auf  Druck  empfindlich,  die  Haut  über 
demselben  geröthet  und  die  Venen  der  Nachbarschaft  stark  erweitert.  Tag- 
über  bleibt  der  Zustand  erträglich,  wenn  auch  das  Anlegen  einer  festen  Fuss- 
bekleidung  und  Umhergehen  in  Folge  der  starken  Schwellung  und  Schmerzhaf- 
tigkeit  unmöglich  ist.  Der  während  des  Tages  entleerte  Urin  ist  spärlich 
und  stark  sedimentirend.  In  der  nächsten  Nacht  wiederholt  sich  die  Scene 
genau  in  derselben  Weise  und  oft  wird  schon  jetzt  beim  ersten  Anfall  das 
correspondirende  Gelenk  des  anderen  Fusses  in  gleicher  Weise  afficirt,  doch 
kann  die  Entzündung  auch  auf  das  eine  Grosszehengelenk  beschränkt  bleiben. 
Am  folgenden  Tage  fühlt  der  Kranke  sich  dann  wieder  wohler  und  in  der 
Nacht  tritt  von. neuem  eine  Exacerbation  des  Leidens  ein;  die  Intensität  der 
Symptome  verringert  sich  jedoch  nun  von  Nacht  zu  Nacht  und  unter  all- 
mäligem  Abschw^ellen  des  erkrankten  Gelenkes,  Verschwinden  der  Röthung 
und  unter  Abschuppung  der  Haut  über  den  afficirten  Theilen  pflegt  in  10 
bis  20  Tagen  vollständige  Heilung  mit  Wiederherstellung  der  Functionstüch- 
tigkeit  des  Gelenkes  einzutreten.  Nur  in  den  seltensten  Fällen  bleibt  schon 
von  dem  ersten  Anfall  eine  dauernde  Störung  zurück;  bisweilen  fühlen  die 
Kranken  sich  sogar  nachher  wohler  als  zuvor.  Diese  Beobachtung  zusammen 
mit  dem  Auftreten  reichlichen,  ziegelmehlartigen,  aus  Harnsäure  und  ihren 
Salzen  bestehenden  Sediments  im  Urin  (sedimentum  lateritium)  hat  die  älte- 
ren Aerzte  zu  der  Anschauung  geführt,  den  acuten  Gichtanfall  als  eine  Krise 
anzusehen,  durch  welche  der  Organismus  von  schädlichen  Schlackenstoffen  be- 
freit wird. 

Der  erste  Anfall  kann  lange  Zeit  vereinzelt  bleiben  und  erst  nach  mehre- 
ren Jahren  von  dem  zweiten  gefolgt  sein.  Dies  ist  besonders  dann  der  Fall, 
wenn  der  Kranke  nicht  in  hohem  Maasse  erblich  belastet  ist  und  einer  zweck- 
mässigen Lebensweise  sich  befleissigt.  Anderenfalls  tritt  die  Wiederholung 
der  Anfälle  schneller  ein,  in  jedem  Jahre  einmal,  später  sogar  zweimal,  und 
pflegen  das  Frühjahr  und  der  Herbst   die  bevorzugten  Jahreszeiten  zu  sein. 

Allmälig  kommt  es  unter  immer  stärkerer  Häufung  der  Anfälle  zu 
der  Entwicklung  der  chronischen  Gicht.  Bezeichnend  für  letztere  ist, 
dass  die  Anfälle  an  Heftigkeit  eingebüsst,  dagegen  an  Dauer  erheblich  zuge- 
nommen haben,  so  dass  häufig  nur  ein  kurzes  schmerzfreies  Intervall  zwischen 
zwei  auf  einander  folgenden  bleibt.  Dieselben  können  jetzt  auch  am  Tage 
eintreten ;  die  Zehengelenke  sind  nicht  mehr  die  einzige  Localisation  der  Er- 
krankung, dieselbe  hat  sich  auf  Fuss-,  Knie-,  Hand-,  Ellbogen-,  Schulter-, 
Hüftgelenke  ausgebreitet,  ja  es  gibt  kaum  ein  Gelenk  am  Körper,  welches 
nicht  gelegentlich  von  der  Gicht  heimgesucht  würde.  Nach  Beendigung  des 
jedesmaligen  Anfalls  tritt  nicht  mehr  restitutio  ad  integrum  ein ;  es  bleiben 
Verdickungen  der  Kapsel  und  Bänder  zurück,  und  in  der  Umgebung  des  Ge- 
lenkes bilden  sich  umschriebene  Anschwellungen  aus,  welche  weich  und  teigig 
sich  anfühlen  und  bei  Einstich  einen  weissen,  mörtelartigen  Brei  entleeren. 
Die  mikroskopische  Untersuchung  lässt  in  demselben  zarte  Krystallnadeln,  oft 
in  Büschelform  angeordnet,  erkennen.  Später  werden  diese  Gebilde  fest, 
steinhart;  sie  können  bis  zu  Gänseeigrösse  anwachsen  und  somit  mechanisch 
ein  Hindernis  für  die  Bewegung  des  Gelenkes  abgeben.  Wir  bezeichnen  sie 
als  Gichtknoten,  Tophi.    Sie  bestehen  zum  grössten  Theil  aus  einem  Ge- 


GICHT.  781 

misch  von  saurem  harnsaurem  Natron  und  kohlensaurem  Kalk ;  an  den  oberen 
Extremitäten  werden  sie  häufiger  und  zahlreicher  beobachtet  als  an  den  unteren. 
Ihre  Entwickelung  ist  nicht  streng  an  die  Anfälle  geknüpft ;  sie  können  auch 
in  der  freien  Zeit  entstehen,  respective  an  Grösse  zunehmen.  Nach  längerem 
Bestände  treten  sie  der  Oberfläche  näher  und  schimmern  weisslich  durch  die 
Haut  hindurch,  ja  sie  können  dieselbe  durchbrechen  und  ausgestossen  werden 
oder  zur  Entstehung  gichtischer  Geschwüre  Veranlassung  geben.  Letztere 
entleeren  Eiter  und  harnsaure  Salze  und  haben  eine  sehr  geringe  Tendenz 
zur  Heilung.  Ausser  in  der  Umgebung  der  Gelenke  findet  man  solche  Tophi 
am  Ohr,  wo  sie  sich  am  Eande  des  Helix  festsetzen  und  meist  nur  eine  so 
geringe  Grösse  erreichen,  dass  sie  von  den  Kranken  oft  gar  nicht  bemerkt 
werden. 

Bei  den  an  chronischer  Gicht  leidenden  Personen  werden  Anfälle  durch 
geringfügige  Ursachen  ausgelöst,  durch  den  Genuss  mancher  Getränke  und 
Speisen,  z.  B.  von  Champagner,  saurem  Bier,  Citronen,  bisweilen  durch  eine 
„Magenverstimmung"  oder  durch  eine  leichte  Erkältung.  Auch  angestrengte 
körperliche  und  geistige  Thätigkeit  kann  den  gleichen  Effect  hervorrufen.  So 
berichtet  Sydenham,  dass  er,  wenn  er  an  seiner  bekannten  Abhandlung  über 
die  Gicht  angestrengt  arbeitete,  häufig  von  einem  Anfall  heimgesucht  wurde. 

Das  Schicksal  der  in  dieser  Weise  an  chronischer  Gicht  Leidenden  ist 
beklagenswerth;  sie  sind  nur  kurze  Zeit  im  Jahre  schmerzfrei  und  auch  dann 
durch  die  hochgradigen  Veränderungen  an  und  in  ihren  Gelenken,  welche 
theilweise  zu  Ankylosirung  geführt  haben,  in  hohem  Grade  behindert.  Aber 
auch  Störungen  anderer  Organe  pflegen  nicht  auszubleiben,  von  denen  einzelne 
das  Leben  ernstlich  gefährden  können.  Die  hierher  zu  rechnenden  Zustände 
sind  auch  zuweilen  als  viscerale,  vage,  retrograde,  metastatische, 
von  Gareod  als  irreguläre  Gicht  beschrieben  worden.  So  begegnet  man  hart- 
näckigen Katarrhen  des  Magens,  von  einigen  Autoren  ist  sogar  die  Ansicht 
ausgesprochen,  dass  die  Gicht  für  den  Magen  ebenso  verhängnisvoll  sei  wie 
der  acute  Gelenkrheumatismus  für  das  Herz.  Dazu  gehören  ferner  der  gich- 
tische Tripper,  welcher  wahrscheinlich  auf  einem  Katarrh  der  Ausführungs- 
gänge der  Prostata  beruht,  und  die  gichtischen  Augenbindehautentzündungen. 

Unter  den  Veränderungen  innerer  Organe  nehmen  die  der  Nieren 
den  ersten  Rang  ein.  In  den  leichten  Fällen  stellen  dieselben  Ablagerungen 
von  Harnsäure  in  den  Nierenpapillen  dar,  an  diese  schliessen  sich  aber 
Schrumpfungsprocesse  des  interstitiellen  Gewebes  der  Rinde  an,  und  es  können 
ausgebildete  Schrumpfnieren  entstehen.  Am  Herzen  werden  Hypertrophien  und 
Dilatationen  beobachtet,  welche  klinisch  durch  Herzklopfen  und  unregelmäs- 
sigen Puls  sich  documentiren.  In  den  grösseren  Gefässen  entwickeln  sich 
bei  Gichtischen  sehr  häufig  sklerotische  Processe.  Eine  Reihe  nervöser  Symp- 
tome, für  welche  anatomische  Veränderungen  wohl  schwerlich  nachzuweisen 
sein  dürften,  begleitet  die  Gicht  endlich  in  allen  Stadien  ihres  Verlaufes. 

Die  Aufeinanderfolge  der  Krankheitssymptome  ist  nicht  immer  so  typisch, 
wie  wir  sie  soeben  geschildert  haben.  Zunächst  kommt  es  vor,  dass  bei  der 
ersten  Attaque  ein  anderes  Gelenk  als  das  der  grossen  Zehe  befallen  und  erst 
bei  späteren  Wiederholungen  auch  dieses  in  Mitleidenschaft  gezogen  wird. 
Mehr  Beachtung  beanspruchen  die  Fälle,  bei  denen  die  Gelenkaffection  in  den 
Hintergrund  tritt  oder  ganz  fehlt,  dafür  Störungen  in  inneren  Organen  den 
Ausdruck  der  gichtischen  Diathese  ausmachen.  Diese  anomale  Gicht  wird 
vorzüglich  bei  ererbter  Disposition  zu  der  EJrankheit  und  bei  Frauen  beobachtet. 
Hierher  zu  rechnen  sind  auch  die  von  Ebstein  unter  der  Bezeichnung  „pri- 
märe Nierengicht"  zusammengefassten  Fälle,  bei  welchen  die  gichtischen  Ab- 
lagerungen und  Entzündungen  zuerst  und  hauptsächtlich  die  Nieren  ergreifen, 
während  Gelenkaffectionen  gar  nicht  oder  in  späteren  Stadien  auftreten.  Der 
Verlauf  der  primären  Nierengicht  soll  ein  viel  rapiderer  und  schwererer  sein  als 


782  GICHT. 

der  der  primären  Gelenkgicht.  Ob  solclie  Fälle  sicher  vorkommen,  ist  noch 
nicht  über  jeden  Zweifel  erhaben,  jedenfalls  gehören  sie  aber  zu  den  grössten 
Seltenheiten  und  dürften  ihrer  Erkennung  vor  dem  Erscheinen  der  Gelenk- 
aifectionen  erhebliche  Schwierigkeiten  sich  entgegenstellen. 

Nicht  selten  complicirt  die  Gicht  sich  mit  Steinen  in  Niere  und  Blase, 
welche  dann  meistens  aus  harnsauren  Salzen  bestehen.  Auch  Combination 
mit  anderen  Anomalien  des  Stoffwechsels,  so  mit  Diabetes  mellitus  und  mit 
Fettleibigkeit  wird  mitunter  beobachtet. 

Pathologische  Anatomie  und  Chemie:  Die  Leichen  von  Personen, 
welche  an  Gicht  gelitten  haben,  kommen  verhältnismässig  selten  zur  Section; 
daher  bedürfen  noch  manche  Punkte  in  der  pathologischen  Anatomie  dieser 
Krankheit  der  Aufklärung.  An  den  befallen  gewesenen  Gelenken  findet  man 
Ablagerungen  von  saurem  harnsaurem  Natron,  welche  bei  makroskopischer 
Betrachtung  wie  Körnchen  von  feinem  weissen  Sande  durch  den  Knorpel  hin- 
durchschimmern. Nach  Gaerod  sind  dieselben  in  jedem  Gelenk,  welches 
einen  Anfall  überstanden  hat,  zu  finden;  EßSTEm  dagegen  betont,  dass  oft  erst 
nach  wiederholten  Attaquen  diese  Ausscheidungen  entstehen.  In  vorgeschrittenen 
Fällen  beschränken  sie  sich  nicht  nur  auf  den  Gelenkknorpel,  sondern  werden 
auch  in  den  Bändern  und  Schleimbeuteln,  sowie  in  der  benachbarten  Haut 
beobachtet.  Mikroskopisch  stellen  dieselben  sich  als  feine,  zu  Büscheln  und 
Drusen  angeordnete  Krystallnadeln  dar,  welche  in  den  Knorpel  eingesprengt, 
von  der  Oberfläche  desselben  aber  durch  eine  dünne  Schicht  intacten  Ge- 
webes getrennt  sind.  An  der  Stelle  dieser  Krystallablagerung  nimmt  der 
Knorpel  nach  Ebstein  keine  Kernfärbung  mehr  an,  ist  also  abgestorben,  ne- 
krotisch. Aehnliche  Vorgänge  finden  sich  als  Uratinfarkte  in  den  Pyramiden 
und  Marktheilen  der  Nieren,  oft  vergesellschaftet  mit  ausgesprochener  Gra- 
nularatrophie. 

Das  Blut  Gichtkranker  enthält  nach  Garrod  abnorm  viel  Harnsäure 
(bis  0"175  pro  mille),  während  es  bei  Gesunden  nur  Spuren  davon  auf- 
weisen soll. 

Ueber  das  Verhalten  der  Harnsäure  im  Urin  differiren  die  An- 
gaben. Garrod  hat  gefunden  (was  von  mehreren  Seiten  bestätigt  ist),  dass 
während  des  acuten  Anfalles  die  Ausscheidung  der  Harnsäure  vermindert  ist, 
nach  Abklingen  desselben  wieder  ansteigt.  Pfeiffer  dagegen  glaubt  gerade 
umgekehrt  während  des  Anfalles  eine  vermehrte  Ausscheidung  nachgewiesen 
zu  haben.  Die  Piesultate  Pfeiffer's  sind  jedoch  von  Ebstein  in  Zweifel  ge- 
zogen worden.  Bei  chronischer  Gicht  ist  von  allen  Autoren  übereinstimmend 
eine  erhebliche  Verminderung  der  Harnsäureausscheidung  constatirt.  That- 
sächlich  bedürfen  die  gemachten  Angaben  noch  dringend  der  Nachprüfung,  da  die 
meisten  Untersuchungen  bisher  mit  durchaus  unzulänglichen  Methoden  ausge- 
führt sind.  Erschwert  wird  die  Beurtheilung  noch  erheblich  dadurch,  dass  schon 
bei  normalen  Menschen  die  Werthe  für  die  täglich  ausgeschiedene  Harnsäure 
innerhalb  sehr  weiter  Grenzen  schwanken.  In  späteren  Stadien  der  Gicht 
findet  man  häufig  Eiweiss    im  Urin  als  Zeichen  der  Erkrankung  der  Nieren. 

Theorie:  Dass  die  Gicht  auf  einer  abnormen  Anhäufung  von  Harn- 
säure in  den  Säften  des  Organismus  beruht,  also  eine  Theilerscheinung  der 
harnsauren  Diathese*)  ist,  wird  zur  Zeit  wohl  allgemein  angenommen.  Wir 
übergehen  daher  alle  früheren,  mit  dieser  Thatsache  noch  nicht  rechnenden 
Theorien.  Eine  Anhäufung  von  Harnsäure  kann  sowohl  durch  vermehrte 
Bildung,  als  durch  verminderte  Ausscheidung  zu  Stande  kommen.  Erstere  ist 
der  gebräuchlichen  Annahme  nach  die  Folge  einer  zu  reichlichen  Zufuhr 
stickstoffhaltiger  Nahrungsmittel,  kommt  also  bei  üppiger  Lebensweise  vor, 
deren  sich  die  meisten  Gichtkranken  schuldig  machen.  Immerhin  würden, 
wenn  die  Ausscheidung  der  Harnsäure  ungehindert  von    statten  geht,   trotz- 

*)  Vergl.  „Harnsaurediatfiese"  (F.  Kraus)  Bd.  II.  der  „Internen  Medicin." 


GICHT.  783 

dem  keine  Störungen  auftreten  können.  Daher  nimmt  Garrod  als  Grund- 
lage seiner  Theorie  der  Gicht  eine  Behinderung  der  Harnsäureausscheidung 
an.  Er  ist  der  Ansicht,  dass  die  Nieren  schon  in  den  frühesten  Stadien 
mangelhaft  functioniren  und  dadurch  eine  Ansammlung  von  Harnsäure  im 
Blut  stattfinde.  Erreicht  diese  einen  gewissen  Grad,  so  kommt  es  unter 
dem  Einfluss  geringfügiger  Ursachen,  so  Erkältung,  Traumen  etc.,  zu  einer 
Ausscheidung  vorerst  flüssiger,  bald  krystallinisch  sich  abscheidender,  harn- 
saurer Salze  und  es  entsteht  so  der  acute  Gichtanfall.  Diese  Theorie  hat 
grosse  Verbreitung  gefunden,  weist  aber  doch  gewisse  Schwächen  auf,  deren 
wesentlichste  in  der  Annahme  einer  von  vorneherein  ungenügenden  Nieren- 
thätigkeit  liegt.  Letztere  ist  in  frischen  Fällen  weder  klinisch  noch  ana- 
tomisch nachzuweisen  und  fehlt  auch  bei  vorgeschrittener  Erkrankung  nicht 
selten  vollständig. 

Ebstein  glaubt  den  Ort  für  die  vermehrte  Harnsäurebildung  bei  der 
uns  beschäftigenden  Krankheit  in  den  Muskeln  und  besonders  im  Knochen- 
mark suchen  zu  müssen,  von  wo  dieselbe  durch  die  engen  Saftcanälchen  des 
Knorpels  dem  allgemeinen  Säftestrom  zugeleitet  wird.  In  diesen  kann  es 
leicht  zu  einer  Stauung  und  damit  zu  einer  Ausscheidung  gelöster  neutraler 
harnsaurer  Salze  im  Knorpel  kommen,  welche  eine,  acute  Entzündung,  den 
Gichtanfall,  bewirken.  Dabei  entstehen  nekrotische  Herde  im  afficirten  Knorpel 
und  an  diesen  Stellen  scheiden  sich  unter  dem  Einfluss  der  sauren  Reaction 
des  absterbenden  Gewebes  saure  harnsaure  Salze  krystallinisch  ab.  Nur  für 
die  primäre  Kierengicht  lässt  Ebsteix  die  GAEROD'sche  Hypothese  gelten. 

Pfeiffer  endlich  ist  der  Meinung,  dass  die  Harnsäure  bei  den  an  Gicht 
Leidenden  in  einer  besonders  leicht  abscheidbaren  Form  circulire  (von  ihm 
als  „freie  Harnsäure"  bezeichnet),  und  daher  die  Ablagerung  ihrer  Salze  in 
den  Gelenken,  sowie  die  Bildung  der  Tophi  ohne  Entzündungserscheinungen 
an  Stellen  vor  sich  geht,  an  welchen  durch  Traumen  örtliche  Nekroseherde 
entstanden  sind.  Wenn  nun  eine  plötzliche  Vermehrung  der  Alkalescenz  der 
Säfte  eintritt,  wird  ein  Theil  dieser  abgelagerten  Harnsäure  gelöst  und  durch 
die  in  Lösung  gehende  Harnsäure  der  Entzündungsprocess,  der  acute  Gicht- 
anfall, hervorgerufen.  Pfeiffer  verwerthet  für  diese  Hypothese  seine  Unter- 
suchungen über  das  Verhalten  der  Harnsäure  im  Urin  Gichtkranker,  sowie 
auch  die  Beobachtung,  dass  beim  Gebrauch  alkalischer  Mineralwässer  zuweilen 
acute  Gichtanfälle  entstehen. 

Die  Diagnose  des  ersten  Anfalls  ist  leicht,  wenn  derselbe  bei  Männern 
im  mittleren  Lebensalter  in  typischer  Weise  in  dem  Grosszehengelenk  auf- 
tritt; schwieriger  gestaltet  dieselbe  sich  schon,  wenn  ausnahmsweise  die 
Krankheit  bei  jüngeren  Individuen  auftritt  oder  einmal  ein  anderes  Gelenk 
zuerst  afficirt  wkd.  liCtzterer  Fall  tritt  dann  leicht  ein,  wenn  dasselbe  durch 
eine  früher  überstandene  Entzündung  oder  durch  ein  erlittenes  Trauma  prä- 
disponirt  ist.  Hier  bringt  oft  erst  ein  späterer  Anfall  die  Aufklärung,  in 
welchem  die  grosse  Zehe  in  typischer  Weise  afficirt  wird.  Garrod  hat  für 
solche  Fälle  den  Nachweis  der  Harnsäure  im  Blute  mittelst  der  von  ihm  an- 
gegebenen Fadenprobe  empfohlen.  Zur  Ausführung  derselben  füllt  man 
ein  Uhrschälchen  mit  Blutserum  oder  Serum  aus  einer  Vesicatorblase,  setzt  dazu 
6 — 10  Tropfen  einer  SO^oigen  Essigsäure,  versenkt  in  die  gut  durchgemischte 
Flüssigkeit  einen  feinen,  leinenen  Faden  und  lässt  sie  gut  zugedeckt  an  einem 
massig  warmen  Orte  24  Stunden  stehen.  Falls  ein  Ueberfluss  von  Harnsäure 
in  dem  Blute  vorhanden  ist,  sieht  man  bei  Betrachtung  unter  dem  Mikroskop 
eine  Menge  kleiner  rhombischer  Krystalle  an  den  Faden  angesetzt.  —  Pfeiffer 
empfiehlt  die  Filtration  von  cca.  100  cm'^  der  Tagesportion" des  Urins  durch  ein 
mit  0-5  ^  chemisch  reiner  Harnsäure  beschicktes  Filter  mit  nachfolgender 
Bestimmung  der  in  dem  Filtrat  zurückgebliebenen  Harnsäure.  Ist  letztere 
nur  in  minimalen  Mengen  vorhanden  (im  Vergleich  zu  dem  unfiltrirten  Urin), 


784  GICHT. 

so  soll  damit  der  Beweis  erbracht  sein,  dass  die  Harnsäure  bei  dem  betreffen- 
den Kranken  sich  in  einem  abnorm  leicht  abscheidbaren  („freien")  Zustande 
befindet,  mithin  nach  Pfeiffers  Theorie  Gicht  vorliegt.  —  Die  Giltigkeit  bei- 
der Proben  ist  bisher  noch  nicht  zweifellos  erwiesen  und  haben  dieselben 
daher  für  die  Praxis  nur  einen  geringen  Werth. 

Bei  chronischer  Gicht  sind  die  Anfälle  oft  so  verwischt  und  atypisch 
geworden,  ausserdem  das  Auftreten  derselben  von  äusseren,  besonders  Witte- 
rungseinlltissen  in]  so  hohem  Maasse  abhängig,  dass  eine  Unterscheidung 
durch  die  Symptome  allein  von  dem  chronischen  Gelenkrheumatismus  nicht 
getroffen  werden  kann.  Beide  Krankheiten  haben  ferner  auch  darin  eine  ge- 
wisse Uebereinstimmung,  dass  sie  zu  erheblichen  Verunstaltungen  der  Ge- 
lenke mit  Behinderung  ihrer  Function  Veranlassung  geben.  In  solchen  Fällen 
ist  eine  sorgfältige  Anamnese  zu  erheben.  Wo  dieselbe  die  Existenz  früherer 
typischer  Gichtanfälle  nachweist,  ist  die  Diagnose  klar.  Wenn  sie  jedoch, 
wie  oft,  im  Stiche  lässt,  ist  auf  das  Vorhandensein  gichtischer  Tophi  zu 
achten,  deren  Bestehen  ebenfalls  mit  Sicherheit  für  Gicht  spricht.  An  den 
Extremitäten  sind  dieselben  mitunter  schwer  von  chronisch  rheumatischen 
Veränderungen  zu  unterscheiden,  daher  richte  man  sein  Augenmerk  auf  die 
kleinen  weissen  Knötchen  am  äusseren  Rande  der  Ohrmuschel,  welche  oft  so 
unscheinbar  sind,  dass  die  Kranken  keine  Ahnung  von  ihrer  Existenz  haben, 
die  aber  das  Bestehen  von  Gicht  durchaus  sicher  beweisen. 

Der  Verlauf  der  Gicht  ist  ein  exquisit  chronischer.  Wenn  keine  Com- 
plicationen  hinzutreten,  pflegen  die  Kranken  ein  sehr  hohes  Alter  zu  erreichen. 
Zeigen  sich  dagegen  früh  Symptome  einer  Merenaö'ection,  so  macht  dieselbe 
meist  auch  schnelle  Fortschritte  und  führt  bald  den  letalen  Ausgang  herbei. 

Die  Prognose  ist  quoad  valetudinem  completam  eine  sehr  ungünstige; 
Heilungen  sind  wohl  kaum  je  beobachtet,  doch  kann  bei  verständiger  Lebens- 
führung die  Zahl  der  Anfälle  sich  in  massigen  Grenzen  halten.  Die  ererbte 
Gicht  verhält  sich  auch  unter  diesen  Umständen  ungünstiger  als  die  erworbene. 
Ergibt  der  Kranke  sich  jedoch  ungestört  den  Tafelfreuden,  so  kehren  die 
Anfälle  in  immer  kürzeren  Zwischenräumen  wieder,  es  treten  bald  Tophi  mit 
Verunstaltung  der  Gelenke  und  Behinderung  ihrer  Beweglichkeit  auf  und 
es  kommt  zur  Entwicklung  der  chronischen  Gicht  mit  allen  ihren  Plagen.  — 
Quoad  vitam  ist  die  Prognose  viel  günstiger  und  nur  dann  ernst  zu  stellen, 
wenn  frühzeitig  Störungen  von  Seiten  der  Nieren,  des  Herzens  oder  der  Ge- 
fässe  sich  geltend  machen. 

Therapie:  Dieselbe  richtet  sich  in  erster  Linie  gegen  die  harnsaure 
Diathese,  muss  also  die  krankhaft  vermehrte  Production  der  Harnsäure  ein- 
zuschränken suchen.  Dies  kann  lediglich  durch  eine  Eegelung  der  Diät  ge- 
schehen. Die  Harnsäurebildung  wird,  wie  schon  besprochen,  durch  stickstoff- 
haltige Nahrung,  also  vorzüglich  durch  Fleischspeisen  gesteigert.  Mithin 
würde  eine  Einschränkung  derselben  und  Bevorzugung  von  wesentlich  vegeta- 
bilischer Kost  theoretisch  als  das  rationellste  erscheinen.  Das  ist  aber  that- 
sächlich  nicht  der  Fall.  Durch  zu  strenge  Entziehung  stickstoffhaltiger  Sub- 
stanzen setzt  man  die  Kranken  viel  grösseren  Gefahren  aus,  als  man  ihnen 
dadurch  Nutzen  schafft,  denn  durch  eine  solche  Ernährungsweise  werden  ilire 
Kräfte  geschwächt  und  sie  der  Möglichkeit  ausgesetzt,  statt  der  acuten  An- 
fälle die  chronische  Gicht  und  das  durch  sie  bedingte  Siechthum  einzutauschen, 
womit  ihnen  kaum  gedient  sein  dürfte.  Die  Diät  der  Gichtkranken  darf 
daher  nicht  einer  Entziehungscur  gleichkommen,  sie  soll  auch  nicht  einseitig 
sein,  sondern  eine  gemischte,  mit  möglichster  Berücksichtigung  der  indivi- 
duellen Verhältnisse.  Der  Kranke  soll  so  viel  essen,  als  genügt,  um  sich  auf 
dem  stofflichen  Bestände  zu  erhalten,  aber  auch  nicht  mehr,  er  soll  die  Speisen 
ohne  reizende  Zuthaten  gemessen  und  nur  so  lange  essen,  bis  der  Hunger 
gestillt  ist.     Auch  gewöhne  er  sich  die  zu  häufigen  Mahlzeiten,  so  beispiels- 


GICHT.  785 

weise  das  2.  Frühstück,  ab.  Die  Speisen  müssen  leicht  verdaulich  zubereitet 
sein,  Fleisch,  Eier,  Gemüse,  Fette  sind  gestattet,  gewisse  Kohlenhydrate,  so 
Kartoffeln  und  Leguminosen  werden  zweckmässig  möglichst  eingeschränkt 
und  nur  in  Püreeform  genossen,  da  sie  leicht  zu  Verdauungsstörungen  Anlass 
geben.     Von  Genussmitteln  ist  Obst  zu  empfehlen. 

Alkoholische  Getränke  sind  am  besten  ganz  zu  verbieten  und  ihr  Gebrauch 
für  die  Fälle  zu  reserviren,  wo  sie  bei  Schwächezuständen  zur  Belebung  der 
Kräfte  von  Nutzen  sind.  Den  Patienten,  welche  nicht  genügend  Willenskraft 
haben,  diesem  Verbote  gemäss  zu  leben,  ist  der  Genuss  von  1  bis  2  Gläsern 
guten  reinen  Rothweins  oder  leichten,  gut  vergohrenen  Biers  zu  empfehlen. 
Gestattet  sind  ausser  reinem  Wasser  die  natürlichen  und  künstlichen  Tafel- 
wässer, Selters,  Soda,  Fachinger,  I^iliner,  Giesshübler,  Harzer  Sauerbrunnen, 
von  denen  der  Kranke  so  viel  gemessen  mag,  als  seinem  Durste  entspricht. 

Von  grossem  Vortheil  ist  es,  Gichtkranke  ausgiebige  Bewegungen  aus- 
führen zu  lassen,  Spaziergänge,  Reiten,  Turnen  u.  s.  w.  Wo  active  Muskel- 
thätigkeit  durch  die  Verkrüppelung  der  Gelenke  nicht  möglich,  ist  Massage 
der  erkrankten  Theile,  Waschungen  des  Körpers  mit  kühlem  Wasser  und 
nachfolgende  Frottirung  anzurathen. 

Eine  zweite  Indication  für  unser  therapeutisches  Handeln  ist  die  Be- 
schleunigung der  Harnsäureausscheidung;  derselben  wird  durch  Verabreichung 
von  Alkalien  Genüge  geleistet.  In  gewissem  Sinne  ist  hierzu  der  curmässige 
Gebrauch  mancher  Obstarten  zu  rechnen,  so  der  Kirschen,  Erdbeeren,  Trauben, 
da  die  in  ihnen  enthaltenen  pflanzensauren  Alkalien  im  Körper  in  kohlensaure 
umgewandelt  werden.  Einer  grossen  Beliebtheit  erfreut  sich  von  Alters  her 
eine  Anzahl  alkalischer  Mineralwäs  ser  bei  der  Gicht,  so  besonders  Vichy 
und  Ems.  Besteht  gleichzeitig  eine  Schwäche  der  Verdauungsorgane,  so  werden 
Karlsbad  und  Marienbad  und  bei  geschwächtem  Organismus  Kissingen  und 
Homburg  in  Anwendung  gezogen.  Auch  die  Kochsalzwässer  Wiesbadens  stehen 
in  bedeutendem  Rufe  bei  dieser  Krankheit.  An  den  meisten  der  genannten 
Orte  werden  Trink-  und  Badecuren  mit  einander  vereinigt. 

Das  Alkali,  welches,  wenigstens  im  Reagenzglase,  die  stärkste  harnsäure- 
lösende Kraft  besitzt,  ist  das  Lithion,  daher  sind  die  lithionhaltigen  Quellen 
in  neuerer  Zeit  aus  theoretischen  Gründen  besonders  empfohlen,  z.  B.  das 
Assmannshäuser  Wasser  mit  kohlensaurem  und  die  Sahschlirfer  Bonifacius- 
quelle  mit  Chlorlithium.  Auch  wird  das  Lithium  carbonicum  in  Dosen  von  O'l 
bis  0'3  mehrmals  täglich  allein  oder  in  Verbindung  mit  doppeltkohlensaurem 
Natrium  und  Kochsalz  in  Selterswasser  gelöst  gereicht.  Die  thatsächlichen 
Erfolge  sind  bisher  hinter  den  gehegten  Erwartungen  zurückgeblieben. 

Ein  Arzneimittel,  welches  ebenfalls  Harnsäure  reichlich  zu  lösen  vermag, 
ist  das  erst  seit  kurzem  bekannt  gewordene  Plperazin.  hydrochloricum  und 
dürfte  daher  eine  Probe  mit  demselben  anzurathen  sein.  Man  verabreicht  es 
zu  1*0  pro  die  in  Selterswasser.  Der  Preis  des  Medicamentes  ist  bisher  ein 
recht  hoher  (PO  =  P50  Mark). 

Der  acute  Gichtanfall  selbst  erheischt  in  den  meisten  Fällen  keine 
besondere  Medication;  man  hülle  das  erkrankte  Glied  in  Flanell  oder  Watte, 
sorge  für  Ruhigstellung  und  verabfolge  eine  leichte  Diät.  Starke  Schmerzen 
machen  die  Anwendung  von  Narkoticis  erforderlich.  Das  oft  empfohlene 
jS!atrium  salict/licum  scheint  keinen  Einfluss  auf  die  Dauer  des  Anfalles  zu 
haben,  ebenso  wenig  das  Colchicum,  welches  von  Garrod  geradezu  als  Spe- 
cificum  bei  Gicht  gepriesen  wurde.  Man  gibt  das  letztere  Mittel  in  der 
Form  der  Tinctura  seminum  Colchici  oder  des  Viniim  Colchici  3-  bis  4mal 
täglich  zu  15  bis  20  Tropfen  und  mehr,  und  ist  ein  Versuch  damit  jedenfalls 
gerechtfertigt.  —  Oertlich  können  eventuell  feuchtwarme  Umschläge  und  Ein- 
reibungen mit  narkotischen  Salben  angewandt  werden. 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne  Medicin  und  Kinderkrankheiten.  50 


786  HAEMATHEMESIS. 

Die  gichtischenTophi  werden  mitunter  durch  fortgesetzten  Gebrauch 
von  alkalischen  Mineralwässern  verkleinert  und  zum  Schwinden  gebracht. 
Bei  abnormer  Grösse  einzelner  und  dadurch  bedingter  mechanischer  Behin- 
derung eines  Gelenkes  könnte  unter  Umständen  die  operative  Entfernung  der- 
selben in  Frage  kommen.  hilbert. 

HaemathßtnesiS  {Bluterbrechen,  Magenblutung).  Bei  dem  grossen  Reich- 
thum  an  Blutgefässen  ist  es  nicht  wunderbar,  dass  mehr  oder  weniger  um- 
fangreiche Blutaustritte  aus  der  Magenschleimhaut  stattfinden.  Geringe  Blu- 
tungen kommen  zweifellos  gelegentlich  latent  im  Anschluss  an  chemische,  ther- 
mische und  mechanische  Reize  vor.  Als  Ueberbleibsel  derselben  sieht  man  dann 
bei  Sectionen  die  bekannten  schiefrigen  Verfärbungen,  wie  sie  besonders  häufig 
bei  der  Gastritis  chronica  zur  Beobachtung  kommen  (s.  d.  Art.).  Erst  wenn  eine 
grössere  Magenblutung  vorkommt,  äussert  sie  sich  durch  charakteristische  ob- 
jective  und  subjective  Symptome.  Was  die  letzteren  anbetrifft,  so  sind 
sie  analog  dem  Symptomenbilde,  wie  sie  überhaupt  ein  acuter  Blutverlust  her- 
vorruft: Ohnmacht,  Schwindel,  Ohrensausen,  Schwächegefühl,  kleiner  Puls, 
kühle  Extremitäten  u.  s.  w. 

Die  objectiven  Symptome  bestehen  in  der  Beschaffenheit  und  dem 
Aussehen  des  Erbrochenen,  worauf  wir  genauer  eingehen  müssen,  ferner  im  Auf- 
treten theerartiger  Stühle  (Meläna).  Wo  letztere  deutlich  vorhanden  und  Hand 
in  Hand  mit  den  Zeichen  einer  acuten  Anämie  gehen,  sind  sie  eigentlich  ein 
fast  untrügliches  Zeichen  einer  stattgefundenen  Magenblutung. 

Obwohl  in  den  meisten  Fällen  Blutungen  ans  den  Körperhölilen  leicht  zu  erkennen 
sind,  machen  gerade  Hämoirhagien  aus  dem  Klagen  zuweilen  Schwierigkeiten.  Freilich  nicht, 
falls  das  Blut  frisch  oder  klumpig  geronnen  ist;  wohl  aber  wo  es  zersetzt  ist,  wie 
namentlich  bei  Carcinom.  Mit  dem  kaffeesatzartigen  Aussehen  darf  man  sich  in  solchen 
Fällen  nicht  begnügen,  sondern  muss  entweder  die  Häminprobe  oder  die  spectroskopische 
Probe  anstellen  (s.  das  Genauere  unter  ^Mageninlialtsuntersucliung^^).  Als  orientirende  Probe 
in  diesen  Fällen  genügt  die  HELLER'sche  Blutprobe,  wobei  man  den  Mageninhalt  mit  etwas 
Harn  und  überschüssiger  Kalilauge  versetzt.  Beim  Erhitzen  und  späteren  Erkalten  schlagen 
sich  die  durch  den  Blutfarbstoff  granatroth  gefärbten  Phosphate  zu  Boden.  Auch  in  allen 
sonstigen  zweifelhaften  Fällen,  namentlich  bei  unsicherer  Meläna  ist  die  Anstellung  zuver- 
lässiger  Blutproben  das  wichtigste  Hilfsmittel  einer  richtigen  Diagnose. 

Grössere  Schwierigkeiten  macht  dagegen  die  Art  des  Bluterbrechens. 
Man  hat  unter  günstigen  Umständen  Gelegenheit  das  Erbrochene  zu  sehen 
und  zu  prüfen,  dann  ist  die  Diagnose  meist  nicht  schwer.  Viel  häufiger  muss 
man  sich  aber  aus  den  Angaben  der  Patienten  ein  Bild  von  der  Provenienz 
des  Blutes  machen,  was  zuweilen  auf  grosse  Schwierigkeiten  stösst.  Um  in 
derartigen  Fällen  die  richtige  Entscheidung  zu  treffen,  muss  man  eine  Vor- 
frage erledigen:  Stammt  das  Blut  überhaupt  aus  dem  Magen  oder 
aus  anderen  Organen?  Von  letzteren  kommen  in  Betracht:  Zahnfleisch, 
Nase,  Rachen,  Lunge,  Oesophagus.  Zahnfleisch-,  Nasen-,  Rachenhöh- 
lenblutungen  machen  in  der  Regel  keine  wesentlichen  diagnostischen 
Schwierigkeiten,  wenn  man  nicht  eine  genaue  Ocularinspection  der  genannten 
Organe  verabsäumt.  Dagegen  können  einerseits  Lungen-,  andrerseits  Oesopha- 
gusblutungen  zuweilen  die  Veranlassung  zu  Missdeutung  geben.  Bezüglich  der 
ersteren  dient  das  folgende  Schema  zur  Orientirung. 

Lungen-  Magen- 

Blutungen. 

1.  Das  Blut  ist  hellroth,  schaumig  und  1.  Das  Blut  ist  dunkelbraun,  zum  Theil 
xeagirt  alkalisch.                                                       coagulirt,  es  können  Speisereste  beigemischt 

sein;  Eeaction  kann  alkalisch  oder  sauer  sein. 

2.  Die  Anamnese  weist  auf  ein  Lungen-,  2.  Die  Anamnese  weist  auf  Symptome  ent- 
bezw.  Herzleiden  (hämorrhagischer  Infarct)  weder  eines  Magenleidens  oder  einer  Stauung 
hin.                                                                              im  Pfortadersystem  hin. 

3.  Der  objective  Befund  deutet  auf  eine  3.  Der  objective  Befund  zeigt  das  Bestehen 
Lungen-  oder  Herzaffection    hin,    wobei  der       eines  Magen-    oder   Leberleidens    oder    eine 


HAEMATHEMESIS.  787 

Lungen-  Magen- 


Blutungen. 
Magen    secundär    allerdings   auch  betheiligt      mit  Stauung  im  Pfortaderkreislauf  verbun- 
sein  kann.  dene  Störung  (Tumoren,   Thrombose    u.  A.) 

hin. 
4.  Der  Lungenblutung    folgen    Tagelang  4.  Die  Magenblutungen  sind  in  der  Regel 

rostfarbene    Sputa    (doch    kommen    hiervon      mit  Abgang  theerfarbener  Stühle  verbunden. 
Ausnahmen  vor),  dagegen  nur  ganz  ausnahms- 
weise (nach    Verschlucken    grösserer  ausge- 
husteter Massen)  Meläna. 

Auf  grosse  Schwierigkeiten  kann  die  Unterscheidung  von  Oesophagus- 
und  Magenblutungen  stossen.  Für  Oesophagusblutung  würde  zunächst  der 
Nachweis  eines  Hindernisses  im  Verlauf  der  Speiseröhre  sprechen  (carcinoma- 
töse  Strictur,  Oesophagusstenose  post  ulcus).  Ist  kein  Hindernis  zu  eruiren, 
so  kann  eine  Stauungsblutung  vorliegen,  z.  B,  bei  Lebercirrhose. 

Die  Blutung  selbst  zeigt  bei  Provenienz  aus  dem  Oesophagus  häufig  einen 
anderen  Charakter  als  bei  der  aus  dem  Magen.  Bei  Oesophagusblutungen  ist 
das  Blut  dunkelroth,  aber  nicht  braun  und  nicht  mit  Speiseresten  vermischt. 
Allerdings  können  Blutmassen  auch  in  den  Magen  fliessen  und  dadurch  kaffee- 
satzartiges Erbrechen,  beziehungsweise  theerfarbene  Stühle  produciren.  Für 
die  Entscheidung  ob  die  fraglichen  Blutungen  aus  einem  Ulcus  ventriculi  oder 
oesophagi  stammen,  würde  die  constant  gemachte  Beobachtung  von  Werth  sein, 
dass  bei  letzterem  die  Schmerzen  unmittelbar  beim  Hindurchpassiren  der  Spei- 
sen, bei  ersterem  erst  einige  Zeit  nach  dem  Essen  auftreten.  Ferner  nehmen 
beim  Ulcus  oesophagi  die  Schmerzen  die  Richtung  vom  Sternum  nach  dem 
Epigastrium  und  strahlen  von  da  nach  den  Schulterblättern,  beziehungsweise 
dem  Kreuz  zu.  Endlich  findet  sich  in  allen  Fällen  von  Geschwür  des  Oeso- 
phagus Brechreiz  und  Erbrechen. 

Falls  die  Blutung  sicher  dem  Magen  entspringt,  kommen  ausser  Ulcus 
folgende  Ursachen  in  Betracht:  Carcinom,  Pfortaderstauungen,  Varicen  des 
Magens,  Vergiftungen,  Traumen,  Scorhut,  Hämophilie,  acute  gelbe  Leberatrophie, 
Gefässrupturen  u.  A.  Wo  plötzlich  heftige  Blutungen  auftreten  und  eine  sorg- 
fältige Anamnese  nicht  zu  erheben  ist,  wird  die  Deutung  der  Ursache  der 
Hämorrhagie  häufig  auf  Schwierigkeiten  stossen.  Wo  die  Anamnese  auf  das 
Vorkommen  von  Gastralgien  hindeutet  und  Cholelithiasis  ausgeschlossen  wer- 
den kann,  wird  man  in  erster  Reihe  an  ein  Ulcus  ventriculi  zu  denken  haben. 

Bei  der  Entscheidung  ob  der  Bluterguss  einem  Ulcus  oder  Carcinom  seine  Her- 
kunft verdankt,  kommen  folgende  Punkte  in  Betracht :  Die  Blutungen  aus  Carcinomen  sind 
im  Ganzen  (Ausnahmen  kommen  vor!)  spärlich,  führen  nie  oder  selten  zu  Blutstühlen; 
das  Blut  ist  meist  zersetzt  und  nimmt  das  bekannte  kaffeesatz-  oder  chocoladenfarbene 
Aussehen  an.  Eine  Ausnahme  hiervon  machen  die  Carcinome  der  Cardia,  bei  denen  plötz- 
lich heftige  terminale  Blutungen  entstehen  können,  die  im  Uebrigen  den  Charakter  der 
Oesophagusblutungen  zeigen. 

Therapie:  Ist  eine  Hämathemesis  diagnosticirt,  so  ist  es  am  besten 
sich  zunächst  um  die  genauere  Ursache  derselben  nicht  viel  zu  kümmern. 
Wesentliche  Bedingung  ist:  den  Magen  absolut  ruhig  zu  stellen.  Der  Kranke 
nimmt  dauernd  Rückenlage  an,  wird  streng  angewiesen  sich  nicht  zu  erheben, 
umzudrehen,  das  Bett  nicht  zu  verlassen  etc.  Sodann  erhält  er  eine  leichte 
Eisblase  auf  die  Magengegend.  Falls  nicht  eine  besondere  Indication  vorliegt, 
erhält  der  Kranke  weder  per  os  noch  per  rectum  Nahrung:  selbst  Eis  inner- 
lich halte  ich  für  entbehrlich.  Zeigt  der  Kranke  bedrohliche  Zeichen  von 
Collaps,  so  muss  der  Kranke  rectal  ernährt  werden  durch  Klysmen,  bestehend 
aus  Milch,  Wein,  emulgirten  Eiern  etc.  Die  Ernährung  per  os  darf  erst  be- 
ginnen, falls  cca.  24  Stunden  seit  der  Blutung  verstrichen  sind. 

Steht  die  Blutung  unter  diesen  Umständen,  so  ist  überhaupt  eine  Medi- 
cation  nicht  nothwendig:  am  ehesten  wäre  noch  eine  subcutane  Morphium- 
injection  indicirt,  um  den  Magen-Darmcanal  möglichst  ruhig  zu  stellen.   Innere 

50* 


-788  HAEMOPTOE. 

Mittel  gegen  Magenblutungen  halten  wir  für  wenig  wirksam.  Am  zuverlässig- 
sten ist  die  subcutane  Application  einer  oder  mehrerer  Spritzen  eines  guten 
Ergotinpräparates  (z.  B.  das  von  Bombelon)  oder  der  Pharmacopoea  germanica. 
Bp.  Extr.  Secal.  cornuti  dialys.  Pharmac.  Germ.  l'O.  Aq.  dest.  5-0.  Acid.  car- 
holici    0-1.    Eine  Spritze  voll  subcutan  in  die  Magengegend  zu  injiciren. 

Wo  Gefahr  der  Verblutung  eintritt,  wird  man  —  wie  dies  wiederholt 
geschehen  ist  —  zur  Vornahme  einer  Infusion  mit  physiologischer  Kochsalz- 
lösung oder  noch  besser  intravenösen  Kochsalzinfusion  schreiten  müssen. 
Welcher  Ursache  auch  immer  die  Magenblutung  entspringen  mag,  so 
muss  die  Ernährung  die  ersten  Tage  nachher  eine  möglichst  vorsichtige  sein 
und  darf  zunächst  nur  aus  kühlen  Flüssigkeiten  (Milch,  Thee,  Wein)  bestehen. 
Erst  6 — 8  Tage  nach  der  Blutung  darf  man  vorsichtig  zu  consistenter  Kost 
übergehen. 

Im  Uebrigen  hängt  die  weitere  Behandlung  von  der  Natur  des  zu  Grunde 
liegenden  Leidens  ab,  in  welcher  Hinsicht  auf  die  entsprechenden  Artikel 
dieses  Werkes  hingewiesen  werden  muss.  boas, 

Haemoptoe.  Blutiges  Sputum  gelangt  im  Verlauf  vieler  Erkrankungen 
des  Kespirations-  und  Circulationsapparates  zur  Beobachtung.  Die  Menge  des 
auf  diese  Weise  entleerten  Blutes  ist  sehr  wechselnd;  bald  findet  man  nur 
feine  Punkte  und  zarte  Streifen,  welche  wie  dünne  rothe  Aederchen  den 
schleimig  eitrigen  Auswurf  durchziehen;  bald  ist  ein  grösseres  Quantum  aus- 
gehustet, mit  den  übrigen  Sputumbestandtheilen  innig  gemischt  (Haemoptoe, 
Haemoptysis,  Bluthusten);  bald  werden  erhebliche  Mengen  fast  reinen,  flüssigen 
Blutes  auf  einmal  zu  Tage  gefördert  (Pneumorrhagie,  Blutsturz). 

Aetiologie:  Penetrirende  Stich-  und  Schusswunden  des  Thorax 
können  die  Ursache  der  Haemoptoe  sein;  von  dem  Kaliber  der  verletzten 
Lungengefässe  hängt  dann  die  Grösse  der  Blutung  ab.  Oft  ist  die  durch  den 
Mund  entleerte  Blutmenge  keine  sehr  bedeutende,  während  der  grössere  Theil 
in  die  Pleui'ahöhle  sich  ergiesst  und  zur  Bildung  eines  Haemopneumothorax 
beiträgt.  Auch  Quetschungen  der  Brust  durch  stumpf  einwirkende  Ge- 
walten können  in  Folge  Zerreissung  des  Lungengewebes  Bluthusten  veranlassen. 

Sehr  viel  häufiger  ist  der  Grund  füi'  das  Auftreten  von  Blut  im  Auswurf 
in  pathologischen  Zuständen  der  Bronchien  und  des  Lungen- 
gewebes zu  suchen.  Schon  beim  einfachen  acuten  Bronchialkatarrh 
findet  gelegentlich  durch  angestrengten  Husten  Buptur  erweiterter  Capillar- 
gefässe  in  einzelnen  Bronchien  statt,  und  wird  dadurch  eine  geringe  Quantität 
Blut  dem  Sputum  beigemengt.  In  ähnlicher  Weise  entsteht  die  mitunter  bei 
Keuchhusten  beobachtete  Haemoptoe.  Diese  Vorkommnisse  gehören  aber 
zu  den  Seltenheiten  ;  es  ist  daher  rathsam,  in  der  Annahme  derselben  äusserst 
vorsichtig  zu  sein  und  auch  bei  anscheinend  vollkommen  klaren  und  sicheren 
Fällen  nie  die  sorgfältigste  Untersuchung  der  Brust  und  des  Auswurfs  zu 
versäumen;  denn  gewöhnlich  liegen  schwerere  anatomische  Veränderungen  dem 
Auftreten  des  Bluthustens  zu  Grunde. 

Die  Lungentuberculose  ist  die  häufigste  Ursache  desselben  und 
kann  in  jedem  Stadium  ihres  Verlaufes  von  demselben  gefolgt  sein.  Alle 
Grade  von  den  minimalsten  Blutstreifen  bis  zum  rasch  tödtlich  endenden 
Blutsturz  gelangen  hier  zur  Beobachtung.  Die  sogenannten  iüitialen  Blutungen 
treten  bei  vorher  anscheinend  vollkommen  Gesunden  oder  bei  Personen  auf, 
welche  schon  einige  Zeit  geringen  Husten  gehabt  haben;  sie  sind  meist  unbe- 
deutend und  dann  wohl  darauf  zurückzuführen,  dass  durch  den  Zerfall  der 
tuberculösen  Neubildungen  Capillaren  oder  kleinere  Gefässe  arrodirt  werden. 
Mitunter  kommt  es  gleich  zu  einer  erheblicheren  Blutung,  was  auf  die  Er- 
öffnung eines  grösseren  Gefässes  schliessen  lässt.  Solche  Anfälle  von  Haemoptoe 


HAEMOPTOE.  789 

wiederholen  sich  bei  manchen  Kranken  mehrfach  in  einem  Jahre,  bei  anderen 
fehlen  sie  während  der  ganzen  Dauer  der  Krankheit  vollständig. 

Sind  durch  den  Zerfall  des  erkrankten  Lungengewebes  Cavernen  entstan- 
den, so  kommt  es  vor,  dass  Aeste  der  Pulraonalarterie,  welche  an  der  Wand 
derselben  hinziehen  und  durch  den  destruirenden  Process  nicht  zur  Oblite- 
ration  gebracht  sind,  in  Folge  des  mangelnden  Seitendruckes  aneurysmatisch  in 
die  Hohlräume  hinein  sich  erweitern.  Wird  die  Wand  solcher  sackartiger 
Aneurysmen  der  Lungenarterie  durch  den  geschwürigen  Process  usurirt  oder 
durch  eine  plötzliche  Blutdrucksteigerung  gesprengt,  so  erfolgt  ein  massen- 
hafter Blutsturz,  welcher  das  Leben  des  Patienten  in  hohem  Maasse  gefährdet 
und,  wenn  der  entstandene  Kiss  nicht  bald  durch  ein  Gerinnsel  verlegt  wird, 
rasch  zum  Tode  führt.  Letzterer  erfolgt  dabei  zum  Theil  durch  die  Grösse 
des  Blutverlustes,  hauptsächlich  aber  durch  Erstickung,  indem  das  Blut  die 
Luftwege  überschwemmt,  durch  die  krampfhaften  Inspirationen  des  nach 
Luft  ringenden  Kranken  bis  in  die  feinsten  Bronchial  Verzweigungen  aspirirt 
wird  und  dieselben  verstopft. 

Die  früher  von  namhaften  Aerzten  vielfach  ventilirte  Frage,  ob  eine 
Haemoptoe  Ursache  der  Lungentuberculose  werden  könne,  ist  jetzt 
als  im  negativen  Sinne  entschieden  anzusehen.  Die  Haemoptoe  ist  Folge 
der  Lungentuberculose,  dafür  liefert  die  Auffindung  von  Tuberkelbacillen 
in  dem  Blute  solcher  anscheinend  primärer  Haemoptysen  den  Beweis.  Anderer- 
seits wird  häufig  der  Verlauf  der  Krankheit  durch  eine  Blutung  erheblich 
beschleunigt,  indem  mit  dem  Blute  infectiöses  Material  einen  grossen  Theil 
der  Lungen  überschwemmt  und  so  zu  einer  acuten  und  rapiden  Ausbreitung 
des  tuberculösen  Processes  Veranlassung  gibt. 

Bei  Herzkranken  tritt  Bluthusten  von  massiger  Intensität  als  Symptom 
eines  durch  embolische  Verstopfung  eines  Lungenarterienzweiges  entstandenen 
hämorrhagischen  Infarktes  auf.  Da  die  arteriellen  Gefässe  der  Lunge 
Endarterien  sind,  d.  h.  nicht  mit  anderen  Arteriengebieten  in  directer  Com- 
munication  stehen,  sinkt  der  Blutdruck  in  dem  von  der  Verstopfung  betrof- 
fenen Gefässbezirk,  in  Folge  dessen  erfolgt  aus  den  anastomosirenden  Capillaren 
und  Venen  ein  rückläufiger  Blutstrom,  welcher  die  betreffende  Lungenpartie 
durchsetzt  und  in  die  Bronchien  hinein  exsudirt.  Die  durch  einen  hämor- 
rhagischen Infarkt  bedingte  Haemoptoe  pflegt  sich  in  massigen  Grenzen  zu 
halten  und  nur  wenige  Tage  anzudauern.  Das  Material  für  den  Embolus  wird 
von  im  rechten  Herzohr  oder  im  Körpervenensystem  entstandenen  Thromben 
geliefert. 

Entleerung  kleiner  Mengen  frischen  unveränderten  Blutes  mit  dem  Aus- 
wurf wird  ausnahmsweise  in  den  ersten  Tagen  der  acuten  croupösen  Lun- 
genentzündung beobachtet.  Gewöhnlich  enthält  das  Sputum  bei  dieser 
Krankheit  nur  veränderten  Blutfarbstoff  und  bietet  demnach  die  bekannte  rost- 
braune Färbung  dar. 

Im  Anschluss  an  Abscess  und  Gangrän  der  Lungen  können  eben- 
falls Blutungen  zu  Stande  kommen,  welche  durch  Arrosion  von  Gefässen  zu 
erklären  sind. 

Nicht  selten  tritt  Haemoptoe  auch  bei  älteren  Leuten  auf,  welche  längere 
Zeit  an  chronischem  Bronchialkatarrh  mit  Bronchiectasienbildung  ge- 
litten haben,  und  kann  bei  denselben  eine  recht  bedeutende  Stärke  erlangen. 
Der  Grund  liegt  wahrscheinlich  im  Platzen  erweiterter  Capillaren  und  kleiner 
Gefässe,  welche  die  Wände  der  erweiterten  Bronchien  durchziehen. 

Aus  früherer  Zeit  sind  mehrfach  Fälle  periodisch  wiederkehrender  Hae- 
moptysen berichtet,  welche  an  Stelle  unterdrückter  Menstrual-  oder  Hämor- 
rhoidalblutungen  aufgetreten  und  mit  der  Rückkehr  der  letzteren  verschwunden 
sein  sollen.    Ob  solche   „vicariirende   Lungenblutungen"  thatsächlich 


790  HAEMOPTOE. 

vorkommen,  ist  zum  mindesten  zweifelhaft;  jedenfalls  wird  man  gut  thun,  bei 
der  Diagnose  derselben  die  äusserste  Vorsicht  walten  zu  lassen. 

Vorkommen,  Symptome:  Haemoptoe  ist  bei  beiden  Geschlechtern  in 
gleicher  Frequenz  zu  constatiren.  Am  häufigsten  in  jugendlichem  und  mitt- 
lerem Lebensalter,  ist  sie  aber  auch  bei  Kindern  von  2  Jahren  und  bei  Greisen 
beobachtet.  Mitunter  gingen  stärkere  Anstrengungen  voraus,  häufig  mangelt 
jedoch  jede  äussere  Veranlassung.  Zuweilen  sind  Gefühl  von  Spannung  und 
Völle  auf  der  Brust,  Schmerz  daselbst  u.  s.  w.  als  Vorboten  bemerkt,  meistens 
fehlen  dieselben  völlig,  der  Kranke  wird  von  der  Blutung  inmitten  der  Unter- 
haltung, während  des  Essens  oder  im  Schlafe  überrascht.  Manche  Patienten 
geben  an,  die  Empfindung  von  Aufsteigen  einer  warmen  Flüssigkeit  hinter 
dem  Sternum  gehabt  zu  haben,  sodann  einen  süsslichen  Geschmack  im  Munde, 
worauf  der  Blutauswurf  erfolgte.  Ist  die  Blutung  eine  massige,  so  werden 
am  ersten  und  zweiten  Tage  fast  nur  aus  Blut  bestehende  Sputa  in  der 
Gesammtmenge  von  cca.  1  bis  2  Wassergläsern  entleert,  dann  wird  der  Aus- 
wurf heller,  enthält  mit  jedem  Tage  mehr  die  gewöhnlichen  Bestandtheile,  bis 
derselbe  schliesslich  in  6  bis  8  Tagen  die  schleimigeitrige  Beschaffenheit 
wiedererlangt  hat.  Auch  in  Fällen,  wo  der  Blutverlust  als  solcher  geringfügig 
ist,  pflegen  die  Kranken  in  Folge  des  psychischen  Eindruckes  stark  collabii't, 
mit  schwachem  Pulse  und  kaltem  Schweiss  in  Gesicht  und  an  den  Extremi- 
täten dazuliegen. 

Ist  die  Blutung  massenhafter,  findet  also  ein  wirklicher  Blutsturz  statt, 
so  ergiesst  das  Blut  sich  in  grosser  Menge  auf  einmal  aus  Mund  und  Nase 
des  Patienten,  es  wird  durch  heftige  Hustenstösse,  durch  krampfhafte  Con- 
traction  aller  Exspirationsmuskeln  entleert.  Dabei  kommt  es  gelegentlich  zu 
Erbrechen,  besonders  wenn  etwas  Blut  in  den  Magen  gelangt  oder  im  Pharynx 
sich  festsetzt  und  von  dort  den  Brechreiz  auslöst.  Bei  einem  solchen  Blut- 
sturze können  ein  und  noch  mehr  Liter  auf  einmal  entleert  werden  und  so- 
fort der  Exitus  letalis  eintreten.  Glücklicherweise  ist  dies  nur  selten  der 
Fall,  der  Kranke  erholt  sich  wieder,  wkd  aber  nach  kurzer  Zeit  von  mehr- 
mals wiederkehrenden  ähnlichen  Anfällen  heimgesucht.  Der  Ausgang  ist  nichts- 
destoweniger in  der  Mehrzahl  der  Fälle  zunächst  ein  günstiger. 

Diagnose:  Die  Unterscheidung  einer  Haemoptoe  von  aus  anderen  Or- 
ganen stammenden  Blutungen  bereitet  mitunter  Schwierigkeiten.  So  kann  bei 
Epistaxis,  zumal  wenn  dieselbe  Nachts  sich  einstellt,  das  Blut  währenddes 
Schlafes  durch  die  Choanen  nach  dem  Schlünde  und  Kehlkopf  herabfliessen 
und  hier  angelangt  durch  Hustenstösse  herausbefördert  werden.  Von  Wich- 
tigkeit für  die  Differentialdiagnose  ist  es  hier  zu  beachten,  dass  bei  Nasen- 
bluten zumeist  gleichzeitig  auch  etwas  Blut  aus  der  vorderen  Nasenöffaung 
abtropft.  Bei  Inspection  des  Pharynx  wird  man  ferner  häufig  einen  vom 
Nasenrachenraum  nach  dem  Schlünde  herabziehenden  Streifen  angetrockneten 
Blutes  als  Ptesiduum  der  stattgehabten  Blutung  finden,  welcher  auf  den  Ur- 
sprung derselben  hinführt.  Schliesslich  deckt  die  Inspection  der  Nase  von 
vorne  oder  des  Nasenrachenraumes  durch  die  Pihinoscopia  posterior  die  blu- 
tende Stelle  dir e  et  auf. 

Mit  erheblicheren  Schwierigkeiten  verknüpft  ist  oft  die  Unterscheidung 
einer  Lungen blutung  von  einer  Magenblutung*).  Wenn  es  auch  als 
Regel  zu  betrachten  ist,  dass  bei  ersterer  das  Blut  durch  Husten,  bei  letzterer 
durch  Erbrechen  entleert  wird,  so  kommen  davon  Ausnahmen  vor,  wie  schon 
erwähnt  wurde.  Die  Beschaffenheit  des  entleerten  Blutes  pflegt  jedoch  eine 
verschiedene  zu  sein.  Das  aus  den  Lungen  stammende  ist  heller  roth,  grössten- 
theils  dünnflüssig,  schaumig,  etwa  vorhandene  Gerinnsel  sind  von  Luftblasen 
durchsetzt,  seine  Reaction  ist  alkalisch ;    das    durch   Haematemesis    entleerte 


*)  Yergl.  ^Haematemesis"-  (J.  Boas),  pag.  786  eis.  Bd. 


HAEMOPTOE.  791 

ist  dunkel,  geronnen,  klumpig,  mit  Mageninhalt  vermischt,  die  Reaction  sauer. 
Bisweilen  passirt  es  aber,  besonders  bei  während  des  Schlafes  entstehenden 
stärkeren  Haemoptysen,  dass  ein  Theil  des  Blutes  verschluckt  und  durch  Er- 
brechen herausbefördert  wird,  mithin  die  charakteristischen  Eigenschaften  ver- 
loren hat.  Dann  hat  man  danach  zu  fahnden,  ob  auf  die  Lungen  oder  auf 
den  Magen  zu  beziehende  Krankheitssymptome  vorangegangen  sind. 
Wenn  auch  dies  im  Stich  lässt,  so  kann  im  Augenblick  die  Diagnose  nicht 
gestellt  werden  und  man  muss  die  nächsten  Tage  abwarten,  um  Klarheit  über 
den  Krankheitsfall  zu  erlangen.  Einer  Lungenblutung  folgt  einige  Zeit  die 
Expectoration  mehr  weniger  blutig  gefärbter  Sputa,  einer  Magenblutung 
die  Entleerung  durch  veränderten  Blutfarbstoff  tiefschwarz  ver- 
färbter,  theerartiger  Stühle. 

Bei  Hysterischen  begegnet  man  aus  kleinen  Geschwüren  des  Zahnfleisches 
oder  der  Rachengebilde  stammenden  Blutungen,  welche  als  Haemoptysen  ini- 
poniren.  Eine  genaue  Besichtigung  der  Mundhöhle  und  des  Schlundes  pflegt 
den  Ursprung  derselben  aufzudecken.  Zu  erwähnen  wäre  noch,  dass  nicht  sel- 
ten Blutspucken  theils  von  Hysterischen,  theils  in  betrügerischer  Absicht  simu- 
lirt  ist,  indem  zu  dem  Sputum  Thierblut  oder  rother  Farbstofi^  hinzugesetzt 
wurde.  Die  mikroskopische  Untersuchung  des  verdächtigen  Auswurfes  wird 
hier    den   gewünschten  Aufschluss  ergeben, 

Ueber  die  Prognose  ist  das  Wesentlichste  in  den  voranstehenden  Er- 
örterungen enthalten.  Das  Leben  der  Patienten  ist  nur  bei  sehr  reichlichen 
Pneumorrhagien  direct  bedroht;  meistens  erholen  die  Kranken  auch  nach 
grossen  Blutverlusten  sich  bald  wieder  und  verspüren  sogar  mitunter  eine 
subjective  Erleichterung.  Immerhin  werden  ihre  Kräfte  erschöpft  und  häufig 
bei  Tuberculose  eine  rapidere  Entwickelung  und  Ausbreitung  des  Processes 
eingeleitet. 

Therapie:  Bei  jeder  Lungenblutung  ist  dringend  anzurathen,  den  Pa- 
tienten sofort  das  Bett  aufsuchen  zu  lassen,  und  zwar  muss  dasselbe  in 
einem  kühlen,  gut  ventilirten  Zimmer  seinen  Platz  haben.  Ferner  muss  für 
absolute  körperliche  und  geistige  Buhe  gesorgt  sein,  besonders  alle  Aufregungen 
fern  gehalten  und  durch  die  Versicherung,  dass  der  Zustand  nicht  von  ernster 
Bedeutung  ist  und  bald  vorübergehen  wird,  die  Psyche  der  Kranken  beruhigt 
werden.  Die  Bedeckung  der  Kranken  sei  leicht,  die  Nahrungsaufnahme  zu- 
nächst auf  wenig  flüssige  und  abgekühlte  Speisen  beschränkt,  welche  in  kleinen 
Schlucken  mit  längeren  Pausen  genossen  werden. 

Von  grosser  Wichtigkeit  ist  es,  jeden  Husten  möglichst  zu  unterdrücken. 
Das  erreicht  man  am  sichersten  durch  Verabreichung  kräftiger  Dosen  von 
Morphium  (O'Ol  und  mehr)  innerlich  oder  besonders  bei  stärkerer  Blutung  be- 
hufs rascherer  Wirkung  subcutan.  Gegen  die  Blutung  selbst  wird  Eis  ange- 
wandt, und  zwar  äusserlich  in  Form  leichter,  auf  die  Brust  applicirter 
Eisbeutel    und   per  os    in  erbsengrossen  Stückchen. 

Von  der  Anwendung  blutstillender  Mittel  sind  keine  sehr  rühmens- 
werthen  Erfolge  zu  berichten.  Zu  Beginn  eines  hämoptoischen  Anfalles  kann 
man  einen  Thee-  bis  Esslööel  fein  gestossenen  Kochsalzes  auf  einmal  trocken 
nehmen  und  mit  etwas  Wasser  herunterspülen  lassen.  Mitunter  ist  hiervon 
eclatanter  Nutzen  gesehen,  in  anderen  Fällen  hat  es  jedoch  völlig  versagt. 
Die  Wirkung  ist  wahrscheinlich  durch  eine  in  Folge  des  Reizes  im  Magen 
eintretende  reflektorische  Contraction  der  Lungengefässe  zu  erklären.  Im 
weiteren  Verlaufe  einer  Blutung  zieht  man  Mutterkorn  und  sein  Extract  mit 
Vortheil  in  Anwendung.  Man  gibt  Seeale  cornutum  als  Pulver,  0'2 — 0'5  mehr- 
mals täglich  (Max.  10  pro  dosi,  o'O  pro  die)  oder  im  Infus  5'0  —  8'0  :  200'0, 
ziveistündlich  einen  Esslöffel.  Ergotinum  dialysatum  tvird  in  wässeriger  Lösung 
von  1  :  5  unter  Hinzufügung  von  etwas  Carbolsäure,  um  die  leicht  eintretende 
Zersetzung  zu  verhüten,  ein  bis  mehrere  Spritzen  unter  die  Brusthaut  injiciit. 


792  HALSMüSEELKKAMPF. 

Sorgfältige  Beobachtung  der  Regeln  der  Äntiseptik  ist  dabei  nothwendig, 
weil  sonst  leicht  Infiltrate  und  Abscesse  an  den  Injectionsstellen  entstehen. 
A^on  gleicher  Wirksamkeit  wie  die  Präparate  des  Mutterkorns  ist  das  Ex- 
tractum  fluidum  Eijdrastidis  Canadensis,  wovon  man  dreimal  täglich  30  Tropfen 
nehmen  lässt.  Der  Geschmack  ist  sehr  schlecht,  doch  wh'd  das  Mittel  von 
den  meisten  Patienten  gut  vertragen.  Als  Ersatz  ist  in  neuerer  Zeit  das  aus 
demselben  hergestellte  Hydrastinimim  hydrochloricum  in  Gelatinekapseln  ä 
0-025,  3—6mal  täglich  empfohlen.  Von  dem  früher  vielfach  angewandten  Plum- 
bum  aceticum  {0'02—0-06  pro  dosi),  welches  oft  in  Verbindung  mit  Opium 
gegeben  wurde,  ist    ein  erheblicher  Erfolg  kaum  zu  erwarten. 

Wenn  der  hämoptoische  Anfall  überstanden,  versucht  man  durch  ein 
geeignetes  diätetisches  Verfahren,  insbesondere  Vermeidung  jeder  körperlichen 
und  geistigen  Anstrengung,  den  Ki'anken  vor  Rückfällen  zu  schützen  und 
leitet  die  nothwendigen  Maassnahmen  ein,  um  eine  Heilung  oder  Besserung  des 
zu  Grunde  liegenden  Leidens  zu  erzielen.  hilbert. 

Halsmuskelkrampf.  Unter  dieser  Bezeichnung  fassen  wir  alle  ein- 
schlägigen Krampfformen  zusammen,  da  die  Abgrenzung  von  besonderen 
Krankheitsgruppen  weder  durch  die  Vertheilung  der  Krämpfe  im  Einzelfalle, 
noch  durch  den  Charakter  derselben  genügend  begründet  erscheint. 

Die  Aetiologie  des  Halsmuskelkrampfes  ist  meist  unklar.  Am  häufig- 
sten werden  Erkältung,  Trauma,  Erki^ankungen  der  Halswirbelsäule,  Infections- 
krankheiten  (Typhus.  Malaria)  als  Ursachen  angegeben.  Mitunter  wird  die 
Erkrankung  auf  Reflexe  zurückgeführt,  z.  B.  ausgehend  vom  Genitale,  bei 
Kindern  werden  Dentition,  Würmer  beschuldigt.  Zweifellos  besteht  oft  hoch- 
gradige, nervöse  Disposition,  hereditäre  Belastung,  chronische  cerebrale  Affec- 
tionen,  Epilepsie,  psychische  Störungen.  Hysterie,  Neurasthenie.  In  manchen 
Fällen  hat  es  den  Anschein  als  ob  die  Affection  aus  einem  (anderweitigen) 
Beschäftigungskrampf  hervorgegangen  wäre,    z.  B.    Schreibkampf   (Reynolds, 

GOWERS). 

Wir  begegnen  der  Krankheit  am  häufigsten  im  mittleren  Lebensalter 
zwischen  30 — 50.  Der  Statistik  zufolge  sindFrauen  häufiger  betroffen  als  Männer. 

Die  Entwicklung  der  Symptome  ist  nicht  immer  gleich.  Während  in 
manchen  Fällen  die  Krankheitserscheinungen  mit  dem  Spasmus  einsetzen, 
gehen  in  anderen,  und  dies  ist  häufiger  der  Fall,  dem  Spasmus  neuralgische 
Beschwerden  in  irgend  einem  Theile  des  später  afficirten  Gebietes  voraus. 
Mitunter  gehen  Schwindel,  Kopfschmerz,  Steifigkeit  des  Kackens  als  Prodrome 
voraus.  Auch  die  Geschwindigkeit,  mit  der  die  Acme  sich  entwickelt,  ist  sehr 
verschiedenartig.  Bald  erreicht  der  Spasmus  sehr  rasch  den  Höhepunkt, 
bald  nur  allmälig  mit  mehr  oder  minder  anhaltenden  Inter-  und  Remissionen. 
Dabei  können  die  Spasmen  anhaltende  sein  oder  nur  anfallsweise  mit  kurzen 
oder  langen  Pausen  sich  einstellen. 

Am  intensivsten  betheiligt  erscheinen  im  Beginne  fast  immer  die  vom 
Accessorius  inner  vi  rten  Muskeln*)  der  Sternocleidomastoideus  und  der 
Cucullaris  in  seinem  äusseren  Antheil.  Im  späteren  Verlaufe  participiren 
auch  die  übrigen  Muskeln  des  Halses,  das  Platysma,  die  Scaleni,  die  tiefen 
Halsmuskeln  häufig  auch  entferntere  Muskelgruppen,  die  Gesichts-  und  Kau- 
musculatur,  die  Musculatur  der  oberen  Extremität  oder  des  Larynx  (Gerhardt). 
Für  gewöhnlich  zuckt  unter  diesen  Verhältnissen  die  Halsmuskelgruppe  am 
intensivsten  und  treten  in  dieser  diejenigen  Muskeln  am  stärksten  hervor, 
welche  den  Ausgangspunkt  des  Spasmus  gebildet  hatten. 

Die  Krämpfe  können  einseitige  aber  auch  doppelseitige  sein.  Sie  sind 
bald  clonische,   bald  tonische.    Häufig  sind  beide   Formen  vergesellschaftet 


*)  Vergl.  auch  Artikel  ^  Accessoriuslähmung^  (Pal)  pag.  25  ds,  Bd. 


HALSMÜSKELKEÄMPF.  793 

Bezüglicli  der  clonisclien  Krämpfe  im  speciellen  wollen  wir  hier  nur  folgendes  in 
Kürze  hervorheben :  Ist  der  Sternocleidomastoideus  zunächst  befallen  und  dies  einseitig,  so 
wird  in  Folge  der  Contractionen  dieses  Muskels  das  Kinn  gehoben  und  das  Gesicht  nach 
der  gesunden  Seite  gerichtet  {Tic  rotatoire) ;  wogegen  bei  dem  einseitigen  Cucullariskrampf 
das  Kinn  gehoben,  der  Kopf  nach  rückwärts  und  gegen  die  erkrankte  Seite  hin  gezerrt 
wird ;  gleichzeitig  wird  das  Schulterblatt  in  seinem  lateralen  Antheil  gehoben  und  abducirt. 
Sind  Sternocleidomastoideus  und  Cucullaris  derselben  Seite  und  gleichzeitig  in  Action,  so 
ergeben  sich  entsprechende  Mittelstellungen  des  Kopfes.  Bei  beiderseitiger  Erkrankung 
erfolgt  in  der  Regel  die  Zuckung  abwechselnd  bald  auf  der  einen,  bald  auf  der  anderen 
Seite  und  wird  der  Kopf  dadurch  in  einer  seithchen  Bewegung  erhalten  (Kopfschütteln). 
Erfolgt  die  Zuckung  in  einem  Muskelpaare  gleichzeitig,  so  entsteht  das  Kopfnicken  {Nick- 
krämpfe,  Salaamkrämpfe). 

Die  clonischen  Krämpfe  erfolgen  meist  nur  anfallsweise,  sie  sind  selten 
continuirliche  und  sistiren  im  Schlafe.  Psychische  En^egungen  steigern  die 
Krämpfe  gewöhnlich  bedeutend  und  treten  namentlich  unter  diesen  Umständen 
auch  entferntere  Muskelgruppen  in  Action. 

Die  intensiven  Anfälle  wirken  auf  den  Kranken  sehr  verstimmend,  stören 
die  Nahrungsaufnahme  und  bringen  ihn  zur  Verzweiflung. 

Die  tonischen  Krämpfe  befallen  meist  in  erster  Linie  den  Sterno- 
cleidomastoideus, der  dann  deutlich  hervorspringt  (TorticoUis  spasticus).  Die 
passive  Beweglichkeit  des  Kopfes  ist  unter  diesen  Umständen  aufgehoben.  Bei 
längerem  Bestände  entwickelt  sich  eine  entsprechende  Krümmung  der  Wirbel- 
säule und  kann  der  Antagonist  atrophiren. 

Erwähnenswerth  ist  hier  noch,  dass  mit  gewissen  Bewegungen  andere  associirte,  zweck- 
mässige erfolgen,  so  z.  B.  bei  der  spastischen  Bewegung  des  Kopfes  nach  rückwärts  erfolgt 
gleichzeitig  eine  Contraction  des  Stirnmuskels. 

Im  Verlaufe  der  Krankheit  treten  auch  Schmerzen  der  afficirten 
Nervenmuskelgruppen  auf.  Die  betreffende  Musculatur  wird  mitunter  hyper- 
trophisch. Die  elektrische  Erregbarkeit  derselben  bleibt  meist  eine  normale, 
in  manchen  Fällen  findet  man  eine  gesteigerte.  Das  Leiden  ist  meist  bald  ein 
stationäres,  nur  selten  schwindet  es  vorübergehend,  in  seltensten  Fällen  dauernd. 

Das  Wesen  der  Krankheit  ist  uns  derzeit  noch  immer  unbekannt. 
Der  Ablauf  der  Erscheinung  spricht  wohl  entschieden  dafür,  dass  es  sich  um 
den  Ablauf  eines  centralen  Reizes  in  einem  bestimmten  Zellgebiet  handelt, 
wobei,  wie  schon  bemerkt,  die  gewöhnlichen  Bahnen  der  Association  eine 
wichtige  Rolle  spielen.  Auffallend  erscheint  unter  allen  Umständen  die  man- 
gelnde Betheiligung  der  Augenmusculatur.  Vorläufig  fehlen  uns  verlässliche 
Anhaltspunkte  zur  Localisation  des  Processes  im  centralen  Nervensystem. 
Pathologisch-anatomisch  ist  nichts  wesentliches  bekannt. 

Die  Diagnose  ist  meist  leicht.  Gelegentlich  kann  es  zur  Verwechs- 
lung mit  einer  Schiefstellung  des  Halses  aus  einer  anderweitigen  Ursache 
kommen.  In  diesen  Fällen  zeigt  der  Sternocleidomastoideus  Spannung  auf  der 
Seite,  welcher  das  Gesicht  zugewendet  ist,  was  dem  TorticoUis  (s.  oben)  nicht 
entspricht.  Am  schwierigsten  können  sich  die  Verhältnisse  in  jenen  Fällen 
gestalten,  in  welchen  Verdacht  auf  Hysterie  vorliegt.  Gowees  hält  alle  solche 
Fälle  für  echten  TorticoUis,  wenn  der  Ki'ampf  sich  auf  die  Halsmuskeln 
beschränkt  und  nicht  auf  den  Rumpf  überschreitet.  Ein  Lebensalter  unter 
30  Jahren  spricht  hier  mehr  für   Hysterie. 

Die  Prognose  ist  nach  alldem  quoad  sanationem  fast  immer  ungünstig. 
Heilung  erfolgt  nur  bei  den  rheumatischen  Formen,  häufig  ist  der  Ausgang 
in  Lähmung  oder  Contractur,  bei  chronischen  Formen  erfolgt  mitunter  Ueber- 
gang  in  epileptiforme  Zustände  (s.  auch  den  Artikel  „Tic''.). 

Die  therapeutischen  Erfolge  sind  nur  geringe  zu  nennen.  Oertlich 
werden  Chloroform,  Aether,  Salben  angewendet.  Innerlich  kommen  in  Betracht 
Nervina  (Zmc.  valerianic,  Asa  foetida  empfiehlt  Gowers  auch  in  Fällen  nicht 
hysterischer  Natur),  ferner  als  Sedativa:  Brom,  Cannahis  indica,  Opium, 
Morphin,  Chloral.  In  einzelnen  Fällen  wird  bei  dieser  Behandlung  von  vor- 
übergehender Besserung  auch  von  Heilung  berichtet;  doch  ist  bei  der  Appli- 


794  HARN. 

cation  dieser  Mittel  stets  die  Möglichkeit  der  Angewöhnung  im  Auge  zu  be- 
halten und  sind  die  Mittel  zu  variiren.  Die  elektrische  Behandlung  hat  keine 
Erfolge.  Zur  Anwendung  empfiehlt  sich  nur  der  galvanische  Strom,  in  Sitzungen 
bis  zu  10  Minuten.  Die  Anode  ist  auf  den  Nerven,  die  Kathode  auf  den 
afficirten  Muskel  zu  setzen. 

Therapeutisch  kommen  ferner  in  Betracht  die  Application  des  Glüheisens, 
die  Nervendehnung  und  namentlich  die  Durclischneidung  des  Accessorius,  von 
welch'  letzterer  Erfolge  gesehen  wurden.  Hingegen  hat  sich  die  Durchschnei- 
dung der  Muskelsehnen  als  ganz  nutzlos  erwiesen.  Die  mechanische  Behand- 
lung hat  endlich  auch  keine  besondere  Erfolge  aufzuweisen,  namentlich  bei  den 
clonischen  Formen.  Bei  den  rein  tonischen  Formen  ist  durch  Application 
von  Stützapparaten  eine  Erleichterung  zu  erzielen.  Pal. 

Harn.  (Allgemeine  und  specielle  Pathologie.)  In  diesem  Abschnitt  sollen 
nach  physiologischen  Vorbemerkungen  die  in  praktischer  Beziehung 
sowohl,  als  für  das  Verständnis  der  Krankheitsvorgänge  wichtigen  patholo- 
gischen Veränderungen  des  Harns  etwas  ausführlicher  und  dann  in 
gedrängterer  Darstellung  das  Verhalten  des  Harns  in  den  wichtigsten  Krank- 
heitsgruppen, ohne  die  specielle  chemische,  physikalische  und  mikro- 
skopische Untersuchung  des  Harns,  abgehandelt  werden. 

Physiologische  Vorbemerkungen.  Der  Harn  ist  die  Flüssigkeit, 
welche  die  Nieren  aus  dem  Blut  absondern.  Die  Bestandtheile  des  Nieren- 
gewebes, durch  welche  die  Absonderung  vor  sich  geht,  sind:  die  innen 
mit  glattem  Epithel  versehenen  Glomeruluskapseln  (BowMAN'sche)  und  die  aus 
denselben  hervorgehenden,  mit  eigenthümlich  gebautem  Epithel  ausgekleideten, 
gewundenen  Harncanälchen  der  Rindenebst  den  bis  in  das  Mark  und  wieder 
zurückreichenden HENLE'schen  Schleifen,  während  die  geraden  Harncanälchen 
die  ausführenden,  sich  in's  Nierenbecken  ergiessenden  Röhren  sind.  Die 
Blutgefässe,  aus  welchen  die  Absonderung  vor  sich  geht,  bestehen  aus 
einem  doppelten  Capillarnetz,  indem  sich  die  kleinen  Arterien  der  Nierenrinde 
zunächst  im  Innern  der  Kapseln  in  einen  mit  platten  Zellen  umgebenen 
Capillarenknäuel  (Glomerulus)  auflösen,  dann  wieder  sammeln  und  sich 
zum  zweiten  Male  in  ein  Capillarnetz  zerstreuen,  welche  die  Harncanälchen 
umspinnen  und  sich  zu  den  Nierenvenen  vereinigen.  Das  Excret,  der  Harn, 
besteht  aus  dem  Harnwasser  und  aus  den  in  demselben  gelösten  Harn- 
bestandt heilen.  Das  Harnwasser  wird  vorzugsweise  in  den  Kapseln 
aus  dem  Blut  abgeschieden,  mit  ihm  zugleich  auch  Salze,  während  durch  die 
Thätigkeit  der  den  Glomerulus  umgebenden  Zellen  das  Eiweiss  zurückgehalten 
wird.  Die  Menge  des  Harnwassers  hängt  ab  vom  Druck  (Filtrations- 
druck), von  der  Strömungsgeschwindigkeit  und  der  Concentration 
des  in  den  Glomerulus  einfliessenden  Blutes.  Die  Harnbestandtheile 
werden,  wahrscheinlich  durch  eine  selbständige  Thätigkeit,  von  den  Zellen 
der  gewundenen  Harncanälchen  aus  den  diese  umspinnenden  Capillaren  auf- 
gesaugt und  an  das  aus  den  Kapseln  kommende,  leicht  diffundh'bare  Salze 
führende  Harnwasser  abgegeben.  Die  Menge  der  Harnbestandtheile, 
die  Concentration,  hängt  von  der  Stärke  der  Auslaugung  dieser  Stoffe  aus 
den  Zellen  ab.  Der  Urin  fliesst  dann,  unter  der  treibenden  Kraft  des  Blutdrucks, 
durch  die  HENLE'schen  Schleifen,  (wo  möglicherweise  auch  eine  theilweise 
Wiederaufsaugung  von  Wasser  und  Bestandtheilen  stattfinden  kann),  durch  die 
geraden  Canälchen  und  das  Nierenbecken  in  die  Harnleiter,  in  denen  die 
Muskelwirkung  noch  dazu  kommt,  um  ihn  in  die  Blase  zu  befördern. 

Der  Harn  zeigt  unter  normalen  Verhältnissen  nach  Alter,  Grösse,  um- 
gebender Temperatur,  Getränke-  und  Nahrungszufuhr  eine  verschiedene  Tages- 
menge (durchschnittlich  1000 — 1500),  schwankendes  specifisch es  Gewicht 


HARN. 


795 


(1015—1025),  wechselnde  Farbe  (blassgelb   bis  gelbroth)  und  saure,  durch 
saure  Salze,  besonders  Mononatriumphosphat,  bedingte  Reaction. 

Chemische  Bestandtheile.  Der  nach  Menge  und  Wichtigkeit 
bedeutendste  Bestandtheil,  der  Harnstoff  wird  im  Durchschnitt  zu 
2-5_30/^,  beim  Erwachsenen  täglich  30—40  gr,  ausgeschieden.  Im  Stoffwechsel- 
gleichgewicht wird  mit  dem  Harnstoff  fast  ebensoviel  Stickstoff  ausgeschieden, 
als  mit  der  Nahrung  zugeführt  wird.  Der  Hauptsache  nach  wird  also  der 
Harnstoff  durch  Oxydation  der  stickstoffhaltigen  Nahrung  im  Organismus  gebil- 
det. Er  kann  aber  auch  durch  Zerfall  stickstoffhaltigen  Körpergewebes  ent- 
stehen. Die  Bildung  findet  überall  im  Gewebe,  besonders  in  der  Leber,  statt. 
Erhöhung  der  Eiweisszufuhr,  sowie  alle  Einflüsse,  welche  entweder  stärkeren 
Eiweisszerfall  (Sauerstoffmangel,  Blutverlust),  oder  stärkere  Auslaugung  des 
Gewebes  (Wasserzufuhr)  bewirken,  vermehren  die  Harnstoffmenge.  Die  Ursache 
der  Harnstoffvermehrung  in  Krankheiten  (reichliche  Nahrungs-  und  Wasser- 
Zufuhr  bei  Diabetes,  Eiweisszerfall  im  Fieber,  schweren  Kachexien,  Arsen-, 
Phosphor-  und  anderen  Vergiftungen)  ist  darnach  leicht  zu  verstehen,  ebenso  die 
der  Verminderung  (Hunger,  Anämie  etc.).  Die  in  viel  geringerer  Menge 
(Va^r  täglich)  im  Harn  vorhandene  Harnsäure  führt  nächst  dem  Harnstoff 
am  meisten  Stickstoff  aus  dem  Körper  aus  und  verhält  sich  im  Ganzen  quanti- 
tativ dem  Harnstoff  parallel  (1  :  45).  Sie  findet  sich  zum  grössten  Theil  als  harn- 
saures Alkali,  zum  geringsten  als  freie  Harnsäure  in  Lösung.  Da  die  Salze 
und  noch  mehr  die  Säure  schlecht  löslich  sind,  so  fallen  sie  als  gelb  bis  roth 
gefärbtes  Sediment  in  der  Kälte  oder  aus  concentrirtem  Harn  leicht  aus.  Wirk- 
liche Vermehrung  ist  hauptsächlich  bei  Leukämie  gefunden  worden.  Von  con- 
stanten  organischen  basischen  Bestandtheilen  sind  weiter  zu  nennen: 
Kreatinin,  in  durchschnittlicher  täglicher  Menge  von  1-0  dessen  Aus- 
scheidung hauptsächlich  von  Zersetzung  von  Muskelsubstanz  (Fleischnahrung) 
abhängig  ist;  ferner  Xanthin-basen;  dann  Allantoin  im  Harn  der 
Schwangeren  undNeugebornen;  endlich  die  in  neuerer  Zeit  vielfach  studirten, 
aber  noch  nicht  hinlänglich  geklärten,  giftigen  und  ungiftigen  Ptomaine. 

Eiweissartige  Substanzen  sind  im  Urin  Gesunder  jedenfalls  nur  in  Spuren  vor- 
handen. Am  constantesten  ist  jedenfalls  das  Mu ein  als  Product  der  normalen  Schleimhaut. 
Bei  katarrhalischer  Erkrankung  der  letzteren  wird  es  reichlich  angetroffen,  ebenso  bei 
Icterus,  auch  bei  Leukämie.  Eine  eigene  „Mucinurie"  aufzustellen,  ist  jedoch  unnöthig. 
Auch  Album  ose  ist  als  ziemlich  constanter  Befund  nachgewiesen.  Die  pathologische  Aus- 
scheidung siehe  „Albumosurie".  Die  vielumstrittene  Frage  ist  die  nach  der  „physiologischen 
Albuminurie,MerAusscheidungvonSerumalbumin.  Aus  grösseren  Harnmengen  und  mit  feineren 
Untersuchungsmethoden  scheint  sich  in  der  That  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  beim  Gesunden 
Albumin  nachweisen  zu  lassen.  Diese  minimalen  Spuren,  welche  keine  praktische  Bedeatung 
haben,  soll  man  allein  als  physiologische  Albuminurie  gelten  lassen.  Die  niit  klinischen 
Methoden  nachweisbaren,  wenn  auch  geringen  Spuren  haben  den  Werth  einer  patho- 
logischen Erscheinung,  geringeren,  wenn  die  Albuminurie  vorübergehend, 
grösseren,    wenn  sie   von  Dauer  ist. 

An  organischen  Säuren  finden  wir  mit  einer  gewissen  Regelmäs- 
sigkeit:  Flüchtige  Fettsäuren  in  geringen  Mengen,  Oxalsäure,  welche 
hauptsächlich  nach  vegetabilischer  Nahrung  reichlich  als  Kalksalz  erscheint, 
Bernsteinsäure  in  Spuren,  Rhodanswasserstoffsäure  an  Alkali  ge- 
bunden, Hipp  ur  säure  in  Quantitäten  bis  zu  1*0  pro  die. 

Wichtige  Stoffe  sind  weiter  die  Phenole,  der  Hauptsache  nach  gebun- 
den, als  Aetherschwefelsäuren:  Das  Phenol  selbst  in  Spuren  Parakresol 
reichlicher,  weniger  reichlich  Brenzcatechin,  constant  geringe  Mengen  von 
Indican  (Indoxylschwefelsäure)  und  Skatoxylschwefelsäure. 

Regelmässige  anorganische  Bestandtheile  sind:  Das  Chlor  in  einer 
15-0  Chlornatrium  selten  überschreitenden  Menge,  welche  hauptsächlich  von 
der  Kochsalzzufuhr  abhängt,  bei  Nierenkrankheiten  und  in  fieberhaften  Krank- 
heiten abnimmt  (Kochsalzretention),  nach  der  Entfieberung  aber  ebenso  wie 
nach    der  Resorption    (kochsalzhaltiger)    Ex-    und    Transsudate    sich    erhöht; 


796  HARN. 

die  Phosphorsäure,  zu  etwa  3-5  gr  in  24  Stunden,  an  Natrium,  Calcium 
und  Magnesium,  in  Spuren  an  organische  Körper  gebunden,  der  Hauptsache 
nach  aus  der  animalischen  Nahrung,  zum  Theil  auch  aus  dem  Gewebszerfall, 
besonders  dem  Lecithin  stammend,  welche  in  Nierenentzündungen,  der 
Schwangerschaft,  bei  Phthisis  Verminderung,  deren  Verhalten  in  Krankheiten 
überhaupt  aber  noch  keine  recht  charakteristischen  Resultate  ergeben  hat;  die 
Schwefelsäure,  zu  cca.  3*0  im  Tag,  theils  an  Alkalien,  theils  an  Phenole 
(Aetherschwefelsäuren)  gebunden,  welche,  weil  aus  den  Eiweisskörpern  stammend, 
in  ihrer  Menge  ganz  mit  dem  Harnstoff  parallel  geht;  die  Kohlensäure, 
bei  saurer  Reaction  cca.  50  ccm,  freie  gelöst,  bei  neutraler  und  alkalischer 
auch  gebunden.  Ferner  die  Basen:  Natrium  und  Kalium,  hauptsächlich 
an  Chlor,  zum  Theil  an  Phosphorsäure  und  Harnsäure  gebunden,  das  aus  dem 
Kochsalz  der  Nahrung  stammende,  in  den  Körperflüssigkeiten  circulirende 
Natrium  für  gewöhnlich  reichlicher,  als  das  in  den  Gewebszellen  abgelagerte 
Kalium,  welches  bei  Gewebszerfall  in  grösserer  Menge  im  Harn  erscheint; 
Calcium  und  Magnesium,  vorzugsweise  an  Phosphorsäure  gebunden, 
letzteres  etwas  reichlicher  als  ersteres,  beide  in  der  Menge  abhängig  von  der 
Nahrungsaufnahme  und  der  Resorptionsthätigkeit  des  Darms,  beim  Hunger 
und  in  manchen  Krankheiten  (Phthisis)  vermehrt;  freies  Ammoniak,  in 
geringen  Mengen  auch  im  normalen  Harn,  welches  aus  der  Nahrung  (bei 
Fleischkost  reichlicher)  und  der  Athmungsluft  einerseits  und  von  dem  Eiweiss- 
zerfall  im  Körper  (Bildung  von  kohlensaurem  Ammoniak)  andererseits  her- 
stammt, in  seiner  Menge  daher  in  Krankheiten  naturgemäss  von  dem  ge- 
steigerten Gewebszerfall  (Erhöhung  im  Fieber),  sowie  von  erhöhter  Säurebildung 
und  damit  verbundener  stärkerer  Ausscheidung  (wie  in  manchen  Fällen  von 
Diabetes)  abhängig  ist. 

Beim  Stehen,  besonders  an  kühlem  Ort,  kann  sich  normaler  Harn 
trüben  durch  Abscheidung  von  Harnsäure,  harnsauren  Alkalien  und  oxalsaurem 
Kalk*)  (Briefcouverts)  bei  abnehmender  saurer  Reaction.  Unter  der  Einwirkung 
von  Mikroorganismen  kommt  es  bei  längerem  Stehen,  zumal  an  warmem  Ort, 
zu  der  alkalischen  oder  ammoniakalischen  Gährung.  Der  Harn 
wird  trüb,  übelriechend,  durch  (aus  dem  Harnstoff  von  den  Bacterien  gebilde- 
tes) kohlensaures  Ammoniak  alkalisch  und  zeigt  im  Sediment  ausser  Bacterien 
Krystalle  von  phosphorsaurer  Ammoniakmagnesia  (Sargdeckel)  und  harnsaurem 
Ammoniak  (Stechapfel).  Ausnahmsweise  kann  unter  Einwirkung  von  Spross- 
und  Spaltpilzen,  wie  es  scheint,  besonders  bei  Anwesenheit  von  Spuren  Zucker 
oder  Alkohol  im  Harn,  die  sogenannte  saure  Gährung,  d.  i.  die  Ent- 
wickelung  von  Fettsäuren  entstehen,  welche  das  neutrale  harnsaure  Natrium  in 
saures  verwandeln  und  Harnsäure  abscheiden. 

Morphologische  Bestandtheile.*)  Bei  der  durch  die  Centrifuge 
sehr  erleichterten  Untersuchung  des  normalen  Harnsedimentes  findet  man  als 
fast  regelmässige  Formbestandtheile  einzelne  Epithelien  aus  der  Blase 
und  Harnröhre,  bei  Weibern  ziemlich  reichliche  aus  Vulva  und  Vagina. 
Ebenfalls  als  physiologischen,  gelegentlich  vorkommenden  Befund  darf  man 
bei  Männern  nach  Pollutionen  etc.,  Samen-  und  Prostatasecretele- 
mente  betrachten,  die  Spermatozoon  und  die  Prostataamyloid- 
körperchen,  welche  sich  mit  Jod  violett  färben.  Bei  jungen  Männern  kann 
man,  wie  ich  selbst  nachgewiesen  habe,  in  öO"/©  einzelne,  kleine  Leucocyten 
nicht  sehr  an  Grösse  übertreffende,  gelbliche,  stark  gekörnte,  runde  Zellen 
auffinden,  welche  den  Harncanälchenepithelien  sehr  ähnlich  sehen  und  die  ich 
deshalb  als  Nierenepithelien  kurz  bezeichnen  möchte,  obwohl  es  nicht 
immer   leicht   ist,    sie   als   solche   zu   identificiren.    Ich  glaube  jedoch   und 


*)  Vergl.  Die  Sedimentbilder  auf  der  zugehörigen  Tafel- 


HARN.  797 

habe  dies  an  anderer  Stelle  ausgeführt,  dass  dieser  Befund,  obwohl  an  der 
Grenze  des  Normalen  liegend,  doch  durch  vorübergehende  schädliche  Einflüsse 
(Alkohol,  scharfe  Nahrungsmittel,  Körperbewegung)  bedingt  ist  und  dass  even- 
tuell bei  anhaltender  Einwirkung  der  genannten  Schädlichkeiten  und  bei  ge- 
ringer Widerstandsfähigkeit  des  Nierengewebes  aus  der  vorübergehenden  Epi- 
thelabstossung  eine  dauernde  Schädigung  erwachsen  kann.  Jedenfalls  ist  es 
sicher,  dass  starke  Körperbewegung,  alkoholische  Getränke  und  scharfe  Nah- 
rungsstoffe die  Zahl  jener  Elemente  beträchtlich  erhöhen  oder  dieselben,  wenn 
sie  vorher  im  Harn  fehlten,  hervorrufen  kann.  Das  Gleiche  gilt  von  den 
Leucocyten,  welche  ich  in  1 7*^/0  bei  gesunden  Soldaten  gefunden  habe 
und  welche  ich  auch  durch  Körperbewegung  reichlicher  werden  oder  in  Folge 
scharfer  Substanzen  im  Harn  neu  auftreten  sah.  Nierenepithelien  und 
weisse  Blutkörperchen  im  Harnsediment,  welche  trotz  Vermeidung  aller 
jener  Schädlichkeiten  in  erheblicherer  Zahl  und  anhaltend  beobachtet 
werden,  sind  daher  als  pathologische  Erscheinung  aufzufassen.  Rothe  Blut- 
körperchen sind  normaler  Weise  nie  im  Sediment,  so  dass  selbst  verein- 
zelte als  ein  krankhaftes  Symptom  gelten  müssen.  Am  schwierigsten  und 
zugleich  am  wichtigsten  ist  die  Lösung  der  Frage,  ob  vereinzelte  Cy  lind  er 
im  normalen  Harn  vorkommen  oder  nicht.  Von  Manchen  wird  sie  bejaht,  von 
Andern,  wie  von  mir  selbst,  verneint.  Die  Entscheidung  hängt  im  Wesent- 
lichen davon  ab,  wo  man  die  Grenze  der  Normalität  zieht.  Ich  habe  aller- 
dings auch  bei  Soldaten  nach  anstrengenden  Märschen  in  14%  einzelne  hya- 
line oder  gekörnte  Cylinder  beobachtet.  Es  fragt  sich  jedoch,  sind  Leute, 
welche  nach  einer  mehrstündigen  Körperanstrengung  Cylinder  im  Harn  be- 
kommen, ganz  normal  oder  leicht  abnorm?  Da  man  einerseits  die  Cylinder  als 
charakteristischstes  Symptom  der  Nierenentzündungen  zu  betrachten  gewohnt 
ist,  andererseits  aber  bei  völlig  gesunden,  keinen  Schädlichkeiten  irgendwel- 
cher Art  (Anstrengung,  Alkohol,  etc.)  ausgesetzten  Individuen  auch  sicher 
keine  Cylinder  im  Harnsediment  findet,  so  unterliegt  es  kaum  einem  Zweifel, 
dass  man  die  anhaltende  Anwesenheit  selbst  spärlicher  Harncylinder  als  Zeichen 
einer  geringen  Widerstandsfähigkeit  des  Nierenparenchyms  und  eventuell  als 
Anfang  einer  chronischen  Nierenentzündung  ansehen  muss.  Dies  beansprucht 
umsomehr  Giltigkeit  und  diagnostische  Bedeutung,  als  es  Fälle  gibt,  in  denen 
ohne  Albuminurie  einzelne  Cylinder  im  Harn  vorkommen  und  der  weitere 
Verlauf  die  Diagnose  Nephritis  bestätigt.  Da  auf  diese  Weise  die  Erkennung 
der  ersten,  noch  heilbaren  Stadien  chronischer  Nierenentzündungen  mög- 
lich ist,  so  kommt  der  mikroskopischen  Harnuntersuchung  neben  der  chemi- 
chen  eine  hohe  Bedeutung  zu. 

L  Pathologische  Harnveränderungen. 

Es  sollen  hier  die  wesentlichsten  Formen  der  pathologischen  Harnaus- 
scheidungen in  alphabetischer  Reihenfolge  besprochen  werden. 

Acetonurie.  Die  physiologische  Acetonurie,  bei  welcher  nur  minimale 
Spuren  Aceton  ausgeschieden  werden,  kann  man  durch  länger  fortgesetzte  Ei- 
weisskost  auch  beim  Gesunden  beträchtlich  steigern. 

Pathologische  Acetonurien  sind  bisher  in  grösserer  oder  ge- 
ringerer Häufigkeit  und  Stärke  gefunden  worden:  bei  Diabetes,  Carcinom, 
cachektischen  und  anämischen  Zuständen,  Inanition,  Verdauungsstörungen, 
fieberhaften  Krankheiten,  Geisteskrankheiten,  eklamptischen  Kinderki'ämpfen. 
Die  diabetische  Acetonurie  besitzt  vor  allen  anderen  Formen  prak- 
tische Bedeutung.  Sie  ist  oft  auch  ohne  chemische  Reaction  (z.  B.  die 
Legal'sche)  an  dem  Geruch  des  Harns  (und  des  Athems)  nach  Aceton  leicht 
zu  erkennen.  Sie  ist  nicht  zu  trennen  von  der  sogenannten  Diaceturie,  der 
Ausscheidung  von  Acetessigsäure  mit  dem  Harn,  welche  an  der  bordeauxrothen 
Färbung   mit  Eisenchlorid   (im   gekochten  Harn    ausbleibend)    erkannt   wird. 


798  HARN. 

Gewöhnlich  kommen  Acetonurie  und  Diaceturie  gleichzeitig  vor,  wenn  auch 
zuweilen  Aceton  ohne  Eisenchloridi-eaction  nicht,  jedoch  umgekehit,  beobachtet 
wird.  Da  das  Aceton  aus  der  leicht  zersetzlichen  Acetessigsäure  (neben  Kohlen- 
säure) entsteht,  so  sind  diese  klinischen  Thatsachen  leicht  verständlich.  Immer 
deuten  Acetonurie  sowohl  wie  Diaceturie  auf  schweren,  vorgeschrittenen  Dia- 
betes. Hervorgerufen  wird  ihr  Auftreten  durch  strenge  Eiweissdiät.  Von 
diesenFällen  abgesehen,  verschlechtern  hohe  Grade  der  Acetonurie  und  Diaceturie 
gewöhnlich  die  Prognose  (Ausgang  in  diabetisches  Coma).  Die  carcinomatöse, 
cachektische  und  Inanitions-Acetonurie,  sowie  die  bei  Digestions- 
störungen düiien  wohl  unter  dem  IS'amen  der  Inanitions-Acetonurie 
zusammengesetzt  werden,  wenn  auch  in  einigen  Fällen  von  Carcinom  des 
Verdauuugstractes  ohne  Inanitionserscheinungen  Acetonurie  gefunden  wurde. 
Dieselbe  ist  jedoch  beim  Krebs  an  sich  die  Ausnahme,  dagegen  bei  sehr  schweren 
Ernährungsstörungen  und  beim  Hunger  in  Krankheiten  sowohl  wie  beim 
freiwilligen  Hungerkünstler  Cetti  eine  mehr  oder  weniger  regelmässige  Er- 
scheinung. Eine  besondere  klinische  Bedeutung  kommt  derselben  noch  nicht 
zu.  Die  febrile  Acetonurie  ist  die  constanteste  von  allen.  Bei  allen  fieber- 
haften Processen  von  einiger  Dauer  und  Stärke  der  Temperaturerhöhung, 
einerlei  von  welcher  Erkrankung  sie  abhängig  sind,  beobachtet  man  grössere 
oder  geringere  Acetonurie.  Vorübergehend«  Fiebersteigerungen  erhöhen  die 
Ausscheidung  nicht  wesentlich.  Auch  die  Acetessigsäure  erscheint  im  Harn 
Fieberkranker,  besonders  regelmässig  bei  Kindern  und  dann  ist  sie  ohne  die 
schlimmere  Vorbedeutung,  die  sie  bei  Erwachsenen  in  höherem  Grade  besitzen 
soll.  Acetonurie  der  Geisteskranken  wurde  besonders  häufig  bei  Para- 
lytischen beobachtet.  Bei  Epileptikern  wurde  sie  zuweilen  und  zwar  nach  den 
Anfällen  gefunden,  was  auch  mit  dem  positiven  Befund  nach  eklamptischen  An- 
fällen übereinstimmt. 

Im  Allgemeinen  lehren  die  Beobachtungen  über  Acetonurie  bei  den  ver- 
schiedenen Zuständen  und  Erla-ankungsformen,  dass  die  Acetonurie  zu  ver- 
mehrter Eiweisszersetzung  im  Organismus  in  einer  bestimmten  Beziehung  steht, 
indem  sowohl  vergrösserte  Eiweisszufulir  beim  Gesunden  und  Diabetiker,  als 
auch  erhöhter  Eiweisszerfall  beim  Hungernden,  Cachektischen,  Fiebernden  etc. 
das  Auftreten  von  reichlicherem  Aceton  im  Harn  veranlasst. 

Albuminurie  im  engeren  Sinne  {Senimalhuminurie).  Indem  auf  den 
Artikel  „Albuminurie"  (dieser  „Biblioth."  I.  Abth.,  1.  Heft,  S.  34)  verwiesen  wird, 
soll  hier  unter  Albuminurie  nur  die  Abscheidung  von  Serumalbumin  und 
zwar  nur  des  im  harnabsondernden  Apparat  selbst  zugemischten  Serumalbumins 
als  rein  renale  Albuminurie  verstanden  werden.  Gleichzeitig  ist  dabei  die  Aus- 
scheidung von  Globulin  mit  eingeschlossen,  da  dasselbe  sehr  häufig  als 
Begleiter  des  Serumalbumins  auftritt,  niemals  aber  mit  Sicherheit  für  sich  allein 
gefunden  wird,  so  dass  die  Aufstellung  einer  eigenen  „Globulinurie"  nicht 
nöthig  erscheint.  Der  Austritt  von  Serumeiweiss  des  Blutes  in  den  Xieren  muss 
im  Wesentlichen  von  Veränderungen  der  Nierenepithelien  abhängen.  Wenn 
die  oben  (physiol.  Vorbemerk.)  entwickelte  Anschauung  richtig  ist  und  unter 
normalen  Verhältnissen  gegenüber  den  immerhin  beträchtlichen  physiologi- 
schen Schwankungen  des  Blutdruckes  und  der  Concentration  des  Blutes  die 
Lebensthätigkeit  des  Glomerulus-  und  Harncanälchen-Epithels  vollkommen  im 
Stande  ist,  das  Serumeiweiss  zurückzuhalten,  so  muss  eine  Störung  dieser 
Thätigkeit  den  Austritt  des  Albumins  zulassen.  Diese  Störung  kann  durch  dau- 
ernde, anatomische  Veränderungen  (Abstossung,  Abnahme  der  Zahl  der  Ele- 
mente, Umwandlung  ihres  Protoplasmas)  bedingt  sein,  wie  es  bei  Nierenent- 
zündungen, Atrophien,  Degenerationen  der  Fall  ist,  oder  durch  mehr  vor- 
übergehende Ernährungsstörungen  und  in  Folge  schädlicher  Stoffe  entstan- 
dene functionelle  Lähmungen  der  Zellen,  wie  sie  bei  Blutdrucksenkungen, 
anämischen  und   hydrämischen  Zuständen,    fieberhaften    Erkrankungen,    Ver- 


HARN.  799 

giftungen  und  Autointoxicationen  vorkommen  können.  (Die  specielle  Aufzäh- 
lung des  Vorkommens  der  Albuminurie  in  Krankheiten,  vergl.  d.  oben  citir- 
ten  Artikel). 

Albumosurie.  Bei  der  mit  dem  Collectivnamen  Albumosurie  be- 
zeichneten Eiweissausscheidung  handelt  es  sich  um  eine  Reihe  von  früher  als 
Propepton  oder  Hemialbumose  bezeichnete  Körper,  welche  bei  der  Koch-Sal- 
petersäureprobe sich  beim  Erkalten  ausscheiden,  bei  der  Essigsäure-Ferricyan- 
kalium-Reaction  beim  Erwärmen  lösen,  bei  Zusatz  von  viel  Kochsalz  und  Essig- 
säure in  der  Wärme  sich  lösen,  in  der  Kälte  immer  wieder  ausfallen.  Die  Albu- 
mosurie, welche  in  der  Praxis  häufig  übersehen  wird,  ist,  wenn  auch  nicht 
immer  constant,  bei  Osteomalacie,  Geschwulstbildung  im  Knochenmark,  Geistes- 
störungen, Hautentzündungen  und  Darmgeschwüren,  sowie  Spermatorrhoe 
gefunden  worden.  Eine  praktische  Bedeutung  kommt  ihr  noch  nicht  zu. 

Alkaptoniirie.  Alkaptonurie  hat  man  die  Ausscheidung  von  Uroleucin- 
säure  (und  Hemogentisinsäure)  genannt.  Dieselbe  ist,  häufiger  bei  Kindern 
ohne  Krankheitserscheinungen,  sowie  auch  in  Krankheitsfällen  (Diabetes, 
Phthise)  beobachtet  worden.  Wegen  der  stark  (z.  B,  Fehling'sche  Lösung) 
reducirenden  Eigenschaften  kommt  der  Uroleucinsäure  vielleicht  einige  prak- 
tische Bedeutung  zu. 

Cholurie.  Unter  Cholurie  versteht  man  das  Auftreten  von  Gallen- 
bestandtheilen  im  Urin.  Beobachtet  sind  Gallenfarbstoffe,  Gallensäuren 
und  Cholesterin.  Letzteres  wurde  nur  ganz  ausnahmsweise  (bei  Chylurie 
z.  B.)  constatirt.  Die  Gallensäuren,  wegen  ihrer  giftigen  Wirkung  auf  das 
Herz  pathologisch  bedeutungsvoll,  haben  im  Urin  bisher  leider  keine  diagno- 
stische Wichtigkeit  erlangt,  weil  ihr  Nachweis  viel  zu  complicirt  und  auch 
dann  noch  unsicher  ist.  Diagnostisch  wichtig  ist  allein  das  Auftreten  des 
Gallenfarbstoffs,  kenntlich  an  der  dunklen,  braunen  bis  grünlichen  Färbung, 
dem  gelben  Schaum  und  den  bekannten  chemischen  Reactionen.  Man  unter- 
scheidet eine  Biliruhinurie,  d.  i.  die  Abscheidung  des  echten  braunen  Gallen- 
farbstoffs, der  sich  leicht  in  grünen,  blauen  etc.  umwandelt,  und  die  Uro- 
biUnurie,  d.  i.  das  reichlichere  Auftreten  eines  in  den  meisten  Harnen  in 
geringer  Menge  vorkommenden,  dem  Bilirubin  verwandten  Farbstoffs,  der  im 
Chloroformauszug  aus  dem  Harn  mit  Jodlösung  und  Kalilauge  grüne  Fluorescenz 
zeigt.  Die  Hoffnung,  auf  Grund  der  beiden  verschiedenen  Farbstoffe  die  alte 
Streitfrage,  ob  es  neben  dem  hepatogenen  auch  einen  hämatogenen  Icterus 
gibt,  zu  entscheiden,  sowie  den  hepatogenen  oder  Stauungsicterus  als  Bilirubin- 
icterus  von  dem  hämatogenen  als  Urobilinicterus  auch  klinisch  zu  trennen, 
scheint  sich  nicht  zu  bestätigen.  Das  Bilirubin  findet  man  allerdings  bei 
Verschluss  der  Gallenausführungsgänge  und  -wege  und  dadurch  bedingter  Gallen- 
stauung. Aber  man  kann  nicht  aus  der  Biliruhinurie  mit  Sicherheit  eine 
Leber-  und  Gallenwege-Erkrankung  erschliessen.  Die  Urobilinurie  hat  man  bei 
Lebercirrhose,  aber  auch  bei  Hämmorrhagien  aller  Art  in  den  Geweben,  bei  per- 
niciöser  Anämie,  Neuritis,  nach  Tuberculin-  und  Chloroformeinwirkung  be- 
obachtet. Gelbfärbung  der  Haut  braucht  nicht  immer  dabei  zu  sein.  Die 
Thatsachen,  dass  Urobilin  nicht  im  Blute  vorkommt  und  dass  bei  einem  Icte- 
rischen  im  Schweiss  Bilirubin,  im  Harn  Urobilin  constatirt  wurde,  deuten 
darauf  hin,  dass  das  Urobilin  in  der  Niere  durch  Reduction  aus  dem  Bilirubin 
gebildet  wird.  —  Bei  der  Cholurie  sind  auch  Eiweiss  und  Forml:)estandtheile 
zuweilen  im  Urin  gefunden  worden.  Letztere  bestanden  in  gelblich  gefärbten 
oder  mit  Farbstoftkörnchen  besetzten  hyalinen  Cylindern,  beziehungsweise  aus 
grünlichem  bis  schwärzlichem  Pigment. 

Chylurie  (Galacturie).  Der  Harn  bei  Chylurie,  enthält  zugleich 
Eiweiss  und  Fett.  Letzteres  wird  durch  ersteres  in  einer  ausserordentlich 
feinen  Emulsion  suspendirt  erhalten  und  ertheilt  dem  Urin  das  eigenthüm- 
liche    milchartige  Aussehen,  (woher  der   Name  Galacturie).     Mitunter 


800  '  HARN. 

erhält  der  Harn  durch  Blutbeimengung  eine  röthliche  Färbung  und  zeigt  dann 
rothe  und  einzelne  weisse  Blutkörperchen  im  Sediment.  Formbestandtheile, 
welche  auf  Nierenerkrankung  hinweisen,  fehlen.  Zuweilen  treten  Fibrin- 
gerinnsel oder  völlige  Gerinnung  des  Urins  auf  (s.  Fihrinurie).  Oefter  wurde 
schwach  saure  oder  alkalische  Reaction  und  leichte  Zersetzlichkeit  gefunden. 
In  den  tropischen  Fällen  ist  die  Anwesenheit  der  Filaria  sanguinis  hominis 
im  Blut,  der  Niere  und  den  Harnwegen  erkannt  worden,  und  es  ist  wahrschein- 
lich, dass  die  Beimengung  von  „Chylus"  zum  Harn  auf  durch  die  Parasiten 
veranlassten  Communicationen  der  Lymphgefässe  mit  den  Harnorganen  zu  Stande 
kommt.  Für  die  einheimischen  Chylurien  bei  Leuten,  welche  nie  in  den 
Tropen  waren,  muss  man  eine  nicht  parasitäre  Entstehungsweise  annehmen. 

Cystinurie.  Cystin,  in  Spuren  ein  constanter  Harnbestandtheü,  tritt  in  seltenen 
Fällen  in  reichlicherer  Menge  auf  und  kann  zur  Cystinsteinbildung  führen.  Doch  können 
Cystinsteine  bestehen,  ohne  dass  gleichzeitig  eine  Cystinurie  nachzuweisen  ist,  und  auch 
umgekehrt,  (wie  z.  B.  ein  Fall  von  Cystinurie  bei  acutem  Gelenkrheumatismus  beweist). 
Constante  Begleiter  der  Cystinurie  sind  das  Futrescin  (Tetramethylendiamin)  und  Cadaverin 
(Pentamethylendiamin),  so  dass  man  von  einer  begleitenden  ^^Diaminnrie"-  sprechen  könnte. 
Ausser  der  eventuellen  Anwesenheit  der  Cystinkrystalle  lässt  sich,  zumal  bei  Reizung  der 
Schleimhaut  durch  Cystinsteine,  ein  schleimig-eitriges  Sediment,  sowie  bei  Fäulnis  exquisiter 
Schwefelwasserstoffgeruch  öfters  finden. 

Diacetiirie.  s.  unter  Äcetonurie  pag.  797. 

Fibrinurie.  Faserstoff  kann  in  geronnenem  Zustande  als  Blutcoagulum  bei 
Hämaturie  oder  als  Fibringerinnsel  bei  Chylurie  und  Diphtherie  der  Harnwege 
oder  in  flüssigem  Zustand  mit  nachträglicher  Gerinnung  im  Urin  vorkommen. 
Den  Befund  von  fertigen  Faserstoffgerinnseln  mit  oder  ohne  Blutkörperchen- 
einschluss  als  „Fibrinurie"  zu  bezeichnen,  ist  nicht  nöthig.  Es  bleiben  für 
diese  Harnform  aber  nur  jene  seltenen  Fälle  von  coagulirbarem  Harn  übrig,  in 
welchem  sich  nach  der  Entleerung  ein  Theil  oder  die  ganze  Menge  in  eine 
gallertähnliche  Masse  verwandelt,  wie  sie  besonders  in  aussereuropäischen 
Ländern  mit  der  Chylurie  zusammen  auftreten. 

Glykosiirie  (Mellitiine).  Die  Ausscheidung  von  Traubenzucker,  (Dextrose, 
Glykose)  mit  dem  tlrin  bezeichnet  man  als  Glykosurie  oder  Melliturie.  Trauben- 
zucker, welcher  mit  den  gewöhnlichen,  aber  sicheren  klinischen  Methoden 
im  Harn,  insbesondere  der  Gährungsprobe  nachgewiesen  wird,  ist  immer  eine 
pathologische  Erscheinung.  Doch  muss  man  vorübergehende  Glykosurien 
von  den  dauernden  unterscheiden.  Die  vorübergehenden  sind  bei 
Lebererkrankungen  (Cirrhose),  bei  Herz-  und  Lungenkrankheiten,  Gehirnerkran- 
kungen, Gicht,  Syphilis,  acuten  Infectionskrankheiten  (Wechselfieber,  Cere- 
brospinalmeningitis,  Scharlach  etc.),  nach  Vergiftungen  (Morphium,  Kohlenoxyd) 
gefunden  worden.  Auch  künstlich  hat  man  bei  Cirrhose  und  Hirnerkran- 
kungen durch  Darreichung  von  Traubenzucker  transitorische  Glykosurie  her- 
vorrufen können.  Wenn  aber  in  einem  Fall  die  genannten  Organ-  oder 
Allgemeinkrankheiten  nicht  vorliegen,  so  ist  auch  eine  nur  vorübergehende 
Zuckerausscheidung  immer  als  verdächtig  anzusehen,  zumal  sobald  dieselbe 
nicht  auf  excessiven  Genuss  von  Kohlehydraten  aufgetreten  ist.  Dauernde 
Glykosurie  ist  das  wesentliche  Symptom  des  Diabetes  mellitus.  Dasselbe  ist 
schon  vorhanden,  wenn  alle  übrigen  Diabetessymptome  fehlen.  In  ausgeprägten 
Fällen  geht  die  Zuckerausscheidung  mit  Polyurie  (3 — 5,  bis  zu  15  Liter  im 
Tag)  einher.  Dabei  ist  das  specifische  Gewicht  der  Zuckermenge  entsprechend 
erhöht  (bis  1050).  Die  Ausscheidung  der  normalen  Harnbestandtheile,  ins- 
besondere des  Harnstoffs,  aber  auch  der  Schwefel-,  Phosphorsäure,  des  Chlors, 
der  Salze  ist  gewöhnlich  beträchtlich  vermehrt,  die  der  Harnsäure  vermindert. 
Zuweilen  ist  Äcetonurie,  Diaceturie,  Lipacidurie  (Oxybuttersäure)  vorhanden 
(siehe  diese).  Eine  häufige  Begleiterin  schwerer,  anhaltender  Glykosurien  ist 
die  Albuminurie,  welche  auf  Mitleidenschaft  der  Nieren  deutet.  In  einzelnen 
Fällen  gelang  es  mir  auch  ohne  Albuminurie  Nierenelemente  im  Zuckerharn 
nachzuweisen.     Trotzdem    können   alle    diese  Harnveränderungen   ausser   der 


Sedimentbilder  aus  dem  Harn. 

Fig.  1:  Epithelformen. 


a  Epithelien   aus  der  Harnblase,     h,  d  Nierenepitlielien      h'  Nierenepitlielien,  verfettet,     c  Plattenepifhelien 

aus  der  Vagina. 

Fig.  2:  Nichtorganisirte  Hamseclimente. 


A.  Sedimente  aus  saurem  Harn. 

a  Harnsäure,    h  Oxalsaurer   Kalk,    c  Tripelphosphat,  krystallinisch.    d  Basisch-phosphorsaure  Magnesia,    e  Neu- 
traler, phosphoraaurer  Kalk.    /  Schwefelsaurer    Kallc.     g  Hippursäure.     h  Tyrosin.     i  Leucin.     fc  Cystin. 

l  Kalk-  und  Magnesiaseifen. 

n.  Sedimente  aus  alkalischem  Harn. 

«  Tripelpliosphat,  amorph,     ß  Kohlensaurer  Kalk,     y  Harnsaures  Ammoniak.     6  Cholesterin. 


Sedimentbilder  aus  dem  Harn. 

Fig.  3:  Organisirte  Cj'^linder. 


a  Cylinder  aus  Leucocyten.    h  Cylinder  aus  rothen  Blutkörperchen,    c  Cylinder  aus  Leucocyten  und  Epithelien. 

d  Epitlielialcylinder. 


Fig.  4:  Metamorpliosirte  Cylinder. 


a,  b,  c  Granulirte  Cylinder.     d  Wachsartiger  Cylinder.     e  Hyaliner  Cylinder.     /  Cylindroid. 


HARN.  801 

Glykosurie  und  auch  alle  subjectiven  Symptome  beim  Diabetes  fehlen.  Man 
kann  sich  daher  vor  dem  Uebersehen  einer  Glykosurie  mit  Sicherheit  nur 
durch   die  ausnahmslose   Untersuchung   des  Harns  auf  Zucker  hüten. 

Die  Frage  nach  der  Entstehungsweise  der  Glykosurie  hängt  so  eng  zu- 
sammen mit  der  schwierigen  der  Pathogenese  des  Diabetes  mellitus  im  Ganzen, 
dass  dieselbe  dort  ausführlich  abgehandelt  wird.*)  Hier  seien  nur  kurz  die  Wege 
angedeutet,  auf  welchen  man  vorübergehende  Glykosurie  experimentell  erzeugen 
kann.  Der  berühmteste  Versuch  ist  der  Zuckerstich,  eine  Verletzung  des 
Bodens  der  Rautengrube  oberhalb  der  Vaguskerne.  Auch  Verletzung  anderer 
Stellen  des  Nervensystems,  Durchschneidung  der  vasomotorischen  Bahnen  des 
Rückenmarks,  des  Sympathicus,  des  Ischiadicus  bewirkten  Glykosurie.  Die- 
selbe trat  auch  ein  nach  reichlicher  Einspritzung  verdünnter  Kochsalz-  und 
anderer  Lösungen  in  die  Blutbahn.  Zahlreiche  Gifte  können  Glykosurie  machen, 
wenn  auch  bei  vielen  (Chloroform,  Chloral)  sich  die  im  Harn  gefundenen 
reducirenden  Substanzen  nicht  als  Zucker  entpuppt  haben.  Die  interessan- 
teste Glykosurie  verursachende  Substanz  ist  das  in  neuerer  Zeit  geprüfte 
Phloridzin.  Endlich  haben  die  neuesten  wichtigen  Experimente  gezeigt,  dass 
totale  Pancreasexstirpation  bis  zum  Tode  dauernde  Glykosurie  erzeugt. 

Auch  andere  Zuckerarten  sind  zuweilen  im  Harn  beobachtet  worden.  Laktosurie, 
welche  man  annehmen  darf,  wenn  der  Harn  Reductionsproben,  aber  keine  Phenylhydrazin- 
und  Gährungsprobe  gibt,  wird  bei  Schwangeren  und  Säugenden  besonders  dann  gefunden, 
wenn  eine  Milchstauung  in  der  Drüse  stattfindet  und  wird  als  Zeichen  guter  Ammen  an- 
gesehen. Levulosurie  (Fructosurie),  auf  welche  man  durch  die  linksdrehende  Wirkung 
des  Zuckerharns  im  Polarimeter  aufmerksam  werden  kann,  ist  als  Begleiter  der  Glykosurie 
ohne  praktische  Bedeutung.  Inositurie,  in  Spuren  normal,  ist  bei  Nierenentzündung, 
Diabetes  mellitus  und  insipidus,  sowie  experimentell  durch  reichliche  Wasser-  oder  Inosit- 
zufuhr  beobachtet  worden. 

Hämatoporphyrinurie.  Die  Ausscheidung  des  Hämatoporphyrins, 
d.  i.  des  eisenfreien  Hämatins  ist  in  neuerer  Zeit  öfter  in  Krankheitsfällen 
beobachtet  worden.  Der  Harn  erscheint  im  auffallenden  Lichte  fast  schwarz, 
bei  durchfallendem  in  dünnen  Schichten  braunroth  und  braucht  sonst  keine  wei- 
teren Abnormitäten  zu  zeigen.  Die  sichere  Erkennung  des  Farbstoffs  gelingt 
nur  mit  dem  Spectroskop.  Für  andere  Krankheiten  hat  die  Hämatoporphyrinurie 
bisher  keine  diagnostische  Bedeutung  erlangt,  dagegen  ist  sie  ein  wichtiges 
Symptom  zu  starken  oder  anhaltenden  SulfonalgehYSiUchs  und  es  ist  daher  seine 
Kenntnis  für  den  Arzt  entschieden  werthvoll. 

Hämaturie.  Mit  Hämaturie  bezeichnet  man  den  Austritt  des  Blutes, 
d.  i.  der  rothen  Blutkörperchen  in  den  Urin,  im  Gegensatz  zu  der  Hämo- 
globinurie (s.  d.),  bei  welcher  nur  der  Blutfarbstoff' im  Harn  auftritt.  Wenn 
auch  die  rothe  (fleischwasserähnliche  bis  dunkelrothe  bis  braune)  Farbe  des 
Harns  meistens  auf  Hämaturie  beruht,  so  ist  doch,  wenn  nicht  exquisite 
Blutgerinnsel  vorhanden  sind,  die  exacte  Diagnose  nicht  mit  den  chemischen  und 
spectroskopischen  Proben,  sondern  nur  durch  den  mikroskopischen  Nachweis 
der  Erythrocyten  zu  stellen.  Natürlich  kann  das  Blut  aus  jedem  Abschnitt 
des  Harnapparates  dem  Urin  beigemischt  sein.  Sehr  schwierig,  ja  unmöglich 
kann  aber  im  einzelnen  Falle  von  Hämaturie  die  Erkennung  sein,  aus  welchen 
Theilen  das  Blut  stammt.  Leicht  ist  die  Herkunft  aus  der  Harnröhre  zu  con- 
statiren,  wenn  beim  Wasserlassen  das  Blut  mit  den  ersten  Portionen  abfliesst 
und  dann  ein  normal  gefärbter  Harn  folgt.  So  einfach  liegt  aber  die  Sache 
in  der  Regel  nicht.  Hat  man  den  mit  Blut  gemischten  Urin  vor  sich,  so  kann 
die  mikroskopische  Untersuchung  noch  am  meisten  Aufklärung  über  die  Blut- 
quelle bringen.  Blutcylinder,  d.  h.  compacte  cylinderförmige  Ausgüsse  der 
Harncanälchen,  welche  nur  aus  rothen  Blutkörperchen  mit  etwas  Fibrin  be- 
stehen, sprechen  mit  Bestimmtheit  für  Nierenblutungen.  Gerinnsel  von  der  Dicke 
des  Lumens  der  Harnleiter  können  vermuthungsweise  auf  Blutung  im  Nieren- 


*)  Vergl.  „Diabetes  mellitus"  (F.  Kraus),  pag.  396  ds.  Bd. 

Bibl.  med.  Wissenschaften.  I.  Interne   Medicin  und  Kinderkrankheiten. 


51 


802  HARN. 

becken  oder  den  Ureteren  bezogen  werden.  Grössere,  klumpige  Coagula  spre- 
chen mehr  für  Blasenblutung.  Gleichzeitige  Anwesenheit  von  Nierenelementen, 
insbesondere  Cylindern,  und  eine  veränderte  Beschaffenheit  der  Erythrocyten, 
welche  von  längerem  Aufenthalt  derselben  im  Harn  herrührt,  müssen  für  die 
Abstammung  des  Blutes  aus  den  Meren,  frische  Blutkörperchen,  eventuell  auch 
die  zersetzte  Beschaffenheit  des  Urins  und  sonstige  auf  Blasenerkrankung  deu- 
tende Erscheinungen  für  die  Diagnose  „Blasenblutung"  verwerthet  werden. 
Immer  ist  bei  der  Difierentialdiagnose  vorsichtig  abzuwägen.  Auch  ist  nicht 
ausser  Acht  zu  lassen,  dass  bei  Nierenkranldieiten  Blasenblutungen,  bei  Blasen- 
lorankheiten  Nierenblutungen  als  Combination  auftreten  können. 

Die  Ursachen  der  Hämaturie  sind  zahllose.  Verletzungen  können  in  allen 
Theilen  des  Harnapparats  Blutungen  verursachen.  An  den  Nieren  müssen  von 
Aussen  her  wirkende  Traumen  schon  sehr  stark  sein,  an  der  Urethra  können 
die  leichtesten,  z.  B.  mit  dem  Katheter,  eine  Hämorrhagie  veranlassen.  Von 
den  N  i  e  r  e  n  erkrankungen  können  Steine,  Tuberculose,  Krebs,  Eiterungen 
häufig  zu  Hämaturie  führen.  Die  acute  Nephritis  verläuft  fast  ausnahmslos 
mit  Blutaustritt,  die  bei  Scharlach  regelmässig  (acute  hämorrhagische  Glome- 
rulonephritis). Chronische  Nephritiden  zeigen  die  Blutkörperchen  seltener 
und  spärlicher  im  Sediment.  Wichtig  sind  die  Hämaturien  durch  Ver- 
giftungen (Canthariden,  Terpentin,  ätherische  Oele  und  Balsame  etc.).  An  diese 
schliessen  sich  kleine  Blutaustritte  an,  welche  in  Folge  von  Missbrauch  unserer 
Genussmittel  (Alkohol  etc.)  entstehen  können.  Weiter  kennen  wir  eine  Pteihe 
von  Allgemeinerkrankungen  (Infectionskrankheiten,  tropischer  Malaria,  Scorbut 
und  verwandter  Krankheiten)  als  Ursache  der  Hämaturie.  Endlich  können  Para- 
siten im  Blut,  beziehungsweise  den  Harnorganen,  wie  die  Filaria,  Blutungen 
bedingen.  In  der  Aetiologie  der  Blasenblutungen  sind  vor  Allem  schwere  Cy- 
stitis  (Diphtherie),  Ulcerationen  durch  Steine,  Geschwülste  (Krebs,  Polypen)  zu 
nennen.  Ausnahmsweise  können  auch  Varicen  bersten.  Die  Urethralblutun- 
gen  gehören  in  der  Regel  gar  nicht  zur  Hämaturie,  da  das  Blut  gewöhnlich 
direct  hervortritt. 

Hämoglobinurie.  Hämoglobinurie  nennt  man  die  Ausscheidung 
eines  blutrothen  bis  rothbraunen,  selbst  schwarzen  Harns,  in  welchem  sich 
Hämoglobin  in  gelöstem  Zustande  befindet.  Derselbe  gibt  daher  die 
Blutfarbstoffreactionen,  sowohl  die  chemischen,  als  die  spektroskopischen,  zeigt 
aber  keine  rothen  Blutkörperchen  im  Sediment  oder  wenigstens  so  wenig, 
dass  sie  mit  der  Farbstoffmenge  in  keinem  Verhältnis  stehen.  Im  Präparat 
finden  sich  in  schweren  Fällen  amorphe,  rothbraune  Massen  oder  auch  gelb- 
liche, zuweilen  rosenkranzförmige  Hämoglobintröpfchen.  Selten  sind  Hämo- 
globinkrystalle  gesehen  worden.  Sonst  enthält  der  Harn  Eiweiss.  Entweder 
besteht  eine  eigentliche  renale  Albuminurie  mit  Cylindern  und  anderen  Zeichen 
der  Nephritis  oder  es  scheidet  sich  bei  Erhitzen  und  Säurezusatz  nur  das 
Globulin  ab.  Uebrigens  ist  der  Blutfarbstoff  häufig  nicht  nur  Oxyhämoglobin, 
vielmehr,  nach  Manchen  sogar  meistens,  zumal  bei  brauner  Färbung  des  Harns, 
eine  Modification  desselben,  das  Methämoglobin,  kenntlich  an  seinem 
Streifen  im  Ptoth  des  Spectrums  nahe  an  C. 

Ueber  die  Entstehungsweise  der  Hämoglobinurie  wissen  wir  etwa 
Folgendes:  Das  durch  den  regelmässig  im  Blut  stattfindenden  Zerfall  von  Ery- 
throcyten freiwerdende  Hämoglobin  wird  in  der  Leber,  wahrscheinlich  zu  Gallen- 
farbstoff, verarbeitet.  Wenn  aber  in  Folge  irgend  einer  Ursache  dieser  Blut- 
körperchenzerfall in  grossem  Maasstabe  stattfindet,  so  kann  die  Leber  die 
Mengen  nicht  bewältigen,  das  Hämoglobin  findet  sich  gelöst  im  Blutserum 
(Hämoglobinämie)  und  verlässt  dasselbe  durch  die  Nieren  (Hämo- 
globinurie). Experimentell  hat  man  Hämoglobinurie  erzeugt  durch  Ein- 
spritzungen von  Wasser,  fremdartigem  Blut,  Eiweiss,  gallensauren  Salzen, 
Kaliumpermanganat,  Jod,  Aether  in  die  Blutbahn,  Galle,  Glycerin   und  zahl- 


HARN.  803 

reichen  Giften  ins  Gewebe.  Auch  beim  Menschen  ist  Hämoglobinurie  in  Folge 
von  Intoxicationen  mit  einer  Reihe  von  Blutgiften"^)  beobachtet  worden,  so  nach 
Schwefelsäure,  Schwefel-,  Phosphor-,  Arsenwasserstoff,  chlorsaurem  Kali,  Phenol, 
Naphthol,  Pyrogallol,  Chinin,  Morcheln.  Von  Krankheiten,  bei  denen  Hämo- 
globinurie vorkommt,  sind  zu  nennen:  Ausgedehnte  Verbrennungen,  sogar  Aet- 
zung  mit  dem  Thermokauter,  schwere  Infectionskrankheiten  (Sepsis,  Scharlach, 
Wechselfieber,  Syphilis).  Gegenüber  diesen  Hämoglobinurien,  in  welchen  die 
Entstehungsweise,  die  Auflösung  der  Blutkörperchen  durch  Gifte,  beziehungsweise 
Toxine,  noch  ziemlich  durchsichtig  ist,  muss  man  noch  eine  Reihe  von  Fällen, 
mangels  genauer  Einsicht  in  ihre  Pathogenese,  als  idiopathische  Hämo- 
globinurien, beziehungsweise  Hämoglobinämien  unterscheiden.  Dahin  gehört 
aber  eigentlich  nicht  die  sogenannte  WmcKEL'sche  Krankheit*"^)  der  Neu- 
geborenen, bei  der  es  sich  jedenfalls  um  eine  noch  nicht  näher  gekannte 
Infectionskrankheit  handelt,  die  mit  Hämoglobinurie  vergesellschaftet  ist.  Das 
sind  vielmehr  jene  Fälle  von  paroxysmaler  oder  periodischer  Hämo- 
globinurie. Die  Erscheinung  tritt,  meist  bei  ganz  gesunden  Personen,  in 
gewöhnlich  seltenen,  mehr-  bis  zwölfstündigen  Anfällen  auf.  Es  findet  sich 
während  derselben  ausser  Oxyhämoglobin  und  Methämoglobin  keine  wesentliche 
Veränderung  im  Harn,  wenn  sich  der  Paroxysmus,  wie  zuweilen  beobachtet 
wurde,  nicht  bei  vorher  schon  nierenkranken  Personen  zeigt.  Auch  in  den 
Zwischenzeiten  zwischen  den  Anfällen  ist  der  Harn  normal.  Nur  dass  sich 
zuweilen  spärliche  Cylinder  oder  rothe  Blutzellen  oder  vorübergehende  Albu- 
minurie als  Zeichen  der  Nierenreizung  durch  die  Hämoglobinurie  finden.  In 
abortiven  Fällen  scheint  transitorischer  Eiweissharn  an  Stelle  der  Hämoglobinurie 
treten  zu  können.  Die  Pathogenese  der  periodischen  Hämoglobinurie  ist 
noch  völlig  unaufgeklärt.  Die  Veranlassung  zum  Ausbruch  der  Erscheinung 
haben  häufig  Erkältungen  gegeben  und  zwar  nicht  die  im  gewöhnlichen  Leben 
so  genannten,  sondern  wirklich  starke  Abkühlungen.  Ja,  man  konnte  mit  einem 
kalten  Bad  experimentell  den  Anfall  hervorrufen.  Weiter  waren  es  Excesse 
im  Trinken  und  der  Liebe,  welche  besonders  in  einem  Fall  von  chronischer 
Nephritis  jedesmal  mit  Sicherheit  einen  Anfall  auslösten.  Endlich  wurden 
starke  Muskelanstrengungen  als  Grund  der  Paroxysmen  erkannt.  Wie  dunkel 
das  eigentliche  Wesen  der  Krankheit  in  Wirklichkeit  ist,  zeigt  die  merk- 
würdige, zuerst  von  R.  Fleischer  constatirte  Thatsache,  class  es  Fälle  gibt, 
in  welchen  nur  eine  ganz  bestimmte  Art  der  Körperanstrengung  Hämoglobinurie 
macht.  Bei  derartigen  Kranken  tritt  z.  B.  nach  jedem  Marsche  die  Affection 
auf,  ist  aber  durch  das  anstrengendste  Holzhacken  etc.  ebensowenig,  wie  durch 
die  anderen  Ursachen,  als  Abkühlung,  chemische  Einflüsse  etc.  zu  erzielen. 
Die  Behandlung  dieser  eigenthümlichen  Krankheit  kann  nur  in  Ver- 
meidung der  speciellen  ursächlichen  Schädlichkeiten  ebenso  wie  jeder  Nieren- 
reizung, sowie  in  möglichster  Hebung  der  Gesammternährung  bestehen. 

Hydrotliionurie.  Hydrothionurie  sollte,  analog  den  ähnlich  zu- 
sammengesetzten Bezeichnungen,  nur  der  Zustand  genannt  werden,  wenn 
fertig  gebildeter  Schwefelwasserstoff  durch  Diffusion  dem  Harn  beigemischt 
wird.  Die  Entwickelung  von  Schwefelwasserstoff  im  Harn  selbst  geht 
unter  dem  Einfluss  von  bestimmten  Bacterien  vor  sich  und  es  findet  sich  das 
Material  dazu  im  normalen  Secret,  besonders  in  Gestalt  der  Schwefelverbindungen, 
vielleicht  auch  der  unterschwefligsauren,  weniger  wahrscheinlich  der  schwefel- 
sauren Salze.  Am  leichtesten  entwickelt  sich  natürlich  die  Schwefelwasserstofl- 
gährung  wegen  des  Schwefelgehaltes  der  Eiweisskörper  in  albuminhaltigen  Urinen. 
Besonders  häufig  ist  daher  Schwefelwasserstoff  im  Urin  bei  Eiterungen  in  der 


*)  Vergl.  auch  den  Artikel  „Blutgifte"  (H.  Dreser)  pag.  197    d.   ^d..  „Pharmakologie 
Wild  Toxikologie"  der  „BibliotheJc'^. 
**)  Siehe  das  Stichwort. 

51* 


804  HARN. 

]Si;iere  oder  Blase  (Pyelonepiiritis,  Nierentuberculose,  Cystitis)  beobachtet  worden- 
Diese  Fälle  braucht  man  jedoch  nicht  als  eine  eigene  Form  der  Harnausscheidung 
zu  bezeichnen,  da  man  nicht  für  jedes  zufällig  in  den  Harnorganen  sich  bildende 
Zersetzungsproduct  eine  besondere  Harnform  aufstellen  kann.  Auch  der 
directe  Uebertritt  des  Schwefelwasserstoffs  durch  eine  Perforation  aus  dem 
Darm  oder  einer  Jauchehöhle  in  die  Harnwege  ist  jenen  Fällen  zuzurechnen, 
und  von  der  Hydrothionurie  im  engeren  Sinne  auszunehmen,  da  auch  bei 
dieser  Form  die  Zersetzung  des  Harns  innerhalb  des  Harnapparates  die  Haupt- 
sache ist  und  nicht  die  Anwesenheit  des  Schwefelwasserstoffes.  Zur  Unter- 
scheidung einer  Perforation  von  einer  innerhalb  der  unverletzten  Harnorgane 
entstehenden  Eiterung  mit  Zersetzung  des  Harns  ist  aber  der  Schwefelwasser- 
stoffnachweis natürlich  nicht  geeignet.  Wenn  man  wirklich  für  diese  Fälle 
den  Namen  „Hydrothionurie"  beibehalten  will,  so  muss  man  sie  als  Hydro- 
thionurie bei  zersetztem  Harne  abtrennen.  Es  bleibt  nun  die  Hydro- 
thionurie im  engeren  Sinne,  bei  unzersetztem  Harne  übrig.  Höhere 
Grade  dieser  Hydrothionurie  sind  nur  selten  beobachtet  worden.  Es  waren 
Fälle  von  schweren  Darm-  und  Bauchfellerkrankungen  mit  so  reichlicher 
Entwickelung  stinkender  Gase,  dass  eine  wirkliche  Autointoxication  stattfand. 
Dass  freilich  der  Schwefelwasserstoff  in  solchen  Fällen  das  einzige  Product 
jener  schweren  Processe  ist,  welche  zur  Selbstvergiftung  führen  können,  ist 
nicht  wahrscheinlich.  Jedenfalls  ist  mit  Sicherheit  anzunehmen,  dass  das 
Gas  auf  dem  Wege  der  Diffusion,  entweder  direct  durch  die  Gewebe  aus 
der  Nachbarschaft  oder  auf  dem  Umwege  durch  die  Blutbahn  in  den  Harn 
gelangt.  Eine  grössere  diagnostische  Bedeutung  hat  die  Hydrothionurie  noch 
nicht  bekommen. 

Lidicaimrie.  Die  gesteigerte  Ausscheidung  des  normalen,  nur  im  ge- 
sunden Säuglingsurin  fehlenden  Harnbestandtheils,  der  Indoxylschwefel- 
säure  oder  des  I  n d  i  c  a  n  s  bezeichnet  man  als  I  n  d  i  c  a  n  u r  i  e.  Sie  zeigt  sich  in 
ausgesprochener  Weise,  wenn  irgendwo  im  Körper  eine  gesteigerte  Eiweiss- 
fäulnis  stattfindet.  Den  Ort,  wo  dieselbe  vor  sich  geht,  kann  sie  natürlich 
nicht  angeben.  Es  ist  daher  die  Indicanurie  für  die  Erkennung  von  jauchigen 
Abscessen  (Pleura-empyemen,  jauchigen  Peritonitiden  etc.)  nur  mit  Vorsicht  zu 
verwerthen,  da  sie  auch  bei  Kothstauung  mit  Zersetzungsvorgängen  in  starker 
Weise  vorhanden  sein  kann.  Das  in  solchen  Fäulnisherden  gebildete  Indol 
wird  im  Körper  zu  Indoxyl  oxydirt  und  im  Harn  als  Indoxylschwefelsäure 
ausgeschieden.  Erkannt  wird  das  Indican  mit  Keactionen,  welche  auf  seine 
Spaltung  und  die  Abscheidung  von  Indigohlau  gerichtet  sind.  Fertiges  Indigo 
in  Form  von  blauen  Krystallen  und  Bruchstücken  wird  zuweilen  in  ammonia- 
kalischen  Harnen  gefunden.  Auch  der  Nachweis  von  Lidigoroth  (burgunderrothe 
Urinfärbung  0.  Kosenbach's)  ist  wohl  nichts  weiter  als  eine  Indicanreaction. 
Eine  grössere  diagnostische  Bedeutung  kommt  der  Indicanurie  wegen  der  Mehr- 
deutigkeit der  Symptome  nicht  zu.  Auch  ist  die  Abschätzung,  ob  es  sich  um 
eine  wirkliche  krankhafte  Indicanurie  handelt,  bei  blosser  Anwendung  der  in 
der  Praxis  allein  möglichen  qualitativen  Proben  nicht  ganz  leicht.  Doch  wird 
man  gut  thun,  in  schwierigen  Fällen,  zumal  wenn  es  sich  um  chirurgische 
Eingriffe  handelt,  eventuell  auch  die  Indicanurie  in  das  Bereich  der  Erwägungen 
zu  ziehen. 

Laktosurie,  siehe  „GhjJcosurie"  pag.  800. 

Leuciniirie.  Von  einer  Leucinurie,  als  der  Ausscheidung  von 
Leu  ein  in  Form  der  bekannten  Kugeln  kann  man  sehr  wohl  sprechen,  ob- 
wohl der  Name  nicht  gerade  gebräuchlich  ist.  Das  Gleiche  gilt  von  der 
Tyrosinurie,  der  Ausscheidung  des  Tyrosins  in  Gestalt  von  Nadelbüscheln. 
Beide  Producte  der  Eiweisszersetzung  und  Pancreasverdauung  sind  im  Harn  bei 
acuter  gelber  Leberatrophie  und  Phosphorvergiftung,  sowie  auch  zuweilen  bei 
Leukämie    und    schweren  Infectionskrankheiten   gefunden  worden.    Als  Vor- 


HARN.  805 

stufen  des  Harnstoffes  ist  ihr  Auftreten  ein  Zeichen,  das  die  Harnstoffbildung, 
besonders  in  der  Leber  beschränkt  oder  aufgehoben  ist,  weshalb  auch  in  der 
Regel  die  Harnstoffausscheidung  beträchtlich  vermindert  ist.  Uebrigens  soll 
man  nicht  allein  auf  die  Anwesenheit  der  Leucinkugeln  und  Tyrosinnadeln  hin 
ohne  Weiteres  Leucinurie  und  Tyrosinurie  annehmen,  da  diese  Formen  viel- 
deutig sind,  sondern  immer  die  Identität  durch  zuverlässige  chemische  Reactionen 
erhärten. 

Levulosiirie,  siehe  ^^Glykosurie"  pag   800. 

Lipacidiirie.  Der  Name  Lipacidurie  ist  der  Ausscheidung  von 
flüchtigen  Fettsäuren  gegeben  worden.  Dieselben  finden  sich  im  nor- 
malen Harn  in  Spuren  und  können  aus  demselben  in  grösseren  Mengen  unter 
der  Einwirkung  oxydirender  Substanzen  oder  bei  der  ammoniakalischen  Gährung 
gewonnen  werden.  Im  frischen  Harne  kommen  sie  beim  Fieber,  bei  schweren 
Leberleiden  und  im  Diabetes  vor.  Nachgewiesen  sind  Ameisen-,  Essig-, 
Butter-  und  Propionsäure.  Eine  diagnostische  Bedeutung  besitzt  die 
Lipacidurie  bis  jetzt  nicht.  Dagegen  ist  die  ß-Oxybutter  säur  e  von  Wichtig- 
keit für  die  Beurtheilung  des  Verlaufs  der  Zuckerruhr.  Dieselbe  wurde 
in  gewissen  Fällen  von  Diabetes,  ebenso  wie  im  Blut,  so  auch  im  Harn  und 
zwar  in  grossen  Mengen,  bis  zu  226  ^r  in  24  Stunden,  nachgewiesen.  Da 
diese  grossen  Mengen  von  Oxybuttersäure  besonders  vor  oder  mit  dem  diabe- 
tischen Coma  auftreten,  so  werden  sie  in  ätiologischen  Zusammenhang  mit 
diesem  gebracht  und  dasselbe  als  eine  Säureintoxication  des  Blutes  aufgefasst. 
Für  viele  Fälle  muss  diese  Auffassung  gegenwärtig  als  die  richtige  angesehen 
werden.  Doch  darf  nicht  verschwiegen  werden,  dass  es  auch  Fälle  von  Coma 
ohne  verminderte  Blutalkalescenz  gibt,  sowie  solche,  in  denen  auch  die  durch 
Alkalizufuhr  erreichte  Alkalisirung  des  Harns  den  tödtlichen  Ausgang  nicht  auf- 
hielt. Es  muss  demnach  auch  ausser  der  Oxybuttersäureanhäufung  noch  andere 
Ursachen    des    diabetischen  Comas  geben. 

Lipurie.  Wenn  Fett,  welches  im  normalen  menschlichen  Harn  nicht  vor- 
kommt, in  Form  von  mikroskopischen  Kügelchen,  feinsten  Tröpfchen,  Nadeln  oder 
endlich  als  allerfeinste  Emulsion  im  Urin  auftritt,  so  sprechen  wir  von  Lipurie. 
Eine  besondere  Form  derselben,  bei  der  Eiweiss  und  Fett  zusammen  erscheint, 
liaben  wir  als  Chylurie  (s.  d.)  bereits  besprochen.  Eigentliche  Lipurie  ist 
gefunden  worden:  bei  Verfettung  der  Nieren  bei  Nephritis  und  bei  Phosphor- 
vergiftung, auch  bei  Kohlenoxydintoxication;  ferner  bei  zahlreichen  Personen 
in  Folge  von  Phthisis,  Carcinom,  Leberkrankheiten;  weiter  bei  Verletzungen 
der  Knochen  (Brüchen  und  Operationen)  oder  anderer  fettreicher  Gewebe,  sowie 
bei  Osteomyelitis;  endlich  unter  physiologischen  Verhältnissen  bei  Schwangeren. 
Einen  diagnostischen  Werth  hat  die  Lipurie  noch  nicht  erlangt. 

Melaiiiirie.  Unter  Melanurie  versteht  man  die  Ausscheidung  des 
Melanins,  eines  schwarzen  Farbstoffes  in  Lösung,  viel  seltener  in  Form  dunkler 
Pigmentkörnchen  oder  des  Melanogens,  eines  Chromogens,  welches  bei 
längerem  Stehen  des  Harns  oder  durch  oxydirende  Substanzen  (z.  B.  Eisenchlorid, 
Kaliumbichromat  und  Schwefelsäure  etc.)  in  Melanin  übergeführt  wird.  Die 
Melanurie  findet  sich  häufig,  aber  nicht  immer,  bei  Pigmentgeschwülsten, 
kann  aber  ausnahmsweise  auch  bei  anderen  Krebsen,  Marasmus  und  Entzündungs- 
processen  vorkommen.  Ihr  Bestehen  ist  daher  kein  sicheres  Zeichen  für  Pigment- 
tumoren, ebenso  wie  ihr  Fehlen  nicht  mit  Bestimmtheit  gegen  die  Annahme 
solcher  Geschwülste  spricht.  Doch  kann  man  den  Nachweis  des  Melanins  sehr 
wohl  zur  Diagnose  verwerthen,  wenn  sonstige  Zeichen  die  Annahme  jener 
malignen  Neubilduugen  wahrscheinlich  machen. 

Oxalurie.  Der  Name  Oxalurie  kommt  nur  der  über  das  gewöhnliche 
oder  von  der  Pflanzennahrung  abhängige  Maass  (physiologische  Oxalurie) 


806  HARN. 

hinausgehenden  Oxalsäureausscheidung  zu.  Dieselbe  kann  daher  nur  durch 
quantitative  Bestimmung  der  Säure  erkannt  werden.  Man  unterscheidet 
zweckmässig  drei  Formen  von  pathologischer  Oxalurie.  1.  Die  acci- 
dentelle  Oxalurie.  Diese  kann  sich  zu  den  verschiedensten  acuten  und 
chronischen  Erkrankungen,  meist  vorübergehend,  hinzugesellen.  So  ist  dieselbe 
mit  Sicherheit  in  der  Reconvalescenz  von  Typhus  und  Gelenkrheumatismus, 
bei  Magen-  und  Darraerkrankungen,  Icterus,  Blasenkatarrh  und  transitorischer 
Albuminurie  gefunden  worden.  2.  Die  vi cariirende  Oxalurie.  Sie  zeigt  sich 
im  Alterniren  mit  der  Zuckerausscheidung  beim  Diabetes,  dergestalt,  dass 
erhöhte  Oxalurie  mit  verminderter  Glykosurie  und  umgekehrt  einhergeht.  Es 
ist  übrigens  ein  seltenes  Vorkommnis.  3.  Die  idiopathische  Oxalurie  (Oxal- 
säure Diathese,  oxalsaurer  Diabetes).  Obwohl  diese  Form  als  eigene  Krank- 
heit nicht  allseitig  anerkannt  ist,  so  scheint  es  doch  nach  verschiedenen  Au- 
toren sicher  Fälle  zu  geben,  in  welchen  bei  subjectiven  Beschwerden,  Polyurie 
und  Abmagerung  als  einzige  Ursache  erhöhter  Oxalsäureausscheidung  zu  fin- 
den ist  und  in  denen  man  eine  Stoffwechselkrankheit  annehmen  muss.  Harn- 
steine aus  oxalsaurem  Kalk  lassen  übrigens  nicht  ohne  Weiteres  den  Schluss 
auf  Oxalurie  zu,  ebensowenig  wie  eine  Oxalurie  immer  zu  Kalkoxalatsteinen 
führen  muss. 

Die  Entstehung  der  Oxalurie,  sofern  die  Oxalsäure  nicht  zugeführt,  son- 
dern im  Körper  gebildet  wird  (Oxalämie),  beruht  höchstwahrscheinlich  auf 
einer  unvollkommenen  Oxydation  der  Kohlenhydrate  der  Nahrang,  eine  Auf- 
fassung, welche  mit  allen  drei  klinischen  Formen  der  Oxalurie  im  Einklang  steht. 
Die  klinische  Bedeutung  der  Oxalurie  ist  daher  zweifellos.  Nur  ist  zu  be- 
dauern, dass  dieselbe,  mangels  einer  bequemen  diagnostischen  Methode,  noch 
nicht  die  gebührende  Anerkennung  in  der  ärztlichen  Praxis  gefunden  hat. 

Peptoimrie.  Die  Ausscheidung  des  in  der  Siedehitze,  sowie  bei  Essig- 
säure- und  Ferrocyankalium-Zusatz  nicht,  dagegen  mit  Phosphorwolframsäure 
etc.  coagulirenden  Eiweisskörpers,  des  Peptons,  nennt  man  Peptonurie. 
Dieselbe  kann  ohne  und  neben  Albuminurie  bestehen.  Im  Harn  des  Ge- 
sunden fehlt  Pepton  sicher.  Dagegen  soll  es,  wie  es  scheint,  jedoch  nicht 
constant,  bei  einem  physiologischen  Zustand  vorkommen,  nämlich  im  Puer- 
perium (puerperale  Peptonurie).  Aus  der  Nahrung  soll  das  Pepton  nur  in 
den  Harn  übergehen  können,  wenn  es  von  Geschwüren  des  Darms  aus  resorbirt 
wird  (enter ogene  Peptonurie).  Auch  bei  Scorbut  ist  Peptonurie  beobachtet 
und  daraus  eine  hämat ogene  Form  construirt  worden.  Die  charakteri- 
stischeste und  wichtigste  Art  der  Peptonurie  ist  die  py ogene.  Man  findet, 
wenn  auch  nicht  immer,  so  doch  häufig  Pepton  im  Harn,  wenn  im  Körper 
eine  Anhäufung  und  Zerfall  von  Leucocyten  statthat,  so  in  der  Lösung  der 
Pneumonie,  bei  Pleuraempyemen,  eitriger  Meningitis,  eitriger  Lungentuber- 
culose  und  sonstigen  Eiterungen.  Es  wird',  wie  es  scheint,  das  aus  dem  Zer- 
fall des  Eiters  hervorgehende  Pepton  durch  den  Harn  ausgeschieden.  Durch 
Nephritis  und  Circulationsstörungen  in  den  Nieren  soll  Pepton  nie  in 
Harn  gelangen,  auch  wenn  es  neben  Serumalbumin  in  demselben  erscheint. 
Im  Allgemeinen  muss  zugegeben  werden,  dass  in  der  ganzen  Lehre  von  der 
Peptonurie  noch  vieles  unaufgeklärt  ist.  Auch  ist  der  sichere  Nachweis  der 
Peptonurie  im  Harn  noch  nicht  so  vereinfacht,  dass  derselbe  in  die  tägliche 
Praxis  eingeführt  werden  könnte.  Daher  kann  das  Symptom  der  Hauptsache 
nach  nur  in  besonderen  Fällen,  wenn  es  sich  darum  handelt,  die  Vermuthung 
eines  versteckten  Eiterungsprocesses  im  Körper  zu  erhärten,  klinisch  verwerthet 
werden. 

Tyrosinurie,  vgl.  „Leucinurie"  pag.  804. 
Urobilinurie,  s.  „Cholurie"  pag.  799. 


HARN.  807 

n.  Verhalten  des  Harns  bei  den  hauptsächlichsten  Krankheitsformen. 

1.  Krankheiten  der  Nieren. 

Den  Nierenentzündungen  ist  die  Ausscheidung  von  Eiweiss  und  von 
Formbestandtheilen  (Cylindern,  Epithelien)  aus  den  Nieren  gemeinsam.  Bei 
den  einzelnen  Formen  ist  das  Verhalten  des  Harns  wieder  verschieden.  Wir 
unterscheiden  die  acute  und  die  chronische  Nephritis  und  versuchen 
die  Harnsymptomatologie  der  letzteren,  wenigstens  für  die  ausgesprochenen 
Fälle,  nach  den  beiden  Formen,  der  sogenannten  chronischen  parenchymatösen 
Nephritis  und  der  chronischen  interstitiellen  oder  Schrumpfniere  ausein- 
ander zu  halten. 

Acute  Nephritis.  Die  Harnmenge  ist  spärlich  bei  hohem  specifischen 
Gewicht  (zuweilen  besteht  zeitweise  Anurie,  wie  im  urämischen  Anfall)  und 
wird  erst  reichlicher  gegen  die  Heilung  hin.  Dabei  ist  der  Harn  gewöhnlich 
trübe  und  zeigt  in  der  Regel  blutige  Beschaffenheit  in  allen  Nuancen  von 
Fleischwasser-  bis  schwarzbrauner  Farbe.  Albuminurie  besteht  fast  ausnahmslos. 
Doch  mag  es  leichte  Fälle  und  Anfangsstadien  ohne  Eiweiss  geben.  Im  Se- 
diment finden  sich:  rothe  und  weisse  Blutkörperchen,  hyaline,  mit  weissen  oder 
rothen  Blutkörperchen  oder  verfetteten  Epithelien  besetzte  oder  gekörnte 
oder  reine  Blut-Cylinder,  sowie  kleine,  runde,  verfettete  Nierenepi- 
thelien. 

Chronische  parenchymatöse  Nephritis.  Die  Harnmenge  ist  gewöhnlich 
gering  oder  normal,  der  Eiweissgehalt  ist  constant  und  hoch.  Im  Bodensatz 
finden  sich  Leucocyten,  hyaline  und  dunkelgekörnte,  zuweilen  auch  gelbliche, 
wachsartig  glänzende  Cylinder,  verfettete  Nierenepithelien,  rothe  Blut- 
körperchen nur  bei  acuten  Steigerungen. 

Schrumpfniere.  Meistens  ist  das  Harnvolumen  sehr  beträchtlich  erhöht 
(3000,  4000  und  mehr)  bei  blasser  Farbe,  niedrigem  specifischen  Gewicht  und 
geringer  Eiweissmenge.  Das  Eiweiss  kann  nur  in  Spuren  vorhanden  sein 
und  ausnahmsweise  zuweilen  ganz  fehlen.  Das  Sediment  ist  ebenfalls  spärlich 
und  enthält  vereinzelte,  vorzugsweise  hyaline  Cylinder.  Abweichungen  von 
diesem  Verhalten  kommen  jedoch  vor.  Insbesondere  ist  bei  Compensations- 
störungen  und  vor  dem  urämischen  Anfall  die  Harnmenge  gering.  Die  tägliche 
Harnstoff-,  Harn-Schwefel-  und  Phosphorsäuremenge  ist  in  der  Regel  herab- 
gesetzt, in  der  Urämie  besonders  stark. 

Amyloidniere.  Bestimmte  Normen  über  das  Verhalten  des  Harns  sind 
nicht  zu  geben,  zumal  das  Amyloid  so  häufig  mit  chronischer  Nephritis  ver- 
gesellschaftet ist.  Bei  der  reinen  Amyloidniere  hat  man  ziemlich  normale 
Menge  und  specifisches  Gewicht,  blasse  und  klare  Beschaffenheit,  wenig  Se- 
diment und  spärliche  hyaline  Cylinder,  reichliches  Eiweiss  oder  völlig  oder 
zeitweise  fehlende  Albuminurie  beobachtet.  Die  sogenannten  AmyloTdcylinder, 
welche  die  Jod-Schwefelsäure-Reaction  geben,  sind  nicht  charakteristisch,  weder 
bei  positivem,  noch  bei  negativem  Ausfall  der  Probe. 

Stauung sniere.  Der  „Stauungsharn"  ist  concentrirt,  dunkel,  hoch- 
gestellt, sauer,  mit  starker  Ausscheidung  von  harnsauren  Salzen,  mittlerem, 
geringem  oder  fehlendem  Eiweissgehalt  und  verliert  diese  Eigenschaften  bei 
Verbesserung  der  Herzthätigkeit.  Die  starke  Concentration  des  Stauungsharns 
hängt  von  der  verminderten  Wasserfiltration  infolge  des  gesunkenen  arteriellen 
Druckes  ab,  während  die  Eiweissausscheidung  wahrscheinlich  die  Folge  der 
auf  die  langsamere  Blutströmung  eintretenden  mangelhaften  Ernährung  der 
Nierenepithelien  ist. 

Eitrige  Nephritis  und  Pyelonephritis.  Das  Verhalten  des  Harns  ist 
in  den  reinen  Fällen  oder  den  mit  Pyelitis  vergesellschafteten  wenig  charak- 
teristisch. Gewöhnlich  noch  sauere  Reaction,  Eiweissgehalt  (zuweilen  fehlend), 


808  HARN 

Cylinder  und  Epithelien  mit  grösserer   oder  geringerer  Constanz,  Eiterzellen, 
bei  Durchbrucli  von  Abscessen  ins  Nierenbecken  besonders  reichlich. 

Nierentuberculose.  Bei  der  iilcerirenden  Form  findet  sich  Eiter  regel- 
mässig, Blut  ab  und  zu  und  gewöhnlich  auch  Tuberkelbacillen,  selten  bröck- 
liche,  kä-sige  Massen,  Elemente,  welche  bei  der  miliaren  Tuberculose  fehlen 
oder  nur  vereinzelt  vorkommen.  Das  Gleiche  gilt  von  der  Tuberculose  der 
übrigen  Harnorgane. 

2.  Erkrankungen  der  Harnwege. 

Pi/elitis  calculosa.  Im  Schmerzanfall  führt  der  Harn  bei  sauerer  Reaction 
Eiter-,  auch  wohl  Blutzellen,  sowie  nicht  selten  kleinere  und  grössere  Con- 
cremente  (aus  Harnsäure,  Uraten  oder  Oxalaten),  und  immer  Schleim.  Die 
dachziegelartig  angeordneten  Epithelien  sind  nicht,  wie  man  früher  annahm, 
für  das  Nierenbecken  charakteristisch.  Für  den  Sitz  der  Affection  im  Nieren- 
becken ist  die  auf  Betheiligung  der  Niere  deutende  Anwesenheit  von  Cylindern 
und  cylindrischen  Eiterpfropfen,  sowie  die  wechselnde,  zeitweilig  normale  Be- 
schaffenheit des  Harns  bei  Verstopfung  des  Ureters  der  kranken  Seite  zu  ver- 
werthen.  Denn  bei  der  infolge  des  Ureterverschlusses  entstehenden  Hijdro- 
nephrose,  ist  der  Harn,  der,  solange  der  Verschluss  dauert,  aus  der  gesunden, 
vicariirenden  Niere  stammt,  normal  und  wird  erst  bei  erneuter  Durchgängigkeit 
wieder  pathologisch. 

Ci/stitis.  Bei  den  leichteren  Formen  ist  der  Harn  blass,  schwach  sauer 
oder  neutral,  trüb  und  enthält  Schleim  und  Eiter,  zeigt  jedoch  nach  der  Fil- 
tration kein  Eiweiss,  oder  höchstens  Spuren.  In  schweren  Fällen  reagirt  der 
Harn  meist  alkalisch,  ist  schmutzig  gelb  bis  braunroth  gefärbt,  führt  reichlich 
Bacterien,  Schleim,  Eiter,  Blut  und  eventuell  Gewebsfetzen  und  bei  alkalischer 
Reaction  Krystalle  von  phosphorsaurer  Ammoniakmagnesia,  sowie  harnsaurem 
Ammoniak,  bei  starkem  Geruch  nach  Ammoniak  und  eventuell  Schwefel- 
wasserstoff. 

Blasensteine  und  Blasengeschivälste  bieten  gewöhnlich  das  Harnbild 
der  Cystitis.  Doch  können  sich  auch  im  Urin  zuweilen  erstere  in  Form  von 
Steinfragmenten,  letztere  in  Gestalt  von  charakteristischen  Geschwulstelementen 
documentiren. 

Urethritis  gonorrhoica.  Besonders  auf  die  chronische  Form  kann  die 
Aufmerksamkeit  durch  die  sogenannten  T  r  i  p  p  e  r  f  ä  d  e  n,  Schleimfäden,  welche 
im  Harn  schwimmen,  sowie  durch  liyalin  entartete  Epithelien  im  Bodensatz 
gelenkt  werden.  Die  Diagnose  durch  Nachweis  der  Gonococcen  wird  man  wohl 
am  besten  im  Harnröhren-Secret  direct  zu  stellen  suchen. 

3.  Krankheiten  der  Circulations-  und  Respirationsorgane. 

Die  wesentlichste  Form  der  Harnveränderung,  welche  bei  den  primären 
Herzkrankheiten  (Klappenfehlern,  Myocarditis,  Herzmuskeldilatation,  Peri- 
carditis)  sowohl,  als  auch  bei  den  secundären  Herzmuskel  Störungen, 
welche  Krankheiten  der  Lungen  begleiten,  in  Folge  von  Schwäche  der  Herz- 
thätigkeit  auftritt,  wurde  als  „Stauungsharn"  bei  der  Stauungsniere  bereits 
erwähnt.  Dass  man  neben  der  concentrirten  Beschaffenheit  und  der  Albumi- 
nurie auch  häufig  Cylinder  und  Nierenelemente  findet,  hat  wohl  darin  seinen 
Grund,  dass  Complicationen  mit  Nephritis  häufig  und  Uebergänge  zu  derselben 
in  allen  Graden  möglich  sind.  Die  speciell  bei  der  Endocarditis,  acuten  wie 
chronischen,  einfachen  und  septischen  nicht  selten  vorkommenden  hämorrha- 
gischen Infarcte  der  Niere  geben  zum  Auftreten  von  Blut  im  Harn  Veran- 
lassung. 

Bei  den  Bespirationskrankheiten  kommt  ausser  der  Stauung  als  wei- 
teres Moment  für  den  Harn  der  Sauerstoffmangel,  die  Dyspnoe,  in  Betracht. 


HARN.  809 

Dieselbe  bedingt  mit  stärkerem  Eiweisszerfall  eine  Steigerung  der  Stickstoff-, 
Harnsäure-  und  Phosphorsäureausfuhr  mit  dem  Harn, 

Fibrinöse  Fneumonie.  Die  Stickstoffausscheidung,  ebenso  die  Schwefel- 
säure und  meistens  die  Phosphorsäure,  sowie  das  Kalium  und  Ammoniak  ist 
auf  der  Höhe  der  Krankheit  vermehrt,  der  Wassergehalt,  bei  reichlichem 
Uratsediment,  die  Chlorausfuhr  sowie  das  Natrium  vermindert.  Nach  der  Krise 
verhalten  sich  die  Stoffe  umgekehrt,  nur  dass  der  Stickstoff  noch  einige  Zeit  hoch 
bleibt.  Albuminurie  ist  während  der  Acme  häufig  und  beruht  zuweilen  auf 
ausgesprochener,  wahrscheinlich  aber  auch  sonst  oft  auf  leichter  Entzündung 
des  Nierengewebes.  Peptonurie  ist  häufig. 

Exsudative  Pleuritis.  Während  der  Entwickelung  des  Exsudats  ist 
die  Harnmenge  und  die  Kochsalzzahl  vermindert,  umgekehrt  nach  der  Ent- 
leerung oder  bei  rascher  Kesorption  des  Ergusses.  Bei  Empyemen  hat  man 
Pepton,  bei  jauchigen  Empyemen  (wie  auch  bei  putriden  Processen  in  den 
Bronchien)  Phenol  und  Indican  nachgewiesen. 

Lungentuberculose.  Bei  Phthisikern  zeigt  der  Urin  ein  sehr  ver- 
schiedenes Verhalten,  wie  es  bei  der  ausserordentlich  verschiedenen  Schwere 
des  Verlaufs  und  den  concurrirenden  zahlreichen  Einflüssen  (Fieber,  Schweiss, 
Diarrhoeen,  Cachexie  etc.)  nicht  zu  verwundern  ist.  Es  ist  daher  unmöglich, 
ein  Harnbild  bei  der  Phthise  zu  entwerfen. 

4.  Krankheiten  des  Verdaiumgsapparates. 

Bestimmte  und  charakteristische  Formen  der  Harnausscheidung  liefern 
die  Krankheiten  des  Magen-Darmcanals  nicht,  obwohl  sie  naturgemäss  die- 
selbe beeinflussen  müssen.  Mehr  ist  dies  bei  den  Krankheiten  der  Leber  der 
Fall.    Erstere  sollen  daher  nur  im  Allgemeinen  besprochen  werden. 

Magen-  und  Darmkrankheiten.  Die  Abhängigkeitsbeziehungen  der  sau- 
ren Reaction  des  Urins  zu  dem  sauren  Magensaft  zeigen  sich  in  der  Ab- 
nahme der  sauren  Harnbeschaffenheit,  beziehungsweise  in  dem  Alkalisch- 
werden desselben  nach  häufigem  Erbrechen,  wiederholter  Ausspülung  des 
Magens,  sowie  Alkalisirung  des  Inhalts.  Die  Harnmenge  nimmt  ab  mit  der 
Abnahme  der  Resorption  in  dem  Darmcanal,  wie  z.  B.  bei  Magener  Weite- 
rung, bei  Durchfällen  und  Verschliessungen  des  Darms.  Die  man- 
gelnde Aufsaugungsthätigkeit  führt  zur  Inanition  und  deshalb  einer  Abnahme 
der  absoluten  Harnstoff'menge,  beziehungsweise  der  andern  Producte  der  Ei- 
weisszersetzung  (Schwefelsäure  etc.).  Geschwür  ige  Processe  im  Magen  und 
Darm  (wie  z.  B.  ulcerirende  Magencarcinome)  führen  zur  Peptonurie.  Erhöhte 
Eiweissfäulnis  im  Darm  (bei  Koprostasen  und  Darmverschluss) 
gibt  Veranlassung  zu  vermehrter  Indicanausscheidung. 

Peritonitis.  Bei  eitrigen,  resp.  jauchigen  Bauchfellentzündungen 
besteht  fast  regelmässig  Indicanurie.  Auch  der  Phenolgehalt  wurde  vermehrt 
gefunden.  Wenn  Darmgase  in  den  Peritonealraum  gelangen,  kann  auch 
Schwefelwasserstoff  mit  dem  Harn  entleert  werden. 

Die  Krankheiten  der  Leber  haben  wegen  der  Bedeutung  dieser 
mächtigen  Drüse  für  den  Stoffwechsel  sowohl,  als  besonders  wegen  des  Ueber- 
tritts  ihres  Secrets  wesentliche  Veränderungen  in  der  Harnausscheidung  im 
Gefolge. 

Lehercirrhose.  Die  Wasserabscheidung  ist,  zumal  bei  Ascites  und  der 
durch  den  Druck  desselben  auf  die  Cava  bedingten  verminderten  Strömungs- 
geschwindigkeit in  den  Nierengefässen  verringert.  Der  spärliche  Harn  ist 
röthlichbraun  und  enthält  zuweilen  wenig  Gallenfarbstoff',  immer  aber  reich- 
lich Urobilin.  Die  Harnstoffmenge  ist  kleiner,  das  Ammoniak  einmal  ver- 
mehrt gefunden  worden.  Albuminurie,  wahrscheinlich  wegen  der  Com- 
plication  mit  Nephritis,    sowie  Glykosurie  kommen  zuweilen  vor,   letztere 


810  HARN. 

ist  auch  durch  Darreichung  von  Traubenzucker  öfters  absichtlich  hervorgerufen 
worden. 

Leberabscess  und  eitrige  Pylephlebitis.  Hier  wird  in  Folge  des 
begleitenden  Fiebers  Fieberharn  oder  in  Folge  eines  concomittirenden  Icte- 
rus icterischer  Harn  beobachtet.  Bricht  zufällig  ein  Abscess  in  das  Nieren- 
becken durch,  so  erscheinen  Eiter  und  Gewebsfetzen  im  Urin. 

Leberkrebs.  Charakteristische  Erscheinungen  zeigt  der  Urin  nicht. 
Gallenfarbstoff  ist,  bei  Verschluss  der  Gallenausführungsgänge  durch  den 
Tumor,  nicht  selten,  Albuminurie  dagegen  nicht  häufig.  Bei  Carcinoma  me 
lanodes  findet  sich  Melanurie. 

Leber echinococcus.     Ohne  charakteristische  Veränderungen. 

Acute  gelbe  Leber atrophie.  Die  prägnanten  Erscheinungen  sind : 
Meist  Oligurie  (Polyurie  ganz  ausnahmsweise),  Cholurie  (nur  selten  fehlend) 
und  Gallensäuren,  Abnahme  bis  Verschwinden  des  Harnstoffs,  an  dessen  Stelle 
Leucin  und  Tyrosin  auftreten,  Verminderung  der  Chloride,  der  Phosphorsäure, 
Auftreten  von  Fleischmilchsäure,  Oxymandelsäure  etc.  Das  Zugrundegehen 
der  Leberzellen  äussert  sich  in  Verringerung  bis  vollständigem  Aufhören  der 
Harnstoftbildung  und  Auftreten  der  intermediären  Spaltungsproducte,  Leucin 
und  Tyrosin  im.  Harn. 

Icterus  durch  Verschluss  der  Gallemvege.  Völliger,  vorübergehender 
oder  dauernder  Verschluss  des  Ductus  choledochus  oder  hepaticus  (Icterus 
catarrhalis,  Gallensteine,  Tumoren  etc.)  führt  zu  Cholurie,  gewöhnlich  als 
Bilirubinurie.  Die  Gallenbestandtheile,  wie  es  scheint,  vor  allem  die  Gallen- 
säuren können  die  Nierenepithelien  krank  machen.  Es  treten  daher  Cylinder 
(auch  ausser  den  Gallenfarbstoffcylindern),  verfettete  Epithelien  und  Eiweiss 
im  Urin  auf. 

Tancreaskrankheiten.  Die  bei  Erkrankungen  der  Bauchspeicheldrüse 
(Atrophie,  Verfettung,  Cysten)  in  ungefähr  der  Hälfte  der  Fälle  be- 
obachtete Glykosurie,  hat  durch  den  experimentell  vermittelst  totaler  Pan- 
creasexstirpation  erzeugten  Diabetes  neue  pathogenetische  Bedeutung  ge- 
wonnen. Complication  mit  icterischer  Beschaffenheit  des  Harns  ist  nach  der 
anatomischen  Lage  der  Ausführungsgänge  von  Pancreas  und  Leber  begreif- 
licherweise nicht  selten. 

Milzkrankheiten.  Von  der  Leukämie  (s.  diese)  abgesehen,  verändern 
die  Krankheiten  der  Milz  den  Urin  nicht  in  besonderer  Weise.  Es  seien  nur 
die  seltenen  Fälle  von  Melanämie  erwähnt,  welche  zu  Melanurie  (Schollen 
im  Harn)  und  zu  Verstopfung  der  Nierengefässe  mit  Pigmentschollen  und 
nachfolgender  Albuminurie  und  Hämaturie  geführt  haben. 

5.  Krankheiten  des  Nervensystems. 

Durch  Erkrankungen  des  Nervensystems  können  bestimmte  Urinverände- 
rungen, wie  Glykosurie  mit  Polyurie,  einfache  Polyurie,  Albuminurie,  hervor- 
gerufen werden.  Ueber  das  Verhalten  der  Phosphorsäure  wegen  der  Lecithin- 
Zersetzung  im  Gehirn  ist  viel  gestritten  worden.  Besonders  kommen  die 
Hirnkrankheiten  für  das  Urinbild  in  Betracht. 

Gehirnerkrankungen  am  vierten  Ventrikel.  Glykosurie,  gewöhnlich  mit 
Polyurie  (cerebraler  Diabetes)  wurde  beobachtet  bei  Tumoren,  Hämor- 
rhagien,  Atrophien  und  Erweichungen  in  der  Medulla  oblongata  oder  auch 
im  Kleinhirn.  Bei  der  gleichen  Art  und  dem  gleichen  Sitz  der  Erkrankungen 
kam  es  aber  auch   zu  Polyurie  allein  (cerebraler  Diabetes  insipidus). 

Rirnhämorrhagie.  Auch  Blutungen  an  anderen  Stellen  des  Gehirns 
als  die  Medulla  oder  deren  Nähe  können  zu  Glykosurie  und  Polyurie,  sowie 
auch  zu  Albuminurie  führen  und  thun  es  unmittelbar  nach  dem  Anfall  in  vor- 
übergehender Weise  ziemlich  häufig. 


HARN.  811 

Meningitis.  Die  Resultate  der  Harnuntersuchung  bei  den  verschiedenen 
Formen  der  Meningitis  sind  nicht  übereinstimmend.  Polyurie,  Glykosurie  und 
Albuminurie  sind  öfter,  besonders  bei  der  epidemischen  Cerebrospinal- 
meningitis  gesehen  worden.  In  einem  Falle  war  die  an  organische  Sub- 
stanz gebundene  Phosphorsäure  erhöht, 

Geisteskrankheiten.  Ein  prägnantes  Harnbild  hat  sich  bei  keiner  psy- 
chischen Erkrankung  ergeben.  Auch  die  Untersuchung  der  relativen  Plios- 
phorsäureausscheidung,  interessant  wegen  der  Frage  der  Lecithin-Zersetzung 
im  Gehirn,  hat  zu  keinem  übereinstimmenden  Ergebnis  geführt. 

RückenmarkskrankJieiten.  Der  Harn  bietet  nichts  Charakteristisches,  von 
den  häufigen  Complicationen  mit  Cystitis  und  den  für  diese  pathogenetischen 
Veränderung  abgesehen. 

Krampfzustände.  Albuminurie  ist  ein  häufiges,  doch  nicht  constantes 
auf  den  Anfall  folgendes  Symptom  der  Epilepsie.  Zucker  kommt  vor,  aber 
seltener.  Chorea  führt  nicht,  wie  man  erwartet  hatte,  zur  Erhöhung  der 
Stickstoffausfuhr  mit  dem  Harn  und  nur  zuweilen  zu  Albuminurie.  Selbst  die 
enormen  Muskelkrämpfe  eines  an  Quecksilberintoxication  Leidenden 
bewirkten  keine  Erhöhung  des  Harnstoffs  und  Abnahme  der  absoluten,  wie 
relativen  Phosphorsäure.  Auch  beim  Tetanus  konnte  keine  Erhöhung  der 
Stickstoffausfuhr  bewiesen  werden.  Albuminurie  und  Melliturie  traten  ver- 
einzelt auf. 

6.  Krankheiten  der  Haut. 

Trotz  der  vielfachen  physiologischen  Wechselbeziehungen  zwischen  Hau; 
und  Nieren  lehrt  uns  die  Dermatopathologie  keine  eigentlichen  charakteristi- 
schen Harnbilder.  Es  sollen  daher  nur  einzelne  Beobachtungen  Erwähnung 
finden:  Die  Abnahme  des  Harnstoffs  bei  Lepra  und  in  schweren  Fällen  von 
Pemphigus;  bei  letzterem  auch  Abnahme  der  Chloride,  sowie  Hinzutreten 
von  Eiweiss  und  Blut;  Albuminurie  bei  vielen  Hautkrankheiten  (Sc lerem, 
Urticaria  etc.);  Glykosurie,  auch  mit  Polyurie  bei  Sclerem. 

7.  Infectionskrankheiten. 

Für  die  Mehrzahl  der  Infectionskrankheiten,  die  fieberhaften,  ist  diejenige 
Veränderung  des  Harns  am  meisten  maassgebend,  welche  durch  den  Fieber- 
process  bedingt  ist. 

Der  Fi  eher  harn  ist  zunächst  in  der  grössten  Mehrzahl  der  Fälle  in 
seiner  Menge  vermindert,  was  von  der  reichlicheren  Wasserabgabe  durch  Haut 
und  Lungen  in  erster  Linie,  dann  auch  von  der  verringerten  Wasserfiltration 
in  Folge  des  Sinkens  von  Blutdruck  und  Blutgeschwindigkeit  herrührt.  Dem- 
entsprechend ist  auch  seine  Farbe  dunkelgelb  bis  dunkelroth,  was  aber  nicht 
allein  von  der  stärkeren  Concentration,  sondern  auch  von  der  stärkeren  Bildung 
des  Urobilins  aus  zersetztem  Blutfarbstoff  abhängen  mag.  Die  Ausscheidung 
von  Uraten  (rothes  Sediment)  ist  hauptsächlich  Folge  der  Wasserarmut. 
Die  Reaction  ist  ziemlich  stark  sauer.  Die  Dichte  ist  erhöht,  was  in  der 
Hauptsache  durch  die  Erhöhung  des  Harnstoffs  bedingt  ist.  Die  vermehrte 
Harnstoff-,  beziehungsweise  Stickstoff- Ausscheidung  im  Fieber  verdankt  ihre 
Entstehung  dem  stärkeren  Zerfall  des  Eiweisses  in  den  das 
Fieber  bedingenden  Krankheitsprocessen.  Harnsäure,  Kreatinin 
und  Ammoniak  sind  auch  erhöht  gefunden  worden.  Die  Phosphorsäure  ist  im 
Verhältnis  zum  Stickstoff  im  Fieber  vermindert,  dagegen  in  der  Reconvales- 
cenz  gesteigert,  während  sich  die  Schwefelsäure  eher  umgekehrt  verhält.  Das 
Chlor  ist  im  Fieber  vermindert.  Kalium  wird  während  des  Fiebers,  Natrium 
in  der  Reconvalescenz  mehr  ausgeschieden. 

Eine  sehr  häufige  Erscheinung  ist  die  febrile  Albuminurie,  das  Auf- 
treten von  geringen  Eiweissmengen  bei  hohem  und  anhaltendem  Fieber.    Der 


812  HARN. 

Hauptsache  nach  ist  diese  nicht  von  dem  Verhalten  des  Blutdrucks,  sondern 
von  dem  schädlichen  Einfluss  der  bei  den  Infectionskrankheiten  im  Blute 
kreisenden  Organismen  und  Stoffe  auf  die  Nierenepithelien  abhängig.  In  der 
That  findet  man  auch  häufig  bei  diesen  leichten  Graden  Cylinder  und  Epi- 
thelien  im  Sediment.  Ueberdies  ist  das  Auftreten  echter  acuter  Nephritis 
bei  zahlreichen  Infectionskrankheiten  hinlänglich  bekannt.  Scharlach,  Ery- 
sipelas,  Pocken,  Diphtherie,  Typhus,  Cholera  compliciren  sich  be- 
sonders häufig  damit.  Während  das  Auftreten  derselben  bei  den  meisten  In- 
fectionskrankheiten, ebenso  wie  das  der  sogenannten  febrilen  Albuminurie  mit 
der  Höhe  des  Verlaufs  und  des  Fiebers  zusammenfällt;  ist  die  eigentliche 
Nephritis  bei  Scharlach  eine  Nachkrankheit.  Bei  Scharlach  geht  die  Nephri- 
tis fast  ausnahmslos  mit  Hämaturie  (acute  hämorrhagische  Nephritis),  während 
bei  den  andern  Infectionskrankheiten  der  Blutgehalt  wechselnd  ist,  bei  Diph- 
therie nach  meinen  Beobachtungen  sogar  meist  zu  fehlen  scheint.  Hämoglo- 
binurie ist  in  schweren  Fällen  von  Scharlach,  Diphtherie  und  Typhus  constatirt 
worden.    Zucker  ist  verhältnismässig  selten  bei   den  Infectionskrankheiten. 

Dagegen  gibt  es  eine  febrile  Acetonuriebei  den  acuten,  infectiösen  Pro- 
cessen. In  schweren  Fällen  und  bei  Kindern  trifft  man  auch  zuweilen  Diace- 
turie  (Eisenchloridreaction).  Sehr  häufig  constatirt  man  auch  in  febrilen  In- 
fectionen  die  EHELicn'sChe  Pteaction  mit  Diazobenzolsulfosäure,  besonders  bei 
hohem  und  anhaltendem  Fieber.  Wenn  auch  richtig  ist,  dass  dieselbe  in 
manchen  Krankheiten,  so  bei  Typhus,  Cerebrospinalmeningitis  häufiger  und  aus- 
gesprochener ist  als  in  anderen,  so  kommt  der  Diazoreaction  doch  eine  erheb- 
liche Bedeutung  in  der  Differential-Diagnose  fieberhafter  Krankheiten  nicht  zu. 

8.  Blut-  und  Stoffwechselkrankheiten. 

Begreiflicherweise  finden  sich  in  dieser  Krankheitsgruppe  einige  besonders 
charakteristische  Anomalien  des  die  Stoffwechselproducte  ausführenden  Secrets. 
Doch  bestehen  auch  noch  vielfache,  wesentliche  Lücken  unserer  Kenntnisse 
über  die  Harnabscheidung. 

Anämie.  Bei  leichterer  Anämie  ist  der  Harn  blass,  reichlich  und 
enthält  normale  oder  geringere  Harnstoffmengen.  In  den  schweren  Formen, 
der  perniciösen  Anämie,  ist  der  Harn  gewöhnlich  spärlich,  dunkel  und  reich 
an  Stickstoff,  jedenfalls  mehr  als  der  Zufuhr  entspricht.  Albuminurie  ist 
ziemlich  häufig,  doch  gering  und  in  ihrem  Auftreten  wechselnd,  z.  B.  bei 
Körperanstrengung  erscheinend. 

Leukämie.  Constant  ist  die  Harnsäure  erhöht  und  zwar  absolut,  so  wie 
im  Verhältnis  zum  Harnstoff,  was  sich  aus  der  oft  reichlichen  Abscheidung 
von  Krystallen  reiner  Harnsäure  vermuthen  lässt.  Der  Harnstoff",  bezw.  Ge- 
sammtstickstoff  ist  in  schweren  Fällen  ebenfalls  zweifellos  vermehrt,  des- 
gleichen Phosphor-  und  Schwefelsäure.  Eiweiss  und  zuweilen  Blut  kommt 
vor,  ebenso  reichlich  Mucin.  Von  besonderen  Stoffen  ist  Milchsäure  und 
Hypoxanthin  zu  nennen. 

Hämorrhagische  Diathesen.  Von  charakteristischen Harnbildernbei Hämo- 
philie, Morbus  maculosus,  Scorbut  etc.  ist  noch  nicht  die  Piede.  In 
der  WERLHOF'schen  Krankheit  ist  Hämaturie  ein  häufiges,  manchmal  sogar  ein 
Hauptsymptom.  Für  den  Scorbut,  für  den  die  Kali- Ausscheidung  von  pathogene- 
tischem Interesse  ist,  ist  diese  gewöhnlich  vermindert  gefunden  worden.  In 
schweren  Fällen  wurde  Peptonurie  constatirt. 

Gicht.  Bei  der  Arthritis  urica  interessirt,  wie  schon  der  Beiname 
andeutet,  in  erster  Linie  die  Harnsäure.  In  der  anfallsfreien  Zeit  soll  die 
„Ausscheidbarkeit"  erleichtert  sein,  es  soll  aber  weniger,  jedoch  diese  als 
freie  Harnsäure,  in  den  Anfällen  mehr  und  zwar  als  harnsaure  Salze  aus- 
geschieden werden.  Am  meisten  findet  im  Anfall  eine  Aufsaugung  abgelagerter 
Mengen  von  Harnsäure  statt.  Die  Phosphorsäure  wurde  vermindert  gefunden. 


HAKN  813 

Albuminurie  ist  häufig,  da  chronische  Nierenentzündung  eine  häufige  Folge  der 
Gicht  ist. 

Gelenkrheumatismus.  Typische  Harnveränderungen  bei  acutem  und 
chronischem  Gelenkrheumatismus  fehlen.  Bei  Ersteren  beruht  das  reich- 
liche ziegelmehlfarbene  Uratsediment  auf  der  Concentration  des  Harns  (Fieber, 
Schweisse)  und  der  stark  sauren  Reaction. 

Rhachitis  und  Osteomalacie.  Die  nach  dem  Wesen  dieser  Krankheiten 
erwarteten  Verhältnisse  der  Kalk-  und  Magnesia- Ausscheidung  haben  sich  bei 
wiederholten  Untersuchungen  nicht  eindeutig  herausgestellt.  Wahrscheinlich 
ist  es  bei  beiden  Krankheiten  so,  dass  je  nach  dem  Fortschreiten  oder  Sistiren 
des  Processes,  die  Ausfuhr  der  Erden  im  Harn  steigt  oder  sinkt.  Eine  Zunahme 
der  Milchsäure  wurde  gefunden,  ist  aber  noch  nicht  sicher.  Bei  Osteomalacie 
tritt  Albumosurie  auf. 

Diabetes  mellitus.  Der  Harn  des  Diabetikers  ist  blass,  klar,  sauer,  von 
hoher  Dichte  (1030 — 1050),  dabei  meistens  sehr  beträchtlich  vermehrt.  Die 
Vermehrung  des  Harnwassers,  welche  bis  15  Liter  und  mehr  erreichen  kann, 
ist  aber  durchaus  nicht  constant.  Es  kommen  an  und  für  sich  und  unter  dem 
Einfluss  von  dazutretenden  Krankheiten  normale  oder  subnormale  Tagesmengen 
vor.  Die  specifische  Erscheinung  ist  die  Glykosurie  (bis  300^  und  mehr  im 
Tag),  welche  durch  zucker-  und  stärkehaltige  Nahrung  vergrössert  wird,  nur 
bei  reiner  Fleischnahrung,  gegen  Ende  des  Lebens  und  bei  intercurrenten  Er- 
krankungen zeitweise  fehlen  kann.  Stärkere  Acetonurie  und  Diaceturie  (s.  diese) 
sind  nicht  selten  und  häufig  auf  die  Gefahr  des  diabetischen  Comas  aufmerksam 
machende  Erscheinungen;  desgleichen  vor  allen  Dingen  auch  die  Oxybuttersäure 
(s.  Lipacidurie).  Sehr  häufige  Complication  besonders  der  älteren  Fälle,  ist 
die  Albuminurie,  gewöhnlich  zugleich  mit  Cylindern  und  Epithelien  im  Sedi- 
ment. Die  Harnstoff-,  beziehungsweise  Stickstoff-Ausscheidung  ist  beträchtlich 
gesteigert  (bis  160  g  und  mehr),  hauptsächlich  in  Folge  der  gewöhnlich  stark 
vergrösserten  Ei  weiss  zufuhr,  dann  aber  auch  wegen  des  zunehmenden  Eiweiss- 
zerfalls.  Phosphorsäure  und  Schwefelsäure  sind  gewöhnlich  ebenfalls  ver- 
melu't,  Harnsäure  vermindert. 

Diabetes  insipidus.  Auch  in  dieser  Krankheit  ist  der  Harn  blass,  oft 
wasserklar,  dabei  aber  nur  schwach  sauer  und  von  sehr  niedrigem  specifischen 
Gewicht  und  von  sehr  grosser  Menge  (bis  20  Liter).  Zucker  fehlt,  an  dessen 
Stelle  fand  man  in  einzelnen  Fällen  Inosit.  Albuminurie  ist  selten.  Die  normalen 
Harnbestandtheile  finden  sich  in  etwa  normalen,  zuweilen  Harnstofi",  Phosphor- 
und  Schwefelsäure  in  etwas  vergrösserten  Tagesmengen.  penzoldt. 


ürtheile  der  Presse 

über  die 

Bibliotliek  der  gesammten  medicinischen  Wissenschaften. 


Laut  den  übereinstimmenden  Aeusserung'en  der  inländischen  und  internationalen  Fachpresse 
vereint  die  Bibliothek  der  gesammten  medicinischen  Wissenschaften  alle  Vorzüge,  die  an 
eine  medicinische  Bibliotliek  für  den  Praktiker  gestellt  werden  können.  80  sprechen 
folgende  Stimmen: 

Für  die  Gediegenheit  des  Werkes: 

„Berliner  klinische  Wochenschrift"  1894,  Nr.  5:     „Die  einzelnen  Artikel  lehnen  sich  nach 

Anordnung    und    Umfang    der   Darstellungsweise  grösserer  Lehrbücher  an Man  darf 

erwarten,  dass  die  Bibliothek  weitgehenden  Ansprüchen  genügen  wird." 

„Wiener  medicinische  AVochenschrift"  1893,  Nr.  24:  „Ohne  den  Ballast  von  Literaturan- 
gaben, ist  die  Darstellung  der  einzelnen  Themen  eine  vollkommen  klare  und  über- 
sichtliche. Es  sind  nicht  Monographien,  wie  sie  in  ähnlichen,  vielbändigen  Sammel- 
werken zusammengestellt  sind,  sondern  theils  belehrende  Vorträge,  theils  präcise  und 
doch  zugleich  erschöpfende  Referate  über  die  einzelnen  Gebiete  der  praktischen 
Medicin,  gegliedert  nach  alphabetisch  geordneten  Stichworten,  wodurch  das  als  Lehr- 
buch geplante  Werk  gleichzeitig  auch  ein  Nachschlagebuch  für  den  Prak- 
tik e  r  b  i  1  d  e  t." 

>,The  Lancet"  1893,  Nr.  3643  :  „Das  vollständige  Werk  wird  zweifellos  nach  seiner  Vollendung 
eine  bewunderungswürdige  medicinische  Encyklopädie  sein." 

„Prager  medicinische  Wochenschrift"  1893,  Nr.  39:  „Die  vorzüglichen  Hilfskräfte, 
welche  als  Mitarbeiter  bei  diesem  Unternehmen  mitwirken,  Hessen  von  vornherein  etwas 
Gediegenes  erwarten,  und  die  bisher  erschienenen  Lieferungen  erfüllen  vollkommen 
diese  Erwartung.  •* 

„Medical  Press"  1893,  Nr.  20:  „Das  Werk  verspricht  ein  überaus  verdienstliches 
Unternehmen  zu  werden.  Die  Mitarbeiter-Liste  weist  Namen  von  europäischem  Euf 
auf,    was    für  die  Vollkommenheit  und  Gediegenheit  des  Werkes  viel  verspricht." 

Für  die  j>ra&iisc7ie  Verivendbarkeif : 

„Centralblatt  für  die  gesammte  Therapie"  1893,  Heft  10:  „Die  Eintheilung  des  ganzen 
Werkes  ist  eine  derartige,  dass  überall  das  bewusste  Streben  hervortritt,  eine  für  die  Be- 
dürfnisse des  Praktikers  berechnete  medicinische  Bibliothek  zu  liefern." 

„Aerztliche  Rundschau"  (München),  3.  März  1894:  „Aus  der  Praxis,  für  die  Praxis. . . 
Mit  Recht  verdient  dies  vielversprechende  Epitheton  die  Drasche'sche  Bibliothek." 

„Medicinische  Neuigkeiten":  „Alle  Themen  thunlichst  objectiv  bearbeitet  und  hauptsächlich 
auf  die  Bedürfnisse  des  Praktikers  Rücksicht  genommen." 

„Wiener  klinische  Wochenschrift",  März  1893:  „Ein  den  Bedürfnissen  der  prak- 
tischen Aerzte  gewidmetes  Lehr-  und  Nachschlagebuch..." 

Für  die  vorzügliche  und  exacte  Ausarbeitung  der  einzelnen  Themen: 

„Allgemeine  medicinische  Central-Zeitung'- (Berlin) :  „Eine  grosse  Reihe  von  Specialai-tikeln 
aus  den  Federn  bedeutender  Autoritäten." 

„Wiener   klinische    Wochenschrift"    1894,    Nr.    13,    spricht   von  der    „hervorragend 

wissenschaftlichen  Bedeutung  der  Monographien  des  grossen  Sammelwerkes. " 

„Revue  internationale  medicale":  „Ein  Handbuch,  das  viel  kürzer  ist,  als  unsere  Encyklo- 
pädien,  aber  viel  ausführlicher  und  wissenschaftlicher  als  die  Mehrzahl  unserer  sogenannten 
Wörterbücher....   Die  Artikel  sind  kurz,  präcis  und  vor  allem  praktisch." 


„Excerpta  medica"  ]  893,  Nr.  1 0 :  „Trotz  der  gedrängten  Kürze  jedes  Thema  in  allen 
seinen  Theilen  erschöpft,  stets  der  moderne  Standpunkt  gewahrt,  die  neuesten  Er- 
fahrungen und  Entdeckungen  benützt." 

„Reichs-Medicinal-Anzeiger"  1894,  Nr.  2:  „..  .Besondere  Anerkennung  verdient  es,  dass  in 
allen  Artikeln  der  neueste  Standpunkt  der  Wissenschaften  vertreten  ist. 
Sogar  die  Entdeckungen  der  allerjüngsten  Zeit  sind  gebührend  berücksichtigt." 

Für  die  vollendete  Form  und  Schreibart  der  einzelnen  Artikel: 

„American  Medico-Siirgical  Bulletin"  1894,  Nr.  1:  „...  The  articles  are  short,  com- 
pact,   well   written,  and  have  the  stamp  ol  autority." 

„Internationale    klinische    Rundschau"    11.    Februar    1894:     „ anziehend,  frei  vom 

Doctrinärstil  der  üblich  en  Lehrbücher,  wir  möchten  sagen  geradezu  populär. 

Für  die  besondere  Berücl&sichtigung  der  Tlierapie: 

„Oesterreichische  ärztliche  Vereinszeitung",  15.  März  1894:  „Der  Tendenz  des  Werkes 
entsprechend,  hauptsächlich  den  praktischen  Bedürfnissen  des  Arztes  in  Stadt  und  Land 
Genüge  zu  leisten,    ist  die  Therapie  in  den  einzelnen  Artikeln  ausführlich  behandelt," 

„Internationale  klinische  Rundschau"  11.  Februar  1891:  „Ein  Vorzug,  der  das  vorliegende 
Sammelwerk  von  allen  ähnlichen  ganz  besonders  auszeichnet,  ist  die  detailliite  Schilderung 
der  prakt  ischen   Therapie..." 

Für  die  ausgezeichnete  Art  der  Ausstattung  und  des  Druckes^ 

„Centralblatt  für  Therapie"  1893,  Heft  10:  „Die  Ausstattung  des  Werkes  eine  vollkommen 
würdige...  Auch  der  an  richtiger  Stelle  angebrachte  Wechsel  des  Druckes  wirkt  auf 
den  Leser  sehr  angenehm  und  verhilft  wesentlich  zu  seiner  raschen  Orientirung.  ..." 

„Wiener    medic.    Blätter"     J89i,    Nr.    14:     „Ein  Fundamentalwerk    medicinischen 

Wissens grossarlig  in  seiner  Anlage,  mit  der  Tendenz  den  Interessen  des  Praktikers 

zu  dienen,  —  last  not  least  —  in  vollendeter  Ausstattung  mit  theils  in  den  Text  gedruckten, 
theils  als  Farbentafeln  beigefügten  Illustrationen,  die  mit  Eecht  das  höchste 
Maass  der  Kritik  bestehen  können. 


PROSPECT. 

Die  „Bibliothek  der  gesammten  medicinischen  Wissenschaften",  herausgegeben  von  Hofratli  Prof. 
Dräsche  unter  der  Mitwirkung  hervorragender  Fachmänner  auf  allen  Specialgebieten,  enthält  ihr  Programm 
bereits  im  Titel.  Das  Werk  soll  im  vollsten  Sinne  des  "Wortes  eine  für  die  Bedürfnisse  der  Praxis  berechnete 
medicinischc  Bibliothek  sein.  Sie  ist  in  erster  Linie  für  den  praktischen  Arzt,  in  Zureiter  Linie  für  den 
Specialarzt  berechnet.  Der  e  r  s  t  e  r  e  soll  über  alle  jene  Fragen,  die  im  Bereiche  seines  praktischen  Bedürfniss- 
kreises liegen,  in  kurzer,  bündiger  Form  Aufschluss  erhalten,  dem  zweiten  soll  die  Gelegenheit  geboten 
■werden,  sich  rasch  auf  allen  jenen  Gebieten  zu  orientiren,  die  nicht  gerade  in  der  Sphäre  seines  engbegrenzten 
Faches  liegen.  Das  ganze  Sammelwerk,  zwar  aus  Gründen  der  Uebersichtlichkeit  alphabetisch  angelegt,  wird 
nach  dem  vorliegenden  Plane  die  einzelnen  Specialfächer  der  gesammten  Medicin,  sofern  sie  sich 
überhaupt  trennen  lassen,  vollkommen    selbstständig  behandeln. 

Die  „Bibliothek  der  gesammten  medicinischen  Wissenschaften"  soll  nicht  nur  ein  Lehr-,  sondern 
auch  ein  Nachschlagebnch  für  Praktiker  sein,  es  ist  daher  die  lexikalische  Eintheilung  des  Stoffes  beibehalten 
worden.  Der  Arzt  bed.arf  jedoch  keineswegs  eines  Lexikons  wie  der  Laie,  der  in  demselben  nach  einem  ihm 
gänzlich  unbekannten  Begriffe  sucht,  er  wünscht  vielmehr  eine  kurze  präcise  Belehrung  über  eine 
Krankheit,  über  ein  Symptom,  einen  operativen  Eingriff,  einen  chemischen  oder  bak- 
teriologischen Vorgang.  Er  hat  das  Bestreben,  sich  zu  informiren  über  moderne  hygienische  Ein- 
richtungen, über  Apparate  und  Instrumente,  über  die  verschiedenen  Hilfsmittel  und  H i  1  f s - 
methoden  der  praktisch-medicinischen  Fächer  und  er  verlangt  endlich  eine  orientirende,  objective 
Darstellung  über  gewisse  Streitfragen  der  allgemeinen  Medicin. 

Aus  diesem  Grunde  sind  nur  solche  Stichwörter  gewählt,  deren  Thema  einem  thatsächlichen 
praktischen  Bedürfnisse  des  Arztes  entspricht.  Durch  die  eigenartige  Anordnung  des  ganzen  ungeheueren  Stoffes 
wird  das  Werk  eine  Keichhaltigkcit  aufweisen,  wie  kaum  ein  anderes  ähnliches.  Schwerlich  wird  der 
Suchende  etwas,  was  das  Gebiet  der  Heilkunde  berührt,  darin  vermissen. 


^^'^ 


COLUMBIA  UNIVERSITY  LIBRARIES 

This  book  is  due  on  the  date  indicated  below,  or  at  the   \-<r^ 
expiration  of  a  definite  period  after  the  date  of  borrowing, 
as  provided  by  the  rules  of  the  Library  or  by  special  ar- 
rangement  with  the  Librarian  in  charge. 


DATE  BORROWED      DATE  DUE 


DATE  BORROWED 


C2e<l  140)MI0O 


DATE  DUE 


:Ä^v 


•^#fe?^,K^X 


■m^^%:w^?'M^'^: 


g 


RC41 

Bibliothek  der  gs^aiuoiten 
medicini sehen  wiss^^ 


B47 
bd.  1 


V 


-  IT-     r  .'  V: 


r  ^^  ^i'^^-P  ^f^  <>?  '^7 ,  'n^^:-^  ^sj^'>^ir^^Ti!^g^a.  ^  y^^