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DER GESAMMTEN
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REDIGIRT VON
DR. JUL. WEISS üx\D A. BRESTOWSKI.
KARL PROCHASKA
WIEN K. UND K. HOF- & VERLAGSBUCHHANDLUNG LEIPZIG
I. KUMPFGA8SE 7. TESCHEN IN SCHLESIEN. königssteasse 9ii.
1894.
INTERNE MEDICIN
UND
KINDEBKEANKHEITEN
MIT BEITRÄGEN YON :
Prof. Dr. Babes, Bukarest. — Dr. W. Balser, Köppelsdorf i. Th. — Sanit.-
Rath Dr. Ph. Biedert, Hagenau i. E. — Dr. J. Boas, Berlin. — Dr. J. H,
Brick, Wien. — Ass. Dr. F. Buzzi, Berlin. — Ass. Dr. F. Chwostek, Wien.
— HoFR. C. Claus, Wien. — Prof. Dr. Paul Dittrich, Prag. — Hofr, Prof. Dr.
A. Dräsche, Wien. — Prof. Dr. Escherich, Graz. — Prim. Dr. v. Frisch, Wien.
— Prof. Dr. Gärtner, Wien. — Doc. Dr. Rich. Geigel, Würzburg. — Prim.
Dr. Higier, Warschau. — Doc. Dr. Hilbert, Königsberg. — Doc. Dr. v. Hütten-
brenner, Wien. — Prof. Dr. E. Jbndrassik, Budapest. — Dr. S. Jessner, Königs-
berg. — Prof. Kirn, Freiburg i. Br. — Prim. Doc Dr. Koväcs, Wien. — Prof.
Dr. f. Kraus, Wien. — Prof. Dr. Lesshaft, St. Petersburg. — Prim. Doc.
Dr. V. Limbeck, Wien. — Prof. Dr. Litten, Berlin. — Ass. Dr. Loos, Graz. —
Dr. S. Mintz, Warschau. — Doc. Dr. Naumann, Leipzig. — Prof. Dr. Neusser,
Wien. — Ass. Dr. Norb. Ortner, Wien. — Prim. Doc. Pal, Wien. — Dr.
C. Pariser, Berlin. — Prim. Dr. Pawinski, Warschau. — Prof. Dr. Pen-
zoLDT, Erlangen. — 0. A. Dr. Prior, Köln. — Dr. E. Redlich, Wien. — Dr.
C. Reuter, Ems. — Doc. Dr. Rosin, Berlin. — Prof. Dr. Schweninger, Ber-
lin. — Prof. Dr. Singer, Prag. — Doc. Dr. R. Sommer, Würzburg. — Dr.
A. Sperling, Berlin. — Prof. Steinbrüggb, Giessen. — Prof. Dr. S.
Stern, Wien. — Doc. Dr. R. Stern, Breslau. — Prof. Dr. S. Stricker, Wien.
— Prof. Dr. H. Vierordt, Tübingen. — Prof. Dr. v. Wagner, Wien. —
Ass. Dr. Jul. Weiss, Wien. — Dr. R. Wichmann, Braunschweig. — Prosect.
Dr. Zemann. — Dr. Th. Joh. Zerner, Wien. — Prof. Dr. Zuntz, Berlin.
L BAND.
MIT 4 TAFELN UND 92 FIGUREN L\I TEXT.
KARL PROCHASKA
WIEN K. UND K. HOF- & VERLAGSBUCHHANDLUNG LEIPZIG
L KUMP.C.ASSE 7. TESCHEN IN SCHLESIEN. kökxgsstbassb 9 ii.
1894.
U-l
K. und k. HofbuchcLrackerei Karl Prochaska in Teschen.
EINLEITUNG.
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkranklieiten.
Die ärztliche Gesellschaft hat sich innerhalb der letzten Jahrzehnte
in gewisse Kasten gegliedert, mit einem modernen Ausdrucke nennt man
dies: das Specialist enth um. Die Ursachen, welche zur Arbeitstheilung
geführt haben, liegen nicht nur in dem quantitativen Anwachsen
des Materials, sondern auch in den speci eilen Forderungen, welche
die einzelnen Disciplinen der Medicin von ihren Vertretern verlangen. Im
Gefolge der Entwicklung der mcdicinischen Wissenschaften haben sich Be-
ziehungen ausgebildet zwischen dem Arbeitsgebiete der Specialfächer einer-
seits und den intellectuellen Fähigkeiten, den manuellen (künstlerischen)
Fertigkeiten, ja sogar den Charatereigenthümlichkeiten ihrer Vertreter ander-
seits. Die Chirurgie stellt beispielsweise entschieden, soweit sie als Special-
disciplin betrieben wird, ganz andere Forderungen an ihre Jünger als die
innere Medicin. JeneAffinität, welche zwischen dem einzelnen Specialzweige und
den hiezu erforderlichen Fähigkeiten und Eigenschaften besteht, bedingt in
der That auch in vielen Fällen, dass sich der eine dieser, der andere jener
Specialdisciplin widmet.
Doch diese Wahlverwandtschaft zwischen dem Gegenstande und der
Person ist nicht etwas Künstliches, sie entspricht vielmehr einem allgemein
giltigen Naturgesetze. Welche Rolle die Affinität der Stoffe in der all-
gemeinen Pathologie, Histologie, Chemie und Pharmakodynamik zu spielen
berufen ist, und inwiefern die elective Wirkung bestimmter chemischer
Verbindungen auf einzelne Organe den Zielen und Zwecken unserer
modernen Therapie entspricht — wird Herr Professor Stricker in den
nachfolgenden Zeilen des Näheren erläutern.
Doch sicherlich ist die Berufswahl nicht immer Folge einer Election.
Die Entscheidung für ein bestimmtes Specialfach lässt sich nicht in allen
P'ällen auf jenen räthselhaften Zusammenhäng zwischen den Eigenschaften
der Person und den Forderungen des Gegenstandes zurückführen, häufig
sind es vielmehr die sogenannten äusseren Verhältnisse, welche diesbezüglich
bestimmend einwirken. So kann eine mächtige Zeit- und Streitfrage eine
ganze Pteihe von Mitgliedern eines Berufes einer bestimmten Thätigkeit
zuführen. Auf diese Art ist beispielsweise, um einen zutreffenden Ausdruck
zu wählen, die Zunft der Bacteriologen entstanden. Auf jenen Wissensge-
bieten, wo sich begünstigt durch die Forschungen eines auserwählten Genius,
eine lebhafte wissenschaftliche Bewegung concentrirt hat, da strömen die
Jünger hin, um dort ihr Arbeitsfeld und ihren Lebensberuf zu finden. UM
^stimulus, ibi affluxus. Auch hier besteht ein Analogen im Leben des
Organismus, wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen Stricker's
unzweifelhaft ergeben wird.
EINLEITUNG.
Election und specifische Heilwirkung.
Die Yorstellimg. dass gewisse Arzneikörper, wenn sie dem
mensclilichen Organismus einverleibt werden, zu einzelnen Organen besondere
Beziehungen eingehen, wurzelt in dem filauben des Volkes. So ist die ein-
gebürgerte ^leinung zu verstehen, dass die einzelnen Krankheiten durch
gewisse Kräuter geheilt werden. Thatsächlich hat der medifinische Chemiker
in moderner Zeit aus so manchem Kraut der Volksmedicin specifisch wirk-
same Verbindungen gewinnen können. So erscheint es weiter verständlich,
dass auch die geläuterten Anschauungen der Aerzte im Einvernehmen mit
der Vorstellung von der Localisation der Krankheiten innig mit der Annahme
zusammenhängen, dass l) e s t i m m t e Arzneikörper auf b e s t i m m t e Organe
specifisch wirken. Man erfuhr, dass die DiyiMis in gewissen Dosen
nur in der Wirksamkeit auf das Herz sich geltend macht, das Pilocarpin
die S chweissdrüseu specifisch beeintiusst. die Bromsalze die Hirn-
i'indenth ätigkeit herabstimmen. Cofe'in und Theolromin das Nierengebiet
zum Angriffspunkt specifischer Wirkung zu wählen pflegen.
Aehnliche Ideen wurden durch die physiologischen und chemischen
Untersuchungen über die Leistungen der Drüsen gefördert. Die eine
Drüse sondert Harn mit seinen besonderen Bestandtheilen ab, die andere
secernirt Speichel, eine dritte endlich fördert ]\Iilch zu Tage, während sie
doch alle ihre Säfte aus dem Blute beziehen. Zur Deutung dieser That-
sachen müssen wir den verschiedenen Drüsen gleichsam electiv.e Eigen-
schaften zuschreiben, so dass die eine vermöge ihrer vitalen Function
entweder direct Harnstoff dem Blute entzieht oder aus Bestandtheilen des
Blutes abspaltet, während die andere aus dem Blute in dieser oder jener
"Weise die Bestandtheile der Milch gewinnt.
Etwas greifbarer ist die Anschauung der specifischen Beziehungen
zwischen Bestandtheilen des Organismus einerseits und den zugeführten
chemischen Verbindungen anderseits durch die modernen Forschungen der
Mikroskopie geworden. Hierher gehört die Erfahrung, dass selbst die
abgestorbenen Gewebe den Farbstoffen gegenüber eine elective Wirkung
erkennen lassen. Die älteste einschlägige Thatsache Ijetrirtt die von Gerlach
eingeführte C armint in c tion der Gewebe. Denn bekanntlich sind es
nur gewisse Bestandtheile der Gewebe, die das Carmin aufnehmen, so
namentlich die Kerne und die Achseucylinder der markhaltigen Fasern.
Ehrliches Arl)eiten insbesondere erweiterten unsere Kenntnisse von
den electiven AVirkuiigen in_ bedeutendem Masse, da er fand, dass die Zellen
des Blutes dch gegen verschiedene Farbstoffe verschieden verhalten (Oxvphile
und basophile Granulationen in den Zellleibern). Freilich ändern sich die
Affinitäten der Gewebe zu den Farbstoffen je nach der Zeit und der Art
des AbSterbens, und so erklären sich die variablen Tinctionseffecte nach
der V e r s c h i e d e n e n Art der vorhergegangenen Conser\ärung und Härtung.
Aehnliche Erkenntnisse, aber doch einschneidender für die medici-
nische Praxis sind durch das nähere Studium der Arzneikörper und
insbesondere durch die experimentelle Untersuchung am Thierleibe gefördert
worden. Eines der merkwürdigsten Beispiele gibt uns das Atropin. Von
dem Effecte des Atropins auf die Iris, wie er in der o cu listischen
Praxis bekannt geworden ist. wollen wir hier nicht sprechen, zumal es
EINLEITUNG. 5
sich dabei, solange keine allgemein -toxischen Folgen zu erkennen sind,
scheinbar nur um die locale Wirkung einer localen Application handelt.
Anders liegt die Sache bei der Wirkung des Atropins auf die Hemmungs-
nerven des Herzens und einzelne D r ü s e n n e r v e n, denn hier handelt
es sich um ausgesprochen eclectische Wirkungen. Bei der p]intragung mini-
maler Dosen in den Kreislauf werden aus den functionell so verschiedenen
Fasern des zehnten Nervenpaares gerade nur die Hemmungsnerven des
Herzens gehähmt, ebenso wie aus den beiden functionell so verschiedenen
Faserarten, die in dem einen Nervenästchen zur Submaxillaris ziehen,,
nur die s e c r e 1 0 r i s c h e n Nerven ausgeschaltet werden.
Die specifischen Wirkungen der Gifte, welche die Pharmakodynamik
bis jetzt aufgedeckt hat, lassen sich durchwegs hierher beziehen. — Be-
gnügen wir uns mit dem auf diesem Gebiete eminentesten Beispiele, dem
Afro'pin. Hingegen s'^'heint es uns von grossem Interesse zu sein, noch eines
experimentellen Unt rsuchungsergebnisses Erwähnung zu thiin, welches auf
die eclec tischen Eigenschaften der Ner ve n sul» stanz ein be-
sonderes Licht wirft. Ehelich hat nämlich gefunden, dass man nach Ein-
spritzung von Methylenblau in den Kreislauf des lebenden Frosches
einzelne Nervenstämmchen gefärbt findet. Wenn man in einer ge-
wissen Phase der Injection ein Stückchen Gewebe aus der Zunge aus-
schneidet, sind die Nervenstämmchen blau gefärbt, während das übrige Ge-
webe wie etwa die Papille, in welche der Nervenast hineinführt, ungefärbt
geblieben ist. Hier ist also die elective Wirkung auch mikroskopisch sichtbar
geworden.
Von all' den hier geschilderten W^irkungen müssen wir aber jene Er-
scheinungen trennen, welche wir an einzelnen Geweben zur Beobachtung
bekommen, nachdem suspendirte, fein v e r t h e i 1 1 e, aber unlösljare K ö r p e r
in den Kreislauf eingebracht wurden. Denn auch solche fein vertheilte
Körnchen von Carmin, Anilinblau, Zinnober gelangen häufig nur in einzelne
Gewebe. Bei diesen Versuchsergebnissen handelt es sich jedoch nicht um
die elective Wirkung jener (Jrgane, in welchen die Körnchen angetroffen
wurden, sondern um eine durchaus verständliche mechanische Wirkung. Ubi
Stimulus, ibi affluxus : Dort, wo die Gewebe gereizt werden, tritt auch ein
reichlicher Exsudationstrom aus der Kreislaufbahn in die Gewebe ein, und
dieser Strom reisst auch die suspendirten Theilchen mit, gleich wie der
angeschwollene Giessbach grössere Steine forttreibt und sie dann an ent-
fernteren Stellen des Flussbettes wieder fallen lässt. Die Steine, die das
Flussbett verengen, nachdem die Hochfluth vorüber ist, sind eben nur ein
Zeichen der früher stattgehabten Strömung, aber sie deuten nicht auf eine
verwandtschaftliche Beziehung zwischen dem abgelagerten ^laterial und dem
Flussbett hin.
Den Typus für die electiven Wirkungen, von denen hier die Rede
war, geben uns die chemischen Beziehungen der Körper, die soge-
nannten Affinitäten. So werden wir auch zu der Annahme geleitet, dass die
chemische Zusammensetzung einzelner Gewebe und der in ihnen enthaltenen
Flüssigkeiten die Ursache abgebe, dass aus den durchströmenden Säften
eben nur einzelne chemische Bestandtheile gebunden werden und haften
bleiben. Doch aber müssen mit Rücksicht auf die eclectischen Functionen
erkrankter Organe neben den chemischen Affinitäten auch noch mecha-
nische Ursachen in Betracht kommen. Denn wenn diese Auswahl von
Stoffen ein Organ betrifft, welches sich im Zustande entzündlicher Hyper-
ämie befindet, so wird eben ein Plus von Säften aus dem Blute in die Ge-
webe getragen und dem Plus an chemischen Affinitäten auf mechanischem
Wege Nahrung zugeführt.
Q EINLEITUNG.
Mit diesen ErörteruDgen ist für uns ein Yerständniss der thatsäclilich
beobachteten Wirkung des TuhercuUns an den von Lupus afficirten Haut-
stellen angebahnt. Eine solche elective Wirkung ist für das Kocn'sche Mittel
von verschiedenen Seiten her behauptet worden, doch legen es die bei der
Eeaction auftretenden exsudativen Erscheinungen nahe zu vermuthen, dass
auch eine verstärkte Strömung aus den Kreislaufbahnen in das hyperämische
Gewebe stattgefunden hat. In dieser Art wird uns auch die in jüngster
Zeit von Hebka behauptete Wirkung des Thiosinamins auf Narbengewebe
verständlich. Die Acten hierüber sind freilich noch nicht geschlossen.
Aehnliche Betrachtungen sind zulässig über die specifische und in ge-
wissen Formen sicherlich auch elective Wirkungen der Infections-
träger und dann noch jener Stoffe, die in der Form von Impfung oder
in neuester Zeit bei der Blutserumtherapie (Tizzoni, BEHRiNa) in der
Form von Injectionen einverleibt werden.
Das Bestreben aber, Körper, respective chemische Verbindungen
kennen zu lernen, welche zu gewissen Krankheitsherden besondere
Beziehungen besitzen, um dadurch Heilung oder Immunisirung zu er-
zielen — das ist das Ideal und die Zukunft der Therapie. Stricker.
Abdominal -Typhus. Nach den bakteriologischen Forschungen gilt
eine bestimmte Bacillen-Art als der specifische Krankheitserreger des
Abdominal-Typhus. Eberth (1880) war der Erste, welcher den Typhiis-
Bacillus in den Organen von Typhus-Leichen nachwies. Gaffky bestätigte
diesen Befund, daher auch der von diesen beiden Forschern beschriebene
Mikroorganismus als der Eberth- Gqfki/' sehe Bacilkis bezeichnet wird. Koch
trat für die Specifität desselben ein und erklärte den von Klebs in den
Darmgeschwüren vorgefundenen fadenförmigen Bacillus als bedeutungslos.
Der EBEETH-GAPFKY'sche Typhus-Bacillus stellt kurze, plumpe, an den Enden
abgerundete Stäbchen dar, die zuweilen 2 — 3 sporenähnliche Körperchen
enthalten, welche einzeln oder in einer Kette ganz charakteristisch anein-
ander gegliedert sind. Als wesentliche Eigenschaften des Typhus-Bacillus
werden folgende bezeichnet:
1. Eine geringe Affinität zu den Anilinfarben, nicht färbbar durch
Gram.
2. Bei Bruttemperatur lässt sich dieser Bacillus auf den gewöhnlichen
Nährböden leicht zählen.
3. Die Nährgelatine wird durch den Typhus-Bacillus ni cht verflüssigt.
4. Charakteristisch ist dasWachsthum auf Kartoffeln. Schon nach 24
Stunden ist die ganze Kartoffeloberfläche mit einer dünnen, mikroskopisch
kaum sichtbaren, resistenten Haut überzogen, die sich bei mikroskopischer
Untersuchung als ein Complex dieser Bacillenform erweist. Die Kartoffel-
cultur ist für die Differential-Diagnose zwischen Typhus-Bacillen und ähn-
lichen Bacillen wichtig und unerlässlich.
5. Auf Thiere Typhus zu übertragen, ist in unzweifelhafter Weise bisher
nicht gelungen. (A. Fraenkel - Baumgarten.) Hiemit fehlt also eines der
bedeutungsvollsten Argumente für die sichere Specifität des Eberth-Gaffky-
schen Bacillus.
Ohne in eine weitläufige Erörterung bezüglich der eben beschriebenen
Typhus-Bacillen als Krankheitserreger einzugehen, kann der Abdominal-
Typhus vom klinischen Standpunkte als eine endemisch auftretende
Infectionskrankheit betrachtet werden, deren Ansteckungsstoff meist
in den Dejectionen dergleicher Kranken vorhanden erscheint. Unzweifel-
haft ist die Thatsache erwiesen, dass die Entleerungen der Kranken und
Alles, was mit denselben verunreinigt ist, wie besonders Bett- und Leib-
wäsche, die Infection vermitteln und die Krankheit verl)reiten können.
Auch nur in diesem Sinne kann von einer Ansteckungsfälligkeit — von
einer Contagiosität des Abdominal-Typhus gesprochen werden.
Was die entfernteren Lifectionswege betrifft, so spielt das Trink-
wasser unzweifelhaft eine wichtige Rolle. Die Verbreitung des Typhus
durch dasselbe ist ebenso durch traditionelle Erfahrungen und iudirecte
Beweise, als durch wissenschaftlich festgestellte Thatsachen erwiesen, wird
übrigens auch von der ül)erwiegenden Mehrzahl der Aerzte anerkannt. Lisofern
die Typhus-Entleerungen den Infectionsstoff enthalten und dieselben am häufig-
8 ABDOMINALTYPHUS.
steil und leichtesten ins Wasser gelangen, so kann dieses am ehesten und
meisten die Ansteckung vermitteln. Die während des letzten Decenniums
vorgekommenen Typhusepidemien in Hamburg, Zürich, Wiesbaden, Buda-
pest und anderen Orten liefern eclatante Beispiele hiefür. Die Infection
durch das Trinkwasser, wie durch das Wasser überhaupt, kann beim Typhus
aber auch clirect mittels Nahrungsmitteln, namentlich durch Milch erfolgen.
Haet wies auf dem internationalen medicinischen Congresse in London
(1881) nach, dass damals in England bereits über 50 Typhus-Epidemien
mit 3500 Erkrankungen durch den Genuss von Milch in Folge der Ver-
dünnung derselben oder durch Beinigen der Milchgefässe mit inficirtem
AVasser stattgefunden hatten. Auch aus Deutschland (Cöln, Lindenthal [1883])
und von Wien (1880) liegen gleiche Beobachtungen vor. Noch augenschein-
licher aber wird der Einfluss des Trinkwassers auf die Typhus-Verbreitung,
wenn dessen Frequenz an ein und demselben Orte zu verschiedenen Zeiten
bei Versorgung mit s c h 1 e c h te ni und gute m Trinkwasser verglichen
wird. So fiel in Neapel seit der Einführung des vorzüglichen Serino-Trink-
wassers innerhalb 5 Jahren (1885 — 1890) der Autheil der Typhus-Sterbe-
fälle an der Gesammtmortalität von 3*01 auf 0-69 Procent.
Am schlagendsten ist in dieser Beziehung wohl das Verhalten des Typhus
in Wien seit der Einführung des so unvergleichlich guten Hochqiiellenwassers.
Es zeigte sich, dass mit dem Zunehmen der Einleitung der Hochquelle in die
Häuser der Typhus in denselben im gleichen Verhältnisse abnahm, als er
in den Häusern ohne Hochquelle stetig blieb. Wenn überhaupt noch ein
Zweifel in dieser Richtung erhoben werden kann, so muss derselbe durch
die Erfahrungen der späteren Wiener Wassercalamitäten schwinden. Als
1877 wegen Mangel an Hochquellenwasser zeitweilig in mehreren Bezirken
Donaiiwasser eingeleitet wurde, entwickelte sich eine Typhus-Epidemie,
welche fast ausschliesslich auf die Häuser mit Donauwasser beschränkt
war. So erkrankten damals von 1000 Bewohnern in den Bezirken mit Hoch-
quelle 3-8 und in jenen mit Donauwasser 21-5. Während die durch Hoch-
quelle versorgten Häuser nur mit 2'7 Procent an der Typhus-Epidemie
participirten, so betrug das percentuale Verhältnis der Häuser mit Donau-
wasser an Typhus-Erkrankungen 24-2 Procent. Dergleichen Beispiele, wo
in einer Grossstadt, wie in Wien, durch Einführung guten Trinkwassers
die Typhus-Frequenz auf ein Minimum herabsinkt und die Krankheit dann
wieder bei zeitweiligem Genüsse schlechteren Trinkwassers zur Epidemie
anwachst, stehen wohl einzig da. Der Volksglaube, dass der Typhus
getrunken werde — hat somit seine gute Begründung. Jedoch lässt sich
der Einfluss einer gewissen Beschaffenheit des Bodens auf das örtliche
Verhalten des Typhus nicht verkennen. So hat v. Pettenkofer den Zu-
sammenhang zwischen den Schwankungen des Grundwassers und der Fre-
ciuenz der Typhus-Erkrankungen für München in seiner gewohnten, klaren
und bündigen Weise trefflich veranschaulicht. Nach demselben ist ein tiefer
Grundwasserstand der Entwicklung und Verbreitung dieser Krankheit sehr
förderlich.
Die anatomischen V er an de rungen an der Typhusleiche be-
schränken sich hauptsächlich auf den untersten Theil des Dünndarmes und auf
dessen drüsige Gebilde, bestehen in einer Schwellung, markigen Infiltration und
necrötisirenden Zerfall der PEYER'schen Plaques und solitären Follikeln.
Dieser Befund gilt als ganz charakteristisch für den Typhusprocess und ent-
sprechen demselben auch gewisse Perioden im Verlaufe des klinischen
Krankheitsbildes. In der ersten Krankheitswoche dürfte wohl mehr eine
Anschwellung, als Infiltration, namentlich der PEYEii'schen Plaques statt-
finden, während sich an denselben in der zweiten oder Anfangs der dritten
ABDOMTNALTYPHUS. 9
Woche iiecrotisclie Schorfe und nach Abstossuiig (lersel])eii UU'erationen
— die Typlmsgeschwüre bilden. Erreicht die Krankheit schon in der dritten
Woche iiir Ende, so liegt die Vermuthung nahe, dass die markige Infiltration
direct zur Resorption gekommen ist. Die Vernarbung der Geschwüre er-
folgt meist mit Ablauf der dritten oder in der vierten Woche. Dieselben
heilen ohne Stenosirung des Darmes, haben aber die Neigung zur Perforation.
Dieselben Vorgänge finden auch in mehr weniger zahlreichen solitären
Follikeln statt und erstrecken sich selbst auf den Dickdarm. Die übrige
Darmschleimhaut befindet sich mehr in einem catarrhalischen oder selbst
entzündlichen Zustande. Gleichzeitig ergänzen den necroskopischen Befund
Schwellung der Mesenterialdrüsen und der Milz. Häufig finden sich in den
Lungen: ausgebreitete Bronchitis, lobuläre catarrhalische oder selbst lobäre
croupöse Pneumonie und im Kehlkopfe Catarrh, oberflächliche oder selbst
tiefgehende PTlcerationen der Schleimxhaut. Körnige oder wachsartige Muskeh
degeneration (Zenker) erfolgt meist auch bei längerem Typhusverlaufe..
Nach den Arbeiten von E. Fraenkel und Simonds ist es sehr wahrsclieinlich,
dass an der Entstehung der meisten Complicationen der Krankheit nicht
die Typhusbacillen, sondern die pyogenen Coccen ursächlichen Antheil
haben.
Sehr selten tritt der Typhus gleicli in der Gesammtheit seiner Er-
scheinungen auf, es gehen demselben vielmelir leichtere oder schwerere
Störungen des Allgemeinbefindens voraus und bilden gleichsam
den Uebergang zur eigentlichen Krankheit. So klagen die Kranken meist
zuerst blos über ein ganz unbestimmtes Unwohlsein oder Unbehagen, zeit-
weiliges Frösteln oder Hitzegefühl, Appetitlosigkeit, gesteigerten Durst,
etwas Durchfall oder ^Verstopfung, Mattigkeit, Abgeschlagenheit, Schwere in
den Gliedern, unruhigen oder mangelnden Schlaf, Kopf- und Halsschmerzen
— kurz über Zufälle, die bei den verschiedensten fieberhaften Krankheiten
auftreten können. Nasenblutungen kommen auch häufig in der prodromalen
Periode der Krankheit vor. Ausgesprochene Schüttelfröste gehören schon
mehr zu den sicheren Vorboten und können als Beginn des wirklichen
Typhus betrachtet werden.
Das Kraukheitsbild des Typhus besteht kurz gefasst in der Gegenwart
von Fieber mit besonderem Verhalten der Temperatur, in Schwellung der
Milz, Auftreibung des Unterleibes, Darmaffection, diffuser Bronchitis, Er-
griifensein des Nervensystems und in einem mehr minder häufig auftretenden
roseolaartigen Exanthem. Lassen sich diese Erscheinungen auf keine andere
Weise, durch keine andere Krankheit erklären, so ist damit die Diagnose
auf Typhus, wenn auch oft nur mit grösster Wahrscheinlichkeit, begründet.
So leicht manchmal sofort auf den ersten Blick die Krankheit erkannt
werden kann, so bleibt dieselbe doch nicht selten bei aller Erfahrung und
Beobachtung höchst fraglich.
Symptome. Unter allen Erscheinungen des Typhus ist das Fieber,
namentlich das Verhalten der Körpertemperatur am wichtigsten und be-
deutungsvollsten. Nur regelmässig angestellte Messungen dieser können einen
geAvissen sicheren Massstab für die Beurtheilung der Schwere der Krankheit
haben. Ohne dieselben ist eine eigentliche Orientirung beim Typhus über-
haupt nicht möglich. Wiewohl die Temperaturmessungen im Piectum am
verlässlichsten sind, so genügt doch für den wahren Zweck die Vornahme
derselben in der Achselhöhle, und zwar 3- 4mal des Tages. Eine ganz
besondere Eigenthümlichkeit l)ietet beim Typhus der Gang der Temperatur
zu den verschiedenen Tageszeiten. Während in den Morgenstunden ein
Nachlass — eine Piemission der Temperatur erfolgt, so findet wieder gegen
den Abend zu eine Steigerung — eine Exacerbation statt. Abweichungen
10 ABDOMINALTYPHUS.
hievon sind au und für sich schon uiissliehe Zeichen. Die gewöhnlichen
Morgen- nnd Abendtemperatureu sind nach dem verschiedenen Zeitveriaiife
des Typhus auch sehr verschieden und bewegen sich meist um 39 — 40" C.
und um mehr weniger darüber. Temperaturen von 41 — 42« kommen sehr
selten vor und bekunden immer eine äusserst schwere, wenn auch nicht
stets lethale Krankheit. Plötzliches Fallen oder Steigen der Temperatur
ohne arzneiliche Einwirkung haben entweder den Collapscharakter, wie
bei Darmblutungen, Perforation oder zeigen den Hinzutritt von meist
entzündlichen Complicationen , wie Pneumonie, Parotitis, Phlebitis, an.
Wenn zu keiner Tageszeit die Temperatur sich über 38" erhebt und
derartig anhält, so spricht dies für die günstige Wendung der Krankheit
umsomehr. wenn auch das ganze Befinden des Kranken hiemit über-
einstimmt.
Wenn auch die erhöhte Pulsfrequenz beim Typhus zum Theile von
der gesteigerten Körperwärme abhängt, so steht dieselbe doch nicht immer
in einem geraden Verhältnisse zu dieser. Aber immerhin werden hohe
Temperaturgrade von einer entsprechenden Pulsbeschleunigung liegleitet.
Meist schwankt die Zahl der Pulsschläge in der Minute zwischen 96 — 120.
aber auch darüber, 140 — 160, was aber sehr ungünstig ist. Dabei erscheint
derselbe meist doppelschlägig. Diese Dicrotie ist für den Typhus durchaus
nicht charakteristisch, da sie auch bei anderen fieberhaften Krankheiten
mit Nachlassen der Arterienspannung beobachtet wird. Unregelmässigkeiten
im Pulse sind seltener und da meist Zeichen von Structurveränderungen
der Muskulatur des Herzens. Systolische Blasegeräusche in demselben
finden sich fast coustant. während gespaltene Töne nur manchmal gehört
werden. Mit dem Fieber geht gleichzeitig eine Steigerung des Durstes ein-
her, die Schleimhäute des ]\Iundes. Halses und Piachens trocknen ein und es
entstehen Crusten auf denselben aus capillaren Blutungen, in Folge deren
sich bei der Eintrocknung des Blutes ein fuliginöser Belag auf den Lippen,
an den Zähnen und auf der ganz trockenen Zunge bildet. Die Esslust liegt
ganz darnieder. Trockenheit im Munde und klebriger pappiger Geschmack
werden von den Kranken sehr unangenehm empfunden. Uebligkeiten.
Brechreiz oder Erbrechen sind seltener, letzeres eher im Beginne als im
späteren Verlaufe der Krankheit. Dagegen gehört der . Singultus einer
späteren Zeit des Typhus an.
Die Anschwellung der Milz gehört beim Abdominaltyphus zu
den regelmässigsteu Erscheinungen. Dieselbe erfolgt augenscheinlich schon
sehr frühe und lässt sich dann später meist sehr deutlich unter den Rippen-
bogen tasten. Die Kranken klagen auch öfters über recht empfiuclliche
Schmerzhaftigkeit in der Milzgegend. Die Ab seh wellung der Milz findet
gleichzeitig mit dem allgemeinen Nachlasse der Krankheit statt. Wiederholt
ist es gelungen, in der aus der Milz während des Lebens entnommenen
Substanz Typhusbacillen nachzuweisen.
Von Seite des Unterleibes kommt es zuweilen gleich im Beginne
der Krankheit zu einer Schmerzhaftigkeit in der Coecalgegend, namentlich
bei Druck daselbst. Gleichzeitig ^^Ird hiebei oft ein eigenthümliches Geräusch
(Ileocoecal-Gurren) vernommen. Klagen über Leibschmerzen sind selten,
stellen sich solche aber ein, so halten sie meist während des ganzen
Krankheits verlauf es an. Sehr häufig wird beim Typhus eine Auftreibung
des Unterleibes — Meteorismus — in verschiedenen Graden beobachtet, die-
selbe ist aber keineswegs eine constante Erscheinung. Starker Meteorismus,
namentlich mit Aufwärtsdrängung des Zwerchfelles, ist, ganz abgesehen von
peritonaealen Atfectionen. gar bedenklicher Vorbedeutung.
Wenn auch der Durchfall im Allgemeinen als ein dem Typhus
ABDOMINALTYPHÜS. 1 1
mehr eijienthümliches Symptom gilt, so fehlt er doch zuweilen, oder ist
selbst träger Stuhl, sogar Yerhaltuiig desselben zugegen. Meist schon in den
ersten Erkrankungstagen tritt ein paar Mal Diarrhoe ein. dieselbe nimmt
spcäter an Häufigkeit zu, erfolgt 10^ — ISmal und auch mehr täglich, selbst
auch unwillkürlich. Das Aussehen der frischen Stühle ist gewöhnlich charak-
teristisch, von gelber Farbe — erbsenpureeartig. Beim Stehen schichten
sich dieselben in einen olleren, trüben, mehr flüssigen nnd in einen unteren,
eine krümliche Masse darstellenden Theil. Mitunter lassen sich in derselben
auf dem Culturwege Typhusbacillen auffinden. So lange der Durchfall von
solcher Beschaffenheit ist, kommt es mehr nur auf dessen Menge und
Häufigkeit an, erscheint derselbe aber blutig gefärbt, so ist die Krankheit
in eine neue schwere Phase getreten. Die mit dem Stuhle entleerten Blut-
mengen sind manchmal ganz massenhaft, selbst über einen Liter betragend.
Dergleichen Blutungen kommen nur durch Arrosion der Gefässe in den
Darmgeschwüren nach Abstossung der Schorfe zu Stande. Die dieselben
begleitenden Zufälle sind meist äusserst bedenklich, wie Collaps. bedeutender
Temperatursturz, Herzschwäche, Pulslosigkeit. Ohnmacht — kurz, wie hoch-
gradige Auaemie. Indess erholen sich die Kranken manchmal nach, selbst
sehr profuser Darmhaemorrhagie in ganz erstaunlicher Weise. Bei von
mir hydriatisch behandelten 246 Typhusfällen kamen Umal
(4-4%) Darmblutungen vor. und zwar 7mal mit Genesung und 4mal mit
tödtlichem Ausgange. Weit gefährlicher als die Darmblutungen sind hin-
gegen die Darmperforationen in Folge Durchbruches typhöser Geschwüre
in die Bauchhöhle. Selten tritt unmittelbar nach derselben der Tod ein,
sondern findet meist erst nach eitriger oder jauchiger Peritonitis statt. Die
Perforationen sind immer von plötzlich auftretenden, äusserst heftigen Unter-
leibsschmerzen, starkem Meteorismus mit Singultus, Uebligkeiten, Erbrechen
begleitet. Der klinische Nachweis der eingetretenen Perforation durch Ver-
schwinden der Leberdämpfung ist bei Vorlagerung stark aufgetriebener
Gedärme nicht gar so leicht und sicher. Meist erfolgt der Durchbruch
typhöser Geschwüre erst im späteren Krankheitsverlaufe und auch manchmal
zu einer Zeit, wo sich der Typhus zum Besseren gewendet zu haben scheint
und selbst der Arzt in bester Hoffnung ist. Bei den oben angeführten
246 Typhusfällen ereignete sich die Perforation 2mal und zwar Imal am
19. und das andere Mal am 28. Krankheitstage.
Lungen-Aff ectionen gehören zu den frühesten und häufigsten
Zufällen des Typhus. Sie stehen entweder in directer Beziehung zur typhösen
Infection. können aber auch durch Asi)iration von Entzüudungserregern aus
der Mund- und Rachenhöhle oder durch verminderten Gefässtonus und der
beständigen passiven Piückenlage der Kranken veranlasst werden. Schon
mit dem Eintritte des Fiebers bestehen oft die auscultatorischen Erschei-
nungen einer über die feinsten Luftwege sich erstreckenden catarrhalischen
Entzündung deren Schleimhaut (Bronchitis), als da sind: Zischen. Pfeifen,
abgeschwächtes, rauhes, verschärftes Athmungsgeräusch, meist ohne oder
mit nur spärlichem Ptasseln. Die Kranken haben gleichzeitig etwas trockenen
Husten. Beklemmung. Brustschmerzen und selbst auch einen leicht cyano-
tischen Anflug des Gesichtes. Später kommt es dann zu herdweisem Auf-
treten von klein- oder grossblasigen Passelgeräuschen mit mir wenig Sputum.
Eine derartige Bronchitis begleitet oft den ganzen Krankheitsverlauf des
Typhus und kann selbst durch üebergreifen auf vorher verschont geblie-
l)ene Lungenpartien ein neuerliches Ansteigen der bereits herabgegangenen
Temperatur bewirken. In Folge der durch Schwellung der Schleimhaut statt-
findenden Verstopfung der kleinsten Bronchien, wie der mangelnden Expek-
toration bei durch Störungen im Xervensvsteme benommenen Kranken kommt
12 ABDOMIXALTYPHUS.
es dann zu lobulären Pneumonien, namentlich in den abschüssigsten Theilen der
Lunge, und bei Vordringen derselben an die Peripherie zu Pleuritis. Ausser
den sogenannten hypostatischen und x\spirations-Pneumonien
wird beim Typhus auch nicht selten die echte lobäre croupöse Pneu-
monie, und zwar selbst in so frühen Stadien der Krankheit beobachtet,
dass dieselbe auch als unmittelbare Wirkung des typhösen Giftes betrachtet
werden kann. Unter den 246 angeführten Typhusfällen befanden sich 19
Kranke (7-7 Procent i mit hinzugetretener Pneumonie. Hievou starben 10
und genasen 9. Einfache catarrhalische Schwellung der laryuge aleu Schleim-
haut mit Heiserkeit kommt beim Typhus ebenfalls öfters vor und kann zu
oberflächlicher Geschwürsbildung an den Stimmbändern und hinteren Larynx-
wand führen. Tiefer gehende Processe im Kehlkopfe sind allerdings seltener,
aber umso gefährlicher, da hiebei rasch eintretendes Glottisoedem Er-
stickungsgefahr im Gefolge haben kann. Auch im Pia eben finden sich
beim Typhus zuweilen catarrhalische und diphtheritische Affectionen (An-
gina). Nach Höpfxee's Statistik von 2000 Typhusfällen kam Diphtherie
des Kehlkopfes in 5 Proc.. des Pharynx in 0"5 Proc. und Glottisoedem in
1 Proc. vor.
Sehr mannigfaltig und vorwaltend sind beim Typhus die Störungen
im Nervensysteme. Hierauf mag sich wohl die früher gebräuchliche
Benennung der Krankheit als Nervenfieber beziehen. Schon in den ersten
Tagen der typhösen Erkrankung klagen die Patienten über Kopfschmerzen,
namentlich in der Stirn- und Schläfegegend, grosse Mattigkeit und Abge-
schlagenheit der Glieder, unruhigen Schlaf, zeigen eine verdriessliche
Stimmung und Unlust zu ihrer gewohnten Beschäftigung. Hiemit stellt sich
auch meist eine mehr minder hochgradige Schwerhörigkeit ein. Die Kopf-
schmerzen lassen indes sehr bald nach oder verschwinden selbst gänzlich.
Hingegen tritt eine gewisse Benommenheit ein. die Ivrankeu liegen apathisch
dahin, aufgefordert zeigen sie wohl die Zunge, vergessen sie aber zurück-
zuziehen, antworten auf gestellte Fragen langsam, einsilbig, verkehrt oder
widersprechend. In schweren Fällen steigert sich dieser Zustand, es treten
Sopor und tiefes Coma ein. Anderseits kann es zu psychischen Erregungs-
zuständen, namentlich zu Delirien, besonders in der Xacht. kommen. Die
Kranken lärmen und schreien (furibunde Delirien), werden von den ver-
schiedensten Hallucinationen gepeinigt, können nur mit grosser Gewalt im
Bette zurückgehalten werden. Bisweilen liegen aber die soporösen Kranken
leise vor sich murmelnd dahin (musitirende Delirien). Mit diesen tief grei-
fenden Veränderungen des Bewusstseins verbinden sich auch motorische
Störungen, namentlich an den Extremitäten-Muskeln, wie Fleckenleseu.
Sehnenzupfen (Sabsaltux tendinum). Die Sehnenreflexe und die mechanische
Erregbarkeit der Muskeln sind stark erhöht. Bei sich einstellendem Coma
findet dann das Gegentheil statt, die Muskeln werden schlafl:'. die Reflex-
Erregbarkeit nimmt ab oder erlischt. Eigentliche Geistesstörungen — Psy-
chosen kommen im Verkufe oder in der Pvoconvalescenz des Typhus selten
vor und bestehen entweder in einer melancholischen Depression oder in
mit Hallucinationen verbundenen Erregungszuständen. Dagegen sind Xerven-
aflectionen. besonders der Extremitäten, neuritischen Ursprunges nicht so
selten. P)ie Anschauung, dass die .nervösen Ph'scheinungen l)eim Typhus
hauptsächlich die unraittell)are Folge der Temperatursteigeruug seien,
stimmt insoferne nicht mit den klinischen Beobachtungen, als nicht immer
eine Uebereinstimmung der Höhe des Fiebers mit der Schwere der nervösen
Störuiigen besteht, und dass bei niedriger Temperatur auch sehr schwere
nervöse Erscheinungen vorkommen können. Indes zeigen die Erfahrungen l)ei
der hydriatischen Behandlung des Typhus, dass mit der Heral)S("tzung der
ABDOMINALTYPHUS. 13
Temperatur durch dieselbe auch die nervösen Zustände sich entschieden
bessern, aber wiederkehren, sobald ein Ansteigen der Temperatur stattfindet.
So spärlich und unscheinl)ar auch meist das Exanthem, die blassrothen
Knötchen und Flecken (Roseola) beim Typhus sind, so können sie dodi
einen gewissen diagnostischen Werth haben. Dieselben zeigen sich meist
schon sehr frühe im Krankheitsverlaufe, namentlich am Stamme : auf Brust
und Rücken, belästigen übrigens nicht im Mindesten die Kranken. Nach
profusen Schweissen kommt es oft auch zur Entwicklung der verschiedenen
Formen der Miliaria. Haemorrhagien in die Haut (Ecchymosen) sind selten
und bedeuten immer einen sehr bösartigen Charakter der Krankheit
(Petechialtyphus).
Verhaltung oder unwillkürlicher Abgang des Harnes treten nur bei
tiefem Ergriffensein des Sensoriaras ein. Der Harn selbst ist dunkelroth.
hoch im specifischen Gewichte bei vermehrtem Harnstoffgehalte. Die Menge
desselben ist auffallig vermindert. Meist besteht gleichzeitig geringe Albu-
minurie (febrile Albuminurie).
Bei der Mannigfaltigkeit der Krankheitserscheinungen und dem nicht sel-
tenen Eintritte ganz unvorhergesehener Ereignisse im Typhus -Verlaufe lassen
sich für den Gang der Krankheit nur im Allgemeinen gewisse Perioden
oder Zeitabschnitte unterscheiden. Dieselben entsprechen der Ent-
wicklung, der Höhe und dem Rückschreiten oder Abheilen der Krankheit
und werden gewöhnlich auf Wochen berechnet. Insofern das Fieber ein
stetiges und wesentliches Symptom des Typhus ist und aus diesem Com-
plexe die Temperatur sich am wichtigsten und massgebendsten erweist und
gleichzeitig am sichersten und genauesten am Thermometer bemessen lässt.
so ergibt dieselbe hiefür auch die verlässlichsten Anhaltspunkte. Selbst-
verständlich sind gleichzeitig die übrigen Begleiterscheinungen der Krank-
heit mit in Anschlag zu bringen. Mit dem allerersten Auftreten des
Fiebers, wenn es besonders unter Kältegefühl oder Schüttelfrost erfolgt,
kann der Beginn der Krankheit angenommen werden, die übrigen
krankhaften Erscheinungen können hiebei auch ganz allgemein und nicht
sicher zu deuten sein. Mit dem Anschwellen der Milz, Eintritte von flüs-
sigen Stuhlentleerungen, Abgeschlagenheit und Hinfälligkeit unter auffallen-
dem Fieber ist das Typhusbild s c h o n m e h r ausgeprägt. Die Temperatur
steigt gleichzeitig nur allmälig an, wird mit jedem weiteren Tage etwas
höher und zeigt schon Unterschiede Morgens und Abends. Dieselbe schwankt
anfangs meist zwischen 38 und 39 o C. Ein plötzliches, unniässig hohes
Ansteigen der Temperatur kommt in der Entwicklung des Typhus eigent-
lich nicht vor. Die Kranken haben nun eine trockene heisse Haut,
liegen apathisch oder schläfrig dahin und zeigen auf der Brust und am
Unterleibe einzelne Roseola - Knötchen. Diese Initial - Symptome halten
gewöhnlich mehrere Tage an und können als der ersten Krankheitswoche
entsprechend betrachtet w^erden. Mit dem weiteren Vor sc breiten
der Krankheit erscheinen die schweren Allgemeinsyniptome: Die
Schwäche, Hinfälligkeit und Benommenheit nimmt zu. Die Kranlcen liegen
meist somnolent oder selbst soporös dahin oder sind selir unruhig und de-
liriren. Die Begleiterscheinungen von Seite der Bauchorgane sind häu-
figer Durchfall, starker Meteorismus und zunehmende Milzschwellung.
Nun erscheinen auch die Zeichen der Lungenaf f e ction, trockener
Husten als Symptom der beginnenden Bronchitis. Je nach der Intensität
der letzteren Märd das Athmen mehr oder minder hocligradig zur Dyspnoe
und vergesellschaftet sich zuweilen mit Cyanose. Der Puls hat meist 100
bis 200 Schläge in der Minute und darüber, ist exquisit dicrot oder auch
klein und schwach. Die Temperatur steigt hoch an. ist morgens etwas
14 ABDOMINALTYPHUS.
imter oder wenig über 39° C und abends meist über 40 o. Ein Abweichen
von diesem A^rhalten der Remission imd Exacerbation ist immer ein be-
deutsames Zeichen. Dieses Höhen-Stadium des Typlius zeigt die grösste
Verschiedenheit in seiner Dauer, kann sich blos auf ein paar Tage, aber
auch auf 1 bis 2 oder selbst mehrere Wochen erstrecken.
Im Durchschnitte erreicht der Typhus wohl gewölilich in oder wenig
über 3 Wochen seinen Höhepunkt. Sobald beim Typhus einmal das
Fieber nachlässt, tritt auch meist eine ganz entschieden günstige Wendung
im Befinden des Krauken ein. Das Sensorium wird freier, der Durchfall
hört auf oder lässt nach, die ganz trockene Zunge wird klebrigfeucht, der
Puls weniger frequent und auch die Lungenerscheinungen bessern sich.
Die Esslust steigert sich bis zum wahren Heisshunger. Die Entfieberung
tritt nicht rasch, plötzlich, sondern allmälig ein, indem die Temperatur
mit jedem folgenden Tage, sowohl des Morgens als des Abends, immer
mehr herabgeht. Mitunter ist dieselbe am Morgen schon normal, aber abends
noch erheblich gesteigert. Wie einmal die Temperatur zu keiner Tages-
zeit sich mehr über das Normale erhebt und derartig 1 bis 2 Tage anhält,
ist aus grösster Wahrscheinlichkeit der Uebergang der Krankheit in die
Eeconvalescenz anzunehmen. Diese ist durch kein einziges Anzeichen auch
nur annähernd so sicher zu bestimmen, als durch das Ausbleiben der
Temperatur-Steigerung.
Es gibt so zahlreiche Formen und Abweichungen von dem ge-
wöhnlichen Bilde des Abdominal-Typhus. dass es unmöglich ist, alle Vorkomm-
nisse bei demselben aufzuzählen. Mitunter setzt die Krankheit mit mehr
weniger Fieber ein, ohne dass es ausser der Milzschwellung und Diarrhöe
zu irgendwelchen anderen Symptomen kommt. Nach einigen Tagen fühlen
sich die Kranken T\'ieder wohler und gehen ihrer gewohnten Beschäftigung
nach. Hiebei mag das Krankheitsziel wohl blos eine catarrhalische Aftection der
Darmschleimhaut oder eine markige, sehr bald zur Eesorption gelangende
Infiltration derselben veranlasst haben. Dergleichen Krankheitsfälle (Tijphus
ahortivus) sind aber sehr insiduös, da sich denselben öfters ein schwerer
Typhus -Verlauf anschliesst. Auch kann sich nach bereits abgelaufener
Krankheit der Process wiederholen und als Piecidive auftreten. Solche
Fälle beruhen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf einer neuen, von
aussen stammenden Infection des Körpers, sondern sind durch innere Vor-
gänge, wie durch eine nocheinmalige Entwicklung des Krankheitsgiftes
durch einen Nachschub desselben — durch Autoinf ection — bedungen.
Das klinische Bild stimmt hiebei in allen Einzelnheiten mit der ursprüng-
lichen typhösen Erkrankung tiberein. nur ist der Verlauf ein weit kürzerer.
Beim Abdominal-Typhus spielen namentlich bezüglich der Dauer und
des Verlaufes der Krankheit die zahlreichen Complicationen eine
Hauptrolle. Alle Organe können eine Localisations-Stätte derselben sein.
Der wichtigsten Complicationen wurde bereits bei Beschreibung des
Symptomenbildes Erwähnung gethau und es mögen deshalb hier nur jene
den Typhusverlauf complicirenden Processe genannt werden, welche im
Ablauf der Krankheit und im Re c on valesc enz-Stadium aufzu-
treten pflegen, als da sind: lobäre Pneumonie, Parotitis. Phlebitis, Venen-
thrombosen und Decubitus. Der Letztere kam in den von mir hy-
driatisch behandelten 246 Typhus- Fäl 1 en nur 11 mal (4-4%)
vor, trotzdem die Krankheitsdauer in zahlreichen Fällen die Norm von
drei bis vier Wochen bedeutend überschritten hatte. Fast allen angeführten
Zuständen gehen Schüttelfröste voran, welchen dann neuerliches Fieber
folgt. Hiedurch wird die Reconvalescenz sehr in die Länge gezogen, und gar
oft auch das tödtliche Ende veranlasst. Nicht minder bedeutungsvoll sind
ABDOMINALTYPHUS. 15
auch die im späteren Verlaufe des Typhus eintretenden Blutverän-
derungen, wie sie sich symptomatisch als Haemorrhagien in der Haut
und in den Schleimhäuten darbieten. Die Anaemie kann in solchen Fällen so hoch-
gradig werden, dass bei gleichzeitig vorhandener Herzschwäche das blosse
Aufrichten im Bette genügt, um durch die momentane Blutleere des Ge-
hirns den jähen Tod herbeizuführen.
Das Symptomeii-Bild des Typhus ist ein so vieldeutiges, dass die
Diagnose desselben besonders im Beginne der Krankheit erst nach sorg-
fältiger Beobachtung gestellt werden kann. Bei der Diagnosenstellung muss
zunächst auf das Vorhandensein der sogenannten Cardinalsymptome des
Typhus geachtet werden. Diese sind: Die eigenthümliche Fiebercurve.
die Darm-Aft'ection, der Meteorismus und die Milzschwellung. Aber die
angeführten Symptome sind beim Typhus nicht immer so deutlieh ausge-
prägt, können bei anderen Krankheiten gerade so auch vorkommen —
mithin die Unterscheidung sehr schwierig, wenn nicht unmöglich machen.
In differentialdiagnostischer Hinsicht kommen wesentlich in Betracht :
Typhus exanthematicus, Trichiniasis, Pyaemie, Menijigitis,
Endocarditis bacterica, Influenza und acute Mi Hart übe r-
culose. Sorgfältige Untersuchung und genaue Beobachtung des Verlaufes
werden in den meisten Phallen dem Arzte die diagnostische Entscheidung
bringen. Schwierig ist dieselbe nur, wie von allen Klinikern übereinstimmend
angegeben wird, zAvischen Miliartub er culo se und Typhus. Senator
hat erst kürzlich mit der Veröffentlichung eines diesbezüglichen Falles die
Schwierigkeiten der Differentaldiagnose zwischen beiden Krankheiten aus-
führlich dargelegt. (Charite-Annalen 1892.)
Der Typhus ist vorzugsweise eine Krankheit des j u g e n d 1 i c h e n,
kräftigen Alters. Das einmalige Ueberstehen der Krankheit gewährt
einen gewissen Schutz gegen eine zweite Infection mit dem Typhusgifte.
Der Typhus kann jahraus jahrein vereinzelt oder epidemisch vorkommen.
Indes fallen die meisten Typlmsepidemien in den Spätsommer oder Herbst.
Der Einfluss des Trinkwassers und der Bodenbeschaffenheit auf die Ent-
stehung und Verbreitung der Krankheit steht ausser allen Zweifel. Es können
aber auch andere äussere Schädlichkeiten, wie eine unregelmässige Lebens-
weise, Excesse im Essen und Trinken, übermässige körperliche Anstren-
gungen, Noth und Elend und selbst psychische Einwirkungen die Entwicklung
der Krankheit fördern.
Wiewohl der Typhus nicht zu den absolut gefährlichen Krankheiten
gehört und bei demselben eine Genesung auch in den allerschwersten
Fällen noch zu erhoffen ist, kann doch die Prognose niemals im Vor-
hinein als günstig hingestellt werden. Selbst bei den oft scheinbar leich-
testen Erkrankungsfällen können sich tödtliche Zustände ganz unvorherge-
sehen ereignen. Die Voraussage bezüglich des Ausganges der Krankheit
kcänn daher immer nur eine dem jeweiligen Stande derselben entsprechende
und wohlweislich nur mehr zurückhaltende sein. Vorerst kommt hiebei die
Schwere des Typhus an und für sich, namentlich die Höhe des Fiebers,
wie die Heftigkeit der Allgemeinerscheinungen in Anbetracht. Dann sind
es auch die verschiedenen Complicationen, die einen mehr minder gelähr-
lichen Charakter haben können. Ebenso dürfen nicht die Constitution und
Individualität der Kranken ausser Acht gelassen werden. Erst nach einer
sorgfältigen Erwägung aller dieser Verhältnisse ist ein Urtheil über den
voraussichtlichen Verlauf der Krankheit möglich.
Die Mortalität des Typhus verhält sich namentlich in der Epi-
demie ebenso verschieden als wechselnd, da schwere Fälle zu manchen
Zeiten viel häufiger vorkommen, als zu anderen. Allgemein giltige stati-
16 ABDOMINALTITHUS.
stische Allgaben lassen sich daher in dieser Beziehung nur schwer machen.
NachJACCOüD starben von 80.149 während eines vierzigjähriDen Zeitraumes
gesammelten Tvphus-Fällen 19-23% und nach Hutchison von 27.051
Typhuserkrankungen 1 7-4.5 o/q. Eine übersichtliche Schätzung der statistischen
Vorlagen bezüglich der Tj-phus-Mortalität aus Kliniken und Krankenhäusern
in der »Neuzeit ergibt im Durchschnitte eine Sterblichkeit dieser Krank-
heit von 10 — löo/o-
Die Tlierapie des Typhus hat von den Ergebnissen der bacteriolo-
gischen Forschungen bis jetzt nicht den mindesten Nutzen gehabt. Alle
Versuche, dem supponirten Infections-Träger — den Typhus-Bacillen
mittel- oder unmittelbar beizukomnien, sind ganz vergeblich geblieben. Weder
die so klangvolle Enteroklyse^ noch "die vei-schiedenen antibacte-
ri eilen Mittel: Calomel (Sublimati Naphtalin, Borsäure, Jodpräparate (Jod-
kali, Jodoform) zur Abtödtung der in den Darm eingedrungenen Microben,
wie zur Unschädlichmachung ihrer toxischen Producte haben sich irgend-
wie beAvährt. Von einer sogenannten antiseptischen Therapie bei Tvphus
ist somit vor der Hand ganz abzusehen.
R. Steex theilte jüngst eine Reihe exi^erimentell-bacteriologischer Untersuchungen
mit, von denen sich möglicherweise in Zukunft ein praktischer Nutzen für die
Typhustherapie ergeben dürfte. Sterk fand, dass das Blut von Typhusreconvales-
cinten die Eigenschaft habe, Mäuse vor der Wirkung der Tvphusculturen zu schützen.
Diese experimentell festgestellte Thatsache kann jedoch niclit auf eine Abtödtung der
Bacillen bezogen werden, man vermag sie nur derart zu erklären, dass das Serum die Gift-
^\lrkung der Typhusbacillen aufhebt resp. abschwächt. Die Art, in der dieser Vorgang
stattfindet, lässt Steex derzeit noch unentschieden. Jedenfalls wäre jedoch zu versuchen,
mwieferne beim Typhus die Transfusion des Blutes von Menschen, welche die
Krankheit überstanden haben, von therapeutischem Nutzen sein könnte.
_ Die antipyretische Behandlung des Typhus ist nur auf ein
einziges Symptom der Krankheit gerichtet, mithin eine sehr einseitige. Die
Temparatursteigerung ist an und für sich keine imminente Gefahr, ist auch
nur eine Theilerscheinung einer Symptomen-Gruppe, welche ihren letzten
Grand in der stattgefundenen Infectioii hat. Uebrigens nehmen nicht alle
Fieber in gleichem Grade das Brennmaterial des Organismus in Anspruch.
Bis zur Entdeckung der neueren antipyretischen Mittel nahm das
Chinin in der Behandlung der typhösen Fieber den ersten Platz ein.
Gegenwärtig ist dasselbe wegen seiner unangenehmen subjectiven. ja sogar
toxischen Wirkungen für die Typhusbehandhmg aufgegeben. Mit dem glück-
lichen Wurfe der geschäftigen chemischen Industrie" durch das Antipyriu
wurde rasch nacheinander eine Pieihe derartiger Mittel dargestellt, von
welchen das eine Eine an Sicherheit und Unschädlichkeit der Wirkung das
Andere übertreffen „sollte". Aber bald zeigte sich, wie schädlich dieselben
zu sein vermögen.
Bei der grossen Zahl der von mir und meinen Assistenz-Aerzten
namentlich beim Typhus angestellten und diesbezüglich publicirten Unter-
suchungen bedarf es zur Beurtheilung des Werthes der medicamen-
tösen Antipyrese keiner Berufung auf anderweitige Beob-
achtungen. Eine so enthusiastische Aufnahme das Antipvrin bei der
Behandlung des Typhus wegen seiner prompten Wirkung auf den Abfall
der Temperatur auch fand, regten sich doch bald gewisse" Bedenken gegen
die Anwendung dieses Mittels. Schon die Wahrnehmung, dass die Kranken
mitunter auf selbst kleine Gaben schwere toxische Zufälle haben können,
erheischt die grösste Vorsicht beim Gebrauche dieses gar nicht harmlosen
Mittels. Wirkliche Intoxications-Erscheinungen. wie Schüttelfröste, profuse
Schweisse, Cyanose, Herzschwäche bis zur Pulslosigkeit, Sinken des Blut-
druckes, Dyspnoe, Gedeme, selbst ein höheres Ansteigen der Temperatur,
als vor dessen Darreichung können die Kranken in eine momentane Lebens-
ABDOMINALTYPHUS. 17
aie Anwendung dieses Mittels. Schon die Wahrnehmung, dass die Kranken
mitunter auf selbst kleine Gaben schwere toxische Zufälle haben können,
erheischt die grösste Vorsicht beim Gebrauche dieses gar nicht harmlosen
Mittels. Wirkliche Intoxications-Erscheinungen, wie Schüttelfröste, profuse
Schweisse, Cyanose, Herzschwäche bis zur Pulslosigkeit, Sinken des Blut-
druckes, Dyspnoe, Oedeme, selbst ein höheres Ansteigen der Temperatur,
als vor dessen Darreichung können die Kranken in eine momentane Lebens-
gefahr bringen. So viel Wesens auch seinerzeit vom T hall in beim Typhus
gemacht wurde, hat sich dasselbe bei dessen Behandlung doch nicht er-
halten. Weinstein schildert nach den auf meiner Abtheilung gemachten
Erfahrungen die auf Verabreichung dieses Mittels öfters eintretenden Schüttel-
fröste mit hochgradigem Collapsus und Herzschwäche in einer Weise, welche
keineswegs zur weiteren Anwendung dieses Herzgiftes beim Typhus auf-
muntern können. Dem gegenwärtig noch am meisten angewandten Anti-
febrin wird nachgerühmt: eine sichere Einwirkung auf die Temperatur
mit einer darauf folgenden gewissen Euphorie. Indess sind die auch nach
kleinen Gaben eintretenden Nebenwirkungen gerade manchmal äusserst
schwer toxische. Selbst auf minimale Dosen wird meist schon eine cyano-
tische Entfärbung der Fingernägel beobachtet. Höhere Grade der Intoxi-
cation bestehen in Herzschwäche, fadenförmigem Pulse, starkem Schüttel-
frost, profusen Schweissen und raschem Verfalle. Das Antifebrin kann somit
auf Blut und Herz gleich toxisch wirken, daher nicht genug Vorsicht bei
dieser Anwendung zu empfehlen ist. Die allerschwersten und geradezu furcht-
barsten Zufälle : hochgradige Schwäche und Arythmie des Herzens, Icterus,
bleigraue Verfärbung der Haut, Eiweiss, Cylinder und Blut im Harne stellen
sich beim Gebrauche des ebenfalls zur Typhusbehandlung versuchten Py ro-
dln s ein (Th. J. Zerner). Andere Antipyretica, wie Phenacetin, Pheno-
coll, Salipyrin, Salophen bewähren sich nach unseren eigenen dies-
bezüglichen Versuchen beim Typhus gar nicht (Pt. Hitschmann, Bum).
Treten bei Anwendung der genannten Antipyretika auch nicht allemal
deren toxische Wirkungen hervor, so bestehen dieselben, wenn auch im
geringeren Grade, doch fast immer. Die durch dergleichen Mittel
stattfindende zeitweilige Herabsetzung der Temperatur auf ein paar
Stunden ist für den Typhusverlauf keineswegs hoch anzuschlagen, da die
Kranken hiebei weder objectiv noch subjectiv irgend eine Besserung ihres
Zustand es oder Befindens erfahren. Im Gegentheile kommt es öfters vor,
dass dieselben durch den so häufigen Wechsel des Abfallens und Ansteigens
der Temperatur, wie durch die damit verbundenen Schüttelfröste und
Schweisse sehr beunruhigt werden und dann selbst das Fieber der anti-
pyretischen Behandlung vorziehen. Findet bei Anwendung solcher Mittel
zudem ein weit höheres Ansteigen der Temperatur nach als'Vor derselben
statt, so kann ein solches Verfahren wohl als eine schwere Verirrung der
modernen Therapie angesehen werden.
Die hydria tische Behandlung des Typhus ist schon seit Langem
von Aerzten und Laien geübt, aber erst in der Neuzeit wissenschaftlich
begründet worden. Es ist recht bedauerlich, dass dieselbe so wenig
schulmässig gelehrt und gepflogen wird. Die meisten Kliniker
haben von deren Wirksamkeit eine viel zu geringfügige Meinung und diese
Gleichgiltigkeit überträgt sich natürlich auch auf ihre Schüler. Die hydria-
tische Behandlung des Typhus liefert die unvergleichlich besten
Heil ergeh ni SS e. Der ganze Verlauf und sämmiliche Erscheinungen
der Krankheit sind bei diesem Verfahren von dem gewöhnlichen klinischen
Bilde derselben in mannigfacher [Beziehung verschieden, und dies zwar
Bibl. med. Wissenschaften. 1. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. ->
18 ABDOMINALTYPHUS.
immer zum Vortheile der Kranken. Würde es sich hierbei wirklich nur um
eine thermische Wirkung handeln, so läge wohl vom physiologischen Stand-
punkte allein schon das Hautorgan, welches doch mit mehr als 88Vo an der
ganzen Wärmeabgabe des Körpers sowohl durch Strahlung, als Leitung und
Verdunstung betheiligt ist, für antipyretische Eingriife am nächsten. In der
That auch erweist sich die Bäderbehandlung beim Typhus auf die Fieber-
hitze am wohlthuendsten und wirksamsten. Durch die directe Wärmeent-
ziehung wird dieselbe herabgesetzt und allen schädlichen Folgen, welche
etwa von der Steigerung der Eigenwärme abhängig sein können, nach Mög-
lichkeit vorgebeugt. Hiemit ist aber keineswegs gesagt, dass die
auf Herabsetzung der Temperatur hinzielende Wirkung beim Typhus die
Hauptsache und das Thermometer der alleinige Wegweiser sei.
Durch die Bäderb ehandlung wird das Krankheitsbild des Typhus
wesentlich beeinflusst, indem die Functionirung der drei bedeutendsten
Systeme, der Athmung, der Circuiation und der Nerven, in exci-
tirender Weise regulirt werden. Durch die Auslösung tiefer Inspirationen
und durch kräftigeres Husten wird der Stockung des Auswurfes und der
entzündlichen Affectionen in den Lungen vorgebeugt. Die Herzaction wird
energischer, die erschlafften Gefässwände erlangen einen erhöhten Tonus,
die Pulsfrequenz wird innerhalb gewisser Grenzen gehalten und die Dicrotie
nach der Gestaltsveränderung der Sphygmogramme, wenn nicht dauernd,
so doch vorübergehend zum Verschwinden gebracht. Besonders aber treten
bei der Bäderbehandlung des Typhus der wohlthätige Einfluss, sowohl die
erregende als beruhigende Wirkung, auf das Nervensystem hervor. Das
Sensorium wird freier und die Benommenheit nimmt ab, das Aussehen der
Kranken erscheint frischer, kurz das ganze Bild schwerer Nervenzufälle
wird ein anderes. Hiemit ist auch eine wesentliche Besserung im sub-
jectiven Befinden der Kranken verbunden. Dieselben fühlen sich nach
den Bädern erquickter und kräftiger, schlafen stundenlang ruhig und neh-
men auch besser Nahrung zu sich. Diese Euphorie allein schon kann für
die hydropathische Behandlung des Typhus begeistern. Der beste Beweis
für die so günstige Einwirkung einer solchen Behandlung des Typhus ist
wohl auch das seltenere Auftreten der bei dieser Krankheit so sehr
gefürchteten Complicationen, wie besonders des Decubitus.
Von den verschiedenen hydriatischen Verfahren beim Typhus sind un-
streitig die Bäder am wirksamsten und bequemsten. Es ist
rathsam, die ersten Bäder nicht zu kalt zu geben, sondern mehr durch
Zugiessen kälteren Wassers allmälig abzukühlen, da sonst die Kranken leicht
frösteln und sich dann sogar gegen die Fortsetzung dieser Behandlung
wehren. Bei sehr empfindlichen, schwächlichen Individuen werden nach
zu kalten Bädern bisweilen Ohnmacht und hochgradige Schwäche gesehen,
was dann sogar den Arzt vor dem weiteren Gebrauche der Bäder ab-
schrecken kann. Die Kranken müssen sich während des Badens gehörig
frottiren und, falls sie hiezu zu schwach sind, energisch abreiben lassen.
Das Badwasser soll auch beständig in Bewegung gehalten werden, um die
Haut fortwährend mit wechselnden Wellen zu bespülen. Die Verabreichung
von Wasser, Wein im Bade erfrischt die Kranken sichtlich. Nach dem-
selben müssen sie gut abgetrocknet und in erwärmtes Bettzeug gelegt werden.
Kalte Einwicklungen oder Einpackungen als Ersatz für die Bäder
haben keine so erhebliche und nachhaltige Wirkung. In den Spitälern sind
dieselben wegen der Umständlichkeit und der zu aufreibenden Anstrengung
des Wartepersonals bei einer grösseren Anzahl derartiger Kranken weniger
geeignet. Dieselben sträuben sich auch weit eher gegen diese ihre Ruhe
ABDOMINALTYPIIUS. 19
anhaltend störenden Proceduren, als gegen die Bäder. Kalte Abreibungen
sind nur ein Surrogat der hydriatischen Behandlung beim Typhus, haben
auch nur wenig Erfolg.
Wenn auch die thermische Wirkung bei der Bäderbehandlung des
Typhus nicht allein massgebend ist, so kann doch die Fieberhöhe eine
gewisse Richtschnur für dieselbe geben, indem deren Verhalten meist
auch mit den übrigen Krankheitserscheinungen im Einklänge steht und auch
am Thermometer sicherer beurtheilt werden kann.
Besondere Angaben, wann und wie die Bäder in Anwendung
zu bringen sind, können leicht zu einem schablonenartigen Vorgehen
führen. Die Gesammtheit der Symptome und das ganze Krankheits-
bild sind für die Indicationsstellung der einzelnen Bäder massgebend. Auch
die Dauer der Bäder ist mehr nach den Bedürfnissen des Einzelfalles
zu bemessen. Je einfacher das Verfahren, desto eher und leicher kann
dasselbe in und ausserhalb der Spitäler durchgeführt werden. Die viel zu
geschäftigen, meist überflüssigen complicirten Proceduren mancher Hydro-
pathen bei der Bäderbehandlung des Typhus haben deren Verbreitung
und Anwendung besonders unter den Aerzten keinen Vorschub geleistet.
Seit dem erneuerten Aufschwünge derselben durch Brand hat sich eigent-
lich eine vollständige Wandlung der Grundsätze vollzogen. Das starre
Festhalten an einem gewissen Temperaturgrade als Indi-
cation zum hydriatischen Einschreiten ist aufgegeben und
dafür ein streng individualisiren des Verfahren zur Geltung ge-
kommen.
Im Allgemeinen ergibt sich in der Mehrzahl der Fälle bei einer Tem-
peratur von nicht über 39'00 C. keineswegs die Nothwendigkeit zu den
Bädern. Es genügen da kalte Ueberschläge auf den Kopf und bei Diarrhöe
auch auf den Unterleib. Wie aber bei dem angeführten Wärmegrade starke
bronchitische Affection, Unbesinnlichkeit, Unruhe, Delirien das Krankheitsbild
beherrschen, ist hiemit auch die Anzeige zu den Bädern, und zwar zu Voll-
bädern von 26— 25" C. mit allmähliger Abkühlung auf 20 — 1 8" in der Dauer
von 5 — 10 Minuten gegeben. Findet ein Ansteigen der Temperatur auf
oder über BO-ö" statt, so sind dergleichen Bäder zu wiederholen. Bei schwäch-
lichen, empfindlichen, leicht fröstelnden Kranken können auch minder kalte,
sogar laue Bäder, allerdings dann in häufigerer Anwendung, gebraucht
werden. Bei Herzschwäche, schweren cerebralen Zufällen sind hiemit kalte
Ueb ergie ssungen mit Wasser von 15 — lO'^ zu verbinden. Der Effect
dieser ist meist ein ganz überraschender: Unbesinnliche Kranke, welche ins
Bad getragen werden müssen, werden meist so gekräftigt, dass sie sich
selbst ins Bett zurückbegeben können. Das Aussehen, die Beweglichkeit,
kurz das ganze Wesen derselben wird ein Anderes. Eine so erfreuliche,
wenn auch noch so vorübergehende Euphorie ist bei Typhuskranken auf gar
keine andere Art und Weise zu erreichen. So lange die Krankheit noch
im Vorschreiten begriffen ist, sind auch die Bäder nach dem Stande der
Temperatur und übrigen Erscheinungen fortzusetzen. Nur in Fällen mit
dauernd hohen Temperaturen (über 40" C.) hat dies auch während der ganzen
Nachtzeit zu geschehen.
Gewisse Bedenken, weniger Contra-Indicationen, betreffs der
Bäderbehandlung des Typhus können sich nur auf schwächliche, herab-
gekommene Individuen, auf Herz- und Lungenkranke und auf die
Gravidität beziehen. Bei sorgfältiger Erwägung aller Umstände und bei
grösster Vorsicht kann auch in solchen Fällen ein entsprechender Gebrauch
von den Bädern gemacht werden. Dagegen ist beim Vorkommen von Darm-
20 ABDOMINALTYPHUS IM KINDESALTER.
blutungen von den Bädern gleich abzusehen, da dann allein schon ab-
solute Ruhe unerlässlich ist.
AYeim die Erfolge bei den hydriatisch behandelten Typhus-Fällen nach
den geflügelten Worten : „Zahlen beweisen", angegeben werden, so ist dies
doch nur unter gewissen Umständen zutreffend. Von 246 Spitals-
kranken, über deren Krankheitsverlauf ich nach jeder Hinsicht genaue Daten
aufbewahrt habe, starben bei Anwendung von Bädern 23, mithin 9-37n- In
den vorangegangenen Jahren hatte ich gleichfalls bei Spitalskranken unter
der sogenannten expectativen und antipyretischen Behandlung eine Mortalität
von lö-57o- Bass besonders bei der hydriatischen Therapie des Typhus
sehr viel darauf ankommt, wie bald im Krankheitsverlaufe die Kur begonnen
wird, zeigen die folgenden Angaben. Bei Einleitung des hydriatischen Ver-
fahrens in der ersten Krankheitswohe betrug die Mortalität 4-6"/o, geschah
dies erst in der zweiten Krankheitswoche, 11 "6%. Bei 72-77o hielt die
Fieberperiode nicht über 28 Tage an. Es unterliegt keinem Zweifel, dass
bei der Bäderbehandlung des Typhus der Verlauf der Krankheit viel kürzer
und die Pteconvalescenz auch rascher und ungestörter als bei jedem anderen
Heilverfahren sind. Bei Spitalskranken, wo die Arbeitsfähigkeit mehr als
die wirkliche Genesung für deren Entlassung entscheidend ist, sind statistische
Angaben in dieser Richtung weniger massgebend.
Das allgemein diätetische Verfahren beschränkt sich beim
Typhus hauptsächlich: auf fleissige Lüftung der Krankeuräume, grösst-
möglichste Reinhaltung der Kranken, auf flüssige Nahrung (Milch, Thee,
Bouillon), auf frisches Wasser zum Getränke mit oder ohne verschiedenen
Fruchtsäften, aber besonders mit leichten Weinsorten. Oeftere Lagever-
änderung der Kranken im Bette, sowie sorgfältiges Pteinigen des Mundes
und der Zunge dürfte nicht übersehen werden. Intercurrirende
Krankheitszufälle sind symptomatisch zu behandeln. Bei an-
haltender Schlaflosigkeit wirken kleine Gaben von Morphin manchmal
recht wohlthätig, wie auch bei starkem trockenen Husten (Ipecacuanha)
in entsprechender Dosis. Gegen profuse Diarrhoe erweisen sich kalte
Ueberschläge auf den Unterleib, Alaun, Tannin. Bismuthiim subnitriciim,
sehr wirksam. Bei Darmblutungen sind Eis innerlich und äusserlich, Ergotln,
Ferrum sesqitichlorafuni, Opium, angezeigt. C o 1 1 a p s und Herzschwäche
werden am besten durch stärkere Weine bekämpft. In der Reconvalescenz
ist besonders die grösste Vorsicht den nach Essen drängenden Kranken
gegenüber geboten. Bei nur wenigen Krankheiten überzeugt ein umsich-
tiges, un ermüdetes und entsprechendes Vor gehen die Kranken
so von der ärztlichen Wirksamkeit auf ihre Gesundung, wie auch den Arzt
von seinem erspriesslichen EingTeifen in den Verlauf der Krankheit — von
der Rettung des Lebens seiner Kranken, als dies beim Typhus in der That
der Fall ist. deasche.
AbdominaltyphllS im Kindesalter. Der Ileotyplms ist eine auch
im kindlichen Alter ziemlich häufig vorkommende Infectionskrankheit.
Der Typhus im Kindesalter unterscheidet sich in mancher Beziehung
von dem Verlaufe, wie wir ihn beim Erwachsenen beobachten. Zunächst
muss der geringfügige anatomische Befund im Darmcanale selbst bei ausge-
bildeten klinischen Symptomen erwähnt werden, so dass man geradezu von
einem abortiven Charakter des typhösen Processes sprechen kann. Aus
diesem Grunde kommen im Kindesalter Darmblutungen und Darmdurch-
brüche in Folge tiefergehender Ukerationen höchst vereinzelt zur Beobachtung.
Da sehr selten zahlreiche Follikeln durch den geschwürigen Process zu
ABDOMINALTYPHUS IM KINDESALTER. 21
Grunde gehen, so beobachtet man auch jenen Zustand nicht, bei welchem
nach Ablauf des acuten Stadiums die Kranken wegen der erschwerten nud
behinderten Resorption an allgemeiner Schwäche (Typhusmarasmus) uz
Grunde gehen.
Der typhöse Process ist zumeist im Ileum, hingegen seltener im
Jejunum oder dem oberen Theile des Dickdarmes in allen Graden von
der fast unmerklichen Schwellung bis zu den ausgebreiteten Ulcerationen
an demselben Individuum anzutreffen. Die Lymphfollikel der Darmschleimhaut
sind entweder fast gar nicht angeschwellt und nur massig injicirt, wobei
die umgebende Schleimhaut mit einem klaren, glasigen Schleime bedeckt
ist, oder aber man findet einzelne Follikel und PETER'sche Plaques ganz aus-
gefallen, wodurch ein rundlicher gestrickter Substanzverlust mit gezackten
Flandern entsteht. Weiters kommt es zu typhösen Geschwüren, die sich von
denen der Erwachsenen nicht unterscheiden. Entgegen dem Befunde bei
älteren Individuen findet man eine gewisse Trockenheit des Darminhaltes,
wodurch sich die Coprostase während des Lebens in manchen Fällen leicht
erklären lässt.
Bei Säuglingen sind Geschwüre gewiss eine Rarität. Die
Geschwiire heilen in der bekannten Weise vom Grunde und den Rändern,
und es zeigt die Narbe keine Tendenz zur Schrumpfung, daher Narben-
stenosen typhösen Ursprungs im Kindesalter nicht vorkommen
Entsprechend dem Befunde der Follikeln im Darme, sind auch die
Mesenterialdrüsen afficirt und im Zustande markiger Schwellung. Da aber
diese Drüsen bei Scrophulose und Rhachitis bereits vorher intumescirt sein
können, so ist dieser Befund oft schwierig zu deuten. Das Peritonaeum ist
nur, wenn die Geschwüre tiefer gehen und der Durchbruch droht, entsprechend
injicirt und getrübt.
In Bezug auf praedhjwnirende Ursachen sei erwähnt, dass es in manchen
Epidemien scheint, als würden Kinder zahlreicher befallen als Erwachsene.
Ob Ileotyphus im Kindesalter häufiger in jenen Herbsten auftritt, die auf
einen heisseu Sommer folgen, darüber liegen keine ausführlichen statistischen
Angaben vor, doch ist es wahrscheinlich, dass auch das Gegentheil statt-
findet. Gedrängtes Zusammenwohnen und mangelhafte Ventilation können als
alleinige praedisponirende Momente für das Auftreten von Ileotyphus nicht
herangezogen werden, da man sowohl in dicht, als in spärlich bevölkerten
Gegenden, sowie in gut und schlecht gelüfteten Localitäten den Ileotyphus
in gleicher Weise beobachtet, sowie es, was die Lebensstellung betrifft, fast
scheint, als käme der Ileotyphus bei besser und üppiger genährten Kindern
häufiger vor als bei herabgekommenen Individuen. (Andkal, Louis.) Ob alle
typhösen oder typhoiden Zustände im Kindesalter auf den von Eberth
entdeckten Typhusbacillus zurückzuführen sind, ist für das Kindesalter
nicht mit Sicherheit nachgewiesen, obwohl die pathogene Bedeutung des
genannten Bacillus für den Typhus der Erwachsenen ausser allen Zweifel
zu sein scheint.
Die Frage, ob der Ileotyphus contagiös sei, ist vielfach discutirt
worden, doch sprechen alle Thatsachen dafür, dass die Contagiosität nur
sehr beschränkt sei. Fast nie erkranken Kinder, die neben Typhösen liegen,
an Typhus, während dies z. B. beim Scharlach und Diphtherie stets der
Fall ist. Wenn mehrere Kinder in einer Familie an Typhus erkranken,
so kann man die Sache doch ungezwungener dadurch erklären, wenn man
annimmt, dass alle Individuen derselben Schädlichkeit ausgesetzt waren und
nur je nach ihrer Disposition mehr oder minder erkrankten. Nur die leicht
zersetzbaren Typhus-Dejecte spielen bei der Uebertragung eine gewisse
Rolle, daher man deren sofortige Desinficirung niemals unterlassen soll.
22 ABDOMINALTYPHUS IM KINDESALTER.
Wenn in einer Familie ein Kind an Typhus eArankt, ist eine voll-
ständige Separation, z. B. wie bei Scharlach, nicht nothwendig, auch können
die Geschwister ohne Gefahr für Andere die Schule besuchen, da eine
Uebertragung durch dritte Personen nicht stattfindet.
Entwicklung undVerlauf des Krankheitsprocesses. Der
Ileotyphus beginnt in der Regel allmälig, selten setzt die Krankheit in
acuter Weise ein, und es gehen dem eigentlichen Ausbruche der Erkran-
kung eine Reihe unbestimmter oder richtiger gesagt unbestimmbarer
Symptome voraus. Erst die Gruppirung derselben, der Hinzutritt neuer,
sowie die Steigerung von schon vorhandenen Symptomen ermöglicht die
Diagnose „Ileotyphus".
Bei kleineren Kindern sind die sogenannten nervösen Symptome, wie
Eingenommensein des Kopfes, Ohrensausen. Schwindel, Betcäubung und die
Delirien, da sich die Kinder nicht äussern können, blos durch Dahinliegen
und eventuell allgemeine Convulsionen ersetzt. Hiebei sei auf jene Com-
plication von Meningitis purulenta mit Ileotyphus aufmerksam gemacht,
die von Löschner beschrieben wurde.
Die Kinder leiden an vorübergehenden Fieberbewegungen, Appetit-
losigkeit, klagen über heftige Gliederschmerzen (ohne Schwellung der
Gelenke). S elt en tritt im Beginne im Gegensatze zu den acuten Exanthemen
— Erbrechen von gallig gefärbtem, wässerigem Mageninhalt auf. Der Puls ist
beschleunigt, die Haut heiss und trocken, die Zunge in der Mitte dicht belegt,
wobei die Ränder dunkelroth bleiben ; manchmal tritt ziemlich starkes Nasen-
bluten auf. Der Schlaf ist unruhig, und sind die Kinder hinfällig, schwach
und bleiben gerne zu Bette. Allmälig gesellt sich bei immer deutlicher
werdender abendlicher Exacerbation des Fiebers ein trockener Husten
mit etwas beschleunigter, nicht schmerzhafter Respiration hinzu. Die
Rachenorgane sind blass und die physikalische Untersuchung ergibt keine
nachweisbare Veränderung in Lunge, Herz etc. Bei Fortbestand der
erwähnten Symptome steigert sich das Fieber zu einem continuirlichen,
mit deutlicher abendlicher Steigerung, und es kann die Zunahme der
Milz durch Percussion und Palpation nachgewiesen werden.
Der Puls schwankt zwischen 90—130, ist regelmässig weich und
voll und kann leicht von dem verlangsamten und intermittirenden Pulse,
den man im Beginne einer Basilarmeningitis beobachtet, unterschieden
werden. Gegen Abend ist der Puls etwas beschleunigter, während er des
Morgens oft klein, schwach und aussetzend wird. Die Haut ist trocken,
heiss und des Morgens mit klebrigem Schweisse bedeckt. Die Temperatur
ist continuirlich erhöht, erreicht des Morgens in mittleren Fällen 38- 5^ bis
^9-5^, beginnt vom Nachmittag an allmälig auf 40 — 40-5° zu steigen und bleibt
etwa bis nach Mitternacht auf dieser Höhe, um dann allmälig wieder abzufallen.
Je deutlicher und stärker die Exacerbation ist, d. h. je grösser die Differenz
zwischen Morgen und Abend ist, desto intensiver verläuft der Typhusprocess.
Die Lippen sind aufgesprungen, trocken, die Zunge bedeckt sich immer
dichter mit einem weisslich-bräunlichen, leicht vertrocknenden Belege bei
einem süsslich faden Gerüche aus dem Munde. Die Kinder verweigern jede
Nahrung, haben aber viel Durst, erbrechen jedoch manchmal das gierig
getrunkene Wasser.
Eine Eigenthümlichkeit des Kindertyphus ist das Fehlen der
Diarrhoe und das Fortbestehen einer hartnäckigen Obstipation; manch-
mal jedoch wechselt die Obstipation mit Diarrhoe ab, wobei die Kinder
innerhalb 24 Stunden 2 — 6 flüssige, stark gallig gefärbte Stühle absetzen.
Sie gleichen am meisten jenen Stühlen, die man bei gewissen chronisch ver-
laufenden Dünndarmcatarrhen beobachtet.
ABDOMINALTYPHÜS IM KINDESALTER. 23
Der Bauch ist gespannt und tympanitisch aufgetrieben, am meisten
in der Ileocoecalgegend, und beim Drucke vernimmt man bei geringer
Schmerzhaftigkeit ein eigenthümlicbes Gurren (Ileocoecalgeräusch), das
wohl auch rechts vorkommt. Die Milz nimmt an Umfang zu, erreicht
jedoch nie die Grösse wie bei Erwachsenen. Der Urin wird spärlich und
dunkel gefärbt.
Die Benommenheit des Kopfes nimmt zu, und in der Nacht
stellen sich mehr oder minder heftige Delirien ein, während der Remission
kann das Bewusstsein wieder kommen, dabei zeigt der Gesichtsaiisdruck Er-
mattung, Hinfälligkeit und Gleichgiltigkeit. Die Conjunctiva wird trocken,
injicirt und mit zähem Secrete bedeckt, das Gesicht ist geröthet oder
etwas cyanotisch.
Gegen Ende der ersten und im Beginne der zweiten Woche
treten die Erscheinungen der acuten Bronchitis in den Vordergrund.
Das Athmen ist in Folge der ausgebreiteten Schwellung der Bronchial -
Schleimhaut erschwert, rauh, scharf und man hört gross- und kleinblasige
Rasselgeräusche. Je stärker die Bronchitis ist, besonders bei reichlichem
Secrete, desto mehr steigert sich die Cyanose, nicht nur im Gesichte,
sondern auch an den Extremitäten; bei Herzschwäche tritt die Cyanose
noch deutlicher zu Tage.
Die Milz ist im Zustande acuter Schwellung und als weicher Milztumor
unter dem Rippenbogen leicht zu fühlen.
Gegen den 10. — 12. Tag der Erkrankung tritt das sogenannte Typhus-
exanthem auf. Es besteht in einer Eruption von kleinen, runden, scharf
begrenzten röthlichen Flecken, die auf Brust, Bauch und Rücken, selten au
den Extremitäten zu erkennen sind. Die Flecke sind selten bis linsengross,
leicht über der Haut erhaben und verschwinden auf Fingerdruck, um als-
bald wieder zu erscheinen. Die Eruption ist meist ziemlich spärlich, doch
können die Flecke zuweilen so zahlreich sein, dass eine Verwechslung mit
Morbillen oder Variola haemorrhagica wohl möglich wäre. Namentlich von
letzterer Erkrankung, wenn ausserdem Nasenbluten, hohes Fieber und starke
Prostration vorhanden ist, ist die Unterscheidung nur durch den weiteren
Verlauf möglich.
In der dritten Woche steigern sich bei Fortbestand aller anderen
Symptome die nervösen und bronchitischen Erscheinungen. Die Somnolenz
nimmt zu, ist besonders des Nachts von furibunden Delirien unterbrochen,
oder die Kinder liegen ganz regungslos mit geschlossenen Augen in der
Rückenlage im Bette, scheinen wohl Fragen zu verstehen, geben aber
hastig nur verworrene, unarticulirte und unverständliche Antworten. In den
Bronchien sammelt sich immer mehr Secret an, und je mehr die feineren
Bronchien betheiligt sind, desto stärker wird die Cyanose und desto b e-
schleunigter wird die insufficiente Respiration.
Der Puls steigt auf 120 — 140, wird schwach, klein und unfühlbar
(Herzschwäche). Die Lippen sind trocken und aufgesprungen, an den Zähnen
legen sich bräunliche trockene Schleimmassen an, die Zunge ist trocken,
eingerissen und blutend.
Unter musitirenden Delirien, Stupor, Tremor und Singultus tritt der
Tod mit den Erscheinungen von Herzlähmung und Ansammlung von reich-
lichem flüssigen Secret in den Bronchien (Oedema pulmonum) ein, oder aber es
kommt in der dritten oder vierten Woche zu einem allmäligen Nachlass,
zunächst des Fiebers, und die einzelnen Symptome verlieren sich nach und nach.
Die Reconvalescenz kann durch Complicationen so verzögert werden, dass
oft 3 — 4 Monate vergehen, ehe sich ein Kind von der Erkrankung und
ihren Folgen erholt.
24 ABDOMINALTYPHUS IM KINDESALTER,
Von den Complicationen sind besonders die entzündlichen
Processe in der Lunge von Wichtigkeit.
Die Bronchitis steigert sich zur Capillärbronchitis mit nach-
folgenden lobulären Infiltraten und Atelectasen, oder aber es kommt zu
croupöser Pleuro-Pneumonie. Diese, sowie die catarrhalischen Infiltrate
können gangränesciren und es entsteht auf diesem Wege eine Pneumo-
pyothorax.
Ery sip elatöse Hauterkrankungen sowie eigentliche Derma-
titiden mit ausgebreiteten Zellgewebsvereiterungen sind ziemlich selten,
werden jedoch auch bei Säuglingen beobachtet.
Die Prognose ist eine ziemlich günstige, da sich der Typhus
im Kindesalter durch seinen abortiven Charakter auszeichnet Sie hängt
hauptsächlich vom Fieber und der begleitenden Bronchialaffection ab. Je
liöher das Fieber und namentlich je grösser die Diff'erenz zwischen der
Morgen- und Abendtemperatur ist, desto ungünstiger ist der Verlauf, da
gewöhnlich Complicationen von Seite der Lunge, Pleura, Endocardium etc.
beobachtet werden.
Die Differentialdiagnose von anderen Erkrankungen, besonders
von den acuten Exanthemen, bietet keine grossen Schwierigkeiten, hingegen
sind manche fieberhafte gastrische Zustände mitunter im Beginne schwer
zu trennen.
Den Typhus im Kindesalter von einer acuten Miliartuherculose zu
unterscheiden, ist wie bei Erwachsenen mit gleichen Schwierigkeiten ver-
bunden, ja, wird dort oft unmöglich. Hingegen ist er selbst im Beginne
von einer beginnenden Basilarmeningitis, Spitzenpneumonie, Rachendiphtherie
und den acuten Exanthemen leicht zu differenziren. Nur bei Variola vera,
besonders bei nicht geimpften Säuglingen ist im Beginne des Fiebers bei
hoher Prostration die Unterscheidung oft schwierig, daher eine genaue In-
spicirung der allgemeinen Decke sehr zu empfehlen ist.
Die Therapie unterscheidet sich nicht wesentlich von der, wie wir
sie bei Erwachsenen in Anwendung bringen, und besteht
1. in Mässigung und Herabsetzung des Fiebers,
2. Erhaltung der vorhandenen Kräfte,
3. Ankämpfung und Erleichterung quälender und gefähr-
licher Symptome, insbesondere der Diarrhoe und der bronchitischen Er-
scheinungen,
4. in Behandlung der Complicationen und Nachkrankheiten.
Die Mässigung des Fiebers erreicht man durch Darreichung mittlerer
Gaben von Chin. sulf. (0*50 — 1-00 pro die) in Pulverform oder Lösung
vor dem Eintritte der Temperaturssteigerung, also in den Nachmittags-
stunden.
Wird das Chinin nicht vertragen, so ersetze man es durch Natron-
salycilicum 2-00, 3*00 ad 120'00 pro die. Antipijrin, Antifehrin, Thaliin etc.
sind zu vermeiden; da sie auf den Verlauf der Krankheit keinen Einfluss
haben und direct herzschwächend wirken, obwohl die antipyretische Wirkung
ohne allen Zweifel ist.
Die Kälte kommt in dreierlei Formen in Anwendung: kalte Um-
schläge (8 — 10") auf den Kopf und Waschungen des ganzen Körpers
(15 — 18°J — in leichteren Fällen vollständig ausreichend, — Ein Wicklungen
in nasse Leintücher (22— 24°) mit Eiskappe auf den Kopf, allmälig ab-
gekühlte Bäder bei älteren lündern.
Kalte Bäder werden von Kindern im Allgemeinen schlecht vertragen,
da bedenkliche Collapserscheinungen und lange andauerndes Frösteln be-
obachtet werden. Nur in schweren Fällen entschliesse man sich hiezu, es
ACCESSORIUSLÄHMUNG. 25
bleibt aber, wie Henoch bemerkt, das erste Bad immer ein Experiment,
von dessen Erfolg es abhängt, ob man es fortsetzen soll oder nicht.
Wenn die Typhusdiarrhoe nicht sehr heftig ist (3 — 5 Stühle), so er-
fordert sie keine specielle Behandlung, nimmt aber bei Collapserscheinungen
die Stuhlanzahl zu, so gebe man grössere Dosen Chin. tann. (1-50 — 2*00
pro die) oder Alumen. cruduni 0-05 mit Pulv. Doveri (0*03 — 0'06 pro dosi)
mehrere Mal im Tage, bei Blutungen Liqu. ferri sesquiclilorati gtt. 10 — 15 ad
100*00 kinderlöffelweise mehrmals des Tages.
Die Bronchitis erfordert eine expectorirende und roborirende Medi-
cation. Bei reichlichem Secrete in den Bronchien ist die Ipecacuanha
zu vermeiden, hingegen sind stärkere Infusa oder Decocte von der Polygala
Senega (4*00 — 8-00 ad 100-00) mit Liqu. ammon. anisat. gtt. 20 zweistündig
ein Kinderlöffel) am Platze. Roborirende Mittel sind die Aetherarten:
10 Tropfen auf 100 g Colatur, Wein, schwarzer Kaffee, Cognac in der
Spitalspraxis, nur schwere Weine, und zwar Malaga, Tokayer, Bor-
deaux, Champagner und Sherry bei grösseren Kindern in der Praxis
privata.
Während des Fiebers verweigern die Kinder meist jede Nahrung
und es genügt, wenn man ihnen etwas gut gesalzene Bouillon und ver-
dünnte Milch mit oder ohne Cognac beibringt. Es ist sehr anzurathen,
öfters des Tages den Mund mit frischem Wasser, dem etwas Franzbrannt-
wein zugesetzt ist, zu reinigen.
In der Reconvalescenz gebe man längere Zeitnur flüssige
Nahrung, bei etwas reizbarem Darme die Liebig'sche Suppe; erst
wenn die Kräfte zunehmen und kein Rückfall mehr zu befürchten ist,
kann man allmälig passirtes Hühnerfleisch, halbgebratenes Rindfleisch und
Kalbfleisch nebst Milch, weichen Eiern und massigen Dosen Rothwein geben.
Wenn auch in der Regel 4 — 5 Wochen zum Ablauf des typhösen
Processes genügen, so lasse man grössere Kinder doch nicht vor der achten
Woche die Schule wieder besuchen. v. hüttenbrenner.
ÄCCeSSOriuslähmung. li^T N. accessorius WilUsU entspringt aus den
obersten Segmenten des Rückenmarks und aus dem verlängerten Marke.
Die aus dem Rückenmarke hervorgehenden Bündel verlassen die graue
Substanz auf dem Wege des Seitenstranges. Sie treten auf der Seitenfläche
des Rückenmarkes aus, ziehen nach aufwärts und vereinigen sich mit den
Wurzelfäden aus der Medulla oblongata zum Accessoriusstamme, der durch
das Foramen jugulare die Schädelhöhle verlässt. Bald nach seinem Aus-
tritte theilt sich dieser in einen äusseren und einen inneren Ast.
Nach der herrschenden Anschauung verlassen im inneren Aste die
Medullafasern wieder den Stamm, während im äusseren Aste die spinalen
Antheile vereinigt sind, welche die Innervation des M. sternocleidomastoldeus
und Cucullaris besorgen. Zur Innervation dieser Muskel tragen jedoch auch
die Cervicalnerven bei. So innervirt in der Regel der Accessorius nur die
obere Portion des Cucullaris.
Die Erkrankungen im Gebiete des Accessorius sind entweder Theil-
erscheinung einer Allgemeinerkrankung im besonderen des Nervensystems
(z. B. multiple Neuritis), oder eines ausgedehnten Degenerationsprocesses im
Centralorgan (z. B. spinale Atrophie, Bulbärparalyse, Syringomyelie [Schmidt]
u. s. w.), oder endlich die Erkrankung ist eine gesonderte des Nerven, ver-
anlasst durch Trauma, Compression oder unbekannter Ursache (spontan).
Die Krankheitserscheinungen werden je nach dem Sitz des
Herdes verschieden sein. So wird eine Erkrankung des äusseren Astes nur
Erscheinungen im Bereiche der genannten beiden Muskel hervorrufen,
26 ACCESSORIUSLAHMÜXG.
während die Laesion des Stammes mit Symptomen von Seite des KeM-
kopfes, Gaumensegels, eventuell auch des Herzens einhergehen kann, zu-
mal der innere Ast Fasern für den N . recurrens, pharyngeus und die IST. cardiaci
führt. Hingegen kann ein centraler Herd nur insoweit Functionsstörungen
herbeiführen, als Ganglienzellen und Nervenfasern in ihren Leistungen be-
einträchtigt werden.
Es werden beobachtet Lähmungen und Krampfzustände.
Die Lähmung kann verursacht werden durch einen centralen Herd
oder durch eine Leitungsunterbrechung im Verlaufe des Nerven, so zum
Beispiel durch Verletzung, durch Druck von Geschwülsten, Knochenab-
scessen etc. oder aber durch eine Entzündung des Nerven, von welcher dieser
Nerv secundär (z. B. nach Meningitis basilaris), aber auch selbständig be-
fallen werden kann, nach lufectionskrankheiten (Typhus, Diphtherie), bei
Tabes, rheumatischer Ursache.
Die Lähmung kann eine einseitige oder eine beiderseitige
sein und den Sternocleidomastoideus allein oder auch Cucullaris betreffen.
Besteht eine einseitige Lähmung des M. sternocleidomastoideus,
so zeigt der Kopf meist eine etwas schiefe Haltung, indem der Kranke
mit leicht erhobenem Kinn nach der kranken Seite sieht. Diese Stellung
tritt besonders hervor, wenn sich Contractur im gesunden gleichnamigen
Muskel einstellt. Die active Beweglichkeit des Kopfes nach hinten und nach
vorne ist erschwert und tritt bei der Bewegung in der letztgenannten
Kichtung besonders, wenn diese Bewegung durch Stützung des Kinns
gehemmt wird, der gesunde Muskel am Hals deutlich hervor. Die passive
Beweglichkeit von vorne nach rückwärts ist nicht gestört. {Caput ohstipum
imrah/ticum.) Im weiteren Verlaufe entwickelt sich Atrophie des erkrankten
neben der schon erwähnten Contractur des gesunden Muskels. (Caput ohsti-
pum spasticum.)
Eine doppelseitige Lähmung des Sternocleidomastoideus findet sich
weit seltener. Der Kopf ist in diesen Fällen in der Medianstellung etwas
nach hinten gesunken. Kommt es zur Atrophie, so erscheint der Hals durch
das Fehlen der beiden Muskelbäuche stark abgemagert.
Ist nur der Cuciülarisziceicj u. zw. einerseits betroffen, so erscheint
gewöhnlich die obere Portion des Muskels gelähmt und zeigt einen con-
caven Piand. Der Kopf wird nach der gesunden Seite geneigt gehalten, das
Schulterblatt der gelähmten Seite steht etwas tiefer und ist mit seiner
oberen Hälfte nach aussen gesunken, während der Schulterblattwinkel an die
Wirbelsäule herangezogen wird. Die Hebung des Schulterblattes, sowie des
Armes über die Schulterhöhe, ebenso die Adduction des Schulterblattes
ist beeinträchtigt. Piücksichtlich der Hebung der Scapula tritt der Levator
scapulae vicariirend in Action. Die Fossa supraclavicularis erscheint vertieft.
Bei beiderseitiger Cucullarislähmung sinkt der Kopf nach vorne und
die Schultern erscheinen in Folge der Stellung der Schulterblätter stärker
gewölbt.
Diese symmetrischen Lähmungen sind bisher fast nur bei basaler Menin-
gitis und nach spinaler Muskelatrophie beobachtet worden.
Sind Sternocleidomastoideus und Cucullaris gleichzeitig gelähmt, so er-
geben sich je nach der Betheiligung der einzelnen Muskeln Mittelstellungen,
In solchen Fällen sind gewöhnlich Vaguserscheinungen zu beobachten
(Heiserkeit, näselnde Sprache, Schlingstörung), da es sich meist um
Laesionen des Stammes handelt. Pulsbeschleunigung als Zeichen der
Affection der N. cardiaci wurde bei doppelseitiger Lähmung gefunden.
(Seeligimüller.)
Die übrigen Symptome sind im wesentlichen abhängig von der Art
ADDISON'SCHE KRANKHEIT. 27
und der Dauer der Erkrankung. So wird man bei einer frischen Neuritis
oft Druckempfindlichkeit des Nerven finden. In frischen Fällen Entartungs-
reaction oder anderweitige qualitative und quantitative Veränderungen der
Erregbarkeit, bei Atrophie aufgehobene elektrische Reaction.
Die Prognose hängt vom Grundleiden ab. Eine spontane Neuritis
oder Lähmungen nach Trauma geben erfahrungsgemäss günstigere Prognose.
Bei centraler Erkrankung ist dieselbe quoad restitutionem fast immer ungünstig.
Die Therapie hat sich gleichfalls an das Grundleiden zu halten.
Obenan wäre zu stellen: Gymnastik und dann elektrische spec, faradische
Behandlung.
In chronischen Fällen tritt, wenn Gymnastik erfolglos geblieben, die
chirurgische Behandlung in ihre Ptechte {Tenotoynie, Myotomie, Stütz-
apparat etc.).
Die Besprechung der Krampf zustände im Innervationsgebiet des
jV. accessorius erfolgt unter „Halsmuskelkrampf". pal.
AddiSOn'SChe Krankheit (Bronze -Krankheit, Melasma suprarenale,
hronzed-sJcin, peau hronce), ein chronisch verlaufender Krankheitsprocess,
welcher klinisch durch bestimmte Symptome von Seite der Haut, des
Nervensystems und des Digestionsapparates charakterisirt ist. So weit
bekannt, endet derselbe immer tödtlich und lässt, wenn er mit keiner
anderen Organerkrankung complicirt ist, nach der Mehrzahl der in
der Literatur mitgetheilten Obductions-Befunde als anatomisches Substrat
eine Erkrankung einer oder beider Nebennieren erkennen.
Die Aetiologie dieser Erkrankung ist umso dunkler, als man über
das Wesen derselben bis heute noch völlig im Unklaren ist. Anamnestisch
findet sich meist ausser ziemlich vagen Angaben, wie vorausgegangenem
Kummer, starken körperlichen Anstrengungen oder Erkältungen, auch
Störungen von Seite des Digestionsapparates, Diätfehler als Ursache des
bestehenden Leidens angegeben. Häufig vermögen die Patienten jedoch
nicht eine bestimmte Schädlichkeit als Ursache des vorhandenen Unwohl-
seins zu nennen, wie sie auch oft nicht in der Lage sind, ein bestimmtes
Datum als den Beginn ihrer Erkrankung zu bezeichnen. Der Arzt bekommt
den Patienten gewöhnlich erst zu einer Zeit zu Gesichte, wo die Sym-
ptome des Leidens schon längere Zeit (Wochen) bestanden haben. Es ergibt
sich daraus, dass auch unsere Kenntnisse über die Symptomatologie
der Frühperiode dieser Krankheit sehr mangelhaft sind. Störungen von
Seite des Magen-Darmcanals scheinen jedoch um diese Zeit das klinische
Bild zu beherrschen. Dieselben treten unter den Erscheinungen einer chroni-
schen Dyspepsie, seltener unter den einer acuten infectiösen Darmer-
krankung auf.
Die subjectiven Beschwerden, welche dem Arzte vorge-
tragen werden, beziehen sich vor Allem auf das schon seit Wochen be-
stehende Unterleibsleiden. Es wird ein Gefühl von Druck oder Schmerz
im Epigastrium, Appetitmangel, zeitweises Erbrechen bei nüchternem
Magen oder kurz nach der Mahlzeit, sowie Unregelmässigkeiten des
Stuhlganges oder Diarrhoen angegeben. Hiezu gesellen sich noch häufig
rheumatoide Schmerzen in verschiedenen Körpertheilen, welche ihren Sitz
oft wechseln. Eine der wichtigsten Erscheinungen, die in diesem Stadium
dem Arzte begegnen kann, ist eine grosse Schwäche und Müdigkeit, über
welche die Patienten klagen und die mit dem noch scheinbar guten Er-
nährungszustand derselben nicht im Einklänge steht. Diese Adynamie hat
sich nach Angabe der Kranken ziemlich gleichzeitig mit der Magen-Darm-
affection entwickelt und wird von ihnen als Etfect derselben bezeichnet.
28 ADDISON'SCHE KRANKHEIT.
Sie kann jedoch auch schon einige Zeit vorher bestanden haben und mit
der Zeit derartige Grade erreichen, dass sie den Patienten, sofern er
der arbeitenden Classe angehört, zum Broderwerbe völlig untauglich macht.
Auch die geistige Arbeitsfcähigkeit leidet meist schon in diesem Stadium.
Es stellt sich Gedächtnissschwäche, Energielosigkeit und Mangel an Inter-
esse an sonst gewohnten Arbeiten ein.
Die objective Untersuchung ergibt in dieser Periode, sofern
ein reiner nicht mit anderweitiger Organerkrankung complicirter Fall vor-
liegt, so gut wie keine Anhaltspunkte für das bestehende Leiden. Lungen-
und Herzbefund, die Harnuntersuchung sowie auch die objective Unter-
suchung des Magen - Darmcanals, soweit dieselbe möglich ist, erweist
scheinbar normale Verhältnisse und nur etwa die Kleinheit und Schwäche
des Pulses verbunden mit der Schwäche der Herztöne kann als einziges
objectives Symptom der vom Patienten angegebenen Aclynamie gelten. Der
relativ gut erhaltene Paniculus und die hiezu contrastirende Schwäche
kann vielleicht den Verdacht auf das Bestehen einer Blutanomalie, als
Leukaemie, perniciöse Anaemie u. a. erwecken, doch erweist eine Unter-
suchung des Blutes auf Zahl und Färbekraft seiner zelligen Elemente
meist normale oder annähernd normale Verhältnisse. Diese Untersuchungs-
resultate werden auch in der Hand eines erfahrenen Arztes nicht zur Er-
kenntniss der vorliegenden Krankheit führen können, sofern es ihm nicht
gelingt, den Beginn einer pathologischen Pigmentirung am
Patienten nachzuweisen. Dieselbe beginnt entweder fieckenweise über den
ganzen Körper verstreut, was der seltenere Fall ist, oder diffus auf ver-
schiedene Körperstellen beschränkt. Meist sind es die dem Tageslicht
ausgesetzten Körperpartien, welche sich zuerst zu bräunen beginnen oder
diejenigen Hautstellen, welche entweder schon physiologisch ein Plus an
Pigment aufweisen, wie das Scrotum und Perineum, oder solche, die zwar
von Kleidungsstücken bedeckt sind, welchen diese jedoch besonders innig
anliegen. Bei Frauen ist dies besonders die Taille, bei Männern u, A. die
Schultern. Nicht nur, dass diese Körperstellen dunkler als normal er-
scheinen, so gewinnen sie noch mitunter recht zeitlich ein eigenthümliches
stahl- oder rauchgraues Aussehen. Seltener ist eine gelbliche Nuance des
pathologischen Pigmentes, was unter Umständen besonders zu Beginn der
Krankheit zu Verwechslungen mit cholaemischen oder Urobilin-Icterus
führen kann. Das Freibleiben der Sclerae, sowie der Umstand, dass die
abnorme Pigmentirung nicht am ganzen Körper nachweisbar ist, wird neben
der Harnuntersuchung für die Differentialdiagnose massgebend sein. Ueber-
haupt pflegt der Harn solcher Patienten, sofern es sich nicht um Compli-
cationen handelt, keinerlei pathologischen Befund zu ergeben. Die Bräunung
der Haut geht örtlich meist allmählich in die normalen Verhältnisse der
Pigmentirung über und weicht dem Fingerdrucke nicht. In seltenen Fällen
besteht neben ihr an anderen Körperstellen Pigmentschwund (Vitiligo).
Sonst hat die Haut häufig eine spröde rauhe Beschaffenheit, lässt sich
gut in Falten aufheben, ist schlecht geölt, wie man dies auch bei sonst
cachektischen Individuen mitunter findet. Mit der weiteren Entwicklung
des Processes nimmt die Adynamie und die pathologische Pigmentirung
an Ausbreitung und Intensität zu. Die Haut des Patienten gewinnt
mit der Zeit das Aussehen der eines Negers und besonders sind es gewisse
Hautpartien, wie der Nacken, Hals und Parotidenregion, welche einen
völlig blau- schwarzen Farbenton anzunehmen pflegen. Einzelne Körper-
stellen, wie die Handteller, Fingernägel, die Fusssohlen sowie die Con-
junctivae und Sclerae bleiben erfahrungsgemäss von der Pigmentirung ver-
schont, wie sie auch bei den gefärbten Menschenrassen ungefärbt gefunden
ADDISON'SCHE KRANKHEIT. 29
werden. Bei schon stark entwickelter Pigmentablageriing in der Haut lässt
sich auch eine solche an den Schleimhäuten nachweisen. Besonders sind
es die Lippen, das Zahnfleisch, der Gaumen und die Wangenschleimhaut,
an denen- fleckenweise Pigment auftritt. Speciell an der Wangenschleimhaut
lässt es sich häufig beobachten, dass die Pigmentflecke am freien Rande
besonders schadhafter Zähne oder Zahnwurzeln gegenübergestellt sind.
Die erwähnten Beschwerden, Appetitlosigkeit, Diarrhoen und Körperschwäche
nehmen meist progressiv mit der Hautfärbung zu. Es gesellen sich zu
diesen Erscheinungen noch Kopfschmerz, Schlaflosigkeit, Schwindelanfälle,
Ohnmächten, Delirien und comatöse Zustände. Ausser diesen Lähmungs-
erscheinungen von Seite des Centralnervensystems können jedoch
auch Reizerscheinungen desselben beobachtet werden. So spontane
Zuckungen in einzelnen Nervengebieten (facialis) oder Extremitäten, welche
auf eine Seite beschränkt oder auch auf beiden auftreten können und
nach In- und Extensität bis zur Höhe eines scheinbar echten epileptischen
Anfalls gedeihen können. Immerhin scheint dies jedoch relativ selten vorzu-
kommen. Auch über das Auftreten von Sensibilitäts-Störungen wird be-
richtet, doch ist hiezu zu bemerken, dass solche auch durch die Apathie
der Patienten vorgetäuscht werden können. Der Exitus kann, und dies ist
wohl der seltenere Fall, ohne Hinzutritt einer weiteren Complication ein-
fach in Folge der bestehenden hochgi-adigen Schwäche erfolgen. Meistens
jedoch erliegen die Patienten einem an und für sich relativ unbedeutenden
Accidens, wie einer Bronchitis u. ä., sofern es sich um uncomplicirte reine
Fälle handelt. In der Mehrzahl besteht jedoch neben der AoDisoN'schen
Krankheit noch eine Organerkrankung durch Tuberculose oder maligne
Tumoren, welcher Umstand selbstredend das klinische Bild sehr beein-
flussen und auch mit für den Eintritt des Exitus verantwortlich gemacht
werden muss.
Der pathologisch -anatomische Befund erweist, sofern keine
Complicationen durch anderweitige Organerkrankungen vorliegen, von auf
die ADDisoN'sche Krankheit zu beziehenden Veränderungen vor Allem
meist eine Nebennieren-Erkrankung. Dieselbe besteht gewöhnlich in
Tuberculose, seltener in primären oder secundären Neoplasmen dieses
Organes. Unter 370 Fällen kounte Lewin dieses gleichzeitige Zusammen-
treffen in 285 derselben nachweisen. In den anderen 85 Fällen fehlte
jedoch eine Nebennieren-Erkrankung. Der chronisch entzündlich oder neo-
plastische Tumor übt häufig auf die zunächst gelegenen Gewebe, speciell
das Ganglion semilunare und den Sympathicus einen Einfluss aus. So lässt
sich häufig eine durch Compression oder fortgeleitete chronische Ent-
zündung verursachte Degeneration nicht nur der sympathischen Nerven-
fasern, sondern auch der Ganglien des Sympathicus nachweisen. In
einigen Fällen war dieselbe auch mit einer Degeneration der markhaltigen
Fasern des Vagus, sowie auch der vorderen Wurzeln des Rückenmarkes
combinirt. Dieser Befund, speciell die Veränderungen der Ganglien des
Bauchsympathicus ist jedoch, abgesehen von jenen Fälleu, bei welchen nicht
speciell darauf geachtet wurde, keine constante Erscheinung, (v. Kahlden.)
Es finden sich auch Fälle in der Literatur verzeichnet, bei welchen sich
trotz ausgesprochener Bronce-Haut und trotzdem genau auf diese Ver-
hältnisse geachtet wurde, der Befund an den Ganglien doch völlig normal
war. An den übrigen Organen lässt sich, sofern eben keine Complicationen
vorliegen, nichts für die AoDisoN'sche Krankheit Charakteristisches ent-
decken. Magen und Darmcanal zeigen mitunter auf ihrer Schleimhaut
einige frische oder ältere Ecchymosen, doch zählt auch dieser Befund
nicht zu den constanten.
30 ADDISON'SCHE KRANKHEIT.
Die histologischen Veränderungen der Haut verdienen besonders erwähnt zu
werden. Sie stellen, soweit bekannt, nur eine rein quantitative Steigerung der schon
unter physiologischen Bedingungen an einigen Körporstellen bestehenden Pigmentab-
lagerungen vor. Ebenso wie bei Individuen der weissen Race schon normalerweise
Pigmentkörnchen im untersten Theile des Rete Malpighi, dem Papillarkörper unmittelbar
aufsitzend, gefunden werden und diese bei normalen Individuen der gefärbten Racen wie
aach an gewissen Hautpartien der Weissen, wie der linea alba der Schwängern oder am
Scrotum vermehrt sind, so ergibt auch die histologische Untersuchung einer Bronze-
Haut einen Befund, welcher von dem einer normalen iVegerhaut oder einer pathologisch
pigmentirten Haut anders Cachektischer (Tuberculose, Carcinom) durchaus nicht zu
unterscheiden ist. (Nothnagel.) Wenn es auch durch die Ferrocyankalium-Salzsäure-
Reaction nicht möglich ist, Eisen in diesem Pigmente nachzuweisen (Peels), se neigt
die allgemeine Anschauung doch jetzt dahin, in diesem Pigmente, wie auch in den
meisten anderen des meuschlichen und thierischen Körpers nicht einen autochton ent-
standenen Farbkörper, sondern einen Abkömmling des Blutfarbstoffes zu sehen, lieber
die Art und Weise des Zustandekommens dieser Pigmentablagerung herrscht allerdings
noch völlige Dunkelheit. Sie auf eine sogenannte specifische Anaemie (Ateebeck) oder
multiple Haemorrhagien (Riehl) zurückzuführen, wie dies versucht wurde, geht nicht
an, weil beide meist nicht nachweisbar sind. Das gleiche gilt auch von der Pigmentation
der Schleimhäute.
Versucht man es nunmehr, sich auf Grund der angeführten klinischen
und anatomischen Thatsachen eine Vorstelkmg über das Wesen der in
Rede stehenden Krankheit zu machen, so bedarf vor Allem die Frage,
welche Momente die Bezeichnung eines Falles als ÄDDisoN'sche Krankheit
rechtfertigen, der Erledigung. Ist es das geschilderte Symptomenbild, ins-
besondere die Verfärbung der Haut, oder das Bestehen einer Nebennieren-
oder Sympathicus-Erkrankung, oder erst beide zusammen, welche den
Morbus Addisoni ausmachen? Im Sinne der alten Auffassung Addison's ist
die Nebennieren- (oder Sympathicus-Affection) die Ursache des bestehenden
Symptomen-Complexes. Wenn wir jedoch in der Literatur auf Fälle stossen,
welche einerseits Nebeimieren-Affectionen ohne Bronzehaut, andererseits
das klinische Bild des Morbus Addisoni gezeigt haben sollen, ohne dass
eine Nebennieren- oder Sympathicus-Affection post mortem nachgewiesen
Averden konnte (85 Fälle), so müssen wir die letzteren entweder als
diagnostische Irrthümer bezeichnen, sofern vdr eben in der ADDisoN'schen
Krankheit eine Nebennieren-Affection sehen, oder wir müssen zugeben,
dass das in Rede stehende Krankheitsbild auch durch andere noch völlig
unbekannte Momente erzeugt werden kann. Auch betreffs der ersteren
(44 Fälle), sowie derjenigen, bei welchen ein congenitaler Nebennieren-
Defect bestand, müssen wir dann annehmen, dass die Zerstörung der
Nebennieren für sich allein nicht genügt, um das besprochene Symptomen-
bild zu erzeugen, oder dass, wie ja auch angenommen wurde (Hutchinson),
die Patienten früher gestorben sind, ehe die abnorme Pigmentirung der
Haut sich entwickeln konnte Neuere experimentelle Untersuchungen jedoch
scheinen darzuthun, dass die von Addison vermutheten Beziehungen
zwischen Nebennieren- und Bronze-Krankheit thatsächlich bestehen, und
dass vielleicht die obenerwähnten 85 Fälle wirklich Verwechslungen mit
anderen schweren Cachexien darstellen, welche ja, wie erwähnt, mitunter aus
ebenso unklaren Gründen, zur Pigmentablagerung in der Haut führen können.
TizzoNi's Versuche, welcher Kaninchen die Nebennieren zerquetschte und sie
bis 2^/4 Jahr lang hierauf noch am Leben erhielt, ergaben in einzelnen Fällen nicht
nur pathologische Pigmentationen, sondern auch multiple Degenerationen im Rückenmark,
wie sie seither ähnlich auch bei Morbus Addisoni beschrieben wurden. Jacobi fand,
dass die Nebenniere einen Hemmungsapparat für die Darmbewegung enthält, und erklärt
so die profusen Diarrhoen bei Ausfall dieser Organe. Trotzdem also diese experimentell
gewonnenen Thatsachen schlagend dafür zu sprechen scheinen, dass die Auffassung
Addisok's betreffs des ursächlichen Zusammenhanges des nach ihm benannten Sym-
ptomen-Complexes richtig ist, so entbehren wir, abgesehen von den oben erwähnten
statistischen Widersprüchen bis heute völlig des Verständnisses, wie wenigstens das
Hauptsymptom dieser Affection, die Bronzehaut, zu Stande kommt. Das« nervöse Ein-
AGRYPNIE. 31
•flüsse hier im Spiele sind, erscheint wahrscheinlich. Ein neues Moment, welches die
theoretische Auffassung in völlig andere, früher schon einmal betretene, dann wieder
verlassene Bahnen zu drängen scheint, wurde kürzlich von Tschirkoff erbracht.
Dieser vermochte bei 2 an Morbus Addisoni leidenden Individuen im Blute Methämoglobin
nachzuweisen. Wir werden dadurch an eine alte längst vergessene Hypothese Bko^vx-
SEQXJAKD'S erinnert, welcher den Nebennieren die Function zuschrieb, das im Körper
normalerweise gebildete Pigment in eine farblose Verbindung zu verwandeln. Wenn wir
auch heute keinen Grund haben, dieselbe wieder aufzunehmen, so sei hier nur erwähnt,
dass Methämoglobin in die Blutgefässe eines gesunden Thierkörpers gebracht, rasch
aus dem Blute verschwindet, so dass, falls es sich in den Fällen TscHiii.K;orF's that-
sächlich um diesen Körper gehandelt hat und es gestattet ist vom Thiere auf den
Menschen zu schliessen, diese Befunde jedenfalls eine schwere Störung des Stoffwechsels
wahrscheinlich machen. Es ist hier nicht der Ort, sich in weitere theoretische Ueber-
legungen über die eventuelle Genese des Methämoglobins, ob hievon abnorm viel gebildet
oder zu wenig zerstört wird, einzulassen. Dem Praktiker liegen ohnedies derartige Fragen
viel zu ferne. Für ihn wird vorläufig das Festhalten an der alten Lehre Addisox's, dass
das geschilderte Symptomenbild mit einem Functionsaus f a 1 1 der in ihrer
Bedeutuug für den Stoffwechsel bis jetzt grösstentheils noch räthselhaften Nebennieren
verbunden ist, genügen.
Die Therapie dieser Erkrankung ist völlig aussichtslos. Sie wird vor
Allem tonisirend sein müssen, und rein symptomatisch die bestehenden
Beschwerden von Seite des Magen-Darmcanals, sowie die rheumatischen und
neuralgischen Schmerzen zu berücksichtigen haben. v. limbeck.
Agrypnie, Schlaflosigkeit, nennt der ärztliche Sprachgebrauch
alle Störungen jener beim völlig gesunden Menschen unter regulären Ver-
hältnissen periodisch wiederkehrenden und gleichmässig dauernden Er-
scheinung des Schlafes. Die im Schlafe stattfindende beträchtliche Abnahme
aller Thätigkeiten des Gehirns mit Aufhebung des Bewusstseins und der
willkürlichen Muskelbewegung, Herabsetzung der Herz-, Athmungs-, Secretions-
Arbeit und des Stoffwechsels kann quantitativ und qualitativ verändert
werden. Quantitative Störungen äussern sich in Veränderung der Dauer und
der Tiefe des Schlafes von kurzen Unterbrechungen bis zu völligem Mangel
in allen möglichen Uebergängen. Qualitative Veränderungen des Schlafes
zeigen sich in dem Fortbestehen mancher Thätigkeiten, während andere
aufgehoben sein können. Diese partielle Schlaflosigkeit verdient
in der Praxis besondere Würdigung. Es kann Jemand alle Viertelstunden
schlagen hören und doch ruht, abgesehen von den kurzen Unterbrechungen
durch Sinneseindrücke, seine geistige Thätigkeit und seine Muskulatur
(Halbschlaf). Oder es wälzt sich ein Anderer in schweren Träumen fort-
während auf seinem Lager, ohne dass er dabei durch äussere Reize leicht
zu erwecken ist. Ueberhaupt ist der Begriff der Schlaflosigkeit, mag es
sich um quantitative oder qualitative Störungen handeln, selbstverständlich
stets ein re 1 a ti V e r. Ein junger, kräftiger Mann, der gewohnt ist, nach reich-
licher Bewegung im Freien acht Stunden traumlos zu schlafen, beklagt sich
schwer, wenn er Nachts eine Stunde schlaflos ist, während ein älterer reiz-
barer Stubengelehrter mit einem solchen Quantum Schlaf immer noch
mehr als zufrieden sein würde. Neigung zu Uebertreibungen ist bei den
Klagen über Agrypnie an der Tagesordnung, insbesondere in den oben-
erwähnten Fällen von partieller Schlaflosigkeit. Totale und absolute Agrypnie
von längerer Dauer scheint nur äusserst selten vorzukommen. Sie würde
jedenfalls bald das Leben ernstlich gefährden. In leichten wie schweren
Graden ist die Schlaflosigkeit ein überaus häufiges, dabei mindestens recht
unangenehmes, oft aber geradezu nachtheiliges Symptom, welches nicht
selten so in den Vordergrund tritt, dass es fast den Werth einer eigenen
Krankheit erhält. Es kann fast alle Erkrankungen begleiten. Ja selbst solche,
die mit schlafähnlichen, betäubungsartigen Zuständen regelmässig einher-
gehen (Apoplexie, uraemische%, diabetisches Coma u. A.), sind thatsächlich ge-
32 AGRYPNIE.
wohnlich mit jener erwähnten, partiellen Agrypnie verknüpft und durch die-
selbe von dem natürlichen Schlaf unterschieden. Trotzdem in der Regel
die Aufliebung des Bewusstseins ausgesprochen vorhanden ist, zeigt uns in
dem einen Fall die vorhandene Muskelunruhe (Jactation etc.), in dem
andern das Delirium, in dem dritten die gesteigerte Athemthätigkeit u. s. f.,
dass von einem wirklichen Schlaf keine Rede ist.
Ursachen der Agrypnie. Dass der Schlaf sowohl durch äussere
Einwirkungen (Sinneseindrücke) als durch inn e r e Ursachen u. zw. psychische
wie körperliche, gestört werden kann, ist bekannt. Angestrengte geistige
Thätigkeit, lebhafte Sinneserregungen, sei es in der Arbeit, sei es im Ge-
nuss, heftige Gemüthsbewegungen (Sorge, Trauer, Freude, Furcht), versetzen,
zumal kurz vor der Schlafenszeit, auch unter sonst normalen Verhältnissen
das Gehirn in eine anhaltende Erregung. Fortsetzung des angestrengten
Denkens, Nachempfindung des Erlebten, Nachbilder des Wahrgenommenen,
unausgesetzte Beschäftigung mit dem, was das Gemüthsleben aus dem
Gleichgewicht gebracht hat, verscheuchen den Schlaf auch des Gesunden.
In viel höherem Grade wirken diese Ursachen bei den neuropathisch ver-
anlagten Naturen (sog. Nervösen, Neurasthenischen) und den eigentlichen
Nervenkranken. In analoger Weise, wenn auch nicht von aussen, sondern
gewissermassen von innen her, veranlasst durch dauernde gewebliche und
functionelle Störungen der Hirnrinde, verursachen ähnliche Erregungen die
Agrypnie bei den Geisteskranken in Form von Wahn- und Zwangsvorstellungen,
Hallucinationen etc. Hier finden wir die Uebergänge von den psychischen
zu den körperlichen Ursachen der Agrypnie. Diese können in Kranheiten
des Gehirns selbst liegen (Entzündungen, Circulationshindernisse) oder in
Veränderungen der Hirnernährung (durch allgemeine Ernährungsstörungen,
Herzkrankheiten z. B.). Dann haben wir die Einwirkung von Giften auf
das Cerebrum. Hier kommen die von aussen als Genussmittel eingeführten
in Betracht (Thee, Kaffee, alkoholische Getränke, Nicotin), noch mehr
aber die im Körper besonders bei fieberhaften Krankheiten sich bildenden
schädlichen Stoffe (theils bekannte, Ptomaine, grösstentheils hypothetische
Stoffwechselproducte verschiedenster Art). Auch die Entbehrung gewohnter
Gifte macht schwere Agrypnie (Abstinenzerscheinung bei Morphinisten,
Alkoholisten etc.). Selbstverständlich sind alle abnormen Vorgänge an der
Peripherie des Nervensystems ausserordentlich geeignet, den Schlaf zu
stören. Dabei können die sensiblen Nerven als solche an irgend einer
Stelle ihres Verlaufs direct von dem krankmachenden Agens getroffen und
erregt werden, und wir finden von leichten Paraesthesien, wie Kriebeln,^
Jucken, Kälte und Hitzegefühl, bis zu den heftigsten Schmerzen bei Ent-
zündungsprocessen, Koliken und Neuralgien alle Grade als Ursache der
Agrypnie. Oder es vermitteln die sensiblen Nerven die Empfindung von ab-
normen motorischen Vorgängen, beispielsweise von Krämpfen, Herzklopfen,
erhöhter Darmperistaltik. Ferner sind es reflectorische, krampfartige Er-
scheinungen, vor allem der Husten, Singultus, Waden- u. Blasenkrämpfe u. A.,
welche den Schlaf beeinträchtigen. Endlich sind von grosser Bedeutung
die unangenehmen, nicht näher zu definirenden Gefühle, wie die der Athem-
noth, der Angst, des Vollseins im Leib, des Schwitzens u. A.
Behandlung de r Agrypnie. Eine ursächliche Behandlung ist in
erster Linie stets anzustreben. Vor dem Schlendrian, bei Schlaflosigkeit gleich
ein Schlafmittel zu verordnen, kann nicht eindringlich genug gewarnt werden. Die
ganze causale Therapie der Agrypnie braucht natürlich nicht aufgeführt w^erden;
einige Beispiele genügen. Die Agrypnie in Folge von Athemnoth, Palpitationen^
Husten, welche die He rzmusk elinsuff icienz, sei es aus welcher Ur-
sache sie wolle, so häufig begleitet, wird durch Digitalis oft prompt be-
AGRYPNIE. 33
seitigt. Stört das Fieber in erster Linie den Schlaf, so schafft ein
protrahirtes oder kühles Bad oder ein Antifebrile {Antipyrin, AcetaniUd,
PhenocoU) nicht selten auf einige Stunden die ersehnte Ruhe, Sind, wie sehr
häufig der Fall, Verstopfung mit Auftreibung und dem Gefühl des Vollseins
und Unruhe im Leib die Ursachen der Agrypnie, so ist die Beseitigung dieser
Störung mit den verschiedenen Mitteln zu versuchen, eventuell eine Irrigation
des Darms am Abend von eclatantem Nutzen. Sind heftige Schmerzen der
Grund der Agrypnie und kann man dieselben durch Entfernung ihrer Ur-
sache (z. B. durch Chinin bei Malarianeuralgie en, durch chirurgische Ein-
griffe bei Eiterungen) absolut nicht beseitigen, so sind das Opium uuil
seine Alkaloide, insbesondere Morphin, die einzigen erfolgreichen Schlaf-
mittel, welche man aber schliesslich doch nur nach vergeblichen Versuchen
mit ungefährlicheren Anaestheticis als ultimum refugium verwenden soll.
Dass man dem überangestrengten Gelehrten geistige Ruhe, insbesondere
Enthaltung von der Arbeit in den Abendstunden, dem Leidenschaftlichen
ein einförmiges Leben, dem Traurigen Zerstreuung empfehlen wird, ist
selbstverständlich. Gründlich helfen bei dieser Agrypnie der „Nervösen"
gewöhnlich nur gründliche Massregeln. Dahin gehören vollständige Ent-
fernung aus der gewohnten Umgebung, Aufenthalt im Freien, das richtige
Mass von Bewegung (da übermässige Körperanstrengung oft die Agrypnie
erhöht), kräftige Ernährung, frühzeitiges Abendessen, Ordnung der Ver-
dauung, zweckmässige Hydrotherapie. Von besonderer Wichtigkeit ist die
Hygiene des Schlafzimmers : ruhige Lage, Geräumigkeit, Lüftung, eventuell
Offenlassen des Fensters, kühle Temperatur, bequemes Rosshaarbett, leichte
Bedeckung. Dass bei vielen Formen der Agrypnie, inbesondere bei zahl-
reichen, schweren körperlichen Erkrankungen sowohl als Psychosen die
causale Indication unerfüllbar ist, muss leider zugegeben werden. Da bleibt
nur die sympto matische Therapie. Man versuche erst die unschädlichen
phy sik ali sehen Beruhigungsmittel. Dahin gehören elektrische Pro-
ceduren (Anwendung des faradischen Pinsels auf die Haut, Galvanisation, am
Kopf u. A.), Senffussbäder oder vor allen Dingen 26 — 28<' R. warme Voll-
bäder am Abend von langer, bis einstündiger Dauer. Bei Anwendung der
hypnotischen Arzneimittel, welche die abnorme Erregung der
Hirnrinde beseitigen sollen, bedenke man auch bei einmaliger Verordnung
stets, dass sie nicht nur die Erregung, sondern in erheblichen Dosen auch
die Erregbarkeit des Rindengebietes und eventuell auch diejenigen
lebenswichtiger Gehimtheile, vor allen der Medulla, herabsetzen können.
Und gar bei fortgesetztem Gebrauch behalte man stets im Auge, dass dauernde
Schädigung des Gehirns resultiren kann, besonders bei den Mitteln, von denen
die „Gewöhnung" des Organismus steigende Dosen verlangt. Von diesen Ge-
sichtspunkten aus sind die Alkaloide, zumal das Morphin als gefährliches
Schlafmittel zu fürchten. Da Morphin meist nur unerquicklichen Schlaf
macht, dabei aber öfters unangenehme Neben- und Nachwirkungen hat
(Jucken, Hautausschläge, Verstopfung, Katzenjammer), so beschränkt man
seine (gewöhnlich subcutane) Anwendung auf sonst nicht zu beseitigende, stark
schmerzhafte Zustände, sowie auf den erfahrungsgemäss erfolgreichen Ge-
brauch im Alkoholdelirium. Eventuell kann man versuchen, das Morphin
durch das weniger schädliche, aber auch weniger wirkende Codem (C. phos-
phoricum) zu ersetzen. Grosse Vorsicht erfordert wegen der sehr verschiedeneu
individuellen Empfindlichkeit das stark giftige Alkaloid, Hyoscin, welches
daher nur bei sonst nicht zu beruhigenden Geisteskranken, da aber oft mit sehr
gutem Erfolg gegeben werden kann. Von den einfacher zusammengesetzten
Arzueisubstanzen der fetten Reihe sind viele als Hypnotica empfohlen worden.
In manchen Fällen leichter Agrypnie kann man den gewöhnlichen Alkohol,
Bilil. med. Wissenschaften. I. Innere Medicin und Kinderkrankheiten. -3
34 ALBUMINURIE. '
vor Allem in Form des Bieres, benützen, so z. B. bei Anaemischen, Recon-
valescenten, Gewohnheitsbiertrinkern. Gewöhnlich ist derselbe freilich eher
contraindicirt. Der tertiaere Amylalkohol dagegen, das Ämt/lenhydrat, ist
ein bemerkenswerthes Schlafmittel, zu 2, 0 — 5, 0 in der Mehrzahl der Fälle,
besonders bei Nervösen und manchen Geisteskranken gewöhnlich ohne lästige
oder gar gefährliche Nebenerscheinungen wirksam, doch M^ohl hauptsächlich
wegen der durch den brennenden Geschmack erschwerten Darreichung
(Gelatine-Kapsel) weniger beliebt. Dieselben Gründe widerstreben auch der
allgemeinen Anwendung des ParaMehyds, welches noch mehr als das Vorige
eine ziemlich zuverlässige, angenehme, von wirklichen Nachtheilen fast freie
Schlafwirkung hervorbringt und ebenso wie jenes bei zweckmässiger Darreichung
nicht die Gefahren chronischer Intoxication und Gewöhnung in sich birgt. Diesen
neueren Mitteln gegenüber ist das Chlor alhydrat als bequemes, angenehm
und vor allen Dingen sicher wirkendes Hypnoticum bereits seit langer Zeit
allgemein eingeführt. Bei sehr vorsichtiger Anwendung mit Recht. Doch
muss auf die Gefahren, einerseits einer acuten Schädigung des Respirations-
und Circulationscentrums (insbesondere bei Herzkranken, Geschwächten,
Fiebernden), anderseits der chronischen Intoxication, sehr eindringlich auf-
merksam gemacht werden. Fast will es scheinen, als ob das dem Chloral
verwandte Chloralformamid bei etwas schwächerer hypnotischer Wirksamkeit
(im Verhältniss von etwa 3 : 4) eine wesentlich geringere Gefährlichkeit be-
sässe. Doch ist es immer schwierig, ein Mittel, welches man nur wenige
Jahre kennt, mit einem seit Jahrzehnten verwendeten exact zu vergleichen.
Denselben Vorbehalt muss man auch bezüglich des Sulfonals machen. Doch
kann man schon jetzt sagen, dass dieses eines der bequemsten, wirksamsten
und dabei unschädlichsten der modernen Hypnotica ist. Um raschen Eintritt
des Schlafes zu erzielen und zu lange Nachwirkung, resp. cumulirende Wir-
kung zu verhüten, muss man das schwerlösliche Mittel feinst gepulvert mit
viel warmer, womöglich akoholischer Flüssigkeit nehmen und nicht täglich
fortgebrauchen lassen. Trional und Tetronal sind ebensogut, ersteres ist
wegen leichterer Löslichkeit vielleicht sogar besser als Sulfonal. Die Milch-
säure, deren Anhäufung im Körper eine hypothetische Vorstellung als Ursache
des natürlichen Schlafes bezeichnete, hat sich in der Praxis nicht bewährt.
Als entbehrlich dürfen vorläufig von den neueren Schlafmitteln bezeichnet
werden : das Methylal, das Urethan, das Acetophenon oder Hypnon, das Chloral-
anüpyrm oder Hypnal und manche andere Verbindungen und Compositionen.
Wegen Unberechenbarkeit der Wirkung als direct gefährlich anzusehen sind
aber die Caw«a&?'s-Präparate. Keine eigentlichen Hypnotica sind die Bromsalze.
Doch schaffen dieselben günstige Bedingungen für den Eintritt des Schlafes.
Diese Bedingungen herzustellen, aber wenn möglich durcli Beseitigung der
Ursachen oder geeignete physikalische, hygienische oder diätetische Mass-
regeln, muss überhaupt bei der Behandlung der Agrypnie immer in erster
Linie unser Bestreben sein. Erst nach Erschöpfung aller dieser Mittel ist
es, wenn der Zustand des Kranken es dringend fordert, unter den bei An-
wendung giftiger Stoffe nöthigen Cautelen erlaubt, mit Hilfe betäubender
Medicamente den Schlaf zu erzwingen. penzoldt.
Albumin urie. Unter Albuminurie versteht man das Vorkommen
eines durch Hitze gerinnbaren oder durch Neutralisirung fällbaren Eiweiss-
körpers im Harne.
Die Albuminurie ist ein häufig vorkommendes Symptom nicht nur bei
localen, primären Erkrankungen des Nierenparenchyms, sondern auch bei
zahlreichen Allgemein erkrankungen; zuweilen kommt sie auch bei ganz ge-
sunden Individuen vor.
ALBUMINURIE. 35
Das Eiweiss findet sich im Harne in zwei Formen: als gelöstes und
ungelöstes Ei\Yeiss.
Im gelösten Zustande findet man im Harne verschiedene Eiweiss-
körper: Serumalhumin, Globulin, Pepton, Propepton (Älbiimose), Nucleo-
albumin und Mucin. Ungelöstes Albumin zeigt sich als Fibringerinnsel
in makroskopisch wahrnehmbaren Flocken und in mikroskopisch nachweis-
baren Harncylindern. Diese stellen cylindrische Gebilde dar, die als Ab-
güsse von Harnkanälchen angesehen werden können. Von den gelösten Al-
buminkörpern hat die grösste Bedeutung und Wichtigkeit das Serumalhimin;
zum Nachweise desselben dienen vorzüglich drei Proben.
1. Die Kochprobe: Der filtrirte Harn wird in einer bis zum Drittel
gefüllten Eprouvette zum Sieden erhitzt; hierauf mrd demselben verdünnte
Salpetersäure hinzugefügt. Entsteht beim Kochen des Harnes ein Nieder-
schlag, der nach Säurezusatz bleibt oder sich noch vermehrt, dann ist Al-
bumen vorhanden.
2. Salpetersäureprobe: Ein Liqueurglas mit abgerundetem, nicht
spitz zulaufenden Boden von 20 ccm Inhalt wird mit dem zu untersuchenden
klaren Harn zur Hälfte gefüllt und mit dem halben Volumen reiner Salpeter-
säure unterschichtet. An der Berührungsstelle zwischen Harn und Säure tritt
ein schmaler Farbstoffring auf und unmittelbar demselben aufliegend ein
weisses, nach oben unduntenscharf abgegrenztes Band von coagulirtem Albumin.
Diese Probe kann auch zu approximativer Schätzung des Eiweissge-
haltes im Harne verwerthet werden. Scheidet sich nämlich das Albumin in
der Weise aus, dass die Albuminzone zart und schwach weisslich gefärbt,
beinahe durchscheinend und nur auf einem dunklen Hintergrunde als
deutlich abgegrenztes Band erkennbar ist, dann ist Eiweiss in geringer
Menge (höchstens VioVo) vorhanden. Erscheint diese Zone als schneeweisses
undurchsichtiges Band, welches bei genauerer Betrachtung aus Molekülen
in Form von Körnchen besteht, dann ist i/^^/o Albumin; sind grössere Flocken
entstanden, V2''/o- Rei membranöser Fällung des Eiweisses sind grosse
Mengen Albumins vorhanden, also zwischen 1 — 57e.
3. Die Probe mit Essigsäure und Ferrocyankalium. Der klare
oder durch Kieseiguhr oder durch Centrifugiren geklärte Harn wird mit gleicher
Menge Essigsäure gemengt und mit 1 — 2 Tropfen einer IQO/oigen Ferro-
cyankaliumlösung versetzt. Bei Gegenwart von Albumin entsteht sofort
eine wolkige Trübung, die sich beim Umschütteln noch vermehrt. Immer
ist es zu empfehlen, sich wegen etwaiger Fehlerquellen nicht mit einer
einzigen Probe zu begnügen; bei grösserem Eiweissgehalte soll man stets
die Kochprobe und die Salpetersäureprobe machen. Bei sehr geringen
Mengen Albumin ist die sehr empfindliche Ferro cyankaliumprobe vorzuziehen.
In neuester Zeit wurde von Spiegler eine sehr empfindliche Probe
angegeben, die die Ferrocyankaliumprobe bei Weitem übertrifft. Der
mit Essigsäure behufs Ausfällung des Mucins versetzte Harn wird durch
eine Pipette in eine mit dem Reagens zur Hälfte gefüllte Eprouvette an
der Wand Tropfen für Tropfen ganz langsam zugelassen, so dass beide
Flüssigkeiten übereinander stehen. Bei Gegenwart von Eiweiss bildet sich
an den Berührungsstellen der beiden Schichten sofort ein scharf abge-
grenzter Ring von weisser Farbe. Das Reagens hat folgende Zusammen-
setzung: T» TT J 1 . ,.1 r. ^^
° Rp. Hydrarg. Dichlor, corros. 8'00
Acid tartar. 4 00
Aq. destill. 200-00
Glycerin. 20.00
D. S. Reagens.
Bei Harnen, welche Jod enthalten, ist diese Reaction nicht anwendbar.
3*
36 ALBUMINURIE.
Wichtig ist die Frage, woher das im Harne vorhandene Albumin
stammt. Man hat zu unterscheiden eine tvahre, renale^ nephrogene, aus der
Mere selbst stammende und eine falsche, accidentelle Albuminurie : bei letzterer
wird dem normal abgesonderten Harn auf seinem Wege nach aussen Blut,
Eiter, Sperma oder andere eiweisshaltige Flüssigkeit beigemengt. Diese
beiden Formen können sich in einzelnen Fällen combiniren, indem gleich-
zeitig Eiweiss aus dem harnbereitenden als auch aus dem harnableitenden
Theile des Harnapparates und aus der Nachbarschaft herstammt — gemischte
Albuminurie.
Die wahre Albuminurie ist an functionelle oder organische Störungen
der Nierenthätigkeit gebunden. Das Eiweiss bildet einen integrirenden
Bestandtheil des Harnes, während es bei der falschen Albuminurie gewisser-
massen eine Verunreinigung desselben darstellt. (Vogel.)
Die Differentialdiagnose zwischen wahrer und falscher Al-
buminurie besteht in dem Nachweise des beigemengten Blutes, Eiters und
darin, ob Eiweiss nur in einer solchen Menge nachweisbar ist, wie sie
deren Beimengung entspricht, also theils durch die mikroskopische Unter-
suchung des Sedimentes, theils auf chemischem Wege. Die Differential-
Diagnose durch die Bestimmung der Eiweissmenge im nativen Harne und
die Vergleichung mit der Menge des Eiweisses im filtrirten Harne ist
nicht stichhältig, weil jeder blut- oder eiterhältige Harn neben Globulin
auch Serumalbumin enthält. In der Regel darf das Eiweiss ausschliesslich
auf Beimischung von Eiter etc. bezogen werden, wenn der Eiweissgehalt
nicht mehr als Vio des Volums der Kochprobe beträgt. (Leube.)
Bei der wahren renalen Albuminurie findet man Exsudatcylinder und
anderweitige Entzündungspro ducte, Leukocyten, Nierenepithelien. Femer
hat man bei der Sicherstellung der Diagnose zu berücksichtigen: die
24stündige Menge der ausgeschiedenen festen Stoffe imd die klinischen
Symptome von Seiten anderer Organe (Herz, Gefässe, Retina u. a.).
Die Anwesenheit spärlicher Leukocyten in einem albuminhaltigen
Harn gestattet nicht den Schluss auf accidentelle Albuminurie.
Auf welche Weise entsteht die Albuminurie?
Es bestehen drei Theorien über diesen Process, und zwar:
1. Die physikalische Theorie, welche durch Veränderungen in
den Circulationsverhältnissen der Niere die Albuminurie erklärt — vasculäre
Albuminurie.
2. Die histologische oder biologische Theorie. Durch
Veränderung der Nierenstructur gelangt das Eiweiss in den Harn — paren-
chymatöse Albuminurie.
3. Die ch emi seh e Theorie, wobei Veränderungen der Blutmischung
eine wesentliche Rolle spielen — hämatogene Albuminurie.
Die physikalischen Veränderungen der Circulation in der Niere beziehen
sich zunächst auf Veränderungen des Blutdruckes. Früher wurde angenommen, dass bei
hoch gesteigertem Blutdruck selbst das grössere Molekül durch die Capillaren hindurch-
gehe. Diese Ansicht wurde durch RujsrEBEE& widerlegt. R. fand im Gegensatz zum Vor-
stehenden, dass thjerische Membranen bei niederem Druck leichter für Eiweiss permeabel
werden. Nach R. tritt Albuminurie dann auf, wenn es zu einem Missverhältniss der Druck-
verhältnisse innerhalb der Niere kommt. Für die Niere gilt das Gleichgewichtsgesetz, dass
der Secretionsdruck in der Nierenarterie gleich sei der Summe des Venendruckes und
des Gegendruckes von den Harncanälcheu. Der Arteriendruck kann kleiner werden bei
Herzfehlern, Shock. Der Venendruck kann hoch ansteigen bei Compression der Hohlvene
oberhalb der Einmündung der Nierenvene, und schliesslich kann der Gegendruckvonden
Harne anälchen bei Harnstauuug, wie solche durch Strictui'eu hervorgerufen werden, in
die Höhe gehen. Die Folge einer solchen Gleichgewichtsstörung wird stets das Auftreten
von Albumin im Harne sein. Weitere Versuche haben ergeben, dass weniger der geringe
Druck, als die Verlangsamuug der Blutströmuugsgeschwindigkeit die Ursache des Eiweiss-
durchtrittes ist. Diese physikalische Theorie hat sehr viel für sich, indem sie eine Reihe
ALBUMINURIE. 37
\on Albuminurien erklärt; allein das Eiweiss wird nicht wie eine Salzlösung filtrirt der
"Vorgang unterscheidet sich wesentlich von einem einfachen Filtrat aus dem Blute' Wir
müssen bei der Harnsecretion noch auf die vitale Thätigkeit der Zelle zurückkommen.
Mit dieser befasst sich die
2. histologische oder biologische Theorie. Diese schreibt die Albuminurie
<ler Zerstörung der die Harncanälchen bekleidenden Epithelien zu. Von einzelnen Autoren
wurde wohl behauptet, dass Eiweiss ein physiologisches Transsudat, der Malpio-hischen
Schlingen sei, welches von den Epithelien wieder zurückresorbirt wird. Wird nun durch
Erkrankung des Parenchyms oder durch Veränderung des Epithels das Albumin nicht
resorbirt, so erscheint es im Harne Diese Ansicht wurde von Posnek widerlegt.
Eine zweite Ansicht ist die, dass bei Zerstörung des Parenchyms der Harn-
canälchen — die Grenzmembran — die Transsudation des Eiweisses ermöglicht. Die in-
tacten Epithelien haben die Fähigkeit, den Durchtritt des Eiweisses zu verhindern. Ver-
änderungen derselben, der Verlust des Bürstenbesatzes sind hinreichend, Albuminurie auf-
treten zu lassen.
3. Die chemische Theorie setzt voraus, dass die Eiweisskörper des Blutes der-
art chemisch verändert sind, dass dieselben die Eigenschaften krystalloider Körper erlangt
haben und so durch thierische Membranen leicht hindurchtreten.
Wir finden nach dem Voranstellenden nephrogene Albuminurie bei
I. Hyperämischen Zuständen der Niere, wie solche nach
l. thermischen oder mechanischen Einwirkungen (kaltes Bad^ Durchnässung;
angestrengte Muskelarbeit, forcirter Coitus) beobachtet wird. 2. Bei toxischen
Einwirkungen: a) durch Stoffe, die normaler Weise im Stoffwechsel-
haushalte gebildet werden und nun in vermehrter Menge zur Ausscheidung
gelangen (z.B. Harnsäure; Albuminurie der Neugeborenen); b) durch solche
Stoffe, die in abnormer Weise im Organismus entstehen {Zucker, Toxine,
Ptomaine) ; c) durch Gifte, die vonaussen in den Organismus gelangen, z.B.:
Cantliariden, Terpentin, Phosplwr, Alkohol, Blei, und ferner nach äusserhchen
Applicationen von Theerpräparaten, Petroleum, Naphtol. 3, Bei febrilen
Affectionen. 4. Bei vasomotorischen Störungen, Albuminurie: bei
Epilepsie, Hirn- und Rückenmarksafectionen, bei Tetanus, Lyssa, Hemicranie,
Angina pectoris, Morb. Basedowi, Magen-, Barm- und Nierenkolik etc. 5. Bei
S t a u u n g s h y p e r ä m i e n in der Niere in Folge von Herzinsufficienz. {Herz-
muskeldegeneration, Schwang er Schaft. Bauchtumoren.)
II. Bei H a r n s t a u u n g e n in Folge von Hindernissen der Harnentleerung :
Stricturen,Prostatahypertrophien, Paralysen u. Blasenmuskulaturerkrankungen ;
ebenso nach rascher Entleerung der stark distendirten Blase.
III. Bei entzündlichen und des tru et iven Processen.
IV. Bei Neubildung und Degenerationen der Niere und
V. Bei Erkrankungen des Blutes und der Constitution:
Anämie, Leukämie, Gicht, Icterus, Skrophtdose, Tubercidose, Scorhut, Malaria,
Pyämie etc. Dazu gehört weiters die Albuminurie nach gewissen acuten
Vergiftungen. {Kalii chloricum, Sidüimat, Morcheln.)
Jede Eintheilung und so auch die vorstehende, so wichtig sie auch aus
allgemein -didac tischen Rücksichten sein mag, trägt gewisse
Mängel an sich, es muss immer genau erwogen werden, welche Momente
und welcher Mechanismus in jedem spe ci eilen Falle für die Entstehung
der Albuminurie beschuldigt werden dürfe.
Es wurde bereits erwähnt, dass es auch eine physiologische
Albuminurie gebe. Nicht jeder Harn ist albuminhaltig, aber unter gewissen
Umständen tritt bei ganz Gesunden vorübergehend Albuminurie auf. Leube
nimmt zwei Kategorien von Individuen an, bei denen diese Erscheinung
auftritt, und zwar entweder nur nach angestrengter Körperarbeit oder auch
ohne eine derartige Veranlassung. Leube supponirt eine angeborene, abnorme
Beschaffenheit der Glomeruluswand, eine grössere Porosität der Filtrations-
membran und nimmt an, dass bei der ersten Categorie die Fähigkeit besteht,
38 ALBUMINURIE.
für gewöhnlich den Uebertritt des Albumins in den Harn zu verliir.deru.
nur bei grösseren Anforderungen zeigt sich diese Schwäche der Xieren.
Die Menge des im Harn enthaltenen Albumins ist in solchen Fällen
eine minimale. Man findet dieselbe beinahe regelmässig bei Neugeborenen
(Harusäureinfarkt), bei Jünglingen im Pubertätsalter, bei nervösen und anä-
mischen Personen.
Eine besondere Beachtung verdient noch eine Art von Albuminurie,
■ die sogenannte sympathische Albuminurie, wie solche häufig im
Verlaufe von Erkrankungen des Urogenital- Apparates auftritt; also eine solche,
die sich nunächst als gemischte Albuminurie präsentirt. Im Verlaufe einer
einfachen Blenorrhoe, sobald dieselbe einen höheren Grad erreicht oder
sobald sich dieselbe über den Compressor urethrae in die hintere Harn-
röhre und Blase ausbreitet,, findet man eine renale Albuminurie. Diese
Fälle werden auch zumeist falsch gedeutet, es wird hier die Diagnose
Pye litis se/ir häufig mit Unrecht gestellt. Durch ausgiebigen Gebrauch von
Narcoticis verschwindet nebst Harndrang auch die Albuminurie. Ganz das
Gleiche findet man bei Fremdkörpern, Steinen der Blase, die das Trigonum
reizen ; mit der Entfernung der Ursache schwindet auch die Albuminurie.
Ultzmann erklärte diese Form der Albuminurie entsprechend der
physikalischen Theorie in der Art, dass durch den bei diesen Erkrankungen
constant vorkommenden Tenesmus der Abfluss des Harnes aus den Harn-
leitern gehemmt wird und es durch oben angedeutete Gleichgewichtsstörung
in der Niere zur Albuminurie kommt.
Wir glauben wohl folgende Erwägung zur Erklärung dieser Erscheinung
anführen zu sollen. Der ganze Harnapparat bildet „ein Ganzes". — Bei
heftigerem Ergriffensein eines Theiles desselben wird auch der andere
Theil in Mitleidenschaft gezogen. So sehen wir bei einseitigem Ureter-
Yerschluss durch Stein eine Anurie auftreten. Man erklärt dieselbe durch
den sogenannten reno-renalen Pteflex — auf vasomotorischem Wege. Ebenso
gibt es einen vesico- und urethrorenalen Pteflex und umgekehrt. Tuffier
hat mittelst Mosso's volometrischer Methode an der Niere den Einfluss der
Reizung der Urethra und Blase direct nachgewiesen. Auf reflectorischem
Wege lässt sich also diese sympathische Albuminurie am leichtesten erklären.
Welche Bedeutung und welche Prognose hat die Albuminurie? Mit
Ausnahme derjenigen Formen der physiologischen Albuminurie (zu welcher
Diagnose man erst nach wiederholter, genauer klinischer Beobachtung ge-
langen kann) muss das Auftreten von Albumen stets als eine pathologische
Erscheinung aufgefasst werden, aber auch die physiologischen Formen
dürfen nicht ohne weiters als Erkrankungen der Niere, wohl aber als
Anomalien des Stoffwechsels angenommen werden. Eine Nephritis kann man
eben nur dann diagnosticiren, wenn Entzündungsproducte aus der Niere im
Sediment nachweisbar sind.
Die Bedeutung der Albuminurie hängt theils vom Eiweissverluste,
theils von den veranlassenden Ursachen ab. .Die Eiweissverluste werden in
der Eegel überschätzt — von Kranken werden durchschnittlich 2 bis 3 g
pro die, selten mehr als 5 g ausgeschieden (Leube), also Mengen, die
durch relativ geringe Mengen Nahrungsmilch leicht ersetzt werden
können. Die Gefahr, die die Albuminuriker bedroht, hängt also nicht so
von den Eiweissverlusten als von der Insufiicienz der Niere ah. — Die
Art, in der das Symptom „Albuminurie" bei einzelnen Krankheiten auftritt,
wird bei der Schilderung des klinischen Bildes und Verlaufes dieser
letzteren beschrieben werden, ebenso muss bezüglich der Peptonurie, Fibri-
nurie, Hämoglobinurie, Nucleoalbuminurie auf die betreffenden Capitel in
dem Abschnitt „Harnanalyse" verwiesen werden. j. ii. brik.
aMMENWAHL. 39
Ammenwahl. Die besteAmmeistdie eigene Mutter! Leider
wird aber oft genug eine fremde, erkaufte Ernährerin an Stelle der Mutter
treten müssen. Ist die Mutter im Wochenbett gestorben oder schwer er-
krankt, die Milchquelle bald versiegt, das Neugeborene elend und lebens-
schwach, dann wird in den besser situirten Familien gleich von vornherein
der Vorschlag des Arztes, eine Amme zu nehmen, keinen Schwierigkeiten
begegnen. Meist wird in solchen Fällen die Möglichkeit, durch künst-
liche Nahrung die Muttermilch zu ersetzen, gar nicht erst in Er-
wägung gezogen. Aber auch späterhin erheischt das Nichtgedeihen des
Säuglings, die stete Gewichtsabnahme desselben in Folge langwieriger Ver-
dauungsstörungen, die Darreichung von Frauenmilch oft dringend genug.
Freilich sind es nur Wenige, welche sich den Luxus einer Amme zu leisten
im Stande sind, und diese Wenigen fragen in ihrem Egoismus selten dar-
nach, was wird aus dem Kinde der Amme, was wird aus solchen Kindern,
denen die Brustnahrung aus pecuniären Gründen versagt bleiben muss! An
der Sachlage selbst lässt sich Nichts ändern! Ammen werden existiren, so
lange es wohlhabende und arme Leute gibt und so lange noch Kinder un-
ehelich geboren werden. Die Wahl der Amme legt dem Arzte eine
schwere Verantwortung auf. Um so schwerer, als meist das Angebot
weit hinter der Nachfrage zurücksteht und erfahrungsgemäss sehr oft eine
Amme erst in „letzter Stunde" beschafft werden soll.
Völlig ungeeignet, Ammendienste zu verrichten, sind
solche Personen, welche 1. nicht vollkommen gesund sind, 2. solche mit
mangelhaft entwickelten Milchdrüsen oder Brustwarzen, endlich 3. diejenigen.
bei welchen die vorhandene Milch ihrer Qualität und Quantität nach den
zu stellenden Anforderungen nicht genügt.
Dass eine Amme vollständig gesund sein soll, dürfte Jedem
als selbstverständlich erscheinen. Es handelt sich hier aber vornehmlich
um zwei Krankheitszustände, welche bei oberflächlicher Untersuchung
leicht übersehen werden können, um Syphilis und um Tuberculose!
Für das der Amme anvertraute Kind würde das Nichterkennen dieser
Krankheiten die traurigsten Folgen nach sich ziehen. — Leider stehen
solche Familientragödien, wo eine syphilitische Amme den Säugling
und dieser seine Eltern und Geschwister etc. inficirte, durchaus nicht ver-
einzelt da. Nur die eingehendste Untersuchung der Amme auf Syphilis
wird den Arzt von dem Vorwurf der groben Fahrlässigkeit bewahren können.
Diese Untersuchung hat sich auf die ganze Haut, die sichtbaren Schleim-
häute und die der Palpation zugänglichen Lymphdrüsen zu erstrecken.
Einer besonderen sorgfältigen Prüfung ist die behaarte Kopfhaut, die Mund-
und Rachenhöhle, die Umgebung des Anus und der Genitalien zu unter-
ziehen. Eine Untersuchung mittelst Speculum sollte in keinem Falle unter-
bleiben, da erfahrungsgemäss syphilitische Geschwüre an der portio vaginalis
oft die einzigen nachweisbaren Zeichen einer im Entstehen begriffenen
oder noch vorhandenen Syphilis sein können. Floride Syphilisstadien dürften
kaum in Betracht kommen. Sie liegen klar zu Tage. Meistens handelt es
sich um latente oder durch specifische Curen unterdrückte Syphilis-
formen! Es wird daher jede irgendwie verdächtige fleckige Pigmentirung,
jede Knötchen- und Bläschenbildung in der Haut wohl zu beachten sein ; auch den
unscheinbarsten Substanzverlusten und Geschwürsbildungen auf den Schleim-
häuten, den kleinsten Einrissen, Schrunden und Excoriationen an den Eingangs-
pforten wird man in solchen Fällen die grösste Wichtigkeit beilegen müssen.
Weniger Beachtung verdienen die anamnestisch en A n g a b e n der
Amme. Hat sie Syphilis gehabt, so liegt es natürlich in ihrem Literesse,
dies abzuleugnen und zu verheimlichen. Gibt sie wiederholte Aborte vor
40 AMMENWAHL.
der Geburt ihres Kindes zu, so deutet dieses Factum mit ziemlicher Sicher-
heit auf eine frühere Syphilis hin.
Zwar verliert die Syphilis in gewissen Stadien ihre Ansteckungsfähig-
keit und wohl häufiger, als man es ahnt, werden früher syphilitisch gewesene
Ammen fremde Kinder genährt haben, ohne dass die letzteren an Syphilis
erkrankten; trotz alledem wird aber kein Arzt eine Garantie übernehmen
können und dürfen, ob in diesem oder jenem Falle eine Gefahr für das
Kind ausgeschlossen sei oder nicht. — Jede irgendwie der Syphilis
verdächtige Frauensperson ist völlig ungeeignet, Ammendienste, zu
übernehmen.
Was für die Syphilis gilt, gilt auch für die Tuberculose! Auch
hier handelt es sich nicht um die offenkundig vorliegenden Fälle von Lungen-
schwindsucht, sondern um solche Formen, die sich unter dem Bilde einer
allgemeinen Anaemie oder Chlorose zu verstecken pflegen. Werden
sich auch häufig die anämischen Zustände auf grössere Blutverluste bei
oder nach der Geburt, auf schlechte Nahrungs- und Wohnungsverhältnisse,
mangelhafte Pflege u. s. w. zurückführen lassen können, so bleiben doch
auch diese Fälle immer verdächtiger Natur, besonders dann, wenn die
Anamnese ergibt, dass Lungenerkrankungen in der Familie vorgekommen,
Geschwister der Amme frühzeitig an „Hirnkrämpfen" gestorben sind u. dgi.
Bei geschickter Fragestellung wird man glaubwürdige Aufklärungen über
eine etwaige Familiendisposition zur Tuberculose eher erwarten können,
als die Zugeständnisse einer überstandenen Syphilis. Diese Mittheilungeii
sind aber deshalb nicht zu unterschätzen, als die physikalische Unter-
suchung selten bereits positive Resultate ergeben dürfte. Dass durch die
Milch tube reu löser Ammen die Tuberculose auf den Säugling über-
tragen werden kann, steht wohl ebenso sicher fest, wie die Uebertragung
der Tuberculose durch die Milch von Kühen, welche an Perlsucht erkrankt
waren. Es bedarf da ebensowenig tuberculöser Geschwüre an den Zitzen
der Thiere, als an den Brustwarzen der Ammen. Eine Infection des Säug-
lings vom Darme aus ist in erster Linie zu fürchten; damit soll indessen
nicht gesagt sein, dass die Möglichkeit einer Inhalationstuberculose gänzlich
a^usgeschlossen wäre.
Krankheiten oder Krankheitsanlagen ni cht infectiösen Ursprungs werden
durch die Ammenmilch, deren ausreichende Menge und sonstige gute Be-
schaffenheit vorausgesetzt, auf den Säugling nicht übertragen. Beispielsweise
entbehrt die Annahme, dass das Kind an Epilepsie erkranken müsste, weil
es von einer mit Epilepsie behafteten Amme genährt wurde, jedes thatsäch-
lichen Beweises. Nehmen wir Anstand, eine Amme aus einer psychiscli
oder nur nervös belasteten Familie zu empfehlen, so fürchten wir mit
Recht die Unsicherheit und Unberechenbarkeit solcher Personen in ihrem
Thun und Handeln, die eine Schädigung des Säuglings ja leider nicht aus-
schliesst.
Gut e n t w i c k e 1 1 e B r u s t w a r z e n und gut e n t av i c k e 1 1 e M i 1 c h-
drüsen sind die zweite-Forderung, welche wir an eine brauchbare Amme
stellen müssen. Es kommt hier weniger die Schönheit der Form der
Brüste, als die Zweckdienlichkeit des äusseren Baues in Betracht. Die
ideale Rundung des Busens, welche wir au den antiken Venusstatuen be-
wundern, dürfte bei der Wahl einer Amme nicht massgebend sein.
Die Brustwarze muss im erectilen Zustande mindestens einen
Centimeter über den Warzenhof hervorragen. Je grösser die Brustwarze
ist, um so mehr wird dem Kinde das Sauggeschäft erleichtert. Tief ein-
gezogene verkümmerte Brustwarzen deuten auf vorausgegangene entzünd-
liche Processe in den Brustdrüsen hin (Mastitis). Diese pflegen mit theil-
AMMENWAHL.
41
weisen Verödungen der Milchgänge einherzugehen. Es laufen deren etwa
12 — 20 nach der Spitze der Brustwarze zu und eröffnen sich mit mehreren
Oeffnungen, vielfach allerdings 2 oder 3 Milchgäuge gemeinsam zwischen
den Kunzein der Haut nach aussen. Bei verkümmerten Brustwarzen wird
man daher häufig das Hervortreten der Milch in mehreren Einzeltröpfchen
bei gelindem Druck auf die Brustdrüse vermissen. Schwächlichen Kindern
ist es ganz unmöglich, eine tiefliegende stark retrahirte Brustwarze zu fassen
und daran zu saugen. Nach einigen vergeblichen Versuchen lässt das Kind
unter Schreien die Brust fahren und verweigert diese schliesslich ganz.
Die Brustwarzen müssen frei sein von Einrissen, Schrunden, Ex-
coriationen. Wunde Brustwarzen sind schmerzhaft und erschwerender
Amme das Anlegen des Kindes. Ausserdem bilden sie die Eingangspforte
für Entzündung und Eiter erregende Coccen. Die Gefahr einer phlegmonösen
Mastitis liegt nahe. Diese selbst würde ein weiteres Fortstillen ausschliessen.
Auch der Uebertragung von Syphilis wird durch wunde Brustwarzen ent-
schieden Vorschub geleistet, umso mehr, als syphilitische Geschwüre und
Rhagaden an den Brustwarzen durchaus keine Seltenheit sind. Beim Saugen
entleeren sich ferner aus den Einrissen und Excoriationen (Eczem der
Brustwarzen!) ausser der Milch auch Blut- und Eitertröpfchen. Da
diese mit in den Magen des Säuglings gelangen, so pflegen Verdauungs-
störungen nicht auszubleiben.
Die Milchdrüse selbst zeigt eine ungleiche höckerige Oberfläche.
Ihre Grösse lässt sich durch die Palpation wenigstens annähernd abschätzen.
Die Palpation darf nicht schmerzhaft sein ; ebenso wenig dürfen feste binde-
gewebige Narbenstränge oder abnorm harte Stellen durchzufühlen sein.
Die Grösse und Fülle der Brust in toto ist keineswegs ausschlaggebend
für die Grösse und Fülle der Milchdrüsen. Eine etwas hängende schlaffere
Brust liefert oft in reichlicherer Menge Milch, als eine solche mit üppiger
Fettentwicklung und zu praller Spannung der Haut.
Wurde die Amme gesund befunden, zeigten sich Brustwarzen und
Milchdrüsen gut entwickelt, so bleibt die M'e n g e und die Be schaff en-
heit der vorhandenen Milch doch schliesslich das Wichtigste. Ein
ürtheil über die Menge der Milch nach einer einmaligen Untersuchung
abzugeben, ist gewiss nicht leicht. Unliebsame Täuschungen werden uns
nicht erspart bleiben. Lassen sich nur mühsam noch einige Tropfen Milch
aus den Milchdrüsen herauspressen, nachdem das Kind sich satt getrunken
hatte, so ist ein baldiges Versiegen der Milchquelle zu fürchten. Spritzt
die Milch hingegen auf Druck noch in weitem Strahle hervor, so deutet
dies auf ein reichliches Vorhandensein von Milch in der Drüse hin. Nur
ausnahmsweise wird der vielbeschäftigte Arzt Zeit und Gelegenheit finden,
das Kind der Amme vor und nach dem Trinken zu wiegen, um exact die
Milchmenge zu bestimmen, welche der Säugling in sich aufgenommen hat.
Ueber die Qualität der Milch verschafft uns das Mikroskop
ein annähernd richtiges Urtheil. Man untersuche aber nicht den ersten
aus der Brustwarze herausgedrückten Milchtropfen. Dieser ist weniger
fettreich und zeichnet sich schon makroskopisch durch seine wässerige,
dünnflüssige Beschaffenheit und seine mehr wässerige, bläuliche Färbung
aus. Die später folgenden sind rein weiss oder bläulich weiss. Diese Färbung
wird durch die Milchkügel chen bedingt. In normaler guter Milch
bilden die Milchkügelchen die einzigen morphologischen Ele-
mente. Sie sind über das Gesichtsfeld gleichmässig vertheilt, liegen dicht
aneinander, aber jedes bleibt für sich isolirt. Ihre Grösse ist annähernd
eine gleiche. Ihr Durchmesser schwankt nur zwischen 2 — 7 mm. Findet man
in der Milch noch Colostrumkörperchen, ungewöhnlich grosse (10 — 12 mm)
42 AMOEBENENTERITIS.
Milclikügelchen, oder zahlreiche staubförmige Körnchen, Pflasterzellen oder
gar Leucocyten und rothe Blutkörperchen, so nehme man Abstand, die
betreffende Person als Amme zu empfehlen. Die Milch einer chemischen
Analyse zu unterziehen, werden wenig Aerzte im Stande sein. Allenfalls
kann die Reaction (alkalisch) das specifische Gewicht (im Mittel 1030) und
der Fettgehalt (o — 4 7o) der Milch mittelst geeigneter Eeagentien (Lacmus-
papier) und Instrumente (Lactodensimeter — Conrad, respective Lactobutyro-
meter — Marchand-Soxhlet) bestimmt werden.
Von schwerwiegender Bedeutung ist auch der Gesundheits- und
Ernährungszustand des Ammenkindes. Ist das Kind blühend, dick
und rund, so vergewissere man sich jedoch, dass kein fremder Säugling
untergeschoben wurde. Ein schlecht genährtes, elendes Kind würde eine
schlechte Empfehlung für die Amme sein.
Sind die unerlässliche n Bedingungen, volle Gesundheit, gut
entwickelte Milchdrüsen und Brustwarzen, reichliche und gute Milch erfüllt,
so mag man, falls mehrere Ammen auf die engere Wahl gekommen sind,
auch seine Anforderungen noch höher stellen. Man wähle keine Amme,
welche jünger als 20 oder älter als 30 Jahre ist, man gebe einem Land-
mädcheu vor einer Fabrikarbeiterin den Vorzug, man lege Werth darauf,
dass die Amme ihr Kind bereits 6 — 8 Wochen selbst genährt hat, aber
man sei stets eingedenk, dass man den vorliegenden Verhältnissen Rechnung
tragen muss, man schaffe sich kein Ideal, was eben nicht zu finden ist.
Wohl muss es aber unsere weitere Sorge sein, die Amme auch für
die kommende Zeit leistungsfähig zu erhalten. Es möge hier
daran erinnert werden, dass die Milchmenge häufig geringer wird, wenn die
Amme plötzlich mit ungewöhnlicher Kost überfüttert wird und ihr
die n ö t h i g e B e w e g u n g und Beschäftigung fehlt. Andererseits sollen
nicht unnöthige Forderungen an die Amme gestellt werden. Man darf nicht
verlangen, dass diese Tag und Nacht dem Kinde zu jeder beliebigen Stunde
die Brust reichen soll. Es ist absolut nöthig, sowohl für die Neuansammlung
der Milch in der Brust, wie für das Gedeihen des Kindes, dass ein r e g e 1-
mässiger Turnus beim Anlegen des Kindes eingehalten wird. Selbst
ein krankes schwächliches Kind muss an 2Y2 — 3 stündliche Mahlzeiten mit
einer 6 — 8 stündigen Pause während der Nachtzeit gewöhnt werden. Die
Feststellung der Gewichtszunahme des Säuglings durch die Wage wird am
besten das volle Genügen der Brustnahrung und die gute Entwicklung des
Kindes controliren. ' pott.
AmoebenenteritiS (Ämoehendysenterie). Parasitische Arno eben
des Menschen wurden das erste Mal von Lösch (1875) im Stuhle
eines dysenteriekranken russischen Bauern gefunden und mit dem Namen
Amoeba coli belegt. Seither ist diese Amoebe als Bewohnerin des mensch-
lichen Darmes von zahlreichen Autoren in verschiedenen Theilen Europas,
Nord- und Südamerikas, Nordafrikas und den südlichen Theilen Asiens be-
obachtet worden. Meist fand man sie in den Entleerungen von an Dysen-
terie oder dysenterieähnlichen Darmaffectionen Leidenden. Amoeben wurden
aber auch bei einfachen chronischen oder secundären enteritischen Processen,
ferner bei Typhus, Cholera, Pelagra u. s. w., ja auch bei ganz Gesunden
im Stuhle angetroffen. Ob dabei alle Autoren dasselbe Protozoon vor sich
gehabt haben, lässt sich vorderhand weder sicher behaupten noch in
Abrede stellen. Wir kennen vorläufig noch keine Merkmale, welche uns
erlauben würden, verschiedene Formen von Amoeben, die im menschlichen
Darmkanale vorkämen, zu unterscheiden. Die von Verfasser dieses Ar-
tikels bei zwei Fällen typischer „Ämoehendysenterie" und Fällen einfacher
AMOEBENENTERITIS. 43
(.'hronischer Enteritis gesehenen Amoeben glichen sich in jeder Beziehung
vollkommen. Amoeben, welche der A. coli zum mindesten sehr ähnlich
waren, wurden endlich in vereinzelten Fällen im Vaginalsecrete und in Harn-
sedimenten gefunden.
Die Änioeba coli Lösch stellt ein im Allgemeinen rundliches zelliges
Gebilde von im ruhenden Zustande im Mittel 20—35 mm'^) Durchmesser
dar, an welchem man eine völlig hyaline Rinden- und eine körnige Mark-
substanz (Ekto- und Endosark) unterscheiden kann. Die letztere enthält
den an der lebenden Amoebe nicht immer deutlich sichtbaren runden bläs-
chenförmigen Kern. Fast immer sieht man ferner einzelne nicht contractile
Vacuolen, welche besonders zahlreich in absterbenden Exemplaren auftreten
und in Folge ihres starken Glanzes mitunter Fetttropfen sehr ähnlich sehen.
Ausser diesen dem Amoebenkörper eigenthümlichen Formbestandtheilen ent-
hält derselbe sehr häufig von aussen aufgenommene Elemente, insbesonders
rothe Blutkörperchen, Leukocyten, Bacterien. Seltener enthalten die Amoe-
ben Blutpigment in Gestalt schwarzbrauner Schollen oder Stäbchen.
Sehr charakteristisch ist die Art der Bewegung, Avelche man an
unseren Protozoen wahrnehmen kann, soferne man Präparate aus einem
kurz vorher abgesetzten Stuhle untersucht. Dieselbe besteht darin, dass
aus dem hyalinen Ektosark an einer oder mehreren Stellen zugleich glas-
helle, stumpfe, lappige Pseudopodien allmälig vorgestreckt und wieder ein-
gezogen werden. Dabei bleibt die Amoebe entweder immer an derselben
Stelle liegen oder sie führt langsame Ortsveränderungen in der Weise aus,
dass an einer bestimmten Stelle ein Pseudopodium immer weiter vorge-
schoben wird, in welches die granulirte Marksubstanz allmälig uachfliesst,
während an der entgegengesetzten Seite der Körper eingezogen wird. Die
Amoeben verlieren diese Eigenbewegung sobald der Stuhl mehrere Stunden,
insbesonders bei kühlerer Temperatur gestanden ist, nehmen eine gleich-
massig rundliche Gestalt an und sind dann nur schwer an ihrem stärkeren
Lichtbrechungsvermögen von anderen zelligen Elementen des Stuhles, ins-
besonders gequollenen Darmepithelien zu unterscheiden.
Die Conservirung der Amoeben in Anstrichpräparaten gelingt nicht gut; sehr
schön lassen sie sich jedoch in Schnittpräparaten von Gewehen, in welche sie einge-
drungen sind, darstellen. Als Härtungsflüssigkeiten dienten uns neben Alkohol am besten
Sublimat- Picrinsäure- und Picrinsäure - Essigsäuregemische, zur Färbung Alaun- und
Picrocarmin. Doch lassen sich auch andere Fixirungsflüssigkeiten und Farbstoffe mit
Erfolg anwenden. An solchen Schnittpräparaten tritt insbesonders der Kern der Amoeben
schön hervor.
Cultur versuche wurden mit der Amoeha coli schon sehr häufig
angestellt. Kartulis, dem solche Versuche geglückt sind, gibt als beste
Nährflüssigkeit Strohdecoct und Strohdecoctbouillon an. Dem genannten For-
scher gelang es auch Reinculturen in mehrmaligen Umzüchtungen zu erhalten.
Aus zahlreichen T hierversuchen, welche theils mit amoeben-
hältigen Faecalmassen, theils mit Amoebenculturen (Kartulis) angestellt
worden sind, geht hervor, dass die Amoeben im Stande sind, bei gewissen
Versuchsthieren, besonders Katzen, eine mehr oder weniger intensive
Enteritis des Dickdarmes zu erzeugen, wenn die Uebertragung direct in den
Dick- oder Dünndarm erfolgt ist, während Infectionsversuche per os bisher
missglückt sind. Nach unsern eigenen Erfahrungen ist ferner zum Zustande-
kommen einer Infection immer die Uebertragung grösserer Mengen von
Amoeben nothw^endig. Dass die Amoeben für sich allein im Darme
schwerere Veränderungen (Necrose, ulcerative Processe) erregen können,
scheint uns durch das Thierexperiment bisher noch nicht erwiesen zu sein.
M Manche Autoren geben etwas kleinere Maasse an.
44 AMOEBENENTEßlTlS.
Die Amoeben werden vernmthlich mit sclileclitem Trinkwasser auf-
genommen, passiren, vielleicht in einer Dauerform, den Magen und Dünn-
darm ohne Veränderungen zu erregen und siedeln sich, falls sie die für ihre
Weiterentwicklung nothwendigen Bedingungen antreffen, im Dickdarme an.
Das der Wirkung der Amoeha coli zugeschriebene Krankheitsbild
ist ein sehr wechselndes. Councilman und Lafleue in Boston, welchen
wir eine ausführliche Monographie über die „Amoebendysenterie" verdanken,
unterscheiden acute Fälle von massiger Intensität, schwere mit gangränösen
Darmveränderungen einhergehende und endlich Fälle mit chronischem Verlauf.
Zu Beginn der Erkrankung, wir folgen hier theilweise der Darstellung
von CotnsfCiLMAJSf und Lapleue, besteht manchmal Nau s e a oder Erbr e che n.
Kolikartiger Bauchschmerz tritt bei den acuten und den gangraenösen Formen
sowie den Exacerbationen der chronischen auf. Tenesmus kommt nur bei den
schweren, vor Allem den gangränösen vor. Fieber ist nicht häufig, unregel-
mässig und meist durch Complicationen bedingt. In allen länger dauernden
Fällen kommt es zur Entkräftung und Anaemie. Diarrhoische Stühle hildeu
das wichtigste Symptom der Krankheit. Bei den gangraenösen Formen
kommen 30 — 40 Stühle des Tages vor, bei den einfachen acuten 4 — 10,
Sie sind je nach Form und Grad der Erkrankung bald, wie bei der gan-
graenösen Form, mehr wässerig und nur wenig fäcal, mit necrotischen Gewebs-
fetzen gemengt, von höchst intensivem Geruch und graugrünlicher oder
röthlichbrauner Farbe, bald, besonders bei den chronischen Fällen, mehr
breiig bis geformt. Zwichen diesen Formen der Entleerungen gibt es mannig-
fache Uebergänge. Immer enthalten sie mehr oder weniger meist blutig
tingirten Schleim, welcher den geformten Stühlen als Ueberzug anhaftet.
Die Reaction der Stühle ist meist alkalisch.
Die mikroskopische Untersuchung derselben ergibt neben
den gewöhnlichen faecalen Formelementen rothe und weisse Blutkörperchen,
sehr zahlreiche gequollene Darmepithelzellen, die von den Amoeben oft
schwer zu unterscheiden sind und Charcot'sche Krystalle ; bei den gan-
graenösen Formen necrotische Gewebstrümmer und zahlreiche Bacterien,
manchmal in grosser Anzahl Cercomonaden. Die Amoeben findet man
bei allen Formen der Krankheit, spärlich in den rein faecalen Antheilen
der Stühle, reichlich in dem beigemengten Schleime. Ihre Menge ist sehr
wechselnd, zeitweilig können sie ganz fehlen. Im Allgemeinen sind sie in
den alkalischen Stühlen reichlicher und von lebhafterer Bewegung als in
jenen von saurer Reaction. Ferner bemerkt man eine gewisse Uebereinstim-
mung in der Menge der im Stuhle vorhandenen Amoeben und der jeweiligen
Intensität der übrigen Krankheitserscheinungen, s-owie auch deren endgiltiges
Schwinden mit der Heiluug der Krankheit zusammenfällt.
Von Complicationen wäre vor Allem der Leberahscess zu nennen,
ferner der Lungenahscess, welch' letzterer dann zustande kommt, wenn ein
an der Convexität der Leber sitzender Leberahscess durch das Zwerchfell
in den Unterlappen der rechten Lunge durchbricht. Neben den gewöhn-
lichen Symptomen des Eungenabscesses führt dieses Ereigniss zur Expecto-
ration eines eitrigen oder blutigeitrigen, amoebenhältigen Sputums.
Der Verlauf der Erkrankung zeichnet sich durch häufige Remissionen
und Exacerbationen aus. Die acut beginnenden, meist schweren Fälle, haben
eine Dauer von wenigen Wochen, die massig schweren währen länger und
bilden den Uebergang zu den chronischen, die viele Monate, ja, wie u. A.
ein Fall unserer eigenen Beobachtung beweist, Jahre anhalten können.
Der Ausgang der Erkrankung erfolgt entweder, wie insbesonders in
den leichten Fällen, in Genesung oder ist, wie bei den gangTaenösen, ein
rasch tödtlicher. Dazwischen liegen langwierige Fälle, die unter allmäliger
AMOEBENENTERITIS. 45
Besserung der Symptome endlich auch zur Heilung führen oder durch
Complicationen oder zunehmende Entkräftigung tödtlich endigen.
Die ausgesprochene Neigung der Erkrankung zu chronischem Verlaufe
wird von den meisten Autoren hervorgehoben u nd eine chronische
(meistulceröse) Enteritis desDickdarmes, welche sehr wenig
Neigungzur Heilung zeigt, stellt den eigentlichen Typus der
Krankheit vor. Es wäre deslialb zweckmässiger (Lutz), von einer
Amoebenenteritis als einer Amoebe ndy senterie zu sprechen.
Die Ergebnisse ausführlicher anatomischer und histologischer Unter-
suchungen der auf die Amoeba coli bezogene Veränderungen in den be-
fallenen Organen sind in der oben citirten Abhandlung von Councilman und
Lapleur enthalten.
Die anatomischen Veränderungen des Darmes sind gewöhnlich auf
den Dickdarm beschränkt und bestehen nach Councilman und Lafleur vor
Allem in einer Verdickung der Wand desselben, welche besonders die Sub-
raucosa betrifft. Sie sind des weiteren charakterisirt durch fortschreitende In-
filtration und Erweichung der Submucosa mit folgender Necrose des
darüberliegenden Schleimhautgewebes.
So kommt es zu derBildung von Geschwüren, von welchen man vier Formen unterscheiden
kann : erstens solche, welche durch eitrige Infiltration, Erweichung und Höhlenbildung in
der Schleimhaut charakterisirt sind ; zweitens solche mit nur leicht unterminirten Rändern, die
nur einfache Vertiefungen in der verdickten Submucosa darstellen ; drittens Geschwüre
mit glatten Rändern und glatter Basis; viertens Geschwüre mit ausgebreiteter Necrose in
der Umgebung. Die histologische Untersuchung der Darmschleimhaut an den Stellen
der Geschwüre ergibt folgenden Befund: an den Geschwürsrändern sind noch Reste von
Drüsenschlijuchen vorhanden. Hier und am Geschwürsboden wird oft Epithelwucherung
mit Neubildung von Drüsen angetroffen. Im Inhalte der Geschwürshöhlen und in der Wand
derselben, welche von homogen gewordenem, aufgelockertem Gewebe gebildet wird, finden
sich Amoeben, die Submucosa ist ringsum infiltrirt. Ist es zur Eiterung gekommen, so finden
sich regelmässig Bacillen und Micrococcen und die Amoeben werden spärlicher. Es gibt
aber Geschwüre ohne Bacterien und ohne Eiterung, und in diesen sind sehr zahlreiche
Amoeben vorhanden. In einem Falle durchdrangen dieAmoeben auch dieMuscularis und wurden
in grosser Menge im Mesocolon gefunden. An Stellen, wo der Process rasch fortschreitet,
sind besonders zahlreiche Amoeben. Die Follikel sind stets nur secundär betheiligt.
Die Leberabscesse sind etAveder einzeln oder zahlreich, ihr
Lieblingssitz ist der rechte Lappen. Der Inhalt derselben ist in den kleineren
eine halb transparente Masse, in den älteren eine graubräunliche, mit ne-
crotischen Gewebstrümmern untermengte Flüssigkeit, eigentlich eitrig ist
dieselbe nach Councilman und Lafleur nie, während von anderen Autoren
der Inhalt als rahmiger Eiter bezeichnet wird. In der flüssigen Masse finden
sich feste, aus necrotischem Bindegewebe bestehende Beste. Eine fibröse
Wand besitzen nur ältere Abscesse, sonst wird dieselbe durch necrotisches
Gewebe gebildet. Amoeben findet man besonders reichlich in den jüngeren
Abscessen, sowohl im Inhalt als in der Wand und dem umgebenden necro-
tischen Gewebe. In den alten Abscessen treten die Amoeben zurück und
hier findet man vorwiegend Bacterien. Ausser diesen Abscessen finden sich
in der Leber Stellen von reiner Necrose, welche frei von Amoeben sind und
aus welchen dann erst durch nachträgliche Einwanderung der Amoeben die
Abscesse hervorgehen sollen.
Lungen abscesse schliessen sich mitunter an Abscesse der Leber-
kuppe an. Die Wand derselben ist bald glatt, bald zerfressen, in der Um-
gebung besteht interstitielle Pneumonie. Der Inhalt wird aus körnigem
Detritus, rothen Blutkörperchen und nur wenig Eiterzellen gebildet. Die
Amoeben liegen im Inhalt, in der Wand und im umgebenden Lungengewebe.
In wie weit die in dem oben entworfeneu Krankheitsbilde angeführten
Erscheinungen und die geschilderten anatomischen Veränderungen auf die
Wirkung der Amoeben allein oder auf combinirte Wirkung derselben mit
46 AMONIAEMIE.
anderen Krankheitserregern, insbesonders Bacterien, zu beziehen sind, kann
derzeit nicht entschieden werden. Für die ganz acut unter dem
Bilde der epidemischen oder sporadischen Dysenterie verlaufenden Fälle
scheint uns die Annahme einer Mischinfection oder einer secundären An-
siedelung der Amoeben bei einer primären, durch bacterielle Infection her-
vorgerufenen Dysenterie sehr berechtigt. Dass vorherbestehende, besonders
ulcerative Erkrankungen der Dickdarmschleimhaut den Amoeben einen sehr
günstigen Boden zur Ansiedelung abgeben und dass so aus einer ander-
weitigen Darmerkrankung sich das Bild der Amoebenenteritis entwickeln
kann, muss ohne Weiteres zugegeben werden. Die Amoeben können dann,
wie auch Thierversuche lehren, leicht in die Schleimhaut eindringen und einen
etwa vorhandenen ulcerativen Process unterhalten und steigern. Danach wird
es auch verständlich, dass man Amoeben auch bei nicht dysenterischen
Darmpro cessen gefunden hat. Daraus, dass die Symptome, welche von ganz
leichten Erkrankungen an Amoebenenteritis hervorgerufen werden, sehr
gering sein und leicht übersehen werden können und dass geringe Mengen
von Amoeben im Darme verweilen können, ohne überhaupt merkliche,
krankhafte Erscheinungen hervorzurufen, erklären sich auch die Angaben,
nach welchen Amoeben bei ganz Gesunden angetroffen worden sind.
Therapeutischen Massnahmen setzt die Amoebenenteritis, wie
übereinstimmend berichtet wird, grossen Widerstand entgegen. Neben ander-
weitiger symptomatischer Behandlung kamen am häufigsten Chinin- und Subli-
maürrigationen des Dickdarmes zur Verwendung neben innerlichem Gebrauche
von Chiuin ; wenn secundäre Anämie bestand, wohl auch von Eisenpräparaten.
Der Erfolg war nur selten eine radicale Beseitigung der Parasiten und
damit der Krankheit, häufiger erzielte man nicht mehr als vorübergehende
Verminderung der Amoeben bei ebensolang anhaltender Besserung der Sym-
ptome. Als Ursache der geringen Wirksamkeit, welche alle bisher unter-
nommenen Heilversuche trotz der grossen Empfindlichkeit der Amoeben
gegen die verwendeten antiseptischen Flüssigkeiten zeigen, wird allgemein
angenommen, dass man wohl im Stande sei, die im Darmlumen vorhandenen,
nicht aber die in den Geschwüren der Schleimhaut sesshaften Amoeben zu
tödten. KovAcs.
Ämoniaemie {Uroplania, Urodialysis). Unter dieser Bezeichnung
verstand man einen Symptomencomplex, welchen man sich durch Vergiftung
mit kohlensaurem Amon verursacht dachte. Auf Basis der Uraemie-Theorie
von Feerichs entstanden, welcher bekanntlich dieses Krankheitsbild als
Vergiftung des Organismus mit aus dem retinirten Harnstoff gebildeten
Amoniumcarbonat auffasste, wurde die Ämoniaemie im engeren Sinne von
Treitz und Jaksch sen. von der Uraemie getrennt. Die genannten
Autoren stellten sich vor, dass während bei der Uraemie eine Vergiftung
mit Amoniumcarbonat durch Umwandlung des Harnstoffes im Blute selbst
erfolge, bei der Ämoniaemie die Secretion eines normalen Harns zwar keine
Störung erfahre, der gebildete Urin jedoch im Körper in Folge des Bestehens
einer Cystitis oder aus anderen Gründen zersetzt werde. In Folge dieses
Umstandes gelange nun das aus dem Harnstoff gebildete Amoniumcarbonat
von den Harnwegen aus zur Resorption und entfalte nun im Körper seine
toxische Wirkung. Vor Allem musste es auffallen, dass, obwohl Uraemie und
Ämoniaemie also in der Vergiftung mit demselben chemischen Körper begründet
sein sollten, die Vergiftungsbilder beider trotzdem so von einander abwichen.
Von dem Augenblicke an, als man die Uraemie-Theorie von Frerichs fallen
gelassen hatte und einsah, dass weder das Amoniumcarbonat die ihm zu-
geschriebene hochgradige Giftigkeit besitzt, noch auch dasselbe im lebenden
ANAEMIE. 47
Körper in nennenswerthen Mengen gebildet wird, war auch dem mehr
theoretisch construirten Begriff der Amoniaemie der Boden entzogen worden,
so dass heute die Annahme einer Autoiutoxication mit li;ohlensaurem Amon,
sei es in der Fassung der Uraemie oder Amoniaemie, nur mehr historisches
Interesse beanspruchen kann.
Eine neue und dem ursprünglichen Begriff der Amoniaemie völlig
fremde Deutung hat dieses Wort erfahren, als man unter dem Eindrucke
der Beobachtungen neuerer, besonders französischer Autoren (Bouchard,
PouCHET u. A.), es versucht hat, eine vermuthete Ptomainvergiftung mit
demselben zu bezeichnen. Nachdem es nachgewiesen war, dass sowohl im
normalen, menschlichen, wie thierischen Harne, wie auch dem Kranker Gift-
stoffe enthalten siud, lag die Vermuthung nahe, dass, auch im Harn, welcher
im Körper stagnirt und die amoniakalische Gährung eingeht, derartige toxische
Substanzen gebildet werden und zur Eesorption _ gelangen können. Am
bestimmtesten hat v. Jaksch jun. diese Vermuthung ausgesprochen und
zugleich mitgetheilt, dass er sich von der Richtigkeit derselben überzeugt
hat; doch sind diesbezügliche Untersuchungen bis jetzt noch nicht zur
Publikation gelangt. Nachdem man also auch für derartige Annahmen bisher
keine objectiven Anhaltspunkte hat und sie ausserdem mit der Amoniaemie
in der ursprünglichen Fassung nichts zu thun haben, so kann bis heute
mit dem Worte Amoniaemie keinerlei nosologischer Begriff verknüpft
werden.
Die Symptomatologie, welche Jaksch sen. für die Amoniaemie, haupt-
sächlich im Gegensatze zur Uraemie, entwarf, betont neben einer, in ihrer
Natur wechselvollen, primären Erkrankung der Harnwege, besonders vier
Symptome als für Amoniaemie charakteristisch. Es sind dies erstens die
amoniakalische Gährung des Harnes, zweitens Magenbeschwerden und an-
haltende Diarrhoen, drittens ein Gefühl der Trockenheit im Rachen und viertens
zeitweise mit Schüttelfrösten einsetzende Fieberanfälle. Ganz abgesehen davon,
dass, wie verständlich, die Beschreibung dieser Symptome von dem genannten
Autor nicht in der Weise gegeben werden konnte, wie man sie heute z. B.
zur Charakterisirung einer Magendarmaffe ction fordert, so wird der Leser
dieser alten Krankengeschichten unwillkürlich häufig zu anderen Anschauungen
betreffs der Genese der einzelnen erwähnten Symptome gedrängt, als sie der
Autor äussert. Insbesondere gilt dies für die Schüttelfröste, deren Ursache
wir viel ungezwungener in einer gleichzeitig bestehenden infectiösen Cystitis
oder Cystopyelitis als in der vermutheten Amoniaemie erblicken müssen. Ausser-
dem ist aber selbstredend das Krankheitsbild durch das Bestehen einer
primären Erkrankung der Harnwege derart beherrscht und je nach der
Qualität desselben im speciellen Falle modificirt, dass sich ein einheitliches,
vielleicht für eine bestimmte Art von Vergiftung charakteristisches Sym-
ptomenbild unseren heutigen Anschauungen nach nicht ableiten lässt. Wir
haben also auch in der Symptomatologie der Amoniaemie keine Ursache,
diesen der Geschichte der Medicin angehörigen Begriff wieder zu wecken.
Die Therapie der Amoniaemie bezog sich selbstredend in erster Linie
auf die Behandlung der bestehenden Grundkrankheit der Harnwege.
V. LIMBECK.
Anaemie, OUgocythaemie, ist jene pathologische Veränderung des
Blutes, bei welcher dasselbe in der Raumeinheit weniger rothe Blut-
körperchen und weniger Blutfarbstoff enthält, als normal.
I. Allgemeiner ThelL
Das Blut, der wichtigste Träger des Stoffweclisels des Körpers führt den Geweben
sowohl ihre Nährstoffe zu, wie es auch die Schlacken ihres Stoffwechsels entfernt. Seine
Farbe schwankt in verschiedenen Nuancen zwischen blauroth und gelbroth. Dieselbe ist
48 ANAEMIE.
durch einen eisenhaltigen Eiweisskörper, das Haemoglobin, bedingt, welches eine grosse
Affinität zu Sauerstoff besitzt. Es kreist im Körper grösstentheils als Oxyhaemoglobin und ist
auch im venösen Blute noch zum Theil als solches vorhanden. In 100 ^ Blutes beträgt
seine Menge unter normalen Verhältnissen etwa li g (= 100 Proc der FLEiscHii'schen
oder GowER'schen Farbenscala). Die Reaction des Blutes ist im lebenden Körper
stets alkalisch, doch kann der Grad der Alkalescenz desselben durch vermehrten Ueber-
tritt sauerer Producte des Gewebs-Stoff Wechsels leiden. Seine Dichte schwankt bei ge-
sunden Erwachsenen zwischen 1045 und 1075, und ist, abgesehen von verschiedenen
physiologischen und pathologischen Einflüssen (Geschlecht, Alter, Flüssigkeitsaufnahme),
in erster Linie von seinem Haemoglobingehalte abhängig. Etwa 50 Gewichts-Procent des
Blutes werden durch zellige Bestandtheile, die rotheu und weissen Blutkörperchen gebildet.
Die andere Hälfte besteht aus zellenloser Flüssigkeit, welche die Fähigkeit besitzt, unter
bestimmten Bedingungen ihren Aggregatzustand zu verändern (Gerinnung). Die rothen
Blutkörperchen, im Kubikmillimeter unverdünnten Blutes in der Durchschnittszahl von
5 Millionen beim gesunden Manne, von 4'5 Millionen bei der gesunden Frau enthalten,
sind vermittels des sie infiltrirenden Haemogiobins die Träger des Sauerstoffes,
dessen der Körper zu den in ihm ablaufenden Oxydationsprocessen benöthigt. (Bei Neu-
geborenen ist die Zahl der rothen Blutkörperchen meist grösser s. u.) Sie stellen unter
normalen Verhältnissen kernlose, kreisrunde Scheibchen von etwa 7 — 8 mm Durchmesser
vor und zeigen in ihrer Mitte eine deutliche Delle. Ihre Structur erscheint ohne weitere
Präparation meist völlig homogen. Als Absterbeerscheinung derselben iässt sich ein
geldroUenartiges Aneinanderlegen, sowie Umgestaltung in stechapfelähnliche Gebilde und
.schliesslich das Auftreten amoeboider Bewegungen deuten, doch sind die Bedingungen für
das Auftreten derartiger Phänomene noch nicht klar. Die weissen Blutkörperchen sind
viel labiler als die rothen und gehen zweifellos bei der Gerinnung zum guten Theile zu
Grund. Ihre Grösse und Structur schwankt innerhalb weiter Grenzen. Meist sind sie etwa
doppelt so gross als die rothen und zeigen mehrere unregelmässig geformte Kerne. Doch
sind auch einkernige, kleine und grosse weisse Blutzellen ein normaler Bestandtheil des
Blutes. Ihre Zahl ist beim Erwachsenen (noch mehr beim Neugeborenen) sehr schwan-
kend, indem nicht nur pathologische, sondern auch viele physiologische Einflüsse (Nah-
rungsaufnahme, Schwangerschaft) ihre Zahl in der Raumeinheit leicht mehr als verdoppeln
können. Als mittlerer Werth kann 8 — 9000 per Kubikmillimeter für den gesunden Erwach-
senen (das Geschlecht bringt als solches keinen Unterschied hervor) gelten. Sie scheinen
die wichtigsten Träger der Ernährung des Körpers zu sein, und spielen bei der
Resorption und Assimilation besonders der Eiweisskörper eine grosse Rolle. Auch bei
der Bildung und "Wegschaffung der Reste des Stoffwechsels der Gewebe (Harnsäure),
scheinen sie stark betheiligt zu sein. Bei anaemischen Zuständen ist ihre Bedeutung eine
untergeordnete. Der dritte Formbestandtheil des Blutes sind die in ihrer Bedeutung un-
klaren Blutplättchen.
Der flüssige Theil des Blutes, das Plasma, besteht aus dem sich bei der Gerin-
nung abscheidenden Fibrin und dem Blutserum. Das letztere ist eine Lösung verschie-
dener Eiweisskörper (Serum-albumin und Serum-globulin), organischer und anorganischer
Salze. Unter den letzteren spielt das Kochsalz mit seinem annähernd constanten Gehalte
von 0"5 — 0'6 Proc. die Hauptrolle. Der procentische Gehalt des Blutserums an Ei weiss
schwankt besonders bei Kranken innerhalb viel weiterer Grenzen als der an Salzen und
scheint von der vorhandenen Blutkörperchenzahl ziemlich unabhängig zu sein. Einen be-
stehenden Eiweissverlust des Serums, wie es bei einigen Krankheiten die Regel ist (z. B.
Nephritis), bezeichnet man als Hydraemie. Das Blutserum ist der Träger der
meisten in gelöstem Zustande in den Körper eintretenden Nahrungsmittel. Es ist
der Vermittler des Stoffwechsels der Gewebe, wozu es durch die innigen Be-
ziehungen, welche es zu den Gewebssäften besitzt, besonders geeignet wird. Die Anwesen-
heit oder der relative Ueberschuss diffusionsfähiger Substanz im Blute oder in den
Geweben theilt sich mehr minder rasch auch dem nicht direct betroffenen Theile mit,
so dass die physikalischen und chemischen Eigenschaften des Serums bis zu einem ge-
wissen Grade als Ausdruck der gleichen sich in den Geweben abspielenden Processe
angesehen werden können.
Die allgemeine Aetiologie der Anaemie wurzelt stets in einem
gesteigerten Verbrauch oder einer verminderten Neubildung
rother Blutkörperchen. Sämmtliche der später anzuführenden, klinischen
Formen der Anaemie müssen von einem dieser Gesichtspunkte aus ihre
Erklärung finden. Ein gesteigerter Verbrauch Iässt sich meist leichter nach-
weisen als eine verminderte Neubildung dieser Elemente, doch ist zu be-
merken, dass bei Verminderung der oxydativen Vorgänge im Körper durch
gesteigertes Zugrundegehen von rothen Blutkörperchen auch die physiolo-
gische Neubildung derselben me aller Gewebselemente leiden muss.
ANAEMIE. 49
; Betreffs der Entstehung der Anaemie ist man im Allgemeinen
darüber einig, dass die räumliche Abwesenheit eines Theiles der im. Gefiiss-
rohr befindlichen rothen Blutkörperchen, wie sich dies am besten bei der
traumatischen Anaemie nachweisen lässt, durch zellenlose Flüssigkeit gedeckt
wird. Nach einem ausgiebigen Aderlasse sinkt fürs erste der Blutdruck, um
sich bald, anfangs durch Arbeit der Vasomotoren, später durch Nachströmen
von Gewebslymphe, welche eine Verdünnung des noch vorhandenen Blutes
bewirkt, auf die alte Höhe wieder einzustellen. Diese so nachströmende
Flüssigkeit scheint zuerst grösstentheils anorganische Salze, besonders das
leicht ditfusible Kochsalz in Lösung zu enthalten, so dass das Blutserum
kurz (wenige Minuten) nach einem Aderlass die procentisch alte oder so-
gar gesteigerte Kochsalzmenge enthält, sein Eiweissgehalt jedoch ver-
mindert ist. Nach wenigen Tagen ist jedoch der Salz- und Eiweiss-
gehalt des Serums wieder der ursprüngliche, während die Zahl der
rothen Blutkörperchen noch relativ vermindert ist. Hieraus geht hervor,
dass Anaemie und Hydraemie zwei von einander völlig getrennte pathologische
Begrife sind. Nicht so rasch als die Bestandtheile des Serums werden
die Zellen des Blutes nach einem Blutverluste wieder reconstruirt. Zwar
erfahren die weissen Blutkörperchen stets nach solchen Vorkommnissen
eine, manchmal recht bedeutende Vermehrung (posthaemorrhagische Leuko-
cytose), doch ist diese nur von kurzer Dauer. Sie dürfte darin begründet
sein, dass die nachströmende Lymphe weisse Blutkörperchen aus den
Geweben in die Blutbahn mitreisst. Meist sind bei chronischen Anae-
mien, sofern sie uncomplicirt sind, auch diese Zellen im Blute vermindert.
Die rothen Blutzellen reconstruiren sich erfahrungsgemäss je nach den
obwaltenden Ernährnngsbedingungen mehr weniger rasch, doch hält ihr
Haemogiobingehalt mit ihrer Zahl nicht gleichen Schritt. Es
kann vorkommen, dass die Zahl der rothen Blutkörperchen wieder ganz
oder annähernd zur Norm zurückgekehrt ist (nach Wochen, Monaten) und
dass der Haemogiobingehalt des Blutes noch immer vermindert erscheint, wo-
durch der Färbewerth des einzelnen rothen Blutkörperchens leidet. Die
Berücksichtigung dieser physiologischen Thatsache lässt eine normale oder
annähernd normale Zahl von Blutkörperchen mit vermindertem Haemogiobin-
gehalt als eine Regenerationserscheinung des Blutes deuten.
Das Bestehen einer anaemischen Beschaffenheit des Blutes übt sowohl auf
das Blut selbst, wie auch auf den Gesammtorganismus eine Rückwirkung
aus. Die Dichte des Blutes nimmt meist gleichsinnig mit seinem Haemoglobin-
gehalte ab. Die Alkalescenz desselben leidet auch durch wiederholte Ader-
lässe nicht, doch wurde sie bei chronisch anaemischen Kranken herabgesetzt
gefunden, eineErscheinumg, die also nicht in der Anaemie als solcher, sondern
in anderen Momenten begründet ist. An den rothen Blutkörperchen zeigt sich
der Einfluss der eingetretenen Blutverdünnung, sofern es sich um beträchtlichere
Grade handelt (vielleicht ist daran auch die darniederliegende Neubildung
dieser Zellen mit Schuld), durch das Auftreten von De gen er ati ons- Er-
scheinungen an diesen. Sie können endoglobulärer Natur sein oder das
gesammte Blutkörperchen betreffen. Die Ersteren sind im frischen, „nicht
misshandelten" Blute relativ häufig zu finden und bestehen in dem Auf-
treten vacuolenähnlicher heller Flecke oder Striche, welche oft unter dem
Auge des Beobachters ihre Gestalt verändern, jedoch keine echten Vacuolen
sind (weil sie sich mit neutralen Anilinfarben tingiren lassen), aber immer-
hin locale Haemaglobindefecte des Körperchens documentiren. Die Letzteren
bestehen in Gestaltsveränderungen des gesammten Blutkörperchens, wobei
dasselbe Birn-, Hammer- oder sonst irgend eine Form annimmt. ]\Ian be-
zeichnet diese als Poikihcgten oder Sdiistocgten. Sie sind im frisch entnom-
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Mcdicin und Kinderkrankheiten. ^
50 AXAEMIE.
menen Blute Kranker seltener zu linden und müssen, sofern sie gefunden
werden, als ein sehr übles Omen gelten. Auch sie sind Degenerationsproducte
normaler Korperchen und entstehen durch amöboide Bewegungen derselben.
Nicht minder wichtig sind die als Malcro- und Mikroci/ten bezeichneten Gebilde.
Die E r s t e r e n, abnorm grosse Zellen, dürften wegen Mangel der normalen Delle
als Quellungsproducte rother Blutkörperchen gedeutet werden können. Die
Letzteren, abnorm kleine rundliche, normal gefärbte Gebilde, welche jedoch
auch meist einer Delle entbehren, scheinen Fragmentirungsproducte degene-
rirter rother Blutkörperchen zu sein. Beide Formen finden sich nur im schwer
kranken Blute vor. Koch einer letzten, beim Erwachsenen abnormen Er-
scheinung im histologischen Bilde des auaemischen Blutes ist zu erwähnen.
Es sind dies die kernhaltigen Blutkörperchen. Dieselben finden
sich unter physiologischen Verhältnissen im Knochenmarke, verlieren jedoch
ihren Kern, ehe sie in die Blutbahn eintreten. Bei schwersten Formen von
Bluterkrankung finden sie sich, wenn auch immer selten, auch im circu-
lirenden Blute. Sie unterscheiden sich meist bis auf die Anwesenheit
des Kernes nicht von normalen rothen Blutkörperchen (und auch dieser
mrd meist erst bei der Färbung des Präparates sichtbar). Mitunter finden
sich jedoch auch kernhaltige Poikilocyten, sogenannte PoiMohlas/eti oder
Makro cyten, welche mit einem Kern ausgestattet sind, Megaloblasten. Das
Auftreten jedes einzelnen der erwähnten Gebilde lässt eine schwere Er-
nährungsstörung des Blutes im Allgemeinen annehmen, ohne für sich allein
eine specielle Diagnose auf die Natur der vorhandenen Störung zu ge-
statten. Der Haemoglobingehalt des Blutes ist bei Anaemie meist
gleichsinnig mit der verminderten Zahl der rothen Blutkörperchen ver-
ringert, doch kommen Schwankungen in der Art, dass ein relatives Plus
oder Minus an Farbstoff besteht, wohl vor. Einer derartigen Erscheinung
während der Ptegeneration nach Aderlässen wurde bereits Erwähnung ge-
than, im Uebrigen verweisen wir auf den speciellen Theil dieses Aufsatzes.
Die weissen Blutkörperchen zeigen bei Anaemie (ausser der oben er-
wähnten posthaemorrhagischen Leukocytose) weder der Zahl noch ihrer
Qualität nach eine charakteristische Veränderung. Sie sind bei uncompli-
cirten chronischen Anaemien meist nicht vermehrt, eher vermindert. Wir
werden ihr Verhalten bei den verschiedenen, besonders den secundäreu
Anaemien noch zu erwähnen haben.
Die Blutplättchen finden sich, ohne dass ein weiterer Schluss
daraus gestattet wäre, bei chronischen Anaemien häufig vermehrt.
Der Einfluss einer anaemischeu Blutmisclmng auf die Functionen
des Gesammt Organismus hängt wesentlich von der Schnelligkeit ab,
mit welcher sich die Anaemie ausbildet. Es weichen deshalb sowohl die
klinischen Erscheinungen wie der pathologisch-anatomische Befund der acuten
Anaemie wesentlich von dem der chronischen ab. Auf die Erstere kommen
wir unten ausführlich zu sprechen und beschränken uns betreffs der Letzteren
hier darauf, kurz die durch dieselben verursachten fundionelJen und patho-
logisch-rmatom' sehen Veränderungen, soweit sie den verschiedenen Formen
gemeinsam sind, anzuführen. Im Allgemeinen gilt der Satz, dass bei Anae-
mie überhaupt sämmtliche Functionen des Körpers auf ein niederes Niveau
herabgedrückt sind. Wenn auch der respiratorische Gasaustausch keine
Abweichung von der Norm zeigt, ist doch bei schwer Auaemischen, wenn
nicht ein complicirendes Moment hinzutritt, der gesammte Stoffwechsel, dem-
entsprechend die Leistungen der einzelnen Organe, vermindert.
Charakteristisch ist die die schweren Arten von Anaemie begleitende
Somnolenz, Schwindel und Apathie, zu welchen sich bei chronischen Formen
noch Gedächtnisschwäche hinzugesellt. Die allgemeine Körperdecke ist
ANAEMIE. -,1
blass, kühl, die Schleimhäute wie ausgewässert, das Lippenroth mit einem
Stich ins bläuliche. Die Körpertemperatur eher suhnormal, nicht gesteigert.
Das Körperfett zeigt sich nicht wesentlich vermindert.
Einer eingehenderen Besprechung bedürfen die abnormen Erscheinungen
von Seiten des Circulatiousapparate s. Man findet zwar rythmischen,
doch meist sehr frequenten Herzschlag; den Spitzeustoss, wie den Puls
liatternd, klein und weich. Die Pulscurve meist sehr seicht, mit geringen
Elasticitätselevationen, die Herzdämpfung bei chronischen Anaemien mit-
unter etwas nach rechts verbreitert, oder zeigt sich eine leichte Erhöhung der-
selben (linker Vorhof ). Die Auscultation über dem Herzen ergibt häufig die
Anwesenheit von sogenannten anaemischen Geräuschen. Diese zeichnen sich
aus und unterscheiden sich von echten, organischen Geräuschen des Herzens:
1 . durch ihre Weichheit, geringe Lautheit und ihre Kürze, 2. dadurch, dass
sie niemals diastolisch^ stets si/sfoliscli sind, 3. sind sie meist am lautesten
an der Herzbasis, schon schwächer an der Herzspitze hörbar, 4. combiniren
sie sich häufig mit sogenannten Xonnengeräuschen au den grossen Venen des
Halses. Die Art der Entstehung der anaemischen Herzgeräusche ist noch
nicht sichergestellt. Die meisten Autoren nehmen eine durch eine einfache
Schwäche des Herzmuskels oder eine partielle fettige Degeneration der
Papillarmuskeln bedingte ungleichmässige Spannung der Zipfel der Mitralklappe,
also eine relaticelnsiifßcienz dieser Klappe als Ursache dieser Schallphänomene
an. Die Differentialdiagnose gegen organische Mitralinsufficienz wird einer-
seits das Fehlen einer Hypertrophie des linken Ventrikels, anderseits
das Fehlen der xlccentuation des 2. Pulmonaltones berücksichtigen müssen.
Die erwähnten Xonnengeräus ch e sind meist über der v. jiigidaris int.
oder dem Bulbus v. juguleiris am lautesten zu hören, wo sie auch entstehen,
und zeichnen sich gegen Arteriengeräusche dadurch aus, dass sie während
Sys- und Diastole der Ventrikel zu hören sind und einen eigenthümlichen
summenden Charakter haben. Sie sollen dadurch zu Stande kommen, dass
das Blut aus einem relativ engen Ostium in den relativ weiten Bulbus der
V. juguhirls stürzend in einen Wirbelstrom geräth.
Die Respiration ist häufig beschleunigt, flach und wird wie die
Herzaction durch oft scheinbar unbedeutende Muskelleistungen des Patienten
wesentlich beeinflusst. Magen- und D arm c a nal zeigen meist kein charakte-
ristisches Verhalten. Der Appetit liegt oft schwer darnieder, doch kommen
auch schwere Formen von Anaemie vor, welche betreffs der Esslust sowie der
Säuresecretion der Magenschleimhaut und der verdauenden Kraft des Magens
überhaupt normale Verhältnisse zeigen. Der Stuhlgang findet sich bei chroni-
schen Formen reiner uncomplicirter Anaemie häufig sehr träge, doch begegnet
man bei acuten traumatischen Anaemien (bei Thieren) in ultimis meist einer
gesteigerten Darmperistaltik, welche zu reichlichen Kothentleerungen führt.
Die Function der Nieren pflegt meist durch eine chronische Anaemie
nicht geändert zu werden. Der ausgeschiedene Harn ist eher spärlich, von
hoher Concentration und trägt im Uebrigen die Charaktere der Letzteren.
Bei acuter Anaemie sistirt die Harnsecretion fürs Erste meist überhaupt
ganz oder sie ist sehr vermindert. Ln Verhalten der Sinnesorgane bei
schwer Anaemischen verursachen die sich secundär an den Gefässwänden
ausbildenden Veränderungen häufig Störungen. Dieselben documentiren sich
in Form von mehr weniger grossen Blutextravasaten, von welchen bis heute
noch nicht entschieden ist, ob sie per Rhexin oder Diapedesin zu Stande
kommen. Die schwere Erkrankung der Gefäss-, speciell der Capillarwaudungen
Hesse beide Arten von Blutaustritt aus dem Gefässrohr verständlich er-
scheinen. Es ist verständlich, dass je nach der Ausdehnung derartiger
Blutungen in die Netzhaut, Sehstörungen grösseren oder geringeren Grades
4*
Ö2 ANAEMIE.
sich ergeben können. Doch ist das Fehlen subjectiver Störungen bei Netz-
hautblutungen wiederholt bemerkt worden. Auch für den inneren Theil des
Gehörorgan es sind im Anschluss an schwere Anaemie Functionsstörungen
bekannt, welche ihren Grund in dem gleichen Moment haben dürften.
Die durch Anaemie verursachten Veränderungen, welche sich am
Sectionstis che erheben lassen, sind (reine Fälle vorausgesetzt) sehr
spärlich. Bei Besichtigung sämmtlicher Organe fällt vor Allem die hoch-
gradige Blässe derselben auf. Ausserdem findet sich besonders in der
Höhle des rechten Ventrikels das Blut sehr dünnflüssig, meist schlecht
geronnen. Der Blutkuchen selbst hat eine mattrothe, oft bis Hinibe ergelee-
artige Farbe und auffallend weiche Consistenz. Ausserdem finden sich jedoch
noch besonders an den serösen Häuten oft kleine, stecknadelkopfgrosse
und grössere Haemorrhagien , welche dem Verlauf von Gefässen fol-
gend, den Organoberflächen mitunter ein eigenthümliches gesprenkeltes
Aussehen verleihen und auf dieselben Momente zurückzuführen sind, wie
die schon intra vitam nachweisbaren Xetzhauthaemorrhagien. Am Herzmuskel,
sowie den Gefässwänden lässt sich constant jene unter dem Namen der
fcffUien Derjeneration bekannte histologische Veränderung nachweisen. Man
findet dann ebenso die Endothelzellen der zartesten Gefässwände, wie auch
die Muskelschläuche des Herzens erfüllt von einer grossen Zahl kleiner,
hellglänzender Tröpfchen, welche mit Osmiumsäure die für Fett charakte-
ristische Beaction, Schwarzfärbung, annehmen. Ob dieser Körper thatsächlich
vom chemischen Standpunkte als Fett zu gelten habe, welcher Art er sei
und wo die Quelle desselben zu suchen ist, darüber fehlen uns die Kennt-
nisse. Gehirn, Lungen, Leber, Milz und Nieren, sowie der Magendarmcanal
und der Geschlechtsapparat bieten meist bis auf die erwähnten, meist sub-
pleuralen oder subserösen Haemorrhagien und die hochgradige Blässe keine
charakteristischen Veränderungen dar.
So complex uns nach den allgemeinen pathologischen imd den patho-
logisch-anatomischen Anschauungen auch der pathologische Begriö" der
Anaemie erscheinen mag. so ist das Bild, unter w^elchem sie dem Arzte am
Krankenbett in Erscheinung tritt, doch ungemein pohjniorph. Abgesehen
von andersartigen Erkrankungen (Leukaemie, Pseudoleul'aemie) sind wir ge-
nöthigt, unter den Auaemien vor Allem den acuten (traumatischen) Auae-
mien eine gesonderte Besprechung zu widmen. Betrefl^s der chronischen
Anaemien hat jedoch die Erfahrung gelehrt, dass es auch hier zweckent-
sprechend ist, sie in zwei grosse Gruppen zu trennen, die primären
und secundären Anaemien, deren Kriterien allerdings mehr praktischen
als theoretischen Gründen Ptechnung tragen. Unter primären Anaemien
versteht man meist solche, deren Ursache unbekannt ist und bei welchen
die Anaemien das hervorstechendste, das klinische Bild beherrschende
Symptom ist und sich die anderweitigen Symptome sehr gut aus diesem
einen ableiten lassen. Wir pflegen zu denselben zu rechnen: 1. die einfache
primäre Anaemie, 2. die progressiüe perniciöse Anaemie und 3. die Chlorose.
Sofern ein anderes, anatomisches Leiden nachweisbar vorliegt und dasselbe
mit Anaemie complicirt ist, hat tausendfältige Erfahrung gelehrt, dass ein
Causalnexus zwischen diesen beiden Erkrankungen sehr häufig besteht. Wir
pflegen für solche Formen von Anaemie die Bezeichnung der secundären
Anaemien anzuwenden und vermuthen in ihnen den sich auf das Blut
äussernden Efl"ect der bestehenden Organ- und Allgemeinerkrankung. Ebenso
wie uns über die Details der Pathogenese bei den primären Anaemien jeg-
liche Kenntnisse mangeln, fehlen sie uns auch bei den meisten secundären.
ANAEMIE. 53
IL Specieller Theil.
Ä. Die primären Anaemien.
1. Die acute Anaemie (der Verblutuugstod).
Der acuten Anaemie liegt stets ein erheblicher, mehr minder rasch
verlaufender Blutverlust zu Grunde. Dieser kann ebenso wohl durch Ver-
letzung eines grossen Gefässes durch Trauma oder Arrosion, wie durch
gleichzeitige Eröffnung einer grossen Zahl kleiner Gefässe bedingt werden.
In beiden Fällen kann er unmittelbar den Tod herbeiführen. Die
Todesursache bei acuter Anaemie ist jedoch nicht einheitlich. Sie kann,
sofern der Blutverlust äusserst rasch erfolgt und dem Blute nicht Zeit
gegönnt ist, sich auf Kosten der Gewebssäfte in seiner Menge zu
reconstruiren, eine Folge der relativen Leere des Gefässsystems und der
consecutiven Blutdrucksenkung sein (mechanischer Verblutungstod — auch
in diesem Falle entleeren sich nur circa zwei Drittel des in den Gefässen
enthaltenen Blutes). Die zweite Möglichkeit für den Eintritt des Todes
kann in dem durch die Blutung verursachten absoluten Mangel an rothen
Blutkörperchen liegen, wodurch der Organismus der Fähigkeit beraubt wird,
die ihm nothwendige 0 Menge in sich aufzunehmen (functioneller Ver-
biutungstod).
Eine scharfe Trennung der beiden erwähnten Todesarten stösst in
praxi jedoch oft auf Schwierigkeiten, da sich auch beim raschesten Ver-
bluten stets neben der Blutdrucksenkung die Einschränkung der liespi-
rationsoberfläche in grösserem oder geringerem Grade geltend machen kann.
Nachdem, wie erwähnt, die Schnelligkeit, mit welcher der Blutverlust
den Körper trifft, für ihn von grosser Bedeutung ist, kann die Frage, wie
viel Blut ein Individuum im Verhältniss zu seinem Körpergewichte ver-
lieren oder wie tief die Zahl der rothen Blutkörperchen in der Raumein-,
heit des Blutes sinken kann, ohne dass der Tod eintritt, nicht ohneweiters
bestimmt beantwortet werden und dies umsomehr, als die Compensation
eines eingetretenen Blutverlustes durch Gewebssaft auch von dem Flüssig-
keitsreichthum der Gewebe abhängt. Nachdem der letztere wiederum von
der Quellungsfähigkeit derselben abhängig ist, so wird in letzter Linie diese
sowie der Grad der Fähigkeit der Gewebe, ihr Wasser an das Blut abzu-
geben, für die Compensation eines Blutverlustes massgebend sein müssen.
Diesen complicirten Verhältnissen entsprechend findet man in der Literatur
die widersprechendsten Angaben über die Grösse des Blutverlustes, welchen
ein Mensch oder ein Thier noch zu überleben vermochte oder über die
niedrigste Zahl von rothen Blutkörperchen, bei welchen das Leben noch
möglich war. Die geringste Blutkörperchenzahl, welche meines Wissens über-
haupt beim Menschen beobachtet wurde, betraf eine von Quincke unter-
suchte Frau, welche 142.0UO rothe Blutkörperchen pro cubmni aufwies. Ob
dieses Individuum jedoch weiter gelebt hätte, ist unentschieden, nachdem
bei ihr eine Transfusion vorgenommen wurde.
Die klinischen Symptome der acuten Anaemie decken sich im
Allgemeinen mit den für die Anaemie überhaupt bereits beschriebenen.
Somnolenz, Blässe, fahle Gesichtsfarbe, Verfärbung der Sclileimhäute, Ein-
gesunkensein der Augenhöhlen, subnormale Temperaturen, Ausbruch von
Schweiss, kleiner flatternder Puls, beschleunigte Respiration, Anurie und in
letzter Linie Zuckungen in einzelnen Nervengebieten (facialis) oder ganzen
Extremitäten, seltener ausgebreitete Krämpfe, Dilatation der Pupillen sind
die allerdings besser vom Thier als vom Menschen bekannten Symptome
des Verblutungstodes.
Der pathologisch anatomische Befund betrifft selbstredend
54 ANAEMIE.
in erster Linie die Ursache des eingetretenen Blutverlustes. Sonst zeigt
die Obduction nichts weiter als die Zeichen hochgradigster Blutleere der
Organe.
Die Therapie der acuten Anaemie muss, sofern die Stelle der
Blutung zugänglich ist, in erster Linie chirurgischer Natur sein, um das
oder die -blutenden Gefässe, sei es durch Ligatur, Tamponade oder Com-
pression, zu verschliessen. Ist diese Möglichkeit ausgeschlossen oder nur
auf dem Wege einer grossen Operation möglich (Magenblutungen, Lungen-
blutungen, Blutungen ins Abdomen), so wird die locale Application von
Kälte in Form von Eisumschlägen, Eisbeutel auf die Haut, Eispillen, Magen-
ausspülungen mit Eiswasser, verbunden mit Ruhe und der Darreichung
eines Haemostaticum angewandt werden müssen. Unter den zu letzterem
Zwecke empfohlenen Mitteln sind die innerlich oder subcutan zu verab-
reichenden, Gefässcontraction erzeugenden Präparate von denjenigen zu
trennen, welche bei chirurgisch nicht angreifbaren oder parenchymatösen
Blutungen wegen ihrer Gerinnung fördernden Eigenschaften applicirt werden
können. Zu den ersteren zählt vor Allem das Krgot'm. Dasselbe kann inner-
lich zu 0-1 — 0-6 drei- bis viermal täglich in Pillen, Pastillen oder Lösung
oder subcutan zu 0-2 — 0*5 — ;-0! pro dosi gegeben werden. Zu den letzteren
gehört das Ferr. sesquiclüorat., die Penghnvar Ymnhee etc. Die Zahl der be-
sonders zur innerlichen Application empfohlenen Präparate ist gross, und
wäre diesbezüglich auf den Artikel „Haemostatica" dieses Sammelwerkes
(Pharmacologie und Toxicologie) zu verweisen.
Mit der Sistirung der Blutung ist jedoch die Aufgabe des Arztes noch
nicht erschöpft. Nunmehr handelt es sich darum, eventuell bestehende, be-
drohliche Erscheinungen von Seite des Gehirns und des verlängerten Markes
zu beheben oder zu verhüten. Man greift zu Niedrigiagern des Kopfes
und reicht Analepfica, als schwere Weine oder sonstige AlcolioUca (auch
als Klysma), Thee, Kaffee, Kampher, Aether, Einwickelungen der Extremi-
täten in heisse Tücher oder Anlegungen der EsMAEcn'schen Binde für
kurze Zeit an eine oder beide unteren Extremitäten. Erweisen sich alle
die angeführten Massnahmen unzureichend, um die gesunkene Herzarbeit
wiederherzustellen, so bleibt wohl nur noch ein Ausweg, die Lifusion oder
Transfusion, um die dem Kranken verloren gegangene Blutmenge, sei es
durch eine indiiferente Salzlösung oder durch Blut wieder zu ersetzen.
Die Infusion und Transfusion kann direct in das Gefässsystem oder sub-
cutan gemacht werden. Beide Methoden haben ihre Freunde und Feinde,
allgemein ist man jedoch darin einig, dass speciell für die Verhältnisse der
täglichen Praxis, besonders am Lande die subcutane Infusion
wegen ihrer Einfachheit vorzuziehen ist.
Die Technik dieses Verfahrens ist ungemein einfach. Ein mit einem circa 1 his
] 5 Meter langen Kautschukschlanch armirter Glastrichter wird mit einer Hohlnadel am
freien Ende versehen, und am Schlauche selbst ein Quetschhahn angebracht Trichter,
Schlauch und Nadel werden-mit der zu infundirenden Flüssigkeit gefüllt, die Nadel hier-
auf an einer beliebigen Stelle, man wählt meist Bauch oder Rücken, unter die Haut ge-
schoben, und die Flüssigkeit nunmehr langsam einfliessen gelassen. Durch örtliche Mas-
sage kann die Resorption der Flüssigkeit beschleunigt werden. Bei der directen Infusion
in das Gefässsj'stem wird eine Vene frei präparirt, und eine Glascanüle, welche sich an
Stelle der Hohlnadel befindet, in dieselbe eingebunden. Es braucht nicht ausdrücklich
erwähnt zu werden, dass nicht nur jeder einzelne Theil des Infusionsapparates, sondern
auch die zu infundirende Flüssigkeit auf das Peinlichste desinficirt, respective sterilisirt
sein muss. Was die Qualität der Infusionsflüssigkeit anbelangt, so genügt wohl meist
eine 06procentige Kochsalzlösung, welcher man eventuell einige Tropfen einer dünnen
Natronlauge oder etwas Rohrzucker hinzufügen kann. Neuestens wurde zu Infusions-
zwecken bei Cholera asiatica folgende Formel empfohlen: Aqua destillata lüOü'O, Natr.
chlorat. 50, Natri hydrat 1"0, Natri sulfur. 25'0. Die Infusionsflüssigkeit soll eine Tem-
peratur von 37—39 Grad Celsius haben.
ANAEMIE. 55
Schwieriger und ungleich gefährliclier als die Infusionstherapie, wehiie
allerdings auch nur den räumlichen Defect in der Gefässbahn, also den
mechanischen Yerblutungstod zu beheben vermag, ist die directe Trans-
fusion von Mensch zu Mensch.
Abgesehen davon, dass sich im Bedarfsfall wohl nicht immer ein Blutspender
findet, hat man mit diesem Operationsverfahren auch bereits so häufig traurige Erfah-
rungen gemacht, indem die Patienten während oder kurz nach der Operation zu Grunde
gingen, dass man sie fast ganz verlassen hat. Die Gefahren der directen Transfusion
liegen hauptsächlich in der Gerinselbildung, welche hintanzuhalten man bisher nicht
immer mit voller Sicherheit in der Lage war, und in der sogenannten E'ermentintoxication,
einem Krankheitsbilde, welches mit Schüttelfrösten, hohem Fieber, Benommenheit einher-
geht und schliesslich meist zum Tode führt. Neuerlich hat man versucht, diese Gefahren
einerseits durch Zumischung von Blutegelextract zum Blute (LandoisV anderseits durch
directe Blutaspiration aus der Armvene des Blutspenders mittelst einer mit einer Hohl-
nadel armirten Glasspritze und directen üebertragung unter die Haut des Patienten
(v. Ziemssek) zu umgehen, doch liegen betreffs dieser Verfahren noch keine genügende Er-
fahrungen vor, um sie an dieser Stelle empfehlen zu können. Immer ist die Bluttrans-
fusion gegen die Infusion das umständlichere, schwierigere und gefährlichere Verfahren,
welches schon deshalb bei der Behandlung der acuten Anaemie, wo meist rasches Handeln
nothwendig ist, seltener wird in Anwendung gezogen werden können.
2. Die chronischen Anaemien,
a) Die einfache primäre Anaemie.
Der Begriif der einfachen primären Anaemie ist nicht leicht zu um-
grenzen. Man bezeichnet mit diesem Worte jene chronich verlaufenden
Formen von Anaemie. welche, olme sich an eine anderweitige nachweis-
bare Erkrankung anzuknüpfen, häufig im Anschlüsse an schlechte Lebens-
bedingungen überhaupt sich entwickeln. In der Aetiologie derselben
scheinen schlechte Lebensbedingungen überhaupt, besonders Hunger und
gesteigerte Muskelarbeit eine Hauptrolle zu spielen. Die Grade, welche
dieselbe erreichen kann, sind mitunter derart hoch, dass eben nur der
Ausgang in Genesung sie von der progressiven, perniciösen Anaemie unter-
scheidet.
Wenn es auch bisher, auf experimentellem Wege nicht gelungen ist, durch Hunger
weder bei erwachsenen Menschen und Thieren, noch bei jungen Thieren Anaemie zu er-
zeugen, so ist für die menschliche Pathologie zu bemerken, dass sociales Elend meist
]iicht mit Hunger allein, sondern häufig mit gesteigerter Muskelarbeit und anderen
Schädlichkeiten verknüpft ist. Wenn Hunger auch keinen Mehrverbrauch von rothen
Blutkörperchen erzeugt, so ist jedenfalls ihre Neubildung hiebei eingeschränkt, und wenn
noch ein Moment wie z. B. forcirte Muskelarbeit, welche ein Plus von Stoffverbrauch
voraiissetzt, hinzukommt, so wäre die Differenz zwischen klinischer Beobachtung und
Thierexperiment vielleicht erklärt.
Die klinische Symptomatologie dieser Erkrankung knüpft wie
bei der Mehrzahl der Anaemien an ein ziemlich vorgeschrittenes Stadium
an. Wir finden meist einen (relativ häufiger männlichen) Patienten, welcher
den Arzt wegen zunehmender Schwäche, Appetitmangel, Herzklopfen und
mitunter sei einbar neurasthenischen Beschwerden, als tiiegenden Schmerzen,
Schlaflosigkeit, schneller geistiger Ermüdbarkeit etc. consultirt. Den Beginn
des Leidens genau anzugeben sind die meisten Kranken nicht in der Lage
und beziehen ihn häufig auf relativ untergeordnete Schädlichkeiten, wie
Erkältungen, Diätfehler etc.
Die objective Untersuchung ergibt meist ein ziemlich typisches Bild,
welches sich an das oben kurz gezeichnete, für alle Formen der Anaemie
giltige, eng anschliesst. Ein blasses Individuum, welches in seiner Ernährung
meist ziemlich herabgekommen ist, zeigt blasse, bläuliche Lippen, weisse, wie
ausgewässerte Conjunctivae. Sein Körperbau kann kräftig, auch die Mus-
culatur noch recht gut entwickelt sein, nur der Fettpolster hat meist erheblich
gelitten. Von Seite des CNS. bestehen ausser allgemeinen Depressionser-
56. AI^AEMIE.
scheiuuugen gewöhnlich keinerlei deutliche Störungen; nur neuralgische
Schmerzen werden mitunter von den Patienten, meist auf cariöse Zähne:
zurückgeführt, angegeben. Von Seite der Sinnesorgane bestehen selten sub-
jective oder objective Symptome von grösserer Bedeutung. Zuweilen wird
über Erscheinungen von schwarzen Rädern oder Kugeln oder Flimmer-
scotomen, sowie über Ohrensausen geklagt, doch sind dies Symptome, welche
sich nur bei schweren Formen dieser Erkrankung finden, bei welch' letzteren
übrigens auch die bekannten Haemorrhagien auf der Netzhaut beobachtet
werden können. Die Lungen bieten selten etwas Autfallendes, verdienen
jedoch in solchen Fällen doppelt aufmerksame Untersuchung, weil gerade
die ersten Stadien der Luugentuberculose häufig das Bild einer primären
Anaemie leichteren Grades vortäuschen können. Am Herzen, sowie den
grossen Gefässen des Halses finden sich je nach dem Grade der bestehenden
Blutveränderung jene bereits erwähnten, als anaemische und Nonnengeräusche
beschriebenen Schallphaenomene, wiewohl Einige die Nonnengeräusche als
der Chlorose einzig zugehöriges ansehen. An den Organen des Unter-
leibes vermisst man meist irgend etwas Pathologisches, für Anaemie Charak-
teristisches. Mitunter wird Druckgefühl und Druckempfindlichkeit unterhalb
des proc. xyphoides angegeben und mit diesem Symptom die bestehenden
Magenbeschwerden vom Patienten verknüpft. Eine Untersuchung der secre-
torischen und motorischen Functionen des ^lagens lehrt jedoch meist keine
Anomalie oder, falls eine solche trotzdem nachweisbar ist, bildet sie keinen
integrirenden Bestandtheil des Symptomeubildes der clironischen primären
Anaemie. Im Uebrigen wird auch auf diese Verhältnisse ebenso wie auf
die Untersuchung der Lungen doppelt zu achten sein, da ebensowohl ein
kleines Ulcus rotundum oder Carcinoma ventriculi den in Rede stehenden
Krankheitsprocess vortäuschen oder durch dasselbe auch maskirt werden
kann. Die Harnuntersuchung ergibt meist keine weiteren Anhaltspunkte.
Eine Sicherstellung der Diagnose wird nur aus der Blutunter-
suchung auf Zahl und Haemogiobingehalt der geformten Elemente er-
wachsen. Man findet die Blutkörperchenzahl in den verschiedensten Graden,
meist jedoch innerlialb geringer Grenzen unter die Norm reducirt. Der
Haemogiobingehalt des einzelnen rothen Blutkörperchens ist, wie scheint,
normal, da die Farbstotfbestimmungen in solchen Fällen meist der Blut-
körperchenverminderung entsprechende Werthe ergeben. Die Dichte des
Blutes ist entsprechend dem Mangel an Haemogiobin herabgesetzt und die
Alkalescenz desselben meist etwas vermindert. Auch die sogenannte farben-
analytische Untersuchung des Blutes ergibt keinerlei nennenswerthe diagno-
stische Anhaltspunkte. Die vorhandenen rothen Blutkörperchen zeigen sich
meist normal geformt und nur in schweren Fällen sind jene bereits oben
als Degenerations-Erscheinungen zu deutenden Veränderungen an ihrer
Gestalt, sowie an ihrem Protoplasma zu erkennen. Die weissen Blutkörper-
chen zeigen keine bemerkenswerthe Veränderung. Mitunter wird das relativ
vermehrte Auftreten van monouuclearen grossen oder kleinen Lymphocyten
beschrieben. Doch sind wir heute noch nicht in der Lage, uns daraus einen
diagnostischen oder pathologischen Gesichtspunkt abzuleiten.
Die Prognose der primären chronischen Anaemie ist meist günstig.
Unter entsprechendem Regime bessert sich der Allgemeinzustand und
dieser meist rascher als der objective Blutbefund. Bei Verfolgung dieses-
constatirt man auch häufig die schon oben erwähnte Erscheinung, dass die
rothen Blutkörperchen sich vermehren, ohne dass fürs Erste eine gleich-
sinnige Zunahme des Blutfarbstoffes nachweisbar wäre, so dass die durch-
schnittliche Färbekraft des einzelnen Blutkörperchens abgenommen zu haben
scheint. Der Verlauf dieser Erkrankunu'. ehe sie zur völligen Wiederher-
ANAEMIE. 57
Stellung führt, kann in den verschiedenen Fcällen ungemein von einander
abweichen. Wochen, Monate, ja Jahre können die einzelnen Fälle in ihrem
Verlaufe von einander trennen.
h) Die progressire perniciöse Anaemie.
Die schwerste Form chronischer Anaemie, welche stets fortschreitend,
meist rasch zum Tode führt, und welche bei der Section keinen Anhalts-
punkt für ihre Entstehung, sondern nur Folgeerscheinungen derselben er-
kennen lässt, bezeichnet man allgemein mit dem oben angeführten Aus-
druck. Die Aetiologie dieses Leidens ist völlig dunkel und dementspre-
chend sind auch unsere Kenntnisse über das Wesen desselben. Besonders
neuerer Zeit hat man es wiederholt versucht, die progressive, perniciöse
Anaemie nur als ein Symptom aufzufassen, welchem die verschiedensten
Ursachen zu Grunde liegen können. Dies geht schon aus dem Grunde nicht
an, weil, wenn auch die Neuzeit für manche bis dahin räthselhafte Formen
von schwerer chronischer Anaemie eine Erklärung gefunden hat, trotzdem
noch immer eine Zahl von Krankheitsfällen vorkommt, deren Sections-
resultat betreffs aetio legis eher Momente völlig negativ
ausfällt. Für diese möchte ich die im Titel gegebene Bezeichnung ge-
wahrt wissen. Herrscht schon hierüber Uneinigkeit, so ist dieselbe noch
grösser betreffs der Frage, ob mangelhafte Neubildung oder vermehrter
Zerfall der rothen Blutkörperchen die Ursache dieser Erkrankung ist. Für
beide Anschauungen sind stützende Momente beigebracht worden, keine
konnte bisher bewiesen werden. Wenn das Auftreten kernhaltiger rother
Blutkörperchen im circulirenden Blute für eine verminderte Umbildung dieser
Elemente des Knochenmarkes in normale rothe Blutkörperchen zu sprechen
scheint, so weist unter Anderem z. B. das Entstehen von Icterus, sowie
Urobilinurie auf ein vermehrtes Zugrundegehen desselben hin. In
gleichem Sinne sind auch die an den rothen Blutkörperchen zu beob-
achtenden schweren Degenerations-Erscheinungen zu verwerthen, sowie der
Umstand, dass es gelingt, durch wiederholte Einbringung von Blutgiften in
den Thierkörper (Fi/rogaUoI) das klinische Bild der progressiven pernici-
ösen Anaemie an Thieren zu erzeugen. Aus letzterer Beobachtung speciell
wollte man den Schluss ableiten, dass auch bei der progressiven pernici-
ösen Anaemie eine Vergiftung mit einem Blutgift unbekannter Natur und
Provenienz vorliege, doch ist ein solches bisher noch nicht nachge-
wiesen worden. Auch die Eventualität einer Infection wurde schon mit
gleicher Unsicherheit in Frage gezogen.
Das Symptomenbild lässt den Kranken meist sofort als schwer
darniederliegend erkennen. Eine ausnehmende, wachsartige Blässe der Haut-
decken und der Schleimhäute wie bei einem Verblutenden mit meist leicht
gelblicher Verfärbung der Sclerae, steht in Contrast mit dem noch gut er-
haltenen Paniculus. Der Kranke vermag sich nur unter grosser Mühe bei
beständigem Herzklopfen und Athemnoth selbstständig auch nur im Bette-
zu bewegen. Seine Haut ist kühl, er selbst meist apathisch wie in leichter
Narkose, die Körpertemperatur eher subnormal. Die objective Untersuchung
des Patienten ergibt alle Zeichen schwerster Anaemie, ohne eine Ursache
des Leidens erkennen zu lassen. Retinalhaemorrhagien, laute anaemische
Geräusche am Herzen und den grossen Gefässen des Halses bilden die
Hauptmomente des aufzunehmenden Status praesens.
Die einzigen für die Diagnose, wenn auch mit grosser Vorsicht zu
verwerthenden Anhaltspunkte bietet der Blutbefund. Das frisch der
Fingerbeere entnommene Blut hat meist mehr das Aussehen eines dünnen
Himbeerwassers, als das von Blut. Es fallt schon beim Bestreichen des
58 ANAEMIE.
Deckgläscheus seine geringe Yiscosität auf. Unter das ^Mikroskop gebracht,
ist häufig schon ohne weitere Präparation die geringe Zahl der rothen Bkit-
körperchen auffallend und diese selbst zeigen nun meist äussert hochgradig
und ausgesprochen die für diese schwersten Anaemien charakteristischen
Degenerations-Erscheinungen, deren bereits oben Erwähnung geschehen ist.
Poikilocyten, kernhaltige rothe Blutkörperchen. Poikiloblasteu, Megalo-
blasten, Mikrocyteu und endoglobuläre Degenerationsformen findet man
meist immer auch in den sorgfältigst bereiteten Blutpräparaten. Die Zahl
der rothen Blutkörperchen im Cubikmillimeter kann bis auf den geringsten
Werth reducirt erscheinen. Der von Quincke mit 142.000 Blutkörperchen
beobachtete Fall wurde bereits erwähnt (ist jedoch wegen seines günstigen
Ausganges als progressive perniciöse Anaemie zweifelhaft, eher vielleicht
der einfachen primären Anaemie zuzuzählen) : ich selbst konnte einen Fall
beobachten, welcher am vorletzten Lebenstage 2Ö0.000 rothe Blutkörper-
ehen im Cubikmillimeter zeigte. Die weissen Blutkörperchen sind in solchen
Fällen, falls nicht etwa eine terminale Complication mit einer zur Exsudat-
bildung führenden Infection besteht, nie vermehrt, eher vermindert, und
auch betreffs ihrer Chromatophilie unverändert. Der Blutfarbstoff wurde
von einigen Autoren als relativ, d. h. für die enorm gesunkene Zahl von
Blutkörperchen vermehrt angegeben, wodurch die Färbekraft des einzelnen
Blutkörperchens sich als gesteigert ergeben würde, oder man das Bestehen
von llamiorjJohhiaemie anzunehmen gezwungen wäre. Für beide ^löglich-
keiten Hessen sich Anhaltspunkte aus dem klinischen Befunde beibringen —
3Ie(jalohI asten, Icteni>^ — doch möchte ich darauf hinweisen, dass auch unsere
besten auf der Klinik zu verblendenden Apparate zur Haemoglobinbestim-
mung innerhalb jener Grenzen, um welche es sich in solchen Fällen handelt,
zu hohe (bis 20 Procent) Werthe angeben. So scheint uns die Vorstellung
eines relativen Plus an Haemoglobin im Blute häufig eher dem Untersucher
durch den mikroskopisch erhobenen Befund von Makrocyten. Megaloblasten
und den Icterus suggerirt zu werden, als auf sicherer Basis zu beruhen.
Die Blutplättchen finden sich meist sehr vermehrt.
Aus den beigebrachten Daten ist es ersichtlich, dass die Diagnose
einer progressiven, perniciösen Anaemie immer nur eine Wahrscheinliclikeits-
Diagnose sein kann, denn sowohl die einfache primäre Anaemie. wie auch
alle secundäxen Anaemien können, sofern sie diese Intensität erreichen,
derart schwere Blutveränderungen verursachen, und der Arzt wird meist
viele der für die letzten giltigen Ursachen am Krankenbette nicht mit
Sicherheit ausschliessen können.
Der 0 b d u c t i 0 n s b e f un d, welcher erst die klinisch vermuthungsweise
gestellte Diagnose bestätigt, ergibt im Wesentlichen die schon oben er-
wähnten. Organveränderungen. Einer derselben muss jedoch als bisher nur
bei den schwersten Formen primärer chronischer Anaemie betrottenen noch
besonders Erwähnung gethan werden. Es sind dies die neuerer Zeit be-
schriebenen herdweisen Blutungen und Degenerationsinseln im Paickenmarke
und besonders den Hintersträngen desselben. Die klinischen Symptome,
welche sich aus dem Auftreten einer solchen Haemorrhagie ergeben können,
sind nicht Gegenstand dieses Aufsatzes. Ihre Pathogenese ist jedoch den
in der Retina häufig zu beobachtenden Blutungen wahrscheinlich gleichzu-
stellen.
Die Prognose dieser Krankheit ist, wie schon der Xame sagt, de-
solat. Die Therapie derselben wird sich weniger an die allgemeine The-
rapie der chronischen Anaemien überhaupt anzuschliessen haben (s. u.),
sondern ein energisches Vorgehen analog dem bei der acuten Anaemie
erheischen (s. o.).
ANAEMIE. 59
ci Die Chliirose.
Die Chlorose ist eine fast ausschliesslich bei Madclieu in der Puber-
tätszeit vorkommende allgemeine Ernährungsstörung, deren bisher be-
kanntes Hauptsvmptom neben der eigenthümlichen oft ins Grünliche spie-
lenden Hautverfärbung die anaemische Veränderung des Blutes ist. Sie
zeichnet sich jedoch sonst auch noch klinisch durch eine Reihe von Sym-
ptomen von anderen Formen der Anaemie aus. Die Aetiologie dieser
Erkrankung ist wie die aller primären Anaemien völlig dunkel. Schlechte
Existenzbedingungen im Allgemeinen scheinen mitunter, so bei Fabriks-
arbeiterinneu, Näherinnen etc., eine aetiologische Rolle mitzuspielen, doch
ist zu bemerken, dass Chlorose ebenso häufig auch in den wohlhabendsten
C'lassen beobachtet wird. Ein gewisser Einfluss scheint der Heredität zu-
zukommen. Die von Yirchow geäusserte Anschauung, als handle es sich bei
Chlorose um eine Hypoplasie des gesammten Gefässsystems, kann zweifel-
los nur für einen Theil der Fälle Geltung haben. Auch die Annahme, als
liege der Chlorose eine Hypoplasie des Genitales zu Grunde, kann nicht
aufrecht gehalten werden, da Chlorose mit infantilem Uterus, wie auch mit
gut entwickeltem Genitale beobachtet wird.
Neuerer Zeit hat man es versucht, die bei dieser Erkrankung regel-
mässig bestehenden Magenerscheinungen in den Vordergrund des chloroti-
schen Krankheitsbildes zu drängen, doch muss dieser Versuch als miss-
glückt angesehen werden. Abgesehen davon, dass man den Chemismus des
Magens, soweit man ihn zu untersuchen im Stande ist, mitunter normal
fand, mitunter eine Hyper- oder Hypacidität des Magensaftes constatiren
konnte, scheint nur ein Moment aus dem Blutbefund, die im Serum in
normaler Menge vorhandene Eiweissmenge. gegen diese Theorie zu sprechen,
wenn man bedenkt, dass gesteigerte Consumption überhaupt, sei es durch
Hunger, chronischen Marasmus oder acute Infecuionskrankheiten, zu Eiweiss-
verlusteu des Serums führt. ^Yenn wir deshalb bisher noch keinen Grund
haben, die Chlorose in die Zahl der secundäreu Anaemien einzureihen, so
können wir doch das Eine mit hoher Wahrscheinlichkeit als sicher an-
nehmen, dass der Chlorose kein vermehrter Zerfall, sondern eine vermin-
derte Neubildung von rothen Blutkörperchen zu Grunde liegt. Diese An-
nahme wird darin begründet, dass im Verlaufe dieser Erkrankung
keinerlei Zeichen eines Blutkörperchenzerfalles (Icterus, Haemoglobinurie)
anzutreffen sind.
Das klinische Bild der Chlorose weicht in mancher Beziehung
von dem der übrigen primären Anaemien ab. Nicht nur, dass das meist
noch in alter Fülle bestehende Fettpolster sie von der einfachen, primären
Anaemie unterscheidet . so ist es das typische Alter , die auffällige,
ins Grünliche spielende Gesichtsfarbe, sowie die oft marmorweisse Be-
schaffenheit der Haut, eine meist mangelhafte Entwicklung der Brüste
und Pubes, sowie Störungen in der Menstruation, sofern dieselbe bereits
eingetreten ist, die dem ganzen Bild ein charakteristisches Gepräge geben..
Eine gesteigerte Erregbarkeit des gesammten Nervensystems, welche sich
ebensowohl durch das mehr weniger unmotivirte Auftreten starker psychi-
scher Aff'ecte. wie durch fliegende Röthe des Gesichtes, sowie durch wech-
selndes Hitze- und Kältegefühl und den oft plötzlichen Ausbruch von
Schweiss offenbart, lässt solche Patienten als chlorotisch sofort vermuthen.
Die anamnestischen Anhaltspunkte sind meist sehr spärlich und nichtssagend.
Die objective Untersuchung ergibt ausser den schon erwähnten Symptomen
und ausser dem Blutbefund jene Symptomengruppe, welche für Anaemie
charakteristisch ist, nur dass besonders die Zeichen von Seite des Circu-
lationsapparates bei Chlorose sehr ausgesprochen zu sein pflegen.
60 ANAEMIE.
Die anaemischeu Geräusche am Herzen sowie die Xonnengeräusche an den
Venae jiigiilares, welche von einigen Seiten als für Chlorose charakteri-
stisch hervorgehoben wurden, welche jedoch ebenso gut auch bei anderen
schweren Anaemien beobachtet werden, bilden neben dem allgemeinen Habitus
das bei äusserer Untersuchung resultirende Symptomenbild. Magen-Darm-
functionen sind meist insoferne gestört, als neben dyspeptischeu Beschwerden
chronische Stuhlträgheit angegeben wird. Trotzdem steht die letztere wohl
kaum, wie man dies vermuthet hat, zur Chlorose in einem genetischen Zu-
sammenhang. Auch hier wird erst der Blutbefund den letzten und wich-
tigsten diagnostischen Anhaltspunkt abgeben.
Der Blutbefund bei Chlorose wurde von einer grossen Zahl von
Beobachtern dahin präcisirt, dass die rothen Blutkörperchen zwar oft, doch
nicht immer, in der Raumeinheit vermindert seien, dass dieser Defect jedoch
weit hinter dem an Farbstoff zurückstehe. Diese Angabe bestätigt sich nach
meinen, so\\de den Erfahrungen Anderer durchaus nicht für alle Fälle von
Chlorose. Nicht nur. dass man an einem entsprechend grossen Material
findet, dass der Blutfarbstoff in manchen Fällen vollkommen gieichmässig
mit den rothen Blutkörperchen in der Raumeinheit abgenommen hat, muss
auch hier hervorgehoben werden, dass ein relatives üeberwlegen der Blut-
körperchenzahl gegen die Menge des Blutfarbstoffes, wie oben gezeigt
wurde, als eine Regenerationserscheinung des Blutes überhaupt bekannt ist,
dieser Blutbefund also für Chlorose nichts Charakteristisches in sich bergen
kann. Die weissen Blutkörperchen sind bei Chlorose meist weder quantitativ
noch qualitativ verändert. Die Alkalescenz des Blutes ist normal, die Dichte
entsprechend dem Farbstoffmangel herabgesetzt.
Die Diagnose der Chlorose wird sich deshalb neben dem Allgemein-
befunde auf die Blutuntersuchung nur insofern stützen können, als über-
haupt eine anaemische Blutveränderung nachgewiesen wird. Ob der Blutfarb-
stoff' gegen die Zahl der gefundenen rothen Blutkörperchen relativ vermin-
dert ist, wird, sofern überhaupt Anaemie besteht, die Diagnose weder stützen,
noch entkräften können. Xur das Eine dürfte aus einem solchen Befunde
sich ergeben, dass die Prognose in dem speciellen Falle, wo ein relatives
Minus an Farbstoff gegen die vorhandene Zahl von Blutkörperchen nach-
gewiesen wird, wie überhaupt fast immer gut ist, indem er zeigt, dass das
Blut bereits in Regeneration begriffen ist.
B. Die secundären Anaemien.
unter secundären Anaemien verstehen wir jene Zustände von Blut-
körperchenverarmuug des Blutes, welche sich an bekannte, mit Hilfe unserer
Mittel der Diagnose zugängliche Krankheitsprocesse anschliessen und er-
fahrungsgemäss in diesen begründet sind. Auch hier wird die Frage, ob
vermehrter Zerfall oder verminderte Neubildung die Ursache der beste-
henden Anaemie ist. für die pathologische Auffassung von Wichtigkeit sein,
eine Frage, welche wir in der Ueberzahl der Fälle nicht bestimmt zu be-
antworten vermögen, trotzdem wir vermuthen müssen, dass häufig beide
Momente neben einander wirksam sein dürften.
Die secundären Anaemien lassen sich im Allgemeinen von dem Gesichts-
punkte, ob ihre Ursache im Körper selbst gelegen oder entstanden ist,
oder ob dieselbe von aussen hinzugekommen ist, in zwei grosse Gruppen,
die der endogenen und exogenen trennen, wobei wir zu den ersteren alle
jene Formen von Anaemie hinzuzählen, welche sich in einem schon patho-
logisch veränderten Körper in Folge der bestehenden Erkrankung ent-
wickeln, während zu den letzteren alle jene gezählt werden müssen, welche
sich durch äussere Schädlichkeiten wie durch Ansiedelung von Parasiten
ANAEMIE. 61
oder Vergiftungen auch in einem bis dahin gesunden Körper zu entwickeln
vermögen. .
1. Endogene Ana emien.
Ehe zur Besprechung jener durch pathologische Vorgänge im Körper
bedingten Anaemien geschritten wird, erscheint es nothwendig, der Mo-
mente kurz zu erAvähnen, welche zu den physiologischen zu zählen
sind und einen Einfluss auf die Blutkörperchenzahl entfalten oder ent-
falten sollen.
Hieher sind zu zählen:
a) Das Geschlecht. Diese schon ohen erwähnte Thatsache ist zweifellos haupt-
sächlich in den physiologischen Blutverlusten der weiblichen Individuen innerhalb der
Geschlechtsperiode begründet, da gesunde junge Mädchen und gesunde alte Frauen diese
Differenz gegen das männliche Geschlecht nicht erkennen lassen.
h) Das Alter. Dieses Moment kommt, abgesehen vom Blutbefund bei Neugeborenen,
beim weiblichen Geschlecht am meisten zur Geltung und scheint in den gleichen Mo-
menten begründet zu sein, wie die des Geschlechtes.
c) ErnährHiigszustcmd und Nahyungsaufnahyne. Wenn sich auch meist ein Ein-
fluss einer einmaligen Nahrungsaufnahme auf die in der Eaumeinheit vorhandene Zahl
von rothen Blutkörperchen nicht nachweisen lässt und wie oben 'gezeigt wurde, auch
die experimentell an Menschen und Thieren gewonnenen Resultate dafür sprechen, dass
Hunger oder ungenügende Ernährung für sich allein keine Verminderung der rothen
Blutkörperchen verursachen, so lehren doch tausendfach gemachte klinische Erfahrungen,
dass beim Menschen einerseits die Lebensbedingungen, an welche sich meist Unterernäh-
rung anschliesst, Anaemie zur Folge haben, andererseits, dass solche Individuen, unter
günstigere Existenzbedingungen gebracht, relativ rasch wieder ihre alten Blutkörperchen-
werthe erwerben. Bemerkenswerth sind diesbezüglich die von Stierlix gemachten Be-
obachtungen, welcher bei Kindern vor und nach dem Aufenthalt in Fei'iencolonien mit-
unter beträchtliche Differenzen, in einem Falle einen Unterschied von 2-3i Mill. rother
Blutkörperchen pro mm^ nach Hebung des Allgemeinbefindens constatiren konnte.
d) Menstruation, Schwangerschaft und Lactation. Der Einfluss, welchen die
Menstruation auf die Zahl der rothen Blutkörperchen ausübt, lässt sich einem mehr
minder starken Blutverluste gleichsetzen, doch gibt der Umstand, dass sich der Blut-
verlust meist auf eine grössere Spanne Zeit ausdehnt und auch häufig nicht erhebliche
Grade erreicht, die Erklärung hiefür ab, dass man nach oder während der Menstruation
oft keinen oder keinen erheblichen Blutkörperchenverlust gegen die vorher erhobenen
Werthe nachzuweisen .vermag.
Der Einfluss der Schwang irschaft auf die Zahl der rothen Blutkörperchen bildete
bis vor Kurzem ein viel discutirtes Thema. Das Bestehen einer sogenannten Schwanger-
schaftschlorose, von Einigen behauptet, von Anderen geläugnet, ist wohl jetit fast allge-
mein dahin erklärt, dass wenn eine solche, d. h. eine relative Blutkörperchenabnahme
besteht, dieselbe nicht der Schwangerschaft per se, sondern den für Anstalts-Schwangere
fo häufig geltenden schlechten Lebensbedingungen überhaupt während der Schwanger-
schaft zuzuschreiben ist. Dass, wie dies neuerer Zeit ausgesprochen wurde, schwächliche
Individuen durch Gravidität anaemisch werden, kräftige jedoch nicht, ist ja wohl ver-
ständlich, sofern unter ,. schwächlich" auch anaemisch verstanden wird.
e) Tages- und Jahreszeit übt, wenn nicht überhaupt, so doch mittelbar einen Ein-
fluss auf die Zahl der Blutkörperchen in der Eaumeinheit des Blutes aus.
/) Der Einfluss, welchen die Seehöhe auf die Zahl der rothen Blutkörperchen in
der Eaumeinheit äussert, ist jüngst bekannt geworden und äussert sich in einer Zunahme
derselben für die Eaumeinheit. Ob dies ein Anpassungseffect an die verdünnte Luft
oder eine Eindickungs-Erscheinung des Blutes wegen der in solchen Höhen bestehenden
Trockenheit der Luft ist, dürfte noch nicht entschieden sein.
g) Dem Aufenthalt in den Tropen wurde ein anaemisirender Einfluss wiederholt,
zugeschrieben, doch ist dies neuerer Zeit dahin richtig gestellt worden, dass demselben
ein solcher nur mittelbar, durch Malaria oder anderweitige Erkrankung zukommt.
Von den e n d o g e n e n, eine A n a e m i e e r z e u g e n d e n jM o m e n t e n
sind hier als die wichtigsten folgende zu nennen:
a) I n f e c t i 0 n s k r a n k h e i t e n.
Es gehört mit zu den ältesten Erfahrungsthatsachen der ärztlichen
Praxis, dass Individuen, welche eine acute oder chronische Infections-
krankheit tiberstanden haben oder noch an einer solchen leiden, anaemisch
werden können. Trotzdem sind auch diese Anaemien, sofern sie sich nicht
62 ANAEMIE.
an stattgehabte Blutverluste (Typhus abd.) oder au die Blutkörperchen sicht-
bar destruirende Lifectiouskraukheiten Olalaria) auschliessen, in ihrem
Wesen bisher unverständlich. Wenn wir nämlich auch guten Grund haben
anzunehmen, dass. wie bei allen Ernährungsstörungen die Blutkörperchen-
Xeubildung auch bei diesen Krankheiten darnieder liegen dürfte, so scheint
trotzdem das für die nachfolgende Anaemie hauptsächlichst massgebende
Moment nicht hierin, sondern in einem vermehrten Zugrundegehen von
rothen Blutzellen gelegen zu sein. Immerhin fehlt uns jedoch nicht nur der
sichere Beweis liiefür. sondern wir wissen auch nicht, was für Substanzen
oder durch welche Einflüsse der vermehrte Zerfall dieser Zellen be-
wirkt wird.
Der Blutbefund während der Fieberperiode acuter Infectionskrank-
heiten lässt an den rothen Blutkörperchen oft weder der Zahl noch ihrer
Grösse nach Abweichungen von der Xorm erkennen. Zweifellos hat die
erstere Erscheinung häufig in Bluteindickungen ihre Ursache. Als einzigem
pathologischen Moment begegnen wir nur jenen schon oben erwähnten endo-
globulären, seltener den das ganze Blutkörperchen betreffenden Degene-
rations -Erscheinungen, welche als Folge der Anwesenheit dieser Zellen
in dem pathologisch veränderten Blutplasma aufzufassen sind, umsomehr
als dieses auch an Blutkörperchen Gesunder die gleichen Wirkungen ent-
faltet. Blutfarbstoff' und Blutdichte gehen der Zahl der vorhandenen
rothen Blutzellen meist parallel. Die Alkalescenz des Blutes ist während
des Fiebers immer herabgesetzt. Die weissen Blutkörperchen zeigen wäh-
rend der Fieberperiode acuter Infectionskrankheiten ein verschiedenartiges
Verhalten, je nachdem ob der vorliegende Process mit Exsudatiou in die
Gewebe verknüpft ist oder nicht. Im ersteren Falle beobachtet man fast
immer eine Zunahme von Leukocyten im kreisenden Blute {enf-
zündliclie Leul'ocytose), im letzteren fehlt eine solche oder kommt es sogar
zur Verminderung derselben z. B. bei Typhus abd. : die Blutplättchen zeigen
meist keine Vermehrung.
Fällt das Fieber ab und hat der Patient die betreffende Infection
überstanden, so bemerken wir in der ersten Zeit meist keine anderweitige
Aenderung des Blutbefundes, als dass die Leukocytose. sofern sie be-
standen hatte, geschwunden ist. Häufig erst nach ein oder zwei Wochen
nach der Entfieberung können wir, so z. B. nach Typhus abd., den Beginn der
Blutkörperchen-Verarmung des Blutes constatiren. Diese erreicht gewöhnlich
keine sehr hohen Grade, wie wohl auch Fälle bekannt sind, bei welchen
noch während des Fiebers die rothen Blutkörperchen bis auf Werthe unter
1 ^Million pro mrn^ gesunken waren. Je nach der Schwere der bestehenden
Anaemie werden auch die endoglobulären und die das Gesammtblutkörper-
chen betreffenden Degenerations-Erscheinungen der Zahl nach mehr weniger
ausgeprägt sein. Kernhaltige, rothe Blutkörperchen gehören hier zu den
Seltenheiten, ebenso Mikrocytpn, Makrocijten, Polkiloci/fen und Megalohlasten.
Auch hier begegnet man dem schon wiederholt beschriebenen Phänomen,
dass die rothen Blutkörperchen im Vergleich zu der vorhandenen Menge
von Blutfarbstoff' relativ zahlreich sind.
Die Symptome von Seite der Orgaue des Körpers zeigen bei post-
infectiösen Anaemien nichts für diese Charakteristisches. Je nach der Höhe
der bestehenden Blutkörperchen- Verarmung werden im Uebrigen die schon
beschriebenen Symptome von Seite des Herzens etc. zu finden sein.
Die Prognose der in Piede stehenden Anaemie ist meist günstig.
Auch chronische Infectionskrankheiten. von welchen hier in erster
Linie T u b e r c u 1 o s e und S y p h i 1 i s ins Auge gefasst werden, gehen häufig
mit mehr weniger ausgebildeter Anaemie einher. Wenn auch betreffs der
AXAEMIE. 03
ersteren uns in wiederholten Blutverlusten durch die Luftwege häufig eine
Erklärung für eine bestehende Anaemie gegeben werden kann, so fehlt
diese oft und man pflegt dann häufig, sofern dies angeht, gleichzeitig be-
stehende Diarrhöen als Ursache der Blutveräuderung zu bezeichnen, ohne
zu berücksichtigen, dass solche fürs erste ein Plus von rothen Blut-
körperchen durch Bluteindickung in der Raumeinheit erzeugen, wie dies
z. B. bei Cholera asiatica schon so häufig beobachtet wurde. Dass der-
artige Momente jedoch bei der Erzeugung von Anaemie bei Tuberculose
von relativ untergeordneter Bedeutung sind, dass vielmehr die tuhercuJös?
Infedion cjua se schon die Blutkörperchen zu schädigen vermag, beweist
die tausendfältig gemachte Beobachtung, dass die initialen Formen der
Lungenphthise so häufig unter dem Bilde einer Anaemie, Pseudo-Chlorose,
verlaufen und der Arzt erst die vom Patienten auf Blutarmuth bezogenen
Zustände als auf Spitzentuberculose beruhend erkennt. Wodurch diese Er-
scheinung bewirkt wird, ist bis heute räthselhaft. Es soll hier nicht ge-
läugnet werden, dass Darmtuberculose ebenso wie viele Darmerk r anhing eyi
überhaupt an und für sich gleichfalls Anaemie erzeugen können, doch sei
hier betont, dass die tuberculose Infection für sich ohne Hilfe secundärer
Veränderungen im Darme anal die gleiche Wirkung zu entfalten vermag,
wie sie dies z. B. bei Drüsentuberculose, der sogenannten Scrophulose, oft so
deutlich darthut. Der Blutbefund lässt bei initialer wie chronischer Tuber-
culose, sei es der Lungen oder Knochen, eine oft nur geringgradige Ver-
minderung der rothen Blutkörperchen in der Raumeinheit, mit welcher der
Haemogiobingehalt Hand in Hand geht, erkennen. Die weissen Blutkörper-
chen zeigen bei rein tuberculöser Infection keine Vermehrung. Besteht
jedoch, wie dies z. B. bei Lungentuberculose fast immer der Fall ist, eine
Mischinfection mit Eiterung erregenden Mikroorganismen, so lässt sich eine
meist nur massige Leukocytose nachweisen.
Die Prognose der tuberculösen Anaemie richtet sich nach der des
bestehenden Organleidens.
Die Frage, ob Syphilis bei Erwachsenen Anaemie erzeugen kann, ist
bis heute noch nicht entschieden. Einige leugnen dies und beziehen sie,
falls eine solche besteht, auf die eingeleitete Hg.-Therapie, für welch'
letztere ein anaemisirender Einfluss von vielen Seiten jedoch gleichfalls
bestritten wird. Dem Thatsächlichen entspricht, dass bei secundären und
tertiären Formen von Syphilis mitunter Anaemie zu finden ist, welche mit
dem Rückgange der syphilitischen Symptome gleichfalls weicht, also eine
Erscheinung, welche unbedingt dafür zu sprechen scheint, dass ein gene-
tischer Zusammenhang zwischen beiden Momenten besteht, doch ist immer-
hin auffallend, dass bei der weiten Verbreitung der Syphilis anaemische
Zustände bei solchen Personen trotzdem relativ selten sind. Der Blut-
befund d e r S y p h i 1 i s - A n a e m i e weicht in nichts von dem einer genug-
gradigen Anaemie aus anderer Ursache ab. Eine Leukocytose besteht meist
nicht. Ihre Prognose ist, wie erwähnt, gewöhnlich günstig.
6; St off Wechsel- Erkrankungen.
(Diabetes meUitus, Gicht, Scofbut, Purpura haemorrhagica, Morbus mac. Werl-
hoß, Fettsucht, Osteomalacie, Addisson'sche Krankheit )
Die Mehrzahl dieser meist unter dem Namen der ConsHtutionsanomaUen
zusammengefassten krankhaften Processe zeichnet sich dadurch aus, dass
sie als solche meist keine Anaemie im Gefolge haben und überhaupt auch
dem Blute keinerlei leicht erkennbare Zeichen aufdrücken. Nur die Blut-
krankheiten, Haemopliilie, Scorbut, Morbus mac. WerJhofi und Purpura lia"-
morrhagica gehen, sei es, dass sie als selbstständiges Leiden oder nur sym-
64 ANAEMIE.
ptomatiscli auftreten, regelmässig mit Anaemie einlier, deren Intensität von
der Grösse der stattgehabten Blutverluste abhängt. Sie ist also, sofern sie
überhaupt nachweisbar ist, eine posthaemorrhagische Anaemie und trägt
auch alle Kennzeichen derselben.
c) K r e b s k r a n k h e i t e n.
Wie die meisten Formen acuter oder chronischer Cachexie, übt auch
die Krebs-Cachexie, sei es in Folge von Carcinom oder Sarkom, einen un-
leugbaren Einfluss auf die Zusammensetzung des Blutes aus. Abgesehen
davon, dass bei den meisten derartig Kranken e i n V e r 1 u s t des Serums
an Eiweiss, also Hvdraemie, nachweisbar ist, begegnet man der Anaemie
bei solchen Kranken viel zu häufig, um nicht einen genetischen Zusammen-
hang derselben mit der bestehenden Erkrankung annehmen zu müssen. Ohne
Rücksicht auf solche Fälle, wo das bestehende Neoplasma zu Blutver-
lusten führt (Magen- oder Uteruscarcinom) und eine secundäre Anaemie
dem Arzte dann verständlich erscheint, tritt dieselbe ungemein häufig
auch in solchen Fällen auf, wo ein derartiges, die Anaemie erklärendes Hilfs-
moment nicht besteht. Besonders scheinen mir Sarcome die schwersten
Formen secundärer Anaemie zu erzeugen. Die Frage nach der Ursache solcher
Anaemien ist bis heute nicht gelöst. Wenn man auch weiss, dass ähnlich
wie beim Fieber eine Alkalescenzabnahme des Blutes und ein Eiweissver-
lust des Serums bei Krebskranken überhaupt besteht, so besagen diese
Daten nur das Eine, dass das Blut ebenso wie sämmtliche Gewebe des
Körpers von der allgemeinen Consumption mitbetroti'en wird, ohne uns über
die Ursache desselben, speciell der des Blutkörperchenschwundes, aufzu-
klären. Dass dieser ebenfalls in erster Linie auf vermehrten Zerfall und
.nebenher auf verminderte Neubildung zurückzuführen sein dürfte, ist mehr
als wahrscheinlich.
Der Blutbefund bei der secundären Anaemie der Krebskranken
kann alle Stadien von der leichtesten bis zur schwersten Form zeigen und
durchmachen. Die Charakteristica desselben richtet sich des Weiteren
nach dem Grade der bestehenden Blutveränderung. Der Haemoglobin-
gehalt entspricht meist der Zahl der gefundenen rothen Blutkörperchen,
doch wurden besonders bei blutenden Krebsarten Befunde beschrieben,
welche ein relatives Minus an Haemoglobin gezeigt haben, . also den Blut-
befund ähnlich der Chlorose haben erkennen lassen. Die weissen Blut-
körperchen zeigen ein äusserst wechselndes Verhalten. Oft ist ihre Zahl
normal, mitunter erniedrigt und dann meist innerhalb enger Grenzen er-
höht. Diese Erhöhung kann jedoch auch ungewöhnlich hohe Grade er-
reichen. Die Ursache dieser Leukocytose scheint mir in regressiven Ver-
änderungen der Neubildung wenigstens in einigen Fällen begründet zu sein.
Die Symptome dieser Formen secundärer Anaemie decken sich mit den
wiederholt für Anaemie als charakteristisch beschriebenen. Die Prognose
derselben tritt neben 4er des Grundleidens in Hintergrund und hängt
von ihr ab.
d) 0 rgan erkr ankungen.
Gehirn- und Rückenmarkserkrmikimgen acuter oder chronischer Natur üben als
solche keinen Einfluss auf die Zahl der rothen Blutkörperchen aus. Sofern Anaemie
gleichzeitig besteht, hat sie entweder bereits vorher bestanden oder ist accidenteller
Natur. Erkrankungen der Luftwege. Betreffs dieser wurde bereits auf die innigen Be-
ziehungen, welche die Lungentuberculose zur Anaemie hat, hingewiesen. Die croupöse
Pneumonie schliesst sich im Allgemeinen dem über den Einfluss von acuten lufections-
Krankheiten Gesagten an. Die übrigen Formen von Lungeuerkrankung üben als solche
keinen Einfluss auf die Blutkörperchenzahl aus. Nur der Lungenabscess oder ander-
weitige mit Eiterung einhergehende Erkrankungen bedingen wie alle Eiterungen eine
Zunahme der weissen Blutkörperchen. Die gleichen Verhältnisse wie bei den Lungen-
ANAEMIE. 65
affectionen gelten auch im Allgemeinen bei den Pleuraerkrankuugen. Die Krankheiten
des Herzens und der grossen Gefässe erzeugen nie Anaemie. Man findet die rothen
Blutkörperchen, wenn überhaupt ihrer Zahl nach verändert, in der Kaumeinheit eher
vermehrt als vermindert, jedenfalls konnten bisher noch nie irgendwelche Zeichen der
für einige Formen von Herzfehler von Oektel angenommenen Plethora serosa gefunden
werden. Die Erkrankungen des Magen-Darmcancds bieten ungemein häufig die Quelle
einer bestehenden Anaemie. Nicht nur, dass Blutverluste wie bei Magencarcinom oder
Ulcus rotundum eine solche sehr häufig bedingen, so schliesst sich Anaemie auch sehr
oft an jene grosse, unter dem Sammelnamen des chronischen Magenkatarrhs meist
zusammengefasste Krankheitsgruppe an, und schwerste Formen von Anaemie wurden
bei Atrophie der Magendrüsen beobachtet. Nicht minder selten finden wir diese
Erscheinung als Folge einer chronischen Dünn- oder Dickdarmentzündung auftreten.
Wenn auch die Letzteren, sofern sie acut auftreten, auf das Blut je nach ihrer Inten-
sität einen concentrirenden Einfluss, also eine Blutkörperchenzunahme in der Raumeinheit
verursachen, bewirken sie, sobald das Moment der Wasserentziehung wegfällt, bei
chronischem Verlauf sehr häufig Anaemie. Zweifellos spielt bei der Genese der Anaemie durch
Magen-Darmerki'ankungen die bestehende Unterernährung die Hauptrolle. Ob ausser-
dem noch, wie wiederholt vermuthet wurde, Giftkörper aus dem Darmcanal resorbirt
werden, welche ein vermehrtes Zugrundegehen rother Blutkörperchen bewirken, ist wohl
behauptet, bis heute jedoch noch nicht bewiesen. Erkrankungen der Leber scheinen
als solche, den leukaemischen und Malaria-Lebertumor ausgenommen, meist keinen directen
Einfluss auf die Blutkörperchenzahl zu entfalten. Bei der atrophischen Form der Leber-
cirrhose fand ich mitunter die Zahl der Blutkörperchen in der ßaumeinheit gesteigert,
was mir wegen des bestehenden Ascites als Eindickungserscheinung des Blutes gedeutet
werden zu müssen scheint. Die Erkrankungen der Milz hier auch zu erwähnen, stösst
insoferne auf Schwierigkeiten, als isolirte Erkrankungen, Vergrösserungen dieses Organs
an und für sich selten und dann wahrscheinlich secundärer Natur sind (Leukaemie, sog.
Psetidoleukaemie). Acute und chronische Nierenerkrankungen, speciell der Morbus Brighti
in seinen verschiedensten Foi'men, sind sehr häufig von einem Verlust an rothen Blut-
körperchen begleitet. Ob die bei allen Formen von Nephritis bestehende Eiweissver-
armung des Blutserums bei der Aetiologie dieser Anaemie eine Rolle spielt, ist wahr-
scheinlich, doch unbewiesen. Eine andere Erklärungsursache dieser Anaemien ist uns
jedoch bis jetzt, sofern nicht Haematurie besteht oder bestanden hat, nicht geläufig.
Die Localisation von Erkrankungen in den Geschlechtsorganen übt als solche keinen
weiteren Einflus auf die Blutmischung aus. Blutverluste, maligne Neoplasmen oder
Eiterungen werden jedoch auch von hier aus den oben für solche Vorkommnisse be-
schriebenen Blutbefund verursachen können. Erkrankungen der Knochen und Gelenke
können je nach ihrer Natur auch den Blutbefund modificiren.
2. Exogene Anaemien.
Aus der grossen Fülle von Schädlichkeiten, die den menschlichen Körper
von Aussen treffend bei ihm Anaemie erzeugen können, sollen hier nur die
für die Praxis wichtigsten herausgegriffen werden.
Es sind dies vor Allem einige Parasiten und ausserdem einige z. T.
als Blutgifte bezeichnete Giftstoffe.
a) Parasiten.
Änchylostomiim duodenale. (Nematoden.) Im Orient häufig, wurde in
den letzten Jahren auch in Europa besonders bei Erdarbeitern beobachtet.
Die Infection erfolgt per os; der Wurm lebt im Dünndarm und nährt
sich vom Blute des Wirthes. Er kann auf diese Weise die schwersten Grade
von Anaemie erzeugen, ähnlich soll auch Amjuilulla intestinalis seu stercorjxlis
(Nematoden) wirken. Filaria sanguinis (Nematoden) und Distomitm haenia-
tohium (Trematolen), die Ursache der Chylurie und Haematurie der Tropen,
verursachen in derselben Weise Blutverluste und können gleichfalls schwere
Anaemien erzeugen.
Bofriocephalus latus (Cestoden), ein Bandwurm von (3—8 Meter Länge,
hat für Europa durch sein Vorkommen an den Ufern der Ostsee Bedeutung
gewonnen. Die Art und W^eise seiner anaemisirenden Wirkung ist unbekannt,
doch vermag er gleichfalls schwerste Formen von Anaemien zu erzeugen.
Auch andere Taenien können mitunter zweifellos mehr minder schwere
Formen von Anaemie verursachen.
Ribl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkiankheiten. 5
6ö
AXAEMIE.
h) Giftstoffe. .
Blei, Arsen, QiiecksiWer stehen seit Langem in dem Piufe. l)ei gewerbs-
mässiger Beschäftigung bei dem betreffenden Individuum Anaemie zu er-
zeugen. Wie weit die secundären Ernährungsstörungen (Stomatitis. Gastritis.
Enteritis) bei der Genese derselben betheiligt sind, ist noch unentschieden,
umsomehr als es bisher experimentell nicht gelungen ist. durch acute oder
chronische Vergiftungen bei Thieren das gleiche Bild zu erzeugen. Das-
selbe gilt für die praktisch minder wichtigen Metalle Silber, Kiipfer, ZinPc,
Cadmium, Antimon, Mangan, Chrom, WismufJi, Zinn und Gold.
Phosplior lässt bei acuter Vergiftung fürs Erste die Blutkörperchen-
zahl scheinbar nnbeeinflusst, vermag sie später scheinbar sogar mit-
unter zu steigern, wobei jedoch Diarrhöen und Erbrechen, diese Ver-
mehrung vielleicht mit bedingen. In der Reconvalescenz nach Phosphor-
vergiftimg zeigen die Fälle jedoch häufig leichtere Grade von Anaemie.
von welcher gleichfalls noch nicht ausgemacht ist, ob sie Folge der be-
stehenden Verdauungsstörung oder einer specifischen Wirkung des Phos-
phors ist.
Die Cldorafe werden mit vielen Anderen zu den echten Blutgiften
gerechnet. Sie verwandeln im Blutkörperchen das Oxyhaemoglobin in
Methaemoglobin, worauf das Blutkörperchen zerfällt. Anaemie kann bei Ver-
giftung mit dieser und ähnlichen Substanzen nur nach subacuten oder
chronischen Vergiftungen eintreten, worauf jedoch das klinische Bild durch
die secundären Merenveränderungen sehr getrübt ist. Ein Gleiches gilt
noch für einige z. T. in der Fiebertherapie beliebte Stoffe, das Anfifebrin,
Thallin, Phenacetin und das Amijlnitrit, sowie eine grosse Gruppe anderer
Körper, wie der Amoniakderivate {Hydroxylamin etc.) u. a.
Das Kohlenoxijdgas trennt sich insoferne von cliesen Stoffen ab, als
es das normale Oxyhaemoglobin nicht in Methaemogiobin, sondern in ein
specifisches Product. das Kohlenoxydhaemoglobin verwandelt. Acute Ver-
giftungen mit dieser Substanz können gleichfalls in der Pteconvalescenz das
Symptom der Anaemie zeigen, doch sind wir über das Entstehen derselben
noch unklar, als ^^ir nicht wissen, ob das mit CO vergiftete Blutkör-
perchen nachträglich zu Grunde geht oder bei Erhaltung seiner Lebens-
functionen sich des Giftes entledigt. Die solchen Vergiftungen folgenden
Anaemien sind meist geringgradig und gewöhnlich ausserdem noch mit
anderen Organveränderungen (Xieren, Lungen) complicirt.
Therapie der chronischen Anaemie.
Die Therapie der secundären chronischen Anaemie weicht inso-
ferne von der der primären ab, als diese vor Allem das Anaemie er-
zeugende Krankheitsmoment zu berücksichtigen hat. Ist dies jedoch erfolg-
reich geschehen, so bieten primäre und secundäre Anaemie dem Arzte die
gleiche Aufgabe, die vorhandene Blutanomalie zu beheben. Bösartige Neu-
bildungen, Parasiten wercFen entfernt werden müssen, Syphilis, Tuberculose
und Intoxicationen ihre speciellen Antidota oder anderweitige Massnahmen
erfordern und erst wenn dies geschehen ist. tritt die früher untergeordnete
Bedeutung der Anaemie in ihre Eechte und erheischt besondere Mass-
nahmen.
Neben der Hebung der allgemeinen Existenzbedingungen
des Individuums, welche sich ebensowohl auf Kost, wie auf Wohnung,
Arbeitsverhältnisse etc. erstrecken, kommen bei Behandlung chronischer
Anaemien. vor Allem zwei Stoffe, das Eisen und das Arsen, in den ver-
schiedenartigsten Gestalten in Betracht. Trotzdem die Frage über das
Wie der Beeinflussung der Piegenerationsvorgänge des Blutes durch diese
ANAEMIE. 67
zwei Stotfe noch völlig dunkel ist, bleibt sie trotzdem eine durch tausend-
fältige klinische Beobachtung erhärtete Thatsache. So sicher Eisen und
Arsen die beiden souveränen Mittel sind, so ist eine stricte Indications-
stellung im gegebenen Falle für eines derselben schon deshalb unmöglich,
weil wir über ihre Wirkungsweise nichts Positives wissen. Beide Substanzen
können im einzelnen Falle wirksam scheinen, jedoch auch beide im Stiche
lassen. Die sicherste Indication scheint unter den primären Anaemien die
Chlorose zu haben, bei welcher die Eisenwirkung fast sprichwörtlich ge-
worden ist. Die Form, in welcher dasselbe gereicht wird, scheint von unter-
geordneter Bedeutung. Der grössten Beliebtheit erfreuen sich bis jetzt noch
die sogenannten BLAUo'schen Pillen (Ferr. siüfur., Kah carhon. pur.
fTa lö'O in pill. Ko. 100). Im Uebrigen wurde das Eisen zum innerlichen
Gebrauche noch, meist mit nicht geringerem Erfolge als, Ferr. carbonicum.
lacticum, citricum, diah/satmn, peptoyiatum, albuminatitm etc. etc. angewandt.
Eine stricte Indication für ein oder das andere Präparat hat auch die
klinische Erfahrung nicht ergeben und der Arzt wird nicht selten gezwungen
sein, falls das eine oder andere Präparat „nicht vertragen" wird, zu einem
anderen zu greifen, ohne sich von bestimmten theoretischen Vorstellungen
leiten lassen zu können, indem er sich vielmehr nur auf seine subjectiven
Erfahrungen stützt. Ausser der medicamentösen Application des Eisens, zu
welcher übrigens auch die Darreichung der zahlreichen in den Handel
gebrachten Eisensyrupe und ähnlicher Präparate zu zählen ist, verdient die
ungemein alte therapeutische Methode, Blutarmen Blut zu trinken zu geben,
hier eine Erwähnung. Das noch an einigen Orten geübte Verfahren, noch
warmes, dem eben geschlachteten Thiere entströmendes Blut von Anaemi-
schen trinken zu lassen, hat nur den einen Nachtheil, dass der Ueberzahl
der Patienten das Blut Magenbeschwerden, Ekel und Ueblichkeiten veran-
lasst. Nicht minder gilt dies von jenen mitunter als Eisenpräparate ge-
reichten Blutpräparaten, wie Treftma und den Hae^nogloUnpastillen. Wenn
das Eisen in der im Blute vorhandenen Verbindung im Körper thatsäch-
lich die gleiche Wirkung zu entfalten mag, als wie in anorganischer, dann
weiss die alltägliche Küchenerfahrung Blut jedenfalls schmackhafter zuzu-
bereiten. Viel grössere Berechtigung scheint die Darreichung eisenhaltiger
Mineralwässer in Curorten zu haben, da sich hier auch die allgemein
hygienischen Verhältnisse der Patienten meist wesentlich bessern. Die ver-
schiedenen Eisen- und Stahlquellen, wie Franzenshad, Königswart,
Marienbad, König Otto-Bad, Pyrmont, Reinerz etc. etc., von welchen jedes
Land fast seine eigene aufzuweisen hat, dürften sich in ihrer Wirksamkeit
nicht viel unterscheiden.
Eine in gewissem Sinne gesonderte Stellung nehmen die Wässer von
Leoico, Roncegno und die bosnische Guberquelle ein, als sie neben dem
Eisen noch einen meist schwankenden Gehalt an Arsen besitzen. Gerade
diese haben sich neben der Sol. arsenic. Fowleri in letzter Zeit unter den
Aerzten viele Freunde erworben, u. zw. besonders in jenen Fällen, "b^i
welchen sich die einfache Eisendarreichung als unwirksam erwiesen
hat. Es ist vorwiegend ein Verdienst der Engländer, das Arsen in
die Therapie der Anaemie eingeführt zu haben. Demselben können eben-
sowenig wie dem Arsen stricte Indicationen zugeschrieben werden, doch
gilt im Allgemeinen die alte bei Arsenikesseru und in der Thierzucht ge-
machte Erfahrung, dass nicht nur das Allgemeinbefinden und Aussehen nach
Arsendarreichung sich bessert, sondern dass auch besonders schwere anae-
mische Zustände durch Arsenikgebrauch der Genesung zugeführt werden
können.
Bei den meisten, nicht allzu schweren Formen chronischer Anaemie
5*
68 ANAEMIEN IM KINDESALTER.
ist schon kurze Zeit nach Beginn der Eisen- oder Arsendarreichimg eine
Besserung des Allgemeinbefindens und des objectiven Blutbefundes zu con-
statiren. Besonders die Zahl der rothen Blutkörperchen kann innerhalb
2 — 3 Wochen schon das Doppelte der Anfangszahl erreichen, so dass der
therapeutische Effect der eingeleiteten Therapie sehr deutlich zu sein
scheint. Nur zu häufig stellen sich jedoch bei längerem Gebrauche dieser
Stoffe Störungen von Seite des Digestionstractus ein, welche ein Aussetzen
des betreffenden Mittels veranlassen und oft von Recidiven der Anaemie
gefolgt sind.
Wenn die bisher erwähnten Massnahmen für primäre chronische Anae-
mien oder auch für secundäre, sofern ihre Ursache entfernt wurde, Geltung
haben, so werden trotzdem noch letztere, sofern sie mit einer chronischen
Erkrankung, z. B. Syphilis, Malaria, chronischen Darmkatarrhen u. s. w..
complicirt sind, eine specielle Behandlung, vne die Darreichung von Jodkai i,
Chinin, Opiaten etc., erheischen. Auch die lästigen Obstipationen, sowie die dys-
peptischen Erscheinungen, welche die Anaemie so häufig begleiten, werden
specielle Indicationen ergeben. Die extremsten Formen von Anaemie müssen
ausserdem ebenso wie die acute Anaemie die Frage der Trans- oder In-
fusion von Blut in Erwägung ziehen lassen. Dass bei der Wahl zwischen
diesen beiden Methoden der subcutanen Infusion nach Ziemssen der Vor-
zug vor der Transfusion wird eingeräumt Averden müssen, wurde schon
oben erwähnt.
Zum Schlüsse sei hier noch einer alten, jüngst jedoch wieder em-
pfohlenen Methode der Behandlung von chronischen Anaemien gedacht,
des Aderlasses. So paradox dies auch klingen mag, so hat sich Wilhelmi
neuerdings doch auf Grund seiner Beobachtungen mit einer solchen Wärme
für wiederholte kleinere Aderlässe bei Anaemien eingesetzt, dass hier
nicht nur Autosuggestion vorzuliegen scheint. Ich selbst hatte Gelegenheit
bei 3 Fällen von Chlorose, kleine Aderlässe (30 — 40 cm^) zu machen, und
muss bestätigen, dass ohne weitere therapeutische Massnahmen sich sowohl
ihr subjectives Befinden, wie der objective Blutbefund besserte.
V. LIMBECK.
Anaemien im Kindesalter. Anaemische Zustände treten im frühe-
sten Kindesalter relativ häufiger im Gefolge verschiedener Krankheiten
auf, als dies bei Erwachsenen der Fall zu sein pflegt. Jedenfalls ist es vom
praktisch-klinischen Standpunkte nothwendig, auch die Anaemien dieser
Altersperiode in zwei Gruppen einzutheilen, in primäre und secundäre.
Das Princip dieser Eintheilung ist theilweise auf ätiologische, theil-
weise auf klinische Momente basirt. Tom ätiologischen Standpunkte
nennen wir jene Anaemie primär, von der wir die Ursache überhaupt nicht
kennen, eventuell auch in obductione keinen Grund für den schweren anae-
mischen Zustand zu constatiren vermögen. Hierher gehört die Anaemia
perniciosa, von welcher auch für das Kindesalter einige Beobachtungen
vorliegen, hierher wäre ferner die Anaemia splenica Somma's zu rechneu.
und schliesslich dürfte sich hiezu die Anaemia infantum pseudoleucaemica
gesellen. Als secundäre Anaemien wären sodann jene anaemischen Zustände
zu bezeichnen, deren Auftreten auf irgend eine bestehende oder vorange-
gangene Krankheit zu beziehen möglich ist. Hierher wären zu zählen:
die im Kindesalter so häufig an Darmerkrankungen sich anschliessenden
Anaemien, die Anaemie der rachitischen und jene der hereditär syphili-
tischen Kinder. —
Bei der Festhaltung dieses ätiologischen Principes in der Eintheilung
der Anaemien wird man nicht selten auf Schwierigkeiten stossen. Es kommen
nämlich sehr häufig Anaemien vor, bei denen zwar zur Zeit keine Grund-
ANAEMIEN IM KTNDESALTER. 69
kraukbeit oder nur Rudimente derselben zu constatiren sind, anderseits
unzweifelhaft anamnestiscbe Erbebungen oder directe Untersucbung er-
geben, dass das Individuum einen schweren Krankheitspro cess (Rachitis,
Lues etc.) durchgemacht hat.
Viel richtiger erscheint aus diesem Grunde das Eintheilungsprincip
der Anaemien nach dem vorliegenden klinischen Bilde. Ist die Anaemie
nur eine, wenn auch nicht nebensächliche Begleiterscheinung des dem Arzte
zur Beobachtung kommenden Krankheitsbildes, so wird er von einer secun-
dären Anaemie zu sprechen das Recht haben, tritt jedoch die Anaemie in
den Vordergrund und beherrscht sie den klinischen Symptomencomplex,
so hat die Bezeichnung „primäre Anaemie", recte „selbstständige Blutalte-
ration" entschiedene Berechtigung.
Die Ursachen, aus denen der anaemische Zustand i. e. die Erkrankung
des Blutes die übrigen vorhandenen pathologischen Erscheinungen dominirt,
sind variabler Art. Es geschieht dies zunächst dann, wenn eben Krankheits-
symptome von Seiten anderer Orgaue fehlen, wobei die Verminderung der
rothen Blutzellen und des Haemoglobingehaltes nicht gerade den höchsten
Grad zu erreichen braucht (Anaemia traumatica, Anaemia spleyiica Somma).
Die zweite Möglichkeit ergibt sich in jenen Fällen, in denen die
Abnahme der in der Raumeinheit vorhandenen zelligen Elemente das hervor-
stechendste pathognomische Merkmal des Krankheitsbildes darstellt und
sich eine Reihe von Symptomen auf diesen Ausfall der Sauerstoffträger
zurückführen lassen, obgleich nebstdem eine Grundkrankheit mit ihren Er-
scheinungen vorliegt. (Anaemie hei Rachitis, Anaemie hei hereditärer Lues.)
Die dritte Eventualität endlich betrifft Krankheitstypen, bei denen ab-
gesehen von der verminderten Zahl rother Blutkörperchen — gerade diese
tritt oft nicht in den Vordergrund — andere Eigenthümlichkeiten des Blut-
befundes, wie das Auftreten zahlreicher kernhaltiger Erythrocyten, die
Polychromatophilie der rothen Blutzellen, oder die begleitende Leucocytose
die Berechtigung ertheileu, von einer „primären Anaemie", oder richtiger
gesagt, von einer „selbstständigen Bluterkrankung" zu sprechen. (Anaeinia
infantum pseudoleucaemica (Luzet, Weiss), Anaemia syphilitica (Loos.) In
allen jenen Fällen, wo keine der genannten Bedingungen zutrifft, ist die
Annahme einer secundären Blutalteration (secundäre Anaemie) gerecht-
fertigt. Vorstehende Bemerkungen sind die Consequenz der in der relativ
jungen haematologischen Literatur des Kindesalters niedergelegten That-
sachen, inwieferne eine Correctur dieses Schemas nothwendig sein dürfte,
wird erst zukünftige Forschung lehren können.
Ein näheres Eingehen auf die Art, in der nach gegenwärtig herr-
schenden Anschauungen das Zustandekommen anaemischer Zustände ge-
dacht wird, dürfte zur Erläuterung dieses Eintheilungsschemas dienen.
Bei der einfachen Anaemie durch Blutverlust, wie einen solchen Fall
aus dem frühesten Kindesalter Schiff mittheilte, ist die Art, in der die
Verminderung der Zahl der rothen Blutzellen in der Raumeinheit zu Staude
kommt, wohl klar. Viel schwieriger ist die Frage bei den übrigen Anaemieli.
Entweder muss man eine verminderte oder gehemmte Bildung der rothen
Blutzellen annehmen, oder man sieht sich gezwungen, eine vermehrte Z er-
ster ung dieser Elemente zu supponiren. Die erstgenannte Anschauung theilen
die meisten Autoren, gleichgiltig ob sie nun einen einheitlichen Ausgangs-
punkt für rothe und weisse Blutzellen (einkernige Mutterzellen) annehmen
und so die rothen Blutzellen aus den kernhaltigen Erythrocyten her-
vorgehen lassen (Müller, Wertheiji). oder ob sie dieselben aus den
Haematoblasten Hayem's entstanden glauben {die fanzösische Schule). Die
zweite Ansicht vertritt Maragliaxo. Dieser Forscher nimmt bei verschiedenen
70 ANAEMIEN IM KINDESALTER.
Krankheiten eine verschieden wirkende necrobiotische Kraft des Serums an.
wodurch die rothen Bhitzellen zerstört werden, wenngleich der Grad ihrer
eigenen Festigkeit sich dieser Zerstörung hemmend entgegenstellt.
MoNTi und Berggrün haben eine neue Eintheilung der Anaemien
vorgeschlagen. Sie unterscheiden:
I. Anaemi a clwonica levis:
a) Anaemia chronica levis simplex^
b) Anaemia levis cum Leucocijfosi.
II. Anaetnia chronica gravis:
a) Anaemia chronica gravis siAnplex,
a) Chlor osis,
c) Anaemia gravis cum Leucoojtosi.
in. Anaemia. pseudoleucaemica.
IV. Leucaemia.
V. Anaemica jyerniciosa.
Die „schweren Anaemien" unterscheiden sich nach dem Schema der
genannten Autoren von den „leichten Anaemien" nicht nur hinsichtlich
des Zählbefundes (bedeutend stärkere Verminderung der rothen Blut-
zellen mit gleichzeitiger Herabsetzung der Blutdichte und des Haemo-
globingehaltes), sondern auch in Bezug auf das histologische Blutbild
(Form und Grösseveränderung der rothen Blutkörperchen. Auftreten zahl-
reicher kernhaltiger Erythrocyten).
LuzET theilt die Anaemie in eine solche ohne und solche mit Milz-
tumor. Diese Eintheilung hängt mit der Blutbildungstheorie der Hayem-
schen Schule zusammen. Die französischen Autoren peroriren nämlich die
Lehre, dass das Auftreten kernhaltiger Blutzellen im circulirenden Blute
als ein Wie der erwachen der embryonalen Blutbildung in Leber
und Milz zu deuten sei. Nach Luzet entstehen die kernhaltigen Erythro-
cyten (CeUules rouges) innerhalb gewisser endothelialer Zellen in den nor-
malen Blutbildungsstätten und gelangen von da aus in den Blutstrom. Bei
der poste mbry onalen Blutbildung entwickeln sich die kernlosen rothen
Blutzellen ausschliesslich aus Blutplättchen (Hayems Haematoblastm), nie
gehen, wie die deutschen Autoren lehren, kernlose Blutkörperchen aus kern-
haltigen hervor. Die schweren Anaemien sind deshalb immer mit Milz-
schwellung verbunden. {Anemie megaJospk'nique.) Diese ist nach Luzet das
klinisch nachweisbare Kennzeichen des Wiedererwachens embryonaler Blut-
bildung. Die Anemie simple bei Magendarmaffectionen, bei Tuberculose und
Rachitis leichteren Grades bietet nebst der Verminderung rother Blutzellen
keine oder nur spärliche kernhaltige Erythrocyten und zeigt keine be-
deutende Milzschwellung. Die schweren Anaemien dagegen sind klinisch
durch den Milztumor charakterisirt, zeigen stets zahli eiche CeUules rouges
nebst bedeutender Leucocytose und entwickeln sich nicht selten auf dem
Boden der Rachitis oder der hereditären Lues, d. h. im Gefolge dieser
Krankheiten kann das Wiedererwachen der embryonalen Haematopoese
die eben erwähnte Blutalteration erzeugen. Dasselbe pathogenetische Moment
muss Luzet für die Anaemia infantum pseudoleucaemica, die er
als Morbus sui generis auffasst, annehmen, wenngleich die Aetiologie dieser
Krankheit noch wenig geklärt erscheint.
Sieht man von allen theoretischen Erörterungen ab, so dürften wohl-
die meisten Autoren über folgende Thatsache einig sein: Bei derselben
Grundkrankheit können leichte und schwere anaemische Zustände
auftreten. Weder der Rachitis noch der Lues kommt ein specifisches, nur
für diese Krankheiten allein charakteristisches Blutbild zu
Der Terminus „Schwere Anaemie" deckt sich aber nicht vollkommen
ANAEMIEN IM KINDESALTER. 71
mit dein, was mau bei Erwacliseuen als Änaemia gracis zu l)ezeic'linen
pflegt. Die schweren anaemischen Zustände des Kindesalters sind
nicht ausschliesslich durch die excessive Herabminderung der rothen Blut-
körperchenzahl, sondern auch durch das Auftreten mannigfache Grössen-
und Formdiö'erenzen darbietender Zellelemente gekennzeichnet.
Es erübrigt jetzt nur noch über zwei Krankheitsbegriffe zu sprechen, die
sich in der haematologischen Literatur des Kindesalters eingebürgert haben :
über die Änaemia infantum pseudoleucaeniica und die Änaemia splenica.
Für die Diagnose der Änaemia infantum p^eudoIeHcaemica verlangt
V. Jaksch folgeudeKennzeichen : „ 01igochromaemie,C)ligocythaemie, hochgradig
dauernde Leucocytose, Milztumor, bisweilen Schwellung der Drüsen, ge-
ringere Schwellung der lieber". Luzet und Weiss dagegen beansprucheii
den Terminus Anaem. infant. pseudoleucaeniica für Krankheitstypen mit
genau ch arakterisirtem histologischen Blutbef iinde. In Schlag-
worten lässt sich letzterer folgendermassen kennzeichnen: „Bedeutende Ver-
minderung der rothen Blutzellen, mehr oder minder auffällige, stets poly-
morphe Leucocytose, sehr reichliche kernhaltige Blutzellen von dem Typus
der Megalo-, Meso- und Mikroblasten, viele davon gleichzeitig Poikiloblasten.
zahlreiche von ihnen in Kariokinese, ferner bedeutende Poikilocytose und
endlich sehr charakteristische Polychromatophilie vieler kernloser rother
Blutzellen". Nicht die Einzelheiten, sondern die Gesammtheit dieses Blut-
befundes sind so charakteristische, dass ein eigener Terminus wie jener der
Änaemia infantum pseudoleucaeniica zwar nicht treffend gewählt, aber doch
berechtigt erscheinen muss.
MoNTi und BergCtEün äussern sich in ihrer zusammenfassenden Dar-
stellung über die Änaemia infantum pseudoleucaemia sehr reservirt und
meinen, dass die Anzahl der bisher beobachteten Fälle mit detaillirtem
Blutbefunde noch immer zu gering sei, „um in dieser Richtung mit Gewiss-
heit die besonderen Eigenthümlichkeiten der Änaemia pseudoleucaeniica
feststellen zu können".
Es ist wohl eine Frage der Zukunft, ob die Änaemia infantum pseudo-
leucaeniica ihre derzeit von den meisten Autoren als Morbus sui generis
anerkannte Stellung behalten werde, oder ob ihr blos als eigenthüm-
licher Form von Blutalteration mit charakteristischem
Blutbefunde ein eigener Name zuerkannt werden dürfte.
Die Stellung der Änaemia pseudoleucaeniica zur Leucaemie des Kindesalters zu
statuireii, stösst gegenwärtig noch auf bedeutende Schwierigkeiten, da den meisten der
für das Kindesalter beschriebenen Leucaemiefällen die Detaillirung histologischer
Blutbefunde abgeht.
Als „Änaemia splenica'' beschreiben italienische Autoren ein Krank-
heitsbild, dessen Hauptkennzeichen nebst der sichtbaren Anaemie ein bis
zu colossaler Grösse angewachsener Milztumor bildet. Somma unterscheidet
dreierlei Typen von dieser Krankheit: a) eine chronisch febrile, h) eine
chronisch afebrile, c) eine chronische Form mit recurrirenden Fieberan-
fällen. Nach Frede lässt sich bei der Änaemia splenica eine constante Ver-
minderung der rothen Blutzellen und des Haemoglobingehaltes und eine
gleichzeitige Leucocytose constatiren, Fischl cumulirt die Änaemia splenica
mit der Änaemia infantum pseudoleucaeniica, während Hock und Schlesincek
die beiden Krankheitsbilder scharf von einander trennen. Letztgenannte
Autoren sind die einzigen, welche einen histologischen Blutbefund für die
Änaemia splenica mittheilen. Derselbe lautet: „Sehr wenige kernhaltige
rothe Blutkörpereben von normaler Grösse, starke Toikilocytose, keine Leu-
cocytose" und weicht somit von den für die Fälle von Änaemia infantum
pseudoleucaemia mitgetheilten Blutbefunden (Luzet, Weiss) beträchtlich
72 ANAEMIEN IM KINDESALTER.
ab, MoxTi und Berggrün elimiuireu den Begriff der Anaemia spleiiica in
ihrer Eintheiluug der kindlichen Auaemien gänzlich und meinen gleich Fischl,
„dass die Anaemia spleuica der italienischen Autoren (Somma, Frede, Cara-
SELLi) als Anaemia pseudoleucaemica zu deuten wäre".
Als „Anaemia perniciosa progressiva^' sind für das Kiudesalter eine
Pteihe von Fällen beschrieben worclen (Steffen, Demme, Escherich li. A.).
Welche Stellung dieser Krankheitsbegriff zu der „Anaemia infantum pseudo-
leucaemica" und zur „Anaemia sjjlenica" einzunehmen hat, lässt sich derzeit
nicht entscheiden, da einerseits über das Wesen und Symptomenbild letzt-
genannter Krankheitstypen keine einheitliche Auffassung unter den Autoren
herrscht, anderseits die Anschauungen über die Fälle von Anaemia perni-
ciosa bei Erwachsenen, von denen der Terminus für das Kindesalter über-
tragen wurde, noch keineswegs geklärt erscheinen. Geht man dem prak-
tischen Thatbestande nach, so findet man, dass die Kliniker sich im Allge-
meinen an die von v. Limbeck gegebene Devise halten und jene schweren
Anaemien als „Anaemia perniciosa" subsumiren, „deren Sectionsresultat
betreffs aetiologischer Momente völlig negativ ausfällt".
Eine feste anatomische Basis fiii' die Anaemia perniciosa progressiva hat in
neuester Zeit H. F. Müllek zu schatfen gesucht. Kindfletsch berichtete in der Mit-
theihmg des Knochenmarkbefundes einer perniciösen Anaemie über die abnorme Anzahl
kernhaltiger rother Blutzellen : „absonderlich und geradezu abnorme Gebilde von unge-
wöhnlicher Grösse und sehr wechselnder Gestalt des haemoglobin-
hältigen Pr otoplasmas". Diese Zellformen wären nach Müller „als kernhaltige
Erythro cyten früh er embryonaler Zeiten', die sich nach dessen Untersuchungen
von denen des späteren foetalen und extrauterinen Lebens bedeutend unterscheiden, anzu-
sehen. So fasst Müller, obwohl er selbst keine Gelegenheit hatte, den typischen Knochen-
mark sbefund Rindfleisch's nachzuuntersuchen, die „peniiciöse Anaemie" als Erkrankung
des Knochenmarkes auf, bei der die als Keime zurückgebliebenen Erythrocyten der
früheren embryonalen Zeiten in abnorme Wucherung — analog einer Geschwulstbildung
im Sinne der Cohnheim'schen Hypothese — gerathen, wodurch die normale Blutbildung,
die Entstehung kernloser Blutzellen aus den normalen kernhaltigen Erythrocyten, gestört
wird und die schwere „perniciöse Anaemie' hieraus resultirt.
Bei üeberlegung dieser von Müller vertretenen Anschauung, der übrigens auch
Ehrlech in seinem Vortrage auf dem XI. Congress für innere Medicin (1892) mit dem
Worte der „megaloblastischen Entartung des Knochenmarkes als Charak-
teristicon der perniciösen Anaemie" Ausdruck gegeben hat, wird man unwill-
kürlich auf jene merkwürdigen Blutbefunde gelenkt, die als typisch für die „Anaemia
infantum pseudoleucaemica" beschrieben worden (Ltjzet, Weiss). Gerade diese Blutbilder
zeigen jene polymorphen, kernhaltigen Erythrocyten ,.von ungewöhnlicher Grösse und
sehr wechselnder Gestalt", wie sie Rindfleisch (s. o.) als Elemente des Knochenmarkes
bei perniciöser Anaemie beschreibt und Müller als „kernhaltige Erythrocyten früher
embryonaler Zeiten" significirt.
Das wichtigste, was den Praktiker aus den Ergebnissen der klinischen
Forschung interessirt, sind wohl die prognostischen Schlüsse, die die
einzelnen Krankheitsbilder erlauben und die therapeutische n Mass-
regeln, die er mit Erfolg anwenden kann.
Die Prognose hängt bei den „secundären Blutalterationen" zunächst
von der Art des Grundprocesses ab; aber auch bei den sogenannten „selb-
ständigen Erkrankungen 'der blutbildenden Organe" ist die Vorhersage
keineswegs absolut ungünstig zu stellen, v. Jaksch hat einen Fall von
Anaemia pseudoleucaemica beschrieben, bei dem vollkommene Genesung
eintrat und mit einem Anstieg der rothen Blutzellen von 1,380.000 pro cmm^^
auf 3,643.70iJ verbunden war. Die günstige Prognose hat v. Jaksch sogar
als wichtiges Moment gegenüber der Leukaemie hervorgehoben.
Die Behandlung der kindlichen Anaemien congruirt in ihren Mass-
nahmen fast vollkommen mit den für die Anaemien der Erwachsenen
üblichen therapeutischen Anordnungen. Eisen als Ferr. lactic. und Ferr.
oxijdat. diahjsat. (3mal täglich 5 — 15 Tropfen) und Arsen in der Formel
der Solutio arsenical. Fowleri (1 — 2jährigen Kindern: 0-05 pro dosi, 0-2 pro
ANGINA PECTORIS. 73
die) sind die bekannten Specifica gegen die schweren anaemischen Zustände
des Kindesalters. Künstliche Eisenbäder (20*0 — 50*0 Ferr. sulfur. sicc. für
ein Bad) oder Moorsalzbäder (25-0^50-0 Moorsalz pro balneo) werden
namentlich gegen die rachitisclien Anaemien in praxi seit jeher vielfach
angewandt.
HocK-ScHLESiNGER haben in Fällen von Anaemia infantum pseudo-
hmcaeniica von der Verordnung des Phosphor-Leberthran (nach Kassowitz)
unzweifelhafte Besserung gesehen, „während allerdings in anderen trotz
Besserung der Rachitis dem Krankheitsprocess kein Einhalt gethan wurde".
In jenem oben erwähnten Falle von Anaemia infantum pseudoleucaemica,
von dem v. Jaksch vollständige Heilung berichtet, wurde dieselbe durch
Blaud'sche Pillen erzielt.
Jodpräparate können bei Vorhandensein oder Verdacht auf Lues
bnzweifelhaften Nutzen bringen, zumal die Verordnung von Hg -präparaten
uei Anwesenheit anaemischer Zustände im Allgemeinen nicht angezeigt
erscheint. Am empfehlenswerthesten wäre das Fen\ jodatum saccharatum
(MoNTi). Man verabreicht dasselbe :
Kindern von 1— 5 Wochen 0*2 in X., 2 — 8 Pulver täglich
,, „ 6-12 ,. 0-2 in X, 4—6 „ „
„ 1— 2 Jahren 0-3— 0*4 pro die j. WEISS.
Angina pectoris. {Stenocardie, herzneuralgie, Brustbräune, Nervöser
Herzschnerz, Neuralgia plexus cardiaci.) In der weitaus grösseren Mehrzahl
der Erkrankungsfälle von Angina pectoris ist die Aetiologie derselben
theils in dem anatomisch nachweisbaren Befunde, theils in der
Coincidenz gewisser äusserer schädigender Momente mit dem Auftreten der
stenocardischen Anfälle gegeben. Für die übrige Reihe der Fälle fehlt uns
derzeit noch jeder Anhaltspunkt zur Erkennung ihrer Ursachen.
In erster Reihe kommen für die E n t s t e h u n g der Stenocardie die
Herz- und Gefässerkraiikungen derselben selbst, vor Allem der atheromatöse
Process der Aorta und derCoronar-Arterien, sowie i\\QKlappen-Erkrankungen,Mm\
diesen wieder die Stenose und Insufticienz an den Aorten-Klappen — seltener
die Mitral- Affe ctionen — und schliesslich die Herzmuskelerkrankungen,
darunter auch die nach Infectionskrankheiten wie Pneumonie, Ileotyphus,
Erysipel sich ausbildende Herzdilatation in Betracht. Auch Obliteration des
Herzbeutels, Mediastinitis und Tumoren des Mediastinum kommen gelegent-
lich als Ursache der Angina pectoris zur Beobachtung.
Psychische Aufregungen sind ganz besonders geeignet, Anfälle von
Stenocardie zu erzeugen und Hysterie,, Hypochondrie, Epilepsie, Psychopathie
und Neurasthenie müs.-en mit demselben Rechte den ätiologischen Momenten
zugezählt werden, als dies unter Umständen für den Tabak-, Thee-, Kafee-
und Alkoholgenuss, resp. deren Missbr^vuch zutrifft.
ilucli Kälteeinwirkung ist im Stande, Angina pectoris hervorzurufen,
jene Form, die wir speciell Angina pectoris oasomotoria bezeichnen.
Schliesslich werden noch Rheuma, Gicht, Lues, sowie Dyspepsie gfls
veranlassende Ursachen angeführt und Leber-, Uterus-, Oüar/a/-Erkrankungen
sollen auch auf reflectorischem Wege Angina pectoris hervorrufen können.
Die letztgenannten Formen, deren Entstehungsursachen, wie aus der
Aufzählung ihrer ätiologischen Momente erhellt, ausserhalb des Herzeus
gelegen erscheinen, werden mit dem Namen Pseudoangina, die übrigen
mit dem Namen echte Angina bezeichnet.
Das Wesen der Krankheit hat mannigfache Deutung gefunden. In dem Bestreben
eine gemeinsame Ursache für die hervorstechendsten Symptome der Erkraukung zu finden,
müsste immer wieder auf das Herz als Ausgaiigspuukt der verschiedenen Erscheinungen
der Stenocardie verwiesen und mit Rücksicht auf die Art, in welcher die Symptome zur
74- AXGINA PECTORIS.
Beobachtung kommen, nämlich den neuralgischen Charakter, speciell das XervensA'stem
des Herzens dafür verantwortlich gemacht werden. Die anatomischen Verhältnisse des
plexus cardiacus, der sich aus Fasern des Vagus und Sj'mpathicus zusammensetzt und
dicht unter und hinter dem Aortenbogen verläuft, sowie der Umstand, dass aus dem
plexius cardiacus auch Fasern zu den Coronargefässen gehen, sollten als Beweis für den
neuropathischen Charakter der Angina pectoris dienen. Die abwechselnd auftretenden
Eeizungs- und Lähmungszustände von Seite der Xer^-en während des Aufalles würden
die verschiedenen Symptome im Verlaufe der Erkrankung erklären.
Auch positive pathologisch-anatomische Befunde, so Compresson des plexus
cardiacus durch vergrösserte Drüsen, Exsudate, Extravasate, sowie Entzündungsherde in der
nächsten Umgebung der Herzganglien — besonders in der Vorhof-Scheidewand — gestatteten
w^eiters, diese Deutung des Wesens der Angina pectoris zu stützen.
Dieser Deutung der Angina pectoris als eines vom Nervensysteme, respective
den Ganglien des Herzens ausgehenden Symptomencomplexes gegenüber entwickelte sich
unter besonderer Berücksichtigung der objectiv nachweisbaren Störungen am Herzen eine
Reihe von Theorien, deren gemeinsamer Kern die Erklärung bildet, dass auf mecha-
nischem Wege durch plötzlich gesteigerte Ansprüche an das linke Herz die Erschei-
nungen der Augina pectoris veranlasst v/erden.
Eine dieser Theorien lässt die plötzlich wachsende Spannung der Ventricularwan-
dungen in Folge reichlicher Blutansammlung in den Herzhöhlen (linker Ventrikel, eventuell
auch linker Vorhof) und die cousecutive Zerrung der motorischen uud sensiblen Elemente
als Ursache des Schmerze« und der Erscheinungen der Herzschwäche gelten, eine andere
nimmt eine wirkliche Hemmung der Herzthätigkeit durch mechanische Hinderuisse an.
wobei der Schmerz die Folge der gesteigerten Anstrengung des Herzens, um das vorhan-
dene Hinderniss zu überwinden, ist Eine dritte Auffassung sieht das Wesen der Krank-
heit in der Steigerung der Schwäche eines schon geschwächten Herzens, wobei durch den
Paroxysmus eine stärkere Füllung der Herzhöhlen hervorgerufen wird.
Nach einer vereinzelt dastehenden Ansicht sind sämmtliche Erscheinungen der
Stenocardie aus einem anomalen Zustande von Blutleere des Muskels zu erklären.
Nach diesen nebenangeführten Erklärungen Hesse sich bei Ai'terios derose der
Coronarien der Vorgang in der Weise vorstellen, dass die Verengerung der Arterie ein
Hindernis für den Abiiuss einer Blutmenge abgibt, die sout caeteris paribus zu einer
massigen Kraftleistung des Herzens eben hinreicht, die aber einer gesteigerten Anfor-
derung an das Herz nicht mehr genügen kann, worauf dasselbe mit Erlahmung reagiren muss.
Diese Annahme erklärt auch, dass nicht jede Arteriosclerose der Coronarien von
Angina pectoris begleitet ist, und dass die Intensität und der Sitz der stärksten Arterien-
veränderung (Ursprung der arteria coronaria sinistr. aas der Aorta ascendens und dem
Ramus descendens der ersteren) für die Entstehung der Stenocardie entscheidend ist.
Bei Herzaffectionen ohne Arteriosclerose sind Bedingungen für die ungenügende
Zufuhr von Blut ohnedies oft hinreichend vorhanden. Nach dieser „mechanischen" Er-
klärungsweise, dass eben gesteigerte Ansprüche an das linke Herz im Stande sind, An-
fälle von Angina pectoris hervorzurufen, ist es auch verständlich, dass besonders bei
erkranktem Herzmuskel, also wenn Bedingungen für ein Missverhältniss zwischen
Leistungsfähigkeit und Widerstand gegeben sind, die Erscheinungen der Angina pectoris
eintreten werden.
Das Druclcgefühl unter dem Sternum und die Präcordialangst werden auch mit
Arterien- Verstopfung und Necrose des Myocards in Verbindung gebracht, der Schmerz
mit Erregung der sensiblen Herznerven durch Sauerstoifmangel des Blutes.
Die Diagnose der Angina pectoris bietet keine besonderen Schwierig-
keiten, sei es, dass sie als Begleit':'rscheinnng einer mehr oder minder vor-
geschrittenen Veränderung am Herzen und an dessen Gefässen. sei es. dass
sie als Kranldieit sui generis auftritt.
Die Angina pectoris ist durch p a r o x y s m a 1 a u f t r e t e n d e n
Schmerz charakterisirt, der meist plötzlich ohne veranlassende Ursache,
vorwiegend beim Uebergange vom wachen Zustande zum Schlafe oder nach
einer psychischen Emotion, nach Kälteeinwirkung, körperlicher Anstrengung
oder Indigestion auftritt. Selten gehen Prodromalerscheinungen. wie
Schwindel. Ohrensausen. Brechreiz. Schlingbeschwerden oder Kältegefühl
in der linken oberen Extremität voraus. Der Schmerz wird von deii Kranken
innerhalb der vorderen Thoraxpartie, zwischen Sternum uud Brustwarze un-
gemein heftig empfunden. Die hievon Befallenen klagen über ein Gefühl,
wie wenn ihnen das Herz mit Zangen aus der Brust gerissen würde und
sehen unter diesem unsagbaren Yernichtungsgefühle dem herannahenden
ANGINA PECTORIS. 75
Tode als Erlösung entgegen. Hiebe! tritt Blässe und intensiver Schweiss-
ausbruch auf und der Kranke versucht oft, sich durch Anstemmen der Herz-
gegend gegen einen festen Gegenstand Erleichterung zu verschaffen.
Der unter dem Sternum beginnende Schmerz strahlt in die benach-
barten Nervengebiete, namentlich in den linken Oberarm, gegen die Inser-
tion des M. Deltoidefi daselbst und gegen die Schulter aus. Er zieht
an der hintern und inneren Oberarmseite, entsprechend dem Verbreitungs-
bezirke des nerc. cid. med. s. internus nach abwärts, um öfters uhiarwärts
im vierten und fünften Finger zu endigen, wobei Taubheit, Steifigkeit und
Formiration in der Extremität empfunden Averden. Ausnahmsweise ist auch
die rechte obere Extremität betheiligt, selten sind beide Arme gleichzeitig
betroifen.
In einzelnen Fällen strahlt der Schmerz in den Nacken oder das
Hinterhaupt, in die Brusthaut (nerv, thorac. ant., Verbindung der vorderen
Aeste der oberen vier Halsuerven und der ersten Brustnerven mit dem
plex. cardiacusj, Mamma, den Testikel. die Beine, sowie die Nabel- und
Magengegend aus.
Der S chmerzanf all ist meist von kurzer Dauer, nach wenigen
Minuten beendet, doch kann er auch Stunden währen, wobei es sich jedoch
um eine Eeihe rasch folgender Einzelparoxysmen mit verschwindend kleinen
Pausen handelt, oder es trennen monatlange Intervalle den einen Anfall
vom nächsten. Bei längerem Bestehen des Leidens häufen sich die Anfälle
und werden intensiver, versetzen fast täglich die Kranken in jenen qual-
vollen Zustand, von dem sie durch den im Anfalle öfter plötzlich eintre-
tenden Tod schliesslich befreit werden.
Der Puls verhält sich während des Anfalles wechselnd, er ist meist
schwächer, nur ausnahmsweise bei der Angina pectoris vasomotoria kräftiger
als in der anfallsfreien Pause. Zuweilen ist der Puls von wechselnder
Frequenz, die während des heftigen Schmerzes gesteigert ist, manchmal
auch intermittirend. Der Herzspitzenstoss fühlt sich breit an, die Auscul-
tation ergibt als wesentlichstes Symptom: CJiquetis metaUiqice oder Emlirijo-
cardie.
Die Pv,espiration ist meist nicht gesteigert, ja oft durch das Ruhe-
bedürfnis des Kranken im Anfalle durch den Willen derselben angehalten.
Die im Aufalle gesteigerte Ptespirationsfrequenz ist vorwiegend durch das
überwältigende Angst- und Schmerzgefühl des Patienten hervorgerufen. Bei
Combination von Angina pectoris und cardialem Asthma — und dieses
Zusammentreffen ist sehr häufig — fehlt die respiratorische Verlang^amung.
In einzelnen Fällen kommt Husten mit schleimigem oder serösblutigem Aus-
wurfe mit reichlichem feinen Rasseln nach dem Anfalle zur Beobachtung.
Schlingkrämpfe, Singultus, Erbrechen, tonlose Stimme, unfreiwilliger Abgang
von Koth und Harn, Urina spastica sind öfters Begleiterscheinungen.
Bei der Angina 'pectoris vasomotoria, deren Auftreten oft schon bei
geringfügiger Kälte einwirkung zu betrachten ist, treten die subjectiven Er-
scheinungen in den Extremitäten, wie Herabsetzung der Empfindung in der
Haut und Kältegefühl neben Blässe und Cyanose, als Folge des peripheren
Gefässkrampfes, in den Vordergrund. Manchmal tritt hiebei Verlangsanumg
des Pulses auf, meist ist die Frequenz desselben nicht verändert, doch
fehlen dabei nicht die charakteristischen Oppressions- und Schmerzgefühle
in der Herzgegend. Auch „abortive" Anfälle mit Brustbeklemmung und
Todesangst ohne Schmerz können zur Beobachtung kommen.
In differential-diagn ostischer Beziehung sind zunächst die
oft plötzlich auftretenden Dyspnoe-Aufälle mit Cyanose. Schweiss- und Puls-
schwankungen (eventuell auch mit Schmerz in der Herzgegend) bei Herz-
76 ANGINA PECTORIS.
klappen- imd Muskelerkraiikiuigen strenge von der Angina pectoris zu treuneu.
In dem letztgenaunteu Symptouiencomplexe auf cardialer Grundlage handelt
es sich um eine Steigerung der Respirationsfrequenz, die der Kranke nicht
willkürlich wie hei Angina pectoris vera herahmindern kann. Man findet bei
diesen Erkrankungen, die zu so schweren Zufällen führen, meist objectiv
deutlich nachweisbare Dilatation des Herzens nebst mannigfachen anderen
Begleiterscheinungen der schweren chronischen Herzerkrankung. Herzpal-
pitationen auf neurasthenischer Basis werden nicht leicht von so schweren
und unvermittelt auftretenden Schmerzparoxysmeu begleitet, wie bei Steno-
cardie : bei Asthma bronchiale fehlt der substernale in den linken Aim
ausstrahlende Schmerz, es treten auch die pulmonalen Symptome mehr
in den Vordergrund. Schliesslich werden anamnestische Daten, sowie sonstige
hysterische Symptome, vor Allem die im Anfalle auftretende Unruhe eine
Verwechslung eines hysterischen mit einem stenocardischen Anfalle ver-
hüten lassen.
Die Prognose gestaltet sich für jene Fälle von Angina pectoris,
bei denen anatomische Veränderungen nachweisbar sind, ungimstiger als
für die Fälle, wo es sich nur um rein functionelle Störungen handelt.
Die Erkrankung kommt vor dem 50. Lebensjahre nicht häufig zur
Beobachtung, und trifft die Mehrzahl der Erkrankungen das männliche Ge-
schlecht. Das kältere Klima begünstigt das Auftreten der Stenocardie. auch
vrird von einem epidemischen Auftreten desselben berichtet.
Die Therapie hat zwei Aufgaben zu erfüllen. Die erstere besteht
darin, den stenocardischen Anfall abzuschwächen, die zweite umfasst die
prophylactischen Massnahmen, um die Wiederholungen der Paroxysmen
hintanzuhalten.
Was die Massnahmen während des Anfalles selbst betrifft, so handelt
es sich zunächst, den Kranken in eine für seinen Zustand erträgliche Lage
zu bringen, die er sich jedoch meist spontan durch Aufrichten des ganzen
Körpers selbst verschafft. Oeffnen des Fensters, um bei dem hochgradigen
Angst- und Beklemmmigsgefühle dem Kranken frische Luft zuzuführen.
Piuhe. unter Lmiständen ^'erdunklung des Zimmers und Lockerung der
Kleider können dem Leidenden Erleichterung, und trockene Schröpfköpfe
oder Sinapismen am Thorax, der Eisbeutel in die Herzgegend, Schlucken
von Eis, heisse Hand-, respective Fussbäder (mit Zusatz von Senfmehl),
Bürsten der Extremitäten, sowie spirituöse Einreil)ungen können ihifi wesent-
lichen Nutzen bringen.
Einathmungen von Chloroform, Essig- oder Schirefeläther, Pijridin,
Amtjhüfrit (letzteres vorwiegend bei der vasomotorischen Angina, 2 bis o
Tropfen) und Stickoxychd sind mit Vorsicht zu versuchen.
Mmmt der Puls an Kraft ab. sind überhaupt Erscheinungen von Herz-
schwäche vorhanden , so sind Champagne)-, Aether, Valeriana, Castoreum,
Asa foetida und Kampher, überhaupt Excitantia am Platze : Xifroglgcerin
(3 bis 4 stündlich 1 bis 2 Tropfen einer Iprocentigen Spirituosen Lösung)
empfiehlt sich eher für den länger fortgesetzten Gebrauch in der anfalls-
freien Zeit.
Das souveräne Mittel zur Abkürzung und Milderung im stenocar-
dischen Aufalle ist das Morphin, das subcutan, mit Vorsicht angewendet, wohl
in all den Fällen, wo nicht durch Schwäche oder besondere Frequenz des
Pulses eine Contraindication gegeben, meist den Erfolg nicht versagen
wird. Zur besonderen Vorsicht halte man die Kampher-Injection nebenbei
stets bereit.
Die zur Verhütung der stenocardischen Anfälle zu tretfendeii Mass-
nalimen haben sich zunächst auf die Einhaltung; einer massigen, ruhigen
ANOREXIE. 77
Lebensweise. Veriiieidiing psychischer Aufregungen und Erkältungen, Ent-
haltung von anstrengender Muskelarl)eit. Al)stinenz von Alkohol und Tabak,
auch Thee und Kaffee zu richten. Bei Digestionsstörungen wird eine Milch-
diät, bei der vasomotorischen Form werden warme Bäder und Frottirimgeu.
bei Stuhlverstopfung Abführmittel entsprechende Dienste leisten. Bei nach-
w'eistaarer oder vermutheter Arteriosclerose hat die hiefür giltige Therapie
Anwendung zu finden. Xel)en der Einhaltung entsprechender Lebensweise
treten auch medicamentöse Verordnungen in Kraft.
Bei denjenigen cardialen Störungen, die von unregelmässigem Pulse
und Herzpalpitationen in der anfallsfreien Zeit begleitet sind, ist D/gifalis
anzu\^'enden. doch mit Vorsicht, da die durch dauernden Gebrauch herbei-
geführte Steigerung des Blutdruckes neue Anfälle von Stenocardie hervor-
zurufen im Stande ist.
Bei nervöser Grundlage der Erkrankung ist Chinin, BromkaJi, Eisen
und Arsen zu gebrauchen.
Bei der arterio sei erotischen (Coronar-) Angina ist besonders
der längere Gebrauch von Xitroglijcerin 0-0006 in steigender Dosis oder
Natrium uitrosum 0-3 bis DO auf loO-O, 3 — 4 Esslöffel, täglich empfohlen.
Der Vollständigkeit halber sollen noch Menthol 0.001 pro dosi, Cap-
sicin 0"0006 pro dosi, Extract fluid, cact. grandiflor (8 bis 10 Tropfen drei-
bis viermal täglich) angeführt werden.
Auch kann ein Aufenthaltsort von nicht zu hoher Lage den Leidenden
wesentlichen Vortheil bringen.
Die Anwendung der Elektricität bei Stenocardie hat nur in seltenen
Fällen einen offenbaren Nutzen gebracht : es muss aber mit Beziehung auf
die aus dem Thierexperimente erhaltenen Resultate eher von der Anwen-
d'ung derselben abgerathen werden. ir. v. FPascii.
Anorexiß. Appetitlosigkeit, Mangel an Esslust (ops;'.;) versteht man
unter dem gegenwärtig weniger üblichen Ausdruck Anorexie. Jedermann
weiss, was mit Appetit und dem Gegentheil davon gemeint ist, so dass eine
Definition fast unnöthig erscheint. Aber es fragt sich, ist Fehlen der
Esslust gleich zu setzen dem Fehlen des Hungers, mit anderen Worten:
ist Appetit und Hunger dasselbe? Bekanntlich bietet das Wesen des
Hungergefühles der Erklärung nicht geringe Schwierigkeiten. Man darf es
als ein aus örtlichen Empfindungen (Muskelgefühlen der Zusammeuziehungeu
des leeren Magens [E. H. Weber], vielleicht auch Einwirkung der freien
Säure auf die Magenschleimliaut) und allgemeinen Erscheinungen (Abge-
spanntheit, Schwäche) zusammengesetztes Gefühl auffassen. Unter Appetit
verstehen die Einen den Beginn d^s Hungers. Andere einen auf Bestimmtes
gerichteten Hunger. Dass ein Unterschied zwischen Esslust und Hunger
besteht, wie die verschiedenen Ausdrücke es andeuten, ist zweifellos : doch
sind die genannten Erklärungen nicht erschöpfend, eine l)essere schwer zu
geben. Sicher ist. dass nach dem gewöhnlichen Si)rachgebrauche Eines olnx?
das Andere bestehen kann. Ein Kind hat oft noch Appetit, wenn von Hunger
nicht mehr die Bede sein kann. Dagegen setzt sich ein Magenkranker mit
ausgesprochenem Hunger zu Tisch, die Esslust aber ist verschwunden, mag
man ihm vorsetzen, was man will. Hunger ist die Mahnung. Appetit die
Lust, etwas zu essen. Beides ist gewöhnlich vereinigt, beides oder eines
von beiden kann fehlen. Hunger fehlt selten auf die Dauer vollständig.
der Appetit dagegen viel häufiger.
Anorexie kann alle Krankheiten begleiten und ist vielleicht das häu-
figste Symptom des Krankseins überhaupt. Nicht nur organische und func-
tionelle Störungen des Magens selbst rufen dieselbe in der Regel hervor.
78 AXOREXIE.
sondern alle allgemeinen und örtlichen Krankheitsprocesse können durch die
Einwirkung auf das Gehirn (beziehungsweise das dort supponirte Hunger-
oder Appetitcentrum) oder die die Appetitsempfindung vermittelnden Nerven
den Appetit stören. Beiden Magenkrankheiten mit anatomischen
V e r ä n d e ru n g e n fehlt der App etit geAvöhnlich, coustant bei dem acuten
Magenkatarrh und fast regelmässig beim Krebs, dabei in der Regel sogar
schon ziemlich frühzeitig. Wechselnd ist der Appetit bei dem chronischen
Magenkatarrh, während er beim M a g e n g e s c h w ü r sogar meist vorhanden
ist und, wie es scheint, nur bei ausgedehnterem begleitenden Katarrh oder Erwei-
terung zu fehlen pflegt. Bei den verschiedenen functionellen Störungen des
Magens, wienervöse Dyspepsie, Säuremangel, Säureüberfluss
etc. trifft man die Anorexie ebenfalls oft, doch fehlt sie wohl ebenso häufig.
Vom Darm aus wird sie oft hervorgerufen, durch Unregelmässigkeiten in
der Darmthätigkeit, Diarrhöen, wie Verstopfung. Ueberhaupt wirken in dieser
Hinsicht zahlreiche periphere Reize. Ebenso wie im gewöhnlichen Leben Durst,
Hitze, äussere Unbehaglichkeit die Esslust abschwächen, so thun es auch die
meisten krankhaften Empfindungen, vor allem die S c h m e r z e i n d r ü c k e, aber
auch üble Geruchs- und Geschmackswahrnehmungen, sowie die Herabsetzung
des Geruchs und Geschmacks. Ebenso wie Schreck, Ekel, Trauer, Freude
den Appetit auf kurze Zeit nehmen können, so bewirken psychische Alte-
rationen, von den ne urasthenischen und hy st e ris chen Zuständen
bis zu den eigentlichen Geistesstörungen, oft dauernden Appetitmangel.
Vergiftungen aller Art, auch wenn, sie nicht den Magen direct schä-
digen, machen fast regelmässig Anorexie, insbebondere anhaltend der ge-
wohnheitsmässige Missbrauch des Alkohols, Tabaks, Opiums. Zahlreiche
Arzneimittel stehen auch in medicamentösen Gaben mit Recht in dem
Ruf, den Appetit zu verderben, wie Morphin, Digifalii^, Chinin^ Metallsalze
u. V. a., obwohl man gerade da die grössten individuellen Verschieden-
heiten trifft. Blutkrankheiten (Anaemie, Chlorose, Leukaemie) und
schwere Kachexien (Krebs, seniler Marasmus) sind fast ausnahmslos
von Anorexie begleitet. Bei der Tuberculose wird sie oft verhängniss-
voll und bringt nicht selten schon im frühesten Stadium der Ernährung
schweren Nachtheil. Alle fieberhaften Krankheiten setzen den
Appetit mehr oder weniger herunter. Wahrscheinlich spielt bei allen diesen
allgemeinen Störungen die Verminderung der S a 1 z s ä u r e s e c r e t i o n
des Magens bei der Appetitabnahme eine Rolle. S törungsv orgänge in
der Magenschleimhaut in Folge von Herzfehlern, Emphysem, Lebercirrhose
führen zu Stauungskatarrhen und somit zur Anorexie. Die Selbstver-
giftungen, wie die Uraemie bei Nierenentzündungen und andere,
wirken in der gleichen Weise, wie Intoxicationen von Aussen her. Es ist
undenkbar, alle Fälle aufzuzählen, in denen der Appetitsmangel eine Rolle
spielen kann.
In ihrer Eigenschaft als ein rein subjectives Symptom ist die
Anorexie sehr schwer zu controliren. Der Begriff" ist ein relativer. Daher
klagt Mancher über Appetitmangel bei einem Nahrungsconsum, mit dem
ein Anderer völlig zufrieden ist. Uebertreib ungen sind sehr häufig.
Es ist deshalb nicht selten nöthig, dass der Arzt sich durch eigene Beob-
achtung oder diejenige zuverlässiger Personen ein möglichst objectives
Urtheil verschafft. Mit Vorsicht darf man auch das Aussehen der Zunge
benutzen, deren dicker, weisser Beleg gewöhnlich auf bestehende Anorexie
deutet. Das Wichtigste bleibt aber stets für den Arzt die Erkennung
der Ursache. Man bequeme sich, besonders in schweren Fällen, immer
erst im Nothfall, nach Ausschluss aller anderen Möglichkeiten zu der An-
nahme einer rein n er v Ösen Anorexie. Es gibt gewiss eine solche als Theil-
AXOREXIE. 79
ersc'heiimiig der Neurasthenie und Hysterie. Man kann auch z. B. die-
jenige, welche sich nach schweren Operationen oder im hohen Alter, an-
scheinend oline jede hesohdere Ursache einstellt, zur Noth als Neurose
auffassen. Sehr oft aher verstecken sich die A n f ä n g e s c h w e r e r
Leiden, insbesondere von Tuberbulose und Krebs, hinter diesem einzigen
Symptome. Es gilt, verhängnissvolle diagnostische Irrthümer rechtzeitig zu
vermeiden.
Auch die Behandlung der Anorexie hat in erster Linie die Ur-
sache ins Auge zu fassen. Alle die Möglichkeiten, bei welchen eine causale
Therapie in Frage kommt, aufzuzählen, ist unthunlich. Einige Beispiele
mögen genügen. Selbstverständlich beseitigen oder mindern wir die Appetit-
losigkeit in Folge von Magenkrankheiten, indem wir letztere heilen
oder bessern, z. B. einen chronischen Magenkatarrh durch geeignete Diät
und Auswaschungen des Magens, eine Erweiterung nach narbiger Pylorus-
strictur durch operative Entfernung der letzteren. War die Anorexie durch
einen i n c o m p e n s i r t e n H e r z f e h 1 e r verursacht, so kehrt auf Digitalis-
anwendung mit der compensirenden Herzthätigkeit oft auch der Appetit
zurück, ebenso wie bei Wechselfieberkranken auf Chinin, und es
zeigt sich, dass Mittel, welche in der Regel den Appetit zu verschlechtern
pflegen, ihn unter Umständen herstellen können. Bei allgemeinen Blut-
krankheiten, wie der Chlorose, verhilft eine zweckmässige Nahrung,
Ruhe und Eisen mit der allgemeinen Besserung auch zu gutem Appetit
und dieser ist im Stande, den ursprünglichen Circulus vitiosus, in welchem
mangelhafte Blutbildung die Anorexie uiid diese wieder jene verursacht,
zum Vortheil der Kranken umzudrehen. Die Auffindung und Entleerung
eines versteckten Eiterherdes gibt dem Patienten oft mit einem Schlage
den verlorenen Appetit wieder. Bei Nervösen und Geisteskranken
hilft oft eine energische psychische Einwirkung (Suggestion).
Ob man bei Anwendung der frischen Luft zur Beseitigung der
Anorexie auch eine causale Indication erfüllt, oder nur eine symptomatische,
ist nicht immer ganz durchsichtig. Jedenfalls ist sicher, dass man mit der
Freiluftbehandlung in zahlreichen- Fällen, in denen nicht Magenkrank-
heiten oder vorgeschrittene Organerkrankungen die Ursache sind, selbst
hartnäckigen Appetitmangel beseitigt. Dahin gehören insbesondere die Ano-
rexien der Anaemischen, Tuberculosen, Neurasthenischen. Auf die Methode
kommt aber viel an. Nicht jede Luft ist passend. So ist ein warme, feuchte,
weiche Luft weniger geeignet Appetit zu erwecken als eine trockene, kühle,
wie die Hochgebirgsluft oder eine feuchte, rauhe, wie die Meeresluft. Viel
Bewegung im Freien ist nur für kräftige Appetitlose nützlich, für schwäch-
liche Leute, um die es sich gewöhnlich handelt, dagegen in der Regel nicht.
Für diese sind die Liegekuren im Freien von dem besten Erfolge be-
gleitet. Aber auch sie darf man nicht gleich übertreiben. Sehr Herunter-
gekommene müssen sich ganz allmählich an die Luft gewöhnen. Ist Aufent-
halt im Freien unmöglich, so ersetzt man denselben durch Bettliegen b«i
offenem Fenster. Consequente Ueberwachung ist immer nothwendig.
Man erzielt aber zuweilen nicht nur normalen Appetit, sondern sogar
Steigerung desselben, so dass man alsbald eine Mastkur anschliessen kann.
Bäder, sowohl warme als ganz besonders kalte (Fluss- und Seebäder), sowie
andere hydrotherapeutische Proceduren, welche den Stoffwechsel anregen,
können die Freiluftbehandlung wirksam unterstützen. Das Gleiche gilt von
der Massage, theils der örtlichen an der Bauch-, theils der allgemeinen
der gesammten Körpermusculatur.
Die in Laienkreisen gebräuchliche Reizung des Appetits durch An-
bieten besonders leicht verdaulicher, wohlschmeckender, p i k a n t e r
80 ANOREXIE.
oder auch stark gewürzter (gesalzener, gepfefferter ) und grober Speisen
oder durch kleine Mengen Alkohols darf auch der Arzt unter gewissen
Verhältnissen am Krankenbett rathen. Es sind dies Fälle von rein nervöser
Anorexie oder solcher, wie sie bei Anaemischen. Reconvalescenten. leicht
Fiebernden wohl in der Regel mit Abnahme der Säuresecretion des Magens
einhergeht. Xur muss man schwere Magenläsionen, insbesondere Katarrh
und Ulcus und ebenso ernstere Darmaöectionen ausgeschlossen haben. Bei
richtiger Indicationsstellung kann der Hausarzt durch rechtzeitige Verord-
nung von Delicatessen (Caviar, Austern u. A.\ von Senf, Pfeffer, ja selbst
von grober Bauernkost (an Stelle unnöthig strenger Diät) Segen stiften.
Besonderes Gewicht ist auf das gleichzeitige Trinken bei den Mahlzeiten
appetitloser Anaemischer zu legen. Wenn man jeden Bissen mit einem
Schluck Wein ibei Ivindern mit Compot; hinunterschlucken lässt. kann man
oft den AYiderwillen besiegen.
Als appetitreizende Arzneimittel gelten von jeher die
l)flanzlichen Bittermittel (Genfiana, Quassia, Conduraugo, Wermuth u. v. A.).
ferner Bhaharher in kleinen Gaben, sowie auch einige andere bitter
schmeckende Mittel, wie kleine Mengen Chinin, Stri/chnin. Es ist nicht zu
läugnen, dass die Amara vorübergehend den Appetit bessern können, ebenso
wie sie, nach Experimenten, kurze Zeit, nachdem sie den Magen verlassen
haben, eine Steigerung der Säureabscheidung hervorrufen sollen. Von einer
Beseitigung schwerer Anorexien, insbesondere auf die Dauer, ist aber
kaum die Ptede. Eher kann man dies von dem Kreosot, beziehungsweise
dem wirksamen Bestandtheil desselben, dem Guajmol, behaupten, welche
gegenwärtig in der Behandlung der Anfangsstadien der Lungentuberculose
eine Piolle spielen. Da eine directe Einwirkung dieser Medicamente auf
den tuberculösen Process sich wenigstens nicht erweisen lässt. so ist
höchst wahrscheinlich die Hebung des Appetits und damit der Ernährung die
wesentliche Ursache des unleugbar günstigen Einflusses. Ein Mittel von zu-
weilen ganz ausgesprochener Wirkung auf den Appetit habe ich in dem
Orexin, (Fheni/Idihi/drochinazoJin) gefunden. Es wirkte besonders bei Anorexie
in Folge von gTossen Operationen. Phthisis. Anaemie und gesunkener Er-
nährung überhaupt etwa in der grösseren Hälfte der Fälle, zuweilen so,
dass förmlicher unstillbarer Heisshunger auftrat. Man verwendet am besten
das Orexlnum basicum (das früher von mir empfohlene salzsaure brennt zu
sehr auf der Schleimhaut) ein- bis höchstens zweimal im Tag zu 0-3 — 0*5 in
Oblaten mit viel Flüssigkeit. Der Erfolg kommt zuweilen schon nach der
ersten Gabe und hält dann an. oder er wird erst nach Anwendung von
mehreren Tagen dauernd, oder er tritt nur nach der jedesmaligen Dar-
reichung auf kurze Zeit ein. Die Wirkung geht mit einer Abkürzung der
Verdauungszeit sowie einer Erhöhung der Säureabscheidung einher: auf
letzterer beruht wahrscheinlich der appetiterhöhende Eiiitiuss
Wenn alle angeführten causalen und symptomatischen Massregeln die
Anorexie nicht zu heben im Stande sind, so kann bei schweren Anae-
mischen, Hysterischen und besonders bei Geisteskranken die zw^angs-
weise Einführung der Speisen mit der M a g e n s o n d e angezeigt sein.
Eine dünne mit einem biegsamen Rohrstäbchen als ]\Iandrin versehene
Schlauchsonde wird (bei widerspänstigen Kranken durch die Nase) in den
Magen eingeführt und nach Entfernung des Mandrins durch ein feines Sieb
durchgeseihte Milch, verrührte Eidottern, dünner Mehlbrei, etwa V2 Liter auf
einmal, vermittelst eines Trichters eingegossen. Auf diese Weise kann die
Ernährung durch Wochen hindurch erzwungen werden und mau sieht nicht
selten in Folge davon auch die natürliche Esslusst zurückkehren.
PENZOLDT.
AXTIPYRESE.
il
Antipyrese Unter Antipyrese versteht man die Belianillung des
Symptoms : F i e b e r.
Die Erhaltung der normalen Körpertemperatur erfordert eine fortwährende Wärme-
erzeugung, durch welche die Wärmeabgabe gedeckt wird. Xun werden aber die beiden
Factoren, Wärmeerzeugung und Wärmeabgabe, von äusseren uod inneren Umständen
fortwährend beeinflusst: die Wärmeprodaction wird bedeutend erhöht bei Muskelarbeit,
bei vermehrtem Wärmeverlust: die Wärmeabgabe hängt von der die Hautoberfläche um-
gebenden Temperatur und vom Grade der W ärmeproduction ab. in physiologischen Ver-
hältnissen. Die Einhaltung eines richtigen Masses besorgt jene Funclion des Nerven-
systems, welche mau die Wärm er egulir ung nennt. Diese Function besteht darin, dass
durch sie die Körpertemperatur immer auf einen bestimmten Grad eingestellt bleibt, u.
zw. ebenso im physiologischen als im pathologischen Zustande des Organismus. Zahl-
reiche Versuche haben ergeben, dass, wenn wir mit gewaltsamen Mitteln die Körper-
temperatur künstlich erhöhen oder erniedrigen, die in den betreffenden Nervencentra ein-
gestellte Temperatur sofort zurückkehrt, sobald dies möglich wird. Gewöhnlich bezeichnet man
eine Temperatur bis 37*4" C. als normal, obzwar dieser Grad am Ende einer fieberhaften
Krankheit noch immer nicht als Apyres.e als tieberloser Zustand, betrachtet werden kann.
Es ist immer verdächtig, wenn bei der Defervescenz die Körperwärme nicht unter 37° 0. fällt.
Die Erhöhung der Kör per wärme nennt man gewöhnlich Fieber, obzwar in
letzterem Begriffe alle übrigen Symptome dieses Zustandesmitinbegriifensind, es scheint aber,
dass die Temperaturerhöhung als die eigentliche Ursache auch der übrigen Beschwerden be-
trachtet werden muss. Das Steigen der Temperatur geschieht unter Kältegefühl, welches
in intensiven Schüttelfrost übergehen kann. Dieser ist umso heftiger, je rapider die Körper-
wärme sich erhöht, kann aber fehlen bei langsam eintretendem Fieber. Die Ursache dieses
Kältegefühls ist der Unterschied zwischen Blut- und Hauttemperatur, denn im stärksten
Schüttelfrost ist schon die Blutwärme bedeutend erhöht. Das Gegentheil sehen wir beim
rapiden Abfall einer fieberhaft erhöhten Temperatur in einem intensiven Hitzegefühl und
Transpiration, als schon die Temperatur zu sinken beginnt.
Die Erhöhung der Körpertemperatur geschieht zu einem geringen Th eile
durch Verminderung der Wärmeabgabe (die Hautcapillaren contrahiren sich, die Haut
wird blass, kühlj, hauptsächlich aber, wie das die Versuche Liebekmeister's beweisen,
durch heäeuteiide Erhöhung der Wärmeproduction. Beim Abfallen des Fiebers vermindert
sich die Wärmeproduction und gleichzeitig w^erden alle Schleussen der Wärmeabgabe ge-
öffnet : die Capillaren erweitern sich, es tritt profuse Schweissabsonderung ein.
Indem wir die im Vorstehenden wiedergegebenen Anschauungen, welche
derzeit über das Wesen und den Entstehungsmechanismus des Fiebers Gel-
tung haben, in Berücksichtigung ziehen, können wir auf die Therapie des
Fiebers übergehen. Doch fragt sich in erster Reihe, ob eine Vermin-
derung des Fiebers überhaupt zwe c km äs s ig und heilsam sei?
Um die Frage beantworten zu können, müssten wir präcise Kenntnisse über
die Ursache des Fiebers haben, was aber nicht der Fall ist; es scheint
jedoch annehmbar zu sein, dass in der grössten Mehrzahl der Fälle ge-
wisse giftige Substanzen, meist Producta von Bacterien im Wege des Blutes
die höhere Einstellung der Wärmeregulirung verursachen, indess ist aber
der Mechanismus dieses Processes noch unbekannt. Es gab Zeiten, wo man
glaubte, und es gibt heute noch Forscher, die derselben Meinung sind,
dass das Fieber eine heilsame Reaction des Organismus gegen die Krank-
heitsursache ist. und dieser Annahme zulieb wurden manche Beobach-
tungen ausgeführt, welche aber mit ebensoviel Recht auch anders gedeutet
werden können. Zu Beginn der bacteriologischen Auffassung der Krankheits-
ursachen bemühte man sich nachzuweisen, dass diese Microorganismeu
durch die Fieberhitze geschädigt werden, heute wissen wir. dass die
Bacterien die erhöhten Wärmegrade entschieden besser vertragen als war
selbst. Diese teleologische Auffassung scheint mir ganz unbegründet zu sein,
es wäre dasselbe, wenn man den Brandschorf als Wehrmittel bezeichnen
würde, oder den Krebsknoten als Heilungsprocess deuten wollte. Was aber
noch sicherer als alle theoretischen Erwägungen in dieser Frage entscheidet,
ist der Umstand, dass bei fieberlos gehaltenen Infectionskranken die Krank-
heit weder länger dauert, noch einen schwereren Verlauf nimmt als in den
Fällen mit sehr hohen Temperaturen.
Bibl. med. Wisscn.scliaften. I. Iiitenio MeiHciii und Kiiuierkraiikheiteii. 6
82 ' ANTIPYRESE.
Der zweite Punkt, den man in der Beiirtheilung der antipyretischen
Behandlungsweise vor Augen halten muss, ist der, dass man mit einer noch
so consequent durchgeführten Antipyrese den eigentlichen Krankheitsprocess
nicht im Mindesten verkürzt, noch in irgend welchem Sinne direct beein-
tlusst. Nun tritt aber die Frage heran, ivas tvir durch eine antipyretische Heil-
methode gewinnen können ? Das Fieber schädigt den Organismus hauptsäch-
lich durch denvermehrten Stotfverbrauch, welcher ausser der Abmagerung noch
alle jene Beschwerden zugleich hervorruft, die durch die mangelhafte Re-
stitution der direct in Arbeit umsetzbaren Stoffe zu entstehen pflegen, so
Ermüdung, Abfall der Kräfte, ferner treten noch manche mehr oder weniger
schmerzhafte Erscheinungen (in erster Reihe Kopfschmerz) dazu. Wir sehen
aber tagtäglich, dass der menschliche Organismus alle diese Beschwerden
selbst lange Zeit hindurch aushalten kann, und gewiss waren die Aeusse-
rungen,. die besonders in der ersten Periode der antipyretischen Behand-
lung fieberhafter Krankheiten von namhaften Forschern über die schädliche
Wirkung des Fiebers auf das Herz und andere Organe gemacht wurden,
übertrieben, da man Schädigungen, welche wir heute der allgemeinen Aus-
breitung der Infection, der Septicaemie oder der Intoxication zuschreiben
müssen, ganz auf Rechnung der erhöhten Temperatur schrieb. Freilich sind
Temperaturen von und über 42° C. äusserst gefährlich, doch darf man nicht
vergessen, dass die Ursachen, die so extreme Erhöhungen der Körperwärme
hervorrufen, auch an und für sich schon sehr intensive sind.
Wenn wir aber auch auf Grund dieser Erfahrungsthatsachen weder
eine Verkürzung der fieberhaften Krankheiten durch die Antipyrese noch
eine Aufhebung der Gefährlichkeit dieser Affectionen uns versprechen können :
so genügt doch ein Blick auf den Zustand eines Kranken, der vor wenigen Minu-
ten in grösster Qual dalag und nun des Segens der Antipyrese theilhaftig ge-
worden ist, um die ganze Tragweite dieser Behandlungsmethode einselien
zu können. Der Verlauf einer antipyretisch behandelten Krankheit, besonders
was die subjectiven Gefühle der Patienten betrifft, ist unvergleichlich leichter
als ohne diese Methode. Es scheint selbst, dass eine sonst schwere Krank-
heit weniger bei dieser Behandlung die Betroffenen entkräftet, dass sie
nicht so sehr abmagern, dass sie sich in der Reconvalescenz schneller er-
holen; freilich wäre es schwierig, alle diese Umstände statistisch nachzu-
weisen. Dass überhaupt die statistische Methode nicht sehr geeignet ist,
in diesen Fragen zu entscheiden, beweisen am besten jene Zusammen-
stellungen, welche den Einfluss der Antipyrese auf die Mortalität zu demon-
striren trachten. Man benutzte gewöhnlich den Typhus abdominalis zu diesem
Zweck und fand Daten, die bald zu Gunsten der Antipyrese ausfielen, bald
aber schlechtere Ergebnisse aufwiesen. Immerhin waren die Ersteren in
Mehrzahl, doch lässt sich auch mancher guter Wille in der Wahl der Fälle
nicht abläugnen. Wenn einige Autoren, Brand in erster Reihe, zu einer
vollständigen Durchführung der Antipyrese wünschen, dass Typhusfälle vor
dem 5. Tage in die Behandlung kommen sollen, so wird eine auf solche
Fälle basirende Statistik schon deshalb keinen besonderen Werth haben,
da sie nicht mit genügend grossen Zahlen arbeiten kann ; auch ist es schwer
einzusehen, dass eine Antipyrese in den ersten Tagen die häufigsten Todes-
ursachen, welche erst bedeutend später eintreten, beeinflussen könnte.
Eine unparteiische Betrachtung der publicirten statistischen Daten, und was
vielleicht noch mehr Werth besitzt, obzwar es in Zahlen nicht ausdrückbar
erscheint, die persönliche Erfahrung und Beobachtung zeigen übereinstimmend,
dass in der Mortalität nur eine kleine, höchstens wenige Procente aus-
machende Differenz (zii Gunsten der Äntipi/rese) aime\\mha.v ist. Gewiss ist das mit
der höchst evidenten Erleichterung des subjectiven Befindens nicht wenig in
ANTIPYRESE. 83
Widerspruch, wird aber sehr natürlich, wenn man bedenkt, dass die tödt-
liche Wendung des Abdominaltyphus meist durch eine absolut lethale Compli-
cation (Perforationsperitonitis, Verblutung, septische Allgemein-Infection, etc.)
verursacht wird und nur selten einfach in Folge von Entkräftung ein-
tritt. Selbst die so sehr gefürchtete Herzparalyse mit Entartung des Herz-
fleisches hat ihren Grund in der deletären Wirkung einer bösartigen Infec-
tion, nicht in der der erhöhten Temperatur. Nur ein ganz kleiner Theil
der Fälle geht an solchen Complicationen zu Grunde, welche nicht von vorn-
herein tödtlich sind, und in welchen eine Schonung der Kräfte durch die
Antipyrese eventuell eine schlimmere Wendung abgehalten hätte. Diese
Sachlage passt mutatis mutandis auch auf die übrigen acuten Infections-
krankheiten ; auf eine nähere Beweisführung einzugehen, scheint uns aber
umso weniger nöthig, da die Erfolge der Antipyrese ihre beste Bestätigung
bilden. Nach den heutigen Ertahrungen hat die Antipyrese sehr wenig Ein-
fluss auf die Lebensgefährlichkeit der einzelnen Krankheitsformen, wohl
aber erleichtert sie in einem sehr hohen Grade die Leiden der Patienten,
spart ihre Kräfte, vermindert bedeutend die Abmagerung und erleichtert die
Reconvalescenz. Nicht die Mortalitätsstatistik der Aerzte wird durch sie
gebessert, sondern die Qualen der Patienten werden reducirt. Natürlich wird
nur eine methodisch durchgeführte und auf richtige Grund-
sätze gebaute Antipyrese einen wahren Nutzen bringen, bevor wir
aber von den speciellen Indicationen sprechen wollen, werden wir vorerst
die einzelnen Mittel betrachten.
Wir besitzen heute zweierlei Arten der Antipyrese: die directe
Entziehung von Wärme mittelst kalten Wassers und die medicamentöse,
mit verschiedenen, den organischen Verbindungen angehörigen Substanzen.
Die Methoden der Wärme e n tzie hu ng bestehen hauptsächlich
in der äusserlichen Anwendung des mehr oder weniger kalten Wassers, denn
die Versuche, die Temperatur durch Trinken von kaltem Wasser oder durch
Klysmata herabzusetzen, haben keine genügende Piesultate ergeben. Die Pro-
cedur der kalten Bäder variirt sehr nach den einzelnen Autoren. Jl'rgensex
will die Temperatur des Wassers zu 15 — 19" C, selbst zu 10 — \5^ C. be-
stimmen, Liebermeister verordnet Vollbäder von 20" C, während Ziemssex
u. A. mit 80° C. beginnen und dann die Temperatur durch Hinzufügen von
kaltem Wasser allmälig bis 25—20° C. herabsetzen. PiIess will die Kranken
in 35 — 37" C. baden, nachdem aber die letzteren Wärmegrade nur sehr
wenig Einfluss auf das Fieber zeigen, verlängert er die Dauer eines jeden
Bades auf mehrere Stunden. Die Application dieser Bäder geschieht
derart, dass die Wannen neben dem Bett aufgestellt werden oder das Bett
in das vorbereitete und genügend erwärmte Badezimmer geschoben wird,
dann wird der Kranke im Bette vollständig entblösst und mit einem Lein-
tuch einfach bedeckt. Nun lassen wir den Patienten mit dem ihn bedeckenden
Leintuch ins Bad heben, wobei es am besten ist, wenn das Wasser bis zu
seinem Hals reicht; das Leintuch wird einfach über der Wanne ausgebreifet.
so dass eigentlich nur der Kopf und diti Schultern des Kranken sichtbar
bleiben. Sollte jedoch ein Vollbad die Athmung erschweren, dann kann man
auch weniger Wasser nehmen, doch muss der aus dem Wasser heraus-
ragende Körpertheil fortwährend mit einem Schwamm gewaschen werden.
Auch thut man gut, vor dem Bade einige Eisumschläge auf den Kopf zu
appiiciren, welche selbst im Wasser fortgesetzt werden ; bei starken Gehirn-
congestionserscheinungen kann man den Kopf einigemale mit kaltem Wasser
übergiessen. Der Kranke soll sich im Bade still verhalten, auch muss man
ihn so unterstützen, dass er sich nicht zu halten brauche. Es ist gut, während
der Dauer des Bades bei Vermeidung heftiger Bewegungen mit einem
b*
84 ANTIPYRESE.
Schwämme oder dgl. den ganzen Körper zu frottireu. besonders wenn der
Kranke bald zu frieren anfängt. Sobald dies eintritt oder die Herabsetzung
der Körperwärme genügend geschehen ist, was circa 1 0 Minuten beansprucht,
wird der Kranke (noch immer mit dem Leintuch bedecktj in das inzwischen
neu gemachte Bett auf ein trockenes, nicht zu kaltes Leintuch gelegt und
zugedeckt. Hände und Füsse sollen abgetrocknet, und wenn sie sehr kalt
geworden sind, mittelst Wärmflaschen erwärmt werden. Friert der Kranke
stark, so muss man ihn besser zudecken, doch soll mau die Bedeckung
sobald als möglich wieder leichter machen. Das Thermometer wird einge-
legt, und so die Abnahme des Fiebers gemessen. Nach dem Bade gibt man
etwas Wein, bei schwächeren Patienten ist das auch im Vorhinein ange-
zeigt. Das Wasser soll für ein jedes Bad erneuert werden I — Die Methode
der nassen Ein Wickelungen wird am besten so ausgeführt, dass zwei
Betten nahe zu einander gestellt werden uud auf das leere über einen
stärkeren Kotzen ein in circa 15 — 20° C. warmes Wasser getauchtes und ziem-
lich ausgewundenes Leintuch gelegt wird, in das man den Patienten hinein-
hebt und sodann einwickelt. Hiebei sollen die Unterschenkel und Füsse
freibleiben, so auch der Kopf, auf welchen kalte Umschläge gelegt werden.
Die Dauer einer Ein Wickelung wird von den meisten Autoren auf 10 — 20
Minuten bestimmt und wird sodann auf dem nebenstehenden Bett wieder-
holt, solange bis ein genügender Abfall der Temperatur erreicht ist. Andere
Aerzte, wie DuJAEDrN^-BEAUMETZ. lassen den Patienten nur 20 — 30 Secunden
einge-^TLckelt und wiederholen diese Procedur nur in grösseren Zwischen-
pausen : der Zweck dieser kurzen Application der Kälte ist aber nicht die
Herabsetzung der Körperwärme, sondern nur eine allgemeine, erfrischende
Nervenreizung. Die Einwickelungen haben jedoch eine bedeutend sclucächere
antipyretische Wirkung wie die Bäder. — Die Bäder oder Einpackungen
müssen Tag und Nacht so oft wiederholt werden, als die Temperatur eine
gewisse Grenze überschreitet (39 — 40° C), was freilich bei intensiveren
Fiebern nur allzu oft geschieht, und so werden in 24 Stunden bis zu 16
Bäder verabfolgt. Nun ist das keine Kleinigkeit für das Wartepersonal,
und da der Arzt auch immer zugegen sein muss, um Puls, Temperatur zu
controliren, etwaigen Collapserscheinungen abhelfen, die Dauer der Bäder
bestimmen zu können, auch für den behandelnden x\rzt keine geringe Mühe.
Aber nicht nur diese, die Kranken selbst, die zu Anfang die Bäder gerne
ertragen, werden bald ermüdet und entschliessen sich immer schwerer.
Doch all' dies wäre ja Nebensache, und gewiss kann in einem Theil der
Fälle diese Methode auch in der Privatpraxis ausgeführt werden , natürlich
wird man sich aber zu einer solchen Behandlung nur dann entschliessen, Avenn
man sich von ihr einen wahren Nutzen versprechen kann und wenn kein
besserer W^eg zu wählen bleibt. Mit diesen Proceduren kann die Körper-
temperatur um 2 — 8" C. herabgesetzt werden, es schwinden damit zugleich
die vom Fieber abhängigen Beschwerden. Doch dauert diese Ptemission nur
kurze Zeit, die Temperatur steigt binnen Kurzem u. zw. ziemlich rapid
und erreicht ihre frühere Höhe (falls nicht eine spontane Remission eintritt)
in U/a bis 2 Stunden, manchmal noch früher, und damit kehren alle Qualen
und Gefahren zurück. Ein gTOSser Theil der Kranken verträgt die Bäder
sehr gut, andere hingegen bekommen, kaum ins Bad gesetzt, einen starken
Frost und müssen nach wenigen Secunden weder herausgehoben werden,
ohne dass ihre Temperatur in nennenswerther Weise abgefallen wäre ;
diesen wird das fortwährende Wiederholen der Bäder sehr unangenehm.
Oft werden die ersten Bäder gut ertragen, die späteren aber nicht, und in
solchen Fällen nützt auch nicht viel, wenn wir den Bädern höhere Wärme-
grade geben und nur allmälig sie abkühlen: die Haut des Patienten wird
ANTIPYRESE. 85
Ijlass. seine Lippen cyanotiscli. Hände und Füsse können nur scdiwer wieder
erwärmt werden. Dies ist der Fall namentlich bei sehr intensiven Fiebern,
welche allerdings auch sehr schweren Erkrankungen entsprechen.
Betrachten wir jetzt die me die ame ntös e Antipyrese. Es gibt
eine ganze Eeihe von chemischen Substanzen, deren grösster Theil als
künstliches Product dargestellt wird, den aromatischen Verbindungen an-
gehört und welche die fieberhaft erhöhte Temperatur zu redudren vermögen.
Die normale Temperatur wird durch diese Mittel kaum beeinflusst. umso-
mehr aber die erhöhte (die normale Temperatur zeigt aber auch eine
grössere Resistenz gegen die AYärmeeutziehungsverfahreu), doch können
wir derzeit noch den Mechanismus ihrer Wirkung nicht leicht erklären.
Ein Theil der Forscher betrachtet diese ]Mittel als Xervina und ist bemüht
nachzuweisen, dass sie direct die Wärmeregulirungscentra angreifen und
ihre erhöhte Erregbarkeit herabsetzen. Andere halten wieder eine indirecte
AVirkung für wahrscheinlicher und sind geneigt anzunehmen, dass diese
Mittel die fieberverursachenden Substanzen (Producte der Bacterien oder
dgl.) binden. Während. die einen die eminente Wirkung dieser Arzneistoffe
auf nervöse Zustände, und speciell gegen Schmerzen, zur Stützung ihrer
Annahme betonen, wollen die Anderen die auch nicht zu unterschätzende
antiseptische Kraft derselben hervorheben. Freilich bleibt es nicht ausge-
schlossen, dass wenigstens für einige dieser Medicamente noch andere
Wirkungsweisen annehmbar wären. Die Beobachtung scheint aber zu be-
weisen, dass wenigstens bei den ganz speciell wirksamen Stoffen der Abfall
der Temperatur eine Folge der tiefer eingestellten Wärmeregulirung ist.
ferner, dass mit ihrer Wirkung nicht nur die Körperwärme sich zur Nor-
malen nähert oder selbst subnormal wird, sondern, dass gleichzeitig alle
übrigen fieberhaften Beschwerden auch schwinden. Dieser unschätzbar guten
Wirkung gegenüber stehen aber auch unanf/eneJune Neben effecfe. welche
jedoch den einzelnen dieser Mittel in sehr verschiedenem Grade anhaften
und uns bei der Wahl des anzuwendenden Antipyreticums in erster Eeihe
interessiren. Wir wollen nun diese Stoffe näher besprechen.
Die ältesten im Gebrauche sind die Herzgifte Digitalis, Veratrin, Col-
rliicin, Aconitin. etc. Der Ausgangspunkt ihrer Verwendung gegen das Fieber
war die grosse Frequenz des Pulses, welche man in erster Pieihe bekämpfen
wollte, es stellte sich hiebei später auch heraus, dass diese ]\Iittel, und haupt-
sächli(di das erstere. auch einigen, wenn auch spät eintretenden und wenig
ausgiebigen Einfluss auf die Temperaturcurve besitzen. Aber um welchen
Preis! Um einigermassen das Fieber vermindern zu können, rauss die Digi-
talis in sehr hohen Dosen verwendet werden, in Dosen, welche man ohne
ernste Gefährdung der Herzthätigkeit nicht über 1 — 2 Tage hinaus an-
wenden kann, umso weniger, da in fieberhaften Affectionen die Erhaltung
der Kraft des Herzens eine wichtige Rolle spielt. Ohne Ursache die Herz-
thätigkeit im Beginne einer fieberhaften Krankheit anzuspornen. heissL so
viel, als ihre Kraft im vorhinein verschwenden. Der cumulative Cliarakt*er
dieses Mittels verbietet auch eine länger dauernde Anwendung selbst kleinerer
Dosen. Freilich werden gewöhnlich diese verordnet, man verschreibt „ein
wenig Digitalis" gegen das Fieber, in solchen Dosen entwickelt es keine
antipyretische Wirkung und übt dennoch einen deletären Effect auf das Herz
aus. Heute, da wir viel ungefährlichere und bedeutend sicherer wirkende Arz-
neien besitzen, ist es geradezu als fehlerhaft zu bezeichnen, wenn Jemand gegen
die erhöhte Körpertemperatur Digitalis verordnet, ebenso fehlerhaft als das
früher übliche Verfahren war, das Fieber mittelst l^enaesection zu besänftigen.
Aerzte, die die Digitalis gegen Fieber verordnen, kümmern sich wenig um
eine mittelst Thermometer controlirbare antipyretische Wirkung.
86 ANTIPYRESE.
Das Chinin hat eine intensive antipyretische Wirkung, welche ge-
wöhnlich 1 — 2 Stunden nach der Einnahme beginnt und 2 — 4 Stunden an-
hält, jedoch muss man, um einen genügenden Effect erreichen zu können,
mindestens l'o g bis 2-5 g (einige Autoren wenden noch grössere Gaben
an) in höchstens einer Stunde eingeben. Mit dem Abfall der Temperatur
— welcher aber oft trotz der enormen Dosen ungenügend ist — zeigen sich
dann die unangenehmen Nebenwirkungen dieses Medicaments : Ohrensausen,
Schwindel, manchmal Sehstörungen, Verlust des Appetits, Magenbeschwerden
etc. Die Abnahme des Fiebers geschieht aber ziemlich langsam und so
pflegt kein stärkeres Schwitzen einzutreten. Die Wiederkehr des Fiebers
geschieht auch allmälig, und da meistens keine vollständige Apyrese ein-
getreten war, somit die Differenz nur massig war, stellt sich die Erhöhung
der Temperatur ohne Frost ein.
Einen bedeutenden Fortschritt in der Antipyrese bildete die Ein-
führung der Salicylsäure, welche aber bald durch das salicylsaure
Natron zweckmässig ersetzt wurde. Der antipyretische Effect dieses Pul-
vers ist sehr gross, die Temperatur fällt nach Dosen von 2 — 4l g um 2 — S^C,
und die Wirkung hält mehrere Stunden an. Die Entfieberung beginnt schon
innerhalb der ersten Stunde nach der Ingestion der nothwendigen Dosis, und
nachdem die Temperatur sehr rasch fällt, so bricht ein starker Schweiss
aus; der Wiederanstieg der Körperwärme hingegen geschieht ziemlich lang-
sam, und so kommt es zu keinem Frostanfall. Das Natr. salicyl. sollte man
immer in Wasser gelöst eingeben, da es, wenn es in Pulverform genommen wird,
sich äusserst schnell im Magen löst und daselbst ein Brennen verursacht;
wollte man es aber doch in Oblaten geben, so lasse man viel Flüssigkeit
(Milch, Wasser) gleich nachtrinken. Gewöhnlich gibt man nicht mehr als
l'O g pro dosi, wiederholt aber diese Gabe V2Stündlich so lange, bis der Effect
genügend eingetreten ist. Als unangenehme Nebenwirkung wird Ohrensausen,
hauptsächlich aber Magenschmerzen, selbst Appetitlosigkeit verzeichnet, es
scheint auch, dass bei seinem Gebrauch Darmblutungen beim Typhus abd.
häufiger eintreten. Die meisten Autoren erwähnen auch Collapserscheinungen
und Anfälle von Herzschwäche, über diese siehe weiter unten. Die Salicyl-
säure scheint eine noch intensivere antipyretische Wirkung zu besitzen, doch
sind alle schädlichen Nebenffecte bei ihr bedeutend ausgesprochener.
Diese eben aufgezählten, eminent specifischen Mittel: die Digitalis
als Herztonicum, das Chinin als Antimalaricum und das Natr. salicyl., der
beste Bekämpfer der Polyarthritis, sind heute als Antipyretica durch be-
deutend bessere ersetzt. Unter diesen wollen wir aber nicht das Kairin,
Thallin, Resorcin, noch die Carbohcwre etc. erwähnen, da diese derzeit so
gut wie ausser Gebrauch gesetzt sind. Auch ist es noch schwer, ein end-
giltiges Urtheil über das neuerdings aufgetauchte PlienocoUum Jujdrochlorlcum
u. a. zu fällen, während wir heute eine reiche Erfahrung über das Aceta-
nilid, das Antvpgr'm imdPhenacetin besitzen.
Das Acetanilid oder Antifebrin hat eine sehr kräftige anti-
pyretische Wirkung und setzt schon in Dosen von O'ö — O-lb Temperaturen
von 4-00 C. (bis zur normalen) herab ; nachdem die Defervescenz in diesen
Fällen binnen wenigen Minuten, gewöhnlich innerhalb der ersten halben
Stunde beginnt und sehr rasch erfolgt, so wird sie von einer inten-
siven Transpiration begleitet, deren Unannehmlichkeit die Euphorie der
Apyrese leicht aufwiegt. Das Acetanilid ist ein weisses Pulver, in Wasser
kaum löslich und somit geschmacklos, sein grösster Vorzug ist sein geringer
Preis, welcher durch die relativ kleine, anzuwendende Dosis (höchstens
l'O) noch eclatanter hervortritt (1-0 Acetanilid = 3 kr., während die ihm
gleich irerthlge Dosis Fhenacetin l'ö == 22 kr.^ 3-0 — i'O Antlpijrin 48 — -64 kr.
ANTIPYRESE. 87
koüen ohne Exp.). Dieser Vortheil, der ihm in der Armenpraxis eine gewisse
Stelle verschafft; wird durch mancherlei sehr störende Nebenwir-
kungen bedeutend eingeschränkt. Erstens tritt nämlich eine ausgesprochene
Ci/anose besonders an den Lippen auf, welche ganz bläulich werden ; man
weiss zwar noch nicht die eigentliche Ursache dieser Erscheinung, welche
einige Autoren für das Symptom einer Contraction der Capillargefässe be-
trachten, andere hingegen auf eine Methaemoglobinbildung im Blute zurück-
führen wollen, so viel ist aber gewiss, dass die Cyanose sonst nichts Beun-
ruhigendes zeigt, und die Kranken sich dabei ganz wohl fühlen. Zweitens
aber verursacht dieses Mittel — wahrscheinlich nur in Folge seiner äusserst
rasch und intensiv eintretenden Wirkung — bei schwächeren Individuen kurz
dauernde Störungen im Allgemeinbefinden, in der Herzthätigkeit, welche
zur Vorsicht mahnen, und wir müssen dem allgemein gegebenen Eath nur
beistimmen, dass man Kindern und sonst schwächlichen, besonders an
Circulationsstörungen leidenden Kranken dieses Mittel absolut nicht ver-
schreibe und überhaupt nur dann zu diesem Mittel als Antipyreticum greife,
wenn Armuth die Verordnung der theuereren Medicamente ganz verbietet.
Die Defervescenz dauert mehrere Stunden (6 — 7, manchmal noch mehr),
dann aber kehrt das Fieber sehr rasch, oft in Form eines Schüttelfrostes
zurück; diesem kann man dadurch abhelfen, dass man in der letzten Stunde
der Apyrese die nöthige Dosis wiederholt. Will man eine Febris continua
mit Acetanilid behandeln, so ist es besser die Einzelgaben kleiner zu
nehmen, etwa 0-4— 0*5, diese aber stündlich so lange zu repetiren, bis die
gewünschte Wirkung erreicht ist. Hiedurch wird der Verlauf der Deferves-
cenz milder, auch die Rückkehr des Fiebers geschieht ohne besondere
Störungen.
Das Antipyrin ist unstreitig unser u-irksamstes und bestes Ardipi./re-
ücum. Es löst sich in Wasser sehr leicht, die Lösung hat aber einen wider-
lichen Geschmack, weshalb man dieses Mittel in Oblaten nehmen lassen
soll, wobei das Nachtrinken von Wasser oder Milch auch zu empfehlen ist.
Diese Leichtlösbarkeit des Antipyrins eignet es zur Anwendung mittelst
Klystiere, während sich die subcutane Application in der Behandlung des
Fiebers nicht bewährt hat. - — Das Antipyrin in der Dosis von 2- — 4-0 g, u. z,
in Einzelgaben von 1*0 g, halbstündlich wiederholt, oder 3 — 5-0 g
auf einmal in circa 100 ccm Wasser gelöst und in den Mastdarm ein-
gespritzt, entfaltet schon in kurzer Zeit (in letzterer Form oft nach 10 bis
15 Minuten) seine sehr intensive Wirkung, die gewöhnlich mit einem pro-
fusen Schweisse beginnt und dann ziemlich gleichmässig längere Zeit an-
hält; die Temperatur erreicht ihr Minimum am Ende der Apyrese, kurz
vor dem Beginn des wieder eintretenden Fiebers. Diese steigt aber ziem-
lich allmälig an, die Kranken fangen an zu frieren, es kommt jedoch sehr
selten zu wahrem Schüttelfrost. Die Apyrese hält auch bei intensiveren
Fiebern gewöhnlich 6 Stunden an, bei der Abnahme des Fiebers verlängert
sich auch seine Wirkung, es scheint, dass ihre Dauer in einem bestimmten
Verhältniss zu der Intensität des Fiebers steht. Unangenehme Nebenwir-
kungen besitzt das Antipyrin kaum und wird in den meisten Fällen sehr
gut vertragen, die Sicherheit seines antipyretischen Effectes lässt nichts zu
wünschen. In einigen Fällen erscheint bei seinem längereu Gebrauch ein
Hautausschlag, welcher den Masern nicht unähnlich, doch massiver als diese
ist- und schon zu falschen Diagnosen geführt hat; dieser Ausschlag schwindet
in wenigen Tagen und hat weder prognostisch noch sonst irgend eine üble
Bedeutung.
Als letztes in der Reihe der Antipyretica wollen wir das Phena-
cetin erwähnen, welches einige sehr schätzenswerthe Eigenschaften be-
88 ANTIPYRESE.
sitzt. Seine Wirkung ist ebenso prompt, vielleicht noch angenehmer wie
die des Antipyrins und ist diesem auch in der Dauer und dem Verlauf der
Apyrese sehr ähnlich. Die Vorzüge, die es gegenüber dem Autipyrin auf-
weist, sind erstens die bedeutend kleinere Menge, mit welcher man eine
vollständige Defervesceuz erreichen kann, indem für den Erwachsenen
1-0 (j, höchstens l"o g genügen, und zweitens seine Geschmack-
losigkeit, durch welche das Phenacetin in der Kinderpraxis ganz speciell
angewendet zu werden verdient. Kindern gibt man die nöthige Quantität
vom Pulver, indem man sie auf einen Löffel Zuckerwasser streut, das
Phenacetin schwimmt auf der Oberfläche und sieht wie Zucker aus. Selbst
Säuglingen kann man es. und mit dem besten Piesultat geben, nur sei man
nicht allzu sparsam mit der Dosis, 0-10 — 0-30 werden leicht vertragen. Eine
der allergrössten Wohlthaten dieser Mittel sieht man eben in diesen Fällen,
das kranke Kind spielt wie ein gesundes, sobald die Wirkung eingetreten
ist. Kräftigeren Kindern von 3 Jahren an muss man aber 0-75 — 0*90 g
geben. Unerwünschte Nebenwirkungen besitzt dieses Mittel so gut wie gar
nicht, nur hat es einen Fehler: zuweilen — • aus noch unbekannten Gründen
— bleibt seine Wirkung einfach aus, selbst in Fällen, in denen es bis
dahin gan:^ vorzüglich gewirkt hat. Vielleicht fehlte in diesen Fällen die
saure Eeaction des Magens, diese Reaction ist aber zu seiner Lösung nöthig,
es wäre möglich, dass man unter diesen Umständen durch ein saures Ge-
tränk, die Wirkung herbeiführen könnte.
Nun wollen wir zur Besprechung der Indicationen übergehen,
welche Mittel man in den einzelnen Fällen am besten wählen soll, und
wie man sie verordnen muss. Wenn wir in dem Folgenden von der Auf-
fassung der meisten und bedeutendsten Bearbeitern dieses Themas einiger-
massen abweichen, so hat das seinen Grund besonders darin, dass wir heute
an Erfahrung bedeutend reicher sind und dass wir heute bessere Methoden
haben, als man bisher hatte. Es ist auch unmöglich, sich ein richtiges Urtheil
zu bilden über die Angaben in der Literatur, betreffend den Werth der
einzelnen Verfahren, besonders wenn man nicht genügende persönliche Er-
fahrung besitzt, ohne die historische Entwicklung der Lehre von der Anti-
'pyrese zu berücksichtigen; gleichzeitig muss man aber vor Augen halten,
dass einige der Krankheiten, die mittslst Antipyrese behandelt werden,
heute beiweitem nicht mit so schweren Symptomen einhergehen und auch
kleinere Mortalität aufweisen wie vor 15—20 Jahren, u. zw. ganz unabhängig
von der Behandlungsweise.
Die Kaltwasserbehandlung stammt von einem Mitgiiede jener
genialen Aerztegeneration, welche England zu Ende des vorigen und zu
Beginn unseres Jahrhunderts besass. James Cukrie gab zuerst kalte Bäder
und Waschungen Fieberkranken und controlirte schon ihre Wirkung mit
dem Thermometer. Ihm folgte bald in Ungarn P. Kolbany (1811) und dann
noch Andere. Obgleich aber die beschriebenen liesultate die besten waren,
konnte man sich\lamals nicht zu dieser Behandlungsweise entschliessen, bis
Beand (besonders nach 1870) und seine Anhänger, Bartels, Liebermeistek,
JüeCtEnsen u. A. durch ihre sorgfältigen Arbeiten der Antipyrese die Thore
öffneten. Erst später (gegen 1840) versuchte man das Chinin, welches haupt-
sächlich als Antimalaricum gebraucht wurde, gegen andersartige Fieber.
1876 trat die Salici/lsäurp, 1877 das Natron saUci/lieum iliren Weg an. und
das ÄnUpi/rin datirt erst seit dem Jahre 1884. Nun bedeutet aber ein jedes
dieser Mittel einen Fortschritt über die vorhergehenden, und wenn wir
heute einen Vergleich zwischen der Kaltwasserbehandlung und der inneren
Medication anstellen wollen, so müssen wir die besten der uns zu Gebote
stehenden IMittel wählen, was früheren Bearbeitern dieses Themas nicht
ANTIPYRESE. 80
iu solchem Masse möglich war. Hiezii kommt noch, dass die wärmsten Ver-
theidiger der Kaltwasserbehandlung die antipyretischen Mittel nur als Re-
serve (Liebeemeister) für die allerschwersten Fälle verwenden wollen,
natürlich wird hiedurch der Credit dieser Medicamente nicht gehoben.
Wir müssen eingestehen, dass, was die Kaltwasserhehandlung anbetrifft,
die t h e 0 r e t i s c h e n E r w ä g u n g e n einigermassen in Widerspruch mit
den praktischen Erfahrungen sind. Nachdem nämlich im Fieber die Wärme-
regulirung höher eingestellt ist als normal, so muss in Folge dessen der
durch Wärmeentziehung abgekühlte Körper von Neuem so viel Wärme
produciren, dass die Temperatur wdeder die frühere Höhe erreiche. Freilich
könnte man auch annehmen, dass durch das kalte Bad das Wärmereguli-
rungscentrum reflectorisch beeinflusst wird, dies scheint aber nicht der
Wahrheit zu entsprechen, da thatsächlich die Körpertemperatur sofort nach
dem Bade allmälig zu steigen beginnt und in kurzer Zeit, in circa l'/ü
Stunden die frühere Höhe einnimmt. Was geschieht während dieser Zeit?
Der Körper muss so viel Wärme produciren, als er im Bade verloren hat,
nebstbei natürlich noch seinen fortwährenden A^erlust decken. Die schönen
Untersuchungen Liebermeister's beweisen nun, dass die Wärmeproduction
besonders während des Ansteigens der Temperatur vergrössert ist, während
im Stad. acmes dieselbe nur wenig mehr als das normale Mass beträgt.
Auf Grund dieser Untersuchungen (bestimmt durch die Abwägung der Ver-
mehrung der Kohlensäureausscheidung) kann man annehmen, dass die Er-
hebung der Körperwärme um 1 Grad Celsius ungefähr ebensoviel Calorien
erfordert, als der Körper in einer halben Stunde bei gleichbleibender
Temperatur verliert. Wenn wir also annehmen, dass bei einem Kranken
die Temperatur von 40 Grad auf 37 Grad in Folge eines kalten Bades
gesunken ist, und das Fieber in r/2 Stunden wieder seine frühere Höhe
erreicht hat: dann ist es leicht einzusehen, dass der Kranke innerhalb
dieser IV2 Stunden eben das Doppelte an Wärmeproduction geleistet hat.
Nun Wärmebildung und Stoffverbrauch ist ja dasselbe, wenn wir uns aber
fragen, woher der Patient diesen Stoff verbrauch deckt, so wird man nicht
annehmen können, dass er entsprechende Mengen zu sich nimmt, sondern
einen grossen Theil aus seinem eigenen Fleisch und Blut zu bezahlen hat.
Das Ersparniss während der Apyrese kommt hier kaum in Betracht, weil
einestheils dieses Stadium sehr kurz dauert, anderentheils aber beträgt die
Differenz zwischen der Apyrese und der Febris continua nur circa 25 bis
oO Procent, während bei clem raschen Anstieg des Fiebers in einer halbem
Stunde 2-0 Procent mehr Wärme gebildet wird. Somit leistet unser Kranke
in der Erwärmung des Bades eine Arbeit, die, wenn das Bad 15 — 16mal
in 24 Stunden wiederholt wird, eine ganz beträchtliche zu nennen ist. Die
Erfahrung lehrt aber, dass die Kranken diese Mehrarbeit nicht nur leisten
können, sondern dass sie dabei noch besser auskommen. Es wäre aber ganz
unrichtig, wenn man die guten Effecte der Kaltwasserbehandlung allein der
Verminderung des Fiebers zuschreiben wollte, im Gegentheil sclieint-uns
die erfrischende Wirkung auf das Nervensystem und die hygienische auf die
Haut vielleicht noch wichtiger zu sein. Ob diese enorme Steigerung des
Stoffumsatzes auch zum Nutzen der Kranken gereicht, scheint sehr fraglich zu
sein und ist nicht besonders wahrscheinlich. — Die Kaltwasserbehandlung
des Fiebers hat aber auch einige C ontr aindication en, welche ihre
Anwendung (nebenbei sei bemerkt: zu Gunsten ihrer Mortalitätsstatistik)'
absolut verbieten, diese sind: Neigung zu Blutungen (aus Darm-, Lungen-.
Gehirngefässen), ferner grosse Schwäche und bedeutendere Schmerzen (Poly-
arthritis, Meningitis etc., selbst bei Verdacht auf Peritonitis !). dann noch com-
plicirende Nierenaffectionen, Ohrenleiden, starker Hustenreiz u. m. A.
90 ANTIPYEESE.
Anders steht es mit den anüpijreüscJien Mitteln, die, abgesehen von
ihren Nebenwirkungen, bedeutend längere Zeit dauernde Apyrese hervorzu-
rufen vermögen, wobei es noch in unserer Macht steht, die so bedeutende
Wärmeproduction bei der Wiederkehr des Fiebers viel gründlicher wie bei
der Kaltwasserbehandlung dem Patienten ersparen zu können, indem ym
noch vor dem Eintritt oder beim ersten halben Grad der Temperatur-
erhöhung eine erneuerte Dosis verabfolgen, was mit der Wärmeentziehungs-
methode ganz unerreichbar ist. Früher hat man den Satz aufgestellt, dass
intermittirende Fieber viel leichter zu ertragen wären als continuirliche,
und hat als Beweis den Intermittens mit dem Typhus und der Pneumonie
verglichen, wobei man aber vergass, dass die grössere oder kleinere Ge-
fährlichkeit dieser Krankheiten gar nicht vom Fiebertypus bedingt wird;
ein solcher Vergleich hat absolut keinen Sinn. Man kann aber diese Frage
nicht einmal vom pathologisch- anatomischen Standpunkte aus beurtheilen,
da die meisten dem Fieber zugeschriebenen parenchymatösen Degenerationen
nicht viel beweisen : denn erstens findet man diese Degenerationen in der
Leiche, somit in Fällen, welche tödtlich verliefen, und wo dieselben ebenso
gut eine Folge der schweren Erkrankung sein konnten, zweitens, wenn sie
durch die erhöhte Körperwärme entstanden sind, so müsste man ihr Vor-
handensein bei allen Fiebern annehmen, und da ein grosser Theil, selbst
der schwersten Fieberkranken, wieder gesund wird, so müsste diese Degene-
ration leicht reparabel sein, und drittens, falls dieselben eine directe Folge
des Fiebers wären, so müsste die antipyretische Behandlung noch viel
grösseren Einfluss auf die Verbesserung der Mortalität haben.
Wenn wir also einen Vergleich zwischen beiden Behand-
lungsmethoden anstellen, so zeigt sich, dass wir mittelst der medi-
camentösen Antipyrese eine bedeutend energischere, länger anhal-
tende und ganz pünktlich bestimmbare Verminderung des
Fiebers erreichen und dabei die Rückkehr der Temperatursteigerung
imd die hiemit verbundene Mehrarbeit vermeiden können , und dies
Alles, ohne dem Kranken das Geringste zu schaden, ohne den Heilungs-
process zu verzögern. Ich muss aber hier einen oft erwähnten Umstand
besprechen, den man häufig gegen die medicamentöse Antipyrese ins Feld
geführt findet, dass nämlich diese Mittel Herzschwäche und Collapserschei-
nungen verursachen. Hier hat man auch vieles übertrieben; ich habe
gesehen, wie man Kranke, bei denen eine subnoimale Temperatur von
86" C. oder ?>b-h^ bei der Defervescenz eingetreten ist, schleunigst mit
Campher und anderen Excitantieu tractirte, obzwar der Patient im besten
Wohlsein sich fühlte und der Puls 70 — 80 betrug. Freilich bemerkt man.
dass der gespannte, volle. Puls im Fieber während der Defervescenz weich
und klein geworden ist; nun ist aber die Ursache dieses Verhaltens ganz
natürlich: im Fieber waren die Capillargefässe mehr contrahirt und die
Herzaction bedeutend erhöht, nach der Wirkung des Antipyreticums er-
weitern sich die Capillaren, die Herzthätigkeit geht auch zurück und in
Folge dieser Veränderungen sinkt der arterielle Blutdruck, doch wird dabei
die Geschwindigkeit der Blutströmung noch erhöht. Herzschwäche zeigt
sich in erster Linie durch vermehrte Frequenz des Pulses, während bei der
richtig geleiteten Antipyrese die Pulsfrequenz immer mit der Temperatur
Schritt hält. Man darf nicht vergessen, dass subnormale Temperaturen auch
bei der natürlichen Krise eintreten. Freilich sind wahre Collapserschei-
nungen hie und da beobachtet worden, besonders wenn die Patienten die
Gebrauchsanweisung des Arztes missverstanden haben, manchmal aber auch
bei persönlicher Idiosynkrasie gegen das eine oder andere Mittel, doch so
viel man weiss, sind tödtliche Fälle darunter kaum vorgekommen, was bei
ANTIPYRESE. 91
der enormen Anwendung der Antipyretica (auch zu anderen Zwecken) der
beste Beweis ihrer Unschädlichkeit ist.
Bei der Autipyrese durch Wärmeentziehung, durch lii/drotherapeutische
Proceduren, gelingt es nur mit grosser Mühe den Kranken für längere Zeit
lieberlos zu macheu, und eine continuirliche Apyrese ist so gut wie unmög-
lich. Das fortwährend zurückkehrende Fieber macht dem Kranken eine
beträchtliche Mehrarbeit nöthig, indess wird diese von den meisten gut er-
tragen, umsomehr, da die erfrischende, die Thätigkeit des Nervensystems
sehr wohl beeinHussende, und in hygienischer Hinsicht auch sehr schätzens-
werthe Wirkung dem Kranken .'zugute kommt.
Aus all diesem folgt, dass man die beiden Methoden nicht in gleichem
Sinne gebrauchen wird, sondern nach der Individualität des Kranken das
passendere wählen soll, auch kann man beide Methoden sehr wohl mitein-
ander verbinden, und dann von der ersteren die antipyretische, von der
letzteren die tonisirende und hygienische Wirkung ausnützen.
Die speciellen Indicationen wird eine sorgfältige Beobachtung ergeben,
zu diesem Zwecke muss man bei einer jeden fieberhaften Krankheit die
Temperatur so oft als nothwendig messen. Mit den heutigen sehr präcisen
und schnell messenden Thermometern ist dies, besonders wenn man dazu
die Beihilfe der Angehörigen verwerthen kann, leicht auszuführen, man
lässt jede zweite bis dritte Stunde die Temperatur bestimmen, wenn nöthig
auch in der Zwischenzeit. Es ist äusserst zweckmässig in jedem Falle,
gleich zu Beginn die Werthe auf einen Papierstreifen notiren zu lassen,
da man sie sonst sehr leicht vergisst, man benützt diese Tabelle, um gleiche
Notizen auch betreffend die Medicamente und Nahrung zu machen. Nun
ist es eine verschiedenartig aufgefasste Sache, ob man gleich am ersten
Abend, wenn der Kranke stark fiebert, ein Antipyreticum anwenden solle
oder nicht? Manche glauben, dass man sich hiedurch die Diagnose erschwert,
dies scheint mir aber nicht der Fall zu sein, da am nächsten Morgen die
Ptückkehr des Fiebers eine Febris continua, ihr Ausbleiben (über die Wir-
kungszeit des Antipyreticums) ein intermittirendes Fieber zeigt; eine Aus-
nahme bilden natürlich die Fälle, welche malarischen Ursprungs zu sein
scheinen, in welchen man bis zur Feststellung der Diagnose keine Anti-
pyretica gibt. Ich wüsste es aber nicht genügend zu motiviren, einen Kranken
aus diesem unzureichenden Grunde eine ganze Nacht hindurch leiden zu
lassen. Doch will ich damit nicht sagen, dass man wegen unbedeutender
Temperaturerhebungen gleich therapeutisch einschreiten solle ; was uns aber
die Indication zur Antipyrese besonders anzeigt, sind ausser den Angaben
des Thermometers in erster Pieihe die subjectiven Gefühle des Patienten.
Einem Phthisiker. der sich besser bei 40*' C. wie bei normaler Temperatur
fühlt, soll man nicht antipyretische Mittel verschreiben, und selbst wenn
das Fieber solchen Kranken manche Beschwerden verursacht, greife man
nicht sogleich zu den aufgezählten Mitteln, sondern trachte durch Bettruhe,
hygienische Massregeln und Appetitverbesserung das Fieber zu sistireir, ,und
nur in den Fällen, wo hohe Temperaturen mit grossen Beschwerden sich
zeigen, soll man — natürlich nicht mit kalten Bädern — die Dauer der
Anfälle zu verkürzen trachten. Man gibt mit Vorliebe in diesen Fällen das
Chinin, weil das Fieber einen iutermittirenden Charakter zeigt und somit
die antipyretische Wirkung nur auf kurze Zeit nothwendig ist, und weil die
Patienten schon ohne Medicamente auch sehr schwitzen. Ein profuser Schweiss
ist gewiss unangenehm, wenn man aber gewöhnlich annimmt, dass er die
Kranken schwäclit, so verwechselt man das Schwitzen mit dem tuberculo-
tischen Processe. Der Schweiss, durch welchen man fast nur Wasser ver-
liert, hat nichts mit der Entkräftung zu thun, er hat auch in diesen Fällen
92 ■ ANTIPYRESE.
liauptsacblich nur die Bedeutung des jälien Abfalles der Körpertemperatur.
Die neueren Antipyretica, und namentlich das Antipyrin, vertragen sich gut
mit den schweisshemmenden Mitteln, so dass man eventuell auch diese an-
wenden kann, umsomehr, da die zu einer Entfieberung nöthige Dosis Chinin
nicht im Mindesten ein Tonicum genannt werden darf.
Bei einem acuten infectiösen Processe mit einer Febris continua wird
man, wenn der Kranke gleich in den ersten Tagen grosse Abgeschlagenheit.
Delirien, Benommenheit, Irregularität des Pulses zeigt, Vorkehrungen zu
einer Hydrotherapie treffen und einigemal im Tage Bäder von 24 — 20° C.
geben oder die nassen Einwickelungen versuchen. Da wir aber in diesen
Bädern hauptsächlich nur ein Tonicum des Kervensystems ersehen, so
glauben wir, und unsere Erfahrung scheint dasselbe zu beweisen, dass in
24 Stunden zwei, höchstens drei solche Bäder vollkommen genügen, die
eigentliche Äntipyrese besorgen v:ir aher mit der medicamenfössn Methode.
Natürlich geben wir die Bäder nur während des Fiebers und theilen uns
die Sache so ein, dass am Morgen ein Bad gegeben wird, 1 — IVa Stunden
später, als die Temperatur wieder eine gewisse Höhe erreicht hat, bekommt
Patient ein Antipyreticum, dessen Wirkung sich bis in die Nachmittags-
stunden verzieht. Nun wird das zweite Bad verabreicht und als das Fieber
von Neuem einzutreten beginnt, wiederholen wir unser Medicament. Es
geschieht sehr oft. dass in den ersten Tagen einer Krankheit die allge-
meinen Symptome bedeutendere Störungen verursachen, nach einiger Zeit
aber, obzwar sich das Leiden inzwischen mehr und mehr ausbildet, die
Beschwerden weit besser vertragen werden — vielleicht da in Folge einer
Art von Angewöhnung. In dieser ruhigeren Periode oder in Fällen, wo
diese nervösen Symptome fehlen, kann man ganz zweckmässig mit der medi-
camentösen Antipyrese das Fieber behandeln, immerhin ist es aber sehr
• gut, auch in diesen Fällen hie und da ein Bad zu geben, um die hygie-
nische Seite dieser Behandluugsweise zu verwerthen: zu diesem Zwecke
können wir uns mit Vortheil der wärmeren Bäder (2Ö- — oO^) bedienen.
Was die Dosen der Antipyretica anbetritft, so ist es rathsam,
bei der ersten Gelegenheit kleinere Mengen zu versuchen (2-0 Antipyrin
in zwei Theilen und halbstündigen Intervallen oder DO Phenacetiu) und den
Gang der Temperatur sorgfältig controliren zu lassen, bei der nächsten Ele-
vation wird man schon die nöthige Quantität bestimmen können, mit welcher
man die Temperatur wenigstens bis 37^ C. — oder noch besser unter 37^
drücken kann. Eine solche Defervescenz dauert 5 — 7 Stunden, gegen Ende
dieser Zeit macht man häufige Messungen, und sobald sich eine gewisse
Steigerung — welche dem Patienten schon bedeutend unangenehm ist —
oder stärkerer Frost zeigt (circa 38'5), wartet man nicht länger, son-
dern wiederholt die volle Dosis. Es ist nicht zweckmässig, diese Medicamente
verzettelt, in grösseren Intervallen zu geben, wir brauchen viel weniger
und haben einen viel grösseren Effect, wenn wir die nöthige Dosis in kurzer
Zeit eingeben. Bei länger dauernden Leiden bediene man sich der Kly-
stiere und gebe 3 — 5-0 Antipifrin auf einmal, welche Dosis ohne die geringste
Gefahr auch viermal in 24 Stunden verabreicht werden kann.
Durch den Effect der Antipyrese bekommen wir ein werthvolles Zeichen
zur Beurtheilung des Zustandes unseres Kranken. So lange durch diese
Mittel eine mit Euphorie begleitete Defervescenz eintritt, ist die Pro-
gnose günstig, zeigt sich eine sehr grosse Resistenz gegen diese Verfahren,
kehrt das Fieber in sehr kurzer Zeit zurück, und fällt die Temperatur
nach vollen Dosen kaum, oder zeigen sich Depressionserscheinungeu, während
das Fieber spontan nachlässt, so ist die Annahme einer allgemeinen Infec-
tion sehr wahrscheinlich und die Prognose sehr ernst. .iexdkassik.
APHASIE. 93
Aphasie, Agraphie, Alexie. Zum Verständnis der gegenwärtigen
Lehren über Aphasie ist ein kurzer geschichtlicher R ü c k b 1 i c k noth-
wendig. Broca beobachtete im Gegensatz zu der in seiner Zeit geltenden
FLOUEENs'schen Lehre von der physiologischen Einheit des Gehirns und
der Gleich^Yerthigkeit der einzelnen Gehirntheile, dass in einer Reihe von
Fällen, in denen intra vitam eine Unfähigkeit zu sprechen anscheinend
nach cerebralen Läsionen aufgetreten war, bei der Section die Läsion einer
bestimmten Partie der linken Hemisphäre vorgefunden wurde. Diese Stelle
localisirte sich typisch am Fuss der untersten linken Stirnwindung
(BEOCA'sches Sprachcentrum). — Auf die principielle Wichtigkeit dieser
Entdeckung für die Lehre von der Localisation der Seelenfähigkeiten
können wir hier nur hindeuten.
Die erste Aufgabe bestand nun darin, jene Formen der Sprachstörung,
welche durch corticale Läsionen bedingt sind, einerseits von denen, welche
durch die Erkrankungen des verlängerten Markes, anderseits von
jenen, welche durch Unterbrechung der motorischen Bahn von der
Hirnrinde zu den Kernen der bei dem Sprechact betheiligten Nerven be-
dingt sind, abzusondern. Die durch pathologische Veränderungen der bul-
bären Kerne bedingten Störungen wurden unter dem Namen Anarthrie
(Articulationsstörungen sensu strictiori) von den Aphasim, welche durch
Unterbrechung der Leitungen vom Grosshirn oder durch Verletzungen
der Grosshirnrinde selbst bedingt sind, abgetrennt.^) Der Ausdruck Aphasie
iS'/)ai ich rede, a privativum) wurde also entgegen seiner eigentlichen all-
gemeinen Bedeutung auf eine besondere Gruppe von Sprachstö-
rungen eingeschränkt. — Der zweite Fortschritt bestand darin, dass
innerhalb der Aphasien im engeren Sinne z w e i Hauptgruppen gebildet
wurden. Neben den Kranken, welche nach cerebralen Läsionen nicht sprechen
konnten, während ihr Sprach Verständnis intact war, wurden
Kranke beobachtet, welche zwar die Worte hörten, aber sie nicht ver-
standen, und die gleichzeitig das Symptom der „Paraphasie" („Daneben-
sprechen", Wortverdrehung und Wortverstümmelung) darboten. ^j Diese
Störung wurde von Weknicke sensorische Aphasie genannt und diese Form
der für Broca in Betracht gekommenen Fällen von „motorischer Aphasie"
entgegenstellt. Es fand sich, dass häufig in den Fällen, welche diese sen-
sorischen Sprachstörungen zeigten, die L und ein Theil der IL Tem-
poralwindung verletzt waren, welche Gehirnpartie von der motorischen
Partie Broca's durch die Fossa Sylvii getrennt liegt. Damit waren für die
Localisation der cerebral bedingten Sprachstörungen zwei feste Punkte im
Gehirn gegeben, und zwar liess sich das bei der sensorischen Aphasie zer-
störte Feld als Endausbreitung der cerebralen Leitung des
Acusticiis, und als Centrum für die „Klangbilder", das bei der moto-
i-ischen Aphasie zerstörte Feld als Anfangsglied der für die Sprach-
muskeln bestimmten lunervationsbahnen auffassen. Die nächste
Verbindung zwischen diesen Gehirnpartien geht durch die Lisel. In schea^a-
tischer Umgestaltung bekam man also zwei durch eine Linie verbundene
a (akustisches Feld) und h (Anfangsstadium der motorischen Sprachbahn)
derart, dass in einer zu a aufsteigenden Linie die akustischen Pteize, in
der von b absteigenden Linie die centrifugalen Leitungen in der Sprach-
bahn verstanden wurden. Damit haben wir, wenn man a mit den Hinter-
hörnern des Ptückenmarkes, h mit den Vorderhörnern in Analogie bringt,
vollständig das Schema des Reflexbogens (vergl. die Figur pag. 95).
M Cfr. Levden, „Berl. klin. Wochenschr.", 1867. Nr. 8. Wekxicke, Fortschritte
der Med. 1884, pag. 1 — 10. 405-413.
''■) WER^ficKE, der aphasische Symptomencomplex, 1874.
94 APHASIE.
Nim handelt es sich aber bei der Sprache nicht bloss um diese pri-
mitivste Fähigkeit des Hörens und Nachahmens von Sprachlauten, sondern
auch um das Verstehen der gehörten Worte. In Weenicke's Beobachtungen
über sensorische Aphasie, d h. über die Unfähigkeit gehörte Worte zu ver-
stehen, verbunden mit Paraphasie war die „Worttaubheit" als Theilerschei-
nung vorhanden.
Diese Vorgänge des Verstehens wurden nun schematiscli unter dem
Namen „Begriff s centrum" zusammengefasst und im Schema durch
Verbindung dieses imaginären Centrums C mit dem anatomisch greifbaren
motorischen und sensorischen Sprachcentrum dargestellt.
Für das kritische Verständnis der meisten Veröffentlichungen über
Aphasie ist es nothwendig, sich klar zu machen, dass die einzelnen Theile
des dadurch entstehenden Schemas ganz verschiedenen anatomischen Werth
haben. Während a und h einen festen anatomischen Boden in den ge-
nannten Beobachtungen haben, schwebt das Begriff s centrum als ideale
Vereinigung einer grossen Menge von verschiedenen geistigen Vorgängen
in der Luft, ist also keine anatomische Einheit, sondern der schematische
Ausdruck für alle diejenigen Vorgänge, welche zum „Verstehen" in specie
eines Wortes nothwendig sind. Die wechselnde und nicht anatomische Natur
des „Begritfscentrums" hat man nun öfter vergessen und hat die einzelnen
Beobachtungen über Sprachstörungen dogmatisch in dieses Schema einge-
tragen, (Vergl. Sommer. Das Begriffscentrum, 1892.)
In dem Schema wird das Hören und die Erinnerung an die früher
gehörten Klänge und Worte als Function von a gedacht, das Nachsprechen
als Leitung zu a, von a zu h und von h zu den Sprachwerkzeugen, das
Verstehen von Worten als Leitung von «zu C ; das spontane Sprechen als
Leitung von C über a nach h. Zu den Möglichkeiten : „Hören ohne zu
Verstehen" — „Hören mit Verstehen" — „Nachsprechen ohne zu Ver-
stehen" — „Nachsprechen mit Verstehen" — „Spontansprechen" —
kann man sich die schematischen Vorstellungen leicht suchen. Je nachdem
man') die Störung 1. unterhalb von a oder h (suhcortical), 2. in a oder h
(cortical) oder 3. jenseits (transcortical) von a und h nach dem imagi-
nären Begriffscentrum, 4. zwischen a und h („Leitungsaphasie" mit Para-
phasie als Symptom) im Schema annimmt, bekommt man folgende
Formen von Aphasie, deren Symptome man leicht aus dem
Schema ablesen kann: 1. Corticale sensorische Aphasie: Hören
ohne zu Verstehen — Nachsprechen unmöglich — Spontansprechen mög-
lich, aber mit Paraphasie. 2. Subcorticale sensorische Aphasie:
Hören ohne zu Verstehen — Nachsprechen unmöglich — Spontansprechen
ohne Störung. 3. Transcorticale sensorische Aphasie: Hören
ohne zu Verstehen — Nachsprechen ohne Verständnis möglich — Spontan-
sprechen möglich, aber mit Paraphasie. 4. Corticale motorische
Aphasie: Verständnis der gehörten Worte möglich — Nachsprechen und
Spontansprechen ganz oder fast ganz unmöglich — Unmöglichkeit W^orte
inwendig zu denken (der Wortschatz der Kranken ist manchmal auf ein
Minimum reducirt) — Unfähigkeit die Silbenzahl von Worten durch Zeichen
oder Schreiben anzugeben. 5. Subcorticale motorische Aphasie:
Verständnis der gehörten Worte möglich. Nachsprechen und spontanes
Sprechen unmöglich. Die Worte können innerlich gedacht und auch nieder-
geschrieben werden. Die Kranken können durch Händedruck oder Schreiben
angeben, wie viel Silben die innerlich gedachten Worte haben. 6. Trans-
corticale motorischeAphasie: Verständnis der gehörten Worte
') Cfr. Die populäre Darstellung von MALiCHowsKi in Volkmakn's Sammlung Nr. 108.
APHASIE.
95
möglich — ebenso Nachsprechen — willkürliches Sprechen unmöglich.
7. Lei tiings aphasie (Unterbrechung zwischen a und h, d. h. in der
Insel): Verständnis der gehörten Worte — Spontansprechen möglich,
aber mit Paraphasie — Nachsprechen entweder unmöglich oder im Sinne
der Paraphasie gestört. — Der Hauptwert dieses Schemas für den prak-
tischen Arzt liegt darin, dass es einen Anhaltspunkt für die Untersuchung
von Sprachkranken gewährt.
Beim Lesen wird in uns durch den Anblick von gewissen optischen
Zeichen ein Laut- und Wortgebilde rege gemacht. Der totale Verlust der
Lesefähigkeit heisst Alexie. In allen Fällen, wo die Lesefähigkeit aus cere-
bralen Ursachen mangelt, muss genau untersucht werden, ob zu anderen
optischen Eindrücken und Vorstellungen (Farben, Figuren, Zeichen, Bildern,
Broca'sche Wind, b
Fossa Sylvii
a (G. Te. I.)
Gegenstände) die Namen gefunden werden, ferner ob Hemianopsie vorliegt.
Es muss zunächst geprüft werden, ob alle Buchstaben einzeln gezeigt, er--
kannt werden. Man muss kleine und grosse Buchstaben derjenigen Alpha-
bete, in denen der Untersuchte unterrichtet worden ist, vorlegen. Manchmal
zeigen sich ganz isolirte Lücken. Ein von Rieger beschriebener Kranker
konnte nicht lesen: von geschriebenen oder gedruckten kleinen deutschen
Buchstaben p, x, y, von geschriebenen oder gedruckten kleinen lateinischen
Buchstaben p, x, y, ferner d, h, k, v; von grossen Buchstaben (deutsch
oder lateinisch gedruckt oder geschrieben) B, E, F, H, K, M, N, P, B,' T,
V, W, X, Y. Selbst wenn man diesem Kranken einen Buchstaben, z. B. a
zeigte mit der Frage: Ist das ein a?, so konnte er ihn nicht erkennen.
Dieser Zustand ist völlig von dem unterschieden, bei welchem Buchstal)en
zwar nicht beim blossen Ansehen, wohl aber, wenn man den richtigen Namen
dazu sagt, erkannt werden. Schematisch ausgedrückt heisst das Letztere :
DieLeitung vomBuchstabenbildcentrum zum Klangbildcentrum ist unterbrochen,
die umgekehrte ist erhalten. Im ersteren Falle wäre im Sinne von W er-
nicke ein Verlust von Buchstabenerinnerungsbildern vorhanden. — Ein von
mir beobachteter Kranker konnte nur folgende geschriebene Buchstaben
lesen: f, g, i, m, u, r, ferner: a, b, c, i, n, m, f, r, ferner: A, 1), L, M.
96 APHASIE.
N, S, ferner: H, I, K, L, M, Pv, S, U. — Sodann ist zu prüfen, ob aus
den vorgeschriebenen einzeln bekannten Buchstaben Worte zusammengefügt
werden können. Anscheinend ist das Lesen von einzelnen Buchstaben und
das Zusammenfügen derselben zu einem Wort ganz getrennte Fähig-
keiten. Mein oben erwähnter Kranker konnte z. B. die ihm bekannten
Buchstaben L, A, N, P, nicht zu dem Wort „Land" zusammenfügen. Ferner
werden manchmal, wenn auch Buchstabiren ganz unmöglich ist, einzelne
Worte richtig erkannt. Sodann kommt die Frage, ab dass Gelesene richtig ver-
standen wird. — Neben dem Lesen von Buchstaben muss besonders Benennen
von Ziffern geprüft werden, welches oft bei starken Störungen im Buchstaben-
lesen ganz normal sein kann. Auch hier kommen isolirte Lücken vor. Der
genannte PiiEGEE'sche Kranke konnte nur 0, ], 2, 3 erkennen. Auch in
Bezug auf Zahlen ist das Combiniren etwas ganz vom Erkennen der ein-
zelnen Zeichen verschiedenes. Genannter Kranke konnte 1 und 0 lesen
aber nicht 10. Ferner gehört zum Lesen auch das Erkennen von Inter-
punktionszeichen, welches ebenfalls isolirt geschädigt sein kann. Auch in
Bezug auf musikalische Noten können isolirte Defecte vorkommen. Gerade aus
diesen ganz isolirten und partiellen Defecten ist ersichtlich, dass die Sche-
mata nur eine vorläufige Orientirung für die Untersuchung bieten.
In Bezug auf die cerebral bedingten Schreibstörungen (Agraphie)
ist zu untersuchen 1. Das Nachmalen von Figuren, speciell Buchstaben
und Worten: Dieser optisch-motorische Vorgang ist möglich, ohne dass in
dem betreffenden Kranken im Mindesten ein Lautgebilde entsteht oder ein
Verständnis des Wortes rege wird. Beim Dictandoschreiben findet die Auf-
nahme des Reizes im akustischen Gebiet statt und wird in Bewegungen
umgesetzt, welche etwas optisches, nämlich sichtbare Zeichen hervorbringen.
Man hat nun offenbar im Hinblick mit diesem optischen Effect (Buchstaben-
zeichen) angenommen, dass auch innerlich bei dem Akt des Schreibens
eine Vorstellung von Buchstabenzeichen vorhanden sein müsse. Dies ist
aber nicht allgemein giltig. Obgleich beim Schreiben optische Wirkungen
(Schriftzüge) zu Tage kommen, sind beim erwachsenen Menschen oft keine
diese bedingenden optischen Vorstellungen vorhanden. Allerdings lernen
wir ja das Schreiben durch Abzeichen von Buchstaben, deren Klang wir
kennen. Es liegen aber mehrere Fälle vor, welche das Gesagte beweisen.
Ein von mir beschriebener Kranker fand erst durch Schreibbewegungen
die Laute der Worte i). Der oben erwähnte Kranke mit partieller Alexie
könnte fast keinen Buchstaben auf Dictat richtig schreiben, schrieb aber
auf bestimmte Fragen „nach Heimat, Bezirksamt, Namen seiner Söhne" etc.
alles richtig nieder. Ferner ist 2. das Spontanschreib en zu unter-
suchen.
Um ein dem obigen entsprechendes Schema für das Lesen und die
Schriftsprache zu construiren, hat man den „Wortbegriff" als Combination
von Lautgebilde und Bewegungsvorstellung zusammengefasst und dieses
construirte Centrum nach Analogie des Begriffscentrums über einen Beflex-
bogen gesetzt, welcher durch nervus opticus, Buchstabenbildcentrum, Cen-
trum der Schreibbewegungsempfindungen und motorische Bahn der Schreib-
bewegungen, die gewöhnlich mit dem rechten Arm ausgeführt werden,
gebildet wird. Im Hinblick auf dieses Schema sind folgende Krankheits-
bilder unterschieden worden : f. Cortkale Älexie, soll auf Verlust der Er-
innerungen der optischen Schriftzeichen beruhen. Symptome : Verlust der
Fähigkeit zu lesen und das Gelesene zu verstehen, Verlust der Fähigkeit,
') Sommek: Zur Psychologie der Sprache. Zeitschrift für Psychologie und Physio-
logie der Sinnesorgane 1891.
APHASIE. 97
spontan und auf Dictat zu sclireibeu und nach Vorlage zu copiren. 2. Suh-
corticale Älexle: Verlust der Fähigkeit zu lesen und eine Vorlage abzu-
zeichnen, spontanes Schreiben und Schreiben nach Dictat erhalten. 3. Trans-
corticaU Alexie : Aufgehobene Fähigkeit zu lesen und spontan sowie nach
Dictat zu schreiben, Möglichkeit eine Vorlage mechanisch nachzuzeichnen.
4. Corticcde Agraphie. Verlust der Schreibbewegungsvorstellungen, soweit
sie sich auf die Innervation der von uns gewöhnlich zum Schreiben be-
nützten rechten Hand beziehen. Schreiben und Copiren unmöglich, Lesen
möglich. 5. SSubcorticale Agraphie. Die gleichen Symptome wie bei Nr. 4,
der Unterschied liegt darin, dass bei der corticalen Form die Bewegungs-
vorstellungen fehlen, bei der subcorticalen erhalten sind. 6. TranscorUcale
Apraphie wird als unmöglich angenommen, weil eine directe Verbindung
des Wortbegriffes mit den Schreibbewegungsempfindungen nicht ange-
nommen wird.
Da zum Lesen und Schreiben der ganze Wortbegriflf als nothwendig
angenommen wird, so werden im Schema ausser den genannten Formen
sich bei denjenigen Arten von Aphasie Lese- uud Schreibstörungen finden,
bei welchen die Worterinnerungsbilder verloren gegangen sind oder das
hypothetische Begriffscentrum zerstört ist. Darnach zeigen die verschiedenen
Formen von Aphasie folgende Verhältnisse in Bezug auf Lesen und Schreiben:
1. Cort. sens. Aph.: Völlige Alexie und Agraphie. Copiren möglich. 2. Sub-
cort. sens. Aph. : Keinerlei Störung des Lesens und Schreibens. 3. Trans-
cort. sens. Aph.: Lesen ohne Verständnis, Schreiben nach Vorlagen möglich.
Schreiben auf Dictat geschieht ohne Verständnis des Gehörten. Spontanes
Schreiben möglich, aber mit Paragraphie. In diesem Falle besteht die Para-
graphie in dem correcten Zeichnen von falschen Buchstaben, während bei
der verbalen Form der Agraphie d. h. der durch Verlust der Wortvor-
stellungen bedingten unverständliche Zeichen zu Papier gebracht werden.
4. Cort. motor. Aph.: Völlige „verbale" Alexie und Agraphie. Copiren
möglich. 5. Subcort. motor. Aph. : Lesen und Schreiben möglich. 6. Transc.
motor. Aph. : Lesen mit Verständnis, Copiren nach Vorlage möglich; — spon-
tanes Schreiben unmöglich. 7. Leitungsa'ph. -. Verbale Alexie und Agraphie.
Nur das Copiren ist erhalten. — Dass alle die hier genannten und im
Schema dargestellten Symptomencomplexe vorkommen können, unterliegt
keinem Zweifel, aber damit ist die Summe aller nicht erschöpft.
In den Darstellungen des Zusammenhanges von cerebralen Lese-
und Schreibstörungen (Alexie und Agraphie) mit Aphasie spielt der Gedanke
eine Hauptrolle, dass das Schreiben nur möglich ist, wenn beide Bestaftd-
theile der Wortvorstellungen, nämlich die Klangvorstellungen und die Be-
wegungsempfindungen, erhalten sind. Hier müssen wir etwas ausführlicher
auf die Stellung von Stricker i) in der Entwickelung der Lehre von der
Beschaffenheit der Wortvorstellungen eingehen.
Die wesentliche Tendenz von Stricker's Abhandlung ging (cfr. ]. c. pag. 19) dahin,
die Lehre zu widerlegen, dass die W o r t v o r s t e 1 1 <i n g lediglich aus Schallbildern bestehe.
Das acustische' Element am Wort sei nicht das Wesentliche, sondern es handle sich da"bei
um „motorische Vorstellungen". Stricker beobachtete an sich selbst, dass er beim stillen
Denken in Worten keine Schallerinnerungen, auch keine Vorstellung von
Schrift zeichen habe, wohl aber Innervationsgetühle in gewissen Muskel-
gebieten.
Den gleichen Gedanken führte Stricker in Bezug auf die Ton Vorstellungen durch.
In (ien Discussionen zwischen Stricker mit Paxjliiax und Stumpf wurde ihm von diesen
auf Grund von Selbstbeobachtung entgegengehalten, dass beim Denken von Worten und
Tönen das acustische Moment überwiege. In Wahrheit scheint es sich hier um in-
dividuelle Differenzen zu handeln. — Das Individuelle der Selbstbeobachtung hat Stricker
^) cfr. Stricker, Studien über die Sprachvorstellungen, Wien ISSü.
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten.
98 APHTHEN.
selbst an verschiedenen Stellen scharf hervorgehoben. Diesen individuellen Verhältnissen
ist besonders in der französischen Literatur Beachtung geschenkt. Gilbert Ballet weist
hier auf die Kenntnis de la formnle cerehi-ale physiologiqite und räth dazu, womöglich
zu vergleichen la formule cerebrale normale de l'individu ä sa formule pathologique. —
Trotz der individuellen Verschiedenheiten ist es Strickee's wichtiges Verdienst, auf das
activ-motorische Moment bei scheinbar passiven Eindrücken, wie es ge-
hörte Worte sind, hingewiesen zu haben,
Stricker will diese „motorischen Vorstellungen" von den sensoriellen „Bewegungs-
vorstellungen" (cfr. 1. c. pag. 29), welche Erinnerungen an die Wahrnehmung von aus-
geführten Bewegungen sind, abtrennen. Mit dieser durch Selbstbeobachtung ermittelten
motorischen Natur der Wortvorstellungen bringt Stricker die anatomische Zerstörung
des in der motorischen Region gelegenen BROCA'schen Sprachfeldes in" Verbindung (1. c.
pag. 26). Stricker's Beweisführung führt also zu dem Satze, dass wir in dem Sprach-
centrum Centren für die La utbildung, nicht für die Conservirung von Sprachlauten
besitzen. Die Grundlage der motorischen Sprachvorstellungen ist also die Function der
corticalen Anfaugsapparate der motorischen Sprachbahn. Die Wortvorsiellungen bestehen
also in nichts anderem als in dem Bewusstwerden von der Thätigkeit dieser Centren, in
dem Bewusstsein von der Erregung jener motorischen Nerven, die zu den Artikulations-
muskeln ziehen. Stricker meint nun, dass die Anfangsapparate der Lautbildung wie die
Tasten einer Schreibmaschine gelagert sind, also nicht zu bestimmten Worten verflochten
wie in einem gedruckten Buch, und hat dementsprechend die Frage, wie die Laute zu
Worten combinirt werden, scharf betont (cfr. pag. 34). Entsprechend behauptet Stricker.
(pag. 43), dass die Auffassung der Schrift von der anderer Objecto abweicht. Grashet
hat nun in ähnlicher Weise sich jedes Wort aus einer successiven Reihe von Buchstaben-
bestandtheilen entstehend gedacht und hat in seiner 1884 erschienenen Abhandlung „Ueber
Aphasie und ihre Beziehungen zur Wahrnehmung" die Theorie aufgestellt, dass immer
buchstabirend gelesen und geschrieben wird. Es spricht jedoch vieles hiergegen, was im
einzelnen nicht auseinander gesetzt werden kann. Die Theorie des Lesens und Schreibens
ist noch nicht spruchreif.
Mit Stricker's Anschauung über die motorische Natur der Wortvorstellungen hängt
seine Lehre über das Verhältnis von Aphasie zur Agraphie zusammen (cfr. 1. c. pag. 98).
Er bestreitet das Vorkommen einer „wirklichen Aphasie ohne Agraphie' aus theoretischen
Gründen. Stricker fasst hier das Wort „Aphasie" in einem viel engeren Sinne, als es
z. B. bei der subcorticalen Aphasie Wernicke's der Fall ist, und meint speciell den Ver-
lust oder die Störung der Sprachvorstellungen. Dass es cerebrale Kranke gibt, welche ihre
Wortgedanken nicht mündlich, wohl aber s(;hriftlich ausdrücken können (wie bei der sub-
corticalen Aphasie), bezweifelt Stricker nicht.
Von Wichtigkeit für die Diagnose von Sprachstörungen ist schliesslich
noch die Prüfung des Gedächtnisses für Laute und Worte. Oft zeigt das
Erinnerungsvermögen isolirte Lücken für bestimmte Worte. Abgesehen von
der Erforschung dieser isolirten Lücken, muss man prüfen, wie lange Laute,
Lautzeichen und Worte im Gedächtnis gehalten werden können. Alle die
durch Gedächtnisschwäche bedingten Sprachstörungen können unter dem
Sammelnamen der amnestischen Aphasie zusammengefasst werden.
» E. SOMMER.
Aphthen {Stomatitis aphthosa, ßbrinosa, follicularis).
Es unterliegt gar keinem Zweifel, dass früher eine ganze Reihe von
Affectionen der Mundhöhle mit diesem Namen bezeichnet wurde. Heute
ist dies anders. Was man heute mit Aphthen bezeichnet, ist ein wohl
charakterisirtes und fast überall gleich charakterisirtes Krankheitsbild, zu
dessen vollendeter Klarheit in jeder Beziehung allerdings noch manche
Studien nothwendig sein werden.
Man könnte die Krankheit fast eine s p e c i f i s c h e des Kindes-
alters nennen und hier auch beschränkt sie sich vornehmlich auf eine
begrenzte Zeitperiode — die Periode der ersten Dentition. — Monti, der
587 Fälle zusammengestellt hat, weiss nur von 10 zu berichten, in denen
die befallenen Kinder das Alter von 10 Monaten noch nicht erreicht hatten.
Das Auftreten in den zwei ersten Liebensmonaten gehört zu den aller-
grössten Seltenheiten. Und weiters ist nach zurückgelegtem Zahnungsalter
eine rapide Abnahme der Erkrankungsziffer zu bemerken. Ebenso lauten
unsere Erfahrungen und die aller anderen Untersucher.
APHTHEN. 99
Die von Aphthen befallenen Individuen sind krank. Die Kinder sind
unlustig, haben vermehrte Salivation, einen leichten Foetor ex ore, Zahn-
fleisch und Mundhöhlenschleimhaut sind geröthet und geschwellt, das erstere
blutet sehr leicht bei der geringsten Berührung, bei der Untersuchung der
Kinder. Die Zunge ist meist belegt, die Kranken haben die Lust zum Essen
verloren und zeigen eine ausgeprägte Aversion gegen warme Speisen.
Fieber ist im Beginne der Krankheit eine regelmässige Erscheinung.
Begleitet wird die Affection der Mundhöhle öfter von Herpeseruptionen an
den Lippen und Mundwinkeln, begleitet öfter von Schwellungen der sub-
mentalen, submaxillaren Drüsen und der am Kieferwinkel.
Der gewöhnliche Sitz der Aphthen ist die Zunge, und zwar meist
die Spitze und der vordere Theil derselben. Gleichzeitig sind ergriffen das
Zahnfleisch, am dichtesten in der Nähe gerade durchbrechender Zähne,
ferner die Lippen. Weiters werden sie am Gaumen bis zum weichen hin,
an der Wangenschleimhaut angetroffen. Die rückwärtigen Partien der
Mundhöhle, die Tonsillen werden seltener von ihnen befallen. . Einmal sah
ich bei einem INIädchen neben reichlicher Eruption von Aphthen in der
Mundhöhle gleichzeitiges Ergriffensein der Schleimhaut der äusseren
Genitalien von demselben Processe.
An den genannten Partien findet man Flecke von graugelber oder
grauweisser Farbe, leicht erhaben über das Niveau der Schleimhaut, an
der sie sich befinden. Ihre Grösse variirt von Stecknadelkopf- bis Linsen-
grösse und darüber. Sie stehen verschieden dicht beisammen. Sind sie
dicht gedrängt, dann können sie, was sehr oft geschieht, confluiren,
wodurch die verschiedenartigsten Figuren entstehen ; und so findet man
mitunter grössere Partien der erkrankten Schleimhaut mit einem grauweissen
oder graugelben Belage versehen (confluirende Aphthen). In der Umgebung
solcher Stellen wird man schwerlich je einzelne typische Eruptionen ver-
missen. Die Schleimhaut in der unmittelbarsten Umgebung der Aphthe ist
circa 1 mm breit, intensiv injicirt und umgibt wie ein rother Ring den
graugelben Plaque. Zwischen den bereits graugelben Plaques finden sich
öfter rothe Pünktchen, kaum bemerkbar bei flüchtiger Betrachtung. Sie
treten sofort klar hervor, sobald man die erkrankte Schleimhaut mit einer
circa 2procentigen Lösung von Ac/NO^ pinselt. Die afficirten Partien
nehmen darnach sämmtliche eine grauweisse Farbe an, werden deutlich
sichtbar, und so erscheint nach der Pinseluug die Zahl der Effioreszenzen
plötzlich vermehrt.
Selten ist die Krankheit mit einer Eruption beendet. Bei Nach-
schüben durch mehrere Tage pflegt der Process. durch 8 — 10 Tage zu
dauern. Der Verlauf gestaltet sich meist so, dass die Plaques allmählich
dünner und durchscheinender werden, bis schliesslich wieder die normale
Schleimhaut zu Tage tritt. Hebt man während des Verlaufes einen der
Plaques ab, dann findet man unter ihm einen Defect der Schleimhaut,
ähnlich dem einer Hornhautfacette. Die Affection endet mit Restitutio, ad
integrum, ohne Narben zu hinterlassen.
FräjsKEl verdanken wir die histologische und patholosfisch-an atomische
Kenntnis der Aphthen. Nach ihm ist das Wesentliche des Aphthenherdes ein grob-
balkiges, scholliges, enge Maschen aufweisendes, hyalin glänzendes, bald äusserst fein-
fädiges Fibringerüste, in welchem Masebenwerke sich in verschiedener Keichlichkeit, Rund-
zellen und in Coagulationsnekrose befindliche Epithelzeilen vorfinden. Die Betheiligung
der Epithelzellen erklärt das Festhaften der Aphthen. Man kann den Process im Sinne
Weigee,t's als einen pseudo-diphtheritischen auffassen.
Es handelt sich also um eine mit Abtödtung des Epithels einhergehende
Bildung eines fibrinösen Exsudates, an dessen Bildung auch Leukocyten einen
hervorragenden Antheil nehmen. Bleibt doch eine Epitheldecke übrig, dann ist dieselbe
so dünn, dass man schon daraus erkennen kann, dass der grösste Theil des sonst mächtigen
.7*
100 APHTHEN.
Mimdhöhlenepithellagers zur Bildung des Exsudates verwendet worden ist. Und that-
sächlich linden sich auch Epithelreste in demselben. Das eigentliche Schleimhautgewebe
ist in den Process nicht miteinbezogen. Darum fehlt auch das Geschwür und die Xarbe
bei der Heilunjj-. So stehen klinischer Verlauf und mikroskopische Untersuchung mit
feinander im besten Einklänge. Die subepitheliale Lage der Plaques, welche z. B. Bohx
behaujjtet, ist somit nicht erwiesen.
Ein vesiculöses Vorstadium der Aphthen wird fast von sämmtlichen Unter-
suchern in Abrede gestellt. Auch wir erinnern uns nicht, je ein Bläschen auf der
Schleimhaut des Mundes gesehen zu haben.
Fkäxkel hat aus cleni Exsudate zweierlei Bacterienarten gezüchtet: den Staphylo-
cocciis pijogenes cifreus (Passet) und den Staphi/lococcus pijogenes flavm. Ob jedoch
diese Bakterien bei der Krankheit mehr als eine saprophy tische Piolle spielen, ist
bis jetzt noch nicht entschieden. Es ist jedoch das letztere sehr wahrscheinlich. Wenn
sie also auch mit der Genese der Krankheit nichts zu thun haben, so dürften sie doch
die Ursache sein der Drüsenabscesse, welche man, wenn auch selten, im Gefolge derselben
zu sehen Gelegenheit hat. Experimentell Aphthen zu erzeugen ist bisher noch Niemandem
gelangen,
So wissen wir denn über die Aetiologie der Krankheit nichts.
Wir wissen nur. dass sie sehr häufig die Dentition begleitet, ebenso wie
sie öfter nach Exanthemen ^Varicella. Morbilli), vielleicht auch bei mangel-
hafter Mundpflege aufzutreten pflegt. Bei manchen Erwachsenen sollen sich
Recidive periodischer Art einstellen, einhergehend z. B. mit der
Menstruation. Die Krankheit tritt häufiger im Sommer auf, als in der kalten
Jahreszeit.
Die Beziehungen der Aphthen zu der Maul- und Klauenseuche unserer Hausthiere,
einer mit dem gleichen Namen bezeichneten Afl'ection, die wohl sicherlich nicht mit den
Aphthen der Kinder identisch ist. sind heute insoweit geklärt, dass man behaupten darf,
dass beide Krankheiten miteinander dir e et nicht im Zusammenhang stehen. Auch die
Epidemiecurven beider Krankheiten decken sich nicht miteinander (Escheeich). Jeden-
falls soll Niemand die Milch so erkrankter Thiere unsterilisirt geniessen lassen oder
geniessen.
Da wir keinen Grund haben, die Aphthen als secundäres Leiden eines
bekannten Processes aufzufassen, plaidiren wir mit anderen für die Selbst-
ständigkeit der Aphthen und halten sie für eine Krankheit sui generis.
Die gerade aufgezählten aetiologischen Momente können immerhin als
prädisponirend angesehen werden.
Epidemisches Auftreten im Sinne anderer Infectionskrankheiten
ist nicht bekannt, gleichzeitiges Erkranken mehrerer Geschwister oder
Hausgenossen wiederholt beschrieben. Man könnte daraus auf die Möglich-
keit der Contagiosität der Aphth'en schliessen.
BoH]Sf will die Krankheit als eine Form einer exanthematischen
Stomatitis auffassen, und sie für gleichwerthig halten mit Ekzem oder
Impetigo der äusseren Haut, eine Ansicht, welcher wir uns nicht anschliessen
möchten. Wenn wir sie mjt etwas vergleichen wollen, so können wir dies
noch am ehesten mit dem Herpes der Haut, mit dem sie öfter nicht nur
gleichzeitig vergesellschaftet vorkommt, sondern mit dem sie auch bezüglich
der Schnelligkeit des Verlaufes etc. verschiedene Aehnlichkeiten besitzt.
Varicellaeruptionen an der Mundschleimhaut ähneln stark den Aphthen.
Schon das sie immer begleitende Hautexanthem schützt vor Verwechselung.
Ausserdem treten Varicellen im Munde nur sehr spärlich auf und finden
sich meist nur am Gaumen, selten auf der Schleimhaut der Wangen, noch
seltener auf der Zunge. Soor und andere Affectiouen der Mundhöhle sind
mit Aphthen nicht zu verwechseln. Die Bednarsc^ien AplitJip)!. die bekannten
Decubitusgeschwüre bei meist atrophischen Kindern bis etwa zum dritten
Lebensmonate sich findend, die ihrer Lage nach den Hamulis pterygoideis
entsprechen, seien der Gleichheit des Namens wegen hier erwähnt. Diese
wohl stets symmetrischen Ulcera am harten Gaumen danken mecha-
nischen Läsionen ihre Entstehung.
APOPLECTISCHER INSULT. 101
Therapie. Mechanische Reiiiigiiiig der kranken Mundhöhle mit
irgend einem Desinficiens ; ob 2 procentige Resorcinlösimg, schwache Lösung
von Kai. hijpermangaync., Kai. chloric, Carhollösung etc., ist wohl gleich-
giltig und gleich gut wirksam. Sehr gerne wird 1 —2 procentige Lösung von
Kai. chloric. mtern verabreicht. Wir bedienen uns mit Vorliebe der Pinselungen
mit 1 — 2procentiger Lapislösung, die zuerst täglich, dann jeden zweiten Tag
vorgenommen werden. Diese kann man zweckmässig mit interner Kai. chloric.
Medication combiniren. loos.
ApoplectiSCtier Insult. Der Begriff des apoplectischen Insultes ist
nicht ganz identisch bei den verschiedenen Autoren, viele gebrauchen ihn
im Sinne der Gehirnblutung. Eigentlich soll man aber unter dem apo-
plectischen Insult die in Folge einer örtlich begrenzten Läsion
des Gehirns mehr oder weniger plötzlich, wie durch einen Schlag (daher
auch der Ausdruck iSchlctganfall) entstandene Aufhebung aller, oder der
meisten Gehirnfunctionen verstehen. Es .entsteht hiedurch entweder sofort
der Tod, oder bei Erhaltung der vegetativen Functionen ein vollkommenes
oder unvollkommenes Coma. Im Sinne dieser Definition muss man jene,
manchmal fast plötzlich eintretenden comatösen Zustände, die in Folge von
Urämie, septischen allgemeinen Infectionen und anderen Intoxicationen,
öder aus dittusen Gehirnerkrankuugen, wie Meningitis etc., entstanden sind,
nicht als apoplectische Insulte auffassen, was auch, wenn eine eingehendere
Beobachtung möglich ist, durch die Verschiedenheit des Krankheitsbildes
begründet wird ; immerhin aber gebrauchen besonders französische Autoren
.diese Bezeichnung auch für toxämische comatöse Anfälle und sprechen
dann von urämischen und malarischen Apoplexien.
Ganz unrichtig liat man Blutergüsse in die Milz, Retina und in andere Organe
auch als Apoplexien bezeichnen.
Diese Verschiedenheit im Begriffe der Apoplexie hängt mit der histo-
rischenEntwickelung unserer diesbezüglichen Kenntnisse zusammen : früher
betrachtete man besonders nur die klinische Seite des Processes, dann kam
eine Zeit, wo der pathologisch-anatomische Begriff hauptsächlich dominirte,
während heute die Aetiologie die Basis bildet. Der Ausdruck „apoplectischer
Insult" bedeutet somit nur einen Symptomencomplex, nicht eine besondere
Krankh eitsform.
Die nächste Ursache des apoplectischen Insultes ist entweder eine
Blutung, oder eine locale, plötzlich entstandene Behinderung der Blutcircu-
lation durch Embolie oder Thrombose. Gleichen sich diese letzteren Störungen
schnell aus, so wird der Anfall als apoplectiformer benannt. Die eigent-
liche Aetiologie der Blutungen ist in der weitaus grössten Mehrzahl der
Fälle eine chronische Erkrankung der Gehirngefässe, wodurch die soge-
nannten Miliaraneurysmen, zuerst von- Charcot und Bouchaed erkannt
(1868), entstehen. Diese kommen in verschiedener Anzahl, oft zahlreich,
besonders an den kleineren Arterien der Stammgauglien : Nucl. caudcdus,
lentic, Thalam. opticus, vor; ihre Wandung verdünnt sich allmälig und
berstet, oft in Folge einer zufälligen Erhöhung des Blutdruckes (copiöses
Gastmahl, Aufregung etc.).
Am häufigsten stammt die Blutung aus einer kleinen Arterie, welche
zwischen dem III. Gliede des Linsenkernes und der äusseren Kapsel
hinaufsteigt, und welche von Charcot als arfere de lliemorrhagie cerebrale
benannt wurde. Ob der der Erkrankung der Gefässe zu Grunde liegende
Process eine einfache Arteriosklerose, oder eine andersartige Degeneration
ist, wurde endgiltig noch nicht entschieden. In einer kleineren Anzahl der
Fälle, besonders bei jüngeren Individuen, stammt die Blutung nicht aus
102 APOPLECTISCHER INSULT.
der eben besprochenen Erkrankung der Gefässwände, sondern aus einer
hämorrhagischen Diathese, welche als Folge anderer Krankheiten sich aus-
bildete, so z. B. bei Blutkrankheiten, Morbus maculosus, Skorbut u. s. w.,
ferner bei schweren Infectionskrankheiten, wie Typhus, Variola etc., end-
lich bei Cachexien. Eine dritte Reihe der zu Gehirnhämorrhagien führenden
Leiden betrifft Erkrankungen des Gehirnes selbst. So können besonders
bei Hirntumoren, ferner bei Meningitis und anderen mehr diffusen Pro-
cessen Blutungen eintreten, welche aber gewöhnlich schon durch ihre
andere Localisation von der gewöhnlichen Apoplexie dilferiren.
Embolien und Thrombosen können nicht nur bei Herz- und
Gefässerkrankungen, sondern auch bei Infectionskrankheiten auftreten, sie
werden am häufigsten in der Art. fossae Sylvü (besonders in der
linken) angetroffen; ferner scheinen mehr vorübergehende Circulations-
störungen den schon oben erwähnten apoplectiforraen Anfällen zu Grunde
zu liegen. In diesen letzteren Fällen findet man in der Leiche keine er-
kennbaren Läsionen ; früher glaubte man, dass hier anstatt Blutes eine seröse
Transsudation den Insult hervorruft (seröse Apoplexie), allein die vermehrte
Menge der cerebro-spinalen Lymphe ist nur die Folge der (meistens senilen)
Atrophie des Gehirns, welche gewöhnlich in diesen Fällen angetroffen wird,
und nicht die Ursache des apoplectischen Anfalles.
Symptome. Der apoplectische Insult stellt sich meist ganz. unverhofft
ein, doch gehen ihm manchmal Vorboten zuvor, in selteneren Fällen ent-
wickelt sich die Apoplexie langsamer, dann spricht man von einem verzögerten
apoplectischen Insult. Die Vorboten bestehen in einem Gefühl von Schwere,
Wüstheit im Kopfe, Dunkelwerden vor den Augen, Schwindel, Erscheinungen,
die sich zumeist rasch steigern, so dass der Patient oft nicht Zeit hat,
sich niederzulegen, da sich schon Sprachstörung und zunehmende Beein-
trächtigung des Bewusstseins einstellen. Häufig aber tritt die Apo-
plexie ohne Vorboten mitten im besten Wohlsein, in eifriger Thätigkeit
ein. Abgesehen von jenen Fällen, wo der Insult sofort zum Tode führt
(apoplexie foudroijante), finden wir den Kranken in tiefstem Coma, aus
welchem er nicht erweckt werden kann. Gewöhnlich ist der Kopf und das
Gesicht stark geröthet, selten blass. Das Herz arbeitet mit verstärkter
Kraft, der Puls ist voll, stark, in der Frequenz vermindert. Die Respiration
ist tief, oft verlangsamt und häufig von starkem Schnarchen (stertoröses
Athmen) begleitet, was aus der Paralyse des Gaumensegels resultirt; bei
noch tieferem Coma sammelt sich in der Luftröhre auch Schleim, sogar
Speichel, und so kommt es zu Trachealrasseln. Bei jeder Exspiration blasen
sich die Wangen auf, und bei aufmerksamer Betrachtung kann man schon
einen Unterschied in der Schlaffheit der beiden Gesichtshälften entdecken.
Die Extremitäten liegen schlaff, unbeweglich, sie zeigen bei passiven
Bewegungen gar keine Resistenz. Es kommt aber auch ausnahmsweise vor,
dass in der betroffenen Körperhälfte die Muskeln in einer tonischeu Starre
angetroffen werden, welches Symptom gewöhnlich auf einen Durchbruch
der Blutung in einen Seitenventrikel bedeutet und von sehr schwerer
Prognose ist.
Die Sensibilität ist auch oft vollständig erloschen, manchmal aber ge-
lingt es, durch stärkeres Kneifen, Stechen auf der einen Körperhälfte Be-
wegungen hervorzurufen. Auf diese Weise kann man die gelähmte Seite
erkennen, auch zeigen sich die oberfiächlichen Reflexe (Cremaster-, Bauch-
etc. Reflexe) auf der gelähmten Seite bedeutend vermindert. Die Patellar-
reflexe sind (oder scheinen wenigstens) in der ersten Zeit auch geschwunden.
Urin und Stuhl werden oft unter sich gelassen, doch kann auch Harn-
retention vorkommen. Im Urin findet sich oft vorübergehend Albumin,
APOPLECTISCHER INSULT. 103
manchmal auch Zucker. Die Temperatur ist gewöhnlich subuormal, nur in
Fällen, wo der Sitz der Läsion in der Brücke oder im verlängerten Mark
ist, besteht eine Steigerung der Körperwärme von Beginn des Insultes an.
Die Pupillen zeigen nichts Charakteristisches, die Augen und der Kopf
sehen oft nach der einen Körperhälfte (deviation conjuguee), doch hängt
die Blickseite davon ab, ob dieses Symptom aus einer -Reizung oder einer
Lähmung entstanden ist, gewöhnlich sind die Augen nach der erkrankten
Hemisphärenseite gewendet. Selten beginnt der apoplectische Lisult mit
epileptiformen Krämpfen, diese haben dann den Charakter der corticalen
Convulsionen und betreffen gewöhnlich blos eine Körperhälfte.
Was den Mechanismus des apoplectischen Insultes anbetrifft, so müssen wir
theils nach den klinischen und pathologisch anatomischen Erfahrungen, theils nach experi-
mentellen Untersuchungen (von Düket) annehmen, dass der plötzliche Eintritt des Insultes
ein Hanptfactor des Symptomencornplexes ist. Langsam erfolgende Blutungen rufen nur
hei bedeutend grösserer Menge — ceteris paribus — ein so tietes Coma als rasch ent-
standene kleinere Herde hervor. Ausser der Grösse des Herdes ist aber auch dessen Sitz
von hoher Bedeutung auf das Krankheitsbild. Die schwersten Störungen verursachen
die Herde im Hirnstamm, da hier der Blutdruck iu den Gefässen grösser ist, wie in den
Arterien des Hirnmantels und die einzelnen Gefässe bedeutend stärker sind. Ferner
kommt noch dazu der Umstand, dass in diesem Gehirntheil auf einer eng begrenzten
Strecke — in der inneren Kapsel — die Leitungsbahnen nahezu sämmtlicher centrifugaler
und centripetaler Bahnen vereinigt liegen, und somit von hier aus die ganze Rinden-
fläche durch den plötzlichen Shok stark beeinflusst wird, vielleicht noch stärker, als
durch die sich auf die ganze Hirnmasse fast glefchmässig vertl] eilende Druckerhöhung
bei der Gehirnblutung, während diese Druckerhöhung bei ganz gleich starkem Insult
in Folge von Embolie vollständig ausbleibt. Bei weitem geringere Insulterscheinungeu
treten gewöhnlich bei corticalen Processen ein. obzwar auch hier manchmal schwere
Insulte vorkommen, doch bilden sie sich bedeutend rascher — bis auf die Herdsymptome
entsprechend der lädirten Stelle — zurück. — Am leichtesten — manchmal aber mit
plötzlichem Tod — verlaufen die Apoplexien der Hirn Schenkel und der Brücke. Hiebe!
bleibt die Bewusstseinsstörung oft ganz aus, und selbst in den tödtlichen Fällen sind
nicht die Erscheinungen des apoplectischen Insultes, die den letalen Ausgang herbei-
führen, sondern die Störungen in den vegetativen, besonders den Flerz- und Athmungs-
functionen. Wir müssen hier aber betonen, dass man aus der Schwere des Insultes noch
keineswegs auf dessen Localisation Schlüsse ziehen darf, es kommen ziemlich häufig ganz
leichte Insulte bei den verschiedensten Localisationen vor, die freilich oft (wenn auch
nicht immer) von schwereren gefolgt werden.
Was die Diagnose des apoplectischen Lisultes betrifft, so ist am
meisten charakteristisch der comatöse Zustand bei normaler, oder selbst
erhöhter Herzthätigkeit ; eigentlich kann aber die Diagnose nur dann mit
Sicherheit gestellt werden, wenn Ausfallserscheinungen, besonders Läh-
mungen nachgewiesen werden. Es ist leicht, den apoplectischen Insult
von der einfachen Ohnmacht oder Herzschwächeanfällen zu unterscheiden,
da bei beiden die Herzthätigkeit bedeutend geschwächt ist. Hysterische
Anfälle — besonders Schlafanfälle — können zuweilen Aehnlichkeit mit
der Apoplexie haben, und manche Autoren sprechen auch von einer hysteri-
schen A., doch wird die Unterscheidung in den einzelnen Fällen keine
besonderen Schwierigkeiten verursachen. Toxämische Zustände können aber
manchmal für Apoplexien gehalten werden, besonders wenn die ßeobaclrtung
des Kranken mangelhaft ist. In zweifelhaften Fällen muss der Geruch des
Athems (nach Alkohol, Aceton), ferner der Urin auf Albumin (Urämie) und
Zucker (Diacetämie) geprüft werden. Doch muss man hiebei die Nebenumstände
noch sehr sorgfältig analysiren, da eben diese letzteren Befunde uns irreführen
können : es geschieht oft, dass man noch vor unserer Ankunft solchen Patienten
alkoholhaltige Flüssigkeiten in den Mund giesst ; Albuminurie und Melliturie
können auch Folgen des apoplectischen Insultes sein. — Bei Opiumvergiftung
sind die Pupillen sehr enge, doch finden wir dasselbe Verhalten bei Blut-
ergüssen in die Brücke. Wir müssen somit, falls sich keine directen Lähmungs-
,erscheinungen zeigen, sehr vorsichtig bei der Stellung der Diagnose sein.
104 ARTERIENECTASIE.
Von der Prognose des apoplectischen Insultes kann man ebenso
wenig reden wie von der Prognose der Wassersucht. Darüber entscheidet
nur der Sitz, die Ausdehnung und besonders die Art des Grundprocesses.
Fortschreitende Gefässerkrankung führt zu Wiederholungen der Anfälle,
während diese bei der durch eine acute Krankheit entstandenen hämorrha-
gischen Diathese gewöhnlich ausbleiben. ApoplecU forme Anfälle sind äusserst
verdächtig auf 'progressive Paralyse; apopledische Insulte mit. epileptiformen
Convulsionen aiif Neubildungen im Gehirn.
Die Therapie soll womöglich nach der ätiologischen Seite sich
richten. Eigentlich aber haben wir ziemlich wenig Einiluss weder auf eine
Gehirnblutung, noch auf eine Embolie. Früher war, und selbst heute noch
ist eine der ersten Aufgaben tüchtig zur A d e r z u 1 a s s e n, und wehe
dem, der dieses scheinbar sehr logische Mittel nicht ergreift. Eine solche
Procedur ist aber ganz verwerflich bei anämischen Zuständen, bei Herz-
leiden ohne besondere Stauungssymptome, und ihr Nutzen bei Congestion
ist auch sehr problematisch. Immerhin mag man an einem Arm (an welchen
bleibt sich gleich), bei geröthetem Gesicht, stark pulsirenden Arterien, ro-
bustem Körperbau eine Vene eröffnen. Die Quantität des herauszulassenden
Blutes bestimmt man am besten während der Operation; 200—300 ccm.
(1 — IV2 Trinkgläser) werden gewiss nicht schaden: sieht man aber hiebei,
dass hiedurch einige Erleichterung eintritt (ruhigeres Athmen, Wiederkehr
des Sensoriums etc.), so kann man noch mehr herausfliessen lassen. Einfach
aus theoretischem Gutdünken die Venaesection ganz zu verwerfen, wäre
ebenso falsch als wenn man glaubte, dass man durch dieselbe den Blut-
druck im Gehirn wesentlich herabsetzen vermag ; die Gesammtquantität
des Blutes wird durch sie so gut wie gar nicht beeinflusst, höchstens kann
sich in einzelneu Fällen die Vertheilung des Blutes im " arteriösen und
venösen System etwas bessern. Es kommen jedoch hie und da Fälle vor,
bei welchen die Venaesection momentan Erleichterung verschafft. Wichtiger
aber als diese Frage, ist, dass man den Kranken womöglich wenigstens in
der ersten Zeit nicht transportire, oder nur mit äusserster Vorsicht, ferner
gebe man durch Kissen eine hohe Lagerung seinem Kopf, und mache kalte
Umschläge an der Kopfhälfte, wo man die Läsion vermuthet. Sinapismen
an den unteren Extremitäten haben nicht viel Sinn, angezeigt ist abör, durch
Klysmata eine gehörige Ausleerung der Därme herbeizuführen. Ferner
versuche man vorsichtig Wasser in den Mund zu bringen und wiederhole
dies von Zeit zu Zeit, wenn der Kranke schluckt. Medicamente, und in
erster Reihe Digitalis sollen nicht verordnet werden, weil eine Verstär-
kung der Herzaction nicht angezeigt ist; man überwache die Blase und
entleere sie , wenn nöthig , mittelst eines frisch sterilisirten Catheters.
Frequenterwerden des Pulses und Cheyne-Stokes'sches Athmen sind von
ominöser Bedeutung und können, ebenso wie stark anämische Zustände,
die Anwendung von Excitantien erheischen. Natürlich wird man sich in
diesem Falle der subcutanen Methode bedienen, und Kampheröl (2 — 3 Proc),
oder eine Coffeinlösung {Coffeinum natriosalici/Ucuni 20 Proc.) einigemal in-
jiciren. Bei hoher Steigerung der Körperwärme gibt man 2 — 4*0 Antipyrin
in Milch gelöst in einem kleinen Klystier.
Den weiteren Verlauf, sowie die fernere Behandlung der Folgen des
apoplectischen Insultes s. unter „Gehirnblutung'' und „Embolie",
ERN'ST JENDRÄSSie.
Arterienectasie der grossen Brust- und Bauchgefässe. {Innere
Aneurysmen.)
Die umschriebene Erweiterung einer Arterie {Arterienectasie) bezeichnet
manals Aneurysma. Die Grösse derselben wechselt innerhalb der weitesten
AUTERIENECTASIE. 105
Grenzen, so dass man ganz kleine, erbsengrosse Aneurysmen antrifft bis
lierauf zu solchen, welche die Grösse einer Männerfaust weit überragen.
Der Form nach unterscheidet man sackförmige, cylindrische und spindel-
förmige, wobei Uebergänge und Combinationen der einzelnen Formen in
mannigfacher Weise vorkommen. Man hat hierbei zu berücksichtigen, dass
die Erweiterung des Arterienrohrs nicht ganz plötzlich, sondern häufig allmälig
beginnt, so dass die Arterie schon vor ihrem Uebergang in die sackförmige
Erweiterung eine Strecke vorher deutliche Dilatation erkennen lässt. In
noch höherem Grade gilt dies für die der Entstehung der Aneurysmen zu
Grunde liegende Erkrankung der Arterie, welche meistens in einer ausge-
sprochenen Arteriosclerose besteht. In Folge dessen findet man die Wand
der Aneurysmen niemals von einer normalen- Gefässwand gebildet. Vielmehr
zeigt die Intima fast ausnahmslos diejenigen Veränderungen in hohem
Grade, welche für die Arteriosclerose charakteristisch sind. Aber auch
die Media und die Adventitia nehmen meistens in vorgeschrittenen Stadien
der Dilatation immer an der Erkrankung Theil, so dass das Aneurysma
durch eine Ausweitung aller drei Arterienhäute gebildet wird. Es gilt dies
namentlich für die Aneurysmen der Aorta, welche hier vorzugsweise
besprochen werden sollen. Die Tunica muscularis nimmt bei der Bildung
des Aneurysma an Umfang ab, verliert an Tonus und Resistenzfähigkeit
und unterstützt dadurch die partielle Ausdehnung des Gefässrohrs sehr
wesentlich. Die Verdünnung derselben kann so weit vorschreiten, dass man
bei der mikroskopischen Untersuchung des Aneurysma stellenweise keine
Spuren der Muscularis findet. In anderen Fällen ist dieselbe fettig degenerirt.
Die Adventitia, welche anfangs noch unversehrt sein kann, wird später
ebenfalls erkrankt und durch chronisch-entzündliche Vorgänge verdickt
gefunden. Bei hochgradigem Schwund und Atrophie der Innenhaut und der
Muscularis bildet sie zuweilen allein die Wand des Aneurysma; in anderen
Fällen nimmt auch sie an der fortschreitenden Atrophie der Gefässhäute
Theil, wenigstens an einer oder der anderen Stelle des aneurysmatischen
Sackes, so dass es hier leicht zu einer Ruptur desselben und zu einer
tödlichen Blutung kommen kann. Fast niemals ist der aneurysmatische
Sack durchgehends von gleicher Stärke und Beschaffenheit; während er
stellenweise durch wiederholte Entzündungen sehr verdickt und uneben ist
und schwielige Beschaffenheit darbietet, ist derselbe an anderen Stellen so
verdünnt, dass er bei dem Versuch der Herausnahme bei der Section
sofort einreisst. Dieselbe Verschiedenheit finden wir auch mit Bezug auf
die Verwachsungen mit den benachbarten Organen, mit welchen der Balg
in Folge chronisch-entzündlicher Processe vielfach in so grosser Ausdehnung
und so untrennbar fest verlöthet ist, dass es überhaupt nicht gelingt, die
Adhäsionen zu lösen und das Aneurysma unverletzt und uneröffnet aus dem
Thorax zu entfernen.
Der Inhalt der Aneurysmen bildet zum grossen Theil flüssiges, zum gerin-
geren geronnenes Blut. Ausserdem findet man recht häufig, aber durchaus
nicht regelmässig ältere geschichtete Thromben, welche zuweilen eine im
Verhältnis zur Grösse des Sackes selbst enorme Ausdehnung erreichen
können und nach vielerlei Richtung hin von grosser, häufig günstiger
Bedeutung sind. Diese thrombotischen Abscheidungen sind von derber
Beschaffenheit und lassen stets eine geschichtete Structur, zuweilen deutlich
concentrische Schichtung, ähnlich wie die Jahresringe der Bäume, erkennen,
wobei die ältesten Schichten der Innenwand am nächsten liegen. Sie sind
fest, gelblich gefärbt; bestehen aus faseriger Grundsubstanz mit Resten von
Blutpigment, zuweilen in krystallinischer Form und können mit der Wand
verwachsen. Am häufigsten findet man sie in sackförmigen Aneurysmen mit
106 ARTERIENECTASIE.
engem Hals, in welchen der geringste Blutwechsel stattfindet. Diese
Thromben wachsen beständig und bilden immer von Neuem wieder den
Kern, an welchen die gerinnenden Fibrinniederschläge sich ansetzen ; sie
können verkalken, oder erweichen und zerfallen, in manchen Fällen auch
einer Art von Organisation unterliegen, wobei sie von Canälen und Gängen
durchzogen werden, Avelche vom Aneurysma selbst gespeist werden. Während
auf der einen Seite diese thrombotischen Gerinnungen mancherlei schwere
Schädigungen im Circulationsapparat hervorrufen können, einmal dadurch,
dass sich Partikel von ihnen loslösen und als Emboli dienen, welche
peripher in die abgehenden Arterien verschleppt werden, und ferner durch
die Verlegung solcher Gefässe, welche von dem Aneurysma abgehen (z. B.
der art. subclavia dextra bei Aneurysmen des trimcus anoni/mus), sind sie
auf der anderen Seite als günstiger Vorgang, ja gewissermassen als eine
Art von spontaner Heilung zu betrachten, welche man sogar therapeutisch
durch Einführung von Fremdkörpern in den Sack nachzuahmen bestrebt
gewesen ist. Durch die Erfüllung des Sackes mit thrombotischem Material
wird derselbe wesentlich verkleinert event. bei Aneurysmen von geringerem
Umfang ganz ausgefüllt werden. Bei Aneurysmen peripherer Arterien hat
man diese Gerinnung durch con stauten Druck zu erreichen versucht. —
Man findet nicht immer ein einzelnes Aneurysma ; selbst neben einem sehr
grossen Sack findet man an der Brustaorta zuweilen noch einen zweiten,
der mit ersterem durch einen kurzen Hals communicirt; bei den kleinen
Aneurysmen, wie sie namentlich im Gehirn und den Lungen zuweilen vor-
kommen und Apoplexien respective Haemoptoe hervorrufen, findet man
häufiger mehrere, als ein einzelnes Aneurysma. Bei starkem Wachsthum
der von der Brustaorta abgehenden Aneurysmen gelangen sie durch Ver-
drängung der darüber liegenden Lunge an die Brustwand, wo sie einen
sichtbar pulsirenden Tumor bilden; wenn die Lunge sich in Folge früherer
Synechien mit der Brustwand nicht retrahiren kann, verdrängen die
Aneurysmen andere Organe, ohne peripher sichtbare Erscheinungen oder
physikalisch erkennbare Symptome hervorzurufen. In solchen Fällen können
dieselben sehr lange oder gänzlich unerkannt bleiben, bis ein plötzlicher
Tod in Folge von Ruptur des Sackes das Räthsel löst. Wo die Aneurysmen
an Knochen angrenzen, werden die letzteren in Folge der beständig
wirkenden Pulsation des ausserdem ständig wachsenden Tumors usurirt
und schliesslich perforirt. Man sieht auf diese Weise Einschmelzungen von
Rippen, Durchbohrungen des Sternum, Luxation der Clavicula, selbst die
hochgradigsten Zerstörungen der Wirbel, mit Eröffnung des Wirbelcanals,
so dass der aneurysmatische Tumor einen clirecten Druck auf das Rücken-
mark ausübt, wodurch Erscheinungen von Mening'itis spinalis und von
Drucklähmung der unteren Extremitäten, der Blase und des Mastdarms
mit Sensibilitätsstörungen hervorgerufen werden können.
Die unafangreichste Zerstörung von Knochensnbstanz habe ich bei der Autopsie
eines Aneurysma der absteigenden Aorta angetroffen, wobei vier Brustwirbel so vollständig zum
Schwund gebracht worden waren, dass nur noch die Körper bestanden, während die
hintern Bögen mit den Quer- und iDornfortsätzen gänzlich fehlteu. Die hintere Wand des
Rückenmarkcanals bildete eine fast papierdiinne Lamelle von Knochensnbstanz. In der
weichen Substanz des über mänuerfaustgrossen thrombotischen Gerinnsels, welches den
aneurysmatischen Sack zum grossen Theil erfüllte, fand sich ein getreuer Abdruck der
übriggebliebenen Reste dieses Theiles der Wirbelsäule, ebenso deutlich erkennbar, als
hätte man einen Gj^psabguss davon vor sich.
Auch durch directen Druck des Sackes auf die im Thorax oder im
Abdomen gelegenen Organe können die schwersten Störungen hervorgerufen
werden, welche später besprochen werden sollen. Ich hebe hier nur die
Compression eines Bronchus, der Speiseröhre, des Vagus und Recurrens
AETERIEXECTASIE. 107
der Trachea, der Hohlvenen, der Yorhöfe, im Abdomen die Compression
der Gefässe, des Ductus choledochus, einer Darmschlinge u. s. w. hervor.
Wir haben bis jetzt diejenige Form des Aneurysma besprochen, welche
durch eine Betheiligung aller drei Schichten der Arterie hervorgerufen und
als Aneurysma verum bezeichnet wird; im Gegensatz dazu steht die-
jenige Form des Aneurysma, welche ebenfalls an der Aorta vorkommt und
Aneurysma dissecans genannt wird. Es ist ungleich seltener und
entsteht durch Zerreissung der Intima und Media, oder einer dieser Häute
allein. Das Blut wühlt sich zwischen die Media und die Adventitia oder
zwischen die Schichten der Media hinein und führt dadurch zur Bildung
sehr grosser Säcke, welche durch Paiptur in den meisten Fällen einen
plötzlichen Tod hervorrufen. In anderen Fällen reisst in Folge einer plötz-
lichen, sehr energischen Bewegung die meist vorher schon fettig degenerirte
Muscularis ein, so dass an dieser Stelle das Arterienrohr nur von der
Intima und Adventitia gebildet wird. Die Intima stülpt sich durch die
rupturirte Stelle der Muscularis hernienartig hervor und wird durch den
Blutdruck immer mehr vorgewölbt, bis schliesslich der aneurysmatische
Sack fertig ist.
Unter allen Aneurysmen sind diejenigen der Aorta am häufigsten;
dann folgen diejenigen der Art. anonyma. Was die Aorta und ihre Ver-
ästelung selbst anbetrifft, so entspricht die Häufigkeitsscala dem Verlauf
des Gefässes selbst, d. h. es überwiegen diejenigen der Aorta ascendens
und des Bogens, dann folgen diejenigen des Truncus anonymus resp. der
linksseitigen grossen Gefässe. welche getrennt vom Stamm abgehen ('Art.
carotis und subclavia siuistra), dann die der Aorta thoracica descendens
und endlich die der Aorta abdominalis an Häufigkeit. Dem entsprechend
habe ich unter 25 Fällen von Aneurysmen der Aorta 12 mal die Aorta
ascendens und den Arms aortae, 10 mal die Art. anomjma resp. die links-
seitig vom Bogen abgehenden grossen Gefässe {Carotis und Subclavia sin.),
2 mal die Aorta thoracica descendens und nur 1 mal die Aorta abdominalis
erkrankt gefunden. Jedoch ist dabei zu berücksichtigen, dass, soweit die
Fälle zur Autopsie gelangten, die aneurysmatischen Erweiterungen nicht
scharf, mit distincter Grenze einsetzten, sondern dass sich schon vor dem
eigentlichen sackartigen Aneurysma mehr oder weniger spindelförmig
gestaltete Erweiterungen der grossen Schlagadern vorfinden, so dass es
selbst post mortem häufig schwer ist, den genauen Anfang der Erweiterung
scharf zu präcisiren. Ausserdem finden sich bei den Autopsien zuweilen
mehrere Aneurysmen, von denen sich intra vitam nur eines klinisch deutlich
manifestirte.
Das Lebensalter übt auf die Entwicklung der Aortenaneurysmen
unzweifelhaft einen grossen Einfluss aus; alle Autoren bezeichnen die Zeit
zwischen dem 30, und 60. Lebensjahr als die günstigste für die Entwicklung
dieser Krankheit. Diese Angabe kann ich ebenfalls bestätigen; mein jüngster
Patient war eine Frau von 38, mein ältester ein Mann von 62 Jahren.
Es standen von 25 Patienten :
in den dreissiger Lebensjahren 4 Patienten
„ ., vierziger „ \ . ^ t> ^- *
;, ;, fünfziger „ M^ 1*^ Patienten
„ „ sechziger „ 1 Patient
Es hat dies seinen Grund darin, dass die Arterienerkrankungen,
welche erfahrungsgemäss am häufigsten zur Aneurysmenbilduug führen, erst
im vorgerückteren Lebensalter zur Entwicklung gelangen. Es ist dies haupt-
sächlich die Arteriosclerose mit ihren endarteritischen Veränderungen
(Verlust und Wucherung des Endothels,' Verfettung, Verkalkung, Geschwürs-
108 AETERIENECTasIE.
bildiing), welche auch auf die Media übergreift und zur Abnahme des
Tonus und der Resistenzfähigkeit führt (Mesarteritisi. Hierdurch und durch
die Abnahme der Elasticität der Intima wird einer mehr oder weniger weit
verbreiteten Ausdehnung des Gefässrohrs Vorschub geleistet.
Das Vorhandensein arteriosclerotischer und endarteritischer Ver-
änderungen in der erweiterten Aorta ist allein noch kein Beweis dafür,
dass erstere die Ursache des Aneurysma sein müssen, da sie ja auch eine
secundäre Erkrankung darstellen können, immerhin ist das ursächliche Ver-
liältuis das wahrscheinlichere, da man niemals eine aneurysmatischeErweiterung
bei einer sonst glatten und unveränderten Intima der Aorta antrifft. Mit
dieser primären Gefässerkrankung hängt es auch unzweifelhaft zusammen,
dass Männer häufiger an Aortenaneurysmen erkranken als Frauen (in meinen
Fällen 17 Männer und 8 Frauen), obgleich noch andere Gründe für diese^
constante Verhältnis maassgebend sind, so namentlich die Beschäftigung,
die Constitution, die grössere Gelegenheit zu Traumen, das Heben schwerer
Lasten, der Alkohol- und eventuell Tabak missbrauch. Dass klima-
tische Verhältnisse von maassgebendem Einfluss sind, zeigt die grosse
Häufigkeit des Vorkommens von Aneurysmen in England und den Ver-
einigten Staaten gegenüber derjenigen des europäischen Continents; selbst
innerhalb Deutschlands zeigt das Vorkommen dieser Erkrankung die erheb-
lichsten geographischen Unterschiede. Da wir aber in denjenigen Ländern,
in welchen die Aneurysmen so ganz besonders häufig beobachtet werden,
wie namentlich in England, auch gleichzeitig besonders häufig Arterio-
sclerose antreffen, so dürfte wohl auch hier die Gefässerkrankung das ver-
mittelnde Glied bilden, wobei die Thatsache, dass man sehr häufig Sclerose
der Aorta und nur in einem sehr geringen Procentsatz Aneurysmenbildung
antrifft, nicht wesentlich ins Gewicht fällt. Von einigem Einfluss dürfte
auch der gesteigerte Alkoholconsum in England eine Rolle spielen. Ich bin
überhaupt der Meinung, dass für die überwiegende Mehrzahl aller Aorten-
aneurysmen die primäre Gefässerkrankung das maassgebende und
bestimmende Moment bildet, und dass alle übrigen angeführten aetiologi-
schen Verhältnisse nur die unmittelbare Gelegenheitsursache für die
Erweiterung des bereits erkrankten Gefässrohrs darstellen. Von diesem
Gesichtspunkt aus dürfte wohl auch die Einwirkung gewisser constitutioneller
Krankheiten auf die Entwicklung der Aortenaneurysmen aufzufassen sein.
Hierher gehören die Gicht, die SijphiUs imö.' d.ev Bhewnansmus. Der Einfluss
der beiden erstgenannten Krankheiten auf die Gefässveränderungen ist
bekannt genug, wenngleich wir in Deutschland verhältnismässig selten
Gelegenheit haben, die gichtischen Formen der Arteriosclerose zu studiren.
Um so bestimmter glauben die Engländer an die arthritische Ursache
der Aneurysmen, und einer der glänzendsten Vertreter ihrer Literatur,
Stokes, sieht in der gichtischen Diathese eine sehr wichtige Ursache
jener Aortenerkrankung, -wobei die Gicht-Aortitis das vermittelnde Glied
darstellt. Die Syphilis ist ausserdem vorzugsweise von den Franzosen in
ursächlichen Zusammenhang mit der Entwicklung der Aortenaneurysmen
gebracht worden. So zählt allein Jaccoüd 22 Fälle von Aortenaneurysmen
bei Syphilitischen auf, bei denen ebenfalls Aortitis syphilitica bestand. Auch
in der englischen Literatur begegnen wir dieser Ansicht auf Schritt und
Tritt, und die enthusiastische Empfehlung des Jodkalium bei der Therapie
dieser Krankheit beruht grössteutheils auch auf dieser Anschauung.
Zuweilen können die ersten Anfänge eines Aortenaneurysma unmittelbar
auf eine heftige Erschütterung, auf Traumen (Fall, Stoss, Schlag, welche
der Thorax erlitten), auf Heben schwerer Lasten etc. zurückgeführt werden.
Wenn auch diese Gelegenheitsursachen bisweilen überschätzt werden
ARTERIENECTASIE. ' 109
mögen, so sind unzweifelhaft Fälle beobachtet worden, in welchen sich die
ersten Zeichen eines Aneurysma unmittelbar an ein Trauma im weitesten
Sinne angeschlossen haben. Auch in diesen Fällen konnte mau bei der
Autopsie nachweisen, dass die Wand der Aorta schon vorher erkrankt war.
dass dieElasticität unddie Widerstandsfähigkeit der Arterienwand bedeutend
abgenommen hatten. Dies gilt namentlich auch für die in Folge von Traumen
wiederholt beobachteten Fälle von Aneurysma dissecans.
Aetiologisch wichtig scheinen mir folgende Fälle zu sein:
Erster Fall. Ein Mann hatte, um heim Ausgleiten nicht zu fallen, mit seiner vollen
Muskelkraft eine rasche ruckweise Riickwärtsbewegung des Rum^^fes ausgeführt, wodurch
es zur Ruptur der Aorta und Bildung eines dissecirenden Aneurysmas kam. Bei der
Rückbewegung \vurde die Aorta übermässig gedehnt und bei der hochgradigen Arterio-
sclerose und dem dadurch bedingten Elasticitätsverlust trat die Ruptur ein. Es handelte
sich um eine partielle, die intima und Media betreffende Ruptur. Wie in andern Fällen
sass auch hier die Rissstelle dicht über den Klappen.
Zweiter Fall. Einen ähnlichen Fall theilt Patjl mit: Ein 48jähriger Mann hatte
sich eine Aortenruptur zugezogen in Folge einer gewaltigen Anstrengung, die er machte,
um sein durchgehendes Pferd zum Stehen zu zwingen. Bei der Section (nach einigen
Tagen nachdem ünfalF fand sich ein diifuses Aneurysma der Aorta ascendens dicht über
den Klappen. Der Riss ging durch die Intima und Media und führte in einen mit Blut
gefüllten Raum, der zwischen Media und Adventitia gelegen war. Das Aneurysma war
ins Pericardium durchgebrochen.
Dritter Fall. Ich selbst habe beobachtet, dass ein Locomotivführer der preussischen
Xordbahn dadurch ein Aneurysma der Aorta ascendens und des Bogens acquirirte, dass
bei einem Eisenbahnunfall eine schwere, mehrere Centner wiegende Packwagenthür ihm
auf die Brust fiel. Der Verletzte klagte sofort über starke Dyspnoe und Schmerzen auf
der Blust; der nach einigen Stunden hinzugekommene Arzt konnte die Symptome von
Lungenödem und ungleichen Puls constatiren. Ich behandelte den Kranken lange Zeit
und beobachtete ausser den übrigen ausgesprochenen Zeichen eines Aortenaneurysma
einen pulsirenden Tumor rechts vom Sternum, der sich allmälig enorm vergrösserte. Der
Tod erfolgte nach Monaten durch Ruptur. Bei der Autopsie fand sich ein Aneurysma
von enormer Grösse, welches dicht über den Aortaklappen begann und den Arcus mit-
betraf. Die Aorta war hochgradig sclerotisch.
Auch psijclüsche E/.nßüsse als Ursache von Herz und Aortendilatation
werden mit einiger Berechtigung angeführt. Schliesslich wäre für gewisse
Formen der Aneurysmen der Aorta und namentlich deren Aeste, welche
sich sous l'asped des anevrijsmes de poche ä coUet darstellen^ noch die
embolische Ursache (Ponfick, Pel, Spronck, Langton und Bowlbt)
zu erwähnen, wobei hartes und unebenes, sprödes, mit unebener, rauher
Oberfläche versehenes embolisches Material in eine Arterie hinein-
gelangt, sich mit dem einen spitzen Ende in die eine Arterienwand ein-
spiesst und dieselbe perforirt, so dass die Perforationsstelle schliesslich
zum Hals des neu gebildeten Aneurysma wird. Dass auf diese Weise sehr
umfangreiche Aneurysmen entstehen, ist wohl bisher nicht beobachtet worden,
noch auch sehr wahrscheinlich.
Ebenso wie Aneurysmen der Aorta lange Zeit unerkannt bestehen
können, ohne manifeste Erscheinungen hervorzurufen, bis sie gelegentlich
einer zu anderem Zweck unternommenen Untersuchung gewissermassen mehr
zufällig entdeckt werden oder durch Paiptur zum plötzlichen Tode führen,
können in andern Fällen auch Aneurysmen durch andere pathologische
Processe vorgetäuscht werden. Vorzugsweise gehört hierher die häufig vor-
kommende Insufticienz der Aortaklappen, welche wegen der dabei statt-
findenden starken arteriellen Pulsationen namentlich im Bereich des Bogens
selbst und der von demselben abgehenden Aeste auf den Verdacht eines
Aneurysma führen können. Es kommen hierbei sowohl die "vom Truncus
anonymus. als die linkerseits getrennt vom Aortenbogen abgehenden grossen
Arterien des Halses und der obeni Extremitäten in Betracht, welche durch
die starke spindelförmige Ausdehnung des Arterieurohrs, durch den eigen-
thümlichen, in einem grossen Theil des Arteriensystems wahrnehmbaren
110 ARTERIENECTASIE.
klopfenden Puls, die sichtbare Pulsation und gesteigerte Action der Arterien,
das doppelte Blasebalggeräusch in der Aorta ascendens resp. im Bogen und
endlich durch die Verschiedenheit der Pulse an symmetrischen Stelleu
gleicher Arterien auf beiden Seiten ein Aneurysma vortäuschen können,
ohne dass ein solches besteht.
Wie gross die Aehnliclikeit des Kvankheitsbildes sein kann, lehrt u. a. ein Fall
von Hake, welcher durch die Autopsie verificirt wurde. Hier bot ein ITjähriges Mädchen
einen eiförmigen pulsirenden Tumor im Jugulum dar, neben fühlbarer Erweiterung der
Arteria anonyma, und systolisch-diastolischen Geräuschen, Pulsdifferenz mit Verspätung der
rechten Radialis, Hypertrophie des linken Ventrikels, diastolischem Geräusch über dem
Sternum und „water hammer pulse" (pulsus celer) der Radialarterien. Bei der Section fand
sich keine Spur einer aneurysmatischen Dilatation des Truncus anonymus, sondern ledig-
lich Insufficienz der Aortenklappen. Einen analogen P'all beobachtete ich bei einer
<10jährigen Frau, welche mir wegen Aortenaneurysma von einem andern Collegen über-
wiesen worden war : Hier bestand eine gleichfalls eiförmige Geschwulst oberhalb des
rechten Sternoclaviculargelenks, durch welche die beiden Muskelbäusche des Sternocleido-
mastoideus auseinander gedrängt wurden. Bei der Betastung des Tumors mit mehreren
Fingern wurden dieselben bei jeder Herzsystole energisch auseinander gedrängt. Ueber
diesem Tumor war eine Dämpfung des Percussionsschalls nachweisbar. Die Carotis und
Subclavia an ihrem Ursprung sehr erweitert und deutlich schwirrend, jedoch war dieses
Fremissement arteriel auch links ebenso deutlich nachweisbar. Der Puls in der linken
Subclavia erheblich kleiner, als rechts. Der Spitzenstoss excentrisch. Ueber dem Tumor
ein lautes systolisches und diastolisches Geräusch hörbar: auf dem Sternum und darüber
verbreitet ein lautes diastolisches Wasserfallgeräusch. Pulsus celer, Capillarpuls, auch
ophthalmoskopisch nachweisbar neben spontanem Arterienpuls. Ausserdem starke Brachial-
neuralgie und heftiger Schmerz im Schultergelenk; Dyspnoe und subjectives Klopfen der
Arterien, welche in ihrer gesammten Ausdehnung von der Axillaris an bis zur Hand stark
hüpften. Diiferenz der Pupillen. Bei der Autopsie lediglich Aortenin s uf fielen z, ohne
Aneurysma des Truncus anonymus. Keine Arteriosclerose.
Die richtige Würdigung der symptomatischen Verhältnisse ist keines-
wegs immer so einfach, als es scheinen dürfte, namentlich wenn eine so
ausgesprochene Differenz der Radialarterien vorhanden ist. Eine andere
Krankheit, welche den Verdacht eines Aneurysma vortäuschen könnte, ist
nach Stokes die gkhtkche Aortitis. „Hiervon habe ich vor Jahren ein in-
teressantes Beispiel gesehen", sagt Stokes, „es waren so viele physikalische
Zeichen von Aneurysma uiid auch so viele autfallende Symptome vorhanden,
dass ich fast mit Sicherheit das Vorhandensein eines, grossen Aneurysma
der Aorta annahm. Der Kranke genas und lebte noch mehrere Jahre ohne
irgend ein Symptom von Aneurysma. Wahrscheinlich handelte es sich bei seinem
Leiden um eine gichtische Aortitis. Ausser heftigem Klopfen in der oberen
Brustbeingegend hatte dieser Kranke jedesmal, wenn er horizontal lag, die
grösste Athemnoth, so dass er mehrere Wochen hindurch aufrecht sitzen
musste. Die Symptome waren von der Art, dass ich damals nicht den
mindesten Zweifel hatte, dass der Kranke an einem Aneurysma der Aorta
leide." Auch Krebsgeschwülste sollen nach Stokes ähnliche Symptome her-
vorrufen können.
Unter den localen charakteristischen Zeichen eines Aneu-
rysma ist das werthvollste' Symptom das A u f t r e t e u einer pulsirenden
Geschwulst an der vorderen Brustwand, vorzugsweise rechts, unter den
Schlüsselbeinen, am oberen Theil des Sternum, am Sternalrand, oder
endlich beim Ausgang des Aneurysma von der Aorta thoracica descendens
zwischen Wirbelsäule und linkem Scapularrand. In einem Fall von enorm
grossem Aneurysma der Aorta ascendens, welches, wie die Section lehrte,
ganz unmittelbar oberhalb der Semilunirklappen begann, bis zum Arcus
reichte und in die linke Lunge durchgebrochen war, sah ich einen flaschen-
kürbisartig gestalteten Tumor links vom Sternum, welcher weit in die Fossa
infraclavicularis hinaufreichte.
Es fand sich, dass das Aneurysma aus zwei mit einander communi-
ARTERIENECTASIE. Hl
cirendeii Höhlen bestand, von denen die kleinere so in die linke Lunge
hineingewachsen war, dass der aneurysmatische Sack überhaupt nicht aus-
geschält werden konnte. — Bekanntlich ist für die Erkennung kleinerer
pulsirender Prominenzen die seitliche oder schiefe Beleuchtung von beson-
derem Nutzen. Sehr schön kann man die rythmischen Pulsationen solcher
Tumoren demonstriren, wenn man einen ganz schmalen, fingerlangen
Streifen eines Cartons darauf klebt, welcher alsdann die ihm mitgetheilten
Bewegungen anzeigt, wie der Hebel eines Kardiographen oder eines an-
deren registrirenden Apparates. Namentlich ist das Vorhandensein eines
pulsirenden Tumors dann von grosser Bedeutung, wenn man räumlich ge-
trennt noch ein zweites pulsirendes Centrum findet, welches dem Spitzen-
stoss entspricht. Die fest auf einen solchen Tumor aufgelegten Fingerspitzen
w^erden nicht nur rythmisch gehoben, sondern auch seitlich auseinander
gedrängt, ein Beweis, dass der Tumor sich bei der herzsystolischen Füllung
allseitig vergrössert, während ein Tumor, welcher seine Pulsationen von
der Aorta mitgetheilt erhält, nur die rythmischen Bewegungen nach einer
Richtung hin erkennen lässt, d. h. entsprechend der Systole und Diastole
sich hebt und senkt, lieber dem Tumor ist der Percussionsschall gedämpft,
um so intensiver, je vollständiger die Lunge sich retrahirt hat, auch findet
man zuweilen über latenten Aneurysmen eine leichte umschriebene Däm-
pfung, welche namentlich gegen Ende der Exspiration deutlicher hervortritt;
jedoch kann auch jede Dämpfung fehlen, ohne dass dies gegen das Vorhan-
densein eines Aneurysma in der Brusthöhle spräche. BeiVerdacht auf Aneurysma
der Arteria anonyma kann die Percussion des inneren Abschnittes der Clavicula
von Bedeutung sein. Die Dämpfung sowohl als auch circumscripte Pul-
sationen können von ihrer ursprünglichen Stelle verschwinden, ohne dass
das Aneurysma verödet oder geheilt ist, lediglich deshalb, weil die Ge-
schwulst eine andere Lage einnimmt. Zuweilen fühlt man über dem sicht-
baren Tumor ein sehr mächtiges herzsystolisches Fremissement, selten ein
diastolisches. Besteht gleichzeitig eine lusufficienz der Aortenklappen, so
ist constant ein Schwirren in den Arteriae subclaviae und beiden Carotiden zu
fühlen; dasselbe kann auch häufig noch dann gefühlt werden, wenn man
den Finger tief in das Ingulum einführt, wo man den convexen Rand des
Arcus aortae unter den genannten Verhältnissen palpiren kann. — Auscul-
tatorisch kann man über dem aueurysmatischen Sacke • — entsprechend den
fühlbaren Pulsationen — einen einfachen oder doppelten Ton, ein herz-
systoMsches Geräusch oder systolisches und diastolisches Geräusch wahr-
nehmen. Das Vorkommen der im Tumor selbst entstehenden Geräusche
betrachtet Stokes als Ausnahme : „Die Gegenwart eines Geräusches scheint
ein zufälliges Phänomen zu sein, offenbar durch mechanische Verhältnisse
des Sackes, des Herzens oder der Gefässe bedingt, welche nichts weniger
als constant sind". Ich stimme nach meinen Beobachtungen mit dem ge-
nannten Autor nicht nur bezüglich der Seltenheit dieses Geräusches
überein, als ganz besonders bezüglich seiner Inconstanz. Ein lautes, systo-
lisches Geräusch, welches unzweifelhaft im aueurysmatischen Sack selbst
seinen Ursprung nahm, habe ich nur über grossen sichtbaren Tumoren
gehört, bei denen gleichzeitig ein fühlbares Fremissement vorhanden war.
In diesen Fällen war das Geräusch constant und in gleicher Stärke zu
hören, so oft ich untersuchte. Da man aber die Geräusche über den Aneu-
rysmen auf die Wirbelbewegungen, welche im Blut in Folge der plötzlichen
Erweiterung der Strombahu entstehen, zurückführt, so ist es andererseits
nicht auffällig, dass auch gelegentlich Geräusche ihre Intensität verändern
oder zeitweilig gänzlich verschwinden, wenn die mechanischen Verhältnisse
der Circulation eine Veränderung erleiden. Hierher gehört beispielsweise
112 ARTERIENECTASIE.
die Abnahme der Strömungsgeschwindigkeit in Folge verminderter Herz-
thätigkeit. oder eine veränderte Contiguration der meist geschichteten
Thromben im aneurysmatischen Sacke. Ungleich häufiger habe ich in meinen
Fällen einen einfachen herzsystohschen ton über dem Aneurysma hören
können, während der zweite Ton. falls er hörbar war, von den Klappen
der Aorta fortgeleitet und von deren Schluss abhängig war. Feaxcois
Feaistck hat vermittelst der von ihm modificirten MAREY'schen Methode,
welche in gleichzeitiger Application eines Messapparates für die Herzpul-
sationen auf das Aneurysma und eines Sphygmographen auf eine Arterie
besteht, wobei die Pulscurven des Aneurysma und der Arterie in bekannter
Weise auf eine gleichmässig und rasch bewegte Trommel übertragen werden,
nachgewiesen, dass die aneurysmatische Pulscurve drei Erhebungen zeigt.
von denen die zwei ersten mit der Ventrikelsystole coincidiren: das Blut
gelangt aus dem Ventrikel in zwei Schüben in den Sack, dessen doppelte
Expansion der Finger wegen zu schneller Aufeinanderfolge nicht unter-
scheiden kann. Die dritte Erhebung coincidirt mit dem Schluss der Aorten-
klappen und ist demnach ein gutes Zeichen für deren normale Schluss-
fähigkeit. Xur in denjenigen seltenen Fällen, in denen über dem Aneurysma
auch ein herzdiastolisches Geräusch hörbar ist, während der diastolische
Aortenton fortbesteht, findet die Entstehung desselben im Aneurysma selbst
statt und wird dann auf die Regurgitation des Blutes aus der Aorta in das
Aneurysma während der Diastole bezogen. Da aber die Kraft, mit welcher
das Blut während der Kammerdiastole in den aneurysmatischen Sack regur-
gitirt, sehr gering ist. so liegt auf der Hand, dass dieses diastolische Ge-
räusch als ein im Aneurysma selbst entstehendes, sehr selten gehört wird.
Viel häufiger hört man einen systolischen Ton und ein diastolisches Ge-
räusch, welches von den Aortaklappen fortgeleitet ist und auf der Schluss-
unfähigkeit dieser Klappen beruht. Diese letztere findet unter folgenden
Verhältnissen statt:
1 . Als relative Insufficienz bei starker Dilatation der aufsteigenden
Aorta, welche bis an den Klappenring unmittelbar heranreicht. Von einem
ge'^dssen Stadium der Erweiterung an sind die Klappen nicht mehr im
Stande, den Ventrikel abzuschliessen. so dass bei der diastolischen Ent-
faltung desselben Blut in den Ventrikel zurückfluthet. Jedoch kann diese
Insufficienz auch fehlen trotz hochgradiger Dilatation der Aorta, da die
Klappen sich compensatorisch dehnen und erweitern.
2. Als Folge einer sderotischen Endocarditis, meist bei älteren Indivi-
duen, vorzugsweise männlichen Geschlechts. Es besteht eine starke Arterio-
sclerose der Aorta mit Endarteriitis, welche auf die Klappen übergreift
und hier durch sclerotische Processe zur Schrumpfung führt. Dass dies bei
Aortenaneurysmen namentlich im aufsteigenden Theil eine häufige Ursache
der Klappenerkrankuug bildet, lehrte mich sowohl die Häufigkeit des
gleichzeitigen Vorkommens beider Processe (x4.neurysma- Insuffienz der Aorten-
klappen!, als auch die Vergleichung verschiedener anatomischer Präparate
von Aortenaneurysmen mit ausgedehnter Arteriosclerose. Während in der
einen Gruppe von Fällen, übrigens der selteneren, in welchen die Klappen
schlussfähig geblieben waren, die Aorta fast durchweg hochgradig arterio-
sclerotisch degenerirt und die Intima in eine narbige, mit Geschwüren und
Kalkplatten bedeckte Haut verwandelt war. schnitt diese Erkrankung ziemlich
scharf in der Xähe der Klappen ab und hörte vollständig auf, so dass die
Aortenintim a zwei Finger breit von den Klappen entfernt oder w^eniger
total gesund und spiegelnd erschien. In einer andern Gruppe von Fällen
reichte der geschwürige Zerfall der Intima nicht nur bis an die Klappen
heran, sondern hatte auf dieselben übergegrifien, wodurch die Klappen ver-
ARTERIENECTASIE. 113
dickt, retraliirt und viel unbeweglicher, als normal erschienen. Bei der
Wasserprobe floss der grössere Theil der Flüssigkeit durch die insufficienten
Klappen zurück. —
Es ist klar, dass die sub 1. und 2. erwähnten Formen der Aorten-
insutficienz erst während des Bestehens der Aneurysmen zur Entwicklung
gelangen, so dass die diastolischen Geräusche erst während der Beobachtung
des Falles auftreten.
3. Als Folge einer chronisch verlaufenden Etidocarditis vahtdaris,
welche als solche mit dem Aneurysma in keinem ursächlichen Verhältnis
steht, sondern bereits bestand, ehe das Aneurysma sich entwickelte. In
diesem letzteren Fall sind die Erscheinungen von Seiten des Klappenfejilers
am ausgeprägtesten, namentlich auch die compensatorische Hypertrophie
des linken Ventrikels.
Ausser Aorteninsufficienzen habe ich in meinen Fällen von Aortenaneu-
rysmen noch Complic ationen mit anderen Klappenfehlern beob-
achtet, und zwar je einmal eine Mitraliusufficienz und eine Aortenstenose. Die
erstere.fand sich bei intacten Aortenklappen und bildete den Abschluss
einer chronisch-rheumatischen Endocarditis ; bei der letzteren hatte der
endarteritische Process, der zur Bildung des Aneurysma geführt hatte, auf
die Aortenklappen übergegritfen und zu der genannten Erkrankung geführt.
Hierbei bestand ein ungemein intensives und weit verbreitetes systolisches
Schwirren am rechten Sternalrand und im Bereich des sichtbaren pulsirenden
Tumors. Rindfleisch und Obernier beobachteten in einem Falle vonAneurysma
der aufsteigenden Aorta intra vitam Tricuspidalinsufficienz mit starkem
Venenpuls. Bei der Autopsie fand sich, dass das Aneurysma einen Druck
auf die Pulmonalarterie ausgeübt hatte, wodurch dieselbe erheblich com-
primirt worden war. In Folge davon war der rechte Ventrikel dilatirt, so
dass die Tricuspidalklappe das Ostium nicht mehr vollständig abschloss
und relativ insufficient geworden war.
Das Verhalten des Herzmuskels ist sehr verschieden. Sind ein-
zelne Herzklappen functionsunfähig, so treten diejenigen Veränderungen
am Herzmuskel ein, welche nach den Gesetzen der Compensation zu er-
warten sind, am häufigsten excentrische Hypertrophie des linken Ventrikels.
Auch wird die letztere vorhanden sein, wenn* ausgedehnte Arteriosclerose
lange Zeit der Bildung eines Aneurysma vorausging. Hat man uncomplicirte
Verhältnisse und ein reines Aneurysma vor sich, so können Veränderungen
am Herzmuskel ganz fehlen, ja der linke Ventrikel kann atrophisch und
dilatirt sein. Schon Stokes weist darauf hin, dass die Hypertrophie des
Herzens bei den Aortenaneurysmen nur eine zufällige Complication dar-
stellt. In manchen Fällen geht sie dem Aneurysma voraus oder ist in
anderen die Folge der Insufficienz der Aortenklappen. „Wenn jedoch das
Herz oder seine Klappen nicht schon vorher afficirt waren, so ist kein
Grund vorhanden, anzunehmen, dass ein Aneurysma an irgend einer Stelle
der Aorta die Herzthätigkeit vermehrt, und so finden wir denn auch in. der
Regel bei grossen Aneurysmen das Herz normal."
Zu dem gleichen Schlussresultat gelangte auch Axel key. der die häufig fehlende
Hypertrophie des linken Ventrikels theils auf Anämie und mangelhafte Blutbildung, theils
auf Druck d^s Aneurysma auf den Stamm der benachbarten Art. pulmonalis zurückführt,
wodurch weniger Blut ins linke Herz gelangt Abgesehen davon, dass das anatomische
Substrat, der Druck auf die Luugenarterie. jedenfalls zu den grossen Seltenheiten gehört,
die ich selbst niemals gesehen habe, würde sich der Richtigkeit seiner Schlussfolgerung
noch die Thatsache entgegenstellen, dass bei starker Behinderung des pulmonalen Kreis-
laufes der Druck im Aortensystem nicht abzusinken braucht, wie Lichtiieui experimentell
gezeigt hat. Würde die Anschauung von Axel key zu Recht bestehen, so müsste der
grösste Theil des Blutes sich in den Hohlvenen anhäufen und zu schweren Stauungserschei-
nungen im Körpervenensystem führen, was keineswegs den klinischen Erfahrungen entspricht ;
Bibl. med, Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. ^
114 - ARTERIENECTASIE.
vielmehr findet man die cyanotischen Indurationen der grossen Unterleibsdrüsen erst in
den letzten Stadien sub finem vitae. Auch Suckling behauptet auf Grund seiner Beob-
achtungen von 20 Aortenaneurysmen, dass Hypertrophie des linken Ventrikels nur bei
gleichzeitiger Insuflficienz der Aortenklappen vorkäme. Auf Grund seiner Untersuchungen
von 12 Aneurysmen im Leipziger Jacobspital kam Schmidt ebenfalls zu dem Resultat,
dass Aneurysmen der Aorta, selbst wenn sie umfangreich und dem Herzen nahe gelegen
und mit ausgebreitetem Atherom der Arterien combinirt sind, an sich keine Hypertrophie
bewirken. Nicht selten sei das Herz atrophisch. Gegen diese Ansicht spricht sich nur
Gatrdnee in Glasgow aus.
Sehen wir von den complicirenden Klappenerkrankungen ab, von denen
ja ganz vorzugsweise die Insufficienz der Aortenklappen in Betracht kommt,
sowie von etwaiger vorhandener Nierenschrumpfung, so findet man in der
That' bei reinen uncomplicirten Fällen trotz der scheinbar ver-
mehrten Widerstände niemalsHypertrophiedeslinken Ventrikels,
selbst wenn eine massige Arteriosclerose, die ja fast niemals ganz fehlt,
vorhanden ist. Ja häufig genug findet man sogar Atrophie und Dilatation.
Dass eine relative Insufficienz der Aortaklappeu ebenso gut wie eine orga-
nische zu einer Hypertrophie fiihrt, beobachten wir häufig genug uiid mag
in dieser Thatsache der Grund für die entgegenstehende falsche Beob-
achtung zu suchen sein. In Folge dessen finden wir in reinen Fällen von
Aneurysma der Brustaorta den Spitzenstoss an normaler Stelle, häufig sogar
von geringer Intensität und nur undeutlich wahrnehmbar. Bei gleichzeitig
bestehender Insutticienz der Aortenklappen ist er dagegen excentrisch und
auffallend hebend, in weitem Umkreis sieht- und fühlbar und die Brust-
wand erschütternd. Es muss jedoch bemerkt werden, dass auch ein excen-
tris eher Spitzenstoss ohne jede Hypertrophie des linken Ventrikels vorkommen
kann, und zwar bei Verschiebungen des Herzens nach links in Folge von
Aneurysmen der Aorta ascendens und des Bogens. Andererseits findet man
Verschiebungen des Herzens nach aufwärts und innen bei grossen dem
Zwerchfell nahe liegenden Aneurysmen der Aorta descendens.
Erkrankungen am Herzbeutel kommen in Folge von Aneurysmen
nicht selten als umschriebene Pericarditiden ■ vor, sind aber meist vorüber-
gehend und von. wechselnder Dauer.
Die Herzbewegungen sind häufig sehr unregelmässig und erregt,
so dass die Carotiden heftig klopfen und sehr stark sichtbar pulsiren. Von
grosser Bedeutung ist die Beobachtung des Pulses; theils findet man Re-
tardation desselben gegenüber dem Spitzenstoss und theils Ptetardation und
ungleiche Beschaffenheit desselben an symmetrischen Arterien des Körpers.
Sitzt das Aneurysma am aufsteigenden Theil der Aorta, so werden sämmt-
liche Pulse der Peripherie gegenüber dem Spitzenstoss verspätet erscheinen;
sitzt es an der Aorta descendens oder abdominalis, so werden die Hais-
und Armpulse synchron mit dem Spitzenstoss, die Cruralpulse verspätet auf-
treten. Die Verspätungszunahme ist der Ausdehnbarkeit der Wand des
Sackes proportional. Bei Aneurysmen am Bogen kommen häufig Differenzen
in der Füllung und in dem zeitlichen Auftreten zwischen gleichen Arterien
beider Körperhälften vor, am häufigsten im Bereich der Art. subclaviae.
Oft werden dieselben dadurch verursacht, dass ein in das Aneurysma ein-
mündendes Gefäss an seinem Ursprung gedehnt oder spaltförmig verengt
wird. Aber selbst bei völliger Intactheit aller dem Aortenbogen zugehörigen
Gefässmündungen sind durch das Aneurysma selbst Bedingungen gegeben,
dass die in Ptede stehenden zeitlichen oder graduellen Pulsditterenzen zur
Beobachtung gelangen. Ob. Verengerungen der Gefässmündungen oder allein
der Sitz des Aneurysma die Pulsänderung bedingen, wird man eventuell aus der
Grösse des Pulses erkennen; bei Verengungen und Verzerrungen wird der
Puls wesentlich kleiner sein. Geringere Unterschiede kann man nur sphyg-
ARTERIENECTASIE. 115
mographisch wahrnelimen, wobei dann auf der einen Seite die Ciirve weniger
hoch und die zweite secundäre Welle weniger ausgeprägt erscheint. Die
Verminderung der Expansion der peripheren Arterien ist für Aneurysmen
nicht pathognostisch, da sie auch bei andren Affectionen vorkommt.
Die Respiration hat auf den Blutstrom der Brustaneurysmen und auf den
Arterienpuls einen Einfiuss. Man beobachtet bisweilen Pulsus paradoxus,
weil das Aneurysma dem Einfluss des intrathoracischen Druckes eine sehr
grosse Oberfläche darbietet. Je grösser der Tumor, je nachgiebiger seine
Wandungen, um so bedeutender sind diese respiratorischen Pulsschwankungen.
Da diese aber auch bekanntlich bei anderen Affectionen vorkommen, so
haben sie nur diagnostischen Werth in Verbindung mit anderen aneurys-
matischen Symptomen ; von grosser Bedeutung sind sie bei Localisation auf
einzelne Arterien, da diese schon auf eine intrathoracische Ursache der
Erkrankung hinweisen.
Die Pulsverlangsamung wurde sehr bedeutend verstärkt in einem
meiner Fälle durch Complication mit Aortenstenose und in einem anderen
mit Mitralinsufficienz ; nicht jedoch durch gleichzeitige Insufhcienz der Aorten-
klappen.
Bei Aneurysmen der Arteria innominata ist es wichtig, zu bestimmen, ob
Carotis und Subclavia von dem aneurysmatischen Sack getrennt abgehen
oder mit in das Aneurysma einbegriffen sind. In solchen Fällen kann der
rechte Piadialpuls fehlen oder sehr klein sein, während der rechte Carotis-
puls normal ist. Dies ist wichtig für die BEASDOR-WARDROp'sche Operation.
In einem Fall meiner Beobachtung von rasch wachsendem pulsirendem
Tumor der Arteria anonyma traten neuralgische Schmerzen im Kopf und der
rechten Schulter auf, alsdann bemerkte Patient eine die Ptespiration und
Deglutition beschwerende Schwellung nahe dem rechten Sternoclavicular-
gelenk, die schnell wuchs und auf Druck schmerzte. Das innere Ende der
Clavicula war von dem Tumor nach vorn gedrängt. Letzterer reichte von
dem Sternalgelenk bis zum inneren Drittel der Clavicula, diese nach oben
und unten überragend ; systolisches Geräusch hörbar, lautes Schwirren fühl-
bar. Neuralgische Schmerzen und Taubheit im rechten Arm. Die Grenzen
solcher Aneurysmen sind nur durch die peripheren Pulse zu erkennen. In
einem von Fischer-Dietscht beschriebenen Fall von Aneurysma der Aorta
ascendens und des Bogens aus der Klinik von Liebermeister schienen die
Radial- und Carotidenpulse beiderseits gleich, bis durch die sphygmographische
Curve nachgewiesen wurde, dass die Curve der rechten Radialis viel weniger
hoch und die secundären Wellen viel weniger ausgeprägt waren, als links.
Die rechte Carotis ergab dagegen normalen Puls. Daraus konnte man
schliessen, dass die Subclavia doch noch in den Krankheitsprocess mit ein-
begriffen war, während die rechte Carotis intact war, aber nur mit Hi If e
des Sphygmographen.
Jedenfalls steht soviel fest, dass bei Aneurysma der Art. anonyma
Erscheinungen von Seiten des Pulses in der rechten Carotis und Subclavia
von wichtigster diagnostischer Bedeutung sind, wenn der Puls verspätet
erscheint oder kleiner ist, als auf der anderen Seite. Dass dies häufig oder
vielmehr regelmässig der Fall ist, ist die unbestrittene Annahme, die sich
in allen Büchern findet. Die Ursachen sind Verzerrungen und Verengungen,
Thrombusbildungen und eventueller Druck eines Aneurysma des Bogens oder
der Aorta ascendens auf den truncus oder die abgehenden Arterien selbst.
Dies ist jedoch bei Weitem nicht für alle Fälle zutreffend'
und auffallender Weise habe ich bei aneurysmatischen Er-
weiterungen desTruncus resp. der links vom Bogen abgehen-
den Arterien viel häufiger das umgekehrte Verhältnis an-
8*
116 ARTERIENECTASIE.
getroffen. Ich habe derartige Fälle namentlich von Aneurysmen des
Truncus anonymus, bei denen der Puls in der linken Subclavia verspätet'
und ungleich kleiner war, als rechts, wiederholt secirt und dabei fast jedes-
mal eine Verzerrung der linksseitig vom Bogen abgehenden Arterien, nament-
lich der Subclavia gefunden. Man muss dabei in Betracht ziehen, wie
ausserordentlich nahe vom Truncus die linksseitigen Gefässe entspringen,
so dass eine geringe Ausbuchtung und Dilatation schon genügt, um den
Querschnitt der Subclavia -Mündung zu verziehen und zu verzerren. In
andern Fällen sind endarteritische Erkrankungen an der Gefässmündung,
wo jene bekanntlich hauptsächlich ihren Sitz haben oder Compression der
Arterie der entgegengesetzten Seite durch das Aneurysma selbst die Ur-
sache dieser bisher nicht beschriebenen Erscheinung. Ob auch Druck des
Aneurysma auf die benachbarten sympathischen Ganglien und dadurch be-
dingte vasomotorische Paralyse der betreffenden Gefässe diese Erscheinung
bedingen kann, lasse ich dahingestellt. In einem Fall von Blackmann habe
ich dieses Vorkommen erwähnt gefunden; hier lag ein grosser pulsirender
Tumor hinter dem rechten Sternoclaviculaxgelenk. Der rechte Radialpuls
war voll und stark, der linke klein, schwach, kaum fühlbar. Bei der
Autopsie fand sich ein Aneurysma des Tr. anonymus. Die Subclavia sin. war
atheromatös entartet und wurde von dem Tumor comprimirt. Ich selbst
habe dieses Verhalten des Pulses, wobei derselbe auf der dem Sitz des
Aneurysma entgegengesetzten Seite kleiner ist und später auftritt, viel
häufiger beobachtet, als das umgekehrte, welches allgemein als die Regel gilt.
Eine weitere bemerkenswerthe Thatsache, welche ich auch nirgends
erwähnt gefunden habe, betriift das Verhalten der Radialpulse bei Aneu-
rysmen der aufsteigenden Aorta und des Bogens. Wenn bei herunterhän-
genden Armen beide ßadialpulse absolut gleich erscheinen, kann man zu-
weilen sehr bedeutende zeitliche und graduelle Unterschiede wahrnehmen,
M^enn man den Patienten anweist, die Arme vertical in die Höhe zu halten.
In Folge der vermehrten Widerstände summiren sich jetzt die Differenzen
bis zu wahrnehmbarer Höhe. Ich konnte in diesen Fällen auch sphygmo-
graphisch deutlich erkennbare Diiferenzen der beiden Pulse nachweisen.
Nicht minder wichtig für die Diagnose eines Aneurysma kann die
Beobachtung des sogenannten rückläufigen Pulses bei scheinbar gleich-
massigen Radialpulsen sein. — Der rückläufige Puls und seine Bedeutung
für die Aneurysmen besteht in folgendem: Comprimirt man eine Stelle
der Radialis, nachdem man sich von der Beschaffenheit des Pulses genau
überzeugt hat, oberhalb des Handgelenks bis zum gänzlichen Verschwinden
des Pulses, so erscheint derselbe unter normalen Verhältnissen peripher
fast augenblicklich in gleicher Stärke wieder, indem die Blutwelle aus der
Art. ulnaris durch den Arcus palmaris rückwärts in die Art. radialis eintritt
und unterhalb der comprimirten Stelle in unveränderter Weise fühlbar ist.
Von dieser Thatsache kann man sich bei gesunden Individuen mit kräftiger
Herzaction an beiden Armen überzeugen. Besteht nun ein Hinderniss in
einer Art. subclavia, welches die Circulation beeinträchtigt, so wird dieser
rückläufige Arterienpuls entweder verspätet, oder mit viel geringerer
Intensität, in hochgradigen Fällen überhaupt gar nicht zur Erscheinung
gelangen. Hieraus wird man in Fällen, welche für ein Aneurysma verdächtig
sind, den Schluss ziehen, dass auf derjenigen Seite, auf welcher der rück-
läufige Puls verspätet, oder mit geringerer Intensität oder überhaupt nicht
erscheint, ein Hinderniss im Bereich der Art. subclavia vorhanden ist.
An den Halsvenen sieht man nicht selten starke Füllung und
undulatorische Bewegungen. Wird die Ven. cava sup. durch ein Aneurysma
comprimirt, was ich zweimal beobachtet habe, so kommt es zu Schlängelungen
ARTERIENECTASIE 117
und Erweiterungeii der subcutanen Hautvenen in der Hals- und oberen
Brustgegend. Bei Compression einer Ven. anonyma sind diese Erscheinungen
einseitig. Hydropische Anschwellungen des Gesichts und der oberen Extre-
mitäten habe ich ebenfalls bei Druck auf die Ven. cava sup. beobachtet.
Bei der ophthalmoskopischen Untersuchung sieht man nicht selten
spontanen Arterienpuls, zuweilen deutlicher auf einem Auge. Capillarpuls
mit rhythmischem Erröthen und Erblassen der papilla nervi opt. nur bei
sehr grossen Aneurysmen und constant bei gleichzeitigem Vorhandensein
einer Aorteninsufficienz. In letzteren Fällen fehlt der Capillarpuls auch
nicht an den Nägeln, an der Schleimhaut des Rachens und auf der Stirn-
haut, namentlich wenn man durch Reizung der Gefässe eine künstliche
Hyperämie der Haut erzeugt.
Sehr mannigfach sind die Störungen am Re spirations System.
Dyspnoe ist fast immer vorhanden, meist bedingt durch eine Compression
der Lungen durch das Aneurysma. Je grösser dasselbe, je schneller das
Wachsthum, je unnachgiebiger der Thorax, um so gefahrdrohender die
Dispnoe. Den Hauptbronchus fanden wir säbelscheidenartig veiengt durch
ein Aneurysma der Art. ascendens bei einem 40jährigen Mann, welcher während
der Demonstration plötzlich todt umfiel und im forensischen Institut secirt
wurde. Der Tod war durch Ruptur dicht über den Klappen erfolgt, und
es fand sich ein grosses Haematopericard. In zwei andern tödtlich endenden
Fällen von Aneurysmen des Bogens und der Aorta descendens fand sich
Compression je eines grossen Hauptbronchus mit Oedem und blutigem
Schleim, stets auf der linken Seite. Auf der betheiligten Seite des Thorax
sind die Athmungsbewegungen geringer, auch bestehen nicht selten systolisch
inspiratorische Einziehungen der Intercostalräume. Der Stimmfremitus ist
verändert oder aufgehoben. Perkutorisch ist auf der betreffenden Thorax-
seite wegen veränderter Spannung der Lungen tiefer tympanitischer Schall und
bei Lungencollaps Dämpfung vorhanden. Auscultatorisch ist abgeschwächtes
Athmen oder fehlendes Athmungsgeräusch mit katarrhalischen Geräuschen,
Husten, Auswurf, eventuell Haemoptoe vorhanden. An der Compressions-
stelle des Bronchus hört man lautes Bronchialathmen. In einem Fall von
Aneurysma der Aorta descendens mit Druck auf den linken Bronchus
bewirkte Druck auf die Geschwulst regelmässig Husten.
Wichtig sind die Erscheinungen seitens der Trachea und des
Larynx. Ein- oder doppelseitiger Druck auf den nv. recurrens ergiebt
Lähmung der Stimmbänder. Bei einseitiger Parese ist fast immer der linke
Recurrens gelähmt. Hierbei sprechen die Kranken anfangs heiser, bessern
sich aber in der Regel soweit, dass die Stimme nur noch einen rauhen
Charakter behält, indem das gesunde Stimmband übercompensirt. Rechts-
seitige Stimmbandlähmungen sind sehr selten durch Aorten-Aneurysmen
bedingt, wie auch doppelseitige Lähmungen nur sehr selten auf derselben
Ursache beruhen. In einem meiner Fälle von einseitiger Abductore-nparalyse
in Folge von Druck des Bogen- Aneurysma auf den Recurrens, trateit trotz
der permanenten Existenz der Lähmung anfallsweise Attaquen von Dispnoe
mit freien Intervallen auf. Aehnliche Anfälle kamen in einem andern Falle
durch den Druck des Tumors auf die Trachea zustande, wahrscheinlich
bedingt durch Schwellung der Schleimhaut und Schleimabsonderimg,
eventuell durch zeitweilige Steigerung des Blutdrucks mit consecutiver
Erweiterung des Sackes und verstärkten Druck auf die Trachea. Es betraf
dies einen Fall von Aneurysma der hinteren Wand des Arcus, bei welchem
neben der Compression der Trachea gleichzeitig Druckerscheinungen auf
den Oesophagus und Vagus mit Dysphagie und Anfällen von Angina pectoris
beobachtet wurden.
118 ARTEPJENECTASIE.
Auf ein anderes Symptom, welches bei Aneurysmen des Bogens fast constant vor-
kommen soll, macht B. Fkae^kel aufmerksam. Es ist dies die Palpati ou der Trachea
im lugulum. Dasselbe ist wohl zuerst von W. Olivee und später von R. Macdoxeli,
angegeben worden. Man lässt den Patienten mit nach hinten übergelegtem Kopf stehen
oder sitzen, sucht den Kehlkopf am Piingknorpel ein bischen in die Höhe zu heben, um
möglichst tief an die Trachea hinabzukommen. \Yenn man nun einen Zeigefinger gegen
die Trachea in das lugulum hineinlegt, fühlt man bei Aneurysma sehr deutlich eine
fortgeleitete Pulsation. Ich zweifle nicht daran, dass mau dieses Symptom bei den
genannten Aneurysmen sehr häufig, vielleicht auch constant antrifft, glaube aber, dass
es ebenso häufig bei Aorteninsufficienzen vorgefunden wird.
Durch Druck von thoracischeu Aneurysmen auf den Oesophagus
werden zuweilen Schlingbeschwerden und Dysphagie hervorgerufen. Die-
selben können namentlich bei alten Leuten Öesophaguskrebs vortäuschen.
Zuweilen treten die Schlingbeschwerden in Anfällen auf. Derartige
Paroxysmen beobachtete ich in einem Fall, in welchem Wochen lange
Pausen von vollständigster Euphorie bestanden. Bevor man in fraglichen
Fällen von Oesophagusstenose die Sonde einführt, untersuche man den
Thorax genau auf etwaiges Vorhandensein eines Aneurysma, da mau durch
die Sonde die Wand des letzteren leicht perforiren kann. Ist ein Aneurysma
vorhanden, so mrd die eingeführte Sonde, wenn sie den Sitz des pulsirenden
Tumors erreicht oder passirt. ebenfalls stark pulsiren und rythmisch
gehoben und gesenkt werden. Ich kann aber darin mit Kraszewski nicht
übereinstimmen, dass derartige Pulsationen der Sonde ein höheres Zeichen
eines Aneurysma seien, da ich dieselben Pulsationen sowohl ohne Bestehen
eines Aneurysma, als auch in einem Fall von Carcinoma oesophagi in der-
selben Weise beobachtet habe. Keaszewski beobachtete plötzlich auftretende
Schlingbeschwerden bei einem Kranken mit Aneurysma der Aorta descendens.
Die Stenose Hess sich auscultatorisch in der Höhe des 8, — 9. Wirbels'
nachweisen. Um sich zu überzeugen, ob es sich wirklich um eine Compression
durch ein Aneurysma handelte, führte er eine blindschliessende Schlund-
sonde, die mit Wasser gefüllt und mit einem Glasrohr verbunden war,
in den Oesophagus bis zur stenosirten Stelle ein. Es traten rhythmisch mit
dem Radialpuls synchrone „Schwankungen der Wassersäule ein. die den
Beweis lieferten, dass die Stenose durch Druck des Aneurysma bedingt
war". Ich kann, wie gesagt, mich mit dieser Schlussfolgeruug nicht einver-
standen erklären, da ich dieselben Schwankungen der Sonde ohne Aneurysma
wiederholt beobachtet habe.
In der Mehrzahl meiner Fälle von Aneurysmen der Brustaorta
beobachtete ich auffallende Pupillendifferenz, was gewöhnlich
auf Pieizung oder Lähmung sympathischer Fasern zu beziehen ist. Meist
war die Verengerung auf der entsprechenden Seite, bedingt, wie Sectionen
ergaben, durch mechanische Leitungshemmung in dem Nerv, sympathicus
derselben Seite. — Fehlen der Pupillarreaction auf Lichtreiz wurde wieder-
holt beobachtet, während die Pieaction bei der Accomodation erhalten Avar.
So häufig auch die Pupillendifferenz bei Aneurysmen beobachtet wird, so
ist sie doch keineswegs ein constantes oder sicheres Zeichen dieser
Erkrankung, da man dasselbe Symptom auch bei andersartigen Tumoren
der Thoraxhöhle und selbst bei pleuritischen Exsudaten beobachtet.
Die subjectiven Erscheinungen können sehr heftig und quälend
sein: sie variiren fast in jedem einzelnen Fall und hängen ganz von der
Natur des jeweiligen Falles ab. namentlich aber vom Sitz der Geschwulst
und von den durch dieselbe bedingten Compressionserscheinungen. Am
constantesten sind die Störungen seitens des Nervensystems, bedingt durch
Druck, welchen das Aneurysma namentlich auf den Brachialplexus ausübt,
bestehend in heftigen Byacliiahirurahikn und intensivem Brustschmerz,
welcher nach der Schulter ausstrahlt. Diese Erscheinuusen werden ungleich
ARTERIENECTASIE. 119
«
häufiger auf der linken Seite beobachtet und sind verbunden mit Taubheits-
gefühl, Paraesthesien, Formicationen und lähmungsartigen Zuständen im
betreftenden Arm. In einem Fall von Aneurysma der Aorta descendens
bestand hitercosialneiiralgie mit Herpes infercost. und Anaesthesia dolorosa.
In einem zweiten Fall der gleichen Erkrankung, in welchem Rippen und
Wirbelsäule arrodirt gefunden wurden, bestand heftiger, in den linken Arm
ausstrahlender Brustschmerz. Angina pectoris und intensive Schweiss-
absonderung, welche auf die fünfte und sechste Rippe und den betreffenden
Intercostalraum localisirt war. Sie trat sieht- und fühlbar in Intervallen auf,
welche von den Schmerzanfällen unabhängig waren, und wurde durch grosse
Gaben von Jodkalium gebessert.
Auch heftige Schmerzen in der Wirbelsäule kommen dabei ohne und
mit Usur der Wirbel vor. Ist das Rückenmark comprimirt, so beobachtet man
Lähmungen der untern Extremitäten, der Blase und des Rectum neben
sensiblen Störungen ; bei EigriÖ'ensein der Häute — Meningitis spinalis. Die
Schmerzen in der linken Schulter und im linken Arm erwecken bei
Ausschluss anderer Ursachen den Verdacht latenter Aneurysmen; jedoch
kommen sie auch bei anderweitigen Herzerkrankungen, namentlich Dilatation
des Herzens nicht selten vor. Zu erwähnen sind noch das quälende Herz-
klopfen, welches häufig in Paroxysmen auftritt, sowie das Schlagen, Klopfen
und Pulsiren der Arterien. Der Schmerz auf der Brust tritt auf oder wird
wesentlich verstärkt durch gewisse Lagerungen des Körpers, namentlich die
auf die linke Seite. Am quälendsten für die Patienten sind die Anfälle
von Angina pectoris, verbunden mit Herzklopfen, Athemnoth, Praecordialangst
und heftigen Schmerzen in der Brust, welche nach der Schulter ausstrahlen.
Auch asthmatische Anfälle mit Oppressionsgefühl, Dyspnoe, heftigem Husten,
ja selbst mit Haemoptoe kommen bisweilen vor und können vollständige
Suffocationserscheinungen hervorrufen, wenn das Aneurysma auf einen grossen
Bronchus einen Druck ausübt. — Sehr qualvoll empfinden viele Kranke
auch die anhaltende Schlaflosigkeit.
Der genaue Sitz des Aneurysma ist auf Grund des gesammten
Symptomencomplexes zu stellen ; dabei werden namentlich die Verhältnisse
des Pulses und etwaige vorhandene Compressionserscheinungen in Betracht
zu ziehen sein. Wesentlich verschieden und eigenartig werden sich die
Verhältnisse bei den Aneurysmen der Aorta abdominalis gestalten, deren
Häufigkeit sich zu denjenigen der Aorta thoracica wie 1:3 verhält^).
Ihr Lieblingssitz ist die Gegend des Tripus Halleri. Sie bilden Geschwülste
von äusserst differenter, bis Mannkopfs-Grösse, und sind als pulsirende
Körper deutlich durch die Bauchwand wahrnehmbar. Hierbei kann jedoch
nicht nachdrücklich genug betont werden, dass die Aorta sehr häufig, und
namentlich bei hysterischen Frauen, Neurasthenikern und sogenannten
„nervösen" Frauen auch ohne pathologische Erweiterung ausserordentlich
heftig und deutlich sichtbar pulsirt und bei der Palpation eine Geschwulst
vortäuscht. Dasselbe gilt von dem fühlbaren Schwirren, welches in sokhen
Fällen sehr deutlich fühlbar ist und zuweilen auch gehört werden kann.
Bei umfangreicheren Aneurysmen wird die Erkennung keine Schwierig-
keiten haben, wenn man die Contouren des Sackes deutlich verfolgen und
namentlich die Ausdehnung der Aorta im Querdurchmesser nachweisen
kann. Bei grossen Tumoren kann das Zwerchfell in die Höhe gedrängt
werden. Wichtig ist auch die Verspätung der Pulse in den Cruralarterien.
') Anmerkung. Diese Angabe bezieht sich auf eine Statistik von CRi.sr, welcher
unter 234 Fällen von Aneurysmen der Aorta 59 Aneurysmen der Aorta abdom. und
ihrer Aeste fand.
120 ARTERIENECTASIE.
Zunächst sind auch hier, wie bei den thoracisohen Aneurysmen, neural-
gische Beschwerden hervorzuheben, welche als epigastrische Schmerzen
auftreten und Gastralgien oder (Gallen- resp. Harnstein-) Koliken vor-
täuschen können. Nicht selten treten Anfälle von heftigem Erbrechen auf,
welche Traube auf intermittirende Reizung der Vagusfasern bezogen hat,
Die möglichen Compressionserscheinungen sind sehr mannigfach. Speise-
röhre, Darm, Ductus choledochus, Ureteren, Pfortader, benachbarte Arterien,
Vena cava inf. und Nervenstämme können betheiligt sein. Ueber die Dys-
phagie und Schlingbeschwerden ist bereits gelegentlich der oberhalb des
Zwerchfells gelegenen Aneurysmen gesprochen worden ; dasselbe und auch
betreffs der durch Compression verursachten Stenosen gilt für die sub-
phrenischen Aneurysmen, nur dass hier die Stenosen tiefer sitzen und
eventuell mit einem Krebs der Cardia verwechselt werden können. Durch
die Compression eines Aneurysma abdominale auf den Oesophagus können
auch die venae ösophag. comprimirt werden, so dass Varicen der Speise-
röhre, event. mit tödtlichen Blutungen hervorgerufen werden können. Druck
auf die grossen Gallengänge bedingt hartnäckigen Icterus ; auf den Darm
erschwerte Defaecation, auf den Ureter Hydronephrose etc. Dass Druck
des Aneurysma auf die Nervenstämme oder nach allmäliger Usur der Wirbel
auf das Rückenmark hiervon abhängige schwere Neuralgien und Läh-
mungen hervorrufen können, ist bereits oben erwähnt.
Von den Aesten derBauchaorta hat mau aneurysmatisch erkrankt
gefunden vorzugsweise die art. coellaca, die hepatica, die coronaria venfri-
cuU, die pancreatico-duodenalis, die lienalis, renalis und am häufigsten die mesa-
raica sup. Kleinere Tumoren bleiben meistens unentdeckt, grössere werden
durch Druck auf die benachbarten Organe u. A. schwere Schädigungen
hervorrufen, sich aber nicht immer von aneurysmatischen Erweiterungen
der Bauchaorta selbst unterscheiden lassen. Verspätung der Cruralpulse
werden in fraglichen Fällen für letztere sprechen.
Ausser den Aneurysmen der Aorta und ihrer Aeste verdienen noch
diejenigen der Lungenarterie Berücksichtigung. Dieselben sind, soweit
sie den Stamm der Art. pulmonalis betreffen, ausserordentlich selten ; un-
gleich häufiger trifft man kleine Aneurysmen an den Verzweigungen der-
selben in Cavernen an, Avelche alsdann die Ursache von profusen Lungen-
blutungen werden können. Die grossen Aneurysmen können als pulsirende
Tumoren an der Oberfläche der Brustwand zum Vorschein kommen, u. zw.
meist im zweiten linken Intercostalraum. Eine sichere Unterscheidung von
Aortenaneurysmen (namentlich des aufsteigenden Theils und des Bogens)
ist nicht immer möglich; namentlich können die Verdrängungs- und Com-
pressionserscheinungen bei beiden dieselben sein. Bei Stellung der Diffe-
rentialdiagnose werden folgende Punkte in Betracht kommen und zu
Gunsten eines Aneurysma der Art. pulmonalis sprechen : eine etwaige
Hypertrophie des rechtem Ventrikels, Störungen der Athmung und im Pul-
monalkreislauf und fehlende Verspätung der peripheren Pulse gegenüber
dem Spitzenstoss.
Ein Aneurysma kann sehr lange, 10—20 Jahre, getragen werden. Die
durchschnittliche Dauer hat Lebert auf 15 — 18 Monate, gerechnet von dem
ersten Auftreten der Symptome, festgestellt. Der tödliche Ausgang kann durch
allgemeinen Marasmus, Lianition, durch Erstickung in Folge von Compression
der Trachea oder eines Bronchus oder durch intercurrente Krankheiten
erfolgen ; sehr häufig auch plötzlich durch Ruptur nach aussen, oder in die
Pleuren, Herzbeutel, Bronchus, Trachea etc.
Die Gefahr eines Aneurysma besteht vor Allem in seiner Nei-
gung zu fortdauernder Vergrösserung. Offenbar muss es dabei an einen
ARTERIENECTASIE. 121
Punkt anlangen, an welchem benachbarte Organe durch Compression in
ihrer Integrität und Function gestört werden. Welche Organe in Mitleiden-
schaft gezogen werden, das richtet sich hauptsächlich nach dem Sitze und
der Wachsthumsrichtung des Aneurysma.
Bei dieser Lage der Verhältnisse wird man sich therapeutisch vor-
zugsweise auf die Bekämpfung der besonders lästigen und schmerzhaften
Symptome zu verlegen haben, da die Bemühungen, Aneurysmen der Aorta
zur definitiven Heilung zu bringen, bisher nur wenige glückliche Resultate
ergeben haben.
Symptomatisch hat man besonders gegen die neuralgischen
Schmerzen und die Schlaflosigkeit anzukämpfen. Gegen erstere wird man
salicylsaures Natron und Arifipijrin mit einigem Erfolg anwenden. Bei den
Stenokardischen und asthmatischen Anfällen und den damit verbundenen
Schmerzen sind Jodpräparate häufig recht wirksam: Jodkalium und Jod-
natrium; wenn dieselben versagen, sowie bei anhaltender Schlaflosigkeit,
wird man von den Narcoticis vorsichtigen Gebrauch machen: Bromkalium,
Sulfonal, Somnal. eventuell Cldoralln/drat. Den sichersten Erfolg versprechen
die subcutanen Injectionen von Morphiimi. Bei starkem Herzklopfen und
starkem Pulsiren und Hüpfen der arteriellen Gefässe, Eisblasen auf die
Herzgegend (nicht unmittelbar, sondern gemildert durch eme dazwischen
gelegte Leinwandlage) und innerlich Digitalis eventuell zusammen mit Stro-
pliantus oder Valeriana. Ln Allgemeinen wende man ein rationelles
hygienisches und diätetisches Regime an, wobei alle stärkeren
Bewegungen und Anstrengungen, sowie jede geistige Anstrengung möglichst
vermieden werden. Man lasse leicht verdauliche und nahrhafte Kost, na-
mentlich viele grüne Gemüse (Spinat, Spargeln, Salate, frische Früchte)
gemessen und für ausgiebige, regelmässige Leibesöffnung Sorge tragen.
Jede stärkere körperliche Bewegung und Anstrengung, sowie namentlich
starkes Pressen beim Stuhlgang kann zu einer Perforation des Aneurysma
führen. — Wenn das Aneurysma als sichtbarer, prominirender Tumor nach
aussen tritt, so schütze man dasselbe durch eine geeignete, hohl gearbeitete
und sorglich gepolsterte Pelotte von Metall vor Druck. Quetschung oder
anderweitigen Verletzungen.
Vielfache Versuche sind gemacht worden, um ein Aneurysma zur Ob-
literation und' damit zur Verkleinerung und schliesslichen Heilung zu
bringen. Während dies bei den peripheren Aneurysmen vielfach gelungen
ist, hat man bei denjenigen der Aorta bisher nicht grosse Erfolge erzielt.
Lnmerhin verspricht in einzelnen Fällen die eine oder andere Me-
thode einige Aussicht auf Erfolg, der leitende Gesichtspunkt, von dem man
dabei ausging, war künstliche Schrumpfung und Verkleinerung der Ge-
schwulst, künstliche Gerinnselbildung im Sack, entsprechend den häufig
vorkommenden, sich natürlich bildenden geschichteten Thromben. Ablen-
kung des zufliessenden Blutstromes u. a.
Vom ätiologischen Standpunkt aus versprechen diejenigen Mittel die
grösste Aussicht auf Erfolg, welche den fortschreitenden Degenerations-
process der Arterienwand in ausgiebigster Weise hintanzuhalteu vermögen ;
unter allen Mitteln verdient nach dieser Richtung hin Jodkalium das grösste
Vertrauen, nicht nur in denjenigen Fällen, in denen Syphilis nachweisbar
ist, sondern auch in allen üljrigen. Fortgesetzte grosse und steigende Gaben
des Jodsalzes (2 — 4 Gramm pro die), anhaltende Bettruhe und angemessene Er-
nährung haben nach den Angaben vieler Autoren Aneurysmen der Aorta
zur Verkleinerung, ja selbst zur Heilung gebracht. Ungleich weniger Ver-
trauen verdient die innerliche Darreichung des Seeale cornutum und seiner
Präparate, des PlumLum acetic.tm- u. a.
1 22 ARTERIENECTASIE.
Andauernde Compression durch eine Pelotte kann unter Umständen
die eben angeführte Behandlungsmethode wirksam unterstützen, namentlich
wenn der Tumor sich an einer Stelle der Brustwand vorwölbt, verursacht
aber gewöhnlich grosse Schmerzen und wird daher schlecht vertragen.
Einspritzungen chemischer Substanzen in den aneurysmatischen
Sack, um Gerinnungen zu erzeugen, sind gefährlich, da einzelne Partikel
leicht in den Blutstrom gelangen und zur Bildung von Embolien Veran-
lassung geben können. Die angestellten Versuche mit Eisenchlorid haben
nicht zu den gewünschten Resultaten geführt und sind aufgegeben worden.
Empfehlenswerther erscheint Injectiou von Fibrinferment in den Sack,
selbst oder von Ergotin (0.1 —0.3 Gramm Extr. See. cor n. aquos. in Wasser oder
Glycerin gelöst) in die Umgebung des Sackes. Das Ergotin soll die glatten
Muskeln in der Wand des Aneurysma zur Contraction bringen. Unter den
Mitteln, welche Gerinnselbildung im Aneurysma erzeugen sollen, verdienen
ferner die EJectrolyse und Electroyunctur erwähnt zu werden, wobei man
isolirte Nadeln in das Aneurysma einsticht und den constanten Strom hin-
durchgehen lässt.
Diese Methode ist von Petrequin zuerst im Jahre 1831 empfohlen worden. Die
Literatur über diesen Gegenstand, sowie die Anzahl der nach dieser Methode operirten
Fälle ist sehr gross Ciniselli hat 45 Fälle mit angeblich 5 Heilungen gesammelt, Vivian
PovKE fand 6 Todesfälle unter einer klfeinen Zahl von Fällen, Petit 152 Fälle mit
69 Besserungen, 38 Todesfällen und 45 misslungenen Operationen. Die Besserungen
hielten in 37 Fällen nur ganz kurze Zeit, in den übrigen auch nicht viel länger an.
Jaccotjd hat viermal die Elektropunktur des Aneurysma der Aorta ascendens ausgeführt,
jedoch ohne Erfolg; desgleichen Wilson. Black stiess zwei isolirte Nadeln an entgegen-
gesetzten Stellen in den Tumor und brachte sie mit 30 Elementen einer LECLANCHE'schen
Batterie in Verbindung. Der Strom ging eine Stunde hindurch, dann wurde er gewendet
und wieder ^j^ Stunde hindurch geführt. Trotz viermaliger Wiederholung fand sich keine
Coagulation im aneurysmatischen Sack. Die Operation war sehr schmerzhaft. In andern
Fällen wurden mehrex'e isolirte kleine Nadeln mit dem einen Pol in Verbindung gesetzt
und rund herum in den Tumor eingestochen, während die Nadel des andern Pols ins
Centrum der Geschwulst eingesenkt wurde. In einem Fall von Black, der in dieser Weise
galvanopunctirt wurde, erschien der Tumor nach der Operation viel prominenter, die
Pulsation distincter, die Haut über demselben intensiv roth und entzündet. Der Tod
erfolgte sehr bald im Coma; Coagulation war im Sack trotz wiederholter Galvanopunctur
nicht eingetreten. In einem andern Fall von Chxjrtox wurde ein pulsirendes Aneurysma
der linken Brustwand viermal galvanisch punctirt; nach der vierten Punction cessirte
die Pulsation, 20 Minuten später erfolgte der Tod. Gibbons theilt 2 Fälle von Aneurysma
mit, die galvanisch punctirt worden waren. Beide Fälle endeten sehr -bald letal, und in
beiden fand man feste Klumpen an den Einstichsstellen. Aus diesen Fällen, die ich um
viele andere vermehren könnte, ersieht man, dass der operative Eingriff weder ein
therapeutisch sicherer, noch ungefährlicher ist. Eine andere Gefahr, welche durch diese
Methode bedingt wird, besteht in der Bildung kleiner Gerinnsel, welche leicht fortge-
schwemmt werden und als Emboli wirken können.
Eine Oombination der Elektropunctur mit Einführung eines Fremdkörpers in das
Aneurysma versuchte Bakewell, welcher Stahldraht in den Sack einführte und einen
galvanischen Strom hindurchgehen Hess. Der positive Pol wurde mit dem Stahldraht in
Verbindung gesetzt, der negative auf einen Dorsalwirbel applicirt. 1 )er Tod erfolgte nach
vier Tagen ; um den spiraligen Draht fand sich ein hartes Gerinnsel.
Vielfache Versuche'sind auch nach der Richtung hin angestellt worden,
Fremdkörper in das Aneurysma einzuführen, um diese zum
Mittelpunkt oder Kern der Fibrinausscheidung zu machen und auf diesem
Wege umfangreiche Gerinnselbildung zu erzeugen.
In der Literatur der letzten dreissig Jahre findet sich eine grosse Anzahl derartiger
Fälle verzeichnet. Wooke führte im Jahre 1864, wie es scheint als der Erste, 26 Eilen
feinen Eisendraht ein. Der Patient starb am fünften Tage nach der Operation an einer
Pericarditis. Dann füllte Lewis in Philadelphia ein Aneurysma der Subclavia mit 25 Fuss
Kosshaar aus. Der Patient starb nach 14 Tagen; .die Höhle war neben Gerinnsehi mit
flüssigem Blut ausgefüllt". Dann hat Bacelli feine Uhrfedern eingeführt; dieselben
zeigten sich später oxydirt und zerbröckelt. Schköttee, welcher sich am enthusiastischsten
für diese Methode ausspricht, führte in einem Fall von Aortenaneurysma mit pulsirendem
Tumor an der zweiten Rippe in zwei Sitzungen 126 cm Flls de Florence in den Sack
ARTEPJENECTASIE. 123
ein. Es ist dies die aus dem Seidenwurm unmittelbar vor seiner Einpuppung heraus-
gezogene und weiter präparirte eigentliche Seidensubstanz. Nach der ersten Operation
war das Allgemeinbefinden unverändei't, die Temperatur normal. Die Schmerzen im Arm
blieben dieselben; örtlich Avar ganz entschieden ein Härterwerden und geringeres Pulsiren
der Geschwulst wahrzunehmen, und zwar schon sehr bald nach der Operation. Vier Tage
später wurde die Operation wiederholt und dabei 74 cm Fils de Florence, weiche zehn
Minuten lang in einer Lösung von Ferr. oxyd. dialys. gekocht worden war, eingeführt.
Das Allgemeinbefinden unverändert, nur klagte Patient drei Tage später über brennende
Schmerzen, die sich von der Schulter nach dem Arm hinzogen. Die Geschwulst wuchs
bei aller Härte in beiden Durchmessern. Patient verlies drei Tage später das Kranken-
haus und starb 9 Tage später. Bei der Autopsie fand sich rechts unter dem muscul.
pectoralis eine kindskoptgrosse, halbkuglige Geschwulst, welche von der Aorta, 4 cm
oberhalb der Klappe ausgieng. Abgesehen von alten geschichteten Thrombusmassen
fanden sich frische schwarzrothe, lockere Blutgerinnsel, in denen die Fils de Florence
eingefilzt waren. Schköttek spricht sich trotz des Misserfolges sehr befriedigt über den
Verlauf aus und ist der Meinung, dass es gerechtfertigt wäre, den Versuch zu wiederholen.
In der amerikanischen Literatur findet sich ein Artikel von Cattay, worin er auf
acht nach dieser Methode (aber nicht mit demselben Material) ausgeführten Operationen
recurrirt, die sämmtlich letal endeten. Auch zwei von ihm selbst operirte Fälle starben
sehr bald. — Ich selbst habe in Gemeinschaft mit Professor Sonkenbuiic einen Fall von
Aneurysma der Aorta descendens in analoger Weise operirt. Das Aneurj'sma hatte einen
stark prominirenden und palsirenden Tumor von Apfelgrösse zwischen Wirbelsäule und
linkem Scapularwinkel mit umfangreicher Arosion mehrerer Wirbel gebildet. Die Schmerzen
waren unerträglich. Die Operation geschah in zwei Sitzungen; in der ersten wurden
mehrere tiefe Hautschnitte bis auf den Sack angelegt, so dass die Weichtheile ganz fest
und in weiter Ausdehnung mit dem Aneurysma verwachsen waren. Alsdann wurde in.einer
zweiten Sitzung das Aneurysma mit einem eigens dazu angefertigten, nach der Fläche
gebogenem Troicart punctirt, wobei kein Blut nach der Entfernung des Stilets aus der
Canule abfloss Darauf wurde dünn gewalzter Platindraht, dessen Durchmesser genau mit
dem der Canule übereinstimmte, durch die letztere eingeführt und eventuell mit einem
Mandrin weiter geschoben. Auf diese Weise gelaug es einige zehn Meter Draht in das
Aneurysma einzuführen, obwohl derselbe wiederholt abbrach und von Neuem eingeführt
werden musste. Das Allgemeinbefinden veränderte sich absolut nicht. Die Patientin
befand sich recht wohl, fiel aber am zweiten Tage nach der Operation bei einer plötz-
lichen Aufrichtung im Bett in die Kissen zurück und verschied nach wenigen Secunden.
Bei der Autopsie fand sich zunächst eine Ruptur des Aneurysma an der vorderen Fläche
des Sackes, während der Draht in die hintere Wand eingeführt worden war. Im Sack
selbst fanden sich alte geschichtete Thromben, ausserdem einige Stückchen Platindraht
im freien Theil des Aneurysma mit ganz frischen lockern dunkelrothen Blutgerinseln.
Der überwiegende Haupttheil des Drahtes war in den alten Thrombus eingeführt worden,
welcher der hintern Wand des Aneurysma anlag. Daher war der Draht auch wiederholt
abgebrochen. Wenn ich auch glaube, dass in diesem Fall die Ruptur des Aneurysma
unabhängig von dem operativen Eingriff eingetreten war, da der Sack an der Perforations-
stelle bis zur Papierdünne verdünnt war, so zeigt der Fall, dass man leicht in die Lage
kommt, den Fremdkörper in den vorhandenen Thrombus einzuführen, wodurch der Erfolg
der Operation vollständig vereitelt wird.
Ich glaube daher mit Bezug auf diesen und alle übrigen Fälle, die
sämmtlich letal und meist geringe Zeit nach der Operation geendet
haben, dass diese Methode keine Zukunft hat und dass sich im besten
Fall um den eingeführten Fremdkörper lockere Gerinnsel, aber k e i n e
festen Thrombusmassen bilden, die eine Obliteration oder Ver-
kleinerung des Sackes bewirken und so den Naturheilungsprocess nachzu-
ahmen im Stande sind.
Die Methode der Unterbindung aneurysmatisch erkrankter Arterien,
welche namentlich bei peripheren Schlagadern in Anwendung kommt,
wird an anderer Stelle Berücksichtigung finden. Hier möchte ich nur
die sehr geistreiche Methode erwähnen, Aneurysmen durch Unter-
bindung der peripher vom Sacke abgehenden Arterien zur
Heilung zu bringen, da dieselbe auch namentlich bei Aneurysmen des
Truncus auonymus zur Anwendung gezogen wird.
Diese Methode beruht auf dem Gesichtspunkt, den Blutstrom von den Aneurysmen
abzulenken und dadurch Gerinnung in dem Sacke zu erzeugen. Man unterlnudet also bei
einem Aneurysma des Truncus anonymus die rechte Carotis und Subclavia. Diese Methode,
die Unterbindung auf der peripheren Seite des aneurysmatischen Sackes anzulegen, wurde
124 ARTERIOSKLEROSE.
von Bkasdok im Jahre 1795 ersonnen. Desaitlt, welcher auch öfters als Urheber dieser
Operation genannt wird, hat dieselbe niemals ausgeführt. Der Erste, welcher dieselbe
ausführte, war Deschamps und nach ihm Sik Astley Coopek. Doch hat erst Wabdkop
im Anfang dieses Jahrhunderts die Methode verallgemeinert und zuerst ausgesprochen,
dass die Unterbindung aller von dem Aneurysma abgehender Arterienstämme nicht
erforderlich sei. Die Brasdor- Wardrop' sehe Methode ist seitdem, namentlich auch bei
Aneurysmen des Trancus anonymus wiederholt mit glänzendem Erfolg ausgeführt worden.
LITTEN.
Arteriosklerose. Insoferne die Arteriosklerose als Theiler-
scheinung des Marasmus senilis zur Beobachtung kommt, wird diesbezüglich
auf das diesen betreffende Capitel verwiesen und soll im Folgenden nur die
A. als selbständig auftretende Erkrankung zur Erörterung gelangen. In
ätiologischer Beziehung kommen für die A. vor Allem die Lebensweise,
die schwere körperliche Arbeit und der Alkoholgenuss resp. Missbrauch in
Betracht, wobei natürlich öfters das Zusammenwirken auch mehrerer dieser
ätiologischen Momente als schädigende Ursache nicht ausgeschlossen ist.
Wir finden die A. ungemein häufig bei Individuen, die sich dauernd
reichlicher und ausgewählter Nahrungsaufnahme bei mangelnder Körperbe-
wegung hingeben und hiebei oder eben deshalb zu Fettansatz neigen, auftreten.
Aber auch bei nicht fetten, ja selbst mageren Individuen, die nicht im
Essen zu schwelgen Gelegenheit haben, denen jedoch die Zeit und der Wille zu
Körperübungen mangelt, kommt der atheromatöse Process zur Entwicklung
und Ausbildung. Beide Arten von Individuen pflegen zumeist der besitzenden
Classe anzugehören. Eine grosse Zahl arteriosklerotischer Erkrankungen finden
wir andererseits unter der armen, scliicere Körperarheit verrichtenden Be-
völkerung, wobei sich allerdings der Umstand, wie weit der von derselben
geübte Jlkoh oJniissbrauch hiehei eine Rolle spielt, der Beurtheilung entzieht.
Es unterliegt auch ferner keinem Zweifel, dass ein grosser Theil der-
jenigen Alkoholiker, die weder dauernd schwere Arbeit verrichten, noch bei
zu reichlicher Nahrungder Bewegung entsagen, dem arteriosklerotischen Processe
unterliegt. Ebenso kommt auch der Syphilis eine ätiologische Bedeutung zu; es
handelt sich bei derselben jedoch meist um Erscheinungen localisirter Gefäss-
wanderkrankung, vorzugsweise des Gehirns, selten des Herzens. Ebenso stellen
auch Gichtisc-lie ein gewisses Contingent für die Gefässsklerose, doch mag für
Gicht und die A. das gemeinsame ätiologische Moment vielleicht in der reich-
lichen Nahrungsaufnahme und Nahrungsauswahl bei besonderer Pflege der Buhe
gesucht werden können. Auch findet man bei Diahetikern häufig Erscheinungen
vonA. Schliesslich muss noch des Zusammenhanges zwischen Nierensclirumpfung
und A. gedacht werden, wenn auch eine Klärung der Beziehungen in diesem
Punkte noch mangelt. Die Deutung des Zustandekommens des arterioskle-
rotischen Processes unter den eben angeführten ätiologischen Momenten zielt
vorwiegend nach der Entstehung derselben auf mechanischem Wege.
Es kommen hienach als Ursachen vorwiegend Verhältnisse in Betracht,
die eine gesteigerte Inanspruchnahme des Flerzens, zunächst
besonders des linken Ventrikels, veranlassen, und die aus den Widerständen
im arteriellen Systeme in Folge der abnormen Füllungs- und Strömungsver-
hältnisse in den Abdominalgefässen resultiren. Wenn wir dieser Annahme
zunächst bei Individuen, für welche die erstgenannten ätiologischen Momente
der reichlichen Nahrungsaufnahme und des Bewegungsmangels herangezogen
wurden, Rechnung tragen, so stellt sich bei derselben in Folge der reichlichen
Nahrungszufuhr eine besondere Füllung des Pfortaders}^stems und der Chylus-
gefässe ein, die sich unter normalen Verhältnissen bald wieder auszugleichen
pflegt, bei Wiederholungen dieses Zustandes jedoch folgerichtig zu einer gestei-
gerten Füllung des Herzens führen muss, die bei der dauernden Behinderung
des venösen Abflusses — namentlich bei mangelnder Muskelarbeit, die den
ARTERIOSKLEROSE. 125
venösen Abfluss sonst unterstützt — und der arteriellen Blutvertheilung schliess-
lich eine dauernde Belastung des Herzrens darstellt, die Herzarbeit dauernd
steigert. Die sich entwickelnde Gefässüberfiillung, Plethora (ahdominalis) wird
durch den gleichzeitig auftretenden Fettansatz, namentlich im Abdomen,
noch weiter propagirt, und zwar durch die Gefässcompression in den Därmen
durch das im Bindegewebe des Mesenteriums und der Nierenkapsel sich ein-
lagernde Fett, welcher Umstand eine Verlangsamung der Blutströmung in
den Darmgefässen, die in weiterer Folge abnorme Gasentwicklung, Verdauungs-
trägheit mit Stuhlverhaltung herbeiführt, nach sich zieht. Bei mageren Indi-
viduen ist es die in Folge des betreffenden Bewegungsausfalles mangelnde
Peristaltik, die zur Strömungsretardation und consecutiver Ueberfüllung der
Darmgefässe (Hämorrhoiden als Vorläufer) führt. Die Drucksteigerung im
Gefässsysteme als Folge der dauernd gehäuften Widerstände stellt noch nicht
das letzte Glied in der Kette der Erklärungen dar. Die allgemeine Annahme
geht dahin, dass die Gefässwand, speciell die Gefässintima durch den conti-
nuirlichen Druck der gesteigerten Spannung mechanisch gereizt wird und
die Strömungsverlangsamung zur Adliärenz weisser Blutzellen an der Gefäss-
intima führt, durch welche in weiterer Folge Bindegewebsbildung, Verkalkung
oder Verfettung daselbst bewirkt wird. Die Wirkung des Alkohols wird in
der Weise erklärt, dass derselbe speciell die kleineren Gefässe zu stärkerer
Contraction anregen und hiedurch die Herzaction steigern soll, andererseits ist
die Möglichkeit einer directen chemischen Wirkung auf die Gefässintima zuge-
geben. Bei Diabetikern hat man ebenfalls die Möglichkeit einer chemischen
Wirkungsweise für die Entstehung der Arteriosklerose in Betracht gezogen.
Dass auch Baderien unter Umständen auf die Innenwand der Gefässe
derart wirken können, dass es daselbst zur Entwicklung des genannten Pro-
cesses kommt, wird als sehr wahrscheinlicli hingestellt.
Was den Zusammenhang zwischen Schrumpfniere und A. betrifft, so ist
es bekannte Thatsache, dass der arteriosklerotische Process durch Betheiligung
der Kierengefässe zur Schrumpfniere führen kann. Andererseits findet man
aber bei chronischer Nephritis und genuiner Schrumpfniere oft auch Ver-
änderungen an den Gelassen (arterio ccqnUanj ßhrosis der englischen Autoren)
selbst des Herzens, die nach übereinstimmender Meinung als der Ausdruck
einer allgemeinen Endarteriitis aufzufassen sein dürften. Die Untei'suchungen
hierüber sind noch nicht geschlossen.
Die A. kommt vorwiegend erst nach dem 50. Lebensjahre zur Beob-
achtung, doch gehören Fälle, in denen das Leiden bald nach dem 30. Jahre
auftritt, nicht zu den seltensten Erscheinungen. Das männliche Geschlecht ist,
wie dies die ätiologischen Erörterungen verstehen lassen, in überwiegender
Mehrzahl von dieser Erkrankung gegenüber dem weibliclien betroffen.
Die ersten Stadien des -sich entwickelnden arteriosklerotischen
Processes sind einer sicheren Diagnose nicht zugänglich und auch dann,
wenn die Veränderungen in den Gelassen — dies gilt vorwiegend für die
allgemeine Gefässsklerose — weiter vorgeschritten ist, unterliegt die* Er-
kennung oft den grössten Schwierigkeiten und ist nur vermuthungsweise zu
stellen, da sich das Krankheitsbild (sei es nun bei der allgemeinen, sei es
bei der localisirten Erkrankung der Gefässe) oft nur aus einigen subjectiven
Beschwerden und einzelnen objectiven Symptomen zusammensetzt, die in
ihrer Gesammtheit auch anderen Erkrankungen zukommen.
Wir wollen zunächst die diagnostisch wichtigen Symptome der
entwickelten allgemeinen A., wo dieselbe bereits auch kleine Gefässe ergriffen
hat, in ihrer Aufeinanderfolge anzuführen versuchen.
Obwohl der Process schon längere Zeit bestehen mag, sind subjectiv
oft keine anhaltenden wesentlichen Beschwerden vorhanden, namentlich so
126 ARTERIOSKLEROSE.
lange der Herzmuskel genügend ernährt ist. Die Patienten werden durch
Athemnoth und Beklemmungen von kurzer Dauer, und zwar meist nach
Muskelanstrengungen oder psychischen Affecten, die vordem ohne JSTachtheil
ertragen wurden, aufmerksam, dass ihr Gesundheitszustand eine Störung er-
litten. Die objective Untersuchung ergibt einen nur wenig von der
Norm abweichenden Befund, da die bereits entwickelte Hypertrophie des
linken Ventrikels und seine erst in späteren Stadien des Processes wesent-
liche Dilatation durch die meist gleichzeitig vorhandene Volumsvergrösserung
der Lunge verdeckt ist. Als wichtigstes, weil einziges objectives, für die
Diagnose verwerthbares Symptom dient die Härte des regelmässigen Radial-
pulses, die palpatorisch auch an anderen Gefässen nicht schwer zu erkennen
ist. Kommt dazu noch der fühlbar oder sichtbar geschlängelte Verlauf der
Arterie, wie dies sehr oft an den Temporal-Arterien zur Erscheinung kommt,
so ist die Erkenntnis schon leichter geworden. Der auscultatorische Befund
am Herzen ist in Folge der Lungenveränderung, die die Prüfung des Spitzen-
und des Herzstosses und die percutorische Bestimmung der Herzgrösse ver-
eitelt, oft undeutlich oder anscheinend normal und dann ist am Manubrium
sterni eine Andeutung der Verstärkung und des Klanges der Töne zu con-
statiren. Bei Fehlen der Lungenblähung ist der Klang der Herztöne an der
Auscultationsstelle der grossen Herzgefässe oft besonders deutlich und für
die Diagnose verwerthbar.
Anfälle von carcUalem Asthma die wohl von den Angina pectoris-Paro-
xysmen zu trennen sind und die ein Fortschreiten des Processes resp. die
eintretende Compensationsstörung andeuten, treten allmälig in den Vorder-
grund der Erscheinungen und werden mit der Ausbreitung der Muskel Ver-
änderungen des Herzens häufiger und intensiver, schliesslich treten auch
Anfälle von Angina pectoris auf.
Hat man durch lange Zeit und auch in dieser Periode der fort-
schreitenden Ausdehnung des Processes, der auch das Myocard
in Mitleidenschaft gezogen, den Puls dauernd beobachtet, so fällt nunmehr
auf, dass seine Härte abgenommen hat, er ist jetzt auch frequenter geworden.
Es stellt sich vorübergehend Arythmie ein, die im weiteren Verlaufe, ent-
sprechend den Veränderungen am Myocard selten mehr schwindet. Wir finden
jetzt auch die Dilatation des rechten Ventrikels entwickelt und die hiedurch
begünstigte Stauung im Pulmonalkreislaufe führt zum chronischen Stauungs-
katarrh der Bronchien, der den Patienten mit wechselnder Intensität bis zum
Lebensende begleitet.
Li Folge der mehr oder minder entwickelten Herzschwäche — nach
dem degenei'ativen Processe am Myocard — kommt es zu Stauungserschei-
nungen, Hydrothorax, Leber- undMilzintumescirung, Oedem der Beine, Ascites,
die sich nur selten mehr vollständig bannen lassen, öfter jedoch noch für
kurze Zeit einen geringen Rückgang zeigen können. Oft bringt ein acutes
Lungenödem den Kranken dem Exitus nahe, doch kann auch diese Erschei-
nung nach öfterem Auftreten wieder zurückgehen. Der Exitus in Folge von
rasch eintretender Herzparalyse, auch manchmal im Angina pectoris-Anfall
ist ein häufiges Vorkommnis bei diesem Leiden. Abweichend von dem bisher
geschilderten Symptomen-Bilde und Verlaufe gestalten sich die Erscheinungen,
wenn es sich um vorzugsweise Localisation der Gefässsklerose in den Coro-
narien handelt. Bei sehr rapidem Verlaufe (mit Exitus nach vorhergegan-
gener Cyanose, Dyspnoe und Collaps) fehlt 'das wichtige Symptom der Puls-
härte in Folge der geringen oder noch nicht entwickelten Hypertrophie des
linken Ventrikels, andererseits findet man bei rasch eintretenden Verände-
rungen am Herzmuskel die Dilatation schon in relativ kurzer Zeit ausgebildet
und nachweisbar. In beiden Fällen ist meist Angina pectoris vorhanden,
ARTERIOSKLEROSE. 1 2 7
wobei nach rasch eintretendem Coronar- Verschluss, wie erwälmt, Exitus b^ld
und plötzlich einzutreten pflegt.
Bei mehr protrahirtem Verlaufe kommen unter Vorantritt der Anfälle
von Angina pectoris mehr pulmonale Symptome zum Vorschein.
Bei der eben angeführten acuten und subacuten Form des Verlaufes
ist die Diagnose meist sehr schwierig, ja oft unmöglich zustellen; die oft
in kurzer Zeit sich entwickelnde und rasch fortschreitende Blässe vermag
die Aufmerksamkeit auf die Coronar-Arterien zu lenken.
Ebenso schwierig ist die Diagnose oft auch in den chronisch verlaufenden
Fällen von Coronar- Sklerose, die zu mehr oder minder schweren Muskelver-
änderungen geführt hat, da in solchen Fällen auch wieder der Puls keinen
wesentlichen Aufschluss zu geben im Stande ist. Die hiebei auftretenden
Anfälle von Angina pectoris entscheiden allerdings für die Diagnose der
Arteriosklerose der Coronarien, namentlich da, wo gleichzeitig Ohnmachts-
anfälle und Pulsretardation — Symptome des Fettherzens — vorkommen.
Die arteriosklerotische Schrumpfniere ist diagnostisch nicht immer sicher
zu stellen. Ein reichlich gelassener heller Urin mit niedrigem specifischen
Gewichte, massige Eiweissmengen und Persistenz dieser Symptome selbst
dann, wenn Stauungserscheinungen bestehen, gestattet bei sonstigem Nachweis
von arteriosklerotischen Symptomen das Vorhandensein der Nierengefäss-
sklerose anzunehmen.
Die cerebralen Erscheinungen bei A. der Hirnarterien verlaufen
theils unter dem Bilde der Hirnhämorrhagie, theils unter dem der Arterio-
thrombose. Die erste Afl'ection ist die bei jüngeren Individuen häufigere,
während bei älteren sowohl die Hirnblutung als die Arteriothrombose (mit
oder ohne folgende Erweichung der Hirnsubstanz) vorzukommen pflegt.
Die Prognose der A. ist für so lange eine relativ günstige, als Zeichen
einer besonderen Localisation der Gefässentartung nicht bestehen. Sobald
einmal solche Symptome zur Erscheinung kommen, namentlich bezüglich der
Coronar- und Cerebral- Arterien gestaltet sich die Voraussicht stets schon
bedenklich.
Nachdem die Lebensweise eine grosse Rolle in der Aetiologie der Arterio-
sklerose spielt, so ergeben sich die therapeutischen Massnahmen
zum Theil von selbst. Bei Individuen, die unter Gewöhnung an opulente
Mahlzeiten zu Fettansatz neigen, der Bewegung entbehren und dabei an
chronischer Stuhlverhaltung laboriren, wird vor Allem Regelung der Kost in
quantitativer und qualitativer Beziehung, Alkohol-Entziehung, unter Um-
ständen Flüssigkeits- Entziehung überhaupt und OERTEL'sches Verfahren gute
Dienste leisten.
Dort, wo schon Hypertrophie des 1 i n k e n Ve n t r i k e 1 s besteht, wird
darnach getrachtet werden müssen, die Widerstände eventuell durch Bh/fent-
ziekungen, Darreichung von Laxantien selbst bis zum Eintritte von profusen
Diarrhoen und OERTEL'sche Behandlungsmethode zu verringern.
Hier darf nicht unerwähnt bleiben, dass bei Terraincuren und"Körper-
übungen überhaupt (Ergostat, Z immer giimnastik) eine besondere Vorsicht am
Platze sein soll, um nicht das Gegentheil der beabsichtigten Wirkung herbei-
zuführen. Bei eingetretener Compensationsstörung und abnehmender Herz-
energie muss durch die Herzmittel {Digitalis, Coffein etc.) auf die Anregung
der Herzthätigkeit hingewirkt werden,
Roborirende und excitirende Medication, spärliche Kost, event. Milch-
diät sind im Stande, befriedigende Resultate herbeizuführen.
Bei h y d r o p i s c h e n E r s c h e i n u n g e n können Diuretin ( 4-0 — ö'O pro
die) mit Digital is-lnhm (0-5 — ]-0 pro die) und auch Calomel (0-6 pro die) stets
durch mehrere Tage fortgesetzt, für längere Zeit wesentliche Dienste leisten.
128 ATHETOSE — AUSCULTATION DES HERZENS.
Bei cardialera Asthma bringt die Combination von Digitalis und
Morj^Mum-lDJectionen meist Erleichterung, auch Hautreize sind hier am Platze.
Bezüglich der Therapie bei Angina ])ectoris und bei den cerebralen
Begleiterscheinungen wird auf die betreffenden Capitel verwiesen.
H. V. FRISCH.
ÄthetOSe (Hammoncrsche Kranl'heif), eine eigenthümliche Krampf-
erscheinuug der Finger oder Zehen, in Form von Beugung, Streckung, Ab-
und Adduction continuirlich und ohne die Möglichkeit einer Willeusb eein-
flussung auftretend. Man unterscheidet eine Hemiathetose und eine bila-
terale Athetose: erstere ist viel häufiger und gewöhnlich nur auf die
Finger beschränkt.
Die Hemiathetose zeigt sich gewöhnlich im Gefolge einer als
Hemiplegie auftretenden cerebralen Herderkrankung. Somit gehört die
Hemiathetose zu den posthemiplegischen Krampfzuständen und ist insbe-
sondere auch klinisch mit der posthemiplegischen Hernie ho rea
verwandt.
Nach Kahlee. und Pick sind alle posthemiplegischen Bewegungsstörun-
gen durch die Laesion jenes P.yramidenfaserbündels, das zwischen Thalamus opticus
und hinterem Ende des Nudeus lenticularis aufsteigt, bedingt. Die Verschiedenheit der
bald choreatischen, bald athetotischen Bewegungen wäre auf die Art der Läsion (Reizung,
Unterbrechung. Zerstörung der Bahn) zu beziehen. Eine Keihe von Sectionsbefanden
ergab in der That „typische Herde" zwischen Thalamus opticus und Nucleus lenticularis.
Da man in anderen Fällen keine anatomische Ursache nachweisen konnte, so war man
gezwungen, von einer idiopathischen Hemiathetose zu sprechen.
Die Hemiathetose begleitet einerseits die gewöhnlichen Hemiplegien
des vorgerückten Alters, andererseits ist sie ein charakteristisches Symptom
der als cerebrale Kinderlähmung im frühesten Kiudesalter auf-
tretenden Polioencephalitis acuta (s. d.).
Die bilaterale Athetose wird immer als „idiopathisch" bezeich-
net, d. h. man kennt Ursache und Mechanismus ihres Entstehens noch viel
weniger als die der Hemiathetose. Eine Erklärung sucht man in den Worten
„es handle sich um theils cerebrale, theils spinale Reizzustände motorischer
Faserzüge".
Die in den letzten Jahren publicirten Fälle von bilateraler Athetose weisen
darauf hin, dass die Hirnrinde der Entstehungsort der die beiderseitige A. veranlassenden
Krankheitsprocesse sei. Als solche supponirt man eine chronisch verlaufende Entzündung
mit dem Ausgang in Sklerose (KorajS'yi. Richaediere). Für diese Auffassung spricht
der von Blocq und Blix mitgetheilte Fall, bei dem auch die Gesichtsmuskeln und die
Zunge athetotische Bewegungen zeigte, ferner ein Fall Kkaft-Ebixg's, der mit Hei'ab-
setzung der motorischen Kraft, Steigerung der tiefen Reflexe, Kältegefühl und Sensibilitäts-
ausfall einherging, endlich der von Kurella veröffentlichte Casus, bei dem die Section
allgemeine Hirnatrophie mit Pachymeningitis ergab.
Prognose. Die Athetose ist ein unheilbares Leiden oder prä-
ciser ausgedrückt, ein Symptom unheilbarer Leiden.
Therapie. Nach Gowers wären absteigende Ströme zu versuchen,
GowERS selbst sah eine-- Heilung. Sonst verwendet mau die gewöhnlichen
Nervina (Bromkalium, Arsen u. a.). Hammond, der Entdecker der Athetose,
berichtet über einen günstigen Erfolg durch Nervendehnung.
Auscultation des Herzens und dar grossen Gefässe. (Allge-
meine Uebersicht.)
Technik. Die Auscultation des Herzens ist fast ausschliesslich eine
mittelbare, instrumentelle mit Hilfe des Stethoscops. Die unmittelbare An-
legung des Ohrs kommt wohl kaum in Betracht, da die Herzauscultation
gerade die gesonderte Beurtheilung der einzelnen, auf verhältnismässig
engen Piaum zusammengedrängten Töne und deren Schallquellen anstrebt und
diese isolirt und möglichst wenig von den Nachbarn beeintlusst zur Wahr-
AUSCULTATION DES HERZENS. 129
nehmung bringen will. Die unmittelbare Auscultation auf Distanz ergibt sich
von selbst in den Fällen, wo Herzgeräusche schon in einiger Entfernung vom
Thorax gehört werden. Hier kommen vor Allem in Betracht: das systolische
Geräusch bei Aorten Stenose, Geräusche bei Pneumopericardium, namentlich
wenn gleichzeitige Anwesenheit von Flüssigkeit metallisches, von der Herz-
action abhängiges Plätschern bedingt, ferner auch die (musikalischen) Ge-
räusche, die bei relativer Insufficienz der Aortenklappen von den (noch)
schwingungsfähigen Klappen erzeugt werden. Diese Auscultation par distance
wird selbstverständlich immer durch genaue Stethoscopirung ergänzt werden
müssen. Uebrigens hört man öfters, als allgemein bekannt sein dürfte, mit
dem der Brustwand genäherten Ohr die Herztöne oder wenigstens einzelne
derselben, auch in Fällen, wo gerade keine besonderen Anomalien im Sinne
einer auffallenden Verstärkung vorliegen. Für Fälle, in welchen ein den
Ton verdeckendes Geräusch vorhanden, erweist sich zuweilen Kantenstellung
des Stethoscops nützlich, das Geräusch wird dabei ceteris paribus stärker
abgeschwächt gehört, als der Ton.
Inst rumen teile s. Das zur Herzauscultation benutzte (einfache)
Stethoscop hat seit Laennec's Zeiten allerlei Wandlungen seiner Gestalt
nach Form und Grösse durchgemacht; auch das Material, aus dem es her-
gestellt wurde, hat oft gewechselt, obwohl ein Grund kaum vorliegt, von den
leicht zu bearbeitenden Holzarten (Kirschbaum, Tanne, Zwetschge) abzugehen
und sie durch Metallbleche, Celluloid, Hartgummi, Elfenbein zu ersetzen.
Bei keiner Untersuchungsmethode scheint aber die Form des Instruments so
unwesentlich, wie bei der Stethoscopirung. Speciell ist es eine Illusion, durch
irgendwie gestaltete Trichter am Ohrende die (primären) Töne vor ihrem
Eintritt ins Ohr in merkbarer Weise verstärken zu wollen ; auch ist es bei
der Mannigfaltigkeit der Auscultationsphänomene von vornherein einseitig,
mit einem Ansatz von bestimmter Grösse eben nur Töne und Geräusche
gewisser Qualität und Höhenlage resonatorisch zu verstärken. Mir erscheint
die „physikalisch unbegreifliche Ohrplatte" insofern von Nutzen, als sie, ganz
leicht vertieft, dem aufliegenden Ohr einen gewissen Halt gewährt und ein
leichtes Balanciren des Instruments zwischen Ohr und Brustwand gestattet,
wenn z. B. starke Herzaction das Stethoscop hin und her bewegt, systolisch
hebt, während der Untersuchende diastolisch wieder nachzugeben hat. Ob
man das Instrument so lang machen soll, wie Laennec und Skoda oder
so kurz, wie man neuerdings an Miniaturausgaben von Stethoscopen gelegent-
lich sieht, ist Geschmackssache. Ich komme aus mit einem Instrument von
18 cm Länge, das mir nur ausnahmsweise zu kurz erscheint, wenn man bei
Piückenlage des Kranken in der Seitenwand des Thorax auscultiren muss und
mit dem Bett unter Umständen in zu nahe Berührung kommt. Von schall-
verstärkenden Doppelstethoscopen habe ich auch bei experimenteller Prüfung
(vergl. meine Schrift : Messung der Intensität der Herztöne pag. 35)
besondere Vortheile nicht ermitteln können, für die Diagnostik vermögen
sie nichts Wesentliches zu leisten, vor Allem deshalb, weil Geräusche, die
erst auf solchen Umwegen zur Wahrnehmung gebracht werden können, in
praxi im Allgemeinen vernachlässigt werden dürfen, umso mehr als sie
möglicherweise Artefacte darstellen.
Die einzelnen Auscultation sstellen. Man hat für die Klappen
den vier Herzostien entsprechende Stellen an der Vorderwand ties Thorax
fixirt, an deren Wahl Theorie und Praxis gleichen Antheil genommen haben.
Für die Mitralklappe gilt die jeweilige Stelle des Herzstosses unter der
Voraussetzung, dass hier das an die Brustwand anschlagende Herz, unter
normalen Verhältnissen von Lunge nicht bedeckt, den Schall direct durch
die Brustwand leite. Diese Voraussetzung trifft zwar für viele, durchaus aber
Bibl. med. Wissenschaften. T. Interne ATedioin und Kinderkrankheiten. 9
130 AUSCULTATIÜN DES HERZENS.
nicht für alle Fälle zn. Die Berühruntz während des Herzstosses ist ohnedies
nur eine vorübergehende; bei der Beweglichkeit des Herzens, zumal in
Rückenlage des zu Untersuchenden, kann dasselbe von der Thoraxwand ab-
sinken; jedenfalls hört man, auch ohne dass stärkeres Emphysem der Lunge
vorhanden ist, namentlich systolische Töne und schwächere Geräusche öfters
nicht an der Stelle des Herzstosses am deutlichsten, sondern weiter entfernt,
im Aortenwege näher der Herzbasis und dem linken Sternalrand. Die Tri-
cuspidalklappe wird auscultirt in der Höhe des V. und VI. rechten
Rippenknorpels und auf dem anliegenden Sternaltheil, so ziemlich der ana-
tomischen Lage entsprechend, was auch für die Auscultationsstelle der Pul-
monalarterien klappen im Sternalende des IL linken Intercostalraums
gilt; sie befinden sich, in ihrer Lage übrigens etwas wechselnd, ein wenig
weiter abwärts hinter dem Sternalansatz des 3. linken Rippenknorpels ziem-
lich nahe der Oberfläche. Die symm.etrisch zu den Pulmonalklappen im IL
rechten Intercostalraum zu auscultirenden Aortenklappen liegen von
ihrer Auscultationsstelle mehr als die anderen Klappen ab, hinter dem Sternum
nach rechts hinten unten von den Pulmonalklappen ; die Entfernung der
Aortenklappen von ihrer Auscultationsstelle dürfte ungefährer Berechnung
nach im Erwachsenen mindestens 8 cm betragen.
Intensität der ausculta torischen Zeichen. Ueber die wahre
Intensität pflegt man sich kaum genauere Rechenschaft zu geben, man be-
gnügt sich mit allgemeinen Bezeichnungen, die das Mehr oder Weniger der
Stärke oder die Verschiedenheit zweier unter sich zu vergleichender Töne
zum Ausdruck bringen sollen. Das Ohr hat für das Ausmass des Schalles
selbst nach einfachsten Reciprocitätsverhältnissen keine Befähigung und nur
auf Umwegen konnte H. Vieeordt feststellen, dass unter normalen Verhält-
nissen der Herzton über der Herzspitze reichlich 3mal so stark ist, als der
schwächste, der erste Ton über der Aorta. Nicht zufällig dürfte es sein,
dass in dem System der Herzfehler (s. u.) über die Stärke des ersten Tons
von Aorta und Art. pulmonalis nichts verlautet; sie sind die überhaupt
schwächsten der acht Töne, ihre Abstufungen sind demnach minder auffallend
und verwerthbar. Ein als „sehr laut" (bei einem sonst Gesunden) imponirender
erster Aortenton wurde von mir blos rund -jg der durchschnittlichen Intensität
des I. Mitraltons gefunden. Verbreitet ist die Annahme, die zweiten Töne
über Aorta und der seit Skoda's Zeiten auch diagnostisch verwerthete zweite
Pulmonalton seien ungefähr gleich stark oder eher der Aortenton der stärkere
wegen des unter grösserem Druck erfolgenden Klappenschlusses. Dem ist
nicht so und aus dem vorhin über die Lage der Klappen Auseinanderge-
setzten wohl begreiflich. Der Pulmonalton ist durchschnittlich der stärkere,
im Verhältnis 6:5. Wo die „Accentuirung" des zweiten Pulmonaltons in
Betracht kommt, ist die objective Stärke des gerne zum Vergleich herange-
zogenen zweiten Aortentons zu berücksichtigen ; ist dieser, wie es öfters der
Fall, verhältnismässig sclxwach, so erscheint nicht selten der andere bei einer
unter dem Normalen liegenden Intensität relativ stark. Von den gewöhnlichen
Herzgeräuschen ist zu sagen, dass die laut blasenden, wie sie beispielsweise
systolisch bei ausgesprochener Mitralinsufficienz vorkommen, an Intensität
den ersten Mitralton allerdings übertreffen können, dass aber oft die wahre
objectiv gemessene Intensität dem acustischen Eindruck nicht entspricht und
beträchtlich unter ihr liegt. Die weicheren Geräusche, wie sie gewöhnlich
die Insuö'icienz der Aortenklappen, oft neben dem Ton und diesem sich an-
hängend, begleiten, sind viel schwächer, oft kaum die Hälfte der Stärke
eines ersten durchschnittlichen Mitraltons zeigend.
Zu beachten ist der Wechsel in der Intensität der Geräusche.
Bekannt ist das Manöver, zweifelhafte oder .sehr leise Geräusche durch Agi-
AUSCULTATION DES HERZENS. 131
tation des Kranken, Gehen desselben, Bewegungen der Arme und des Üurapfes
deutlicher zu machen. Es lässt sich der häufig nicht genügend berücksichtigte
Einfluss der Körperstellung dahin präcisiren, dass im Allgemeinen die sitzende
und vollends die liegende Haltung, gegenüber der stehenden, Töne und Ge-
räusche zumeist unter Verlangsamung der Pulsfrequenz verstärkt. Besonders
soll dies hervortreten an der neuerdings empfohlenen (Azoulay) aber wohl
nur in beschränkterem Masse anwendbaren „Position relevee", wobei der
Rumpf horizontal liegt, das Kinn der Brust genähert ist. Arme vertical er-
hoben, ebenso die Unterextremitäten elevirt oder wenigstens die Fersen zum
Becken heraufgezogen werden. Diese Stellung soll die gewöhnlichen (Klappen-)
Herzgeräusche auf das Maximum der Intensität bringen, während z. B, bei
chronischer Myocarditis ein nennenswerther Einfluss nicht bemerkt werden
soll. Die eigentlich pericardialen Geräusche pflegen ohnedies bei aufrechter
und leicht vornübergebeugter Stellung am deutlichsten zu sein. Auch für
beginnende Aortenklappeninsufficienz gibt Gerhardt an, dass sie Ge-
räusche im Stehen liefern könne, die im Liegen fehlen, während es bei be-
ginnender Mitralisinsuß'icienz sich umgekehrt verhält.
A e n d e r u n g e n i m R h y t h m u s. Man pflegt den Rhythmus über den
Ventrikeln als einen trochäischen, den über den grossen Gefässen als jam-
bischen zu bezeichnen, wobei aber mehr der Accent, als die Quantität der
Silben in Betracht kommt. Im Uebrigen nimmt man unter „normalen" Ver-
hältnissen den Gesammtrhythmus als einen durchaus gleichmässigen an, was
streng genommen, nicht gilt. In einer Folge von Herzschlägen können die
Dauern derselben in den einzelnen Individuen um Bruchtheile von Secunden
schwanken: so sind 0'13 bis zu 0 19 Secunden beobachtet an gesunden In-
dividuen, Unterschiede, die ein geübtes Ohr recht wohl wahrzunehmen, wenn
iuch nicht gerade zu taxiren im Stande ist. Es scheint demnach verfehlt,
zumal in pathologischen Fällen, unter Zugrundelegung eines fixen Rhythmus
jedesmal den Entscheid über die Zeitphase, in welche ein etwaiges Geräusch
fällt, treflen zu wollen. Als Galopprhythmus ist von Potain ein nicht selten
zu beobachtender Dreitact beschrieben von anapästischem Rhythmus (- — -)
mit einem angehängten dritten Ton, Er hat sich als Signum pathognomonicum
für gewisse Niereiiafiectionen nicht bewährt, indem er auch bei allerlei mit
Herzschwäche einhergehenden Krankheiten vork(jmmt. Einen gewissen typischen
Rhythmus stellt der für reme Mitralste?wse höchst charakteristische prä-
systolische Rhythmus dar, ein als mehr oder minder stark ausgeprägter,
das diastolische Geräusch abschliessender oder dieses ersetzender Vorschlag der
eigentlichen Kammersystole. Dieses der Vorhofscontractioa entsprechende Ge-
räusch ist im Allgemeinen umso ausgesprochener, je frequenter die Herzaction
und je kürzer die (grosse) Pause ist. Eine besondere Abtrennung noch anderer
Geräusche, z, B. der in die sogenannte kleine Pause lallenden „perisysto-
lischen" und ähnliche dürfte für gewöhnlich entbehrt werden können.
Beiden endocardia 1 en Geräuschen ist innerhalb der Herzrevolution
<äie Einstellung derselben in bestimmte Phasen derselben eine für die Dia-
gnostik ganz wesentliche Sache. So leicht nun, selbst w^jin die Geräusche
leise sind, bei langsamer und regelmässiger Herzaction die Beurtheilung der
Sachlage zu sein pflegt, so gross können die Schwierigkeiten werden bei
frequenterem Puls (100 und mehr) und unruhigem Gang der Herzaction. Es
^ind dies Punkte, die nicht immer genugsam gewürdigt werden und auch
geübte Auscultatoren lassen sich in complicirten Fällen oft mehr vom Gefühl
und gewissen acustischen Erinnerungsbildern leiten, als von ojectiver Er-
fassung der augenblicklich sich bietenden Erscheinungen. Bei Markirung der
Systole fehlt oft genug, gerade in den schwierigeren Fällen, ein distincter
Spitzenstoss oder ein gut fühlbarer Carotispuls und im Besonderen ist es
. • 9*
132
AUSCULTATION
Mitralis
Ostimn venosum sin.
Aortenklappen
Osfiiini arteriosum sin.
Insufficienz
Stenose
Insufficienz
Stenose
Herzstoss
rerstärkt und ver-
breitert, nach
aussen verlagert,
weniger nach
imten
1 T- IX. i ^ i n 1 ■, T T ! schwach his feh-
schwach seihst ::stark, hebend, nach, le^d ^^nig nach
fehlend, nach abwärts verlagert, j^ij^gj^ig verlagert
aussen verlagert. \ weniger nach '^^^ weniger nach
kaum nach unten . aussen anaaon
Dämpfung
Dämpfung hauptsächlich vergrössert
jin der Breite und nach rechts, nach links
oben durch VergTösserung d. 1. Vorhofs
auch nach unten bei'
[stärkerer Hypertro-,
phie d. 1. Ventrikelsj
hauptsächlich ver-Uässig vergrössert
grossert in der i3esonders in die
Lange, oft sehr 1 Länge
bedeutend \
i
Geräusch
systolisch
diastolisch, resp.
präsystolisch
diastolisch
systolisch
I. Mitralton
2. Ton a. d. Herz-
spitze
I. Aortenton
Geräusch
verstärkt
" sehwach bis feh-
■ lend (auch wohl
] accidentelles Ge-
räusch)
Geräiisch (oder
auch blos Spal-
tung)
zuweilen Geräusch
[wegen irregulärer
Wandspannung ?]
Geräusch
2. Aortenton
schwach
schwach
Geräusch
schwach bis un-
hörbar
I. Pulmonalton
'[zuweilen a.d.l.Ven-i
itrikel in den 1. Vor-:
hof fortgeleitetes
Geräusch, das sich:
Inach den Gefässen
fortpflanzt]
2. Pulmonalton
accentuirt
accentuirt, nicht
selten gespalten
Radialpuls
Halsgefässe
ziemlich kräftig,
im ganzen regel-
mässig
durchschnittlich
; kleiner u. arhyth-
l mischer als bei der
Insufficienz
celer et magnus, j-iein, hart, oft we-
öfters mit dem Ste-i ^^j^ frequent
thoskop hörbar '
Ton d. Carotis i
stark oder mitll. Ton der Carotis
Geräusch ! mit Geräusch
Ton fehlend oder|2. Ton fehlend
mit Geräusch ,
Periphere Gefässe
zuweilen Doppel-
ten an Cruralis
Doppelton u. Dop-
pelgeräusch an der
Cruralis, häufig Ca-
pillarpuls an den
Fingernägeln
Bemerkungen
Hypertrophie des bei reinen Fällen ;
linken Ventrikels concentrische Atro
oft massig ent- phie des linken
wickelt Ventrikels
DES HERZENS.
133
f !
Tricuspidalis ' Pulmonalarterien-
klappen
Ostium venös dextr: ^ ,. ^ . , ^
üstiHin artenosum dextr.
Aneurysma
aortae
(relative} Insufficienz Insufficienz Stenose
ascendentis i arcus
i
verbreitert nach
rechts
!
eher abgeschwächl
jalsverstärkt, diffuse
Erschütterung- der
Praecordialgegend
t
1
; verstärkt,
1 nach unten verlagert
vergi-össert nach rechts
und oben rechts (ent-
sprechend dem r. Vor-
hof)
■ verbreitert nach
rechts hin
begrenzte Däm-
pfung rechts vom
Sternum, resp.
pulsirende Ge-
schwulst
Pulsation fühlbar
im Jugulum und
(niitgetheilt) am
Kehlkopf bei ge-
strecktem Hals
systolisch (auf dem
Stemum neben 5. rech-
tem Eippenknorpel)
diastolisch systolisch
nicht nach den Halsgefässen sich fort-
pflanzend
1
nicht typisch
(s. u.)
•
event. linksseitige
Stimmbandläh-
mung (N. recurrens)
Ton oder Ge-
räusch
Ton oder Ge-
räusch
[zuweilen Geräusch
im erweiterten
Gefäss]
Geräusch
schwach
Geräusch meist
tiefer und rauher
als bei Lisuff.
aortae
schwach bis feh-
lend
(klein)
(durch Capillarpuls
der Pulmonal-
arterie ?)
unterbrochenes Ve-
siculärathmen
i
klein
Ungleichheit der
Grösse auf beiden
Seiten und Verspä-
tung für die eine
Halsvenenpuls (systo-
lisch), meist 2Geräusche
*!*
Lebervenenpuls mit i
Zunahme des Volumens
der Leber
kein diastolisches
Geräusch in der
Aorta abdominalis
'wie bei Insufific.
valv. aortae
1
liäufig mit offenem
Foramenovale auch
mit Insufficienz
der Aortenklappen
combinirt
meist angeboren
und mit anderen 1
Anomalien des
äerzens verbunden
(angeb. Cyanose)
134 AUSCÜLTATION DEK LUNGEN.
neben starkem systolischen Geräusch oft schwer zu entscheiden, ob ein etwa
als Diastole anzusprechender Zeitabschnitt rein oder von leisem Geräusch
begleitet ist. Die in ihren Resultaten freilich einigerraassen schwankenden
Untersuchungen haben etwa ergeben, dass unter normalen Verhältnissen bei
geringerer Pulsfrequenz (60) ca. 30 Proc, bei grösserer (100) 43 Proc. der
ganzen Herzrevolution auf die Systole kommen, dass aber die eigentliche
Diastole bei seltenem Puls Vi—Vs^ durchschnittlich etwa V2 und bei höherer
Frequenz immerhin noch Vg Secunde Zeit beansprucht. Auch diesen Um-
ständen dürfte mehr, als es gewöhnlich geschieht, Rechnung zu tragen sein ;
die einzelnen Phasen der Herzrevolution ändern sich mit der Pulsfrequenz
in verschiedener Weise. Es gibt also auch nach dieser Seite hin keinen
fixen, durchwegs anwendbaren Rhythmus. Gerade die Ventrikeldiastole wird
weniger bei der Auscultation der Aorta und Pulmonalis, wo der beginnende
Klappenschluss deutlich markirend eintritt, als bei der Mitralis von Unge-
übten leicht zu kurz angesetzt, umso mehr, als die (Prä-) Systole des Vor-
hofs, wenn sie nicht gut ausgeprägt ist, mit der Ventrikelsystole zusammen-
genommen wird beim Vorhandensein lauter Geräusche. Ein geübtes Ohr
wird aber oft noch in einem scheinbar gleichmässig sich hinziehenden Geräusch
Hebungen und Senkungen und damit mehr oder minder typische Merkzeichen
verschiedener Herzphasen wahrnehmen können, bei sehr lauten Geräuschen be-
sonders dann, wenn man die Auscultation nicht auf die Punkte der stärksten
Intensität beschränkt, sondern auch in der Nachbarschaft übt, wo der domini-
rende und nicht selten störende Eindruck des lauten Geräusches mehr zurücktritt.
Unter Verzicht auf eine genauere Darlegung der sogenannten accidentellen
(anämischen) Geräusche, die nur einen begrenzten diagnostischen Werth haben,
ist in der pag. 132 und 133 dargestellten Tabelle eine hauptsächlich die Aus-
cultation berücksichtigende schematische Charakteristik der wich-
tigsten Herz (klappen) fehler gegeben, wobei dieselben isolirt, nicht mit
anderen complicirt gedacht sind, was häufig genug nicht der Fall ist. So
kommt beispielsweise Aortenstenose meist mit Insufficienz der Klappen,
Stenose der Mitralis oft mit Insufficienz derselben vor. Die Stenose des rechten
venösen Ostiums, als ein für sich allein nicht vorkommender, zudem überaus
seltener Klappenfehler ist w^eggelassen. h. vlerordt.
Auscultation der Lungen. Man auscultirt die Lungen am zweck-
mässigsten direct, ohne Stethoscop. Nur an bestimmten Stellen muss ein
Stethoscop (vergl. den Artikel : Instrumente zur klinisch - diagnostischen
tJntersuchung) angewendet werden. Solche Stellen sind : der Supra- und minde-
stens der äussere Winkel des Lifraclavicidar-Rsiumes, der A.riUarraum, even-
tuell auch der Lanjnx und die Trachea. Bei Schwerkranken muss das fle-
xible Stethoscop zur Anwendung kommen, wenn man sie überhaupt auscultiren
kann. Die zu auscultirende Stelle muss nicht vollständig entblösst sein. Ein bis
zwei Lagen nicht zu dickes, nicht steifes Gewebe — Leinwand, Flanell etc.
— ändern bei directem Auscultiren die hörbaren Phänomene nicht wesentlich.
Beim gesunden Menschen hört man an der ganzen Thoraxoberfläche mit
Ausnahme des kleinen Raumes der totalen Herzdämpfung ein Inspirations-
und ein Exspirationsgeräusch. Letzteres kann stellenweise ganz fehlen. Spricht
der zu Untersuchende während des Auscultirens, so hört man auch die
Sprechstimme mehr weniger abgeändert durch Alle diese hörbaren Erschei-
nungen können als diagnostische Behelfe dienen.
I. Respirationsgeräusche.
Das Inspirationsgeräusch ist entweder vesiculär (schlürfend) oder
unbestimmt. Typisch vesiculär nur bei Kindern in den ersten Lebensjahren.
AUSCULTATION DER LUNGEN. 135
Bei Erwachsenen um so weniger vesiculär, je kräftiger der Thorax und die
Musculatur entwickelt sind, je älter das Individuum und je ruhiger die In-
spirationsbewegung ist. Man kann sonach sagen, dass beider Mehrzahl
erwachsener, gesunde i' Menschen das Inspirationsgeräusch
unbestimmt ist. Das Exspirationsgeräusch besteht aus einem kurzen,
meist auch schwachen Hauchen, das bei Erwachsenen nach abwärts noch
schwächer wiid, wohl auch ganz fehlt. Am Larynx und an der Trachea hört
man sowohl beim In- als beim Exspirium ein fast gleiches, reines, etwas scharfes
,^h" förmiges Bronchialathmen.
In Folge von Erkrankungen der Bronchien, Bronchiolen, Lungenalveolen,
sowie der äusseren Umgebung der Lungen erleiden die Respirationsgeräusche
mannigfache Abänderungen.
Man hört bei Erkrankungen 1. die normalen Respirationsgeräusche
mehr w^eniger auffällig abgeändert, 2, ganz neue Schallphänoraene, die im
normalen Zustande gar kein Analogon finden.
Schon das normale vesiculär e oder unbestimmte Inspirations-
geräusch zeigt verschiedene Höhe, Localisirliarkeit, Grösse und Sonorität.
Am häufigsten wird nun die Sonorität auffällig abgeändert. Uebermässig
sonore Geräusche heissen, wenn sie gut localisirbar, auf grosse (weite) Räume
beziehbar und tief sind: rauh bei geringem und „schnurrend" bei hohem
Sonoritätsgrade. Sind sie auf kleine (enge) Räume beziehbar und hoch, so
heissen sie ebenfalls nach dem Sonoritätsgrade scharf und zischend.
Die Sonorität kann aber auch abnorm ansteigen bei verminderter Localisir-
barkeit, d. h. man kann das Geräusch weder auf eine Fläche noch auf
einen sonst begrenzten Raum beziehen, dann erscheinen sie einfach sehr laut,
gross, aber weder rauh noch scharf; sie stellen die Uebergänge zu verschie-
denen Bronchialgeräuschen dar. Zwischen den normalen Geräuschen und den
extremen Graden der genannten Anomalien gibt es alle möglichen Zwischen-
stufen ; je näher diese den extremen Graden stehen, um so sicherer ist ihre
diagnostische Bedeutung. Massige Grade werden nur dann zur Diagnose
herangezogen werden können, wenn sie durch längere Zeit constant und nur
an einzelnen Thoraxstellen gehört werden, so dass von zwei congruenten
Stellen beider Thoraxhälften nur die eine die acustische Anomalie aufweist.
Die diagnostische Bedeutung aller dieser Anomalien ist : massige
Verengerung der Luftwege durch zähes, der Schleimhaut in dünner Lage
aufliegendes Secret, durch Schwellung, Faltenbildung der Schleimhaut, durch
massige Compression der Luftwege an umschriebenen Stellen durch peribron-
chitische Infiltrate, Tumoren aller Art. Das Schnurren wird auf grosse, das
hohe scharfe Geräusch auf kleinere Bronchiolen zu beziehen sein.
Die Diagnose wird sonach immef auf Bronchialkatarrh oder Bronchitis
mit wenig Secret zu lauten haben. Ob primärer oder secundärer muss durch
andere Symptome angedeutet sein.
Das sehr laute, grosse, weder rauhe noch scharfe, nicht localisirbare
Inspirationsgeräusch deutet auf Erschlaffung sowohl des Lungenparenchyms
als der Bronchialwandungen hin, wie solche in erster Linie allerdings bei
allen localen Erkrankungen des Respirationsapparates sich vorfinden, besonders
aber, wenn selbe combinirt sind mit mangelhafter Ernährung, im Allgemeinen
bei Anämien, Reconvalescenz oder mindestens späteren Stadien schwerer
Krankheiten (Typhus, chron. Eiterungsprocesse, Tuberculose etc.), bei massigen
pleuritischen, grossen pericardialen Exsudaten. Ein massig lautes, mittel-
hohes, wie auf eine grössere Fläche localisirbares, dem scharfen sich näherndes
aber doch noch weiches Geräusch deutet zumeist auf Schlaffheit des Lungen-
parenchyms, namentlich an der Oberfläche hin. Man hört es oft vorne oben einer-
seits, oder auch seltener rückwärts unten bei beginnender Emphysembildung.
136 AUSCULTATION DER LUNGEN.
So wie excessive Steigerung kommt auch abnorme Abnahme der
Sonorität und Stärke der Inspirationsgeräusche vor, doch kann selbe nur
dann diagnostische Bedeutung gewinnen, wenn sie nur an umschriebenen
Stellen des Thorax, besonders nur an der einen Hälfte desselben vorkommt,
während sie am übrigen Thorax selbst an der congruenten Stelle der zweiten
Hälfte fehlt; ferner könnte auch noch darauf Werth gelegt werden, dass das
geschwächte Geräusch selbst bei forcirtem Athmen nachweisbar bleibt. Eine
derartige Schwächung des Inspirationsgeräusches kommt vor : bei pleuritischen
Exsudaten, selbst oft bei deren Residuen, bei manchen chronischen Pneu-
monien, beim essentiellen Emphysem.
Auch das Exspirationsgeräusch kann abnorm werden, ohne seinen
ursprünglichen Charakter einzubüssen, indem es lauter, und was wichtiger
ist, länger wird. Die Verlängerung ist oft so extrem, dass das Exspirium
viel länger dauert, als das Inspirium. Die Bedeutung dieses Symptoms ist
in der Regel dieselbe, wie die der oben genannten sehr lauten, grossen, nicht
localisirbaren weichen Inspirationsgeräusche, d. i. also entweder catarrha-
lische und sonstige Verengerungen an einzelnen Stellen der Luftwege, oder
verminderte Elasticität und Retractilität des Lungenparenchyms an umschrie-
benen Stellen.
Abnorme Schallphänomene, die nur unter pathologischen Ver-
hältnissen auftreten, sind a) das Bronchialathraen, b) das Rasseln
und Knistern, c) das Pfeifen und Giemen, d) das Reibegeräusch,
e) der Metall klang.
Das Bronc h ialathmen kann beim In- oder auch beim Exspirium
gehört werden, letzteres ist häufiger. Es kann nachgeahmt werden, indem
man die Consonanten „h" oder „ch" tonlos ausspricht, Variationen desselben
lassen sich herstellen, indem man die genannten Consonanten mit den ver-
schiedensten Vocalen und deren Umlauten combinirt ausspricht. Die weicheren
Bronchialgeräusche erscheinen mitunter sehr gross und lassen eine Art
Nachhall hören, wie wenn ein Luftstrom an der Mündung eines geschlossenen
Luftraumes vorbei oder in denselben hineinbläst (amphorisches Geräusch).
Die Bronchialgeräusche sind mitunter nur vom Larynx und der Trachea her fort-
gepflanzt, viel häufiger an der Auscultationsstelle gebildet zu hören. Zu den
ersteren gehören manche in der Nähe der Trachea vorne sowohl als rück-
wärts zu hörende, in der Regel grosse, massig laute „h" förmige Bronchial-
geräusche. Sie deuten auf luftleeres, stark erweichtes Lungenparenchym in
der Nachbarschaft der Trachea hin, wobei in dem erkrankten Parenchym
gar keine Schallbildung erfolgt. Hört man es rückwärts tiefer, etwa in der
Gegend des Schulterblattwinkels, so kann es auf pleuritisches Exsudat hinweisen.
Sonst deuten alle Bronchialgeräusche darauf hin, dass an der Auscul-
tationsstelle luftleeres Lungenparenchym von guter Schalleitung, also mehr
weniger verdichtet sich befindet, in welchem einzelne Bronchien verlaufen, die
selbst lufthaltig, mittelst eines Bruchtheiles der von ihnen abzweigenden
kleineren Bronchien zu lufthaltigem Parenchym führen und daselbst den
Respirationsprocess unterhalten. Sie sind somit beinahe von pathognostischer
Bedeutung für Pneumonien besonders croupöse und tuberculöse, nur selten für
catarrhalische. Ausnahmsweise können sie wohl auch in Folge circumscripter
Compression des Lungenparenchyms durch äussere Ursachen, Tumoren aller
Art ganz besonders grosser Bronchialdrüsen und Aehnliches bedingt sein. Mit
Rücksicht auf die Variationen der Bronchialgeräusche lässt sich constatiren,
dass die sehr grossen amphorischen oder auch einfachen Geräusche zumeist
auf Cavernen mindestens aber auf weite Bronchien zu beziehen sind, wo sie nicht
etwa als vom Larynx oder der Trachea fortgeleitet erkannt werden. Die
„h"förmigen unterscheiden sich von den „ch"förmigen zumeist dadurch, dass
AUSCULTATIOX DER LUNGEN. 137
letztere an der Auscultationsstelle direct gebildet, während erstere aus
einiger Entfernung dahin geleitet werden.
Unter Rasseln und Knistern versteht man ein nur selten aus einem
einzelnen, meist aus mehreren, ja sehr vielen momentanen Schallstössen be-
stehendes Geräusch. Die einzelnen Schallelemente folgen bald langsam in
geringer Zahl, bald schneller aufeinander, oft so dicht, dass sie beinahe zu
einem einheitlichen, gedehnten Geräusch zusammenfliessen, wobei aber der
Grundcharakter doch immer leicht zu erkennen ist. Nur selten verschmelzen
sie zu einem wirklichen einheitlichen Geräusch, dem feuchten Schnurren. —
Sowohl Rasseln als Knistern lässt sich experimentell herstellen. Ersteres einmal
wenn man in ein in Wasser zum Theile getauchtes Rohr Luft einbläst, wobei
die Luft wieder an die Oberfläche dringt, dort Blasen bildet, die sofort platzen
und dabei einen momentanen Schallstoss hören lassen. Diese Schallstösse folgen
nun mehr weniger dicht auf einander und liefern ein dem, aus dem Thorax
hörbaren Rasseln, wenn auch nur in geringerem Grade ähnliches Ge-
räusch. Eine andere Methode, Rasselgeräusche experimentell herzustellen,
besteht darin, dass man verschieden grosse, dicke und steife Papierblätter
vorsichtig "knittert. Auch da entstehen bald vereinzelte, bald zahlreiche mehr
weniger dicht auf einander folgende Schallstösse, die von dem Wasser-Luft-
blasenschall immer deutlich zu unterscheiden sind. Geräusche im Thorax,
die letzteren mehr weniger ähnlich sind, heissen feuchte, solche, die dem
Papierknittern ähnlich sind, heissen trockene Rasselgeräusche. Bei
beiden unterscheidet man gross-, mittel- und kleinbl asiges Rasseln,
je nachdem die einzelnen Schallelemente denjenigen grösserer oder kleinerer
Blasen gleichen bezüglich der Schallgrösse. Bei trockenem Rasseln werden die
einzelnen Elemente oft so klein und folgen so dicht auf einander, dass selbe
nicht mehr einzeln percipirt werden können, dann nennt man es Knistern.
Es wird nachgeahmt, wenn man etwa krystallinische Salze, z. B. Salpeter
oder auch Fettropfen auf glühende Platten fallen lässt. Uebrigens ist auch
noch das Knistern als gröberes und feineres zu unterscheiden. Sämmtliches
Rasseln und Knistern ist entweder sehr hell und laut, und heisst dann
consonirend — klingend, oder es ist dumpf und schwach — nicht
klingend.
Rasselgeräusche entstehen innerhalb der Bronchien bei Anwesen-
heit von Secreten, Eiter und sonstigen flüssigen Massen, die durch die vor-
beistreichende Luft in Bewegung versetzt M'erden. Sind die Massen dünn-
flüssig, so wird das Geräusch dem feuchten näher stehen, sind dieselben dick-
flüssig, zäh, so dem trockenen. Rasselgeiäusche und Knisterrasseln entstehen
aber auch noch dadurch, dass die Wandungen der kleineren keinen Knorpel
führenden Bronchien, oder die der Alveolen während des Exspiriums anein-
anderklebeh und beim Inspirium wieder auseinander gerissen werden. Bei
den Bronchien ist das nur möglich, wenn die Kreisform ihres Lumens
früher in eine ovale spaltähnliche umgewandelt worden, was eben nur bei
ungleicher Retractilität des umgebenden Lungenparenchyms nach verschiedenen
Richtungen möglich ist. Alle auf diese Art entstehenden Rasselgeräusche
zeigen den trockenen Charakter, und stehen dem wahren Knistern umso
näher, je kleiner die Lufträume sind, in denen sie sich bilden. Das feinste
Knistern kann somit wohl nur auf die Alveolen bezogen werden. Gross-
blasiges Rasseln, sowohl feuchtes als trockenes, kann nur in grösseren Bronchien
oder in Cavernen sich bilden ; kleinblasiges hingegen sowohl in grossen als
auch in kleinen Broncliien.
Bezüglich des hellen, lauten (consonirenden, klingenden) Rasseins ist
zu bemerken, dass nur die extremen Grade diagnostische Bedeutung haben.
Im Allgemeinen ist trockenes Rasseln meist etwas heller als feuchtes. Die
138 AUSCÜLTATION DER LUNGEX.
höchsten Grade des hellen und lauten erfordern das Zusammentreffen mehr-
facher Bedingungen. Wird dasselbe durch flüssige Massen gebildet, so müssen
diese in grösserer Menge vorhanden sein (kleine Mengen lassen in der Regel
nur dumpfes Rasseln hören); ferner muss die Inspirations.esch windigkeit
mehr weniger gesteigert, oder mindestens die Luftstromgeschwindigkeit
örtlich eine grössere sein in Folge verminderter Resistenz also stärkerer
Blähung des bezüglichen Lungenparenchyms; die Entstehungsstelle des
Rasseins muss der Auscultationsstelle möglichst nahe sein ; schliesslich muss
die Schalleitung allenthalben eine wesentlich bessere sein als normal, w^as
eben nur bei starker Erweichung luftleerer Massen der Fall ist.
Die diagnostische Bedeutung der Rasselgeräusche ist mithin
stets die des Katarrhs der Luftwege mit mehr weniger reichlicher Secretion.
Speciell ist gross- und kleinblasiges, nicht helles feuchtes Rasseln auf ein-
fachen Bronchialkatarrh, Knistern auf Lungen- oder Alveolenkatarrh ; trockenes,
schütteres, mittelblasiges Rasseln vorwiegend auf chr.onischen Bronchialkatarrh
besonders bei Emphysematikern zu beziehen. Sehr helles, lautes Rasseln ist
stets auf Katarrh bei entzündlichen Processen namentlich Pneumonien, das
sehr helle, laute sehr grossblasige (plätschernde) Rasseln, wie es so häufig
an den oberen Thoraxpartien zu hören ist, deutet in der Regel auf Cavernen.
Unter Pfeifen und Giemen versteht man einen mehr weniger lauten,
immer sonoren, gedehnten aber doch nur kurz dauernden Schall, der mitunter
rein musikalischen Charakter hat wie das Pfeifen eines dünnen kleinen
Pfeifchens, meist aber gar nicht als musikalischer Ton zu erkennen ist.
Beide Phänomene haben genau dieselbe Bedeutung wie das zischende
schnurrende Geräusch, nämlich Verengerungen höheren Grades in den
Bronchien in bestimmten regelmässigen Entfernungen von der Ausmündungs-
stelie derselben. Ihre Bedeutung ist auch ganz dieselbe wie die der genannten
ähnlichen Phänomene.
Reibe geräusche sind theilweise durch ihren acustischen Charakter
so deutlich gekennzeichnet, dass sie selbst jeder Anfänger sofort als solche
bezeichnen wird, wenn er sie hört. Theilweise jedoch sind sie manchem
trockenen, kleinblasigen Rassel- und groben Knistergeräusch so ähnlich,
dass man sie direct von diesen nicht unterscheiden kann. Man erkennt solche
. Reibegeräusche erst, wenn man sie längere Zeit (mehrere Tage hindurch) in
gleicher Form an gleicher Stelle constant hört, da die ähnlichen Rassel-
geräusche erfahrungsgemäss nicht so constant sind. Schliesslich haben
Reibegeräusche mitunter einen deutlich knarrenden Charakter, wie ihn
etwa neues Leder bei starkem Dehnen, oder gefrorener Schnee beim Betreten
hören lässt. Diese Art von Geräuschen ist auch leicht erkennbar. Sämmt-
liche Reibegeräusche entstehen an der Pleura, durch die respiratorische Ver-
schiebung beider Blätter übereinander, wenn selbe in Folge von Entzündung
rauh geworden sind. Die erste Form immer im Beginne der Entzündung,
bevor noch Exsudat in grösseren Mengen vorhanden ist, schwindet später,
wenn die Pleurablätter durch das Exsudat auseinander gedrängt sind. Die
zweite Form hört man meist bei beginnender Resorption der Exsudate an
solchen Stellen, wo beide mit Bindegewebswucherung bedeckten Blätter sich
wieder zu berühren beginnen. Es kleben nämlich die bindegewebigen Fäden
beider Blätter bei der Exspiration aneinander und werden bei der Inspiration
immer wieder auseinander gerissen. Man hört diese am häufigsten in derUmgebung
des Schulterblattwinkels in gewisser Breite nach abwärts. Die letzte Form, das
Knarren, hört man nach beendigter Resorption, wenn bereits noch nicht gazn
feste Verwachsungen beider Blätter vorhanden sind, die in Folge des inspi-
ratorischen Zuges noch w^enig gedehnt werden. Sie erscheint am häufigsten
rückwärts und seitlich an den untersten Lungenabschnitten. Die Bedeutung
AUSCULTATION DER LUNGEN. 139
der Reibegeräusche ist sonach immer die von Pleuritis, die erste sowohl
von Pleuritis sicca als auch exsudativa im ersten Stadium ; die beiden andern
Formen bedeuten spätere Stadien der Pleuritis exsudativa.
Was den auscultatorischen Metallklang anbelangt, so ist
derselbe theils andern auscultatorischen Phänomenen, der Stimme, den
Respirationsgeräuschen aller Art angehängt, theils hört man ihn, wenn
während des Auscultirens schwach, etwa mit der Nagelspitze, auf ein ange-
legtes Plessimeter percutirt wird. In nur wenig deutlicher Form hört man
den Metallklang über manchen grossen Cavernen, jedenfalls sehr selten;
hingegen hört man ihn ganz exquisit beim Pneumothorax.
IL Die jiuscultatorische Stimme.
Die Stimme kann mit oder auch ohne Stethoscop auscultirt werden,
doch diff'erirt der sinnliche Eindruck in beiden Fällen in sehr hohem Grade.
Zweckmässig ist es beim Auscultiren — wenn man nicht etwa das binaurale
Stethoscop benützt — das freie Ohr mit einem Finger zuzustopfen, um den
Einfluss des Schalles in der freien Luft möglichst abzuhalten. Die Differenzen,
die man an der auscultativen Stimme wahrnimmt, lassen sich nach folgenden
Principien gruppiren : A. nach der objectiven Schallstärke, B. nach der
Sonorität und Localisirbarkeit , C. nach der Articulation der Sprache,
D. nach der Klangfarbe.
Die Stimme kann an einzelnen Stellen wesentlich lauter, stärker
sein als an andern, namentlich an solchen einer Thoraxhälfte lauter als
an denen der andern. Derartige Differenzen müssen freilich sorgfältig con-
trolirt, folglich wiederholt geprüft, alle Irrthumsmöglichkeiten beachtet werden,
dann sind sie aber nicht minder verlässlich, als alle andern Symptome, ja
in einzelnen wesentlich verlässlicher. Ganz besonders gilt das für die Lungen-
spitzengegend. Die Bedeutung der Stimmverstärkung ist immer die der ver-
besserten Schalleitung in Folge von Erschlaffungszuständen des sonst normalen
Lungenparenchyms, wie sie nicht selten, besonders in Initialstadien der
Tuhercnlose sich nachweisen lassen, bevor noch andere objective Zeichen der
Krankheit gefunden werden können. Selbstverständlich findet sich die ört-
liche Stimmverstärkung auch bei allen ausgesprochenen Erkrankungen in
Begleitung aller früher schon genannten auscultatorischen Symptome da,
wo es sich um verbesserte Schallleitung handelt, also bei chronischer Bronchitis,
caiarrhal. Pneumonie etc.
Die Stimme kann aber auch an umschriebenen Stellen auffallend
geschwächt sein, was mitunter den Eindruck macht, als wäre die Schall-
quelle in die Ferne gerückt. Es bedeutet dies immer nur, dass die Schall-
quelle factisch weiter vom Ohre entfernt ist. Am auffälligsten bemerkt man
dies in grossem Umfange beim pleuritischen Exsudat und Emphysem, in
beschränkterem bei chronischen Infiltrationen mit Verstopfung aller Bronchien
in der Umgebung der Auscultationsstelle.
Die Stimme wird an einzelnen Stellen wesentlich sonorer, gewinnt rein
musikalischen Charakter, ohne deshalb immer auch stärker zu sein, dabei ist
sie deutlich localisirbar, erscheint wie aus einem Hohlraum, einem Rohr, einer
Pfeife heraus, manchmal in auffälliger Weise wie der Klang eines Kinder-
trompetchens (Bronchophonie). Sie erscheint bald wie aus einem grossen
Raum (Pectoriloquie) bald wie aus einem mittleren, in seltenen Fällen wie aus
sehr feinen strohhalmdünnen Röhrchen (helles Lispeln, Skoda).
Die Bronch oph onie bedeutet ungeschwächte Fortpflanzung aller
am Larynx gebildeten Töne und Geräusche durch eine einheitliche Luftsäule
bis zum auscultirten Bronchus. Es ist das nur möglich bei verhinderter
Ausbreitung der bezüglichen Vibrationen in einen grössern Luftraum wegen
140 AUTOINTOXICATION.
Mangels eines solchen in der Umgebung des den Schall leitenden Bronchial-
traktes. Hiebei bilden sich in diesem letztern eigene Resonanztöne. Je nach
der Schalleitung bis zur Thoraxwand erscheint die Bronchophonie bald
stärker bald schwächer. Ihre diagnostische Bedeutung ist sonach immer die
einer Infiltration, seltener eines Exsudates an der auscultirten Stelle, letzteres
fast immer nur in der Umgebung der Schulterblattwinkel, während die
sogenannte Pectoriloquie zumeist nur in den obersten Thoraxpartien
gehört wird. In einem gewissen Zusammenhang mit der Bronchophonie steht
die Articulation der Stimme, d. h. die vollständige Unterscheidbarkeit
aller gesprochenen Vocale und Consonanten. Im normalen Zustande fehlt die
Articulation fast vollständig. Man täuscht sich hierüber gewöhnlich, weil
man im Vorhinein weiss, was der zu Untersuchende spricht, oder weil der
Schall von aussen, sei es durch das freie Ohr, sei es durch die
Nasenhöhle oder die Kopfknochen zur Perception gelangt. Weiss man dies
Alles zu verhüten, so hört man von der Stimme immer nur eine Reihe von
Vocalen aber auch nicht immer so wie sie gesprochen waren und nur ganz
vereinzelt Consonanten. Deshalb ist man besonders, wenn Bronchophonie
besteht, nicht selten überrascht durch die vollständige Verständlichkeit des
Gesprochenen, es entgeht dem Hörer oft kein einziger Consonant, und hat
er den Eindruck, als würde ihm direct ins Ohr gesprochen. Diese verbesserte
Articulation hat sonach in der Regel dieselbe Bedeutung wie die Broncho-
phonie, da sie durch dieselben Bedingungen zu Stande kommt.
Bezüglich der Klangfarbe ist zu bemerken, dass die Stimme in
allerdings nur seltenen Fällen einen auffällig näselnden, zitternden
oder meckernden Charakter annimmt (Äegophonie). Nur wenn dieser
Klangcharakter in ganz exquisitem Grade gehört wird, lässt sich ihm
diagnostischer Werth beimessen. Er deutet dann wohl immer nur auf pleurl-
tisches Exsudat Inn. s. stern.
AutointOXication (autogenetische Di/scrasle). Toxisch nennt mau krank-
hafte Veränderungen, welche im Organismus durch chemisch wirkende
Agentien hervorgerufen werden. Da die meisten Substanzen gelegentlich
toxisch wirken können, ist der Umfang des Begriffes Gift fast unbegrenzt.
Autointoxication darf mau dementsprechend zunächst dann an-
nehmen, wenn toxisch wirksame Verbindungen in gewissen
Phasen des normalen oder gestö rten Stoff we chsels imOrga-
n i s m u s s e 1 b s t en t s t e h e n, beziehungsweise in demselben sichanhäufen.
Entstehen lassen bestimmte Ernährungsstörungen dem Körper in der Norm
fremde, direct giftige Stoffe. Durch gewisse Grenzen überschreitende An-
häufung im Haushalte M^erden aber auch ganz adäquate Verbindungen,
Substanzen, welche für die normale Zusammensetzung des Körpers selbst
von Wichtigkeit sein können, und ebenso die typischen Endproducte des
normalen Stoffwechsels Ursache von Selbstvergiftung.
Neben abnormen Bedingungen des Stoffwechsels kommt mit gewissen Ein-
schränkungen als zweite Ursache von Autointoxicationen auch dielufection
in Betracht. Dass die parasitären Mikroorganismen den Infectionsträger
gewisser Stoffe berauben, deren sie zur eigenen Ernährung bedürftig sind
und dass dieselben auch direct toxisch wirksame Substanzen im kranken
Körper erzeugen, kann an einer den Autointoxicationen gewidmeten Stelle
weitere Ausführung nicht beanspruchen. Die Vergiftung, welche in verschie-
dener Gestalt als unmittelbare Theilerscheinung der einzelnen Infecte
sich darstellt, gehört in ein anderes Gebiet. Wohl aber ist an dieser Stelle
die Grösse des Antheiles zu untersuchen, welchen jene Bacterien, die auch
im Normalzustande einen beträchtlichen Theil unseres Darmtractus be-
AUTOINTOXICATION. 141
wohnen und gegen welche wir immun geworden sind, an der Toxicität des
Darminhaltes haben. Und ebenso wird gezeigt werden müssen, inwiefern
sich zur Vergiftung mit den Bacterienproducten die Autointoxication mit
den chemischen Trümmern der Gewebe, sowie mit den veränderten Se-
und Excreten hinzugesellt, wenn die pathogenen Parasiten in den Organen
sich cantonnirt haben.
Wie bei von aussen eingeführten Giften kann auch bei den verschie-
denen Autointoxicationeu die toxische Wirkung der schädlichen Substanzen
im Allgemeinen sich nur äussern als abweichende Function der verschiedenen
Organe, oder zu Aenderungen der chemischen Zusammensetzung des Zell-
inhaltes sowie der Flüssigkeiten im Körper, zu Zerstörung der mole-
cularen Constitution und selbst der gröberen histioiden Striictur der ge-
formten Elemente führen.
Die Vorstellung, dass der Organismus in sich selbst Quellen der Ver-
giftung besitzt, ist eine sehr alte in der klinischen Pathologie. Wenn z. B.
schon bei den Chemiatern zur Erklärung bestimmter paroxystischer und auch
chronischer Dyscrasien die Rede ist von „Fäulnis und Gährung des Blutes"
aus dem Körper immanenten Ursachen oder von sauren und alkalischen
„Schärfen", so enthält dies wohl den Kern einer Lehre der Autointoxication.
Erst der modernen Epoche der Medicin aber blieb es vorbehalten,
an Stelle blosser Speculationen hier thatsächliche Anhaltspunkte zu gewinnen.
Die Auffassung der Uraemie als Harnvergiftung, wie dieselbe seit Bright
von englischen Aerzten vertreten wurde, hat wegen ihres anfänglich ganz
hypothetischen Charakters und weil auch später ihre toxische Grundlage
dem pathologischen Verständnis nur wenig vollkommen zugänglich wurde,
die Lehre von den autogenetischen Dyscrasien nicht so nachhaltig gefördert,
als zu erwarten stünde. Grundlegend jedoch sind hiefür Beobachtungen
geworden, welche Pettees im Jahre 1857 über das Auftreten von Aceton in den
Säften und im Blute bei Diabetes und anderen Krankheiten gemacht
hat. Nicht als ob man heute mehr die genannte Verbindung als alleinige
Ursache des Coma diabeticorum und ähnlicher klinischer Symptomenbilder
ansehen könnte: jene mit vollem Bewusstsein ihrer allgemeinen patholo-
gischen Tragweite vom Entdecker verwerthete Thatsache hat aber die An-
regung gegeben zu einer ganzen Reihe von ebenso exacten als consequenten,
alle einschlägigen Fragen berührenden Untersuchungen. Die Fortschritte der
heutigen physiologischen Chemie haben diesen Arbeiten über das rein Ca-
suistische hinweggeholfen und ihnen eine bestimmte, fruchtbare Richtung
gegeben. Die heutige Lehre von der Säureautointoxication, deren cardinale
Thatsachen wir den Schulen Schmiedeberg' s und Naunyn's verdanken, ist
die Frucht dieser zielbewussten Vereinigung theoretischen und klinischen
Forschens.
So hat die Vergiftmig des menschlichen Organismus durch in ihm
selbst entstandene Substanzen zunächst eine grosse theoretische Bedeutung
erlangt. Wie weit heutzutage hier bisweilen gegangen wird, sei ohne weitere
kritische Betrachtungen beispielsweise dadurch illustrirt, dass die Schule
Peter's den Abdominaltyphus, also eine klinisch autonome Krankheit, in
allen Stücken als vom Kranken selbst erzeugt angesehen und diese Auto-
typhisation erklärt hat als das Resultat der Folgen, welche durch Retention
der Stoffwechselschlacken bei Ueberernährung hervorgerufen werden ! Ab-
gesehen von solchen Rückfällen in die legendenhafte Chemiatrie verfügt
aber der durch die Bezeichnung „Autointoxication" definirte Zweig der
Pathologie auch sonst bereits über ein sehr ansehnliches Thatsachenmaterial,
dessen Sichtung bei dem Vorherrschen der Pathogenie in den Bestrebungen
der zeitgenössischen Medicin ein gewisses Interesse erhoffen darf, umso
142 AUTOrNTOXICATION.
mehr, als die einschlägigen Krankheitsprocesse zum Theil sehr schwere und
wichtige sind, und vor Allem aus der Erkenntnis der Ursachen eine ratio-
nelle Therapie zu erhoffen ist.
Der vorliegende Artikel sollte blos eine einleitende üeber-
sicht über das pathologische Gebiet derAutointoxicationen
bieten. Den Formen der Autointoxication. welche mit wohlcharakterisirten
Minischen Symptomenbildern ausgestattet sind, wird in speciellen Artikeln
"Rechnung getragen werden.
Verweilen wir zunächst beim Stoff we chsel als directer Quelle der
Selbstvergiftung.
Die Avichtigsteu Stoffe des Thierkörpers sind Eiweiss. Fett, Kohlen-
hydrate, Aschenbestandtheile, Wasser. Die chemischen Processe. deren
Gesammtheit den Stoffwechsel darstellt, sind an den fortwährenden Umsatz
dieser Verbindungen geknüpft. Betrachtet man die Störungen des Stoff-
wechsels aus allgemeinen Gesichtspunkten, so kann überhaupt:
1. Die Zufuhr derjenigen Nährsubstanzeu zu den Zellen beeinträchtigt
w^erdeu, welche die vorstehend genannten Stoffe im Körper zum Ansatz zu
bringen, beziehungsweise ihre Verminderung daselbst zu verhüten ge-
eignet sind;
2 die eigentliche Aufnahme der Nährstoffe in die Zellen selbst und
ihre partielle Umsetzung durch einfache, hydrolytische und oxydative
Spaltung, durch Reductionen und Synthesen — sog. Assimilation und Des-
assimilation — gehemmt oder in falsche Richtung gebracht, und
3. die Expuision der Stoffwechselproducte aus den Organen imd aus
dem Organismus erschwert sein.
Im Wesen der Autointoxication ist es gelegen, dass für ihr Entstehen
vorwiegend die beiden 1 etztaugeführten Acte des Stoffwechsels
in Betracht kommen. Jede Störung dieser Acte kann aber unter die
Gesichtspunkte der Lehre der Autointoxication fallen.
Was unter den wichtigsten unsern Organismus constituirenden,
beziehungsweise durch denselben hindurchgehenden Verbindungen zunächst
das Wasser anbelangt, so kommen hier nicht durchaus chemische, sondern
vielfach (molecular-) physicalische Vorgänge in Betracht. Von einer Behandlung
der für die Lehre der Autointoxicationen bisher relativ wenig discutirten
einschlägigen Fragen in einem gesonderten Artikel muss abgesehen werden.
Unter den Aschenbestand t heilen des Körpers nehmen die Alkalien
(und die alkalischeu Erden) den ersten Platz ein. Eine Störung der Gegen-
wirkung der Alkalien in den Gewebsflüssigkeiten und der sauren Educte
der Gewebszellen mit dem Resultate einer Autointoxication erfolgt erfahruugs-
gemäss, wenn unter pathologischen Verhältnissen gewisse Säuren in abnorm
reichlicher Menge gebildet werden, beziehungsweise, wenn die weitere
oxydative Umsetzung bestimmter saurer Zwischenstoffwechselproducte ver-
zögert, und wenn die Elimination gewisser Säuren aus dem Organismus
gehemmt ist. Abgesehen von der gestörten Kohleusäureausscheidung durch
die Lungen erscheint die behinderte Excretion von Säuren durch Haut,
Darm, Nieren von relativ geringerer Bedeutung. Die klinisch wichtigsten
Formen der Säureautointoxication resultiren jedenfalls aus bestimmten
Abnormitäten des Gewebschemismus. Für den Begriff der Säureintoxication
kommt hier nur jene Giftwirkung der Säuren in Betracht, die ihnen ver-
möge ihres allgemeinen chemischen Charakters als Säuren eigen ist. Die
den betreffenden Säuren specifisch eigenthümliche Wirksamkeit, welche in
vergleichbarem Maasse auch ihren Salzen zukommt, hat man in der aus
einer vergangenen Epoche der Medicin herübergenommenen Lehre der
„Säuredyscrasien'- mit Unrecht hier einbezogen. "Ein besonderer Artikel
BALNEOTHERAPIE INTERNER KRANKHEITEN. 143
^Säiirevergiftunf/'' wird eingehend die Maasstäbe zur Beurtheilung der
Intensität der Säureintoxication, wie solche aus dem Gehalt des Blutes
an alkalisch reagirenden Salzen iu einschlägigen Fällen, sowie aus der
Thatsache der sogenannten experimentellen Säureintoxication sich ergeben
haben, discutiren. An derselben Stelle soll die Bedeutimg der Fleisch-
milchsäure, der [:i-Oxybuttersäure, der Acetylessigsäure und des Acetons
für die Säureautointoxication dargelegt werden. Ein reiches klinisches
Material zum Studium einschlägiger Fragen der Selbstvergiftung liefern
Fälle von Diabetes, Carcinom, febrilem Infect. progres-
siver Anämie, Leukämie und endlich gewisse, wahrscheinlich auf
den Darm zu beziehende auto genetische Dys er a sie n. Eine kurze
Besprechung werden auch die Formen der Hyperchlorhydrie und die
chronische Cyanose dort finden.
Hinsichtlich der Ei weisskörper fallen zunächst die Ursachen der
Steigerung de r in den Geweben ablaufenden Eiweissspaltung
theilweise iu das Gebiet der Autointoxication. Der specielle Artikel
„Cachexie" wird dem Nachweise der Gründe gewidmet sein, die das
Carcinom als Intoxicationskrankheit erscheinen lassen. Mit den ein-
schlägigen Bedingungen beim Diabetes wird sich der dieser Stoif- '
Wechselanomalie gewidmete Artikelbeschäftigen.
Da die toxischen und autotoxischen acuten Verfettungen der Organe
als Fettmetastasen betrachtet werden müssen, spielen die Fette in
der Lehre von den Autointoxicationen eine weniger wichtige Rolle.
Die einschlägigen xinomalien des K o h 1 e n h y d r a t - Stoffwechsels finden
in den Aufsätzen über Diabetes und Glycurie ihre Besprechung.
Inwiefern die Erschwerung der Expulsion der Stoffwechselproducte
und die toxische Wirkung der v er schiedenenexcrem enteilen
Stoffe für ausreichend klinisch charakterisirte Formen der Selbstvergiftung
in Betracht kommt, werden die der Urämie, der Cholaemie und der
intestinalen und vesicalen Autointoxication gewidmeten Special-
artikel darthun. Die hier genannten, in pathologischer Hinsicht vielfach
sehr complexen Autointoxicationen hat man bisher, wohl aus praktischen
Rücksichten, immer in den Vordergrund gestellt. Es ist aber nicht zu
leugnen, dass die betreffenden Probleme vielfach aus zu einseitigen
Gesichtspunkten betrachtet worden sind. Die sogenannten Exclusivtheorien
der Urämie sind ein entsprechender Beleg dafür. Voit hat hier zuerst
einen Wandel geschatfen. Die Arbeiten Schmiedeberg's über die Harn-
stoffbildung, die Untersuchungen v. Scheödee's über die Function der
Leberzelle haben neue weite Perspectiven eröffnet. Aber es bleibt das
Verdienst Bouchard's, vom klinisch-pathologischen Standpunkte die Noth-
wendigkeit erwiesen zu haben, dass die toxische Wirkung der normalen
excrementellen Stoffe experimentell geprüft werden muss. Vor Allem hat
dadurch das Studium der Urämie und der intestinalen Formen der Selbst-
vergiftung neue Impulse erhalten.
Die zweite Hauptursache für Autointoxication, die Infection, soll
in einem gesonderten Artikel — Infect nn'! Anfointo.cicafi(m — behandelt
werden. Leider sind die bisher augeführten Beziehungen vielfach rein
hypothetische. f. kraus.
Balneotherapie interner Kranl<heiten. Der Gebrauch von Bädern,
deren Wasser therapeutisch wirksame Bestandtheile enthalten, und das Trinken
sogenannter Mineralwässer gehört zu den ältesten Curmethoden der
praktischen Heilkunde. Da in vorliegendem Sammelwerke Vertreter ver-
144 BALNEOTHEEAPIE INTERNER KRANKHEITEN.
schiedener Disciplinen über „Hi/drofherapie"^ „KUmafotherapie", „Balnea
medicafa^'. „6*?tr und Curen'-'', „Heilquellen^, „Minerahrässer'^ etc. das Wort
nehmen werden, so möge an dieser Stelle nur in Kürze resumirt werden,
welche Indicationen vom Standpunkte des Internisten aus für die Balneo-
therapie der einzelneu internen Krankheiten bestehen.
aSTachstehende Indicationen sind selbstverständlich nur in all-
gemeinen, grossen Zügen entwickelt. Xie darf man ausser Acht lassen, dass
wir in praxi nicht Krankheitstypen, sondern kranke Individuen vor uns
haben. Der Arzt, der seinen Patienten in die Cur schickt, muss sorgfältig
Constitution, Allgemein - Zustand, locale Erkrankung und Individualität des
Betreffenden berücksichtigen, und ebenso muss auch der Badearzt, dem der
Patient überantwortet wird, all' die genannten Momente in Erwägung ziehen.
A. Herzkrankheiten.
Während früher Herzaffectionen eine sichere Contraindication für Bade-
curen abgaben, hat man heute diese Ansicht aufgegeben, indem sich gezeigt hat,
dass balneotherapeutische Garen für Herzkranke bei sorgfältiger Individualisirung
nicht nur zulässig, sondern in der That erfolgreich sein können. Als „specifische
Bäder für Herzkranke" gelten vornehmlich die Quellen mit reichlichem Kohlen-
säure- und Kochsalzgehalt : Nauheim (Hessen-Darmstadt), Eehme (Westfahlen),
Cudowa (Schlesien), Kissingen (Bayern) u. A.
Die Erfahrungen der in den genannten Orten practicirenden Badeärzte
lauten dahin, dass sowohl Klappenfehler, als auch Herzdilatationen
bei intactem Klappenapparat, ja sogar fi-ische End o car ditiden sich für
den Gebrauch dieser Quellen eignen. Nach BoDE können Eesiduen einer eben
abgelaufenen Endocarditis, besonders Auflagerungen auf der Mitralklappe, unter
dem Einflüsse einer Nauheimer Cur gänzlich zum Schwinden gebracht werden.
„Je früher", schreibt Bode, „nach Ablauf der Endocarditis eine Cur in Nauheim
unternommen wird, desto mehr ist Aussicht vorhanden, das endocarditische Exsudat
zum Schwinden zu bringen und damit der Entstehung einer wirklichen Insufficienz
oder Stenose der Klappe vorzubeugen".
Die Wirkung dieser warmen, koldensauren Bäder wird theoretisch als
eine Reizung des Vasomotorencentrums erklärt. Schott vergleicht ihre W^irkung
mit der der Digitalis. Neben dem directen Ha.utreiz von Seite der mineralischen
Bestandtheile ist es insbesondere der Effect der Wärme, welcher eine beträcht-
lichere Strömung des Blutes nach der Oberfläche, eine Verminderung der peri-
pheren Widerstände und dementsprechend eine Erleichterung der Arbeit des linken
Ventrikels verursacht.
Im Gegensatz zu den zahlreichen günstigen Urtheilen spricht sich Oertel
über die Wirkung der Bäder bei chronischer Herzkrankheit dahin aus, „dass es
specifisch wirkende Bäder und Badeorte gegen Kreislaufstörungen nicht gibt
Zwar bringt die Literatur alljährlich das Gegentheil versichernde Be-
richte, aber wir haben -nicht den mindesten Grund, sie in die wissenschaft-
liche Medicin hinüberzunehmen".
Eine allgemein anerkannte und wohl berechtigte Rolle spielen die pur-
gir enden Trink quellen in der Tlierapie der Herzkrankheiten. Der
massige Gebrauch der glaubersalzhältigen Wässer ist bei ]\Iitralklappenfehlern
sehr angezeigt. Die Stauungen im Bereiche der Untei-leibsgefässe und die davon
abhängigen Magendarmkatarrhe werden durch die methodische Trinkcur leicht
purgirender Mineralwässer ganz erheblich beseitigt oder gar vorgebeugt,
KisCH konnte bei Herzkrankheiten bedeutende Leberschwellung nach Gebrauch
einer Marienbader Cur verringert und vollkommen geschwunden sehen. Auch
die Nierenthätigkeit wird durch den Gebraucli von Mineralwasser nicht un-
wesentlich angeregt. Glax empfiehlt als solche kalte, kohlensäurereiche, alkalisch-
BALNEOTHERAPIE INTERNER KRANKHEITEN. 145
salinische Quellen, wie die von Rolutsch- Sauerbrunn. Bei der Verwendung der-
artiger Trinkcuren muss selbstverständlich das Mass der übrigen Flüssigkeits-
aiifnahme wesentlich eingeschränkt werden. Das Mineralwasser darf in der täglich
gestatteten Flüssigkeitsquantität nur als Substitut flüssiger Nahrungsmittel (Suppe,
Milch etc.) eintreten.'
Die Behandlung des Fe ttherzens mittels abführender Trinkcuren ist eine
gegen die allgemeine Fettsucht gerichtete Therapie. Darum eignen sich nur jene
Fälle von Fettherz hiefür, die thatsächlich mit allgemeiner Adipositas einhergehen.
Auch die Herzneurosen bilden ein Object der Balneotherapie. So werden
insbesondere jene Formen von Tachykardie, welche in einer Plethora der Unter-
leibsorgane ihren Grund haben, durch Trinkcuren in Marienbad geheilt. Nach
KisCH gelingt es hiedurch rasch und leicht, die Herzbeschwerden zur Zeit
des Klimakteriums zu beseitigen. Ist Anaemie die Ursache des Herz-
klopfens und damit verbundener asthmatischer Beschwerden, so werden selbstver-
ständlich die Eisenbäder und die Eisen-Arsenwässer ihre vielerprobte Wirkung,
thun. Auch für die Behandlung des Morbus Basedowii haben nach Schott die
Stahlbäder nebst den kohlensäurereichen Thermalsoolbädern die schönsten Erfolge
ergeben.
B, Krankheiten der Athmiingsor^ane.
Bei den K a t a r r h e n d e r o b e r e n L u f t w e g e (acute und chronische Laryngo-
bronchitis) ist die Verordnung von Selteys oder GleicJienhergei\ zur Hälfte mit Milch
gemengt, eine der beliebtesten Ordinationen, indem diese Getränke den Hustenreiz und
das peinliche Gefühl der Trockenheit wesentlich zu mildern vermögen. Wenn man
bedenkt, dass Inhalationen nur auf die Katarrhe der obersten Luftwege (Rachen
und Kehlkopf) einwirken, die tiefer gelegenen Antheile des Tractus respiratorius
dagegen nicht treffen, so wird es begreiflich erscheinen, die Trinkcuren mit
alkalischen Mineralwässern als Ersatz der Inhalationen gelten zu lassen.
Experimentelle Untersuchungen haben sogar ergeben, dass die Alkalien auf die
Catarrhe der Eespirationsschleimhäute viel günstiger einwirken, wenn sie indirect
(per os), als wenn sie direct (per Inhalation) verabreicht werden.
Bei der Behandlung der Lung entub er culose, des Lungenemphy-
sems, des Bronchialasthmas ist es vornehmlich der begleitende ßronchial-
katarrh, welcher Gegenstand medicamentöser Behandlung ist. Da der Werth und der
Nutzen der Expectorantien noch keineswegs vollkommen sichergestellt sind, so sind
es gerade die Alkalien, zu denen war unsere Zuflucht nehmen müssen. Die reiz-
mildernde und schleimauflösende Wirkung derselben kommt aber in keiner Form
so deutlich zur Geltung, wie in der der Mineralw^ässer. Darum schicken wir
unsere Patienten nach Gleichenberg, Selters, Wiesbaden, Ems, Luhatschowitz,
Giesshühl, Bilin, FacMngen etc. etc., wenngleich wohl zugegeben werden muss,
dass gerade die rationelle diätetische Behandlung und der Aufenthalt in guter,
staubfreier Luft einen grossen Antheil an dem günstigen Erfolge solcher Curen hat.
Man pflegt auch noch weitere speciellere Indicationen für die einzelnen
Badeorte zu geben. Plethorische Patienten, die an Bronchialkatarrhen leiden, schickt
man nach Salzbrunn, Lippspringe, Marlenbad, oder zu den kalten Schwefelquellen
{Langenbrücken, Nenndorf) ; bei Katarrhen der Arthritiker empfiehlt man Wiesbaden
oder Baden-Baden, während für die Mehrzahl der an blennorrhoischen Katarrhen Lei-
denden Giesltübl, Bilin, Selters, Elö-Patak Empfehlung finden können. Auch Sool-
quellen sind bei Bronchoblennorrhoe empfehlenswerth, während sie bei trockenen
Katarrhen zu stark reizend wirken. Bei scrophulösen Individuen eignet sich die
Natron-Lithion-Quelle YonWeilbach, desgleichen die alkalisch-saliuischen Quellen von
LuhatscltOH'itz.
C. Magen- und Darmkranklieiten.
Bezüglich der Balneotherapie der Digestionskr ankheiten sagt BoAS:
„Wir sehen unter dem Gebrauche von Mineralwässern einerseits grandiose Er-
Bibl. med. Wissenschaften. I, Interne Medicin und Kinderkrankheiten. 10
146 BALNEOTHERAPIE INTERNER KRANKHEITEN.
folge, die unsere medicamentöse Therapie beinahe in einem armseligen Lichte
erscheinen lassen, und andererseits b'eiben uns auch Misserfolge, ja selbst un-
günstige Beeinflussung der Krankheit nicht erspart".
Die bei den Erkrankungen des Intestinaltractes gebräuchlich verordneten
Quellen pflegt man in folgendes Schema zu bringen :
1. Alkalische Säuerlinge, deren Wirkung vorzüglich auf den Gehalt
an Natriumcarbonat und Kohlensäure zurückzuführen ist. Sie sind in allen jenen
Fällen indicirt, wo eine übermässige Salzsäure-Ausscheidung der Magenschleim-
haut besteht — Hyperacidität, Pyrosis hydrochlorica. — Ein Theil der pharma-
kodynamischen Wirkung der alkalischen Säuerlinge liegt in ihrer schleimlösenden
Eigenschaft. Die am häufigsten angewendeten alkalischen Säuerlinge wären folgende :
Bilin, Fachingen, Vichi], PreMau, Salzbrunn, Giesshühl, Neuenahr.
2. Alkalisch -muriatische Säuerlinge. Sie enthalten nebst Kohlen-
säure und kohlensaurem Natron noch Kochsalz in bedeutender Menge. Nach BoAS
wären es insbesondei-e die secundären Formen der Dyspepsie (Dyspepsie
bei incipienter Phthise, Dyspepsie in Folge von Stauungskatarrhen), und die
chronische Enteritis, für welche diese Quellen zu empfehlen wären. Die
bedeutendsten alkalisch - muriatischen Quellen sind: Luhatschowitz, Gleichenberg
(Constantinquelle), Ems und Selters.
3. Die Kochsalzwässer. Es sind das jene Quellen, bei denen der Koch-
salzgehalt ein ziemlich bedeutender ist, die aber ausserdem noch sämmtlich
Kohlensäure enthalten. Gerade die Kohlensäure ist es, der vielleicht der Haupt-
antheil an dem günstigen Effect dieser Kochsalzwässer zuzuschreiben ist.
„Der Gehalt an Kohlensäure bei den Kochsalzwässern" — sagt HoFPMANN
— „wirkt auf den Magen und übt einen gewissen Eeiz auf die Circulation aus.
Das Wesentliche ist hier die Zufuhr des Wassers, welches durch seinen Salz-
gehalt nach meiner Ansicht den Zellen und Geweben gegenüber sich so neutral
wie möglich verhält und daher in verhältnismässig grosser Menge gut vertragen
wird. Die Verdünnung des Blutes, welche dadurch zu Stande kommt, begünstigt
offenbar eine leichte, reichliche Secretion aller der verschiedenen Säfte, welche
sich in das Innere des Darmcanals ergiessen und so ist die Beförderung der
Verdauung und des Stuhlganges, welche wir durch diese Darreichung hervor-
bringen können, nur die Folge des phj^siologischen Reizes. Ich glaube, dass hier
die Schonung des Darmes eine so vollkommene ist, wie sie überhaupt bei einem
längeren Gebrauche von Mittelsalzen nur sein kann."
Bei acuten und subacuten Magenkatarrhen, bei denen die Magen-
saftpro duction darniederliegt, werden durch den Gebrauch der Kochsalzwässer
binnen kurzer Zeit sämmtliche Symptome, wie Druckgefühl nach dem Essen,
üebelkeiten, Brechneigung gebessert oder gar vollkommen zum Schwinden ge-
bracht. Dagegen gehören die A t o n i e n und Magendilatationen nicht in
die Kochsalzbäder. Die bedeutendsten Kochsalzquellen sind : Nauheim, Alsö-sebes,
Homburg, Pyrmont, Wiesbaden (Kochbrunnen), Bourbonne-les-bains in den Py-
renäen, Kissingen und Soden.
4. Alkalisch -salinische Quellen (Glaubersalzwässer). Sie enthalten
der Hauptsache nach Natriumsulfat, nebst wechselnden Mengen von Natrium-
bicarbonat, Kochsalz und freier Kohlensäure. Die berühmteste dieser Quellen ist
Karlsbad. Die Karlsbader Quellen sind Thermen, während die meisten
übrigen Glaub er Salzwässer Franzensbad, Marienbad, Eohitsch, Elster kalt sind.
Endlich wäre noch die Lucius-Quelle von Tarasp zu erwähnen, die nach Karls-
bad von einzelnen Specialärzten sehr gerne empfohlen wird.
Die Karlsbader-Thermen haben folgende Indicationen :
1. Alle Formen von Dyspepsie, die mit Hyperacidität und massiger Obsti-
pation verbunden sind.
2. Magen-Atonie, combinirt mit habitueller Obstipation.
BALNEOTHERAPIE INTERNER KRANKHEITEN. U7
3. Magen- und Duodenal-Geschwüre.
Dagegen ist die Karlsbader Brunnencur contraindicirt :
1 . in Fällen von beträchtlicher Magenectasie ;
2. bei der Dyspepsia nervosa;
3. bei malignen Neoplasmen des Intestinaltractes.
Die günstige Wirkung der Karlsbader Quellen beim Magengeschwür wird
damit erklärt, dass dieselben die Selbstverdauung der kranken Schleimhaut nach
Möglichkeit hindern, obwohl gegen diese Auffassung von Fromm Bedenken er-
hoben wurde. Jedenfalls sind bei Ulcus ventriculi et duodeni nur die minder
temperirten Quellen zu verordnen.
5. Bitterwässer. Auf dem XI. Balneologen-Congress sprach sich Ewald
über die Behandlung der chronischen Gastritis folgendermassen aus : „Die reinen
Kochsalzquellen sollen dort ihre Anwendung finden, wo man rein stimulirend
auf den Magen wirken will, die alkalischen, resp. alkalis ch- salinische n
Wässer, wo man eine Hyperacidität oder Hypersecretion zu bekämpfen hat und
die Bitterwässer, wo ausser der Magenaflfection Störungen der Darmthätigkeit
vorliegen". Der Gebrauch der Bitterwässer zu Hause ist ein namentlich beim
Publicum so beliebter und allgemeiner, dass die Frequenz in den Curorten da-
gegen wesentlich zurücksteht.
J). Leberkrankheiten.
Seit Stadelmann's Untersuchungen wissen wir, dass die Alkalien die
Gallensecretion vermindern. Der Nutzen der Alkalien bei Gallen wegskatarrhen und
Gallensteinbildungen muss nach Stadelmann darin gesucht werden, dass dieselben
einen günstigen Einfluss auf den katarrhalischen Zustand der Schleimhäute aus-
üben, andererseits darin, dass sie die Alkalescenz des Blutes vermehren. Unter
dem Gebrauche der Alkalien wird eine stärker alkalische Galle abgesondert und
nur dadurch werden Gallenconcremente gelöst und Gallensteine zerkleinert. Karls-
bad und Vichy sind die am meisten gegen Cholelithiasis empfohlenen
Curorte.
In dem Anfangsstadium der Lebercirrhose sind Curen mit Karlsbader
und Marienbader Brunnen, bei schwächlichen Constitutionen solche mit Franzens-
bader oder Elster- Wasser indicirt. Dass bei Stauungsleber die alkalisch-
salinischen Quellen einen günstigen Einfluss ausüben, wurde bereits bei den Herz-
krankheiten erwähnt.
M Nierenkrankheiten;
Schon bei den acuten Formen des Morbus Brigthi wird das Trinken
gewisser Mineralwässer (Selters, Emser, Biliner), gemengt mit Milch, empfohlen.
Bei der chronischen Nephritis wirken die Natron-Säuerlinge {Prehlau,
Bilin, Badein, Giesshühl) als Diuretica, dagegen sind die letzteren contraindicirt
bei acuten Blasenkatarrhen, weil der ohnehin schmerzhafte Harndrang durch diese
nur noch gesteigert wird. Bei harnsaurer und oxalsaurer Diathese, wenn reichliche
Urate im Harnsediment erscheinen, ist der Curgebrauch in Karlsbad, Vichy,
Wildungen und Baden-Badeti angezeigt.
-F. Nervenkrankheiten.
Eines jener Gebiete, auf denen die Balneotherapie wirklich allgemein aner-
kannte Erfolge zu leisten vermag, ist jenes der peripheren Nervenkrankheiten.
Die verschiedenen Formen der Neuralgie, als deren Typus die Ischias gelten mag,
werden durch die Schwefelthermen {Baden, Trencsin-Te'plitz, Pistyan) binnen
kurzer Zeit günstig beeinflusst. Der Tic douloureux wird durch eine purgirende
Cur in Marienbad oft binnen kurzer Zeit geheilt, während früher medicamentöse
Therapie und Elektricität wirkungslos w'aren. Bei der Neuritis multiplex
wird der Gebrauch von 27° Soolbädern empfohlen.
10*
148 BALNEOTHERAPIE INTERNER KRANKHEITEN.
Was die Gruppe der o r g a n i s c li e n Erkrankungen des Central-
nervensystems betrifft, so ist man heutzutage wohl darüber einig, dass weder
bei cerebralen Hemiplegien die Curen in OeyyihauseM, Gastein und -Ragatz,
noch auch bei Mj^elitis der Gebrauch von Thermal soolen oder Moorbädern
irgend welchen besonderen Nutzen zu bringen vermag. Wenn wir Kinder mit spinaler
Kinderlähmung in die Soolbäder {Kreuzenach, Beichenhall, Kolberg), in die
Eisenbäder {Franzensbad, Pi/rmmit, Schivalbach), in die Kochsalzsäuerlinge
{Rehme, Soden) oder in die indifferenten Thermen {Gastein, Johannisbad) schicken,
so sind es nach den Erfahrungen der meisten Practiker nicht die Bäder, als
vielmehr die die Cur begleitenden Umstände und Massregeln, welche eventuell
die Lähmung bessern. Für die Tabes dorsalis hat sich Rehme- Oeynhausen
geradezu einen specifischen Ruf erworben. Nebstdem empfiehlt man auch gegen
di« Tabes die indifferenten Thermen {Gastein, Johannisbad, Teflitz, Pfeiffers)
und die warmen Schwefelbäder {Aachen, Baden bei Wien, Trencsin, Landeck) ;
doch sollen nur Quellen von massiger Temperatur (bis 26° E.) verordnet werden.
Die grösste Wirksamkeit haben Badecuren auf die .sogenannten Neurosen,
wenngleich manchmal auch diese, wie unzählige andere therapeutische Behelfe^
zu versagen pflegen. Bei nervösen Personen, die anaemisch und herabgekommen sind,
empfehlen sich Moorbäder. Die beiden wichtigsten Bestandtheile derselben, das
schwefelsaure Eisenoxydul und die neutralisirbare Schwefelsäure, üben bei ihrer
Application einen kräftigen Hautreiz aus, und mit diesem allein mag schon der
günstige Einfluss der Moorbäder erklärt werden. Hiemit ist auch gleichzeitig der
Wirkung der Eisenbäder gedacht. Neben der eigentlichen Balneotherapie ist es
aber vorzugsweise die Klimatotherapie und die Hydrotherapie, die das
ganze grosse Gebiet der Nervenkrankheiten beherrschen. Nicht zuletzt zu nennen
wären die Seebäder. Da in den Nordseebädern {Ostende, Scheveningen,
BlancJcenberghe, Norderneij, Helgoland) die Luft stärker bewegt wird, und der
Kochsalzgehalt und die Wellenbewegung grösser ist, als in den Ostseebädern
{Dobberan, Rügen, Misdroy), so wären erstere für sonst kräftige, letztere für
schwächliche Individuen und Reconvalescenten angezeigt. Die französischen Bäder
{Trouville, Biarriz) sind in Parallele zu stellen mit den Nordseebädern, während
die Seebäder am mittelländischen Meere {Venedig, Abbazia, Ischia) ebenso mild
oder eigentlich Hoch milder sind, wie die der Ostsee.
Bei organischen Nervenleiden, welche auf luetischer Infection be-
ruhen, schickt man die Patienten zu den jod- und bromhaltigen Kochsalzquellen
{Kreuzenach, Hall, Lipik, Krankenheil -Tölz, Saxon-les-Bains) oder in die
Schwefelbäder {Aachen, Baden bei Wien).
6r. Krankheiten der Bewegungsorgane, Blut- und Stoffwechsel-
krankheiten.
Zu den ältesten balneotherapeutischen Erfahrungen gehört die Wirksamkeit
der Schwefelthermen gegen die s üb acuten und chronischen Formen des
Gelen ks-RheU m a t i s mix s.
Ein grosser Antheil ihrer Wirkung kommt sicherlich nicht dem Schwefel-
gehalte, sondern der Temperatur des Badwassers zu. Die niedrigste Temperatur
haben die Badner Selncefelfliermen (28 — Sß** C.) ; letztgenannten Temperatur-
grad haben auch die Quellen von Trencsin -Tepl Hz, während die Wässer von
Aachen 45 — 46'^ C. und jene von Pistgan sogar 57 — 64° C. besitzen. Die
Quellen von Herkulesbad {Mehadja) und jene von Varasdin-Töplitz (Kroatien)
stehen, was den Temperatnrgrad ihrer Wässer betrifft, den letztgenannten gleich.
Gerade bei den Schwefelquellen ist die individuelle Bestimmung des für eine Cur
vorzuschlagenden Bades ausserordentlich wichtig, weil bei Fettherz, asthmatischen
Beschwerden infolge von Emphysem und arteriosclerotischen Gefässveränderungen
der Gebrauch von warmen Bädern nur mit Vorsicht geschehen darf.
BALNEOTHERAPIE IKTERNER KRANKHEITEN. 149
( r^:' _ Die Wirkung der Schwef elb äder bei den chronisch defor mir enden
G elenk sentzündungen ist der Natur des Leidens entsin-echend eine viel
unwesentlichere, wena nicht g-anz negative.
Für die „echte" Gicht, der Arthritis urica, geniessen die Curen mit
alkalisch-salinischen und muriatischen Säuerlingen einen altbewährten Euf. Wies-
baden mit seinen warmen Kochsalzthermen verdient den Namen eines „Mekka
der Gichtiker", zumal daselbst eine grosse Anzahl erfahrener Curärzte für die
genaue Einhaltung einer streng diätetischen Lebensweise bei den Gichtkranken
Sorge tragen; desgleichen werden die Li thion quelle n, wie i?/s^er, X^/ss/'n^/ew^
Homburg, Baden-Baden, Sülzbrunn gegen die gichtische Diathese empfohlen.
Eine fast unumschränkte Herrschaft übt die Balneotherapie in der Be-
handlung des Diabetes mellitus. Niemeyer's Ausspruch: „eine Brunnencur
in Karlsbad ist diejenige Verordnung, welche in der Therapie des Diabetes
mellitus das meiste Vertrauen verdient", gilt noch heute. Fast sämmtliche
leichtere Formen des Diabetes erfahren in Karlsbad wesentliche Besserung,
während freilich bei erschöpftem Organismus, wenn reichliche Fleischnahrung
wegen darniederliegender Verdauungsthätigkeit nicht mehr vertragen wird, von
der Trinkcur nicht mehr viel zu erwarten ist. — Man • lässt zunächst Mühl- oder
Schlossbrunn trinken (2 — 3 Becher täglich), später kann man bei kräftiger Consti-
tution zum „Sprudel" übergehen.
Nach Karlsbad ist Yicluj das am meisten bekannte Bad für Diabetiker.
BouCHAEDAT hält dessen Quellen für alle Diabetesformen geeignet, mit Ausnahme
sehr geschwächter Individuen. In neuester Zeit hat sich auch Nenenahr (Rhein-
preussen) zu den für Diabetiker empfohlenen Bädern gesellt. Zur Nach cur
empfiehlt KisCH die Eisenquellen Marienbads (Ambrosiusbrunnen) und ausserdem
Eisen-Moorbäder zur Anregung der Diaphorese.
Bei der Behandlung der Fettsucht mittels Mineralwässer spielt die
abführende Wirkung des Glaubersalzes die Hauptrolle (Marlmbad). Bei den anä-
mischen Formen der Fettsucht finden auch die eisenhaltigen Mineralwässer
Empfehlung, zumal bei anämischer Corpulenz die heroischen Curen mit alkalisch-
salinischen Wässern nur ganz vorsichtig angewandt werden dürfen. In solchen
Fällen wären die Curen in Franzensbad, Elster oder Kissingen jenen in Marienh^d.
vorzuziehen.
Auch in der Therapie dar Osteomalacie und ßhachitis spielt die
Bädercur eine Eolle. Gegen beide Processe sind die einfachen Kochsalzquellen,
die Soolbäder wie die jodhaltigen Kochsalzquellen in Verwendung.
Die Anämie, die in so verschiedenartigen Formen auftritt und auch sehr
verschiedene Ursachen hat, wird balneo-therapeutisch durch die Trinkcuren mit
sogenannten Eisenwässern, bekämpft. Die wichtigsten Stahlquellen sind : Alexander-
bad, Cudowa, Elster, Franzensbad, Homburg, Königswart, Pgrniont, Beinerz,
Scliiralbach, St. Moritz, Spaa, Tarasp. Die günstige Wirkung der Stahlbäder
ist hauptsächlich auf ihren Kohlensäuregehalt zu beziehen, indem die Kohlensäure
von der Haut aus einen reflectorisch wirkenden Eeiz auf das Nervensystem aus-
übt, da die Möglichkeit einer Aufnahme von Eisen durch die Haut nach autoritativen
Ansichten zurückzuweisen ist. Noch viel mehr als die Einfuhr von Eisen empfiehlt
sich die Verordnung von Arsen in Form der arsenhaltigen Mineralwässer. Die Ver-
ordnung von Levico-, Boncegno- und Guberquelleirasser hat heute bereits allgemeine
Verbreitung gefunden. ^ _^
Es ist eine unzweifelhafte Thatsache, dass der Mechanismus der Wir-
kung bei einer Reihe von Bädern und Trinkcuren gar nicht erklärt ist.
Dies hat auch die Veranlassung dazu gegeben, dass viele Kliniker einen
specifischen Einfluss nur bei jenen Mineralwässern gelten lassen wollen,
welche wirklich anerkannte Specifica enthalten, wie Jod, Eisen, Arsen etc.
150 BARLOW'SCHE KRANKHEIT.
Der günstige Erfolg bei den Curen mit anderen Mineralwässern, den
Kochsalzquellen, den alkalischen und alkalisch-salinischen Säuerlingen, wird
dann damit erklärt, dass hauptsächlich zweckmässige Regulirung der Diät
und Lebensweise, Fernhaltung von allen Berufsgeschäften, körperliche und
geistige Ruhe als Heilung und Besserung befördernde^ Factoren anzu-
sehen sind. Wenn wir nun aber andererseits bedenken, dass eine erheb-
liche Wasserzufuhr allein, wie Hoffmann sagt, „eine Schwankung in der
Harnstoffbildung erzeugt und einen neuen Gleichgewichtszustand im Körper
herstellt", so geht es wohl nicht über die Grenzen des Wahrscheinlichen
anzunehmen, dass auch die Zufuhr von Salzen, deren Schleim lösende, Säure
tilgende und purgirende Eigenschaften sichergestellt sind, auf den Gesammt-
stoffwechsel einen mächtigen, wenn auch in allen seinen Phasen bisher noch
nicht detaillirt erklärten Einfluss auszuüben vermag. - e.
BarlOW'SChe Krankheit. Unter der „Barlow'schen Krankheit"
verstehen wir eine eigenartige, hämorrhagische Diathese, welche mit Vor-
liebe während der zweiten Hälfte der Säuglingsperiode bei rhachitischen
Kindern zum Ausdruck kommt. Einzelbeobachtungen waren in Deutschland
schon längere Zeit bekannt geworden und als „acute Rhachitis" be-
schrieben. (Zuerst von Möllee- Königsberg 1859 und 1863). Fökster-
Dresden hatte (1880) die Eigenartigkeit der „acuten Rhachitis" in ge-
bührender Weise betont, aber erst BAELOw-London brachte (1883) unsere
Kenntnis über das Wesen der Krankheit durch eine Reihe sorgfältiger
Beobachtungen und pathologisch -anatomischer Untersuchungen auf den
jetzigen Standpunkt. Er bezeichnete nach dem Vorgang von Cheadle (1878
und 1882) die Erkrankung direct als Scorbut, hob aber doch den Zu-
sammenhang der Erkrankungen mit rhachitischen Veränderungen bei den
Kindern hervor und stellte fest, dass die als „acute Rhachitis" von den
deutschen Autoren beschriebenen Fälle seinen eigenen gleichzustellen seien.
(Heubner.) Ausser den in letzter Zeit in Deutschland sich mehrenden
Beobachtungen (Rehn, Heubner, Pott) liegt auch aus Nordamerika ein
Bericht über diese eigenthümliche Krankheit des frühen Kindesalters vor.
(NOETHEUP.)
Für das Entstehen dieses Leidens ist man geneigt, in erster
Linie eine fehlerhafte Ernährungsweise des Kindes verantwortlich
zu machen. Sämmtlichen Kindern fehlte die Mutter- oder Ammen-
brust oder wo diese gereicht wurde, war man schon nach wenigen Wochen
oder Monaten zur künstlichen Nahrung übergegangen. An Stelle der f r i s c h e n
Kuhmilch hatten die Kinder als ausschliessliche Nahrung M i 1 c h p r ä-
parate oder Kindermehle bekommen. Der höhere Preis dieser Nähr-
präparate erklärt nicht allein die Thatsache, dass die Krankheit weit häufiger
in den gut situirten Familien und verhältnismässig seltener in der
Armenpraxis zur Beobachtung gelangt. Rücksicht verdient der Umstand,
dass den Proletarierkindern neben den Mehlsuppen und den zu geringen
Mengen frischer Milch frühzeitig auch frische Vegetabilieu (Gemüse,
Kartoffeln etc.) als Kost verabreicht werden ! So kommt es zwar, wie Cheadle
meint, unter den Kindern der Armenbevölkerung zur Entwicklung der
schwersten Formen von Rhachitis, aber nicht zu scorbutischen Erkrankungen.
Mangelhafte Wohnungsverhältnisse, „die dumpfe, feuchte Kellerluft" können
als ätiologisches Moment hier nicht mit in Betracht gezogen werden. In-
wieweit der lange Aufenthalt des Kindes während der Winterszeit in Tag
und Nacht überheizten, ungenügend gelüfteten Räumen von Einfluss sein
kann, lasse ich dahingestellt.
Die Mehrzahl der erkrankten Kinder steht im 8, bis 18. Lebensmonat.
BARLOWSCHE KRANKHEIT. 151
Anfangs haben sich dieselben in normaler Weise entwickelt, sind sogar oft
„tiberernährt", aber schon in dem letzten Viertel des ersten Lebensjahres,
bisweilen früher, lassen sich die ersten Zeichen der beginnenden Rhachitis
Jachweisen. Die Kinder verlieren ihre gesunde Gesichtsfarbe, sehen blass
und anämisch aus, werden weinerlich, sind in der Nacht sehr unruhig,
schwitzen viel; besonders auffallend sind die Kopfschweisse ; Obstipation
wechselt mit diarrhoischen Stuhlentleerungen. Leichte Auftreibungen der
Epiphysen der langen Röhrenknochen, Schwellungen der Chondrocostalver-
bindungen, auch woW Weichheit der Hinterhauptschuppen sichern die
Diagnose. Hierzu gesellt sich zuerst eine ganz ungewöhnliche Schmerz-
empfindlichkeit. Jeder noch so vorsichtige Versuch, die Kinder hoch-
zurichten, sie umzukleiden, zu baden oder „trocken zu legen", ja jede
leise Berührung ruft augenscheinlich die hochgradigsten Schmerzen hervor.
Aengstlich vermeiden es die Kinder, active Bewegungen mit den Armen
oder Beinen auszuführen. Es bilden sich Zwangslagen und Pseudoparalysen
der Extremitäten aus. Den Sitz der Schmerzen bei den kleinen Patienten
zu localisiren, ist ungemein schwierig. Anfänglich glaubt man, dieselben
wohl in die grösseren Gelenke (Knie-, Hüft-, Schultergelenke etc.) verlegen
zu müssen, doch werden Ergüsse in dieselben (nur in einem Falle beide
Kniegelenke !) nicht beobachtet. So fehlen die Anschwellungen der Gelenke
und man gewinnt bei wiederholter, sorgfältiger Abtastung der Extremitäten
mehr und mehr die Ueberzeugung, dass die excessiven Schmerzen
von den Knochen ausgehen, die Gelenke in ihrer Beweglichkeit nicht
beeinträchtigt und schmerzfrei sind. Den Gedanken, einen acuten Gelenks-
rheumatismus vor sich zu haben, wird man umso leichter fallen lassen, als
Temperatursteigerungen ganz fehlen oder nur geringfügiger Natur zu sein
pflegen. Wochenlang bestehen diese hochgradigen Schmerzen fort, ehe cha-
rakteristische Veränderungen an den. Knochen zu Tage treten.
Eine deutlich ausgesprochene Auftreibung und cylindrische Verdickung
der langen Röhrenknochen fällt zunächst auf. In sämmtlichen Fällen sind
die unteren Extremitäten, wenn nicht immer allein, doch jedenfalls am
schwersten betroffen. Li hervorragendem Masse werden die Tibiae ergriffen,
dann folgen die Femora. Die Dickenzunahme betrifft mit Vorliebe die Dia-
physe in ihrem unteren Drittel. Doch kommen hier Abweichungen vor ! In
besonders schweren Fällen erstreckt sich die Dickenzunahme über die
ganze Diaphyse. Die Schwellungen zeichnen sich durch eine prall-
elastische Consistenz aus, erwecken auch wohl das Gefühl einer tiefen Fluc-
tuation. Die Berührung ist ungemein schmerzhaft. Die Haut erscheint an
diesen Stellen stark gespannt, etwas ödematös geschwollen, die örtliche
Temperatur etwas erhöht, doch fehlt jede Spur von Röthung oder Entzündung.
Ein s y m m e t r i s c h e s E r g r i f f e n s e i n, analog den rhachitischen Epiphysen-
schwellungeu, findet nicht statt. Sind beide Tibiae oder Femora befallen,
so treten die Anschwellungen nicht immer gleichzeitig und in derselben
Ausdehnung und Heftigkeit auf. Es kann der Knochenschaft der einen Ex-
tremität bereits wieder abschwellen, während eine Zunahme an der an-
deren festgestellt wird. Gleiche Veränderungen spielen sich auch an den
Vorderarmknochen, dem Humerus, ab. In einzelnen Fällen kam es sogar
zu Epiphysenlösungen mit deutlicher Crepitation. Auch die Rippen
(Brustbeinenden !) die Schulterblätter, Schädel- und Gesichtsknochen werden
in Mitleidenschaft gezogen. Besonders erwähnenswerth ist die Dickenzu-
nahme der Alveolarfortsätze des Ober- und Unterkiefers.
Dementsprechend constatiren wir auch auffallende Veränderungen am
Zahnfleisch, aber nur an den Stellen, wo die Zähne bereits
durchgebrochen sind, oder ihr Durchbruch nahe bevorste ht.
152 BARLOW'SCHE KRANKHEIT.
Also meist nur au den Alveolen der oberen und unteren Schueidezcäline.
Die übrige Mundschleimhaut erscheint normal. Das Zahnfleisch ist an den
erwähnten Stellen schwammig gewulstet und gelockert, blauroth verfärbt
und blutet bei der leisesten Berührung, oft schon beim Oeffnen des Mundes.
Geschwüre, schmieriger Belag. Fötor ex ore. Lockerwerden der Zähne
wurden nicht beobachtet. Die Zahnfleischblutungen sind zwar nur minimal
und als solche bedeutungslos, doch wiederholen sie sich im Laufe der
Krankheit öfters; jedenfalls sind sie charakteristisch. Man vermisste sie
übrigens, wie schon angedeutet, ebenso wie die Zahnfleischsugillationen
in allen Fällen, wo noch keine Zähne vorhanden waren.
Inconstant sind Blutungen unter die Haut und ins Unterhautzell-
gewebe. Sie treten in Form von Petechien, Purpuraflecken oder auch als
einzelne grössere, unregelmässige blaurothe Bkitsugillationen auf. Wiederholt
sind entstellende hämorrhagis che Oe deme der Augenlider beob-
achtet. Sie treten abwechselnd bald rechterseits, bald linkerseits auf, oder
auch gleichzeitig auf beiden Augen. Die Augenlider bilden unförmliche
Wülste und können spontan nicht geöffnet werden. Der Bulbus wird voll-
ständig bedeckt und nach unten und vorwärts gedrängt. Auffallend con-
trastirt die blutrothe Färbung des Augenlides, die nach Abschwellen des
Oedems ein bleifarbenes, blau-graues Colorit annimmt, mit der gelblichen,
wachsbleichen Gesichtsfarbe der Kinder. Nicht selten entwickeln sich auch
Oedeme an den Knöcheln, doch sind diese wohl nur hydraulischer Natur.
Ist auch vereinzelt Albuminurie und blutiger LMn beobachtet, so fehlen
diese Erscheinungen jedenfalls in der Mehrzahl der Fälle. Alle übrigen
Organe, Herz, Lungen etc. zeigen normale" Verhältnisse. Die Stuhlent-
leerungen sind vorwiegend diarrhoischer Natur, bei vielen zeigte sich auch
Blut im Stuhlgang.
Ist die Prognose im Allgemeinen auch nicht ganz ungünstig, so
haben mv es doch mit einer wahren Ernährungsstörung zu thun. Schon der
mangelnde Appetit, die Neigung zu Durchfällen, die starken Schweisse,
die Schlaflosigkeit sind an sich geeignet, die Kinder in ihrer Ernährung
herabzubringen und ihre Widerstandsfähigkeit gegen intercurrent auftretende
Krankheiten herabzusetzen; aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich
ab er um eine krankhafte B 1 u t b e s c h a f f e n h e i t , obwohl der Nachweis
für dieselbe noch aussteht. Eine Gewichtsabnahme der Säuglinge erfolgt nur
allmälig, da ein Schwimd des Fettpolsters nur laugsam eintritt. Frühzeitiger
kommt es zu atrophischen Zuständen der Skelettmusculatur. Ein deutlicher
Muskelschwund zeigt sich namentlich bei der Schultergegend. Hebt man die
Kinder wagerecht empor, so hängen die Arme schlaff, wie gelähmt herab.
Wir müssen leichtere und schwerere Formen unterscheiden.
Die leichteren Fälle werden jetzt, wo man die Krankheit besser kennt,
wohl häufiger als früher beobachtet werden. Ich rechne zu denselben die-
jenigen, welche bei einer geeigneten hygienisch-diätetischen Behandlung
in einigen AVochen zur Besserung und Heilung gelangen. Bei den schwereren
Fällen vergehen mindestens 2 — 3 Monate, ehe eine völlige Heilung erfolgt.
Je frühzeitiger aber die Krankheit erkannt, je consequenter die gegebenen
Vorschriften durchgeführt werden, um so sicherer ist ein Stillstand und
eine Paickbildung der oben geschilderten Krankheitserscheinungen zu
erzielen. Sonst verfallen die Kinder einer schweren Cachexie. der sie
schliesslich erliegen.
Die Ob ductions befände haben gezeigt, dass die oben geschilderten Knochen-
verdickungen und Auftreibungen auf sub p« riostale Blutungen zurückzuführen sind.
■Die Quelle der subi^eriostalen Blutung ist in dem verdickten und stark congestionirten, in
loser Verbindung mit den unterliegenden Knochen stehenden Periost zu suchen. Auch
am Lebenden wurde die subperiostale Blutung durch Function resp. Incision festgestellt.
BASEDOWSCHE KRANKHEIT. I53
Das Periost ersclieint abgehoben, der weissbläuliche Knochen liegt frei und der Hohlraum
zwischen Periost und Knochen ist mit zum Theil noch flüssigen, diinkellackfarbicren. zum
Theilmehr krümmlichen Blutmassen ausgefüllt. Abgesehen von den herdförmigen Blutunt^en
in der Haut, im Unterhautzellgewebe und Muskelgewebe, hämorrhagischen" und serösen
Ergüssen in die serösen Säcke (Pleura, Pericard !) spärlichen Lungenhämorrhagieu werden
weitere Orgauveränderungen nicht erwähnt.
Darf mau auch wohl der Yermuthuug Raum gebeu, dass dieser eigeu-
thümlicheu hämorrhagischeu Diathese eiue Erkraukuug des Blutes
oder der capillareu Blutgelasse zu Grunde liegt, so fehlen doch bis jetzt
alle thatsächlichen Unterlagen. Die ursprüngliche Ansicht, in der fraglichen
Krankheit eine „acute PJiachitis mit tumultuarischem Verlauf" erblicken
zu wollen, hat man mit Recht bald fallen gelassen, aber auch gegen
Scorbut spricht vieles. Alles deutet beim Scorbut auf eine infectiöse,
epidemisch oder endemisch auftretende hämorrhagische Diathese
hin. Es entspricht aber das Krankheitsbild solcher Fälle von Scorbut, wie
sie uns von Kühx (Epidemie in Moringen 1875/76) bei Kindern unter
einem Jahre geschildert werden, durchaus nicht dem Symptomen-
coraplex der BAELOw'scheu Krankheit, ganz abgesehen davon, dass es sich
bei letzterer stets nur um vereinzelte Fälle, die zeitlich und örtlich weit
auseinander liegen, gehandelt hat. Bei den an Scorbut erkrankten Säug-
lingen kam es niemals zu subperiostalen Blutungen, dagegen waren sämmt-
liche Fälle durch Bronchitiden resp. Pneumonien complicirt, während
Erkrankungen der Respirationsorgane bei der BAELOw'schen Krankheit
eigentlich gar nicht in Frage kommen. Klarheit werden wir erst dann er-
warten dürfen, wenn der specifische Krankheitserreger des Scorbuts mit
Sicherheit nachgewiesen ist.
Ist man auch nicht berechtigt, ohne weiteres die BARLow'sche
Krankheit mit dem Scorbut zu identificiren, so hat doch die anti-
s c 0 r b u t i s c h e Behandlung in vielen Fällen überraschend günstige
Erfolge aufzuweisen gehabt. Auf grosse, luftige, helle, warme, aber nicht
überheizte Wohnräume, Wechsel derselben für die Tag- und Nachtzeit,
stimdenlüTigeB Auf enfhaJ f. des Kindes im Freien bei warmemSonnenschein : auf
genügeucVe Hautpflege durch lauwarme Bäder, spirituöse Abreibungen oder
dergl. glaube ich gerade hier ein besonderes Gewicht legen zu müssen.
Das sind zwar selbstverständliche, allgemein giltige, hygienische Vorschriften,
doch werden diese auch in den besser situirten Familien aus übel ange-
brachter Aengstlichkeit, die Kinder vor Erkältungen zu schützen, oft genug
ausser Acht gelassen. Die bisherige Ernährungsweise des erkrankten
Kindes hat einer völligen Umgestaltung zu unterliegen! Die präcise-
sten Vorschriften in dieser Beziehung gibt Heubnee. Keine Kindennehle
oder Miklipräijaratel Frische, nicht steriUsirfe, mir pasteurifiirte Kuhmilch,
täglich einige Kinderlöffel frisch ausgepressten FleiscJisaftes mit etwas
Malaga- oder Ungarwein, ferner Fruchtsaft (am besten' Apfelsinensaft,
2 — 3 Kaffeelöffel täglich, oder Apfelmus): mittags nel)en einer KaJhshrühe
oder Hilhnersvpfe, einige Kaffeelöffel frischen, durch das Sieb geschlagenen
Gemüses {Kartoffel, Spinat, Mohrrüben etc.)! Gegen die Schmerzhaftigkeit
der Glieder haben sich Priessnitz'sche Umschläge, an den unteren Extremitäten
V. VoLKJViANN'sche Extensionsverbände als nützlich erwiesen. pott.
BasedOW'SChe Krankheit. Die Basedow^sche Krankheit
{Morlms Basedoivii, Maladie de Graues (Teousseau), Glotzrcugenkranl-Jieif,
Tachijcardia strumosa (Lebert), Exophthalmia cachectica, Maladie exophthal-
mique, Cachexie thyreoidienne (Gaütier), Dijscrasia s. Cachexia exopMuthnica,
Cardiopjcämus strumosus (Hirsch), Keurosis thi/reoexophfliahnica (Corlieu).
Struma exophthahnica), zuerst in England von Graves (1835), später in
154 BASEDOWSCHE KRANKHEIT.
Deutschland von Basedow (1848) genau beschrieben, ist ein durch Ver-
grösserung der Schilddrüse, Pulsbeschleunigung und Pro-
minenz der Bulbi streng charakterisirtes Leiden. Die genannte Sym p-
tomentrias ist nicht immer vollständig, zuweilen fehlt die eine oder
andere der Haupterscheinungen, und an deren Stelle tritt eine Menge
anderer das Krankheitsbild complicirender Symptome.
Die Krankheit beginnt in der Ptegel langsam und allmälig, in seltenen
Fällen ist sie acut und verläuft rapid. Bezüglich der Reihenfolge kann
man sagen, dass die Erscheinungen seitens des Herzens am
frühesten auftreten. Wo dieselben fehlen, ist die Diagnose überhaupt sehr
zweifelhaft. Herz- und Arterienklopfen, allerhand peinliche Gefühle, die
auf den Herzschlag bezogen werden, Beschleunigung der Herzthätigkeit
(100 — 150 Schläge in der Minute) sind gewöhnlich die ersten beunruhi-
genden Symptome des Leidens. Der bei den geringsten körperlichen Bewe-
gungen und psychischen Affecten sich beschleunigende P uls ist klein,
weich und rhytmisch. Arhytmie mit Athembeschwerdeu, Oedemen, Anfällen
von Angina pectoris findet man nur in den letzten Stadien als Zeichen
eingetretener organischer Herzschwäche. Herzgeräusche sind relativ häufig,
"etwa in zwei Drittel der Fälle (RErsroLDs), gewöhnlich systolischer Art
und an der Herzbasis am deutlichsten auscultirbar. Dilatation des Herzens
ist bedeutend seltener als das Arterienklopfen am Halse oder am Unter-
leibe. In den Halsarterien ist fast immer ein systolisches Geräusch zu
hören, gelegentlich am Halse Venenpuls und systolisches Schwirren.
Die Anschwellung der Schilddrüse ist gewöhnlich gleich-
massig, zuweilen einseitig oder auf den Isthmus beschränkt. In der Drüse
kann man — speciell wo es sich um einen Gefässkropf handelt — Pulsa-
tionen und deutliches Schwirren constatiren. Volumen und Resistenz der
Struma wechselt von Zeit zu Zeit, zuweilen recht rasch, in wenigen Stunden.
Bei Leuten mit alten parenchymatösen oder interstitiellen Strumen ent-
wickelt sich zuweilen der typische Morbus Basedowii.
Der Exophthalmus folgt in der Regel, gerade wie die Struma, auf
die Herzpalpitationen, und nur in seltenen Fällen ist er das erste Krank-
heitssymptom. Bei einseitigen Strumen ist er zuweilen einseitig, beziehungs-
weise auf dem einen Auge stärker als auf dem anderen. Sind die Bulbi
hochgradig protrudirt, so können sie im Schlafe von den Lidern nicht mehr
völlig bedeckt werden, was dem Kranken ein abschreckendes Aussehen
verleiht. Am unbedeckten Bulbus entwickeln sich zuweilen Conjunctivitiden,
Trübungen der Cornea und selbst schwere Ulcerationen. Abgesehen von
der arteriellen Netzhautpulsation und dem gelegentlich auftretenden Oedem
der Papille finden wir beim Ophthalmoscopiren nichts abnormales.
Eine andere bemerkeuswerthe, zuerst von Stellwag beobachtete
Erscheinung seitens der Augen ist die, dass die Lidspalte ungewöhnlich
gross ist, und der Lidschlag selten unwillkürlich erfolgt. Diagnostisch
wichtiger als das Stell wAG'sche Symptom ist das von Graefe. Es
besteht darin, dass bei verticaler Veränderung der Blickrichtung das obere
Lid dem Augapfel nicht in normaler Weise folgt, sondern zurückbleibt.
Das genannte Symptom stellt sich ausschliesslich bei Senkung des Blickes
dar, während bei Hebung des Blickes das Lid dem Augapfel präcis folgt.
Beim Sehen nach unten wird deshalb eine etwa 2 tmn breite Zone der
Sclera über der Cornea sichtbar. Willkürlich kann das Lid ganz prompt
geschlossen werden. Die Abwärtsbewegung des oberen Lides soll nach
Manchen deshalb erschwert sein, weil eine Tendenz zur Erweiterung der
Lidspalte besteht, es sei mithin das GRAEFE'sche Symptom eine Folge des
Stell wag' sehen. Der normale willkürliche Lidschluss trotz bestehenden
BASEDOWSCHE KRANKHEIT. 155
GRAEFE'schen Symptoms, die Seltenheit des STELLWAG'schen Zeichens bei
relativer Häufigkeit des GRAEFE'schen, das consecutive Auftreten des
GEAEFE'schen Symptoms nach manchen completen Oculomotoriuslähmungen
machen es jedoch unwahrscheinlich, dass es sich einzig und allein um
erhöhten Tonus handelt.
Die von Möbius zuerst beschriebene, später von Strümpell und
Chaecot bestätigte Insufficienz der Convergenz gehört zu den
seltenen Symptomen der B.-Krankheit und ist weder als Folge des Exoph-
thalmus, noch einer wirklichen Lähmung aufzufassen. Am deutlichsten ist
die Insufficienz, wenn man den Kranken erst nach der Stubendecke und
dann auf die eigene Nase sehen lässt. Die Kranken wissen von dem Vor-
gänge nichts, haben keine Doppelbilder, klagen nur beim Convergiren über
ein Gefühl von Spannung.
Augenmuskellähmungen mit Strabismus und Diplopie werden
oft genug beobachtet, speciell die OphthalmopUrjia externa, bei der der
Sphincter iridis intact bleibt. Sie treten zuweilen gleichzeitig mit Lähmungen
anderer Gehirnnerven auf (Gesichts-, Gaumen-, Zungen-. Kaumuskelparesen),
was den intracerebralen Charakter der Lähmung unverkennbar macht. Der
gelegentlich auftretende, unterbrochene schnellschlägige Tremor der
Augenlider ist wahrscheinlich als Analogon des unten zu besprechenden
Händezitterns aufzufassen.
Ziemlich häufig sind die Erscheinungen seitens der Verdauuugs-
organe, seltener der Athmungs- und Geschlechtsorgane. Eigen-
thümliche, sehr profuse, ohne bestimmte Ursache auftretende und ver-
gehende, jeder Therapie trotzende Durchfälle gehören zu den gewöhnlichen
Erscheinungen der Basedowkranken. Erbrechen und Heisshunger werden
gelegentlich beobachtet. Ob die von Federn beschriebene partielle Darm-
atonie, „die häufigste und wichtigste Complication, vielleicht die Ursache des
Morbus B. ist", lässt sich wohl sehr bezweifeln. Seitens des Respirations-
tractus sind zu erwähnen: Starker Husten, Vermehrung der Athemzüge
(bis 33 in der Minute — Marie) und eine geringe Erweiterung des Brust-
kastens bei der Einathmung („Brijsons Zeichen''-) — Symptome, die viel-
leicht auf beginnende Tuberculose — häufige Complication der B.-Krank-
heit — zurückgeführt werden dürfen. Sehr häufig ist Amenorrhoe, ver-
einzelt sind die Fälle von Atrophie der Brüste und Gebärmutter.
Auf x\sthenie der Hautvasomotoren ist die Neigung der
Kranken, häufig und stark zu schwitzen, zurückzuführen. Das Schuitzen
tritt auch halbseitig auf. Schon geringe, zuweilen auch keine nachweis-
bare Anstrengung ruft Anfälle von subjectivem Hitzegefühl und Unwohlsein
hervor. Unbedeutende Pieizung der Haut verursacht zuweilen tiefdunkel-
rothe Flecke, die erst nach 1 — 2 Minuten wieder verschwinden. Zu den
Erscheinungen seitens der Haut gehören auch die Veränderungen
des Haiitpigmetits: Vitiligo und Broncehaut, die sich hie und da auf eine
Complication mit der AoDisoN'schen Krankheit zurückführen lässt. Erythem,
Urticaria, Alopecia areata sind vereinzelte Male beobachtet worden. Die,
nicht immer von der Herzschwäche abhängigen Oedemi bieten gelegentlich
diagnostische Schwierigkeiten. Sie sind selten allgemein, gewöhnlich circum-
script oder nur an der unteren Körperhälfte localisirt. Die constanteste
aller Veränderungen der Haut bleibt jedoch das profuse Schwitzen. Die
starke Durchfeuchtung der Haut bei der Perspiratio insensibilis bedingt
die interessante, zuerst von Vigouroux bemerkte Thatsache, dass der
Widerstand der Haut gegen den Batteriestrom bedeutend
geringer ist. als im gesunden Zustande, und so kommt es, dass, während
der Leitungswiderstand bei Gesunden bei einer Stromstärke von 10 — 15
J56 BASEDOAY'SCHE KRANKHEIT.
Volts 4—5000 Ohms beträgt, er sich im Verlaufe der B.-Kraukheit auf
300—600 herausstellt. Pathognostisch ist der herabgesetzte Leitungswider-
stand nicht, da weder Vorhandensein desselben unbedingt für, noch Fehlen
desselben mit Bestimmtheit gegen das B. Leiden spricht.
Der allgemeine Gesundheitszustand solcher Kranken leidet
gewöhnlich ebenfalls: Regelmässig besteht Anämie, Hinfälligkeit und
Abmagerung. Mit Hinblick auf die Cachexie der Kranken wurde von Gautier
der Namen Cachexie fJit/reoklienne vorgeschlagen. Trotz des oft vorhandenen
Gefühls übergrosser Hitze kommt Steigevung der Temperatur nach Charcot
ganz ausnahmsv/eise vor, nach Bartote ziemlich häufig, nach Gowers nur
in den Endstadieu der Krankheit. Das Fieber kann remittireud und inter-
mittireud auftreten. In schweren Fällen ist es äusserst hartnäckig und
wird von den übrigen Fiebersymptomen begleitet (Röthung des Gesichts,
Kopfschmerzen, belegte Zunge, Appetitlosigkeit, Fieberharn).
Im Blute findet man eine bedeutende Abnahme des Hämoglobin-
gehaltes und Vermehrung der eosinophilen Leucocyten: Eosinophilie.
Von Seiten des K er v e n s y s t e m s werden gar nicht selten beobachtet :
Kopfschwindel, Hemicranie, Schlaflosigkeit, Crampi, geistige Depression
und Reizbarkeit. Eine andere Erscheinung, die meist zu den Complicationen,
aber wegen seines häufigen Vorkommens als Symptom betrachtet zu w^erden
verdient, ist MusMtremor. Er zeigt eine grosse ißegelmässigkeit des Rhythmus
und lässt, analog dem Alkoholtremor, etwa 8 — 9 Oscillationen in der Secunde
erkennen. Zuweilen ist er unregelmässig, choreiform, zuweilen errinuert er
an das Zittern bei der Paralysis agitans. Durch Kälte und psychische
Emotionen wird er gesteigert. Tremor der Augenlider wurde oben unter
den Augensymptomen erwähnt.
Charcot hat wiederholt auf ein Symptom aufmerksam gemacht,
das, seiner Ansicht nach, zu den Zeichen der B.-Krankheit selbst gehört,
nicht etwa eine Complication darstellt. Es ist das eine lähmungs artige
Schwäche der Beine, dem das giving waij of the Legs der Eng-
länder vorausgeht, d. h. das plötzliche Nachgeben, Kraftlöswerden der
Beine, das die Kranken niederstürzen lässt. Abschwächung der Haut- und
Sehnenreflexe soll die Paraparese begleiten. Trophische Störungen
der Haut, Haare, Muskeln und Knochen sind mehrmals notirt worden.
Complicationen. Wo eine Complication anfängt und eine Theilerschei-
nung des symptomreichen Leidens endet, wird sich nur in einzelnen Fällen, und
oft da nicht mit Bestimmthit, entscheiden lassen. Die Hysterie mit dem
ganzen Heere ihrer Erscheinungen ist als die häufigste Complication auf-
zufassen ; theils geht sie der B.-Krankheit voraus, tleils scheint die letztere
als „agent provocateur" der Hysterie zu dienen. Beides kommt vorwiegend
bei Leuten mit einem von vornherein instablen Nervensystem vor. Es ge-
hören deshalb auch die geistigen Störungen zu den gar nicht seltenen
Complicationen. Die gewölmlich vorhandene Reizbarkeit, Unruhe, Launen-
haftigkeit führen hie und da zu Zuständen zweifelloser Psychosen mit
Verwirrtheit, Sinnestäuschungen, Wahnvorstellungen. Hypochondrische Ver-
stimmung, bedingt durch das fortwährende, unangenehme Gefühl des Herz-
klopfens und Schlaflosigkeit, wechselt zuweilen mit dem maniakalischen Zu-
cjtande ab. Am meisten tragen jedoch die psychischen Erscheinungen den
Charakter des hysterischen Irreseins, allgemeiner der Neuropsychosen
der Entarteten.
Von functionellen und organischen Nervenleiden, die sich zuweilen
mit dem B. Leiden combiniren, seien erwähnt: Epilepsie, Migräne,
Neuralgien, Diabetes mellitus, Diabetes insipidus, Chorea,
intermittirende Glykos-und Albuminurie.
BASEDOWSCHE KRANKHEIT. 157
• Verlauf und Varietäten. In der Regel ist der Beginn der-
Kranklieit ein allmälicher und der Verlauf erstreckt sich über eine Reihe
von Jahren, indem zuerst die Herzpalpitation auftritt, später das Stärker-
werden des Halses und Exophthalmus sich hinzugesellen. Gelegentlich ist
der Beginn auch ein akuter, so dass sich die Symptom entrias im Verlaufe
von wenigen Tagen bis 24 Stunden, meist nach einer psychischen Emotion,
entwickelt. Bedeutende und prolongirte Remissionen kommen häufig
vor, zuweilen sogar richtige Intermittenzen von solcher Dauer und Voll-
kommenheit, dass ein solcher Kranke von mehreren getrennten Anfällen
heimgesucht wird. Bei der anscheinend fast unbegrenzten Dauer der Re-
missionen darf man in praxi freilich von Heilung sprechen, doch pflegt es
sich dabei nicht um eine complete Restitutio ad integrum zu handeln.
Wie gross der Procentsatz der geheilten Fälle ist, ist nicht er-
wiesen; man schätzt ihn auf etwa 25 Proc. Am längsten halten sich die
am frühesten auftretenden Symptome seitens des Herzens. Im Ganzen soll
das Leiden bei Männern bedeutend seltener auftreten, dagegen einen
schnelleren Verlauf als bei Frauen nehmen.
Abgesehen von den Todesfällen durch complicirende Erkrankung
(Tuberkulose), hat man die B.-Kranken auf verschiedenste Weise sterben
sehen, durch Herzschwäche mit Oedem, unstillbares Erbrechen, Durchfall,
Marasmus, permanentes hohes Fieber. Zuweilen tritt der Tod plötzlich ein,
ohne dass eine Ursache zu finden ist.
Aetiolog'ie. Aetiologisch etwas Sicheres anzugeben, sind wir ausser
Stande : hereditäre Verhältnisse, neuröpathische Prädisposition, physische
Emotionen, Erkältung, Infectionskrankheiten (Rheumatismus, Diphterie,
Influenza) sind, wie bei vielen anderen Nervenleiden, so auch hier, geltend
gemacht worden. Uebereinstimmung herrscht vorläufig nur darüber, dass
eine angeborene Prädisposition anzunehmen ist. Dafür sprechen die Un-
menge der nervösen und physischen Symptome, die das typische Bild com-
pliciren , ferner das häufige Vorkommen von Nervenkrankheiten ver-
schiedenster Art in der Familie des BASEDOW-Kranken. So war beispiels-
weise in einem Falle von Marie der Vater mit Paralysis agitans behaftet,
der Sohn mit B.- Krankheit, eine Schwester der Mutter irrsinnig, zwei
Geschwisterkinder epileptisch. Solche Fälle gehören keineswegs zu den
Ausnahmen. Für das hereditäre Moment sprechen ebenfalls mehrere Be-
obachtungen, wie z. B. die von Rosenbeeg, wo eine Frau, ihr Sohn, ihre
zwei Töchter und zwei Enkeln vom Morbus Basedowii befallen waren.
Pathologische Anatomie und Pathogenese. In der Schilddrüse
sind alle Gefässe deutlich vergrössert, zuweilen aueurysmatisch ausgebuchtet,
das eigentliche Drüsenparenchym vermehrt, hie und da cystisch oder colloid
entartet. Herz und Gefässe sind dilatirt. In der Orbita findet sich gewöhn-
lich eine Zunahme des Fettgewebes. Manchmal ist die Thymus, beziehungs-
weise ihre Reste, gelegentlich auch die Lymphdrüsen am Halse deutlich
hyperplastisch.
Die frühere Lehre, dass eine Erkrankung des Sympathicus Ursache der
Krankheit sei (SipupathicustJieoy/e, Koeben-Troüsseau), muss schon aus dem
Grunde als widerlegt betrachtet werden, dass man einerseits bei den verschie-
densten Leiden dieselben Veränderungen findet, andererseits in vielen Fällen
von typischer B. - Krankheit eine anatomische Alteration im Sympathicus
vermisst. Uebrigens beweisen die neuesten mikroskopischen Untersuchungen,
dass ein grosser Theil jener älteren Befunde auf mangelhaften histologischen
Methoden beruhte. In letzterer Zeit hat man besonders auf die Veränderungen
des verlängerten Markes gefahndet (OhlongafafJieorie, Sattler - Filehne).
Filehne und Durdufi gelang es sogar auf experimentellem Wege, durch
158 BASEDOWSCHE KRANKHEIT.
Durchschneidimg des Corpus restiforme im vorderen Viertel, die Symptome
der B.-Kraiikheit an Hunden und Kaninchen zu erzeugen. Atrophie des
KRAusE'schen solitären Respirationsbündels und des Corpus restiforme,
Congestionserscheinungen der Medulla, acute kleinere Blutungen am Boden
des vierten Ventrikels sind vereinzelt beobachtet. Die capillaren Blutungen an
der Medulla sollen nämlich auf den locus minoris resistentiae hinweisen, auf
diejenigen Stellen, die schon functionell längst afficirt sind. Es bleibt immer-
hin dahingestellt, ob nicht ein die Tachycardie bewirkendes Agens zuerst auf
die Apparate in der Oblongata (Vaguscentrum) lähmend einwirkt oder nicht.
Bei dem Mangel irgend welcher constanten und zweifellosen patho-
logisch-anatomischen Befunde scheint die sogenannte Thyreoldeatheorie
(MoEBius) die wahrscheinlichste zu sein. Die Schilddrüse soll nämlich einen
wichtigen Einfluss auf die chemische Beschaffenheit des Blutes und der
Körpersäfte ausüben. Wird die Drüse krank, so kann sie ihre chemische
Thätigkeit nicht in normaler Weise entfalten. Die abnorm beschaffeneu Kör-
persäfte wirken toxisch auf das centrale, resp. periphere Nervensystem.
Für die Richtigkeit dieser Theorie sprechen mehrere Thatsachen. 1. Der
Verlust der Thyreoidea auf operativem Wege (z. B. bei Kropfexstirpation) ruft bekannt-
lich die schwersten, letal endenden Ernährungsstörungen hervor, die sogenannte Cachexia
strumipriva. Aehnlich verhält es sich bei dem mit schweren Ernährungsstörungen und
psychischen Alterationen verlaufenden Myxoedem^ das sich durch Atrophie der Thyreoidea
kennzeichnet. 2. Man findet andererseits bei dem Cretinismus, der sich analog dem B.-
Leiden durch Hyperplasie und Entartung der Schilddrüse auszeichnet, ebenfalls schwere
Ernährungsstörungen. Die erwähnten Erscheinungen in der physischen und psychischen
Sphäre können mithin bei den genannten Krankheiten als Folge der krankhaft verän-
derten bezw. ausgefallenen Function der Schilddrüse betrachtet werden. 3. Man weiss
über die Ursache des Schilddrüsenschwundes bei Myxoedem und der Schilddrüsenent-
artung bei Cretinismus nichts Definitives, man muss aber aus dem endemischen Auftreten
beider Krankheiten den Schluss ziehen, dass die Krankheitsursache ein nur unter be-
stimmten äusseren Bedingungen entstehendes oder wirksames Gift ist. Dieselbe Ver-
muthung ist auch bei der B. -Krankheit, die hauptsächlich in England (endemisch?) vor-
zukommen pflegt, zulässig. 4. Für die Thyreoldeatheorie sprechen diejenigen Fälle von
primärem, essentiellem Kropf, bei denen Zeichen der B. -Krankheit hinzutreten (Zittern,
Herzklopfen, psychische Störung). Zuweilen tritt bei mehreren Gliedern einer Familie
Kropf auf, bei dem Einen bleibt der Kropf ohne Complicationen bestehen, bei dem An-
deren treten nach mehreren Jahren (in einem Falle von Lamy nach 23 Jahren) Base-
Dow-Symptome auf. Die letzteren gesellen sich zuweilen den interstitiellen und ent-
arteten einfachen Kröpfen hinzu. 5. Für die ursächliche Abhängigkeit der Krankheits-
symptome von den Veränderungen der Schilddrüse sprechen endlich das Schwinden des
Symptomencomplexes nach operativen Eingriffen — partielle Exstirpation — an der
Drüse. 6. Einen scheinbaren Einwurf gegen diese Theorie könnte man aus der That-
sache entnehmen, dass in manchen Fällen ein Theil der Erscheinungen eher da ist als
die Struma. Indessen kann doch die Drüse sehr wohl erkra,nkt sein, ehe die Betastung
eine Veränderung des Volumens erkennen lässt Bemerkenswerth ist BEKTOTE-REjfATJT's
statistische Angabe, dass er auch dann, wenn im Leben nichts an der Schilddrüse nach-
zuweisen war, dieselbe bei der Section krankhaft gefunden habe Zu erwähnen wären
bei Gelegenheit zwei Fälle von Combination der B -Krankheit mit Myxoedem (Jollier),
bei denen die Drüse hypertrophisch war. 7. Nach Rexattt soll das von ihm nachgewiesene
relativ häufige Auftreten von Fieber den infectiös-toxischen Ursprung der B.-Krankheit
wahrscheinlich machen. Das Fieber erinnert an dasjenige bei schwerer Chlorose, per-
niciöser Anämie, Leukämie auftretende. Es kann stets auf Einwirkung giftiger Stoff-
wechselproducte etwa wie das Fieber bei Chorea — theils auf rein nervöser Störung
— wie bei Hysterie — beruhen.
Wollen wir noch kurz die Pathologie der einzeln en Symptome
betrachten.
Zunächst die Dilatation der Gefässe und die Steigerung
der Herzaction, die die Aufmerksamkeit der Kliniker auf das sym-
pathische System gelenkt haben. In der That, im Halstheile des Sym-
pathicus finden sich Fasern, deren Reizung die Herzaction beschleunigen.
Es müsste aber dann zufolge der gleichzeitigen Reizung der vasoconstricto-
rischen Fasern eine Contraction der Gefässe mit erhöhtem Druck entstehen.
BASEDOWSCHE KRANKHEIT. 159
Diese Erwägung hat manche Pathologen dazu geführt, auf das Central-
nervensystem als den Sitz des pathologischen Processes zu sehen, welcher
die Störungen an den Gefässen und dem Herzen bewirkt. Ob diese Affec-
tion genuin entsteht, oder auf toxischem Wege, das ist eine vorläufig
nicht mit Bestimmtheit zu entscheidende Frage.
Dass die Struma nicht, wie Graves meinte, einzig und allein von
der Gefässdilatation und der consecutiven Hypertrophie abhängt, lässt sich
aus den, wenngleich seltenen Fällen schliessen, wo die Struma den Herz-
palpitationen zeitlich vorangeht, oder wo sie bei sehr intensiven und lang-
dauernden kardio-vasculären Erscheinungen gar nicht oder nur sehr unbe-
deutend ausgesprochen ist.
An dem Auftreten des Exophthalmus sind die Erweiterung der
Gefässe der Augenhöhle, die autoptisch constatirbare Vermehrung des
Fettes in der Orbita und die Reizung des MüLLER'schen Muskels beschul-
digt worden. Der am Lide angeheftete, glatte MüLLER'sche Muskel gibt
bekanntlich wenige Fasern ab, die vom Lid zu der die Orbita begrenzen-
den Membran gehen und voraussetzlich durch ihre Contraction eine Pro-
minenz des Bulbus bewirken.
Die weite Lidspalte beim Blick nach oben — Stellv^ag's Symptom
— und die mangelhafte Mitbewegung des oberen Lides beim Blick nach
unten — Graefe's Symptom — werden ebenfalls auf einen Spasmus des
MüLLER'schen Muskels zurückgeführt. Für die thatsächliche Abhängigkeit
der genannten Symptome von einer Reizung des MüLLER'schen Muskels (N.
Sympathicus) spricht der von Gov^ers citirte Versuch Jessop's, wonach man,
bei Application von Cocain auf die Conjunctiva, das Auftreten des Stell-
WAG'schen und GRAEFE'schen Symptoms merken, nach vorausgeschickter
Durchschneiduug der sympathischen Nervenendigungen aber vermissen soll.
Wie man sich aber einerseits den. permanenten Reizzustand des Sympathicus,
andererseits die ungleiche und nicht immer congruente Entwickelung des
Exophthalmus, der Lidretraction und der Mitbewegung des Lides, die doch
alle drei von derselben Reizung abhängig sein sollen, vorzustellen hat,
bleibt eine ganz unentschiedene Frage. Das GRAEFE'sche Symptom führt
Sattler auf die Läsion eines, sich wahrscheinlich in der Medulla befin-
denden Coordinationscentrums zurück, welches die consensuelle Action des
Levator und Orbicularis oculi einer- und der um eine horizontale Axe dre-
henden Augenmuskeln andererseits beherrscht ; das Stellwag' sehe Symptom
soll mit der Läsion derjenigen Reflexcentren zusammenhängen, welche die
von der Netzhaut und den sensiblen Nerven der Binde- und Hornhaut zu
den motorischen Lidapparaten ausstrahlenden Reflexe auslösen. Diese Re-
flexe sind bekanntlich bei Neugebornen überhaupt nicht vorhanden.
Die Diagnose ist in denjenigen Fällen, wo alle drei Cardinalsymptome
gut ausgeprägt sind, eine der leichtesten. Schwieriger ist es in den
Anfangsstadien, sobald nur ein Symptom vorhanden ist : die Krankheit wird
dann gewöhnlich übersehen. Ziemlich zweifelhaft bleibt die Diagnose in
den atypischen, unvollständigen oder verwaschenen Formen, in den sog.
Formes frustes, wo das Kränkheitsbild die vollständige Ausbildung noch
nicht erreicht hat, respective wo es ausgebildet war, aber durch Remission
manche Symptome zurückgetreten sind. Was die Häufigkeit der einzelnen
Symptome anbelangt, so fehlen, wenn wir von der typischen Symptomentrias
absehen, so gut wie nie: Blässe und Abmagerung, Zittern, vermehrte
Feuchtigkeit der Haut, Stell wag's Zeichen; sehr häufig sind Graefe's
Symptom, Schlaflosigkeit, leichte seelische Veränderungen, Hitzegefühl;
häufig sind Veränderungen des Hautpigments, Durchfall, Erbrechen, Insuf-
ficienz der Couvergenz, Beschleunigung der Athmung (Moebius).
160 BASEDOWSCHE KRANKHEIT.
Differeiitialdiagnostiscli kommen liaiiptsächlicli in Betracht:
grosse essentielle Kröpfe, Hysterie und cereprospinale Lues.
Bei grossen Strumen, die in Folge des Druckes auf den SympatM-
cus Herzpalpitation und Exophthalmus hervorrufen, ist letzterer gewöhnlich
einseitig und entspricht der Seite, wo die Struma am grössteu ist'; ferner
ist er mit Mydriasis spastica — eine Folge der Reizung der sympathischen
Irisfasern — verbunden. Das Wechselvolle und Veränderliche des Krank-
heitsbildes kann in Fällen von atypischem Morbus B., wo neben der Tachy-
cardie Zittern, Schlaflosigkeit, Blässe, Erbrechen, leichte seelische Verän-
derung etc. bestehen, an Hysterie denken lassen. Das Auftreten von
Struma und Exophthalmus entscheidet dann die Diagnose. Dasselbe gilt bei
denj enigen, von der c e r e p r o s p i n a 1 e n Syphilis schwer zu unterschei-
denden Formen, wo Ophthalmoplegien, Paraparesen, Anämie, Haarausfall,
psychische Störungen im Vordergrunde stehen. Eine Quecksilbercur kann
in verdächtigen Fällen die Diagnose entscheiden. Dass die B.-Krankheit
sich mit den drei genahnten Krankheiten combiniren, resp. auf ihrem Boden
entwickeln kann, wurde schon oben erwähnt.
Die Prognose ist nie absolut ungünstig; auch bei vollständig ent-
wickelten Formen sieht man gelegentlich ganz unerwartete Besserung ein-
treten. Es lässt sich daher nie etwas Bestimmtes über die Dauer des
Leidens aussagen. Bei frischen Fällen ist die Vorhersage ziemlich gut,, wird
aber ungünstiger, wenn der Allgemeinzustand sich verschlechtert, oder
wenn ein organisches Herzleiden besteht. Bei Frauen ist die Prognose
günstiger, wie bei Männern. Eintretende Gravidität soll die Krankheit
unterbrechen. Mit Piemissionen verlaufende Formen sind im Allgemeinen
am günstigsten zu beurtheilen. Abnahme der Pulsfrequenz ist das emfind-
lichste Reagens für die Besserung des Zustandes.
Therapie. „Je weniger man von einer Krankheit weiss, umso zahl-
reicher pflegen die Heilmittel zu sein. Je schwankender der Verlauf, je
häufiger und unregelmässiger die Remissionen, umso mehr scheinbare Heil-
erfolge, umso zuversichtlicher der Glaube an die verschiedenartigsten
Mittel. Spielen endlich seelische Einflüsse eine Rolle, vermögen sie den
Zustand zu verbessern oder zu verschlechtern, so wird das Chaos voll-
ständig." Mit diesen durchaus zutreffenden Worten charakterisirt Möbiüs
die Heilversuche bei der B.-Krankheit. Die Heilmethode ändert sich gemäss
den Ansichten der einzelnen Kliniker über die Ursache des Leidens, Es
wurden deshalb die meisten Herzmittel (Digitalis, Strophantus, Adonis),
Nervina {Belladonna, Brom, Zink, Veratrin^ Ergotin), Tonica (Eisen,
StrycJmin, Chinin, Arsenik), Resorbentia (Jodkali, Jodtinctur) mit mehr
oder weniger Recht und Erfolg in Anwendung gezogen. Ueber den that-
sächlichen Werth einzelner Mittel lässt sich kaum etwas Bestimmtes aus-
sagen; am meisten Erfolg verspricht man sich jedoch von dem ßro?>^; Bella-
donna und Strophantus. -'
Von anderen Heilungsmitteln seien erwähnt die OERTEL'sche Cur,
die Hydro- und Electrotherapie. Milde Kaltwassercuren,
Abreibung, Einwickelungen, verbunden mit Gymnastik, wirken zuweilen heil-
bringend. Gahanisation des Sympathicus, des Rückenmarkes und quer durch
die Processus mastoidei — sind die in Deutschland gebräuchlichsten
Methoden der elektrischen Behandlung. Charcot empfiehlt die Galvani-
sation der Herzgegend, Vigoueoux rühmt die faradische Behandlung, er
setzt die breite Anode im Nacken, die kleinere Kathode leitet er etwa
zehn Minuten lang abwechselnd auf den Sympathicuspunkt am Halse, auf
die Lider, auf die Schilddrüse und Herzgegend. Es macht wohl den Ein-
druck, als wirke die ViGoußoux'sche Methode als beschränkte „allgemeine
BESCHÄFTIGUNGSNEUROSEN. 161
Faradisation", deren ausgezeichnete Wirkung bei Hysterie und Neurasthenie
von Beard und Rockwell so sehr gepriesen wird. Die FrankUnisation hat
sich nach Vigouroux ganz erfolglos erwiesen. In Fällen von „partieller
Darmatonie" empfiehlt Federn B a u c h m a s s a g e und leichte Purgantia.
Ruhe für Geist und Körper, das ist das Wichtigste, wofür bei solchen
Kranken gesorgt werden muss, da bei Aufregungen und Anstrengungen die
an und für sich schon gesteigerte Pulsfrequenz noch mehr zunimmt. Ab-
solute Bettruhe ist in schweren Fällen, Luftwechsel, gelegentlich See-
reisen sind in leichten Fällen zu empfehlen.
Endlich bleibt noch ein Wort über die chirurgische Behand-
lung zu sprechen übrig. Dieselbe beweist gleichzeitig, dass in manchen
Fällen ein peripherer Ursprung des Leidens anzunehmen ist. Es sind
mehrere Beobachtungen bekannt, wo die galvanokaustische Zerstörung der
beträchtlich vergrösserten Nasenmuscheln einzelne Symptome, z. B. den
Exophthalmus, und zwar auf der operirten Seite, sofort zum Schwinden
brachte. In anderen Fällen schwanden auch die Herzpalpitationen nach Be-
handlung der atrophischen Na'senschleimhaut. Die Exstirpation der Struma
wird in den meisten Fällen von Erfolg gekrönt. Rathsam ist es, einen Theil
der Drüse zurückzulassen, um auf diese Weise dem Auftreten von Myxoedem
und Tetanie vorzubeugen. Die Unterbindung der Art. thyreoidea gab
manchen Chirurgen ausgezeichnete Resultate.
Ueber die Wirkung der meisten in der letzten Zeit warm empfohlenen
subcutanen Mittel (Glycerinemulsion, Schilddrüsenextract, Browk-
SEQUAED'sche Hodenflüssigkeit) lässt sich, bevor wir über ein umfang-
reicheres und kritisches Material verfügen, nichts Bestimmtes aussagen.
H. HIGIER.
Beschäftigungsneurosen. Unter der Bezeichnung „coordinato-
rische Beschäftigungsneurosen" fasst man nach Benedikt eine
Gruppe krankhafter Störungen in verschiedenen Muskelgebieten, besonders
der oberen Extremität zusammen, deren charakteristischstes Symptom darin
besteht, dass dieselben nur bei Ausführung bestimmter Beschäftigungen
auftreten, während alle übrigen Bewegungen von denselben Muskeln mit
ungeschwächter Kraft vollzogen werden. Vorzugsweise sind die beim
Schreiben in Thätigkeit tretenden Muskeln ergriffen, aber auch bei
Klavier- und Violinspielern, bei Schneidern, Schmieden, Tele-
graphisten, Cigarrenarb eitern, Uhrmachern u. s. w. kommen
ähnliche Affectionen vor, ja es scheint, dass keine berufs- oder gewohn-
heitsmässig häufig ausgeführte Muskelthätigkeit eine Immunität, wenn man
so sagen darf, gegen diese Erkrankung besitzt.
Die in Betracht kommenden Bewegungen haben das Gemeinsame,
dass sie durch das Zusammenwirken einer grösseren Anzahl von ver-
schiedenen Nerven versorgter Muskeln und eine sehr feine Combination
der Thätigkeit derselben erfolgen. Lange und emsige Uebung befähigt erst
dazu, diese complicirten Muskelcontractionen schnell und gleichsam un-
bewusst zu vollführen. Es bilden sich vermuthlich Coordinationscentren in
dem Centralnervensystem, im Rückenmark oder, was noch wahrscheinlicher
ist, im Gehirn, welche die erforderlichen Impulse den einzelnen Muskeln
übermitteln und somit die prompte Ausführung der complicirten Be-
wegungen ermöglichen. Krankhaft gesteigerte oder herabgesetzte Erreg-
barkeit dieser Centren führt zu Störungen, welche im ersteren Falle als
krampfartige, im letzteren als lähmungsartige Zustände erscheinen werden
(spasme et impotence musculaires fonctionnels Duchenne's). Man unter-
scheidet demnach eine spastische und eine paralytische Form des Leidens,
welchen als dritte die tremorartige sich hinzugesellt.
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. 1 1
162 BESCHÄFTIGUNGSNEUROSEN.
Die am häufigsten vorkommende und daher auch am ge-
nauesten studirte Beschäftigungsneurose ist der Schreibekrampf
(Mogigraphre, Graph 0 Spasmus). Derselbe tritt bei Menschen, welche
durch ihren Beruf gezwungen sind, viel zu schreiben, besonders bei
Secretären, Bureaubeamten, Kaufleuten, Gelehrten in den Muskeln der
rechten Hand auf. Vorwiegend sind Männer von dem Leiden befallen, aber
auch Frauen, welche viel mit der Feder arbeiten; so werden Schriftstelle-
rinnen gelegentlich von demselben heimgesucht. Die Kranken bieten
häufig Zeichen allgemeiner nervöser Prädisposition dar, können aber auch
bis auf diesen einen Punkt völlig gesunde und kräftige Individuen sein.
Die H aup tu r s a ch e des Schreibekrampfes ist in vielem und angestrengtem
Schreiben zu suchen; als begünstigend kann schlechte Haltung der Feder,
schlechte Beschaffenheit des Schreibmaterials (zu spitze Federn und Aehn-
liches) hinzukommen. Von manchen Autoren ist der Gebrauch der Stahl-
federn angeschuldigt und als Beweis das seit Einführung derselben häufigere
Auftreten der Krankheit angesehen. Dem widerspricht aber die Thatsache,
dass Schreibekrampf auch bei Menschen vorkommt, welche stets Gänse-
federn benutzt haben. Aus früherer Zeit liegen wohl nur deshalb keine
Beobachtungen vor, weil die Erkenntnis krankhafter Zustände des Nerven-
systems damals eine sehr mangelhafte war.
Am häufigsten tritt das Leiden in der spastischen Form, als
eigentlicher Schreibekrampf auf. Die Entwickelung ist eine ganz
allmähliche. Anfangs erst nach längerem Schreiben, später schon bei den
ersten Versuchen stellen sich spannende, häufig schmerzhafte, tonische
Contractionen in den betreffenden Muskeln ein, welche bei Fortsetzung
der Arbeit in dem Maasse sich steigern, dass eine Fortbewegung der Feder
nicht mehr möglich ist. In den ausgebildetsten Fällen kann schon das Er-
fassen des Halters oder der Versuch, die Finger in die zum Schreiben er-
forderliche Stellung zu bringen, den Krampf hervorrufen. Sobald die Feder
fortgelegt ist, schwinden Contractionen und Schmerzen und der Kranke
ist im Stande, alle anderen Bewegungen der Hand mit ungeschwächter
Kraft auszuführen. Meist sind die Muskeln der drei ersten Finger, die
kleinen Muskeln des Daumenballens, die luterossei, Lumbricales und die
langen Beuge- und Streckmuskeln ergriff'en, unter ihnen wieder häufiger
die Adductoren und Flexoren als die Abductoren und Extensoren, aber
auch die Muskeln des Kleinfingerballens, der Pronator teres, sowie einzelne
Muskeln des Oberarms und der Schulter können isolirt und in Verbindung
mit den anderen afficirt sein. Daraus ergibt sich eine gewisse Mannig-
faltigkeit des Symptomenbildes, welche, zumal im Interesse einer sach-
gemässen Behandlung, für jeden einzelnenFall ein eingehendes
Studium erfordert. Bald (bei Krampf der Adductoren und Flexoren) wird
die Feder fest auf das Papier gedrückt, bald (Abductoren, Extensoren)
lösen die Finger sich voni, Halter los, so dass derselbe der Hand entfällt,
bald endlich ist der Kranke nicht mehr im Staude, die Hand von links
nach rechts weiter zu bewegen und muss daher das Papier mit der
andern Hand in umgekehrter Pachtung fortschieben. Die Schrift, wo eine
solche überhaupt noch zu Stande gebracht wird, sieht sehr ungleichmässig,
holprig, wie von einem Kinde geschrieben aus und ist durch viele Kleckse
verunstaltet. Manche Kranke versuchen das Schreiben mit der linken Hand
zu erlernen, aber häufig stellt sich bald auch in den Muskeln der linken
Extremität der gleiche tonische Krampfzustand bei Ausführung der Schrift
ein. In einem Falle meiner Beobachtung war das zwar nicht der Fall, aber
sobald der Kranke mit der linken Hand zu schreiben versuchte, traten in
der jetzt unthätigen rechten Hand und im Vorderarme heftige, schmerz-
BESCHÄFTIGUNGSNEUROSEN. 163
hafte tonische Coutractionen der Adductioos-, Flexions- und Pronations-
muskehi auf, welche auch durch Fixirung der Hand nicht unterdrückt
werden konnten und somit einfach mechanisch jeden Schreibversuch
illusorisch machten. — Die zuletzt angeführten Beobachtungen liefern zu-
gleich den Beweis, dass das Leiden auf einer centralen Störung beruht.
Seltener als die spastische gelangt die tremor artige Form des
Schreibekrampfes zur Beobachtung. Sobald der daran Leidende zu schreiben
beginnt, wird seine Hand von einem Zittern ergriffen, welches in der Ruhe
und bei anderen Bewegungen fehlt. Die Schrift gestaltet sich dadurch
wellenförmig, ist jedoch nicht so hochgradig entstellt wie bei dem Spasmus.
Die paralytische Form des Schreibekrampfes, besser und richtiger
als Schreibelähmung zu bezeichnen, ist wiederum häufiger. Hier
besteht bei jedem Schreibversuche eine allmählich zunehmende Schwäche
und ein lähmungsartiges Gefühl in Hand- und Armmuskulatur, welches die
Fortbewegung der Feder sehr erschwert, bei hochgradiger Erkrankung zur
Unmöglichkeit macht. Charakteristisch ist wiederum, dass, sobald das
Schreiben aufgegeben ist, alle anderen Thätigkeiten mit ungeschwächter
Kraft vollführt werden können. Die paralytische Form combinirt sich oft
mit der tremorartigen, wie denn überhaupt Combinationen und Uebergänge
der einzelnen Formen in einander nicht selten beobachtet werden.
Den Schreibekrampf begleiten häufig s c hm erzhafte. Sensationen
in Hand und Arm, dieselben können aber auch vollkommen fehlen.
Die objective Untersuchung der Kranken ergibt sehr wenig.
Das elektrische Verhalten der befallenen Muskeln ist in der Mehrzahl der
Fälle normal gefunden, nur ausnahmsweise bestand Entartungsreaction. Die
Sensibilität weist gewöhnlich keine Störungen auf, doch klagen viele Kranke
über Parästhäsien in der Hand, welche bestehen bleiben, auch wenn sie
zu abreiben aufgehört haben. Mitunter sind äussere Verletzungen und
Periostitis verzeichnet, in einzelnen Fällen auch Neuritis der Armnerven.
Die Diagnose des Leidens ist nicht schwier; zu Verwechslungen
könnten höchstens gewisse organische Erkrankungen des Centralnerven-
systems Anlass geben, bei welchen ebenfalls eine Störung der Schrift
besteht. Die Beachtung des Umstandes, dass der Schreibekrampf nur bei
der Ausführung dieser einen Beschäftigung auftritt, während sonst die
Muskeln vollkommen normal functioniren, wird vor Irrthümern schützen.
Die Prognose ist, soweit die Wiedererlangung der Schreibfähigkeit
in Frage steht, im Allgemeinen als ungünstig zu bezeichnen. Dauernde
Heilungen sind sehr selten, meistens treten bald Ptecidive ein, und häufig
nimmt das Leiden derart zu, dass die Patienten das Schreiben vollkommen
aufgeben, eventuell ihrem Berufe entsagen müssen. Das körperliche Be-
finden der Kranken wird gewöhnlich nicht beeinflusst, dagegen stellen sich
nicht selten infolge der Sorge um die durch die Krankheit bedrohte
Existenz psychische Verstimmungen schwerer Art ein, welche bisweilen sogar
zu Selbstmord geführt haben.
Für die Therapie ist zunächst die Enthaltung von jedem Versuche
zu schreiben für längere Zeit, mehrere Monate, unbedingt erforderlich.
Dadurch allein wird oft schon eine erhebliche Besserung erzielt. Wo ein
örtliches Leiden oder eine Allgemeinkrankheit zu Grunde liegt, sind diese
zugleich in energische Behandlung zu nehmen. Gegen den Schreibekrampf
selbst wird der constante Strom in Anwendung gezogen; auf seine Wirkung
sind viele Heilungen und Besserungen zurückzuführen ; ich habe auch eine
solche gesehen. Man galvanisirt entweder das Gehirn und die oberen
Theile des Ptückenmarks mit schwachen constanten Strömen (Aufsetzen der
Electroden zu beiden Seiten des Kopfes resp. längs der Hals^Ndrbelsäule),
11*
154 BESCHÄFTIGUNGSNEUROSEN.
oder man applicirt labil die Anode auf die befallenen Muskeln, während
die Kathode an einem indifferenten Punkte angebracht ist. Ferner ist die
Massage der befallenen Muskeln zu empfehlen. Durch Ausführung derselben
in Verbindung mit einem elementaren Schreibunterricht hat Wolff in
Frankfurt a. M., ein Schreiblehrer, sehr gute, durch das Zeugnis aner-
kannter Autoritäten beglaubigte Erfolge zu verzeichnen. Aber auch bei
dieser Behandlung bleiben Recidive nicht aus, wie ich aus eigener Er-
fahrung berichten kann.
Bisweilen erleichert der Gebrauch dicker Federhalter aus Kork das
Schreiben. Für Fälle, in denen dieselben nicht genügen, ist eine Reihe von
Vorrichtungen construirt, welche den Kranken das Schreiben ermöglichen
sollen; unter ihnen ist wohl am bekanntesten Nüssbaum's Bracelet. Dieser
Apparat besteht aus einem querovalen Guttapercharing von 9 ~ll cm Längs-
und 3—5 cm Querdurchmesser, an welchem der Federhalter angeschraubt
ist. Man führt in denselben die ersten vier Finger und spreizt dieselben
dann. Auf diese Weise ist der Apparat fixirt und nun vermag man mit
Hilfe desselben zu schreiben. Dabei treten nur die Extensionsmuskeln in
Thätigkeit, die Flexoren und Adductoren bleiben in Ruhe. Bei Krampf
der letzteren wird das Instrument sich mithin besonders nützlich erweisen.
Wo alle Mittel die Therapie im Stiche gelassen haben, kann manchem
Kranken durch Empfehlung einer der in neuerer Zeit construirten Schreib-
maschinen vielleicht die Ausübung seiner Berufspflichten ermöglicht
werden. —
Die Behauptung Benedikt's, dass, „wenn die Coordination für eine
Beschäftigung gestört ist, dasselbe auch von allen verwandten Beschäfti-
gungen gilt, dass also ein an Schreibekrampf Leidender auch nicht Klavier-
spielen, geigen, nähen u. s. w. kann", ist bisher von keinem Autor in
dieser Ausdehnung bestätigt und darf daher in dieser Allgemeinheit Mcht
aufrecht erhalten werden. Das Wesentliche des Processes ist es gerade,
dass nur die für eine bestimmte Art von Bewegung nothwendige Muskel-
thätigkeit unmöglich wird, während alle anderen ungehindert von statten
gehen. Combinationen verschiedener Beschäftigungsneurosen bei einem
Individuum können wohl vorkommen, stellen aber immerhin etwas Zufälliges
dar, was, soweit die bisherigen Erfahrungen reichen, nicht gerade häufig
gefunden wird.
Sehr viel seltener als der Schreibekrampf gelangen die anderen hier-
her gehörigen Neurosen zur Beobachtung.
Bei jungen Pianistinnen stellt sich häufig im Anschluss an ange-
strengte Uebungen lähmungsartige Schwäche der Flexoren des Vorder-
arms verbunden mit heftigen Schmerzen und einem Gefühl von Starre in
Hand und Fingern ein, ein Zustand, welchen man nicht sehr passend als
Klavierspielerkrampf bezeichnet. Derselbe kann sowohl eine als auch
beide Hände befallen und macht häufig die Fortsetzung des Berufs zur
Unmöglichkeit. Aehnliche Zustände sind auch bei Orgel- und Violin-
spielern beobachtet.
Bei dem Schneider- und Schusterkrampf treten krampfhafte
Contractionen in den theils vom Medianus, theils vom Ulnaris versorgten
Muskeln des Daumenballens auf, welche die sichere Führung der Nadel,
eventuell sogar schon das Einfädeln derselben verhindern.
Bei Viehmägden findet sich bisweilen der beim Melken auftretende
und [in krampfhaften Spannungen der Muskulatur des Vorderarms be-
stehende Melkerkrampf.
In ähnlicher Weise sind bei Telegraphisten, Cigarren-
arbeiterinnen, Uhrmachern, Fechtlehrern, Webern, Schmieden
BLEILÄHMÜNG. 165
krampfartige Zustände beschrieben worden, welche als Beschäftigungs-
neurosen zu deuten sind.
Auch an den unteren Extremitäten kommen dieselben, wenn
auch seltener, vor, so bei Näh maschinenarbeiter innen, Tänze-
rinnen, Drechslern u. s. w.
Nur ausnahmsweise sind Beschäftigungsneurosen in anderen Muskel-
gebieten beobachtet. Duchenne berichtet davon einige bemerkenswerthe
Beispiele. So trat bei einem Herrn, welcher unmässig viel gelesen hatte,
bei jedem erneuten Versuche dazu eine krampfhafte Drehung des Kopfes
nach rechts auf, bedingt durch die Contraction der Rotationsmuskeln des
Kopfes. Bei einem Gelehrten, welcher seine Augen durch jahrelanges Ent-
ziffern von Handschriften überangestrengt hatte, stellte sich jedesmal, wenn
er einen nahe gelegenen Gegenstand fixiren wollte, Doppelsehen infolge
Contraction des rectus internus eines Auges ein. Bei einem dritten Manne
endlich wurde Jede Inspiration von einer Zusammenziehung der Bauch-
muskeln der rechten Seite begleitet, welche die Thätigkeit des Zwerchfells
in hohiem Grade erschwerte und dadurch zu bedeutenden Respirations-
störungen Anlass gab.
Die Prognose und Therapie dieser Zustände stimmt im Wesentlichen
mit dem beim Schreibekrampf Ausgeführten überein. Heilungen sind nur
ausnahmsweise erzielt, meist sind die Kranken gezwungen, die betreffende
Beschäftigung aufzugeben. . hilbert.
Bleilähmung. Lähmungen zählen zu den häufigeren Erscheinungen
der Bleiintoxication. Unter den vier Hauptsymptomen der Bleivergiftung
nehmen sie nach Tanqueeel die dritte Stelle ein. Auf 1217 Fälle von Blei-
kolik kommen 755 Arthralgien, 107 Paralysen und 72 Encephalopathien.
Die Kenntnis der Bleilähmung reicht historisch weit zurück (Nicandek, Galen).
In der neuen Zeit soll Boeehave der erste gewesen sein, der Lähmung und Bleiintoxi-
cation in Beziehung brachte. Von den späteren Autoren ist neben Stockhusen, Van-
SwiETEN u. A. besonders hervorzuheben de Haef, von dem bereits eine sorgfältige Be-
schreibung der typischen Formen der Bleilähmung vorliegt. Unsere Zeit knüpft
an die klassischen Untersuchungen von Tanqiteeel des Planches und die von DucHENisrE
DE BoTjLOGNEs an. Während Tanqtjekel als der Schöpfer des klinischen Bildes bezeichnet
werden muss, verdanken wir DrcHEXNE die wichtigsten Einzelheiten dieser Erkrankung,
namentlich bezüglich des elektrischen Verhaltens der Nerven und Muskeln. Von neueren
Autoren seien genannt: Erb, Vulpian, Rayjtaud, Gombatjlt, Rekak, Frau Dejekine-
Klumpke, der wir die jüngste Monographie über diesen Gegenstand verdanken (Paris 1889).
A e t i 0 1 0 g i e. Diese Lähmungen betreffen in der überwiegenden Zahl
der Fälle chronische Bleivergiftungen, weit seltener acute. Nur ausnahmsweise be-
gegnet man ihnen bei alimentären (z. B. Genuss von Trinkwasser aus blei-
haltigen Leitungsröhren, von in Bleistanniol gehüllten Genussmitteln) oder
medicamentösen Intoxicationen durch Blei. Hier überwiegen nämlich fast
immer die Darmerscheinungen, während die Lähmungen bei der habituellen
Beschäftigung mit Blei prävaliren.
Es kommen ätiologisch zunächst alle jene Schädlichkeiten in Betracht,
welche eine chronische Intoxication herbeizuführen geeignet sind. Das Haupt-
contingent stellen daher auch Arbeiter, welche mit Blei und bleihaltigen
Objecten beschäftigt sind : Schriftsetzer, Letterngiesser und -Schleifer, Töpfer,
Anstreicher etc.
Im Allgemeinen stellen Männer ein weit grösseres Contingent als
Frauen und Kinder, doch erklärt sich dieses Verhältnis zur Genüge aus
der geringen Betheiligung der letzteren an den einschlägigen Beschäftigungs-
arten. Erfahrungsgemäss erweisen sich jedoch Frauen und Kinder, soweit
sie eben herangezogen werden, in dieser Richtung sehr empfänglich. Ueberdies
liegen in der Literatur Beobachtungen vor, nach welchen Frauen, die blei-
166 BLEILÄHMUNG.
hältige Schminke benützten oder Vaginalirrigationen mit Bleiwasser machten,
an Bleilähmung erkrankten.
In der Kegel bedarf es einer längeren und intensiven Beschäftigung
mit dem Metalle, ehe Lähmungserscheinungen auftreten. Meist sind es
Individuen, welche bereits wiederholt Kolikanfälle hatten und deutlichen
Bleisaum am Zahnfleisch aufweisen.
Mitunter sind es aber Leute, welche erst kurze Zeit mit Blei zu thun
hatten, so gibt dies Tanquerel unter 200 Fällen für 14 an. Hier kommen
neben individuellen Eigenheiten (Ernährungszustand, Disposition) gewiss auch
die äusseren Verhältnisse in Betracht, unter welchen die Beschäftigung
stattfindet, so die hygienischen Verhältnisse der Werkstätte, die persönliche
Sorgfalt des Individuums (Reinigung der Hände vor den Mahlzeiten u. dgl.).
Nach Remak handelt es sich bei rasch eintretenden Lähmungen um zu-
fällige Vergiftungen.
Zur Regel gehört das späte Auftreten der Lähmungen. So gibt Remak
als Mittelzahl 13jährige Beschäftigung mit Blei an. Tanqüerel fand in
102 Fällen 9, in welchen die Lähmungen schon im ersten Monate, 14, in Welchen
dieselben im zweiten, 36, in welchen sie in den ersten beiden Jahren,
32, in welchen nach 10 Jahren, 13, in welchen nach 20 Jahren und 1 Fall,
in welchem nach 52jähriger Beschäftigung mit Blei Lähmungen auftraten.
Fast typisch findet man dieselben bei Leuten, welche bereits
Bleisaum zeigen, in ihrer Ernährung sehr herabgekommen und anämisch
sind, so dass es immerhin möglich ist, dass in vielen Fällen die abnorme
Blutbeschaffenheit das Hauptmoment für das Zustandekommen der nervösen
Veränderungen abgibt, welche die Lähmungen hervorrufen. Doch werden
mitunter wohl auch noch kräftige Individuen von der Lähmung befallen.
Nach einer alten Beobachtung soll das Bestehen anderer toxischer Einflüsse,
z. B. chronischer Alkoholismus die Disposition erhöhen (Taistqüerel).
Weshalb bei der Bleiintoxication gewisse Nerven am häufigsten
betroffen werden, ist hier ebensow^enig wie bei anderen Intoxicationen klar.
Die Erklärung in einer erhöhten Inanspruchnahme der betreffenden Nerv-
muskelgruppen zu suchen (Manouvrier), erscheint nicht ausreichend. Dafür
spricht wohl die Beobachtung, dass bei Rechtshändern die rechte, bei Links-
händern in der Regel die linke obere Extremität zuerst erkrankt. Dem
gegenüber darf man nicht vergessen, dass bei der generalisirten Form der
Erkrankung manchmal die verschiedenartigsten Nerven nebeneinander
befallen erscheinen.
Nach eingetretener Heilung genügt oftmals eine geringfügige Veran-
lassung (Excess), um einen Nachschub, welcher eventuell auch früher nicht-
erkrankte Nerven betreffen kann, hervorzurufen. Doch wird die Disposition
zur Recidive durch fortgesetzte Beschäftigung mit Blei bedeutend erhöht.
Symptome. Die Erscheinungen entwickeln sich zwar manchmal ohne
Prodrome, meist gehen aber Mattigkeit, mitunter Muskelzittern auch Krämpfe
in den später gelähmten Muskelgruppen voraus. Nur selten werden im
Prodromalstadium Ameisenlaufen, Kriebeln, Schmerzen im Verlauf der Nerven-
stämme oder Druckempfindlichkeit beobachtet. Diese namentlich gehört hier,
im Gegensatze zu den übrigen Formen der multiplen Neuritis, zu denAusnahmen.
In vereinzelten Fällen erfolgt eine acute Entwicklung der
Lähmungen. Die Regel ist, dass die Symptome ganz allmälig ihren
Höhepunkt erreichen, um dann chronisch abzuklingen. Nur ausnahmsweise
werden die Prodrome von Temperatursteigerung begleitet, und da handelt
es sich immer um generalisirte Formen.
Elektrisches Verhalten. Das elektrische Verhalten der Nerven
und Muskeln entspricht in den typischen Fällen, da es sich ja gewöhnlich
BLEILÄHMUNG. • 1^7
um eine periphere Erkrankung der Nerven handelt, dem Verhalten bei jeder
anderen Form der Neuritis. Man findet meist unter raschem Sinken der
Erregbarkeit vom Nerven aus eine erhöhte Erregbarkeit der Muskeln bei
directer Reizung gegen den galvanischen Strom, häufig Entartungsreaction oder
auch nur einfache quantitative Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit.
Wichtig ist zu wissen, dass die Veränderungen der elektrischen Erreg-
barkeit durchaus nicht mit den Functions^törungen im Muskel parallel
sind. So können gelähmte Muskeln normales, elektrisches Verhalten zeigen.
In diesen Muskeln stellt sich die normale Function am raschesten wieder
her (Remak). In den Muskeln, in welchen die elektrische Erregbarkeit er-
loschen ist, stellt sich die Functionsfähigkeit viel früher ein als die elektrische
Erregbarkeit. Nicht selten zeigen daher im Stadium der Reconvalescenz
bereits leistungsfähige Muskeln Mangel an elektrischer Erregbarkeit. Wie
unzweifelhaft sichergestelt, treten erhebliche Störungen in der elektrischen
Reaction auch in Nervmuskelgruppen ein, welche während des ganzen Ver-
laufes der Krankheit keine Lähmungserscheinungen geboten hatten.
Dem Eintritt der Lähmung und der elektrischen Alteration folgt auf
dem Fusse die Atrophie der betreffenden Muskeln, wenn diese /nicht schon
als erste Erscheinung die Erkrankung inaugurirt hat. Die Atrophie betrifft
vorwiegend gelähmte Muskeln, Durch dieselbe verschwindet die normale
Wölbung, welche die Muskeln bilden. So zeigt bei dem Vorderarmtypus die
Dorsalfläche des Vorderarmes eine Einsenkung, über welcher die Haut sich
falten lässt. Schreitet die Atrophie nicht weit fort, so steht baldiger Ausgleich
der Störungen in Aussicht. Beiläufig bemerkt, kann auch Atrophie ohne
Lähmung leicht zur Entwicklung gelangen (Vulpian, Eisenlohr),
Sensibilitätstörungen werden insbesonders bei der partiellen
Bleilähmung gewöhnlich vermisst. Frau Dejerine-Klumpke findet jedoch bei
der Vorderarmlähmung eine solche auf der Rückenfläche der Hand, dann
insbesondere auf der des Daumens, seltener des Vorderarmes, eine mehr oder
minder ausgesprochene anästhetische Zone von wechselnder Ausbreitung.
Nach Frau D.-K. weichen in dieser Hinsicht die Lähmungen des Radialis durch
Blei durchaus nicht ab von denen anderer Aetiologie. Dieselbe Autorin gibt
auch eine Herabsetzung der faradocutanen Sensibilität im Bereiche der ge-
lähmten Zone an.
Von den weiteren Symptomen wären zu erwähnen vasomotorische
Störungen (Cyanose, Kälte der Extremitäten), dann trophische Stö-
rungen (Auftreibungen der Metacarpalknochen, Verdickungen der Sehnen).
Das Verhalten der Sehnenreflexe ist meist ein der Erkrankung
der Nerven und Muskeln paralleles.
Eintheilung;.
Die Lähmungen sind entweder partielle und dann localisirte, oder
gener alisirte und dann fortschreitende. Diese beiden Formen bilden
heute allgemein die Grundlage der klinischen Eintheilung dieser Krankheit.
Die Eintheilung nach der Entwicklung der Symptome in acute, subacute
und chronische ist nicht haltbar, da doch die meisten Lähmungen abgesehen
von der Entwicklungsperiode chronisch verlaufen.
Wir unterscheiden somit:
A. Partielle Lähmungen, d. h. Lähmungen, welche in der Regel
nur auf eine Nervmuskelgruppe beschränkt bleiben. Unter diesen trennen wir :
1. Lähmungen dei* oberen Extremitäten:
a) Vorderarmlähmungen — die häufigste Form;
b) Schulterarmlälimungen ;
c) HandmuskeUähmungen.
168 BLEILÄHMUNG.
2. Lähmungen der unteren Extremitäten.
3. Lähmungen dercerebralenNerven, spec. derKehlkopf-
nerven.
B, Greneralisirte Lähmungen, d. h. Lähmungen, welche mehr oder
minder regellos von einer Nervmuskelgruppe auf die andere fortschreiten.
Diese entwickeln sich bald langsam, bald rasch mitunter unter fieberhaften
Prodromen.
A. Partielle Lähmungen.
1. a) die Vord era rmlähmung — ist die liäufigste Form und betrifft
die Streckergrnppe.
Die Erkrankung befällt hier in den typischen Fällen zunächst den Extensor
digitorum communis, meist die Strecker des dritten und vierten Fingers in erster
Linie, dann den des kleinen und des Zeigefingers, schliesslich den langen und
den kurzen Strecker des Daumens. Der letzgenannte bleibt in manchen Fällen
ganz verschont oder wird erst spät befallen. Nach den Fingerstreckern wird die
Gruppe der Eadialmuskeln ergriffen. Die solchermassen fast stets symmetrisch
erkrankten vorderen Extremitäten werden im Ellbogengelenke rechtwinklig gebeugt
gehalten, die Hand in Pronationsmittelstellung gleichfalls rechtwinklig gebeugt,
die Finger sind flectirt und der Daumen eingezogen. Der Händedruck ist in
dieser Stellung von minimer Kraft; wird jedoch die Hand passiv gestreckt, so
wächst die Intensität des Händedruckes wesentlich — ein Zeichen, dass die
Kraftlosigkeit der Beuger wohl nur auf den gelähmten Zustand der Strecker
zurückzuführen ist. Von der Lähmung bleiben meist verschont der Suplnator
longus, der Änconaeus quartus und der Ahductor pollicis brevis. Nichtsdesto-
weniger werden auch Lähmungen dieser Muskeln beobachtet, so dass wir das
Bild einer completen Eadialislähmung vor uns haben. Es ist dies namentlich
dann der Fall, wenn sich zur Lähmung der Vorderarmgruppe die nachfolgende
hinzugesellt.
b) Die S c h u 1 1 e r a r m I ä h m u n g (Remak) betrifft die DuCHENNE-Erb'-
sche Gruppe, den M. deltoides,. biceps, brachialis internus und den Siipinafor
longus. Selten sind die Schulterblattmuskeln und der Pectoralis major mitergriffen.
Entwickelt sich diese Lähmungsform primär, so setzt sie mit einer Deltoideslähmung
ein. In den meisten Fällen wird diese Gruppe aber im Anschlüsse an eine
bereits bestehende Vorderarmlähmung befallen, auch hier fast immer symmetrisch. Der
Triceps bleibt gewöhnlich intact. Unter diesen Umständen bleibt die Streckung
im Ellbogengelenke nicht beeinflusst. Der Vorderarm befindet sich in Pronations-
stellung, denn die Supination und Rotation nach aussen ist aufgehoben. Die Con-
touren des Deltoides und des Biceps sind nicht kenntlich, und die Arme hängen
schlaff herunter. Completer Verlust der elektrischen Erregbarkeit wird hier selten
beobachtet.
c) Handmuskellähmungen (Tijpus Ar an- Duchenne). In diesen Fällen
kann sich ein Bild entwickeln, welches der progressiven Muskelatrophie zum
Verwechseln ähnlich ist, jedoch von dieser sich meist durch die bestehenden
Lähmungen trennen lässt. Diese Form tritt mitunter primär auf, z. B. bei den
Feilhauern (Moebius), sonst erscheint sie meist nur im Anschluss an eine Vorder-
armlähmung. Es handelt sich hier um eine Erkrankung der Interossei, des Thenar
und Antithenar (Remak, Dejeeixe-Klumpke).
2. Lähmung der unteren Extremitäten. Tanquerel gibt an,
diese in I^^Iq der Fälle gesehen zu haben, u. zw. in 5 von 15 Fällen als
isolirte Lähmung. Fast immer haben wir es hier mit einer Partialersch einung
einer generalisirten Lähmung zu thun. Die Prodrome sind: rasche Ermüdung,
Kriebeln und Ameisenlaufen in den Füssen, Gelenkschmerzen. Später entwickelt sich
ein typischer stampfender Gang {Steppage, Charcot), der dui'ch die Lähmung
der Peronei bedingt ist, um die es sich hier gewöhnlich handelt. Der Patient
BLEILÄHMUNG. 1 69
schlägt mit dem äusseren Fassrand auf den Boden. Die Gangart hat grosse
Aehnlichkeit mit der atactischen des Tabikers. Neben den M. peronei sind hier
auch der Extensor digiforum communis und der Extensor hallucis betheiligt.
Der Ischiadicus ist selten betroffen (Remak, Oppenheim).
3. Lähmungen der Cerebralnerven. Von diesen werden in der
Literatur nur Kehlkopfnerven erwähnt. Diese Einschränkung gilt nur für die
partielle Lähmung, während bei der generalisirten auch Kopfnerven betroffen werden.
Kehlkopfmuskellähmungen sind bereits seit TanqüEREL mehrfach beschrieben worden
(Seifert, Scheck, Mackenzie u. A.). Die Erscheinungen kündigen sich durch
Heiserkeit an, die nähere Untersuchung ergibt dann Muskellähmungen.
JB. Geiieralisirte Lähmung. Diese breitet sich in mehr oder minder
raschem Laufe über verschiedene Nervengruppen aus, gelegentlich wie erwähnt,
unter fieberhaften Prodromen. In den Fällen mit langsam fortschreitender
Entwicklung sind meist bereits Kolik, Lähmung einzelner Muskelgruppen,
unter Umständen auch cerebrale Symptome (Encephalopathia satumina) voraus-
gegangen, welchen dann die allmälige Ausbreitung der Lähmungen folgt. In
der Eegel werden dann nur Extremitätennerven betroffen, während die Nerven
des Stammes verschont bleiben.
Die Fälle mit raschem Umsichgreifen der Lähmungen betreffen meist
durch die chronische Intoxication heruntergekommene Individuen. Die Lähmungen
können in auf- oder absteigender Folge zur Entwicklung gelangen, und können
auch die Stammesnerven einbezogen sein, ebenso die Cerebralnerven (Pal). Das
Krankheitsbild entspricht seinem Wesen nach vollkommen dem einer generalisirten
multiplen Neuritis (s. „Neuritis multiplex"). Da auch das Centralnervensystem
in Mitleidenschaft gezogen sein kann, können auch Blasen- und Mastdarmstörungen
gelegentlich beobachtet werden (Pal).
Pathogenese, lieber das Wesen der Bleilähmung sind die Meinun-
gen in den letzten beiden Decennien wesentlich auseinander gegangen. So
sind diese Lähmungen von Gusserow auf eine primäre Erkrankung der
Muskeln, von Hitzig auf eine solche der Gefässe zurückgeführt worden.
Nachgewiesenermassen ist die Lähmung, beziehungsweise deren Ausbreitung,
durch eine entsprechende Ablagerung des Metalls in den erkrankten Geweben
nicht zu erklären (Heubel, Bernhardt) Später hat man die Erkrankung
auf eine, wenn auch nicht immer anatomisch nachweisbare Veränderung des
Rückenmarkes speciell der grauen Vordersäulen des Rückenmarkes im Sinne
der Lehre von Duchenne zurückzuführen gesucht (Erb).
Mit der Ausbreitung der Lehre von der multiplen Neuritis hat sich
ein vollständiger Umschwung in der Auffassung vollzogen, indem die Blei-
lähmung als eine durchaus periphere Erkrankung der Nerven, also multiple
periphere Neuritis hingestellt wurde (Dejerine-Klumpke). Doch diese Lehre
ist nicht mit den Thatsachen vereinbar, denn es liegen Beobachtungen
vor, welche die Mitbetheiligung des centralen Nervensystems unzweifelhaft
erscheinen lassen (Oppenheim, Pal) und es bleibt nun nichts übrig, als die
Bleilähmung als das Symptom einer toxischen Allgemeinerkrankung des
Nervensystems hinzustellen. Wie bei den meisten allmälig wirkenden
Noxen entwickeln sich die Erkrankungsherde vorwiegend an den peripheren
Nerven (s. „Neuritis multiplex").
Die in dieser Richtung angestellten Experimentahmtersuchungen an Thieren haben
kein einheitliches Resultat zu Tage gefördert (Hieglitz).
Pathologische Anatomie. Veränderungen finden sich hier im
Nervensystem einerseits und in den Muskeln andererseits. Im Grossen und
Ganzen handelt es sich nur um Erscheinungen, wie wir sie bei der multiplen
Neuritis finden.
Die Muskeln zeigen bereits makroskopisch Atrophie und eine grau-
170 BLEILÄHMUXG.
gelbliche Verfärbung. Die Fasern erweisen sich mikroskopisch als ver-
schmälert, die Muskelkerne meist vermehrt, die Querstreifung ist ver-
schwommen, häufig besteht fettige Entartung. Das interstitielle Gewebe
erscheint vermehrt und mit Fett erfüllt. Fast in allen in neuerer Zeit mit
Hilfe der jüngsten technischen Hilfsmittel untersuchten Fällen sind in den
peripheren Nerven degenerative Processe nachgewiesen worden. In einer
Reihe von Fällen betrafen solche auch Rückenmarkswurzeln (Lancereaux,
Dejerixe u, A.).
Im Rückenmark fanden sich in vereinzelten Fällen auch Veränderungen
in der grauen Substanz, insbesondere Atrophie der grossen Ganglienzellen
der Vorderhörner (Vulpian, Monakow, Oppenheim u. A.), ohne dass aber
diese zur Erklärung der ausgedehnten Lähmung ausreichend bezeichnet
werden konnten. In neuester Zeit sind endlich auch ausgedehnte Erkran-
kungen der weissen Substanz beschrieben worden (Pal.), lieber das Verhalten
des Grosshirns fehlen noch die Belege.
Die Diagnose der Bleilähmung stützt sich auf das anamnestische
Moment der Beschäftigung oder Berührung mit Blei. In Fällen, in welchen
eine solche von vornherein nicht bekannt ist, kann die charakteristische
Anaemie, der Bleisaum des Zahnfleisches zur Erkenntnis der Bleiintoxication
führen.
Der Typus der Lähmung, beispielsweise der Vorderarmlähmung kann
wohl als unterstützendes Moment, keineswegs aber als entscheidendes
Moment herangezogen werden. Man darf nicht vergessen, dass ganz gleiche
Lähmungsformen auch bei anderen Intoxicationen beobachtet werden.
Die Prognose ist in erster Linie davon abhängig, ob es sich um
eine generalisirte oder aber um eine abgegrenzte , partielle Lähmung
handelt. Es kann zwar die letztere stets in erstere übergehen. Die
generalisirte Lähmung ist durch den Umstand gefährlich, dass sie' auch
lebenswichtige Nerven befallen kann. Im Uebrigen hängt der Verlauf von
dem allgemeinen Zustande des Individuums und dann von der Eliminirung
der Schädlichkeit, d. h der Sistirung der weiteren Bleieinwirkung ab. Die
professionellen partiellen Lähmungen verlaufen meist gutartig. Eine zuneh-
mende Bleicachexie, vorgeschrittene Cerebralsymptome machen die Prognose
stets ungünstiger. Bei fortgesetzter Einwirkung des Giftes erfolgen leicht
Recidiven, doch sind solche auch trotz Enthaltung von der weiteren Be-
schäftigung mit Blei beobachtet worden (Tanquerel, Bernhardt).
Therapie. Diese fordert die Sistirung der weiteren Beschäftigung
mit Blei. Nicht selten gehen die Lähmungen dadurch allein schon von selbst
zurück, besonders wenn der Ernährungszustand gleichzeitig gehoben wird.
Die nächste Aufgabe ist, die Eli;iiinirung des Bleies aus dem
Körper anzustreben. Zu diesem Behufe sind Schuitzbäder und Sclucefelhäder
empfohlen worden. Die Wirkung beider ist wohl sehr zweifelhaft, doch wird
eine Ausscheidung von Blei durch die Schweissdrüsen neuerdings von Oddo
und SiLBERT angegeben. Innerlich Jodkalium oder -natrium — auch pro-
phylactisch. Unter dem Einflüsse der Jodsalze soll die Blei-Ausscheidung
im Harne thatsächlich steigen (Sv^te). Auch Jodeisen besonders bei gleich-
zeitig bestehender Anaemie ist zu empfehlen (Gowers). Doch ist der längere
Gebrauch der Jodsalze in Hinblick auf die Möglichkeit einer Jodbleivergiftung
(Thomsen) nicht ungefährlich. Von einer medicamentösen Beeinflussung der
Lähmungen ist wohl nichts zu erwarten. Für diese Zwecke ist Stri/cknin
innerlich und subcutan empfohlen worden. Im Uebrigen gelten hier dieselben
Principien wie bei der Behandlung der multiplen Neuritis überhaupt: Elek-
tricitäty Massage, vor Allem aber Hebung der Ernährung. pal.
BLUTENTZIEHUNG. 1 7 1
Biutentziehung. Die Blutentziehuug kann eine locale oder all-
gemeine sein. Local ist sie dann, wenn sie den Zweck verfolgt, einem
begrenzten Körpertheil (Krankheitsherd) Blut zu entziehen.
Die 1. B. löst die Stase in den Blutgefässen, die aneinander ge-
pressten Blutzellen, kommen in Bewegung und derart ist es eigentlich nicht
die Blutentziehung als solche, sondern deren mechanische Wirkung, welche
den gewünschten Erfolg erzielt. Die 1. B. ist nach der Kälteapplication
das tüichtigste Äntiphlogisücum.
Die 1. B. kann erfolgen durch Sc arifi cation mit dem Bistouri,
durch das Ansetzen von Blutegeln und durch die Application des
S chröpfkopf e s. Bei internen Krankheiten wird die Scarification nicht
angewendet, wohl aber die beiden letztgenannten Methoden. Das Schröpfen
geschieht mittels des sogenannten Schneppers, früher ein unentbehrliches
Instrument jedes Praktikers, welches in einem Messinggehäuse zwölf Messer-
klingen verborgen enthält, die durch Federdruck gleichzeitig und plötzlich
vorgeschnellt und wieder zurückgezogen werden. Das Schröpfen ist heut-
zutage gänzlich obsolet geworden.
Die Application von Blutegeln geschieht in folgender Weise:
An disparaten Stellen wird ein leicht blutender Einstich gemacht und über
diesen ein Gläschen gestülpt , in das man den Blutegel hineingethan
hat. Um das Anbeissen zu erleichtern, kann man die betreffende Stelle
zuvor mit etwas gezuckerter Milch benetzen. Man vermeide immer Haut-
partien über grossen Gefässen und solche mit zu dicker Epidermis. Sind
die Blutegel gesättigt, so fallen sie ab, und man kann dann beliebig lang
nachbluten lassen, indem man die Stiche mit warmer Salicyllösung betupft.
Will man die Egel früher zum Abfall bringen, so bestreiche man ihr
Schwanzende mit Salz. Die Stillung der Blutung geschieht durch Com-
pression mittelst antiseptischer W^atte oder mittels Pengwar- Djambi; es
ist dies deshalb erwähnenswerth, weil die Blutung aus Blutegelstichwunden
sich oft schwer stillen lässt.
Empfohlen wird das Setzen von Blutegeln vorzüglich bei folgenden
internen Krankheiten: EndocarcUtis acuta, Pneumonie und Pleuritis im Be-
ginne; Neuralgien aller Art, Bheumatismus nmsculorum, Tgphlitis, acute
Myelitis in der Höhe der vermutheten Läsion, Pachy- und Lepfotneningitis,
Insolation^ Gelrirnhlutungen, Congestions- und Stauungszustände im Bereiche
der Gefässe des Kopfes und insbesondere der Hirnvenen, sei es dass die-
selbe in Folge einer Herzinsutficienz, eines Lungenemphysems, einer all-
gemeinen Plethora sich einstellen oder als hartnäckige Kephalalgie unbe-
kannten Ursprungs sich darbieten.
Als allgemeine Blutentziehung bezeichnen wir jene, bei der
wir die gesammte Blutmenge um eine bestimmte Quantität zu vermindern
trachten. Das Ziel wird erreicht durch den Aderlass, die Vennesection.
Die Meinungen über die Zulässigkeit des Aderlasses sind noch heut-
zutage getheilt. In den letzten zwei Jahrzehnten waren es zumeist die
nicht deutschen Aerzte, welche für die Anwendung der Venaesection
energisch eintraten. Erst in der Gegenwart scheint sich auch unter den
deutschen Klinikern ein, man könnte sagen, theilweiser Umschwung der
Ansichten zu Gunsten des Aderlasses vollzogen zu haben. Als die wichtigsten
Indicationen des Aderlasses wären folgende anzunehmen:
1. Gehirnaffectionen: Haemorrhagia cerehri, Pctchg- und Lepto-
)yieningitis, gesteigerter Hirndruck nach Schädelverletzungen, Insolation. Nach
Saccharjin ist insbesondere eine drohende oder sich vollziehende Gehirn-
apoplexie im Gefolge chronischer Nephritis eine dringende Indication
für den Aderlass. In solchen Fällen ist die Venaesection jedoch nur zu
172 BLUTENTZIEHUNG.
lässig bei kräftigen Leuten, wenn der Puls voll und gespannt erscheint,
die Herztöne dementsprechend laut und accentuirt und der Gesichtsaus-
druck einen gewissen Turgor darbietet.
2. Herzaf f e ctionen. Durch den Aderlass wird hei Klappenfehlern
das venöse System entlastet und der arterielle Druck, steigt. Nur wenn
bedeutende Atheromatose der Gefässwände vorhanden ist, ist der Aderlass
contraindicirt, denn dann führt jeder acute Blutverlust zum Sinken des
Blutdruckes und zu einer meist irreparablen Verschlechterung der ganzen
Kreislaufverhältnisse. Liebeemeister empfiehlt den Aderlass neuerdings
dringend bei allen jenen Kranken, welche in einem Zustande so bedeutender
Circulationsstörung zur Behandlung kommen, dass für eine Wirkung der
Digitalis oder anderer Mittel keine Zeit mehr ist.' Dabei empfiehlt er am
zweckmässigsten den Aderlass aus der Vena jugularis interna, ein Ver-
fahren, wozu sich ein praktischer Arzt schwer entschliessen dürfte, zumal
LiEBERMEiSTER selbst zugebeu muss, dass auch durch reichliche Blutent-
leerung aus einer Armvene derselbe Zweck erreicht wird.
3. Lungenaffectionen. Die Zulässigkeit des Aderlasses bei der
Pneumonie bildet bis zur Gegenwart ein beliebtes Streitobject jener
Kliniker, die überhaupt die Venaesection anzuwenden pflegen. Englische
und französische Aerzte (Richardson, Bird, Johnson, Pappilaud u. a.)
waren ' stets für die Nothwendigkeit der Venaesection bei der croupösen
Pneumonie eingetreten.
In der im Jahre 1889 in der belgischen Akademie geführten Discussion
erklärte Verriest die Venaesection bei normalen Blutmengen immer er-
laubt. Als Nothwendigkeit bezeichnet sie der genannte Autor, wenn eine
allgemeine acute Bronchitis zur Pneumonie hinzutritt, oder wenn von früher
her Emphysem oder Cirrhose besteht. Jene Autoren, welche den cyclischen
Ablauf der pneumonischen Infection hervorheben, halten aus diesem Grunde
den Aderlass für überflüssig. Crocqe behauptet, dass die Venaesection,
wenn auch nicht den Fieberverlauf beeinflusse, so doch das „Chronisch-
werden der Pneumonie" verhindere. Saccharjin, der den Blutentziehungen
im Allgemeinen lebhaft das Wort spricht, betont den Werth des Ader-
lasses namentlich im Anfangsstadium der Pneumonie, wenn dieselbe bei
einem kräftigen Individuum stürmisch einsetzte. Unzweifelhaft nutzbringend
ist der Aderlass, wenn Lungenoedem, z. B. bei chronischer Nephritis, auf-
getreten oder auch nur drohend bevorsteht. Limgenblutungen, seien sie blos
die Folge einer Stauungshyperaemie, seien sie das Symptom eines Infarctes,
können ebenfalls, so ferne sonst alle Bedingungen für den Aderlass zu-
treffen, eine Indication zur „allgemeinen Blutentziehung" bieten. Lungen-
bluhmgen bei Phthise bilden im Allgemeinen eine Contraindication für die
Venaesection. Dass auch von dieser Regel Ausnahmen bestehen können,
beweist eine Beobachtung von William R. Huggard.
Derselbe theilte folgenden praktisch wichtigen Fall mit:
Junger Mann mit physikalisch nachweisbarer Spitzeninfiltration und
Bacillen im Sputum hat sich nach einer Periode schlechten Befindens derart erholt,
dass er ein exquisit plethorisches Aussehen darbot. Zu dieser Zeit Haemoptoe (ein
Mundvoll). Es wird Bettruhe und Morphin verordnet, trotzdem tritt ein zweites Mal
Haemoptoe ein; da der Puls sehr hoch gespannt, voll und frequent war, entschliesst sich
HiTGGAKD zur Venaesection und entzieht 1440 Blut, worauf der Kranke sich bedeutend
besser fühlt, die Pulsfrequenz von 96 auf 68 sinkt und eine weitere Blutung bis zur voll-
ständigen Recreation nicht mehr auftritt.
4. Nierenerkrankungen bilden nicht als solche, wohl aber in-
soferne sie einerseits zum Lungenoedem, anderseits zum apoplectischen
Insult führen, eine Indication für den Aderlass. F. A. Hoffmann, der
sonst nicht gerade als Anhänger des Aderlasses erscheint, befürwortet
BLUTENTZIEHUNG. 173
diese Indicationsstellung aufs Wärmste, indem er zur obgenaiinten Formu-
lirung der In dication hinzufügt „besonders bei acut Uraemischen und
Eclamptischen".
5. Blutkrankheiten. Nach der Mittheilung vielfältiger praktischer
Erfahrungen eignen sich viele anaemische Zustände, insbesondere die
Chlorose für den Aderlass und werden durch denselben geradezu im-
ponirende Erfolge erzielt (s. u.). Freilich datiren diese Erfahrungen aus
zu kurzer Zeit, als dass sie bereits allgemein anerkannte Berechtigung
und Beachtung gefunden hätten.
6. Vergiftungen, wo der Aderlass bei dyspnoischen und soporösen
Zuständen depletorisch und excitirend wirkt oder das erste Moment einer
lebensrettenden Transfusion bildet. Bei Leuchtgas (CO) Vergiftungen ist
diese Therapie die einzig berechtigte.
Nachdem der Aderlass in den letzten Jahrzehnten aus der Rüstkammer
des ärztlichen Praktikers gänzlich verbannt worden war, haben neuester Zeit
einige Kliniker bereits wieder energisch ihre Stimme zu Gunsten des Aderlasses
erhoben (s. o,). Noch bemerkenswerther ist aber eine Bewegung zur Eehabili-
tation des Aderlasses, die von Seiten einiger praktischer Aerzte in Deutschland
ihren Ausgang nahm. In den nachfolgenden Zeilen nimmt einer der „Führer dieser
Bewegung" das Wort. ^ ^
*
Mehrere Tausend Jahre nahmen die Blutentziehungen im Heilschatze eine
der wichtigsten Stellungen ein, und noch HuFELAND zählte den Aderlass zu den
Heroen der Kunst ; da mit einem Male wurde durch Diett's Vorgehen der Ader-
lass und die anderen Blutentziehungen in Acht und Bann gethan und die Be-
hauptung aufgestellt, dass kein Mensch zu viel Blut habe und jeder Blutstropfen
dem Körper zu erhalten sei. Der Grund dieser Erscheinung liegt hauptsächlich
darin, dass man zu Diett's Zeit anfangs der BouiLLAND'schen Irrlehre huldigte,
den Aderlass coup sur coup und heroiquement anzuwenden und zu gleicher
Zeit Abführmittel zu verordnen, wodurch naturgemäss eine Menge Misserfolge
kommen mussten. Anstatt nun die Aderlasstherapie in die richtigen Wege zu
leiten, schüttete man das Kind mit dem Bade aus und verwarf den Aderlass
als solchen. Jahrelang ruhte der Aderlass in der medicinischen Rumpelkammer,
wurde in den Lehrbüchern nur noch als historisch wichtig aufgeführt, und kein
Mensch dachte, dass er je wieder im Heilschatze auftauchen könnte.
Ganz hatte man ihn zwar nie zu beseitigen vermocht, und die älteren Aerzte
und Heilgehilfen, vor Allem aber das Laienpublicum konnten sich von den Blut-
entziehungen nicht trennen und übten sie ruhig weiter. Aber auch die Verächter
des Aderlasses mussten ihm bei einigen Krankheiten noch eine wichtige Stellung
einräumen, so bei Lungenödem und Apoplexie, bei letzerer allerdings erst nach
dem Schlaganfalle ; selbst bei Pneumonie Hess er sich nur schwer verdrängen,
und nur die Furcht der jüngeren Aerzte vor einer etwaigen Anklage wegen fahr-
lässiger Tödtung liess ihn mehr und mehr ausser Gebrauch kommen.
Schon starben die älteren Aerzte und Heilgehilfen, die letzten Freunde der
Blutentziehung, aus, schon begann auch das Laienpublikum sich der Lehre der
ärztlichen Schulwissenschaft anzubequemen, dass jede Blutentziehung schädlich
sei, da trat mit einem Male AuG. Dtes, Oberstabsarzt a. D. in Hannover^ mit
voller Ueberzeugung für den Aderlass ein und stellte denselben besonders als
Radical mittel bei Bleichsucht und Blutarm uth hin, eine Ansicht,
die bei fast allen Aerzten anfangs nur ein mitleidiges Lächeln hervorrief. Jahre-
lang predigte Dyes tauben Ohren, und nur seine ausgesprochenen Erfolge führten
ihm mehr und mehr Patienten zu. Plötzlich erstand ein neuer Vertheidiger des
174 BLUTENTZIEHUNG.
Aderlasses in Dr. AVilhelmi in Güstroic (jetzt Kreisphysikus in Schcerin), der
in seiner 1890 erschienenen Broschüre 30 mit Aderlass behandelte Kranken-
geschichten mittheilt, und zwar hauptsächlich Bleichsuchtsfälle. Er kommt darin
zum Schluss, dass der Aderlass hei Bleichsucht ein hervorragendes Heilmittel sei,
und dass nach seiner Meinung die Wiedereinführung kleiner Blutentziehungen nur
noch eine Frage der Zeit sei. Fast zu gleicher Zeit erschien von Dr. Scholz,
Director der Krankenanstalt in Bremen, eine Schrift über die Aderlasswirkung
bei Bleichsucht, worin er die Bleichsucht als eine Plethora erklärt und ebenfalls
für die Anwendung des Aderlasses mit nachfolgenden Schwitzbädern eintritt.
Meine eigenen Erfahrungen in der Therapie der Blutentziehungen
datiren seit dem Sommer 1890. Aufmerksam gemacht durch einen Artikel von
Dr. Dtes über den Aderlass bei Bleichsucht und die WiLHELMi'sche Broschüre
begann ich damals meine ersten Versuche bei Bleichsuchtsfällen und berichtete am
XIII. Balneologen-Congresse zu Berlin im März 1891 über meine ersten fünfzehn
Fälle. Ein Jahr später konnte ich auf dem XIV. Balneologen-Congresse bereits
über 40 und auf dem diesjährigen Congresse bereits über 113 mit Aderlass be-
handelte Fälle berichten. Jetzt habe ich bereits ein Krankenmaterial von 165
Fällen, meist Bleichsucht, Blutarmnth, Rheumatismen, Kopfschmerzen, Congestionen
u. dgl. Vor meinem letzten Vortrage i) ersuchte ich die wenigen Collegen, die
noch ausser den bekannten den Aderlass üben, durch öffentliche Aufforderung, mir
ihre Erfahrung und Ansicht über die Aderlasswirkung kundzugeben, und es liefen von
einundzwanzig Collegen Xachi'ichten ein, die fast alle sich, günstig aussprachen,
nur einige Collegen enthielten sich des Urtheiles, keiner sprach sich dagegen
aus. Aus der Summe dieser Mittheilungen, den Erfahrungen von Dtes, Scholz,
Wn^HELMi und mir, ergibt sich als heutiger Stand der Frage der Blutent-
ziehungen folgender;
Der Aderlass ist nach den Erfahrungen von Dyes, Wh^helmi, Scholz,
Joppich — Neusalz, Hauschild — Steinern a. 0,, Simon — Cottbus, K aliebe
— Treptow a. B., junge — Heide i. Holstein., Oesterlein — Stuttgart,
Ieion — Nagold und mir das vorzüglichste Heilmittel bei Bleich-
sucht. Frische Fälle heilen in kurzer Zeit, meist nach einem einzigen Ader-
lasse. Aeltere Fälle, besonders solche, die jahrelang Medicamente gebraucht haben,
bedürfen einer viel längeren Zeit, je nach der Schwere des Falles und 2- bis
4 maliger Wiederholung, da im Anfange leicht Eecidive eintreten. Man kann
wohl sagen, dass sich jede Bleichsucht zum Aderlass eignet, wenn nicht schwere
Complicationen vorhanden sind, wie vorgeschrittene Phthise, schwere Herzstörung
u, dgl., immerhin wird man mit einer kleinen vorsichtigen Venaesectio noch mehr
erreichen, wie mit einer anderen Behandlung. Anaemie der Frauen eignet sich
nach Dtes, Ieion und mir ebenfalls in hervorragender Weise zum Aderlass.
Frische Fälle heilen sehr schnell, schwere langsamer, als bei Bleichsucht, sehr
schwere Fälle gestatten wohl einen Versuch, werden aber nur selten von Erfolg
begleitet sein, da die Anaemischen meist schon den späteren Lebensjahren an-
gehören, wo die zur Eeacti^n dringend nöthige Lebenskraft schon sehr geschwächt
ist. Die Anaemie des männlichen Geschlechtes bedarf im Allgemeinen einer ver-
hältnismässig längeren Zeit und öfterer Wiederholung, weil die ausgleichende
Periode der Frauen fehlt.
Für den Aderlass bei Pneumonie treten Sanitätsrath Dr. Albu —
Schmiedeberg im Erzgeh., Dr. Neumann — Guben, Dr. Krauss — Mergent-
Jieim, mit aller Entschiedenheit ein, allerdings meist bei kräftigen voUsäftigen
Patienten bei starker Dj^spnoe und bedrohlichen Erscheinungen, ebenso tritt Prof.
Maragliano für ihn ein. Nach Dtes und Guido Catola ist der Aderlass bei
acuter Pneumonie stets iudicirt, ausser bei Marasmus senilis und Herzhyper-
^J Der Aderlass in therapeutischer Beziehung. M. Perles. Wien 1893.
BLUTENTZIEHUNG. 175
tropliie mit fettiger Entartung-. Bei einzelnen Fällen sahen vom Aderlasse bei
Pneumonie sehr gute Erfolge : Dr. Legiehn — Udericangen, Dr. Falk — Hamm
i. W., Dr. Vogt — Dresden, und Dr. Hofrichter — Liltzelstein, während
die mit Aderlass behandelten vier Fälle von Dr. Dietrich — Elbing, ein Fall
von Dr. Goldmann — Hertwigsivalde^ zwei Fälle von mir zwar zunächst eine
auffallende Besserung zeigten, dann aber schliesslich tödtlich endeten. Directe
Gegner des Aderlasses bei Pneumonie von solchen Collegen, die ihn versucht
haben, haben sich nicht gemeldet.
Obwohl der Aderlass bei Lungenödem und Apoplexie noch als
ultimum refugium selbst in den neueren Lehrbüchern empfohlen wird, wird er
doch meist selten geübt, da die Furcht der Aerzte vor dem Aderlasse eine zu
grosse ist. Dass er bei Lungenödem das einzige lebens rettende Mittel
ist, vermag selbst der entschiedenste Gegner nicht zu bestreiten. Bei Apoplexie
ist es ebenso, doch wird man bei stärkeren Schlaganfällen nur selten Erfolge
haben ; hingegen ist er bei apoplectischem Habitus nach den Erfahrungen von
Dyes und mir ein hervorragendes Mittel zur Beseitigung der drohenden Erschei-
nungen des Schlagaüfalles. Bei Congestionen und den damit zusammen-
hängenden Kopfschmerzen ist der Aderlass ein geradezu specifisch wirkendes
Mittel. Ebenso sah ich fast immer vorzügliche Erfolge bei Eclampsie und
einigen Fällen von Epilepsie. Nach den Beobachtungen von Dtes, Dr. Irion
und mir, wirkt der Aderlass ferner vorzüglich bei Neuralgien, acutem
und chronischem Eheumatismus; ferner bei gewissen melancholi-
schen und hypochondrischen Zuständen, bei nicht heilenden Bein-
geschwüren und Ekzemen. *
Fragen wir uns nun, wie es kommt, dass der Aderlass bei einer so grossen
Menge von Krankheiten so günstigen Einfluss hat, so liegt dies in der Art seiner
Wirkungsweise, Er wirkt nämlich überall da, wo eine fehlerhafte Circulation,
die sich in Kälte der Extremitäten und Ueberfüllung der inneren Organe mit
Blut äussert, oder eine schlechte Blutbeschaffenheit vorhanden ist, die Circulation
regelnd und die Blutbeschaffenheit verbessernd, und zwar deshalb, weil er das
erste und mächtigste Schwitzmittel ist, das stets prompt wirkt und unter Ent-
lastung des Herzens die contracilen Gefässfasern zur Ausscheidung anregt. Diese
Wirkungsweise ist allein ausschlaggebend für seine Anwendung und demnach der
Aderlass überall da am Platze, wo man ableiten und die Circulation und Blut-
neubildung heben will. Da ich nach den Erfahrungen von Dyes, Scholz und
mir nun auch die Chlorose und Anaemie als eine Plethora auffassen muss, so
ist danach auch hier die so überraschende Wirkung zu erklären. Nach jedem
Aderlasse tritt, selbst bei den kältesten Patienten, nach Verlauf oft nur weniger
Minuten bis einer Stunde allgemeine Wärme, Eöthe und Schweiss auf, der mit-
unter tage-, selbst wochenlang anhält; die subjectiven, bedrohlichsten Symptome
verschwinden in kurzer Zeit, um nie, oder nur ganz leicht wiederzukehren.
Hier hat auch der von Wilhelmi aufgestellte Satz volle Geltung: „Je schwerer
die subjectiven Erscheinungen, umso auffälliger die Wirkung des Aderlasses."
Man kann diesen für die Bleichsucht aufgestellten Satz getrost verallgemeinern;
stets bedenke man dabei, dass hier von Symptomen, nicht von der Schwere des
Falles an sich die Rede ist.
Was die Menge des zu entnehmenden Blutes anlangt, so genügt
bei schwächlichen Patienten V2 ^^^ ^ fl ^^^* ^^^ Pfund Körpergewicht, besonders
bei Chlorose und Anaemie. Bei Congestionen, Krämpfen, Pneumonie ist je nach
dem Falle 1 bis 2 g auf das Pfund zu entnehmen. Die Wiederholung geschieht in
der Zeit von vier zu vier, oder bei sehr Schwachen im Zwischenraum von actit
Wochen. Bei acuten, stürmischen Krankheitserscheinungen ist eine Wiederholung
in kürzerer Zeit, selbst in acht bis zehn Tagen nöthig.
Stets mache man den Aderlass am liegenden Kranken im Bett, benütze
176 BLUTENTZIEHÜNG.
nach Abbindung des Oberarmes mit Guramibinde zum Stiche eine Lancette.
Fliesst nicht genügend Blut ab, lockere man die Binde etwas, worauf dann ge-
nügend Blut entströmt. Ist das zu entnehmende Quantum abgeflossen, löst man
die Gummibinde ganz; das Blut steht dann meist von selbst. Hierauf einen
Wattebausch auf die kleine Wunde und eine Binde darum. Nachher ruhige Lage
im Bett, leichten Thee zur Schweissbeförderung. Der Patient muss wenigstens
einen Tag das Bett hüten, ist er schwach und schwitzt er stark, dann womöglich
mehrere Tage. Die Weiterbehandlung hat ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich
darauf zu richten, die durch den Aderlass in Fluss gebrachte Circulation, die
Wärme der Extremitäten, zu erhalten und kleine Eecidive sofort zu beseitigen.
Daher ist vor Allem auf Wärme der Füsse zu achten und bei eintretender Kälte
derselben warme Fuss- oder Halbbäder anzuordnen, später durch kalte Abreibungen
die Circulation zu erhalten und den Körper abzuhärten. Stets besuche man den
Kranken am anderen Tage und besichtige das ruhig stehen gelassene Aderlass-
blut, das man am besten in einem Suppenteller aufgefangen hat. Durch wiederholte
Besichtigung nach verschiedenen Aderlässen wird man bald den Unterschied des
betreffenden Blutes vom Normalen kennen lernen und vor Allem Verständnis für
die Aderlasswirkung bekommen. Das normale Blut zeigt 1/3 helle, goldgelbe,
klare Lymphe ohne jeden Satz, ^/^ festen Blutkuchen, dessen Oberfläche ganz
dünn, löschpapierdünn, hellroth ist, entsprechend dem Procentgehalt an weissen
Blutkörperchen, die in Folge ihrer Leichtigkeit oben schwimmen und 3 — 5% der
Masse betragen sollen. Der untere Theil ist dunkel schwarzroth und fest. Das
kranke Blut zeigt nun die verschiedensten Abweichungen von der Norm, meist
zu wenig Lymphe, bis 1/20 nur, "dann wieder zu viel, bis % und mehr, letzteres
besonders bei älteren Fällen. Die Qualität der Lymphe schwankt von der leich-
testen Trübung bis zur stärksten eiterigen Masse. Der Satz schwankt ebenso
zwischen ganz leichter Bestreuung und dickem, massenhaftem Satz, wie Schlamm.
Die feste Masse, der Blutkuchen, zeigt wieder die grösste Verschiedenheit in der
Dicke der hellrothen oder graugelben Oberfläche und der dunklen unteren Schicht,
mitunter ist das Verhältnis ganz umgekehrt, über 900/o helle Schicht. Ich sah
bei allen meinen mit Aderlass behandelten Fällen eine mehr oder weniger starke
Abweichung von der Norm. Leider lässt sich vor dem Aderlass kein bestimmter
Schluss ziehen über die Blutbeschaffenheit, hier entscheidet nur die Erfahrung
und ein eventueller Probe-Aderlass. Alle die Instrumente, das von Wilhelmi
und mir angegebene Haematoskop Und das Mikroskop, haben nur einen relativen
Werth, weil sie die oben beschriebenen Unterschiede in der Blutzusammensetzung
nicht anzugeben vermögen, was einzig und allein die makroskopische Besichti-
gung vermag.
Fragen wir uns nun zum Schluss, welcher Art der Blutentziehung
der Vorzug zu geben ist, ob dem Blutegel, dem Schröpfen oder dem
Aderlasse, so wird man sich immer, wenn irgend angäuglich, für den Ader-
lass entscheiden, da er die grösste Entlastung des Venensystems herbeiführt,
sehr schnell und sicher wirkt und genaue Abmessung des Blutquantums gestattet,
vor Allem auch die auf die Blutentziehung meist unmittelbar folgende Schweiss-
reaction in keiner Weise stört, wenn er nach Vorschrift im Bett vorgenommen
wird. Die Blutegel wählt man meist bei Kindern unter 10 Jahren, und zwar
nach DyeS soviel Blutegel, als das Kind Jahre zählt; die Application
geschieht am Vorderarm, um durch möglichst geringe Körperentblössung die
Schweissreaction nicht zu verhindern. Das Schröpfen ist, obwohl auch nach ihm,
wie nach dem Aderlass und den Blutegeln, eine allgemeine Eeaction erfolgt,
scfion deshalb möglichst zu vermeiden, weil der grösste Theil des Körpers zu
lange entblösst bleibt, und dadurch das Eintreten des Schweisses, wenn auch
nicht immer gehindert, so doch verzögert wird. Auch meint Dyes, dass die
Entnahme des Blutes direct aus dem Venensystem die Hauptsache ist, und dies
BLUTSERUMTHERAPIE. 177
ist auch meine Ueberzeugung-, Immerhin wird man da, wo der Aderlass verweigert
wird oder die weite Entfernung und andere Umstände seine Ausführung unmöglich
machen, sich mit der Bhitentziehung durch Blutegeln oder Scliröpfköpfe begnügen,
allerdings unter denselben Cautelen wie beim Aderlasse : Vornahme im Bette mit
nachheriger Schweissunterstützung, Bettruhe und Vermeidung der gleichzeitigen
Darreichung von Abführmitteln. Schubert.
Blutserumtherapie. Die Entwicklung der Blutserumtherapie beruht
auf den bacteriologischen Untersuchungen, welche in den letzten Jahren über
gewisse Beziehungen zwischen Blutserum und pathogenen
Bacterien gemacht worden sind.
Zunächst wurde festgestellt, dass das defibrinirte Blut und das Blut-
serum verschiedener Thierarten gegenüber vielen pathogenen und sapro-
phytischen Bacterien abtödtende Wirkung besitzt (GrohmanN; v. Fodor,
Nuttall, Nissen, H. Buchner u. A.); auch menschliches Blut und
Blutserum, ebenso Transsudate und Exsudate (R. Stern, Rovighi u. A.),
haben z. B. gegenüber den Cholera- und Typhusbacillen meist ein
starkes Abtödtungsvermögen — so dass oft einige Tropfen des Serums
genügen, um in wenigen Stunden Tausende der genannten Bacillen
abzutödten — während andere pathogene Mikroorganismen, z. B. Strepto-
coccen, Staphylococcen, in vielen Fällen auch Milzbrandbacillen durch das-
selbe Serum wenig oder gar nicht beeinträchtigt werden. Individuelle Unter-
schiede kommen hier vor, wie dies auch bei Versuchen mit thierischem
Blute constatirt wurde.
Worauf die bactericide Eigenschaft des Blutes zurückzuführen ist,
bedarf noch weiterer Aufklärung. Buchner suchte es wahrscheinlich zu
machen, dass sie auf der Wirkung leicht zersetzlicher Eiweisskörper, der
sogenannten „Alexine", beruhe, doch ist dies durchaus nicht bewiesen. Un-
wahrscheinlich ist, dass es sich lediglich um ein Zugrundegehen von Bacterien
in Folge des plötzlichen Wechsels des umgebenden Mediums handle (E.
Metschnikoff), oder, wie andere meinen, um den Einfluss der Kohlensäure
oder der Salze des Serums. Mit dem Gerinnun2;sact steht die bacterien-
tödtende Eigenschaft allem Anschein nach nicht im Zusammenhang.
Ob das Blut innerhalb der Gefässe des lebenden Organismus ebenfalls
bacterientödtende Wirkung besitzt, liess sich bisher mit Sicherheit noch nicht
entscheiden, doch ist dies aus verschiedenen Gründen (deren Erörterung in
Kürze nicht thunlich ist) wahrscheinlich. Beziehungen jener Wirkung zur
natürlichen und künstlich erworbenen Immunität gegen Infectionskrankheiten
bestehen, soweit bisher ersichtlich, nur bei manchen Infectionen, und auch
bei diesen ist ihre Bedeutung noch zweifelhaft, so dass von einer näheren
Darstellung dieser Verhältnisse hier abgesehen werden kann.
Therapeutische Wirkungen im Thierexperiment, welche auf die
bacterientödtende Eigenschalt des Blutserums zurückzuführen sind, wurden bisher
nur vereinzelt erzielt: so übt nach Behring das Blutserum weisser Ratten,
welches auf Milzbrandbacillen stark abtödtend wirkt, auf die Milzbrand-
infection bei weissen Mäusen heilende Wirkung aus.
An dieser Stelle ist noch zu erwähnen, dass 0. Liebreich (1891) versucht hat, die
bacterientödtende Wirkung des menschlichen Blutserums zur Begründung seiner Cantha-
ridin-Behandlung der Tuberkulose heranzuziehen. Er stellte sich vor, dass das
Cantharidin, indem es eine Transsudation von Blutserum an die erkrankten Stellen her-
vorrufe, einerseits den Gewebselementen reichlichere Nahrung zuführe, andererseits bacterien-
tödtende Substanzen an den locus affectus concentrire. (Allerdings ist der Nachweis,
dass menschliches Blutserum im Stande sei, Tuberkelbacillen abzutödten, bishernicht
erbracht worden.) Liebreich empfahl subcutane Injectionen einer alkalischen 0-02 "/o
Cantharidin-Lösung in Dosen von ca. 1 ccm (= 0-2 mr/ Cantharidin) und glaubte, nament-
lich bei Lupus die'heilende Einwirkung dieser Einspritzungen direct — besonders mittelst
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. I*^
178 BLUTSERUMTHERAPIE.
geeigneter Lupen-Vergrösserung — beobachten zu können. Aiicb einige andere "Autoren
haben über Erfolge mit dieser LiEBEEicH'schen „Serumtherapie" — namentlich beiKehl-
kopf-Tuberculose — berichtet; indess scheint das Verfahren jetzt bereits nicht mehr^viel
angewendet zu werden.
Von grösster Wichtigkeit für die weitere Entwicklung der Blutserum-
therapie wurde die Entdeckung von Behring und Kitasato (1890), dass
das Blutserum von Thieren, die gegen Tetanus- und Diphtherie-
Bacillen immunisirt worden sind, die Fähigkeit besitzt, andere
Thiere gegen dieselbe Infection und auch gegen die Intoxi-
cation mit den von j enen Infectionserregern producirten
Giften zu schützen.
Schon vorher (seit 1 888) hatten allerdings einige französische Forscher (Hekicourt und
RiCHET, Bebtin und Pico,) das Blut natürlich immuner und künstlich immunisirter Thiere zu
Immunisirungs-, bezw. Heilungsversuchen zu verwenden versucht. U. A. wurde das Blut von
Ziegen (die gegen Tuberkulose immun sind) als Heilmittel gegen Tuberkulose auch beim
Menschen angewandt. Indes sind die experimentellen Ergebnisse der genannten Autoren keine
sehr befriedigenden und ein Theil derselben, der von anderer Seite (Bofchakd) nachgeprüft
wurde, konnte nicht bestätigt werden. Auch hat sich inzwischen bei verschiedenen, darauf
hin untersuchten Infectionen gezeigt, dass das Blutserum natürlich immuner Thiere
nicht die Eigenschaft besitzt, die Immunität auf andere Thierarten zu übertragen. Daher
entbehren, wie wir an dieser Stelle bereits hinzufügen wollen, die in jüngster Zeit ange-
stellten Versuche, die Syphilis des Menschen durch Injectionen von Thierblut zu heilen,
einstweilen gänzlich der wissenschaftlichen Begründung.
Erwähnt sei noch, dass Babes und Lepp bereits 1889 Experimente anstellten, bei
denen Hunde vor und bald nach der Infection mit dem Virus der Tollwuth mit dem
Blute immunisirter Hunde behandelt wurden. Der Erfolg war theilweise ein günstiger.
Trotz dieser und anderer Versuche bleibt Behmxg das Verdienst, durch seine
umfassenden, consequent fortgesetzten Forschungen die Blutserumtherapie mächtiger und
rascher gefördert zu haben, als irgend einer seiner Vorgänger.
Behring und Kitasato fanden ferner, dass beim experimentell erzeugten
Tetanus die Injection des Serums immunisirter Thiere (Kaninchen) auch
nach stattgefundener Infection, wenn die inficirten Thiere (weisse Mäuse)
bereits ausgebildeten Tetanus der Extremitäten zeigten, rettend wirken kann,
dass also derartiges Serum nicht nur prophylactisch, sondern auch thera-
peutisch zu verwerthen ist. Wahrscheinlich beruht diese Heilung auf einer
raschen, nachträglichen Immunisirung des inficirten Organismus, wie sie
zuerst Pasteur — freilich durch eine andere Methode — bei der Hunds-
wuth zu erreichen strebte.
Die immunisirende Wirkung des Serums bemisst Behring nach der
Menge thierischer Substanz, die durch 1 can Serum vor der tödtlichen
Infection, bezw. Intoxication geschützt werden kann; wenn z. B. V50 ccw
Serum eines gegen Tetanus immunisirten Thieres hinreicht, um eine Maus
von 20 gr Körpergewicht gegen eine sicher tödtliche Dosis von (durch
Filtriren keimfrei gemachter) Tetanusbouilloncultur zu schützen, so bezeichnet
B. den „Immunisirungswerth" dieses Serums als 1 : 1000.
Bald stellte sich heraus, dass diejenige Menge Serum, welche nach
stattgefundener Infection, bezw. Intoxication, injicirt werden muss, um
Heilung zu bewirken, sehr viel grösser sein muss als diejenige, welche,
24 Stunden vorher injicirt, hinreicht, um das Thier zu schützen; jene
Menge "kann das 1000 fache und noch weit mehr von der letzteren Quantität
betragen. Je später nach der Infection oder Vergiftung die Application des
Serums beginnt, desto höher muss auch die Menge, resp. der Immunisirungs-
werth des Serums sein, um noch Heilerfolge zu erzielen. Da nun bei der
Behandlung des tetanuskranken Menschen die Anwendung des Serums erst
einige Zeit nach der Infection, nachdem bereits deutliche Krankheits-
Symptome aufgetreten sind, erfolgen kann, so suchte Behring die Immunität
seiner Versuchsthiere (durch Methoden, deren Schilderung nicht an diese
Stelle gehört) immer mehr und mehr zu steigern. Es ist ihm neuerdings
BLUTSERUMTHERAPIE. I79
bei Pferden gelungen, Immunisirungswerthe des Serums von 1 : 1,000.000
bis 1 : 10,000.000 zu erreichen. Derartiges Serum ist von Behring auch
zu Versuchen bei menschlichem Tetanus verwendet worden.
Behring glaubt, dass 100 ccm dieses Serums, subcutan injicirt, für massig
schwere Fälle der Krankheit zur Heilung hinreichen dürften; über 100 ccm
möchte er einstweilen im Allgemeinen nicht hinausgehen, weil -er das Serum,
um es keimfrei zu erhalten, mit 0-5 % Carbolsäure versetzt und mehr
als 0-5 (/ Carbolsäure nicht appliciren will. (Bei Anwendung carbolsäurefreien
Serums sah B. einmal Abscesse, zweimal scharlachähnliche Exantheme
mit Temperatursteigerung entstehen.)
Ob mit diesem „Tetanusheilserum" bisher schon therapeutische
Erfolge beim Menschen erzielt worden sind, ist nicht mit Sicherheit zu
sagen, weil wir bei den zur Heilung gelangten Fällen schwer entscheiden
können, ob sie durch das Serum geheilt worden sind, oder ob sie nicht
auch ohne Anwendung desselben genesen wären.
Die Prognose beim Tetanus ist bekanntlich durchaus nicht immer leicht zu stellen;
sie hängt im Wesentlichen von zwei Umständen ab: erstens ist sie umso günstiger, je
länger die Zeit zwischen der Infection und dem Ausbruch der tetanischen Erscheinungen,
also die Incubationsdauer ist; zweitens umso ungünstiger, je rascher sich die Krankheit
auf die verschiedenen Muskelgruppen ausbreitet.
Die bisher mit dem von Behking abgegebenen Serum angestellten Versuche sind
erst zum kleinsten Theil näher mitgetheilt worden; am ausführlichsten ein Fall von Rottek,
in welchem im Ganzen 250 ccTO Serum (Immunisirungswerth : 1 : 1,000.000) subcutan injicirt
wurden. Der Ausgang war günstig ; doch sieht der klinische Beobachter hierin wohl mit
Recht keinen zweifellosen Beweis für die Wirksamkeit des „Tetanusheilserums", da die
Prognose des Falles auch vor Anwendung desselben keine ganz ungünstige war.
Ebenso sind die jüngst aus München berichteten Fälle zu beurtheilen. Andere
Fälle sind trotz der Serumbehandlung gestorben. Für ganz schwere Fälle hält Behring
selbst den jetzigen Immunisirungswerth seines Heilserums noch für unzureichend, besonders,
wenn die Behandlung erst 24 Stunden nach dem Auftreten der ersten Krankheitserschei-
nungen begonnen wird.
Kurze Zeit nach der ersten Mittheilung von Behring und Kitasato
berichteten Tizzoni und Cattani über Immunisirungsversuche gegen Tetanus
mittelst eines aus dem Serum immunisirter Hunde ausgefällten „Antitoxins";
bezüglich seiner Fällbarkeit verhält sich dasselbe wie ein Globulin. Obgleich
den genannten Forschern mittelst dieser Substanz die Immunisirung nur bei
manchen Thierarten, die Heilung von bereits an Tetanus erkrankten Thieren
zunächst überhaupt nicht gelang, so Hessen sie dieselbe doch alsbald bei
tetanuskranken Menschen anwenden.
In Italien, auch in der chirurgischen Klinik in Innsbruck sind bereits
mehrere Fälle mit diesem „Tetanus-Antitoxin" behandelt worden. In den
mitgetheilten Fällen war der Ausgang meist ein günstiger; ob dies jedoch
auf Rechnung der eingeleiteten Therapie zu setzen ist, erscheint sehr zweifel-
haft, da die meisten derselben eine ziemlich lange Incubationsdauer hatten
und einen relativ langsamen Verlauf nahmen.
Auch in Frankreich sind bereits mehrere Tetanusfälle mit dem Serum immunisirter
Thiere behandelt worden. (Roiix und Vaillakd, 1893.) Nur in 2 von 9 Fällen war der
Ausgang ein günstiger und diese 2 waren leichte Fälle.
DieThatsache,dassdasSerumvonThieren,diegegeneine
bestimmte Infection immunisirt sind, schützende, z. Th. auch
heilende Wirkung gegenüber der nämlichen Infection ausübt,
ist seit der grundleg enden Entdeckung von Behring und Kitasato
von zahlreichen Forschern für alle bisher daraufhin unter-
suchten Infectionen bestätigt worden. So fanden dies u. A. Foa,
Emmerich und Fowitzky, G. und F. Klemperer (1891) bei der Pneumo-
cocceninfection, Brieger, Kitasato und Wassermann (1892) bei den durch
Cholera- und Typhusbacillen an Versuchsthieren hervorgerufenen Erkran-
12*
IgO BLÜTSERUMTHERAPIE.
kungen u. s. w. Tizzom und Cattanni berichteten, dass auch die bereits
ausgebrochene Rabies durch Injectionen von Serum immuner Thiere (resp.
eines aus diesem gewonnenen Älcohol-Niederschlages) geheilt werden könne.
Ehelich (1892) hat die wichtige Entdeckung gemacht, dass auch die
Milch immunisirter Thiere die „Antikörper" enthält; durch geeignete
Fällungsmittel (Ammoniumsulfat, Magnesiumsulfat) lässt sich die immuni-
sirende Substanz ausfällen und damit in concentrirterer Form gewinnen.
(Ehrlich und Beieger.) Auch mit Blutserum sind Versuche in dieser
Richtung bereits angestellt worden. Es ist wahrscheinlich, dass gerade auf
diesem Wege bald noch weitere Fortschritte zu verzeichnen sein werden.
Die Frage, in welcher Weise die immunisirende und heilende
"Wirkung des Serums zu Stande kommt, kann heute noch nicht mit
Sicherheit beantwortet werden. Die obenerwähnte bacterientödtende Eigenschaft
des Serums kann hierbei nicht wesentlich in Betracht kommen; denn es ist schon für
mehrere Infectionen nachgewiesen, dass zwischen beiden Wirkungen des Serums ein
Parallelismus nicht besteht. Nun haben Beheing und Kitasato, wie bereits oben erwähnt,
für den Tetanus und die Diphtherie gefunden, dass das Serum immunisirter Thiere die
Eigenschaft hat, auch die von den betreifenden Infectionserregern producirten Gifte
unschädlich zu machen. Beheikg hat diese Eigenschaft des Serums als ,.antitoxische''
bezeichnet und glaubte ursprünglich, dass es sich dabei um Zerstörung der Bacterien-
Gifte durch das Serum handle.
Dieser jetzt so vielfach angewendete Begriff „antitoxisch" ist jedoch durchaus
nicht eindeutig. Wenn sich, wie dies Behring und Kitasato fanden, eine Mischung von Gift und
Serum als unwirksam erweist, so folgt daraus noch nicht, dass das Gift durch das
Serum zerstört wurde, sondern es besteht noch die zweite Möglichkeit, dass durch das
Serum der Organismus gegenüber dem an und für sich unverändert gebliebenen Gifte
unempfindlich gemacht wurde: antagonistische Wirkung von Gift und Serum.
Welche von diesen beiden Möglichkeiten vorliegt, ist heute noch nicht entschieden,
indess reicht die antitoxische Eigenschaft des Serums zur Erklärung
seiner schützenden Wirkung gegenüber lebenden Infectionserregern
keinesfalls aus. Metschnikofe hat zuerst für die sogenannte Hog-Cholera nach-
gewiesen, dass das Serum immunisirter Thiere sehr wohl schützende Wirkung gegenüber
den betreffenden Infectionserregern haben kann, ohne antitoxisch zu wirken, — ein
Befund, der auch bereits für einige andere Infectionen bestätigt worden ist. Aber selbst
für diejenigen Fälle, in denen eine antitoxische Wirkung des Serums nachgewiesen ist,
kann sie nicht die Ursache (zum Mindesten nicht die alleinige Ursache) der schützen-
den Kraft gegenüber den lebenden Infectionserregern sein. Denn, legt man eine Cultur
der letzteren in derartigem Serum an, so vermag dieses sie nicht an Wachsthum und
Giftbildung zu verhindern. Daraus folgt, dass es sich nicht allein um eine ausserhalb
des Organismus nachweisbare Wirkung des Serums auf die Bacterien-Gifte handeln kann,
dass vielmehr durch das Serum Veränderungen im Organismus hervor-
gebracht werden müssen, welche die Microorganismen am Wachsthum
hindern. Welcher Art diese Veränderungen sind, ist uns einstweilen noch fast völlig
unbekannt. Metschkikoef ist der Ansicht, dass es sich bei den von ihm näher unter-
suchten Infectionen um Hervorrufung von Phagocythose handelt.
Beim Menschen ist die Blutserumtherapie ausser beim Tetanus-
bisher auch schon bei mehreren anderen Infectionskrankheiten angewendet
worden.
Klemperer injicirte Patienten, die an croupöser Pneumonie
litten, subcutan das Serum von Kaninchen, die gegen die Pneumococcen-
Infection immunisirt waren. (In Dosen von 2—10 ccm, event. mehrmals.)
Ueberzeugende Erfolge wurden bisher nicht erzielt. Klemperer, der über
12 derartig behandelte Fälle berichtet hat, giebt selbst zu, dass man aus
diesen keine allgemeinen Schlüsse zu ziehen berechtigt sei.
Mit dem Serum von Thieren, die gegen Diphtherie immunisirt
worden waren, hat Behring bereits Versuche an diphtheriekranken Kindern
anstellen lassen ; doch konnte bisher nach einer kürzlich erfolgten Aeusserung
Henoch's eine günstige, therapeutische Wirkung des Serums nicht constatirt
werden. In jüngster Zeit sind auch in dem Berliner Institute für Infections-
krankheiten einige Diphtherie-Fälle mit BEHRiNG'schem „Diphtherieheil-
serum" behandelt worden (Behring, Boer und Kossel). Ein naclitheiliger
BLUTSERÜMTHERAPIE. 181
Einfliiss der subcutanen Serum-Injectionen (10 — 20 ccm,, event. mehrmals)
wurde nicht beobachtet. Bezüglich einer etwaigen günstigen Wirkung der-
selben gestatten die veröflentlichten Fälle noch kein Urtheil. Es wäre offenbar
voreilig, aus der Mortalitätsziffer dieser 11 Fälle (2 Todesfälle = 18%)
Schlüsse auf die Wirkung der Serum-Injection zu ziehen.
In zwei Fällen von Abdorainaltyphus haben Chantemesse und
ViDAL vor Kurzem analoge Versuche angestellt. Genauere Angaben über
den Immunisirungswerth des angewendeten Serums fehlen. Ein Erfolg war
nicht zu bemerken.
Ferner hat man auch das Blutserum von Menschen, welche
eine Infectionskrankheit überstanden hatten, zu thera-
peutischen Zwecken bei der nämlichen Infectionskrankheit
verwendet. Dieser Versuch beruht auf der Thatsache, dass das Blut-
serum des Menschen nach überstandener Pneumonie, nach
Abdominaltyphus, Cholera, Diphtherie in vielen Fällen die
Eigenschaft besitzt, Thiere vor der Wirkung des entspre-
chenden Inf e ctionserregers zu schützen. (Klemperer, R. Stern,
Lazarus, Escherich und Klemensiewicz u. A. ')
E. Neissek hat in drei Fällen Serum oder Exsudatflüssigkeit von Menschen, die eine
Pneumonie soeben überstanden hatten, hochfiebernden Pneumonikern intravenös injicirt.
Besonders ist ein Fall bemerkenswerth, in welchem ein Patient am dritten Krankheits-
tage 130 ccm derartigen Serums injicirt erhielt; bald darauf trat die Krise ein.
Während der vorjährigen Cholera-Epidemie in Hamburg wurden auch bei
dieser Krankheit analoge Versuche angestellt, jedoch mit völlig negativem Erfolg.
In jüngster Zeit bat Hammekschlag aus der NoTHXAGEL'schen Klinik eine Mit-
theilung über Serumtherapie bei Typhus veröffentlicht; unter Bezugnahme auf die oben
erwähnten Versuche Stekn's berichtet er, dass 5 Typhuskranken 40 — 80 ccm Blut von
Typhusreconvalescenten intravenös injicirt wurden. In 3 Fällen war das Resultat negativ,
in zweien trat nach der Injection eine starke Temperatur-Herabsetzung bis Sö'^, resp.
35° ohne Anzeichen eines Collapses auf. (In einem dieser beiden Fälle trat gleichzeitig
eine Darmblutung auf, so dass dieser Versuch nicht als ganz rein zu betrachten ist.) Im
Uebrigen hielt die Temperatur-Erniedrigung nur kurze Zeit an, eine Einwirkung der
Serum-Injectionen auf den weiteren Verlauf war nicht zu bemerken; in dem einen, von
Anfang an schwereren Falle trat schliesslich der Tod ein. (Eine Prüfung der schüt-
zen den Wirkung des Serums durch das Thierexperiment scheint Hammer-
schlag nicht vorgenommen zu haben ; eine solche erscheint jedoch geboten, da nicht in
allen Fällen das Blut des Typhusreconvalescenten — selbst in den ersten Tagen und
Wochen nach Ablauf der Krankheit — schützende Wirkung erkennen lässt).
Auch in der Veterinär-Medicin hat man in jüngster Zeit ähnliche Versuche ange-
stellt. (Hell.) Das Blutserum von Pferden, welche die sogenannte Brustseuche überstanden
hatten, wurde zur Immunisirung gegen diese Krankheit, sowie auch zu Heilversuchen bei
bereits erkrankten Pferden angewendet. Die Resultate sollen günstig gewesen sein.
Fassen wir das Resultat der im Vorstehenden gegebenen Schilderung
des heutigen Standes der BlutserumtheTapie zusammen, so müssen wir sagen,
dass beimMenschen unzweifelhafte Erfolge bishernoch nicht
erzielt worden sind. Dagegen sind im Thierexperiment sichere Erfolge
— nicht nur Immunisirung, sondern auch Heilung von sonst absolut tödtlichen
Infectionen — bereits in stattlicher Zahl auf diesem Wege erreicht worden.
*) Freilich Hess sich dies nur in einem Theil der daraufhin untersuchten Fälle
constatixen ; und andererseits hat sich hierbei die bemerkenswerthe und in ihrer Bedeutung
noch nicht hinreichend erklärte Thatsache herausgestellt, dass zuweilen auch das Blut-
serum solcher Personen, die, soweit festzustellen, niemals an einer bestimmten Infections-
krankheit (z. B. Cholera) gelitten haben, trotzdem im Thierexperiment immunisirende
Wirkung gegenüber dem Erreger dieser Kränkelt zeigt.
Weiterhin wurde — zunächst für die Cholera — festgestellt, dass das Blutserum
von Menschen, die der Krankheit erlegen waren, öfters ebenfalls eine schützende
Wirkung im Thierexperiment zeigt. (Botkix, Metschnikoef.) Somit ergibt sich,
dass für die natürliche Heilung einer Infectionskrankheit die
schützende Wirkung des Blutserums weder eine nothwendige noch
eine hinreichende Bedingung darstellt.
182 3LUTUNTERSÜCHUNG.
Inwieweit auch die Behandlung der Infectionskrankheiten- des Menschen von
dieser neuen therapeutischen Methode Nutzen ziehen kann, muss durch
weitere Forschungen im Verein mit vorurtheilsloser, klinischer Prüfung fest-
gestellt werden. eichaed steest.
Blutuntersuchung. Zu den praktisch leicht ausführbaren Methoden
der BlutuTitersuchung^) rechnen wir: 1. die Bestimmung der Blutdichte, 2. die
Bestimmung des BlutfarbstqfgeJialtes, 3. die spectroskojnsche Untersuchung des
Blutes, 4. die Untersuchung der zelligen Elemente des Blutes, 5. die Untersuchung
des Blutes auf Parasiten.
Die Methoden zur Bestimmung der Blutmenge, zur Prüfung der iso-
tonischen Grössen, zur Bestimmung der Blutalkalescenz mögen an dieser
Stelle übergangen werden, da sie, wenn auch bedeutendes theoretisches Interesse er-
fordernd, zu praktisch-diagnostischen Zwecken bisher keine Verwerthung gefunden haben.
1. Die Bestimmung der Blutdichte.
Direct wird dieselbe in sehr exacter Weise bestimmt durch :
1. die Methode von Schmaltz mittelst des Capillarpikno-
meters. Eine circa 12 cm lange, an ihrem offenen Ende circa 2/3 ^^ breite
Capillare wird zuerst leer und hierauf mit destillirtem Wasser gefüllt ge-
wogen. Hierauf wird *die Capillare durch Alkohol- und Aetherwaschung
sorgfältig des Wassers beraubt, mit Blut gefüllt und wieder gewogen.
Dividirt man das absolute Gewicht der Blutsäule durch das der Wasser-
säule, so zeigt der Quotient das specifische Gewicht des untersuchten
Blutes an.
Indirect bestimmt man die Blutdichte
2. durch die Methode von Rot. Man hat eine Reihe von Glycerin-
wassermischungen vorräthig, deren Dichte von 1035 — 1068 ansteigt.
In jedes der Gläschen wird ein Tropfen Blutes gelassen, und das specifische
Gewicht jener Mischung, in welcher der Blutstropfen schwebt, ist als die
Dichte des untersuchten Blutes anzusehen.
3. die Methode von Hammerschlag, mittels der wir
a) die Dichte des Blutes bestimmen.
Man hat eine Mischung von Chloroform und Benzol (1:2); in dieselbe lässt
man einen Blutstropfen fallen und fügt nur so lange eine der beiden ge-
nannten Flüssigkeiten zu, bis der Blutstropfen in der Mitte schwebt. Hierauf
wird das Flüssigkeitsgemisch von dem Blutstropfen abfiltrirt und sein speci-
fisches Gewicht mittels Aräometers bestimmt. Die gefundene Zahl repräsen-
tirt die gesuchte Blutdichte. — Etwas complicirter ist
h) die Bestimmung der Dichte des Blutserums.
Das Verfahren ist folgendes: Ein Capillarröhrchen von circa ^/^ dm
Länge und circa 1 — 2 mm Lumen wird in eine 3proc. Lösung von oxal-
saurem Kali getaucht, so dass eine kleine Menge der Flüssigkeit in das
Röhrchen aufsteigt. Nach mehrmaligem Hin- und Herschwenken wird die
Oxalatlösung wieder ausgeblasen, so dass nur an der Innenwand etwas von
derselben haften bleibt. Nun füllt man das Capillarröhrchen bis zu Va "^it
Blut und verschliesst beide Enden mit Wachs. Nach einigen Stunden haben
sich die Blutkörperchen gesetzt und in dem oberen Theile befindet sich eine
von Blutfarbstoff freie Flüssigkeit, das Serum. Um dasselbe von den Blut-
körperchen zu trennen, wird knapp oberhalb der Grenze mit einer Feile
ein kleiner Strich gemacht und der obere Theil des Röhrchens abgebrochen.
Sodann schneidet man das obere mit Wachs verstrichene Ende ab und lässt
1) Vergl. ferner den Artikel „Blut'" in dem Bande „Chemie" dieses Sammelwerkes,
bearbeitet von Prof. Olaf Hammaksten.
BLUTÜNTERSUCHUNG. 183
den Inhalt des Röhrchens in eine Benzol - Chloroformmischung fallen. Das
weitere Verfahren ist dasselbe wie das oben angegebene.
2. Die Bestimmung des Blutfarbstoifgehaltes.
Von den zahlreichen Instrumenten, welche diesem Zwecke dienen,
sind gegenwärtig nur zwei in praktischer Verwerthung. Die colorimetrischen
Methoden von Bizozero, Mallassez und Henocqe, respective deren In-
strumente stehen zweifellos bedeutend zurück gegen die einfachen und leicht
ausführbaren Bestimmungen des Blutfarbstoffes, wie sie durch die Instrumente
von Gow^ERS und von v. Fleischl ausgeführt werden.
H^ ; Das Princip des Haemoglobinometers von Gowers besteht darin,
dass die in der Glasröhre A enthaltene Karmin-Pikrokarmingelatine, welche
die Färbung einer Iperc. wässerigen Lösung normalen Blutes anzeigt» mit
dem zu untersuchenden Blute, das sich in der danebenbefindlichen Glas-
röhre B, in Aqua destillata gelöst, befindet, colorimetrisch verglichen wird.
Die Lösung des zu untersuchenden Blutes wird solange mit Aqua dest. ver-
dünnt, bis sie dieselbe Farbennuance wie die Karrain -Pikrokarmingelatine
zeigt. Bei dem Haemometer von v. Fleischl hingegen ist der colo-
rimetrische Index eine in einem Halbcylinder befindliche Wassersäule,
deren Rothfärbung durch einen unter derselben verschiebbaren Keil aus
rothem Glas verschiedene Farbennuancen annehmen kann, welche mit der in
dem daneben befindlichen, die Blutlösung enthaltenden, Halbcylinder ver-
glichen wird. Bezüglich der detaillirten Beschreibung und Handhabung der
eben genannten Apparate muss auf den Artikel: „Instrumente zur klinisch-
diagnostischen Untersuchung" verwiesen werden, wo auch deren Abbildung
wiedergegeben ist.
3. Die spectroskopische Untersuchung des Blutes.
Während die vorgenannten Instrumente zur Bestimmung der quantitativen
Veränderungen des Blutfarbstoffes dienen, ist die spectroskopische Blutunter-
suchung der Prüfung seiner qualitativen Veränderungen dienlich. Hiezu
verwendet man ein einfaches Taschenspectroskop, etwa ein solches, wie es
dem Apparate von Henocqe beigegeben ist. Das Blut wird mit destillirtem
Wasser im Verhältnis von 0-5 : lOO'O gemischt und in einem Gefässe mit
planparallelen Wänden (eventuell einer Eprouvette) vor den Spalt des
Spectrokop gebracht. Zur Orientirung der klinisch wichtigsten Veränderungen
des normalen Oxyhaemoglobins diene folgende schematische Uebersicht :
Oxyhaemoglobin: Zwei Absorptionsstreifen zwischen D und E.
ßeducirtes Haemoglobin: Ein einziger Absorptionsstreifen zwischen D und E.
Methaemoglobin: Ein Absorptionsstreifen im Roth zwischen C und i) (Akaki,
Dittkich).
Kohlenoxydhaemoglobin: Die beiden Absorptionsstreifen des Oxyhaemo-
globin sind etwas nach rechts verschoben.
Das Spectrum des Methaemoglobins geht bei Zusatz von Schwefel-
ammoniura in das Spectrum des Oxyhaemoglobins und hierauf in das des
reducirten Haemoglobins über. Das Spectrum des K ohlenoxyd haemo-
globin s ändert sich auf Zusatz von Schwefelammonium nicht, wodurch es
sich vonjenem des Oxyhaemoglobins unterscheidet, da letzteres sich bei Ein-
wirkung von SNH4 in das Spectrum des reducirten Haemoglobins ver-
wandelt. Da aber bei gleichzeitigem Vorhandensein von Kohlenoxydhaemo-
globin und Oxyhaemoglobin in derselben Blutprobe dieses Unterscheidungs-
merkmal im Stiche lässt, so wäre nach den Angaben Hoppe - Seylers
folgende einfache Untersuchung empfehlenswerth : Die zu prüfende Blut-
lösung wird mit 10 Proc. Natronlauge versetzt und erwärmt; Oxyhaemoglo-
bin wird schmutzig-braun-grün, während Kohlenoxydhaemoglobin zinnober-
roth bleibt.
IQ^. BLUTUNTERSÜCHÜNG.
4. Die Untersuchung der zelligen Elemente des Blutes.
a) Die Zählung der rothen Blutkörperchen.
Dieselbe beruht auf einer direeten Zählung der rothen Blutzellen in
einem Tropfen einer bestimnöten Mischung von Blut und einer Conservirungs-
flüssigkeit. Die meisten der von verschiedenen Autoren (Pacini, Hayem,
Go"v^^RS, Potain, Loewit u. A.) angegebenen Conservirungsflüssigkeiten ent-
halten Sublimat, Chlornatrium, Magnesium- oder Natrium sulfuricum. Em-
pfehlenswerth wäre folgende :
Hydrargyr. chlor, corr. 0'25
Magnes. sulf. 4-0
Natr. chlorat. 2-0
Aqu. dest. 300-0
Der gegenwärtig am meisten gebrauchte Zählapparat ist der von
Thoma-Zeiss. Der der Fingerkuppe entquellende Blutstropfen wird in die
Pipette aufgesaugt und hierauf durch Nachsaugen der Conservirungsfliissig-
keit in dem Verhältnisse 1 : 100 verdünnt. (Man zieht das Blut bis zu jener
Marke auf, welche sich vor dem erweiterten Theile der Pipette befindet.
Vergl. den Artikel ^^Instrumente zur Minisch 'Cliagnostischen Untersuchung'^.)
Der Tropfen wird in die sogenannte Zählkammer, ein Objectträger, auf
welchem ein Glasrahmen mit centralem kreisförmigen Ausschnitt aufgekittet
ist, fallen gelassen und hierauf ein Deckgläschen so über die Zählkammer
geschoben, dass weder Luftblasen eindringen, noch auch Flüssigkeit den so-
genannten Graben der Zählkammer überschreitet. Der Tropfen muss sich
vollkommen gleichmässig auf einer feinen Theilung ausbreiten, so dass
bei mikroskopischer Betrachtung die Blutzellen in den einzelnen Quadraten
möglichst gleichmässig vertheilt liegen. Man zählt zunächst die in einem
Quadratraum, d. h. 16 von Doppelstrichen umgebenen Quadraten, gelegenen
Zellen und wiederholt diesen Vorgang an 16 Quadraträumen ; man hat dann
im ganzen 160 Quadrate ausgezählt. Bezüglich der an den Grenzstrichen
der Quadraträume liegenden Blutkörperchen merke man, dass man nur die
an der oberen und linken Seite gelegenen zählt, die an der unteren und
rechten Seite befindlichen nicht berücksichtigt. Die Rechnung geschieht
nach der Formel ^ m x 4C00 x lOQ
^~~ 160
wobei m = Zahl der gezählten Blutkörperchen bedeutet.
b) JJie Zählung der tceissen Blutkörperchen.
Zur Zählung der weissen Blutzellen verwendet man gewöhnlich eine
Pipette, mit welcher eine Verdünnung von 1:10 vorgenommen werden kann.
Als Zählflüssigkeit verwendet man eine VsP^'oc. Essigsäurelösung, da diese
die rothen Blutzellen auflöst und nur die weissen intact lässt, deren Kerne
ziemlich scharf hervortreten. Die Zählung und Berechnung ist dieselbe, wie
die für die rothen angegebene.
Nach meinen eigenen Erfahrungen kann auch die Pipette, Avelche für die Zählung
der rothen Blutkörperchen benützt wird (Verdünnung 1 : 100), unter gewissen C'autelen
für die Zählung der weissen verwendet werden. Es empfiehlt sich zu diesem Zwecke
einerseits die Verschiebung des Gesichtsfeldes mittelst des beweglichen Objecttisches,
dessen Verwendung überhaupt eine viel raschere und genauere Zählung ermöglicht,
andererseits die 4 Mal hinter einander erfolgende Füllung der Zählkammer, wodurch es
gelingt, binnen kurzer Zeit 1600 Quadrate auf das Vorhandensein von weissen Blutzellen
durchzusehen.
Da das Zählen der Blutkörperchen aus verschiedenen aufeinander
folgenden Manipulationen besteht, so ist es klar, dass die Fehlerquellen
diesen verschiedenen Manipulationen anhaften können.
BLUTUNTERSUCHUNG. 185
Für die praktische Anwendung des Zählapparates wären deshalb
folgende Punkte zu merken:
1. Der Stich in die Fingerkuppe (Dauraenballen, Ohrläppchen) soll
immer derart tief gemacht werden, dass schon bei leichtem Druck ein ge-
nügend grosser Blutstropfen hervortritt; jeder stärkere Druck ist ent-
schieden zu meiden.
2. Das Aufziehen des Blutes und der Conservirungsfliissigkeit muss
hintereinander in einem Zuge geschehen, damit nicht Luftblasen in die
Flüssigkeitssäule eindringen.
3. Der für die Zählkammer bestimmte Tropfen darf nicht zu gross ge-
nommen werden, damit derselbe womöglich nur bis zum „Graben" reicht,
jedenfalls aber denselben nicht überschreitet.
4. Das aufgelegte Deckglas muss dem Glasrahmen so anliegen, dass
die NEWTOivr'schen Farbenringe sichtbar werden.
5. Die Verschiebung des Objectträgers soll womöglich mit Hilfe des
beweglichen Objecttisches vorgenommen werden.
Zur Zählung der Blutplättchen verwendet man nach AFFA:srASiEW
eine 0'6proc. Kochsalzlösung, zu welcher 0-6 Proc. Pepton und etwas
Methylviolett gesetzt wird.
Eine indirecte Bestimmung der Zahl der rothen Blutkörperchen ist
jene, bei der man dieselbe aus dem Volumen zu ermitteln sucht. Zur Be-
stimmung des Volumens der rothen Blutzellen dient der von Hedin con-
struirte und in neuester Zeit von Gärtner modificirte Haematokrit.
Indem bezüglich der Abbildung und Beschreibung dieses Apparates wieder
auf den Artikel: „Instrumente zur klinisch-diagnostischen Untersuchung" ver-
wiesen werden muss, möge hier nur kurz das Princip desselben berührt
werden. Der Haematokrit ist nichts anderes als eine Centrifuge, durch deren
Rotation das zuvor innerhalb eines Capillarröhrchens mit Bichromatlösung
verdünnte Blut in seine festen Bestandtheile (rothe und weisse Blutzellen)
und die Blutflüssigkeit (Mischung von Serum und Bichromatlösung) ge-
schieden wird.
Die rothen Blutkörperchen bilden nach geschehener Centrifugirung
innerhalb des Capillarröhrchens einen dicken, roth gefärbten Faden, während
darüber eine dünne, schmutzigweisse Schichte, aus Leucocyten bestehend, ge-
lagert ist und über diese das von MüLLER'scher Flüssigkeit gelb gefärbte
Serum sich befindet. Die Höhe der aus rothen Blutzellen bestehenden ca-
pillaren Säule gibt uns das Maass für das Volumen der rothen Blutzellen,
Gegen die Ansicht, dass das Volumen der rothen Blutkörperchen ihrer
Zahl proportional sei, wurde geltend gemacht, da.ss das Volumen nicht
bloss von der Zahl, sondern auch von der Grösse der rothen Blutzellen
abhängig ist, und andererseits die Dellenform der einzelnen rothen Blut-
zelle das knappe Aneinanderliegen derselben verhindere. (L. Bleibtreu.)
e) Untersuchung des Blutes zur Orientirung über die Grösse und Gestcdt der
zelligen Elemente.
Die einfachste Methode ist wohl die , dass man den Bruchtheil
eines Blutstropfens mit einem Deckgläschen auffängt und durch sanftes Auf-
legen auf einen Objectträger die Ausbreitung des Blutes in dünner Schichte
ermöglicht. Zahlreich sind die Methoden, welche angegeben wurden, um das
native Blut zu conserviren und gleichzeitig zu färben. So empfahl Bizozero
den Finger anzustechen, auf die Stichwunde einen Tropfen einer Methyl-
violett-Kochsalzlösung zu bringen, den hervortretenden Blutstropfen am
Finger mit der Flüssigkeit zu durchmischen und von dem Gemenge ein
186 BLUTUNTERSUCHUNG.
mikroskopisches Präparat herzustellen. Aenold verwendete eine Methylgrün-
0-6%~Kochsalzlösung und gelang es ihm mit diesem Verfahren im leucämi-
schen Blute die indirecte Kerntheilung nachzuweisen, Affannasiew bediente
sich folgender Mischung: Zu 0-6 Kochsalzlösung werden 0 67o trockenen
Peptons und ungefähr 1 : 10.000 Methylviolett zugesetzt, die Flüssigkeit wird
gekocht, filtrirt und in sterilisirten Gefässen aufbewahrt. Noch einfacher ist
eine ähnliche von v. Jaksch angegebene Methode, die er insbesondere zur
Färbung des nativen Blutes auf Malaria-Parasiten verwendet. In physiolo-
gischer (0-67o) Kochsalzlösung wird eine Spur Methylenblau gelöst, so dass
die Flüssigkeit massig intensiv blau gefärbt erscheint, dann wird sie filtrirt,
das klare Filtrat sterilisirt, in kleinen Quantitäten vertheilt und in wohl
sterilisirten Eprouvetten aufgehoben.
Zur Zeit der Verwendung dieser färb'gen Lösung wird ein Tropfen auf
den vorher gereinigten Finger gebracht, durch den Tropfen in den Finger
eingestochen und diese Mischung von Blut und Farbstoff lösung in möglichst
dünner Schichte auf ein Deckgläschen vertheilt und dasselbe mit der be-
schickten Seite auf den Objectträger gebracht.
Alle die eben angeführten Methoden ermöglichen wohl, die äussere
Gestalt der zelligen Elemente zu conserviren, ohne uns jedoch die feinere
Structur derselben sehen zu lassen.
Hiezu dienen die sogenannten fixir enden Methoden mit nach-
folgender Färbung, welche uns ausserdem den Vortheil bringen, fertige Prä-
parate für längere Zeit aufzubewahren. Von der grossen Reihe ver-
schiedener Verfahren, welche in den letzten Jahren von Seiten verschiedener
Autoren angegeben wurden, hat sich für klinische Zwecke am meisten die
von Ehelich angegebene Methode als verwendbar erwiesen.
Dieses Verfahren ist kurz geschildert folgendes: Ein Bruchtheil des
aus der Stichwunde quillenden Blutstropfens wird von der unteren Kante
eines Deckglasrandes aufgefangen. Der an diesem Deckglas haftende Bluts-
tropfen wird nun auf eine Reihe vorher wohl gereinigter Deckgläschen
gebracht, indem man der Reihe nach an der Kante, wo der Bluts-
tropfen sitzt, unter einem Winkel ansetzt und mit einem Ruck der Reihe
nach über die Fläche der einzelnen Deckgläschen fährt. Die so hergestellten
Präparate müssen nun zu mindestens 2 Stunden lufttrockenen und werden
hierauf in einen regulirbaren Trockenschrank gebracht, wo sie durch circa
2 — 4 Stunden einer Temperatur von HO — 115 Grad ausgesetzt werden. Der-
art fixirte Präparate können nun sofort den verschiedenen Färbeverfahren
unterworfen werden oder auch für spätere Färbungen beliebig lang aufbe-
wahrt bleiben.
Rascher führt das Fixationsverfahren von Gabeiczew^sky zum Ziele.
Nach der Lufttrocknung, die freilich auch in diesem Falle mindestens
2 Stunden währen soll, werden die Präparate auf 20 — 30 Minuten in eine
Mischung von Aether- Alkohol ää partes aequales gebracht und hierdurch
zur Tinction fähig gemacht.
Die Färbung kann verschiedene Zwecke verfolgen, nämlich «) all-
gemeine Uebersicbtsbilder zu erhalten, h) die sogenannte neutrophile Granu-
lation darzustellen, c) die basophilen oder Mastzellen Ehelich's sichtbar zu
machen.
Zur Darstellung von Uebersichtsbildern eignet sich eine Eosin-Glycerin-
lösung (6-0 : 300-0), in welcher die Präparate circa 6 — 12 Stunden bleiben
müssen, da diese Lösung sehr langsam den Farbstoff abgibt; viel rascher
färbt eine Eosin - Alkohollösung (Eosin 4-0, TO^/o Alkohol lOO-O) ; in
dieser genügt ein Verweilen der Präparate von circa 20 — 30 Minuten. Das
Eosin färbt Zellsubstanz und Kerne diffus; will man daher eine differen-
BLUTUNTERSUCHUNG. 187
zielle Kernfärbung erzielen, so muss man eine Nachfärbung mit Hämatoxy-
lin (Geenacher) oder mit concentrirter Methylenblaulösung vornehmen.
Bei der Doppelfärbung mit Eosin-Methylenblau erscheinen
die kernlosen rothen Blutzellen intensiv kupferroth, die polynuclearen
Leucocythen bieten einen rosaroth gefärbten Zelleib und einen dunkel-
blauen polymorphen Kern, die mononuclearen Leucocythen und die so-
genannten Uebergangsformen zeigen blassblau gefärbte Zelleiber und in
viel dünklerer Farbennuance tingirte Kerne, die eosinophilen Zellen end-
lich lassen dicht aneinanderliegende, aber deutlich von einander differenzir-
bare dunkelroth gefärbte Körner, die in ihrer Gesammtheit den Zelleib zu-
sammensetzen, erkennen, während der Kern meist polymorph, dunkelblau ge-
färbt, dazwischen sichtbar ist. Kernhaltige rothe Blutzellen zeigen inner-
halb des kupferroth gefärbten und schon durch die typische Farbennuance
als hämoglobinhältig erkennbaren Zelleibes einen runden, homogenen oder
auch structurirten blau tingirten Kern. — Die Eosin-Methylenblau-
färbung bietet die besten Uebersichtsbilder und eignet sich deshalb für
die klinisch-diagnostische Blutuntersuchung am allermeisten.
Zur Darstellung der neutrophilen Körnung innerhalb der bei der Eosin-
Methylenblaufärbung als homogen erscheinenden neutrophilen Leucocyten
wurden folgende Farbenmischungen angegeben :
Säurefuchsinmethylenblaulösung: Zu 5 Volumen einer ge-
sättigten Säurefuchsinlösung setze man 1 Volumen starke Methylenblau-
lösung und füge hierauf noch weitere 5 Volumen destillirten Wassers hinzu,
darauf lasse man die Mischung einige Tage stehen und filtrirt hierauf vor
der Anwendung. Eine zweite Färbeflüssigkeit ist die Methylgrün-
fuchsinmischung: Zu 200 ccm einer concentrirten Methylgrünlösung
fügt man 5 ccm einer gesättigten alkoholischen Fuchsinlösung hinzu.
Die Trocknung und Fixation der Blutpräparate wird in ganz derselben
Weise wie zur Eosin-Methylenblautinction vorgenommen. Die Präparate
müssen circa 3 — 6 Stunden in den vorgenannten Farbenmischungen ver-
bleiben, werden dann mit Wasser abgespült und in Canadabalsam einge-
schlossen. Praktisch-diagnostischen Werth hat die Darstellung der neutro-
philen Granulation gar keinen.
Nach Ehelich sollen mononucleare Leukocyten mit neutrophiler Körnung für den
leucaemischen Blutbefund charakteristisch sein.
Dasselbe gilt auch für das Verfahren zur Darstellung der sogenannten
Mastzellen (basophile Zellen). Zur Färbung dient eine Dahlialösung. (50 ccm
Alkohol mit Dalilialüa gesättigt, dazu 100 ccm Wasser und 10 cc?n Eisessig.) Von
Ehrlich's Schule als nur im leucaemischen Blute vorkommend beschrieben,
wurden sie in neuerer Zeit von Canon auch im normalen Blut gefunden,
ihr differential-diagnostischer Werth somit aufgehoben.
Wie man sieht, ist es also schon mit Hilfe eines ganz einfachen Ver-
fahrens (Trocknung — Erhitzung bis 115 Grad oder Fixation in Aether-
Alkohol — Tinction mit Eosin-Alkohol und Nachfärbung mit Methylenblau) mög-
lich, uns über alle Zellformen eines zu untersuchenden Blutes zu orientiren,
und wüsste ich wohl keine von den vielen zu diesem Zwecke empfohlenen
Methoden, welche mehr zu leisten im Stande wäre, soferne wir eben in der
Anfertigung von Blutpräparaten diagnostische Behelfe zu finden suchen.
5. Die Untersuchung des Blutes auf Parasiten.
Von den thierischen Parasiten finden sich im Blute Distoma haema-
tohium und Filaria sanguinis.
Distoma haematohinm findet sich in den grossen Eingeweidegefässen
(Milzvene, Mesenterial-, Mastdarm- und Blasenvenen), während der Wurm in
188 BLUTUNTERSÜCHÜNG.
den peripheren Gefässen bisher nicht gefunden wurde. Seine Eier sind ausser
im Blute auch noch in den Därmen, Leber, Lunge, Harnleiter und Harnblase
abgelagert. Nach Billharz leidet mehr als die Hälfte der einheimischen
Bevölkerung Aegyptens an den von dem Parasitismus dieses Wurmes be-
dingten Krankheitserscheinungen .
Filaria sanguinis ist ein zur Ordnung der Nematoden gehöriger Wurm,
der sich im Blute und Lymphe von Personen der Tropengegenden findet.
Nach Lanceraüx ist der Wurm meist nur während der Nacht
im Blute vorhanden, weshalb die diesbezügliche Blutuntersuchung in den
Nachtstunden vorgenommen werden soll. (Vergl. die Artikel ,,Eingeweidepara-
siteM beim 3Ienschen"' und „Haematurie").
Viel häufiger kommt der praktische Arzt in die Lage, eine Blutunter-
suchung auf Malariaparasiten vorzunehmen. Ist der Patient in Fieber-
anfall, so genügt oft ein einfaches Deckglaspräparat, vom nativen Blute an-
gefertigt, um durch einen Blick ins Mikroskop, die Diagnose zu sichern. Die
endoglobulären Formen sind durch ihr charakteristisches Pigment so leicht
zu erkennen, dass der einigermassen Geübte über das Vorhandensein von
Malariaparasiten nicht lange im Zweifel sein kann. Wenn man gerade will,
kann man zum üeberfluss auch das von v. Jaksch angegebene Verfahren
anwenden und das Blut unter Methylenblau-Kochsalzlösung (s. o.) oder unter
sterilisirter Methylenblau-Ascitesflüssigkeit (Celli und Guaeneri) auffangen.
Durch dieses Verfahren färbt man die Plasmodien blau, so dass sie innerhalb
des hämoglobinfarbenen Blutkörperchens noch deutlicher zu erkennen sind.
Mehr angezeigt ist die Anfertigung von Trockenpräparaten nach oben
angegebener Vorschrift, wonach die einfache Eosin-Methylenblautinction vor-
genommen werden kann. Vor Verwechslung mit Leucocytenformen, Blut-
plättchen oder kernhaltigen rothen Blutzellen schützt immer die Beachtung
des Vorhandenseins von Pigment k örnchen.
Die Untersuchung des Blutes auf Mikroorganismen hat die sorg-
fältige Desinfection derjenigen Stelle, der das Blut entnommen wird, zur
Voraussetzung. Die Haut der Fingerbeere wird mit Seife und Bürste sorg-
fältig gewaschen, mit l%o Sublimatlösung abgespült, das Sublimat mit Al-
kohol entfernt und hierauf noch etwas Aether aufgetropft. Mit einer ge-
glühten Nadel macht man den Einstich und fährt hierauf nach oben ge-
gebener Vorschrift mit einem Deckgläschen über die Kuppe des vorquellenden
Blutstropfens, den man rasch auf eine Reihe anderer sorgfältig sterilisirter
Deckgläschen vertheilt (s. o.). Die Trocknung wird in möglichst reiner
Luft, nach v. Jaksch in einem Exsiccator über Schwefelsäure, vor-
genommen. Die Fixation erfolgt durch Erhitzung im Trockenkasten durch
einige Stunden, bis die Präparate tinctionsfähig gemacht sind. Ein einfaches
Durchziehen durch die Flamme genügt übrigens zu dem beabsichtigten
Zwecke, wo es nicht auf Zellstructuren ankommt, vollständig.
Das Färbe verfahren ist verschieden, je nach der Art der Mikro-
organismen, die man nachzuweisen sucht. Für Tub erkelbacillen wendet
man dieselbe Färbemethode, wie zu ihrem Nachweis im Sputum (vergl.
„ Sputum und Sputumuntersuchung'^). Zur Untersuchung auf Streptococcen
empfiehlt sich das von Weigert angegebene Verfahren : Färbung in Anilin-
wasser - Gentianalösung, 7\bspülen mit Wasser, Auftropfen von Lugol'scher
Lösung durch einige Minuten, Trocknung, Auftropfen voii Anilinöl, Entfernung
des Anilinöls durch Xylol, Einschliessung. Zum Nachweis von Milz brau d-
bacillen und Rotzbacillen möge das von Löffler angegebene Ver-
fahren Anwendung finden: Färbung durch 5 — 10 Minuten in LöFFLER'scher
Methylenblaulösung (30 cw^ concentr. alkoh. Methylenblaulösung und hiO crn^
Kalilauge von 1 : 10,000), Abspülung mit Va^/o Essigsäurelösung, Eintragung
BRECHDURCHFALL DER SÄUGLINGE. 189
in Alkohol, Trocknung, Einschliessung in Canadabalsam. Milzbrand-
bacillen werden übrigens schon auch im nativen Blut leicht erkannt. Zum
Nachweise von R e c u r r e n s s p i r i 1 1 e n empfiehlt sich Günther's Methode :
Vor der Färbung werden die Präparate auf lO Secunden in b^l^ Essigsäure
gelegt, dann wird die Essigsäure durch Abblasen entfernt, hierauf, um die
Essijisäure vollständig zu entfernen, über Ammoniak gehalten, dann mit
WEiGERT'scher Gentiana-Anilinwasserlösung gefärbt, mit Wasser
abgespült und in Canadabalsam eingeschlossen. jul. w^eiss.
Brechdurchfall der Säuglinge. Erbrechen und Durchfall sind
fast constaute Begleiter aller Verdauungsstörungen im frühen Kindesalter.
Ihr gleichzeitiges Auftreten ist sicher nicht bedeutungslos. Als Brech-
durchfall dürfen wir aber solche Fälle nur dann bezeichnen, wenn diese
Krankheitserscheinungen durch ein specifisch wirkendes, infectiöses
Agens bedingt und hervorgerufen sind. Freilich sind wir noch weit davon
entfernt, dieses infectiöse Agens zu kennen. Man hat es bisher vergebens
unter der Unzahl von Spaltpilzen gesucht, welche der Verdauungstractus
unter normalen und pathologischen Verhältnissen beherbergt. Wird es erst
geglückt sein, specifische Spaltpilze für den Brechdurchfall aufgefunden zu
haben, so treten sofort die weiteren Fragen an uns heran : In welcher Weise
entwickeln dieselben ihre pathogenen Eigenschaften? Wirken sie direct
oder indirect? Jedenfalls rufen sie im Magen und Darm Fäulnis- und
Gährungsprocesse hervor. Aber erzeugen sie nur auf diese oder auch
auf irgend eine andere Weise chemisch wirkende, ins Blut
übergehende Gifte? Das sind noch ungelöste Fragen, man beginnt
aber, denselben bereits näher zu treten.
Thatsache ist es zunächst, dass die Brechdurchfälle der Kinder in
regelmässiger Wiederkehr während der heissen Sommermonate auf-
treten und eine epidemische Verbreitung zeigen. Und zwar sind
es besonders die volksreichen Städte, welche den zweifelhaften Vorzug
gemessen, in jedem Jahre durch diese Kinderseuche heimgesucht zu werden.
Hier zu Lande beginnen die Brechdurchfälle in der zweiten Hälfte des
Monates Juni sich zu häufen, erreichen Mitte Juli und Anfang August
ihren Höhepunkt, klingen im September allmählig ab, hören oft aber auch
ziemlich plötzlich auf. Eine Verschiebung in den Anstieg und Abfall der
Epidemie tritt ein, wenn sich die Monate Juni und Juli einer ungewöhn-
lichen Kühle erfreuen. Dann dauert die Epidemie kürzere Zeit, fordert
aber darum nicht geringere Opfer. Sicherlich spielt die Sommerhitze
beim Brechdurchfall der Kinder eine grosse Rolle und doch ist sie wohl
kaum der einzige Factor. Auch zu anderen Jahreszeiten entwickeln sich
Endemien von Brechdurchfällen. Sie bewahren aber ihren localen Charakter.
Findelanstalten und Kinderasyle können die Brutstätten solcher Massen-
erkrankungen werden. Zweifelsohne stellen die Proletarierkinder das
grösste Contingeut an Kranken und Todten. Man könnte hier mit Recht
auf die ungesunden Wohnungsverhältnisse, auf den Mangel an Reinlichkeit,
auf die verpestete Luft und die schwüle Hitze, welche zur heissen Sommers-
zeit in den Wohn- und Schlafräumen der kinderreichen Proletarierfamilien
herrscht, hinweisen; aber die Wohnungsverhältnisse der Proletarier sind im
Winter ganz dieselben; die Luft ist in den überheizten und so gut wie
gar nicht ventilirten Räumen eher noch schlechter, und die Zimmer-
temperatur geht selten unter 20° R. herab. Trotzdem bewahren die Magen-
und Darmerkraukungen der Säuglinge im Winter den Charakter der
Dyspepsien, sie treten nur sporadisch auf und gewinnen nie eine epi-
demische Verbreitung. Der Verlauf der Einzelerkrankuug ist viel gutartiger.
190 BRECHDURCHFALL DER SÄUGLINGE.
Das Säuglingsalter bis etwa zum 12., 14. und 16. Lebensmonat
ist am meisten gefährdet. Ueber das 2. Lebensjahr hinaus erkranken die
Kinder ebenso selten an Brechdurchfall wie Erwachsene. Man wird keinen
Anstand nehmen, den Brechdurchfall des Erwachsenen mit dem Brech-
durchfall der Säuglinge zu identificiren. Die relative Seltenheit der Cholera
nostras des Erwachsenen und des späteren Kindesalters findet ihre Er-
klärung in der grösseren Widerstandsfähigkeit des ganzen Verdauungs-
apparates, in der weiter vorgeschrittenen Entwicklung der natürlichen
Schutzmittel gegen die in den Magen gelangten, schädlichen Microorganis-
men. Solange der Magen in normaler Weise functionirt, solange namentlich
Salzsäure in genügender Menge abgespalten wird, verfallen eine Unzahl
der betreffenden Krankheitserreger durch die normale Magenverdauung
einem sicheren Tode. Erfahrungsgemäss gibt in mindestens 95 Proc. ein
grober Diätfehler den ersten Anstoss zum Ausbruch der Krankheit.
Bei künstlich ernährten Säuglingen liegen in Folge habitueller Ueber-
fütterung meist schon functionelle Störungen der Magen- und Darm-
verdauung vor. Dyspepsien sind im Säuglingsalter eben kein seltenes Er-
eignis! Ist dies der Fall, oder zeigt die Magen- und Darmschleimhaut
etwa gar schon pathologisch-anatomische Läsionen, dann scheint den toxisch
wirkenden Stoffen Thür und Thor geöffnet zu sein. Die Kinder erkranken
anscheinend „ganz plötzlich" und gehen eventuell binnen 24 — 48 Stunden
unter den Erscheinungen einer schweren Vergiftung zu Grunde.
Brustkinder pflegen die heisse Jahreszeit gut zu überstehen.
Werden sie aber während der heissen Sommermonate entwöhnt, so er-
kranken sie 8 — 14 Tage später mit fast unfehlbarer Sicherheit. Ja man
sieht in solchen Fällen grade die schwersten Formen zum Ausbruch kommen.
Eine absolute Immunität besitzen die Brustkinder indessen nicht. Selbst
endemisch tritt der Brechdurchfall unter ihnen auf. (Epstein u. A.) Doch
sprechen hier locale Ursachen mit. Es handelt sich um Findelhauskinder,
also um Säuglinge der ersten Lebenswochen- oder Monate, welche in ge-
schlossenen Anstalten zusammengehäuft sind. Das Gros der Erkrankten
bilden die künstlich ernährten Kinder. In Frage kommen dabei nicht
etwa blos die mit Mehlsuppen, eingeweichtem Zwieback und undefinir-
baren Kinderbreien aufgepäppelten Kinder, die mit Kuhmilch er-
nährten Flaschenkinder erkranken in gleicher Häufigkeit. Sie be-
sitzen also keineswegs eine geringere Disposition. Man hat daher auch
von jeher in der Kuhmilch die Ursache für die häufigen Magen- und
Darmstörungen des Säuglingsalters suchen zu müssen geglaubt. Die Unter-
schiede, welche zwischen der Kuhmilch und der Frauenmilch sowohl in
ihrer, chemischen Zusammensetzung als auch in ihrem physiologischen
Verhalten gegen die Verdauungssäfte bestehen, sind ja bekannt und sicher
nicht gieichgiltig. Sie reichen indessen doch nicht aus, um in genügender
Weise die so schweren Krankheitserscheinungen, wie sie der Brechdurch-
fall der Säuglinge in der That bietet, zu erklären. Diese Unterschiede lassen
sich ja auch bis zu einem gewissen Grade ausgleichen. Trotzdem erkranken
die künstlich ernährten Kinder an Sommerdiarrhoeen, Brechdurchfällen etc.,
während die natürlich ernährten verschont bleiben. Es ist das Haupt-
verdienst von SoxHLET — ohne die Verdienste Anderer um die Klarlegung
derVerdauungsvorgängeim Säuglingsalter (Biedert, Escherich, Baginsky etc.)
schmälern zu wollen — der Anschauung allgemeine Giltigkeit verschafft
zu haben, dass der Hauptnachtheil bei der künstlichen Ernährung
der Säuglinge auf der unvermeidlichen Infedion der Kuhmilch mit Spcdt-
inlzen beruhe. In Folge dessen unterliegt die Kuhmilch bestimmten
Gährungs- und Zers etzungs Vorgängen. Dass diese in der heissen
BRECHDURCHFALL DER SÄUGLINGE. 19X
Sommerszeit weit schneller eintreten als im Winter, entspricht einer Er-
fahrung des täglichen Lebens. Im Stadium des „Sauerwerdens" der Milch
bilden sich Stoffwechselproducte, welche der Milch jedenfalls toxisch
wirkende Eigenschaften verleihen. Andere Spaltpilze, welche mit der Milch
in den Darmcanal eingeführt werden, entfalten wahrscheinlich erst dort
ihre schädliche Wirkung. Dass übrigens auch andere Nahrungsmittel,
namentlich die Amylaceen, im Darm Gährungsprocessen unterliegen, be-
darf wohl nur der Erwähnung.
Die gefürchtetste Form des Brechdurchfalls bezeichnen wir gemeinhin
als Cholera infantum. Sie bietet in ausgesprochendster Weise das Bild
einer acuten Vergiftung. Anscheinend ganz plötzlich, meist nach einem
Diätfehler, beginnt die Krankheit. Sie befällt den Säugling „wie ein
Blitz aus heiterem Himmel". Es muss aber doch constatirt werden, dass
in der grossen Ueberzahl der Fälle, oft sogar schon wochenlang prämoni-
torische Diarrhoeen vorausgegangen waren. Die etwas häufigen dünneren
Stuhlentleerungeu beeinträchtigten indessen das Allgemeinbefinden des
Kindes nicht wesentlich, und da dieselben nicht auffallend abmagerten,
wurde diesen Verdauungsstörungen keine grosse Bedeutung beigelegt.
Die Cholera infantum wird charakterisirt durch massige, rein
wässerige Ausleerungen, heftiges Erbrechen, hohes Fieber und durch
einen rapiden Kräfteverfall mit hochgradiger Abmagerung.
Die sehr reichlichen Ausleerungen enthalten nur anfangs noch
Kothpartikelchen, dann werden sie serös, rein wässerig, haben einen
etwas säuerlichen, mehr „mulstrigen" Geruch, oder sind gänzlich geruchlos. Sie
erfolgen Schlag auf Schlag, 10-, 15-, 20mal und öfter in 24 Stunden, enthalten
zahlreiche Bacterien, Darmepithelien und andere zellige Elemente, reagiren
meist sauer, seltener neutral, später auch alkalisch. Sie schiessen im Strahle
ohne Pressen und Drängen aus dem Anus, dessen Sphincter augenscheinlich
nur mangelhaft schliesst und arrodiren die Umgebung der Analöffnung.
Die Reizbarkeit des Magens ist eine sehr grosse. Was die
Kinder zu sich nehmen, wird sofort oder nach wenigen Minuten ohne grosses
Würgen wieder ausgebrochen. Der Appetit geht ganz verloren, dagegen ist der
Durst bedeutend erhöht. Die Kinder trinken kaltes Wasser mit grosser Gier.
Die Zunge und die Lippen sind trocken, schwach belegt. Der Puls ist sehr
frequent, kaum zu fühlen. Die Temperatur im Anus steigt auf 40», 41"
und darüber, andererseits kommt es aber auch zu Collapstemperaturen von
350, 30'' und darunter. Temperaturerhöhungen werden nur bei schon an
und für sich in der Ernährung sehr zurückgebliebenen atrophischen Säuglingen
vermisst. Der Unterleib ist etwas aufgetrieben, fühlt sich weich und
schwappend an, ist auf Druck unempfindlich. Urin wird nur sparsam
entleert, er ist eiweisshaltig, später tritt völlige Anurie ein. Die Kinder
zeigen anfangs eine grosse Unruhe, schreien mit heiserer Stimme, scheinen
aber frei von Schmerzen zu sein.
Hiezu kommt binnen 24 bis 2mal 24 Stunden eine so auffallende
Abmagerung und ein so rapider Kräfteverfall, wie er nach so
kurzer Zeit nur noch bei der Cholera asiatica aufzutreten pflegt. Das Fett-
polster schwindet, die Knochenvorsprünge treten deutlich hervor, die Haut
lässt sich in grossen Falten erheben. Die Fontanelle ist eingesunken, zeigt
eine deutlich kreuzförmige Vertiefung, die Schädelknochen sind übereinander
geschoben. Das aschgraue, leicht cyanotisch verfärbte Gesicht bekommt
einen ängstlichen und zugleich greisenhaften Ausdruck ; es wird spitz runzlich
und faltig, die Augenhöhlen sind tief eingesunken, um die Augen lagern
bleifarbene düstere Schatten ; die Augenlider sind halb geschlossen, der
Unterkiefer hängt schlaff herab und der Mund ist halb geöffnet. Nähert
192 BRECHDURCHFALL DER SÄUGLINGE.
^icli die Krankheit dem letalen Ausgang, so liegen die Kinder ganz ruhig,
völlig apatisch da. Häufig treten Muskelcontracturen und convulsi^ische
Zuckungen der Extremitäten auf. Las Gesicht und die Extremitäten zeigen
eine auffallende feuchte Kälte. Die Augen haben ihren Glanz verloren.
Die Hornhaut ist trübe, unempfindlich, Pupillen stark contrahirt, reactions-
los auf einfallendes Licht. Zunge und Mundschleimhaut zeigen häufig Soor-
belag. Die Respiration ist beschleunigt, das Herz contrahirt sich nur noch
schwach: der Puls kaum noch zu fühlen, setzt häufig aus. Das Kind wird
comatös und ist aus diesem Coma nicht mehr zu erwecken. In schweren
Fällen pflegt der letale Ausgang schon nach ein bis zwei Tagen einzutreten.
Die pathologis ch- anatomischen Veränderungen des Ver-
dauungstractus lassen sich auch nicht entfernt mit der Schwere der
klinischen Erscheinungen in Einklang bringen. Sie decken sich mit dem
Befunde eines ganz acuten Magen- und Darmkatarrhs. Wir finden Gefäss-
injectionen, ^Yulstungen und Lockerungen der Magen- und Darmschleim-
haut, trübe Schwellungen und Verlust des Epithels, Schwellungen der
solitären Follikel und der Peter'schex Plaques. Einlagerung reichlicher
Ptundzellen in die Schleimhaut und Submucosa. BAaixsKY constatirte auch
Coccen und zahlreiche feine Bacillen in den Lieberkühn'schen Schläuchen.
Andere Befunde sind als Secundärerscheinungen. als Folgen des
enormen Wasser Verlustes aufzufassen. So die auffallende Trocken-
heit des Binde-, Fett- und Muskelgewebes, die Verdichtung und Starrheit
des ünterhautzellgewebes an den Extremitäten (Sclerema adiposum\ die
Eindickung des Blutes, die venösen Stauungen in den hinteren und unteren
Lungenpartien, im Gehirn und in den Hirnhäuten und die wiederholt beob-
achteten Thrombosen der Hirnsinus.
Halten wir an der Annahme fest, dass vom Magen und Darm aus
toxisch wirkende Stoffe in die Blutcirculation gelangen, so scheinen diese
in erster Linie lähmend auf das sympathische Nervensystem, speciell auf
die Xern splanchnici einzu^^irken. Wir können die so plötzlich eintretenden
Collaps ähnlichen Zustände, welche der Cholera infantum ein so ganz
eigenartiges Gepräge verleihen, geradezu als Shoc bezeichnen. Sie beruhen
auf vasomotorischen Störungen, auf plötzlichen Veränderun-
gen des Circulationsgleichgewichts. ^1e wir sie physiologisch
beim „GoLx^schen Klopfversuch" zu Tage treten sehen.
Die Prognose des acuten Brechdurchfalls ist entschieden ungünstig.
Sie gestaltet sich um so schlechter, je jünger das Kind ist. Doch findet
die Krankheit nicht immer emen so jähen Abschluss. Der Sho c wird über-
wunden, das Erbrechen hört auf, die Stuhlentleerungen bleiben noch dünn,
e'rfolgen aber weniger häufig, werden übelriechend, mehr oder weniger
schleimig und kothhaltig. Das Fieber besteht fort und die Krankheit geht
in ein protrahirteres „typhoides" Stadium über. In diesem Stadium gehen
noch viele Kinder nachträglich zu Grunde. Oft erliegen sie den mannig-
fachen Complicationen und Xachkrankheiten ! — Bronchitiden, lobulären
Pneumonien. Xephritiden. phlegmonösen Entzündungen des Unterhautzell-
gewebes. Xerosis bulbi etc. — Trotz alledem sind aber Besserung und
völlige Heilimg in beiden Stadien der Krankheit nicht völlig ausgeschlossen.
Xeben der Cholera infantum herrschen zur heissen Sommerszeit unter
der Kinderwelt noch mildere Formen des Brechdurchfalls.
Sie bieten zwar in klinischer Beziehung wesentliche Abweichungen
dar, ihrer Aetiologie nach gehören sie aber zweifellos zu-
sammen. Wir bezeichnen dieselben als Gastro-ent eritis und unter-
scheiden eine acute und sub acute, mehr chronisch verlaufende Form.
Die Cholera infantum pflegt häufig aus der ersteren Form hervorzugehen,
BRECHDURCHFALL DER SlUGLIXGE. I93
doch vermissen wir bei der Gastro-enteritis die auffallend hohen Fieber-
temperaturen, die cerebralen Symptome, die Collapserscheinungen, kurz
jenen Zustand, welchen wir als "Shoc bezeichneten. Die Stuhlentleerunoen
erfolgen zwar auch sehr häufig, sind bei ausschliesslich mit Milch geucährten
Säuglingen anfänglich gehackt, grünlich gefärbt, mit Milchresten und Schleim-
massen gemischt, riechen sauer oder faulig, später werden sie dünnflüssiger,
wässrig, bleiben aber immer noch grünlich oder bräunlich gefärbt. *Sie'
reagiren meist stark sauer, seltener alkalisch. Letzteres besonders dann,
wenn sie einen ausgesprochenen fauligen Geruch verbreiten. Es bestehen
Kolikanfälle, der Leib ist auf Druck empfindlich, weich, pappig, durch
Darmgase aufgetrieben. Die Kinder haben augenscheinlich Schmerzen, ziehen
die Beine an den Leib heran, um die Bauchmuskeln zu entspannen. Gastri-
sche Erscheinungen können ganz fehlen. Wir dürfen in solchen
Fällen annehmen, dass die Zersetzungs- und Gährungsvorgänge erst im
Darm stattgefunden haben. Li anderen Fällen besteht Erbrechen, Uebelkeit
und saures Aufstossen. Die Kinder sehen etwas bleich und verfallen aus,
fühlen sich heiss an, fiebern etwas, sind unruhig und weinerlich.
Als Complicationen treten häufig entzündliche Luftröhren- und Lungen-
katarrhe hinzu.
Besonders sind es rhachitische Kinder, bei denen dies der Fall zu
sein pflegt. Im Allgemeinen nimmt die Gastro-enteritis bei sonst gesunden,
kräftigen Kindern und einer . frühzeitig eingeleiteten rationellen Behandlung
einen günstigen Verlauf. Erbrechen und Durchfälle hören auf, das vor-
handene Fieber lässt nach, Appetit stellt sich ein, und überraschend schnell
erfolgt eine völlige Pteconvalescenz.
Die subacuten Fälle von Gastro-enteritis schleppen sich
Wochen- und monatelang hin. Dyspeptische Zustände bestanden schon
längere Zeit. Der Appetit lässt zu wünschen übrig. Diarrhoeen wechseln
mit zeitweiligen Obstipationen. Zwischendurch treten acute Verschlimme;
rungen ein. Die Ausleerungen erfolgen häufiger und sind dünnflüssiger, die
Kinder brechen, werden unruhig, fiebern etwas. Diese Attaquen werden
überwunden, aber eine völlige Piestitutio ad integrum findet nicht statt. In
Folge dieser langwierigen, sich häufig verschlimmernden Verdauungs-
störungen magern die Kinder in erschreckender Weise ab und bestehen
schliesslich nur noch „aus Haut und Knochen". Wir bezeichnen diesen
Zustand als Atrophie oder Athrepsie. Es schwindet aber nicht blos
das Fettpolster, alle übrigen Gewebe, sowie sämmtliche Orgaue werden
mehr oder weniger in Mitleidenschaft gezogen. Handelt es sich anfänglich
auch hier wohl nur um functionelle Störungen, hervorgerufen durch
Gährungsvorgänge, welche sich innerhalb des Darms abspielen, so ent^^^ckeln
sich doch im Laufe der Zeit im ganzen Verdauungstractus, vornehmlich
im Dlinndarm, pathologisch-anatomische Veränderungen. Wir treffen sie in
den verschiedensten Stadien ihrer Entwicklung an. Doch bieten sie kein
anderes Bild, wie bei jedem durch andere Ursachen bedingten Magen- und
Darmkatarrh.
Die Behandluiig des Brechdurchfalles erfordert, wie keine andere
Krankheit, eine strenge Individualisiruug eines jeden Einzelfalles. Bei der
Vielseitigkeit der Krankheit verbietet sich eine schablonenhafte Behand-
lung schon von selbst. Folgende Angaben dürfen daher nicht als Norm,
sondern nur als Anhaltspunkt für ein zielbewusstes, therapeutisches
Vorgehen angesehen werden.
Die Prophylaxis erfordert der Natur der Sache nach eine all-
gemein hygienisch-diätetische Behandlung. Aber auch nach Aus-
bruch der Krankheit steht dieselbe obenan. Sie bleibt in jedem Einzel-
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. 13
194 BRECHDURCHFALL DER SÄUGLINGE.
falle die un erl ässliclie Vorbedingung einer jeden weiteren Therapie.
Aber nur in den seltensten Fällen wird sie allein im Stande sein, den ge-
w^ünschten Erfolg herbeizuführen. Gerade bei den infectiösen Brechdurch-
fällen werden wir der mechanischen. und medicamentösen Behand-
lung am wenigsten entbehren können.
Für den Säugling ist und bleibt die Brustnahrung das unerreich-
bare Ideal einer jeden anderen Ernährungsweise. Sie bietet in der heissen
Sommerszeit die meiste Garantie für das Gesundbleiben des Säuglings. Und
z.war in erster Linie deshalb, weil die direct aus den Milchdrüsen stam-
mende Milch gesunder Frauen als keimfrei angesehen werden
muss. Sieht man trotzdem Brustkinder an Brechdurchfall erkranken, so
hat ein Diätfehler vorgelegen und den ersten Anstoss zu einer Darmgährung
gegeben. Gelangt jetzt Brustmilch in den Darm, wird sie ebenfalls Zer-
setzungen unterliegen. Andererseits können bei Mangel an der nöthigen
Reinlichkeit die Gährungserreger etc. an den Brustwarzen der Stillenden
haften. Die Kinder können sich auch selbst inficiren, indem sie die be-
schmutzten Hände in den Mund führen etc. Der Möglichkeiten der Infection
gibt's auch bei Brustkindern gar viele ! Wir dürfen auch nicht ausser Acht
lassen, dass bei einer einmal ausgebrochenen Epidemie alle Säuglinge,
mögen es Flaschen- oder Brustkinder sein, unter dem Einfluss dieser Epi-
demie stehen, d. h. dass gewiss auch gesund eSäuglinge Krankheitserreger in
sich beherbergen und es nur eines bestimmten Anstosses bedarf, die Krank-
heit zum Ausbruch kommen zu sehen.
Umso mehr muss auf die „Keimfreiheit" jeder anderen Säug-
lingsnahrung, speciell der Kuhmilch Werth gelegt werden. Es ist als
grosser Fortschritt zu begrüssen, dass sich wenigstens die Mehrzahl der
Aerzte diese Anschauung zu eigen gemacht hat. ' Die sterilisirte Kuh-
milch, der SoxHLET'sche Milchapparat bürgert sich auch in den Laien-
lyeisen mehr und mehr ein. Leider haben aber die Proletarierfamilien
von diesen Errungenschaften zunächst aus rein pecuniären Gründen noch
am wenigsten profitiren können. — Durch ein intensives, 25—30 Minuten
langes Kochen der Milch mittelst einfacher und billiger Milchkocher (Solt-
MANN etc.) lässt sich ja eine annähernd gleiche „Keimheit" der Milch, wie
mit dem SoxHLET'schen Apparat erreichen. Doch erscheint der Werth einer
derartigen Sterilisirung schon deshalb sehr problematisch, als sich nicht
Jedem der Begriff von Reinlickeit und besonders von Reinlichkeit im
medicinischen Sinne einimpfen lässt. Eine keimfreie Kuhmilch
bietet also denjenigen Kindern, welchen die Mutter- oder Ammenbrust ver-
sagt bleiben muss, zur heissen Sommerszeit einen relativ sicheren Schutz
gegen Verdauungsstörungen und Brechdurchfälle. Freilich dürfen wir nie-
mals vergessen, dass die Frauenmilch und Kuhmilch in ihrer chemischen
Zusammensetzung und ihrem physiologischen Verhalten zu dem Ver-
dauungsvermögen des Säuglingsmagens und Darms wesentliche Unterschiede
darbieten. (Schwerlöslichkeit des C a s e i n s der Kuhmilch ! )
Diesen Unterschieden müssen wir nach wie vor Rechnung tragen und
sie durch die nöthigen Verdünnungen der Kuhmilch durch schleimige Zu-
sätze (Haferschleim, Graupenschleim) u. s. w auszugleichen suchen.
Ist der Brechdurchfall aber einmal ausgebrochen, treten
namentlich die gastrischen Erscheinungen deutlich hervor, dann befürworte
ich, wie Epsteiis^, eine möglichst vollständige Abstinenz jeder
Nahrung, auch der Brust, für die nächsten 12, 24 bis 48 Stunden. Mau
befriedige nur das hochgradige Durstgefühl des Kindes durch vorher ab-
gekochtes und wieder abgekühltes reines Wasser oder durch das von
Epstein empfohlene, indifferente Eiweisswasser (1 frisches Hühnerei-
BRECHDURCHFALL DER SÄUGLINGE. 195
weiss auf V2 — 1 Liter abgekochtes, wieder abgekühltes Wasser, intensiv
verquirlt, event. mit geringem Zuckerzusatz). Man verabreicht das Wasser an-
fangs nur esslöffelweise, in kleineren oder grösseren Pausen, später auch
in grösseren Mengen. •
Als ein grosser Fortschritt in der Behandlung des Brechdurchfalls
sind die ebenfalls von Epstein zuerst empfohlenen Magenausspüluugen
der Säuglinge zu bezeichnen. Ich halte sie bei allen Formen des Brech-
durchfalles für indicirt und habe eclatante Erfolge danach gesehen. Nicht
blos in den Fällen von Magenüberfüllung und Magengährung, sondern auch
bei Katarrhen und Gährungsprocessen in dem Dünndarm. Auch hier ist
der Magen der Ausgangspunkt der Erkrankung gewesen. Sind durch die
Magenausspülung die gährenden Massen aus demselben entfernt, und eine
normale Magenverdauung wieder hergestellt, so wird auch der Darm, wenn
er nicht mehr gezwungen ist, immer wieder neue Zersetzungs- und Gäh-
rungsproducte in sich aufzunehmen, die schädlichen Stoffe zu eliminiren im
Stande sein. Dass freilich die Magenausspülung bei Kindern, welche im Collaps-
stadium der Cholera infantum in unsere Behandlung kommen, nicht mehr
einen lebensrettenden Einfluss auszuüben vermag, darf uns nicht Wunder
nehmen ! Schon nach einer einzigen Magenausspülung hört das Erbrechen
auf, und oft genug sieht man bei der Gastro-enteritis acuta ohne jede andere
medicamentöse Behandlung auch die Durchfälle zum Stillstand kommen.
Man bedarf zur Magenausspülung nur eines dünnen Gummischlauches
von etwa einem halben Meter Länge, au dessen einem Ende ein dicker
Nelaton-Katheter als Schlundrohr, an dessen anderem ein Glastrichter ange-
bracht ist. Die Einführung des eingeölten oder nur genügend angefeuch-
teten Katheters in den Magen unterliegt bei Säuglingen keinen Schwierig-
keiten.
Die Einführung bei sitzender Stellung des Kindes ist vorzuziehen.
Bei hoch gehobenem Trichter fliesst die Spülflüssigkeit in den Magen hinein
und bei nach unten gesenktem in Folge der Heberwirkung wieder durch
den nach unten hängenden Gummischlauch und den umgestülpten Trichter
aus dem Magen heraus. Die Ausspülung wird solange fortgesetzt, bis das
Wasser aus dem Magen wieder völlig klar, ohne jedes Gerinsel, heraus-
strömt.
Als Spülflüssigkeit kann reines Wasser von Körpertemperatur oder
den Magen nicht irritirende antiseptische Lösungen {2procentige Borlösung,
4% Natron henzoic.-Lösung etc.) benutzt werden. Mehrmalige Ausspülungen
des Magens wird man nur selten vorzunehmen gezwungen sein.
Niemals sollte aber einem Säugling mit Brechdurchfall wieder Nahrung,
Brust, stark verdünnte sterilisirte Kuhmilch, Haferschleim oder Graupen-
schleim, dünne Abkochungen von Kindermehlen (Rademann), Voltmee's
Muttermilch — verabreicht werden — ehe nicht eine Ausspülung des
Magens vorgenommen ist.
Das Shocstadium der Cholera infantum erheischt eine Sonder-
therapie. Hier kommt es darauf an, die gesunkene Herzthätigkeit auf jede
Weise zu heben, um das „Circulationsgieichgewicht" so schnell als möglich
wieder herzustellen. Die Haut stark reizende ^Me^ (Senf beider 30— 32^1,^ B:
mit kalten üebergiessungenl) sind hier am Platze. Lmerlich Anale ptica
(Champagner 1 — 2ständlich 1 Theelöffel. In der Armenpraxis: Spiritus
aethereus und Liquor Ammon anis. aa 4 g V4 — ViStündlich 8, 4 Tropfen in
Zuckerwasser). Falls das Erbrechen die Darreichung der Arzneimittel per os
illusorisch macht, subcutane Aether- oder Kampheröleinpritzungen, — Em-
pfohlen sind auch subcutane Chlorahinspritznngen (Hall) und Higginson)
als Sedativum (O'OS— Ol pr. dosi), doch fehlen mir eigene Erfahrungen.
13*
196 BRECHDURCHFALL DER SÄUGLINGE.
Einer Beachtung werth sind die Transfusionen von physiologischen
Kochsalzlösungen (0-6:100) in die Venen und die Einspritzungen derselben
ins Unterhautzellgewebe. Erstere werden wohl der Spitalsbehandlung vor-
behalten bleiben müssen, letztere sind bei ambulanter Behandlung schon
seit Jahr und Tag von mir in Anwendung gebracht worden, und ich darf
behaupten, mit zufriedenstellendem Erfolg. Jedenfalls sollte man sie nie
unversucht lassen. Sie helfen uns über die Collapszustände oft hinweg und
ich hege die Ueberzeugung, dass mancher Scäugling ohne dieselben unrett-
bar verloren gewesen wäre. Epstein, Hennoch und Andere fällen ein gleich
günstiges Urtheil! Man injicirt den Inhalt einer 40 — SO g Kochsalzlösung
fassenden Spritze in- das Unterhautzellgewebe der Bauchhaut oder der
Oberschenkel. Die Canüle muss eine etwas grössere Lichtweite haben, als
die einer PRAVAz'schen Spritze; man bedarf eines ziemlich starken Druckes!
Deutlich, bis zur Grösse eines Hühnereis schwillt an der Injectionsstelle
die Haut auf. Doch vertheilt und resorbirt sich die Flüssigkeit bei
gelinder Massage schon nach wenigen Minuten. Die subcutane Injection
von Kochsalzlösung wird eventuell an demselben oder am folgenden Tage
wiederholt.
Die me die amen tose Behandlung verdient erst an dritter Stelle
genannt zu werden. Wir werden derselben zwar nicht entbeh-'en können,
doch spricht die grosse Zahl der versuchten und empfohlenen Mittel nicht
gerade für die Wirksamkeit derselben in jedem Falle. Es lag nahe, dass
man sich von der antiseptischen Behandlung der Magen- und Darm-
erkrankungen der Säuglinge grosse Erfolge versprach. Scheitert aber schon
beim Erwachsenen die gründliche Desinfection des Verdauungstractus
an der Giftigkeit der antiparasitären Mittel, um wie viel grössere Vorsicht
erheischt die innere Verwendung derselben im Säuglingsalter. Versucht
sind alle löslichen und alle schwerlöslichen Antiseptica und schliesslich auch
solche Mittel, welche ungelöst gewisse Theile des Darmcanales passiren,
um erst an den erkrankten Stellen angelangt, in ihre wirksamen Bestand-
theile zu zerfallen. (Escherich.) Es wird sich schliesslich bei jedem Arzt,
gewitzigt durch die eigene Erfahrung, eine gewisse Vorliebe für das
eine oder andere dieser Mittel geltend machen, und diesen Standpunkt
halte ich im Interesse des Kranken für weit wichtiger, als das planlose
Herumexperimentiren mit den verschiedensten Arzneistoffen. Nichts schadet
mehr, als dem Kranken jeden Tag ein neues Recept zu verschreiben!
Treten bei der acuten Gastro-enteritis die gastrischen Erscheinungen
in den Vordergrund, so mache ich von dem Argentumnitricum (Ärgent.
nur. 0-05, Äq. dest. 60, Glijcerini imri 25, D. in vltr. nigro. S. 1 — 2ständlkh
1 Theelöfel) ausgedehnten Gebrauch. Hennoch rühmt besonders die Salz-
säure und das Kreosot {Kreosoti gtt. II—IV:35aq.desLS.2stündUch 1 Thee-
löfel). Escherich und Demme das Natr. henzoic. (5%ige Lösung). Calomel
halte ich in solchen Fälleniür indicirt, wo wir den Sitz der Gährungsvorgänge
mehr in den Dünndarm verlegen. Bei lebhafter Darmperistaltik, Colik-
anfällen etc. nehme ich keinen Anstand, das Calomel mit kleinen
Opiumdosen zu verbinden. (Tinct. theb. gtt. diias, Calomel 0-05— O'l,
Calcar. carbon. pr., P. gummös, aa. 5, 2 — Sstündlich 1 Messerspitze zu
nehmen !)
Bei der Cholera infantum halte ich Opium für gänzlich contra-
indicirt Ist der Dickdarm in Mitleidenschaft gezogen, sind mehr die
tanninh altigen Mittel am Platze. (Decoct. ligni Campechiayi. 5:120 stündlich
1 Kinderlöffel etc.) Von den neueren Mitteln sei nur noch das Bismuth.
salicyl erwähnt. (0- 1—0-5 mehrmals täglich in Pulverform, oder als Schüttel-
mixtur.) POTT.
BRONCHIALASTHMA. 197
Bronchialasthma. (Asthma nervosum^ s. spasmodicum.) Das Astlima
bronchiale wird auch als Asthma schlechtweg bezeichnet und ist, wie jedes
Asthma, durch plötzlich auftretende und ziemlich rasch endigende Dyspnoe-
anfälle gekennzeichnet.
Es tritt sowohl im Verlaufe bestimm.ter chronischer Krankheiten als
auch nach einer Reihe acut einwirkender Schädlichkeiten auf; es sind mithin
in ätiologischer Beziehung für dasselbe prädisponirende Momente von Gelegen-
heitsursachen zu trennen. Sehr häufig sind länger bestehende Bronchial-
katarrhe die Basis, auf der sich Asthmaanfälle entwickeln können, aber
wohl ebenso häufig führt zu diesen die rasche Einwirkung feuchter, besonders
aber kalter Witterung im Frühjahre und Spätherbste — wobei auch die
Windrichtung eine Rolle spielen mag. — Für Viele geben S taub ei n-
athmungen (Mineral- und Blüthenstaub), unter Umständen auch bestimmte
Gerüche von der Pflanzenwelt angehörenden Trägern — unter diesen
die Ipecacuanha am bekanntesten — die Ursache für das Auftreten des
Asthma ab. Letztere Art wird dann als A. idiosynkrasicum bezeichnet. Zu
den in letzterer Zeit als prädisponirendes Moment für Asthma erkannten Er-
krankungen gehören eine Reihe von Affectionen der Nase, besonders
die Hypertrophie der Schleimhaut der unteren Nasenmuschel und die atro-
phische Rhinitis, seltener, w^enn auch der Zusammenhang zwischen Asthma
und localer Erkrankung ziemlich sicher steht, Mandelhypertrophie und Nasen-
polypen. Auch nach angestrengtem längerem Sprechen wird Bronchialasthma
beobachtet, und oft bringt eine psychische Emotion den Anfall zum Ausbruch.
Für einzelne Fälle scheinen erbliche Verhältnisse vorzuliegen, w^obei
z. B. die Erkrankung mehrere Geschwister bei Freibleiben deren Eltern be-
treffen kann. Die Erkrankung kann in jedem Lebensalter auftreten, ja sie
ist selbst bei Kindern verhältnismässig sehr häufig, namentlich bei scrophulösen
und anämischen. Nach Masern und Keuchhusten ist der Percentsatz der-
selben ein grösserer als nach anderen Kinderkrankheiten. Männer erkranken
in dem Maasse, als sie den verschiedenen Schädlichkeiten mehr ausgesetzt
sind, häufiger als das weibliche Geschlecht.
In neuester Zeit wird noch angegeben, dass Asthmakranke, die schon
in früher Jugend von Anfällen heimgesucht wurden, in der Kindheit fast
durchgehends Hautaffectionen durchgemacht haben. Ebenso verdient
die Beobachtung, dass bei Gichtkranken alternirend Hautaffectionen und
Asthma auftreten können, besondere Erwägung. Ueber das Wesen der Er-
krankung ist trotz der ungemein fleissigen Bearbeitung dieses Themas eine
einheitliche Klärung noch nicht erzielt, zunächst wohl deshalb, weil der
pathologisch -anatomische Befund meist ein spärlicher ist und
wenig zur Erklärung beizutreten vermag, andererseits weil das gesammte
Krankheitsbild nur aus wenigen Symptomen sich zusammensetzt.
Von den ziemlich zahlreichen Theorien sollen die wesentlichsten
angeführt werden.
Während einzelne Autoren das Wesen des Asthma ausschliesslich in
einer Bronchialaffection suchen, wobei die Einen einen chronischen Katarrh
der kleinen Bronchien mit einem eigens beschaffenen zähen Sputum oder
auch Steigerung eines schon vorhandenen Katarrhs anzunehmen gewillt sind,
die Anderen wieder für die Entstehung des Asthma durch Schwellung und
Hyperämie der Bronchialschleimhaut — eventuell auch durch vasomotorische
Einflüsse — eintreten, wurde eine Reihe von Klinikern durch den Umstand
des plötzlichen, unerwarteten Auftretens der Anfälle und der Möglichkeit,
dieselben medicamentös (durch Morphium und Chloral) zu beeinflussen, be-
stimmt, dem Auftreten des Asthma einen Krampf zu supponiren.
Und dieser Annahme neigt jetzt die Mehrzahl der neueren Forscher zu. Während
198 • BRONCHIALASTHMA.
jedoch der eine Theil derselben an einer rein nervösen Erklärung des Asthma
festhält, die in einem Krämpfe der Bronchien und des Zwerchfelles bestehe
(essentielles^ idiopathisches Asthma)^ legen die Anderen den Krampf als eine
secundäre Erscheinung, auf der Basis einer Schwellung oder Exsudation in
den kleinsten Bronchien, aus. Von den Vertretern beider Theorien wird den
Vorgängen in den feinsten Bronchien das Hindernis für die erschwerte In-
und Exspiration zugeschrieben.
Die Vertreter der ersten Richtung der Krampftheorie, des primären
Bronchialmuskelkrampfes, führen für die Stichhältigkeit ihrer Annahme
neben den zwei bereits früher genannten Momenten (plötzliches Auftreten
und medicamentöse Beeinflussung) auch noch den Umstand ins Feld,
dass in den anfallsfreien Intervallen Krankheitserscheinungen zu fehlen
pflegen. Nach deren Ansicht genügen schon unbedeutende Hindernisse
in den Alveolen, um die Ventilation daselbst zu stören, Hindernisse,
deren Ueberwindung leicht gelingen könnte, wenn der gesteigerte Exspira-
tionsdruck nicht auch die dünnwandigen Bronchien zur Compression
brächte. Die exspiratorische Drucksteigerung in der Lunge, bei bestehender
katarrhalischer Schwellung, ruft reflectorisch den Krampf der Bronchialmuskeln
hervor. Das Herabtreten des Zwerchfelles ist der Ausdruck der zunehmenden
Blähung der Lunge bei möglicher Inspiration und behindertem Austritte
der Luft aus derselben.
Die Contractilität der Bronchialmusculatur ist auf experimentellem Wege erkannt
und sowohl manometrisch als auch durch die directe Beobachtung der Zusammenziehung
der Lunge nachgewiesen worden. Hingegen hat die (experimentelle) Reizung des Vagus,
in dessen Bahnen die Fasern für die contractilen Bronchialmuskeln verlaufen, niemals
Blähung der Lunge ergeben.
Nach der Ansicht der Vertreter der zweiten Richtung ist der Katarrh
allein nicht im Stande, die Erscheinungen des A. hinreichend zu erklären, es
müsse noch ein nervöses Element mitwirken. So wird das A. einerseits als
Catarrhus acutissimus mit Zwerchfellkrampf (in Folge der Kohlensäure -
Anhäufung in der Lunge) aufgefasst, andererseits den Sputumpfröpfen die
Ursache für die in- und exspiratorische Athmungsbehinderung zugeschrieben,
die sympathisch einen Broncliialmuskelkrampt hervorrufe; auch einem anderen
Bestandtheile des Sputums, den Krystallen, wird direct ein Reiz, der einen
Krampf erzeugt, zugedacht.
Am plausibelsten unter den vermittelnden Theorien der Combination
von Bronchialaffection und Krampf erscheint diejenige, die nach Analogie
der von der Nasenschleimhaut auslösbaren reflectorischen Wirkungen, deren
einige auch vasomotorischer Natur sind und oft recht weit von der Local-
affection entfernte Gebiete treffen, annimmt, dass auch an der Schleimhaut
der feinsten und mittleren Bronchien durch bestimmte Schädlichkeiten, die
direct die Schleimhaut treffen, so Kälte und Secretanhäufungen (namentlich
bei Nacht), Hyperämie reflectorisch hervorgerufen werden könne, die von
der Absonderung eines besonders zähen Sputums {bronchioUtis exsudativa)
gefolgt ist. Die A.- Anfälle werden also direct durch die Vorgänge auf der
Bronchialschleimhaut hervorgerufen. Es handelt sich also um eine Reflex-
neurose. Der Zwerchfelltiefstand erklärt sich durch die respiratorischen
"Widerstände, ob durch Kohlensäureanhäufung, oder Reizung durch die Bron-
chialschleimhaut muss allerdings noch dahingestellt bleiben.
Das Symptomenbild des A., dessen Ablauf auf die Lunge beschränkt
ist, setzt sich aus wenigen Erscheinungen zusammen. Der Asthmaanfall
beginnt stets plötzlich, meist bei Nacht, ohne dass der Kranke an dessen
Auftreten vorher gemahnt würde. Nur ausnahmsweise künden Druckgefühle im
Halse, Kehlkopfkitzel oder Beklemmung den nahenden Eintritt der A.-Anfälle an.
Manchmal sind leichte Katarrherscheinungen, ein Schnupfen mit Verstopfungs-
BRONCHIALASTHMA. 199
gefühl in der Nase, die Prodrome des Anfalls. Die Körpertemperatur pflegt
die Norm nicht zu überschreiten. Die Athemnoth entwickelt sich rasch, bald
tritt kalter Schweiss am ganzen Körper und Cyanose der Haut und sicht-
baren Schleimhäute auf. Der Kranke ist selten im Stande während des
Anfalls zu liegen, und kurze oberflächliche Inspirationen wechseln mit mühsam
langen Exspirationen.
Dabei ist die Athmungsfrequenz eher verlangsamt. Die mühsame
Exspiration zwingt den Kranken zur Inanspruchnahme der Auxiliär-Musculatur
für diese, indem er sich auf die Hände stützt, den Kopf etwas nach rück-
wärts neigt. Die oberen Thoraxpartien sind mehr an der Athmung betheiligt
als die unteren, diese zeigen ausgeprägte Einziehungen, die Bauchmuskeln
sind straff gespannt. Auf der Höhe des Anfalles ist lautes Pfeifen selbst auf
Distanz zu hören. Die heftige Dyspnoe (Orthopnoe) während des oft bis zu
mehreren Stunden währenden, unter Umständen aus rasch folgenden Einzel-
anfällen zusammengesetzten Anfalles, nimmt ziemlich rasch ab, in der
folgenden Zeit besteht meist noch etwas Athmungsfrequenzsteigerung. Der
Puls ist im Anfall meist klein und frequenter. Die physikalische Untersuchung
der Lunge ergibt im Anfalle überall lauten Schall — über die Norm — und
bald nach Beginn des Anfalles lässt sich der Tiefstand des Zwerchfelles
constatiren, Auscultatorisch ist bei dem lauten Stöhnen und Keuchen der
Patienten oft wenig wahrzunehmen und nur, wenn die Ruhe etwas zurück-
gekehrt ist, ist scharfes Exspirium mit Schnurren und Giemen fast über
der ganzen Lunge zu hören. Gegen Ende des Anfalls tritt auch kleinblasiges
Ptassein auf. Oefter sind die auscultatorisch en Phänomene fast null, erst in
der dem Anfalle folgenden Zeit (oft durch Tage und Wochen) sind Erschei-
nungen eines Bronchialkatarrhs zu constatiren.
Das Sputum wird selten auf der Höhe des Anfalles expectorirt, meist
kommt dasselbe gegen das Ende derselben und in der folgenden Zeit zur
Erscheinung, die Menge ist selten beträchtlich.
Das Sputum ist sehr zäh, glasigschleimig und enthält kleine, weiss-
liche Ballen, die bei näherer Inspection aus zusammengerollten Fäden und
Pfropfen bestehen. Sie sind meist spiralig gedreht und zeigen in ihrem
Verlaufe Abzweigungen, wie feine Bronchial-Yerzweigungsausgüsse und sind
auffallend zähe. Mikroskopisch zeigen sie meist zelligen Einschluss, stellen-
weise körnigen Zerfall dieser Zellen und spitze Octaeder in w^echselnder
Menge und verschiedener Grösse. Diese (CHARCOT-LETDEN'sc'hen) Krystalle
sind fast immer in diesen Fäden, besonders reichlich nach längerem Stehen
des Sputums zu finden. Dieselben sind in Wasser, Alkohol. Alkalien und
Säuren, nicht aber in Aether löslich. Untersucht man die Fäden und Pfropfe
genauer, so findet man, dass sie aus spiralig angeordneten fasrigen Gebilden
(CuRSCHMANN'sche Spiralen) bestehen und in ihrem Inneren ein Lumen
haben, durch das sich ein dünner stärker lichtbrechender Faden zieht.
(Vgl. „Sputum und SjnUumuntersuclninii^^)
Schwierigkeiten für die Differentialdiagno.se des A. bronchiale bestehen
zunächst nur dort, wo die Anfälle zum ersten Male auftreten. Von dem
cardialen Asthma wird das bronchiale durch die eigenthümliche Art der üespira-
tion — namentlich die langgedehnte Exspiration — durch den Zwerchfell-
tiefstand, die Sputumbeschaftenheit und das Fehlen von cardialen Symptomen
zu trennen sein. Bei rein laryngealer Dyspnoe (Verengerung der Stimmritze)
ist nicht die Exspiration, sondern die Inspiration langgezogen und auch
Stridor vorhanden. Hysterische Krampfformen unter dem Bilde des A. bieten
andere Erscheinungsweisen (vide „Hi/sferie'').
Die Prognose ist je nach der Häufigkeit der Anfälle und deren Folge-
erscheinungen verschieden zu stellen. Zahlreiche Wiederholungen von An-
200 BRONCHIALAFFECTIONEN.
fällen führen schliesslich zu Emphysem und Herzdilatation und geben dann
eine ungünstige Prognose. Dort, wo Asthma durch bestimmte Gelegenheits-
ursachen erzeugt wird, ist die Prognose günstig zu stellen.
Aufgabe der Therapie ist es, die Anfälle zu coupiren und die Wieder-
holung derselben zu verhüten. Dem erstgenannten Zwecke genügt meist die
hypodermatische Application von Morphium in der Dosis von 0-015 — 0-02.
Weniger wirksam ist Chloralhydrat {per os2-0—3'0 oder per ClijsmaA'O — 6'0).
Bei mangelndem Erfolge von Morphium und Chloral können Chloroform- und
Methylenhichlorid- (letzteres allein oder mit Chloroform) Einathmungen ver-
sucht werden. Ebenso Amyhiitrit (3 — 6 Tropfen) oder Jodäfhijl (10 — 15
Tropfen mehrmals täglich) oder Pyridin (6 — 12 Tropfen). Nichtrauchern ver-
schafft öfters das Rauchen einer Cigarette eine Erleichterung. Räucherungen
mit Stramonium und Belladonnablättern, die in Salpeter getränkt oder mit
Salpeterpapier allein, bewähren sich öfter ganz gut, ebenso kann auch Ärsenik-
papier-Uäncherung {l'O arseniksaures Kali auf lo'O Äqu. dest., in welcher
Lösung Fliesspapier getränkt und nachher getrocknet wird) versucht werden.
(Asthma-Cigaretten). Auch Hyoscinum hydroiodicum subcutan Vi — ^k '*^9 W^
dosi soll manchmal Dienste leisten, während Ammoniakinhalationen von
Asthmatikern meist abgelehnt werden.
Bei hartnäckigen Anfällen sind Brechmittel am Platze, doch muss auf
die Intactheit des Gefässapparates Rücksicht genommen werden. Um die
Wiederholung der Anfälle zu verhüten, sind Patienten der nördlichen Ge-
genden in ein mildes südliches Klima zu bringen, oft genügt schon Wechsel
des Aufenthaltsortes überhaupt, dieses Ziel zu erreichen. Den Kranken sind
Vermeidung von Erkältungen, unter Umständen kalte Abreibungen, im
Sommer See- auch Soolenbäder^ sowie alkalische Wässer (Ems, Selters, Karls-
bad), namentlich bei chronischem Bronchialkatarrh, und Gebrauch der pneu-
matischen Kammer mitEinathmung verdichteter und Ausathmung in verdünnte
Luft zu empfehlen (s. „Pneumatotherajne^'), hei n?iSSL\QY Aetiologie ent-
sprechende Behandlung des Grundleidens, im Anfalle Pinselung der Nasen-
schleimhaut mit Cocain (l'O auf 20-0) empfohlen.
Viel gerühmt wird die Jod-Therapie, eventuell mit gleichzeitigem Ge-
brauche von Kochsalz- und kohlensaurem Natroninhalationen (aa 1 "0—200, zweimal
täglich; dann Pillen von Ejctr.Belladonnae u. Pidv. r. Belladonnae aa O'OI, von
welchen an dgn ersten 3 Tagen je 1, am 4., 5. und 6, Tage je 2, vom 7.
bis 10. Tage je 3 am Abend genommen werden; die folgenden 10 Tage
3raal täglich 1 Esslöffel Syrupus terebinth, den Rest des Monates Arsenik-
cigaretten und überdies alle 20 Tage ein Decoct von 4-0 Cort. chin. calis.
in Kaffee auf nüchternem Magen.
Oder Kcd. jodat. PO — 2-0 pro die durch 14 Tage, dsiun Fol. Belladonn.,
Extr. Belladonn. aa 0-2, Pulv. liqu. ft. pil. Nr. 20 täglich V2 — 1 Pille, dazu
täglich von Natr. arsenicos. 0'05 ad Aqu. 60-0 1 Esslöffel.
Gute Erfolge wurden noch beobachtet von: Besorcin rO bei Beginn
des Anfalls und Antipyrin 1*75 nach zweimaligem Gebrauche.
Schliesslich wird noch der Gebrauch von folgender Mixtur empfohlen :
Rp. Kai. jodat.
Tr. iobel.
f Tr. polijgal. '^j^ 10-0
Extr. opii 0-1
Äqa. dest. 900 0.
MDS. Mittags und Abends 1 Esslöffel auf ^/^ Glas Wasser. H. v. F.
Bronchialaffectionen. Unter dieser Ueberschrift sollen die
Bronchitis catarrhalis, ferner die putride Bronchitis, sowie die BroncM-
ectasie und endlich auch die Broyichopneumonie gemeinsam behandelt
BRONCHIALAFFECTIONEN. 201
werden, Affectioiien der Bronchialschleimhaut und ihres
Stützgewebes, welche sowohl klinisch eng zusammengehören, als auch
ätiologisch und anatomisch genug Berührungspunkte bieten.
Die Bronchitis (BronchialkatarrJi), von welcher man die Tracheitis als
hcäufigste Begleiterscheinung kaum ganz trennen kann, ist eine katarrhali-
sche Entzündung der Schleimhaut der Luftwege, welche wie alle Schleim-
hautkatarrhe aus mehr oder minder starker arterieller oder venöser Hyper-
ämie, oberflächlicher oder tiefer greifender Schwellung der Schleimhaut
und abnormer Secretion der Schleimdrüsen besteht. Je nach dem raschen
oder langsamen Verlauf und je nachdem die entzündlichen Vorgänge au
dei' Schleimhaut zu leichteren, vorübergehenden oder schwereren an-
dauernden, zum Theil hypertrophischen Veränderungen geführt haben, unl;er-
scheidet man, wie bei den meisten entzündlichen Affectionen, acute und
chronische Formen, die jedoch vielfach ineinander übergehen. Wichtiger
ist die auf die ätiologischen Momente Rücksicht nehmende Unterscheidung
einer primären und einer secundären Bronchitis.
Ursachen. Das ätiologische Verhalten der primären Bronchitis
ist durchaus nicht so aufgeklärt, als man es bei einer so häufigen Krankheit
erwarten sollte. Dieselbe galt und gilt noch jetzt vielfach als eine echte
Erkältungskrankheit. Was man aber unter Erkältung versteht, ist
trotz vielfacher Aufklärungsversuche noch ziemlich dunkel. Dass die Kranken
mit Bronchialkatarrhen gewöhnlich eine „Erkältung" als Ursache angeben,
ist sicher, aber ebenso sicher ist meiner Erfahrung nach, dass gerade nach
ausgeprägten Abkühlungen oder Durchnässungen nur ganz ausnahmsweise
das Auftreten einer Bronchitis beobachtet wird. Es ist daher nicht ganz
ausgeschlossen, dass die Empfindung des „Sich erkälten" vielfach die
Folge der erhöhten Empfindlichkeit bei schon beginnender Erkrankung,
nicht die Ursache der letzteren ist. Damit soll nicht geleugnet werden,
dass starke Abkühlungen zu Bronchitis disponiren. Am wahrschein-
lichsten sind zahlreiche Fälle von acuter, primärer Tracheobronchitis
einschliesslich der Coryza, der Angina und dei Laryngitis als Inf e ctions-
krankheiten aufzufassen. Dafür spricht das gehäufte Auftreten zu
gewissen Zeiten, besonders Anfang und Ende des Winters, das gleich-
zeitige oder kurz nacheinander Erkranken zahlreicher Mitglieder der-
selben Familie, sowie der cyklische Verlauf. Ein specifischer, pathogener
Mikroorganismus ist freilich noch nicht nachgewiesen. Sicher ist dagegen
die schädliche Einwirkung mancher Gase und Dämpfe, wie Chlor, Salz-
säure^ Brom, Jod, rothe Dämpfe etc., weshalb Chemiker und Arbeiter
in chemischen Fabriken häufig an acuten und chronischen Katarrhen
erkranken. Ebenso unzweifelhaft ist die nachtheilige Einwirkung des
Staub es auf die Schleimhaut der Luftwege, indem Arbeiter, welche in
staubiger Atmosphäre (mineralischem und besonders vegetabilischem Staub)
sich aufhalten müssen, gewöhnlich an chronischer Bronchitis leiden. Dass
gröbere Fremdkörper ebenfalls Katarrhe erzeugen können oder organische
Substanzen (Speisen), welche in grösseren Partikeln in die Bronchien
gelangen und sich da zersetzen, zu katarrhalischer, beziehungsweise putrider
Entzündung Veranlassung geben können, ist selbstverständlich (Asplrations-
bronchitis, beziehungsweise P?ieumonie).
Kaum minder gross als die Zahl der primären Katarrhe ist die der
secundären. Fast jede acute Erkrankung (MaserN, Keuchhusten,
Influenza, Darmtgphus, Miliartuberculose, Pleuritis, Pochen etc) geht mehr
oder minder regelmässig mit acuten Bronchialkatarrhen einher. Ebenso
sind zahlreiche chronische Krankheiten zunächst der Lungen (wie das
Emphysem, welches Ursache und Folge des Bronchialkatarrhs sein kann),
202 BRONCHIALAFFECTIONEN.
dann des Herzens, bei dem die Stauung im Lungenkreislauf die begün-
stigende Ursache ist, weiter die der Nieren, ferner die Anämie, Rhachitis,
Skrophulose und viele andere häufig von chronischen Bronchialkatarrhen
begleitet. Insbesondere gibt es wohl kaum eineL u n g e n t u b e r c u 1 o s e, welche
nicht mit katarrhalischen Erscheinungen seitens der Bronchien einherginge.
Unter die secundären Bronchitiden sind wohl auch die toxischen zu
rechnen, welche nach innerer Darreichung von Jod und Brom beobachtet
werden.
Als disponirend für Katarrhe der Bronchien darf man schwäch-
liche Constitution, ungünstige hygienische Verhältnisse, Verweichlichung
oder Mangel jeder Schonung ansehen. Vielleicht ist auch Vererbung einer
gewissen Disposition im Spiel. Wenigstens beobachtet man zuweilen die
Neigung zu Katarrhen in mehreren Generationen, auch wenn Tuberculose
sicher auszuschliessen ist. Kinder vor der Schulpflicht, sowie ältere Leute
dürften mehr disponirt sein als die zwischenliegenden Lebensalter.
Erscheinungen. Der Verlauf ist je nach der Art der Ursache
und der acuten oder chronischen Form ein sehr verschiedener.
Der acute primäre Katarrh kann sehr plötzlich beginnen. Bald
fängt er gleich mit trockenem Husten, wundem Gefühl längs der Trachea,
Fiebererscheinungen als echte Tracheohr onchüis an, oder er beginnt als
Schnupfen oder mit Kratzen und Trockenheit im Halse, als Angina, oder
mit Heiserkeit und Kitzeln im Kehlkopf als Laryngitis und schreitet erst
nachträglich auf die tieferen Luftwege fort (descendirende Form). Das
Sputum ist im Anfang spärlich, glasig, zellenarm, zäh, schwer zu expec-
toriren. Nach einigen Tagen wird es reichlicher, dünnflüssiger, zellenreich,
schleimig eiterig und der Husten klingt trocken. Die objectiven
Erscheinungen an der Brust richten sich nach der vorwiegenden Lo-
calisation des Katarrhs, sowie nach der Schwere und dem Stadium
desselben. Häufig, wenn der Katarrh nur die gröberen Luftwege befällt,
und gewöhnlich im Anfang, fehlt jedes a u s c u 1 1 a t o r i s c h e Zeichen
oder man hört vereinzeltes Schnurren an der Brust und dem geöffneten
Munde. In den späteren Stadien, wenn das Secret flüssiger wird,
findet man mittel- und grossblasige, feuchte Rasselgeräusche.
Sind dagegen die feineren Bronchien ergriften {Bronchiolitis, Bronchitis
cajnllaris), so nimmt man an der ganzen Brust hohe, pfeifende, durch
Verengerung der kleinen Bronchien bedingte S t e n o s e n geräusche (Rhonchi
sibilantes) oder im späteren Verlauf feinblasige, feuchte Rasselgeräusche
wahr. Fieber besteht gewöhnlich nur im Anfange und hat keinen bestimmten
Typus. Beim Erwachsenen ist es selten hoch. Dementsprechend sind
auch die von der Temperaturerhöhung abhängigen Erscheinungen vonseiten
des Nervensystems gering. Auch auf die Athemthätigkeit und die Circulation
hat die Erkrankung in späteren Jahren gewöhnlich nur massigen Einfluss.
Bei Kindern, besonders in dem ersten Lebensjahre, zeigt die Krankheit
häufig einen anderen Charakter. Sie beginnt mit beträchtlicher Temperatur-
erhöhung, deren rascher Anstieg von Erbrechen oder bei ganz kleinen
Kindern von Convulsionen begleitet sein kann. Auch sonst treten heftige
Erscheinungen, quälender Husten, Dyspnoe, Pulsbeschleunigung auf, und das
Fieber kann sich tagelang auf der Höhe von 39 — 40 o C. halten.
Die grösste Gefahr kann hier die Bronchitis bringen, wenn sie die
kleinsten Bronchien von vorn herein befällt oder auf dieselben übergeht.
Im Anfang unter reichlichen sibilirenden Rasselgeräuschen und bei Ver-
flüssigung des Bronchialsecrets unter weit verbreitetem klein- und mittel-
blasigem, feuchtem Rasseln steigert sich die x\.themnotli immer mehr,
inspiratorische Einziehung des Epigastriums und des unteren Thorax-
BRONCHIAL AFFECTIONEN. 203
abschnittes tritt auf, ganz ähnlich wie bei Kehlkopfstenosen und es kommt
zu starker Cyanose und heftiger Unruhe. Unter Oberflächlicherwerden
der Athmung, Zunehmen der Somnolenz, livider Färbung der Haut und
Collapserscheinungeu kann der Tod erfolgen, auch ohne dass weitere
Complicationen dazu kommen. Bei den secundären acuten Bronchitiden
können die Erscheinungen in der oben geschilderten Weise verlaufen,
werden aber gewöhnlich durch die der Grundkrankheit mehr oder minder
zurückgedrängt.
Die Erkennung der acuten Bronchitis ist in der Mehrzahl der
Fälle leicht. Man darf im Allgemeinen sagen, dass, wenn ein Bronchial-
katarrh besteht, derselbe auch in der Regel erkannt wird. Anders umge-
kehrt. Besonders bei fieberhaften Krankheiten der Kinder wird häufig in
der Praxis darauf hin, dass die Kinder etwas husten und sonst nichts
nachweisbar ist, die Diagnose auf Bronchitis gestellt, ohne sicher begründet
zu sein. Bronchitis ist daher ein Sammelbegriff geworden, unter dem
viele acute Störungen subsummirt werden, ohne eigentlich dazu zu gehören ;
so z. B. leichte, ähnlich den acuten Infectionskrankheiten verlaufende
Störungen des Wohlbefindens von Kindern ohne nachweisbare Localisation.
Ferner können die croupöse Pneumonie, eine beginnende Pleuritis, Masern.
Magen- und Darmstörungen im Anfang für Bronchitis gehalten werden,
bis der Verlauf die Sache aufklärt. Bei Erwachsenen wie Kindern kann eine
acute Tuberculose der Lungen im Anfang oft für eine unschuldige Bronchitis
gehalten werden.
Der Verlauf und die Dauer der Krankheit sind sehr verschieden.
Zuweilen gehen die Erscheinungen schon nach wenigen Tagen im Wesent-
lichen zurück, während bei schwereren Fällen die Krankheit mehrere
Wochen anhält. Der gewöhnliche Ausgang in Genesung kann bei Vernach-
lässigung durch den in chronische Bronchitis ersetzt werden. Bei Kindern,
zumal im ersten Lebensjahre, ist die Prognose in schweren Fällen, insbe-
sondere bei capillärer Bronchitis, immer vorsichtig zu stellen. Die Gefahr
des Ueberganges in die katarrhalische Pneumonie droht kleinen Kindern
und Greisen vornehmlich.
Die chronische Bronchitis tritt in der Ptegel als secundäre
Erkrankung bei zahllosen chronischen Erkrankungen auf oder entwickelt
sich aus der acuten. Die primäre Form bildet sich infolge von mecha-
nischen und chemischen Schädlichkeiten aus.
Die Erscheinungen der chronischen Bronchitis sind ausserordent-
lich verschieden je nach der Schwere und der LTrsache. Vom leichten
besonders morgendlichen Husten und massigen schleimigeiterigen Auswurf
bis zu den heftigsten Hustenparoxysmen bei starker Dyspnoe oder asthma-
tischen Anfällen, massenhaften, schnurrenden, pfeifenden, rasselnden
Geräuschen, besonders an den hinteren und unteren Partien des Thorax,
mit entweder sehr zähem, spärlichem Auswurf (trockenem Katarrh, catarrhe
sec) oder reichlichem, schleimigeiterigem oder rein eitrigen Sputum (BroncJw-
hlenorrhoe) finden sich alle nur möglichen Uebergänge. Fieber und erheb-
liche Schädigung in der Ernährung fehlt in der Ptegel. Eine eigenthümliche,
seltene, in ihrem Wesen noch nicht recht aufgeklärte Form ist die seröi^e
BroncJiorrhoe, der pituitöse Katarrh Laennec's, bei der unter heftigen dys-
pnoetischen und Hustenanfällen eine ungeheure Menge farbloser, faden-
ziehender, zellenarmer Flüssigkeit selbst bis zu mehreren Pfunden im Tag
expectorirt werden kann.
Bei der Diagnose des gewöhnlichen chronischen Bronchialkatarrhs
hat man sich besonders sorgfältig vor Verwechslung mit der Lungen-
tuberculose zu hüten. Es gibt ja gewiss Fälle genug, in denen dem
204 BRONCHIALAFFECTIOXEN.
Geübten die Unterscheiclimg bei der ersten Untersuchung gelingt. Aber
trotzdem muss die Regel gelten, jeden Kranken mit anhaltenden bronchi-
tischen Erscheinungen für tuberculös zu halten, bis das Gegentheil bewiesen
ist. Immer wieder percutire man die Lungenspitzen, suche man nach speciell
auf die Spitzen localisirtem Rasseln, lasse man regelmässige Temperatur-
messungen vornehmen und ganz besonders fahnde man so oft als möglich
auf Bacillen im Auswurf.
Wenn das Bronchialsecret durch das Eindringen von Fäulniserregern
in die Bronchien sich zersetzt und den fauligen Charakter annimmt, so
bezeiclmet mau dies als fötide oder putride ßroncliitis. Dieselbe kann
sich an Lungengangrän oder ein in die Lungen durchgebrochenes jauchiges
Empyem anschliessen oder sie bildet sich beim Stagniren des Secrets in
Bronchialerweiteruugen aus oder sie kann sich durch Aspiration von Speisen,
welche in Fäulnis tibergehen, entwickeln. In diesem letzteren Fall kann
sie auch ihrerseits wieder zu Lungengangräu führen. Ein bestimmter Mikro-
organismus als Krankheitserreger ist nicht mit Sicherheit nachgewiesen,
man darf aber wohl die Fäulnisbacterien überhaupt verantwortlich
machen. Die Schleimhaut der Bronchien befindet sich gewöhnlich im Zustand
starker Entzündung, zuweilen mit brandigen oder geschwürigen Stellen ; die
Wandung ist gewöhnlich verdickt, das Lumen erweitert. Von den Erschei-
nungen ist die charakteristischste der stinkende Auswurf, der sich meistens
allmählich zu dem der gewöhnlichen Bronchitis hinzugesellt. Nicht selten
zeigt die Ausathmungsluft oder das eben entleerte Sputum den üblen Geruch
deutlicher als der Auswurf in der Spuckschale. Die Ursache des Fötors ist
in-flüchtigen Fettsäuren, zuweilen Ammoniak und Schwefelwasserstoff gefunden
worden. Sammelt man den Auswurf, so setzt er sich in drei Schichten
ab, eine oberste schaumige, undurchsichtige, schleimigeitrige, eine mittlere,
grünliche, durchsichtige, seröse und eine untere rein eitrige. In letzterer
befinden sich kleine, bis hanfkorngrosse und grössere, gelblichweisse oder
graue, stark riechende Pfropfe (DiTTEicn'sche). welche entweder aus
Eiterzelleu oder aus Eiter, Körnchenmassen, sowie Fettröpfchen- und Nadeln
bestehen. Fieber von verschiedener Höhe, zuweilen mit Schüttelfrösten,
Appetitlosigkeit, quälender Husten und Athemuoth begleiten den Process.
An der Brust brauchen keine anderen physikalischen Erscheinungen als
die der geM'öhnlichen Bronchitis aufzutreten, falls dieselben nicht durch
die Grundkrankheit (Phthisis, Lungengangrän), oder durch Complicationen
(Pneumonie, Pleuritiden) bedingt sind.
Die Diagnose ist im ganzen leicht. Natürlich muss man den fötiden
Charakter stets an dem frisch ausgehusteten Sputum feststellen und sich nicht
etwa durch nachträgliche Fäulnis desselben im Speiglas täuschen lassen.
Schwierig ist nur die sichere Unterscheidung von der Lungengangräu. welche
überdies häufig als Ursache oder Folge die fötide Bronchitis begleitet. Das Vor-
handensein von elastischen Fasern, falls dasselbe nicht auf gleichzeitiger ulce-
röser Luugenphthise beruht (Tuberkelbacillen), spricht mit Sicherheit für Gan-
grän und noch mehr der Nachweis von Luugengewebsfetzeu. Das Fehlen der-
selben beweist aber natürlich nicht die Abwesenheit von Lungenbraud. da erstens
dieselben nicht immer dem Auswurf beigemischt zu sein brauchen, und zweitens,
selbst wenn sie darin vorkommen, durch ein in demselben nachgewiesenes
trypsinartiges Ferment verdaut werden können.
Der Verlauf ist je nach Ursache und Kräftezustand ein schneller
oder langsamer, zuweilen ein über Monate und Jahre protrahirter. Immer
ist die putride Bronchitis als eine ernste Erkrankung anzusehen, welche
zwar ausheilen, aber auch allein für sich nach Art aller jauchigen Processe
durch Kräfteverfall den Tod herbeifiihren kann.
BRONCHIALAFFECTIONEN. 205
Die Broiichiektasie {Broncliialenceiterung) ist eine chronische Ver-
änderung, welche sich theils in Folge einer Einbusse der ganzen Bronchial-
wand an Widerstandskraft und Elasticität unter dem Exspirationsdruck
ausbildet, theils durch Schrumpfungsprocesse in der Umgebung der Bronchien
herbeigeführt wird, vielleicht auch innerhalb des Bereichs eines verstopften
Bronchus durch Anhäufung reichlichen Secrets entstehen kann. Bei der
ersteren Entstehungsweise kommt es gewöhnlich zu cylindrischen, in den
letzten beiden Fällen zu sackförmigen Erweiterungen der Luftwege. Bei
diesen verschiedenen Arten der Entwickelung von Bronchiektasien spielen
hartnäckige Bronchitiden, interstitielle chronische Pneumonien, narbige
Schrumpfungen des Lungengewebes und der Pleura naturgemäss eine Rolle.
Der Zustand kommt übrigens auch congenital vor. (Grav^itz.)
Die Erweiterungen der mittleren und feineren Bronchien können die
ganze Lunge durchsetzen oder nur an einzelnen Stellen zu finden sein.
Ihre Form ist entweder die cylindrische beziehungsweise spindelige oder
die sackartige. Die Wand der cylindrischen ist meist ausgebuchtet und
lässt auf der Innenfläche ringförmig oder schräg verlaufende Leisten, die
erhaltenen Muskelzüge, erkennen. Die Schleimhaut ist häufig atrophisch,
zuweilen erhalten, seltener mit papillären Wucherungen besetzt. An den
sackförmigen Ektasien sieht man dieselben Veränderungen, häufig aber
Verdickungen der Wand einer- und Geschwulstbildung andererseits. Schreitet
der geschwürige Zerfall auf das Lungengewebe fort, so bilden sich ulceröse
bronchiektatische Cavernen. Der centripetale (zuführende) Theil des Bronchus
mündet gewöhnlich ofl'en in die Höhle, während der centrifugale (abführende)
meist verschlossen ist. Sind beide obliterirt, so ensteht eine Cyste.
Die Erkrankung entwickelt sich allmählich und ist von sehr lang-
wierigem, Jahre und Jahrzehnte dauerndem Verlauf. Lange Zeit bietet sie
nur die Erscheinungen einer chronischen Bronchitis. Die Zunahme des
Auswurfs, welcher oft sehr massenhaft wird, lenkt zuerst die Aufmerksam-
keit auf das Leiden. Dabei findet die Expectoration gewöhnlich nur ein
paar Mal im Tage statt, es wird aber mit einem einzigen Hustenstoss ein
ganzer Mund voll eines dicken, meist eitrigen, oft unangenehm oder
faulig riechenden, rahmartigen, selten geballten Auswurfes entleert.
Häufig tritt dies Aushusten reichlichen Sputums nur in einer bestimmten
Körperstellung ein, beispielsweise bei hauptsächlichem Sitz auf der einen
durch Lagerung auf die entgegengesetzte Seite, bei Localisation in den
untersten Partien durch Vornüberbeugen. Die Schleimhaut der erweiterten
Bronchien ist eben unempfindlich gegen das stagnirende Secret geworden ;
fliesst dasselbe aber in die Bronchien mit normal erregbarer Schleimhaut
hinein, so wird Husten und Expectoration ausgelöst. Sammelt man das
Sputum in einem Glas, so setzt es sich, wie bei der putriden Bronchitis
in drei Schichten ab. Um von denen der einfachen Bronchitis abweichende
physikalische Erscheinungen zu machen, müssen die Bronchialerweite-
rungen schon ziemlich gross oder reichlich oder der Oberfläche sehr nahe
gelegen sein, wenigstens wenn sie die im wesentlichen einzige Veränderung
darstellen. Wir hören alsdann an bestimmten Stellen des Thorax besonders
in den unteren hinteren Partien reichliche, feuchte, mehr oder weniger
klingende, grossblasige Rasselgeräusche. Das Spärlicherwerden oder V e r-
schwinden des Rasseins nach einer reichlichen Expectoration und
die c 0 n s t a n t e Wiederkehr desselben an der n ä m liehen Stelle
spricht, wenn vorhanden, sehr für Bronchialerweiterungen. Grosse, ober-
flächlich gelegene oder von verdichteten Geweben umgebene, sackartige
Erweiterungen (bronchiektatische Cavernen) geben nach der Entleerung
die bei den phthisischen Cavernen bekannten physikalischen Höhlen-
206 BROXCHIALAFFECTIOXEX.
Symptome (Tumpanitischer Schall, 'Wi^sTRICR scher SchalltrechseJ, BronchiaJ-
oder mefallisches Athmefi), doch nicht die für tuberculöse Caverueu charak-
teristischen Bacillen und elastischen Fasern. Dass bei Complicatiouen mit
ausgedehnten Yerdichtungs- und Schrumpfungsprocessen auch Dämpfungen
beziehungsweise Bronchialathmen auftreten, ist selbstverständlich. Athem-
noth ist ein gewöhnlicher Begleiter der Erkrankung, der von der Ver-
minderung der Athmungsoberfläche durch das Grundleiden oder die mit
Secret erfüllten Bronchien abhängig ist. Cyanose trifft man daher häufig.
Die Nagelglieder der Finger sind kolbig aufgetrieben (TromineJschlägel).
Fieber fehlt, wenn es nicht durch die Grundkrankheit oder Com-
plicationen bedingt wird. Ueberhaupt ist bei mangelnden Complicationen
ein Einfluss der Erkrankung auf die Gesammt er nährung in der Regel
nicht zu bemerken. Nicht selten steht der abscheuliche, massenhafte
Auswurf im lebhaften Contraste zu dem blühenden Aussehen der Krauken,
Eine Hypertrophie des rechten Ventrikels gleicht oft für lange Zeit die
respiratorischen und circulatorischen Störungen in der Lunge aus. Schliesslich
erlahmt der Ventrikel und unter Cyanose und Ödemen erliegen die
Kranken der Herzmuskelinsufficienz. Auch zunehmende Vereiterung oder
GangTän der Lunge, complicirende Pneumonien, Hirnarterienembolien etc.
können den tödtlichen Ausgang bedingen.
Die Diagnose ist in ausgeprägten Fällen auf Grund der ;.maul-
vollen" Expectoration, des dreischichtigen Sputums, des localisirten. nach
dem Aushusten verschwindenden Piasseins, besonders in den unteren Lungen-
partien und der Höhlensymptome mit Sicherheit zu stellen. Am wichtigsten
ist die Unterscheidung von Tuberculöse, zumal auch bei dieser Er-
krankung Bronchialerweiterungen häufig genug vorkommen. Der Nachweis
der Tuberkelbacillen oder elastischer Fasern ist dabei entscheidend. Doch
beweist das Fehleu der Bacillen in dem bronchiectatischen Sputum nicht
immer die Abwesenheit tuberculöser Erkrankung. Denn in dem reichlichen
Auswurf des Bronchiectatikers fällt es oft schwer, die aus einem tuber-
culösen Herd etwa beigemischten Bacillen zu finden. Dann ist man bei der
DiiTerentialdiagnose auf die für die Lungenschwindsucht sprechenden Mo-
mente des hektischen Fiebers, der raschen Abmagerung und der vorwie-
genden Lokalisation in den Oberlappen, eventuell die Impfung eines Thieres
mit dem Sputum, angewiesen. Vor Verwechslung mit Lungen gangr an
und Lungena bscess schützt der schwere, fieberhafte, meist rasche Ver-
lauf dieser Krankheiten und eventuell der Nachweis von Lungen gewebs-
fetzen. Von der putriden Bronchitis ist die Bronchialerweiterung
häufig schon deshalb nicht zu unterscheiden, weil sie mit derselben nicht
selten einhergeht. Den etwa zu ähnlichen Erscheinungen führenden D u r c h-
bruch einesEmpyems in die Bronchien muss man durch sorgfältige
Berücksichtigung der dem reichlichen Eiterausbruch vorhergehenden Er-
scheinungen und den plötzlichen Beginn des letzteren auszuschliessen
suchen.
Die Bronchopneumonie (katarrhalische Pneumonie, lobuläre Pneu-
monie) ist fast ausschliesslich eine secundäre, sich aus dem Catarrh der
feineren Bronchien entwickelnde, acute oder mehr chronisch verlaufende
Entzündung des Lungengewebes und wird aus diesem Grunde am besten
im unmittelbaren Anschlüsse an die Entzündung der Brochialschleimhaut
besprochen.
Die Ursachen fallen im Wesentlichen mit denen der primären und
secundären acuten, wie chronischen Bronchitis zusammen. Diejenigen acuten
und chronischen Krankheiten, welche von Bronchitiden regelmässig be-
gleitet sind (Masern, Keuchhusten, Influenza, Diphtherie, Typhus, Tuberculöse,
BROXCHIALAFFECTIOXEX. 207
Emphysem etc.) veranlassen daher auch die Bronchopneumonie am häufigsten.
Es fragt sich nur. unter Avelchen Umständen ein Fortschreiten der Entzün-
dung auf die Alveolen besonders leicht stattfindet. Von hervorragender Be-
deutung erscheint das Lebensalter. Kinder in den ersten drei Jahren,
besonders aber im ersten Lebensjahre sind ganz besonders zu der Erkran-
kung disponirt. Sowohl die an die primäre Bronchitis sich anschliessenden
als auch die secundären Bronchopneumonien nach Masern. Keuchhusten,
Diphtherie und Influenza fordern da die meisten Opfer. Von grosser Wichtig-
keit für die leichte Entstehung catarrhalischer Pneumonie im Kindesalter
erscheint auch die Weichheit des Thoraxsc elets, welche bei kleinen
Kindern entweder an und für sich oder in Folge von Rachitis besteht. Wenn
das Secret den Eintritt der Luft in die unteren Lungenpartien bei der Li-
spiration behindert und der äussere Luftdruck die bekannten inspiratori-
schen Einziehungen der weichen unteren Thoraxabschnitte bewirkt, so wird
auch der Exspirationsdruck an diesen Stellen ungenügend und die Expec-
toration des Bronchialsecrets nothwendig behindert sein müssen. In ähn-
licher Weise ist es auch zu erklären, dass Greise und an schweren Krank-
heiten Darniederliegende leichter von der Erkrankung befallen werden.
Bei alten Leuten ist es das Lungenemp hysem und neben der
Herz- die Muskelschwäche, welche durch die Erschwerung der Ex-
spiration und des Aushustens, bei schweren, fieberhaften Erkrankungen,
wie bei Typhus, die anhaltende Rückenlage und die dauernde, durch die
Schwere bedingte Unthätigkeit der hinteren unteren Lungenabschnitte, welche
ein Fortschreiten der Entzündung von den Bronchien auf das Lungen-
parenchym begünstigen. (Hypostatische Pneumonie bei Typhus etc.) Man pflegt
sich gewöhnlich den Vorgang so vorzustellen : Durch das bronchitische Secret
werden die feineren Bronchen eines kleineren Lungengebietes verstopft, es
dringt keine Luft mehr ein und dasselbe wird allmälig luftleer (atelaktatisch).
In diesem Zustand der Unthätigkeit ist es weniger widerstandsfähig,
gegen die eindringenden Mikroorganismen des Bronchialsecrets und es kommt
zur Entzündung. Doch soll diese Schilderung durchaus nicht den einzigen
Entstehungsmodus darstellen.
Eine bestimmte Spaltpilzform ist die Ursache höchst wahrscheinlich
nicht: vielmehr sind Diplococcen, Staphißococcen und Streptococcen gefunden
worden. Im ersten Beginn findet man kleinste, miliare Entzündungsherde,
welche sich allmälig vervielfältigen oder vergrössern und , in dem sie
confluieren, allmälig einen ganzen Lungenlappen durchsetzen können. Die
bronchopneumonischen Herde sind luftleer, zeigen je nach der Form und
dem Stadium der Entwicklung dunkelrothe, graue bis graurothe Farbe, glatte
Schnittfläche und entleeren bei Druck eine trübe Flüssigkeit. Der Inhalt
der Alveolen besteht, im Gegensatze zu dem festen Exsudat bei der fibri-
nösen Pneumonie, aus Flüssigkeit mit kleineren und grösseren Rundzellen.
Das Exsudat wird gewöhnlich resorbirt. kann aber auch zu trockener
Nekrose oder zu Induration des Gewebes führen, selten vereitern oder ver-
jauchen.
Die Erscheinungen sind vielfach, besonders im Anfang, mit
denen der acuten oder subacuten Form der Bronchitis identisch. Der Ueber-
gang der letzteren in die Bronchopneumonie ist zuweilen ein allmäliger,
unmerklicher, oft aber zeigt sich klinisch die Entwicklung der catarrhali-
schen Pneumonie als eine nach scheinbarer Remission der catarrhalischen
Erscheinungen plötzlich eintretende Steigerung der Krankheit. Mitunter
wird der Husten, weil er in Folge des Entzündungsschmerzes unterdrückt
wird, eher geringer. Das Fieber aber steigt in der Regel an, kann hohe
Grade erreichen, bleibt aber selten anhaltend hoch und ist meistens ganz
208 BRONCHIALAFFECTIONEN
unregelmässig. Wenn es eine gewisse Regelmassigkelt einhält, so ist es
gewöhnlich remittireud, fast nie eigentlich continuirlich. Es kommen aber auch
Fälle selbst von schwerer catarrhalischer Pneumonie vor, bei denen Fieber
so gut wie ganz vermisst wird. Auswurf fehlt bei Kindern gewöhnlich
ganz und hat, .wenn vorhanden, meistens die catarrhalische Beschaffenheit,
selten enthält er Blut. Der physikalische Befund an der Brust unter-
scheidet sich häufig, zumal im Anfang, kaum von dem der Bronchitis. Es
können zahlreiche, kleine Herde die Lunge durchsetzen, sobald nur noch
genügend lufthaltiges Gewebe zwischen denselben ist, findet man keine
deutliche Dämpfung, kein Bronchialathmen und der ausgesprochene Leichen-
befund contrastirt dann oft auffallend mit dem geringen Untersuchungsresultat
während des Lebens. Bilden sich grössere Herde, was nach einigen Tagen
der Fall sein kann, aber zuweilen erst nach Wochen einzutreten braucht,
so findet man, besonders häufig in den unteren, hinteren Partien neben der
Wirbelsäule, nicht selten aber auch in der Scapulargegend und in der
Fossa supraspinata leichtere oder intensivere Dämpfungen und Bronchial-
athmen. Dasselbe ist gewöhnlich von reichlichem, feuchtem Ptasseln be-
gleitet, welches sich überhaupt in verschiedener Intensität weit verbreitet
am Brustkorb findet. Solange deutliche Verdichtungserscheinungen noch
fehlen, kann man, meiner Erfahrung nach, aus reichlichen, an bestimmten
Stellen, besonders den Unterlappen, constant localisirten, lauten, feuchten
Rasselgeräuschen den Schluss auf Entwicklung von bronchopneumonischen
Herden ziehen. Das Allgemeinbefinden richtet sich gewöhnlich nach
der Höhe des Fiebers oder der Stärke des Hustens und der Athemnoth.
Bei mangelndem Appetit leidet unter dem Einfluss der Krankheit die Er-
nährung gewöhnlich beträchtlich. In der Mehrzahl der Fälle geht bei gün-
stigem Verlaufe die Temperatur allmälig herunter, der Abfall ist aber stets
von leichteren, mitunter sogar beträchtlichen Steigerungen unterbrochen und
wird erst oft nach vielen Tagen vollständig. In der gleichen Weise bessern
sich auch die übrigen Beschwerden nur langsam. Rückfälle sind sehr häufig.
Bei einer Wendung zum Schlimmen nehmen die Respirationsstörungen und
die Rasselgeräusche zu, es entwickelt sich Cyanose und unter weithin hör-
barem Rasseln, Somolenz und Collapserscheinungen, zuweilen unter Convul-
sionen tritt der Tod ein.
Die Dauer d€S Verlaufes ist sehr verschieden und kann zwischen
einer und vielen Wochen schwanken. Von Complicationen ist die
Pleuritis eine der häufigsten; doch können sich auch andere Entzün-
dungen, sowie Lungeng an grän entwickeln. Letzteres kann besonders
der Fall sein, wenn Aspiration von Speisetheilen oder gangränösen Massen,
wie bei Diphtherie, die Ursache der Erkrankung war. Als Nachkrank-
heit kann sich Emphysem anschliessen. Besonders gefürchtet ist aber
die T u b e r c u 1 0 s e, welche sich zu der catarrhalischen Pneumonie Masern-
und Keuchhustenkranker,' sowie rhachitischer und scrophulöser Kinder, wie
man annimmt, nicht selten dazugesellt. Es scheint, als ob die Bronchopneu-
monien einen günstigen Boden für die Ansiedelung des Tuberkelbacillus
abgäben. Doch kann auch die Tuberculose primäre Ursache der Broncho-
pneumonie sein (tuberculose Bronchopneumonie).
Die Prognose ist nach dem Gesagten immer vorsichtig zu
stellen, besonders ernst ist sie bei ganz kleinen Kindern und bei ganz
alten Leuten; auch richtet sie sich sehr nach der Grundkrankheit oder
nach der Ursache.
Die sichere Erkennung der Krankheit kann sehr leicht, aber
auch ausserordentlich schwer oder unmöglich sein. So ist der Uehergang aus
der capillären Bronchitis in die Bronchopneumonie oft nur zu vermuthen.
BROXCHIALAFFECTIOXEN. 209
Von der croupösen Pneumonie kann man sie häufig auf Grund des
allmäligen an Bronchitis oder andere Krankheiten sich anschliessenden
Beginnes, auf Grund der langsamen Entwicklung der Verdichtungserschei-
nungen, von reichlichen, catarrhalischen Geräuschen, des unregelmässigen
Fiebers, des Mangels von Herpes und des schliesslichen, allmäligen Nach-
lasses unterscheiden. Oft aber, insbesondere bei Kindern in den ersten
Jahren, bei denen die croupöse Form nicht selten auch unregelmässig ver-
läuft, ist die Unterscheidung schwierig oder unmöglich, was bei der Wichtig-
keit der Prognose sehr zu bedauern ist. Ist man doch oft auch bei der
Section ganz kleiner Kinder nicht im Stande, die croupöse und catarrhalische
Form makroskopisch zu unterscheiden. Nicht minder schwierig ist unter
Umständen die Vermeidung der Verwechslung mit ple uritis chen Ex-
sudaten, zumal Empyemen, wiederum besonders bei Kindern. Die Aehn-
lichkeit der allgemeinen Erscheinungen und speciell die Kleinheit der Ver-
hältnisse und die Unmöglichkeit unsere gewöhnlichen physikalisch-diagnosti-
schen Hilfsmittel (Pectoralfremitus) zur Unterscheidung von Erguss und
Verdichtung sicher anwenden zu können, trägt die Schuld daran. Die Probe-
punktion, welche bei der nöthigen Vorsicht vollkommen unschädlich ist,
auch wenn man in bronchopneumonisches Gewebe einsticht, ist das einzige
Mittel zur sicheren Differential diagnose.
Unmöglich ist gewöhnlich die bestimmte Abtrennung von Tuber-
culose im Kindesalter, weil das wichtige Hilfsmittel — die Sputumunter-
suchung, fehlt. Wir können die Tuberculose meistens erst nach längerer
Beobachtung aus der Heredität, anderen tuberculösen Erscheinungen (z. B.
Drüsenschwellungen) und der rasch zunehmenden Abmagerung vermuthen.
Diese prognostisch so wichtige Unterscheidung bereitet dem beschäftigten
Kinderarzt fast täglich Schwierigkeiten.
Therapie der Bronchialschleimhaiit-Atfectioneu.
Die Behandlung der acuten Bronchitis einschliesslich
der Bronchopneumonie. Bei Leuten, welche durch ihre Beschäftigung
oder durch ihre Disposition oder endlich durch andere Krankheiten zu
Bronchitiden neigen, ist natürlich die Prophylaxe von der grössten Be-
deutung. Die Vermeidung der schädlichen Einwirkung des Staubes und der
Gase in den verschiedenen Gewerben ist eine zwar schwere, aber hoch-
wichtige Aufgabe der privaten und staatlichen Gesundheitspflege. Ins-
besondere sollte für alle Staub- oder schädliche Gase erzeugenden
Beschäftigungen bei Neuanlangen vor allem auf die Herstellung grosser Piäume
und guter Ventilationsvorrichtungen gedrungen werden, und zwar nicht nur
bei grösseren Fabriken, sondern auch in kleinen Betrieben. Auch der
persönliche Schutz der Arbeiter ist durch Belehrung zu fördern, zumal
die instrumenteilen Vorrichtungen (Ptespirationen) entweder unzureichend
oder unbequem sind. Die individuelle Disposition bekämpft man bei
jugendlichen Individuen nicht durch Verwöhnung, sondern durch Ab-
härtung (reichlicher Aufenthalt im Freien, kühle Temperatur und Lüftung
in den "Zimmern, kalte Uebergiessungen und Abreibungen etc.). Bei solchen
Krankheiten, die chronische Katarrhe zur Folge haben, wie beim Emphysem,
sind die Kranken vor Staub, grossen Temperaturdiiferenzen, kurz vor allen
Schädhchkeiten und Gelegenheitsursachen zum Katarrh zu bewahren. Wo-
möglich schicke man sie im Winter in südliche Curorte. Bei der acuten
Bronclitis kann man wohl, aber nur im ersten Beginn, versuchen, die
Krankheit durch ein einmaliges, starkes Schwitzen aufzuhalten. Es
genügt das Trinken von heissen Getränken und warmes Zudecken im Bett.
Zuweilen scheint es, als ob diese Procedur Erfolg hat. Ein sicheres Urtheil
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medic'.n und Kinderkrankheiten. i'*
210 BRONCHIAL AFFECTIONEN.
ist nicht zu gewinnen, weil im Anfang die Ersclieiniingen gewöhnlich noch
nicht für eine sichere Diagnose ausreichen, bei deutlicher Ausbildung der
Krankheit aber die Schwitzcur nicht mehr hilft. Eine örtliche Behandlung
des Bronchialkatarrhs ist schwierig und um so schwieriger, je tiefer in die
Luftwege der Katarrh sich fortsetzt. Inhalationen von lösenden Substanzen
im ersten, von adstringirenden im zweiten Stadium der acuten Bronchitis
bringen Linderung, hauptsächlich bei den von der Tracheitis herrührenden
Beschwerden, ohne jedoch nach experimenteller und praktischer Erfahrung
wesentlichen Einfluss auf den Katarrh der feineren Bronchien zu gewinnen.
Als Lösungsmittel für den zähen Schleim dürften sich Warmwasserdämpfe
(auch bei kleinen Kindern anwendbar) oder Einathmungen von Salzwasser
(einen Theelöffel auf einen Schoppen Wasser), Salmiak^ kohlensaures Natrium
(1 — 2 Perc). zur Secretionsverminderung TannininJialationen (1 — 2 Perc)
empfehlen. Noch wichtiger aber ist reine, gieichmässig, nicht zu hoch
(13° Pt.) temperirte, durch Wasserverdampfung feucht erhaltene Luft des
Krankenzimmers. Womöglich soll man in der milderen Jahreszeit voll-
ständige Freiluftbehandlung eintreten lassen. Ich habe Kinder armer Leute
mit hartnäckigen Bronchopneumonien dadurch genesen sehen, nachdem schon
alle Hoffnung aufgegeben war. Die leider noch sehr verbreitete Furcht vor der
freien Luft wird vielen dieser Kranken verderblich. Die Unterstützung der Ex-
pectoration durch Verordnung der sogenannten E x p e c t o r a n tie n {Senega, Ipe-
cacuanha, Liquor ammonii anisatAis, Salmiak etc.) ist althergebracht und in der
täglichen Praxis auch bequem, in ihrer Wirksamkeit jedoch durchaus nicht
so zuverlässig, wie man geneigt ist anzunehmen. Vielmehr ist der Umstand,
dass sich diese Mittel so fest eingebürgert haben, gewiss zum grossen
Theil darauf zurückzuführen, dass nach w^enigen Tagen an und für sich
das flüssiger werdende Secret leichter ausgehustet wird und man diese
Veränderung nur allzu leicht dem verordneten Mittel zuschreibt. Ist die
Expectoration eines sehr zähen oder eines reichlichen, in den Luftröhren
auf- und niederrasselnden Secretes wie bei schweren, capillären Bron-
chitiden oder Bronchopneumonien wirklich in Gefahr drohender Weise
erschwert, so lassen auch die meclicamentösen Expectorantien im Stich.
Am meisten Vertrauen verdient das ApomorpMn (0-01 — O'l) auf 50 — 100
Wasser mit einigen Tropfen Salzsäure, zweistündlich einen Thee-
bis Esslöffel im schwarzen Glas (bei Kindern pro Lebensjahr etwa Vn '^^9'''
pro dosi) und Acidum henzoicum (0-01 pro Lebensjahr). Wichtiger ist
der Alkohol, zugleich als Mittel gegen den drohenden Collaps in Form
starken, für Kinder süssen, Weines und Champagner. Die Brechmittel
sind, da sie nur vorübergehend den Schleim herausbefördern und eine
wiederholte Anwendung wegen der schwächenden Nebenwirkungen un-
zweckmässig ist, auf Ausnahmsfälle zu beschränken. Das beste expecto-
rirende Mittel ist ein proti-ahirtes, lauw^armes, eventuell mit kalten Ueber-
giessungen verbundenes Bad. Lauwarme Bäder (25^ p. ebensoviel
Minuten lang) sind überhaupt von ausgezeichneter Wirkung, indem sie
Athmung und Aushusten verbessern, das Fieber massigen, das Nerven-
system beruhigen und Schlaf herbeiführen. Man soll deshalb auch bei den
Bronchitiden und Katarrhalpneumonien mit geringerem Fieber ausgedehnten
Gebrauch von denselben machen. Erforderen höheres Fieber und sehr er-
schwerte Expectoration ein stärkeres Eingreifen, so kühle man die Bäder
allmälich von 25" auf 20« und 18» ab. Bei hochfieberhaften Bronchitiden
und Bronchopneumonien mit gefährlicher Expectorationsbehinderung macht
man unter steter Beobachtung des Pulses und Darreichung von Wein kalte
Uebergiessuugen im warmen Bad. Sonstige Bekämpfung des Fiebers durch
medicamentöse Antipyretica ist meistens überflüssig oder nachtheilig.
BRONCHIALAFFECTIONEN. 211
Höchstens dass kleine Dosen Antipyrin bei Kindern (etwa soviel Decigramm
als Lebensjahre) eine nicht zu verachtende, siibjective Erleichterung
bringen können. Narcotica, die man bei Kindern am besten ganz ver-
meidet, kann man bei Erwachsenen zur Milderung des starken Reizhustens
im ersten Stadium verwenden; doch genügen meist kleine Mengen
{Morphiyi O-OOo—O Ol, Codeinum phosphoric. O-Ol — 0-03 jjro dem).
Die Behandlung des chro nis chen B ronchialkatarr hs hat
ebenfalls in erster Linie die Ursachen zu berücksichtigen. Dahin gehört vor
allen Dingen die Vermeidung von Staub. Rauch, schädlichen Gasen, ver-
dorbener Luft. Aber auch bei den secundären Katarrhen, die sich bei Herz-
klappenfehlern, Herzmuskelinsufficienz, Emphysem etc. infolge des Nachlasses
der Thätigkeit des rechten Ventrikels und Stauung des Blutes in der
Bronchialschleimhaut entwickeln, ist die Erkennung und Beseitigung der
Ursache die Hauptsache. Wie viele solcher Bronchi tiker, meistens ältere
Leute aus dem Arbeiterstande, werden wochenlang vergeblich mit Expec-
torantien behandelt, während eine Digitaliscur (Pulver von Ol, fünfmal
täglich, im ganzen circa ?yO) in wenigen Tagen erhebliche Besserung oder
Heilung bewirkt. Grösserer Temperaturwechsel, rauhes, feuchtes _ oder
windiges Wetter müssen vermieden werden. Nichtsdestoweniger ist frische,
gute Luft von der grössten Bedeutung und muss in unserem Klima viel-
fach im Zimmer hergestellt werden. Häufiger Wechsel, ausgiebige Lüftung
und gleichmässige Temperatur (13»— 15« R.) der Wohnzimmer, tagsüber
Lüftung und nachts massige Temperirung (circa 10«) des Schlafzimmers,
Tragen von Flanellhemden, Athmen durch die Nase muss empfindlichen
Patienten ebenso empfohlen werden, wie anderenfalls auf Abhärtung, kalte
Waschungen, regelmässige Spaziergänge, Gewicht zu legen ist. Der Auf-
enthalt an klimatischen Cur orten (vergleiche Klimatotlmrapie) er-
leichtert die genannten Vorschriftsmassregelu in vieler Beziehung. Im All-
gemeinen eignen sich die warmen, südlichen Klimate am besten für
den Winteraufenthalt der Bronchitiker. Bestimmte Indicationen für die
einzelnen Formen sind sehr schwer aufzustellen, doch passen für die
südlichsten Klimate in Sicilieu, Afrika und an der Riviera besonders die
heruntergekommenen anämischen Kranken, während man kräftigere Patienten
nach dem südlichen Tirol (Gries, Meran, Area) schicken kann. Dass man
Leute mit trockenen Katarrhen in feuchtwarme, solche mit reichlicher
Secretion in trocken-warme Gegenden schicken soll, ist meiner Meinung
nach eine mehr theoretisch construirte, als praktisch bewährte Vorschrift.
Sehr zu beachten ist nach dem Winteraufenthalt in den eigentlichen,
warmen südlichen Curorten die Benützung von Uebergangsstationen {oher-
itallenisclie Seen, Genfer See, Südtirol) bei der Rückkehr in unser Klima im
Frühjahr. Das eigentliche Hochgebirgsklima (Davos, 1500 m) ist im
Allgemeinen weniger geeignet, obwohl auch dort sehr günstige Erfolge er-
zielt werden können. Eher passen in dieserBeziehung die m i 1 d e r e n Winter-
Höhen cur orte {les Avants bei Montreux, 1000 w). Im Sommer genügt
gewöhnlich ein waldreicher, staubfreier, geschützter Ort, im Hügelland
oder Mittelgebirge bis zu 3000 Fuss, während das Hochgebirge und die
Seebäder trotz einzelner günstiger Ergebnisse im Durchschnitt nicht so
gut vertragen werden. Der blosse Aufenthalt an Luftcurorten thut es
freilich nicht allein. Die Kranken müssen die frische Luft auch in der
ausgedehntesten Weise geniessen. Liegecuren im Freien, von kleinen Spazier-
gängen unterbrochen, sind am zweckmässigsteu, während stärkere Be-
wegungen mit Erhitzungen nicht zuträglich sind. Es ist auch vielfach Sitte,
die Bronchitiker in Badeorte zu schicken (vergleiche Balneotherapie interner
KrankJieiten), und besonders die alkalisch - muriatischen Quellen von Ems^
14*
212 BRONCHIALAFFECTIONEN.
Gleichmherg u. a., ebenso auch die Kochsalztrink quellen erfreuen
sich eines grossen Rufes. Sie verdanken denselben dem lösenden Eintiuss
des Wassers auf das zähe Rachensecret, der dadurch geschaffenen subjectiven
Erleichterung, sowie den günstigen Bedingungen eines Bade auf enthalts über-
haupt. Doch werden diese Bedingungen durch Milchcuren in einer waldigen
Gebirgsgegend womöglich noch besser hergestellt. Man hat deshalb in den
erwähnten Badeorten ausser für Trink- und Badecuren auch fürdirecte
locale Behandlung des Bronchialkatarrhs gesorgt. Dahin gehören die
Inhalationskabinete, in denen das salzhaltige Wasser zerstäubt wird, ebenso
die Gradirwerke, sowie die pneumatischen Kammern für comprimirte und
die Apparate für verdünnte und verdichtete Luft. Einathmung von c o m-
primirter Luft haben sich wiederholt, besonders bei den Bronchial-
katarrhen der Emphysematiker, günstig gezeigt (Yeigleiche Pneumatotherapie).
Inhalationen von warmen Dämpfen, Salzlösungen etc. können die Be-
schwerden des trockenen Katarrhs mildern. Bei reichlicher Secretion
(Bronchoblennorrhoe) empfehlen sich Tanninlösungen, sowie besonders das
Terpentinöl und verwandte Stoffe zu Inhalationen (entweder mit der
Terpentinpfeife oder mit den Wasserdämpfen aus dem Kessel der Dampf-
inhalationsapparate oder durch Aufgiessen auf die Bettdecke zu inhaliren).
Die innerliche Darreichung von Terpentin, Peru-, Copaivahalsam, Myrrha etc.
kann versucht werden, doch ist davon nicht allzuviel zu erwarten. Die
Expectorantien sind beim chronischen Katarrh wohl von noch zweifel-
hafterem Nutzen als beim acuten. Narcotica sind häufig nicht zu ent-
behren, doch wo möglich auf den trockenen Katarrh zu beschränken. Bei
Leuten mit gleichzeitiger chronischer Obstipation sieht man zuweilen von
Curen in Karlsbad oder Marienbad eine günstige Beeinflussung auf das
Bronchialleiden. Jedenfalls ist, so unverständlich uns auch der Zusammenhang
scheinen mag, die Regulirung des Stuhlgangs erfahrungsgemäss stets zu
beachten.
Die Behandlung der Bronchie ktasieu fällt zum grössten Theil mit
der des chronischen Bronchialkatarrhs, insbesondere desjenigen mit reich-
licher Secretion zusammen. Inhalationen von secretionbeschränkenden
Mitteln, wie Terpentinöl, sind auf das Consequenteste zu versuchen. Im
übrigen kommen die oben aufgezählten, prophylactischen, diätetischen und
klimatischen Massregeln in Betracht. In Ausnahmefällen, wenn eine grosse
oberflächlich gelegene bronchiektatische Höhle mit Sicherheit zu dia-
gnosticiren ist, wäre an die operative Eröffnung und directe locale Nach-
behandlung zu denken, da eine Spontanheilung nicht zu erwarten ist. D i e
fötide Bronchitis fordert natürlich in erster Linie zu Versuchen auf,
die Fäulnisvorgänge in den Bronchien zu bekämpfen. Zu diesem Zwecke
wird die Einathmung desinficirender Substanzen, besonders solcher,
welche bei gewöhnlicher Temperatur oder mit den Wasserdämpfen flüchtig
sind, vielfach versucht. Dahin gehören die Carbolsäure, Creosot und
Terpentinöl entweder in der oben erwähnten Anwenduugsweise oder als
permanente Inhalation mit der CuRSCHMANN'schen Maske, welche einen
Behälter für die Aufnahme von Carbolsäure und Alkohol zu gleichen
Theilen oder Creosot etc. enthält und über Mund und Nase angelegt wird.
Auch das Pyridin (in 10 Proc. Lösung aus dem Dampfkessel des In-
halationsapparates zu inhaliren) hat sich mir trotz des unangenehmen
Geruchs, an den sich die Kranken übrigens gewöhnen, zuweilen nützlich
erwiesen. Man erzielt überhaupt mit allen diesen Mitteln in der Regel nur
langsame oder vorübergehende Besserungen, zumal wenn die Grundkrank-
heit eine Heilung nicht zulässt. Vorsicht ist stets wegen der Gefahr der
Intoxicationen (Carbolharn, Nephritis) geboten. Das Gleiche gilt von der
RRONCHIALAFFECTIONEN IM KINDESALTER. 213
innerlichen Darreichung solcher Mittel; empfohlen sind Terpentinöl (bis zu
30 Tropfen im Tag), Terpinhydrat 1*0 — 1-5 pro die und Mijrfol (zwei-
stündlich 2 — 3 Gelatinkapseln ä 0-15). Für reine Luft und regelmässige
Entleerung des stinkenden Auswurfs durch geeignete Lagerung des Kranken,
eventuell durch rhytraische Compression des Thorax, ist, wie überhaupt
bei allen Bronchialleiden, stets Sorge zu tragen. penzoldt.
Bronchialaffectionen im Kindesalter. BroncJiolmtarrh, Bronchitis
Simplex — die Entzündung der grrjsseren Bronchien, Bronchitis capillaris — die
Entzündung der feineren und feinsten Bronchien, Bronchitis suffocativa der Neu-
geborenen, chronische Bronchitis mit Anschwellung der ßronchialdrüsen und
Compression der Bronchien an der Bifurcation.
Von den entzündlichen Affectionen der Bronchien sind hier nicht einbezogen :
die croiipöse und dij^htheritische Erkrankung der Bronchialschleimhaiit und die Pertussis.
Erstere stellt eine Theilerscheinung des croupösen oder diphtheritischen Processes dar
und wird betreffendenorts erwähnt werden, während der Pertussis ein specifischer Katarrh
der gesammten Schleimhaut von der Epiglottis angefangen bis zu den feinsten Bronchien
zu Grunde liegt, der in seinem Auftreten eine gewisse Aebnlichkeit mit den acuten
Exanthemen namentlich mit den Masern hat und auch dort abgehandelt wird. Aus gleichen
Gründen wird hier auch nicht auf die morbillöse Bronchitis Rücksicht genommen.
Die Affectionen der Luftwege im Kindesalter, besonders bei Säug-
lingen, sind von ungleich grösserer Wichtigkeit und zeichnen sich vielfach durch
einen ganz verschiedenen Verlauf aus, nicht nur in Bezug auf ihre Gefährlichkeit,
sondern die Unterschiede im Auftreten und im Verlaufe treten besonders dann
zu Tage, wenn die einzelnen Erkrankungen uns eine Theilerscheinung eines
anderen allgemeinen Processes, nämlich der Bronchitis, darstellen. Hier kann auf
die Bedeutung und die Stellung dieser Katarrhe zur Bronchitis nicht näher ein-
gegangen werden ; es soll nur so viel auf sie Rücksicht genommen werden, als
es in diagnostischer und therapeutischer Beziehung nöthig erscheint.
Die grössere Gefährlichkeit der Bronchitiden im kindlichen Alter hat ihre
Begründung in der Enge der Luftwege, namentlich der feineren Bronchien,
ferner in dem Umstände, dass bei fieberhaften Erkrankungen meist die ganze
Luftwegeschleimhaut oder fast der grösste Theil derselben im entzündlichen Zu-
stande sich befindet , daher namentlich bei Säuglingen die unverhältnismässig
grosse Fläche die Bedeutung der Erkrankung zur Genüge erklärt.
W^eiters kommt noch in Betracht die geringere Kraft der Respirations-
mushein, da fast nur das Zwerchfell als Inspirationsmuskel wirkt und die Unfähigkeit
das Secret zu expectoriren. Die erschwerte Ernährung eines an einer acuten
Bronchitis erkrankten Neugeborenen verschlimmert in hohem Grade die Prognose,
Gegenüber den Parenchymerkrankungen der Lungen muss auf die Häufigkeit der
Bronchitiden aufmerksam gemacht werden, welche, je jünger Kinder sind, desto
gefährlicher und desto häufiger werden.
Bronchokatarrh. Der fieberlose Katarrh der Bronchialschleimhaut,
Anatomisch besteht der Bronchialkatarrh in einer vermehrten Absonderung eines
zähflüssigen, glasig-schaumigen bis gelblich-grünlichen, ziemlich zellenreichen
Secrets in den Bronchien erster und zweiter Ordnung. Die Schleimhaut ist
hyperämisch, jedoch kaum merklich geschwellt, und nicht in einem blennor-
rhoischen Zustande.
Bei anscheinend gutem Allgemeinbefinden ist der Verlauf stets fieberlos. Er
tritt meist als primäre Erkrankung der Schleimhaut auf oder aber wie mancher vor-
handene Nasen- und Rachenkatarrh setzt er sich auf die Bronchien fort und
nimmt einen ähnlichen Verlauf. — Anatomisch ist der Bronchialkatarrh der
rhachitischen Kinder hieher einzubeziehen, obwohl demselben eine andere Be-
deutung in Bezug auf die Rhachitis zukommt.
214 RRONCHIALAFFECTIONEN IM KINDESALTER.
Die Sj^mptome sind gering' und man beobachtet nie stürmisclie Erseliei-
nungen. In den Bronchien grösseren und mittleren Calibers hört man g-rossblasige
und feuchte Easselgeräusche, die sich bis in die Trachea fortsetzen und auch
mit dem freien Ohre vernommen werden können. Das Rasseln in den Bronchien
ist bei reichlichem Secret insbesondere bei Säuglingen mit der aufgelegten Hand
leicht zu fühlen. Neben den Easselgeräuschen ist das vesiculäre oder bei jüngeren
Kindern sogenannte puerile Atlimen deutlich zu hören. AVenn das Secret gegen
die feineren Bronchien fortschreitet, kann durch das scharfe puerile Athmen
eine Pneumonie vorgetäuscht werden ; durch den Umstand, dass das puerile
Athmen jedoch einen schlürfenden und nie einen hauchenden Charakter hat, kann
man sich leicht vor einem Irrthum schützen. Das Respirationsgeräusch kann bei
reichlicherem aber etwas trockenerem Secret eine Zeit lang fehlen, wenn ein zu-
führender Bronchus durch einen Schleimpropf verlegt ist. Nach einer tiefen Inspira-
tion oder nach einem Hustenstosse wird der Schleim entfernt und die Luft kann
wieder ungehindert zu den Alveolen eindringen.
Der Husten ist locker und schleimig, mehr oder minder intensiv, und es
geht die Expectoration leicht vor sich. Nie ist der Husten rauh oder bellend.
Das expectorirte Secret wird nicht nach aussen befördert, sondern von kleineren
Kindern verschlungen. Der meist glasige Schleim kann bei Säuglingen im Stuhle
nachgewiesen werden.
Die Respiration ist weder beschleunigt noch erschwert, eine Ver-
änderung in dieser Beziehung deutet einen neuauftretenden Process oder eine
Complication an.
Die Dauer eines fieberlosen Bronchialkatarrhes erstreckt sich von 8 Tagen
bis 3 Wochen. Die Kinder leiden bei dem fieberlosen Verlaufe in ihrer Ernährung
nnd in ihrem Allgemeinbefi^nden nicht sehr, doch besteht eine gewisse Geneigtheit
zu Rückfällen. Das sich wieder bildende Secret reizt die Schleimhaut und gibt
Veranlassung zu einer entzündlichen Affection derselben.
Die Therapie ist, wenn nicht eine rhachitische Erkrankung des Skelettes
vorliegt und eine allgemeine Behandlung erfordert, eine möglichst einfache und exspec-
tative. Schleimlösende Mittel, wie Bicarb. Soda (0-2o) oder Sal. ammoniac. depur.
(0-25 — 0-50) in einem leichten Ipecacuanhainfus. (0- 20— 0*25 ad lOO'OO) gebe
man bei massiger Absonderung und entsprechendem Husten. Nie gebe man
Opiate oder noch stärkere Narcotica, da durch die Unterdrückung des Husten-
reizes Bich nur mehr Secret in den Bronchien ansammelt. Der Hustenreiz soll
— und das gilt für alle Bronchialaffectionen — niemals unterdrückt werden,
da sich bei nur einigermassen erheblicherer Schwellung der Schleimhaut und
reichlicherem Secrete bald die Erscheinungen der Athmungsinsufficienz ein-
stellen und einen bedrohlichen Charakter annehmen können. Die Ernährung
bei Säuglingen und kleineren Kindern sei den allgemeinen hj^gienischen
Anforderungen entsprechend; wenn kein Allgemeinleiden (Rhachitis) zu Grunde
liegt, so erfolgt in der Mehrzahl der Fälle eine vollständige Genesung. Die
Gefahr des Bronchokatarrhes liegt nur in dem Acutwerden des Processes — in
dem Beginne einer Bronchitis.
Bronchitis simplex. Die Entzündung der Schleimhaut der Bronchien
ist eine fieberhafte nnd im kindlichen Alter häufige Erkrankung, welche in ihrem
Verlaufe vielfach der croupösen Pneumonie gleicht.
Sie tritt primär und oft ganz unvermittelt auf, selten geht ihr ein Schüttel-
frost oder Erbrechen, wie bei einer entzündlichen Affection des Lungenparenchyms
oder wie bei acuten Exanthemen, voraus. Die Bronchitis ist auch eine constante
Theilerscheinung des Ileotyphus und der Morbillen. Im Säuglingsalter und auch
bei grösseren Kindern ist sie — selbst abgesehen von den rhachitischen Kindern,
die fast ausnahmslos an bronchitischen Zuständen leiden — eine häufige Er-
krankung, deren Bedeutung nicht selten unterschätzt wird. Bei etwas stürmischerem
BRONCHIALAFFECTIONEN IM KINDES ALTER. 215
Auftreten sind die Sj^mptome derart, dass eine katanlialisclie Lungenentzündung
leicht vorgetäuscht werden kann, während gerade die leichteren Fälle mit der
Geneigtheit zu Eecidiven die Lymphdrüsen um die Bronchien und im hinteren
Mediastinum afficiren.
Das Fieber, der Hustenreiz, die Beschleunigung der Respi-
ration und die durch die Schwellung der Bronchialschleimhaut und das spärliche
Beeret verursachte Cyanose sind die bemerkeuswertlien Symptome einer nur etwas
ausgebreiteten Bronchitis.
Das Fieber ist continuirlich mit geringer Exacerbation des Abends und
mit deutlichem langsamen aber continuirlichen Abfall bei Abnahme der örtlichen
Entzündungserscheinungen. Selten beobachtet man eine Höhe von 40" C. und
gewöhnlich nur auf kurze Zeit, etwa 1 — 2 Tage. AVie lange das Fieber an-
dauert, lässt sich nicht mit Bestimmtheit angeben, da die acuten Erscheinungen
bei intensiveren Fällen 9 — 11 Tage fortbestehen, ehe sie, falls keine vollständige
Genesung eintritt, in einen chronischen Bronchokatarrh übergehen.
Eine constante Temperatursteigerung von 40" C. und darüber bei sonst negativen
physikalischen Erscheinungen, über die angegebene Zeit hinaus, gestattet den Verdacht
einer acuten Miliartuberculose, vorausgesetzt, dass auch die übrigen Erscheinungen, ins-
besondere die unverhältnismässig starke Cyanose mit dieser Annahme in Einklang zu
bringen sind.
Der eigenthümliche Hustenreiz und die Art der Eespiration sind
bei der Bronchitis simplex nicht wesentlich verschieden von den Erscheinungen,
wie wir sie bei ausgebreiteten Processen und bei manchen acuten Erkrankungen
des Lungenparenchyms und der Pleura antreffen. Es handelt sich nur um gra-
duelle Unterschiede.
Der Husten und die Inspiration ist schmerzhaft, daher letztere
möglichst kurz ist, bei einer seufzenden und stöhnenden Exspiration. Mit anderen
Worten : der Nachdruck liegt auf der Exspiration, wodurch eben eine Unter-
scheidung von Larynxcroup, Laryngospasraus und Pertussis leicht möglich wird.
Bei Croup und Larynxkatarrh ist ausserdem die Stimme in höherem oder ge-
ringerem Grade alterirt, während bei einer acuten Pleuritis und Peritonitis bei
Zunahme des flüssigen Exsudates die Schmerzhaftigkeit der Respiration allmälig
abnimmt. Bei der Bronchitis hingegen ist die Schmerzhaftigkeit so lange vorhanden,
als die Schwellung der Schleimhaut rtit der Fieberbewegung andauert und es ist
dabei die Anzahl der Athemzüge vermehrt.
Die Beschleunigung der Respiration hängt von der Aus-
dehnung des entzündlichen Processes und von dei- Intensität des Fiebers ab.
Besonders markant tritt diese Erscheinung bei Säuglingen zu Tage. Die
Frequenz der Athemzüge erreicht die Höhe von 20 — 25 in der Minute und
wohl auch darüber, wenn die Cyanose bei Vorhandensein von klebrigem,
zähflüssigem oder reichlichem Secret einen hohen Grad erreicht. Bei Zunahme
der Cyanose und Abnahme der peripheren Empfindlichkeit wird die Respiration
oberflächlicher und allmälig langsamer, so dass insbesondere Säuglinge schwer
zu tieferen Inspirationen veranlasst werden können. Der oft intensive und
quälende Hustenreiz ist im Beginne eine constante Erscheinung einer acut-
fieberhaften Bronchitis. Die Hustenstösse, bei denen wenig von dem zähen und
spärlichen Secrete entleert wird, erfolgen in verschiedenen Intervallen. Bei feiner
Stimme ist der Husten manchmal trocken und rauh, aber nicht bellend, wie bei
der Laryngitis catarrhalis (Pseudocroup). Bei reichlicherem Secret wird der Husten
trockener und weniger rauh, so wie auch die Schmerzhaftigkeit allmälig abnimmt.
Bei stärkerer Betheiligung der Bronchialschleimhant kommt es besonders
bei Säuglingen zu mehr oder minder heftiger Cyanose. Je mehr der Zutritt
der Luft zu den Alveolen verhindert wird, desto intensiver wird die Cyanose.
Je mehr die Kohlensäurevergiftung des Blutes zunimmt, desto unempfindlicher
werden die Schleimhäute gegen periphere Reize. Durch die Athemnoth werden
216 BRONCHIAL AFFECTIONEN IM KINDESALTER.
die Kinder sehr unruliig und sie werfen sich, solange das Sensorium noch frei
ist, wie bei der croupösen Bronchitis, hin nnd her. Je mehr schliesslich die
Kohlensäurevergiftung des Blutes zunimmt, desto mehr hört der Husten auf, die
Expectoration stockt, die Temperatur sinkt allmälig und geht unter das Normale
herunter (Collapstemperatur). Die Haut ist mit kaltem und klebrigem Schweisse
bedeckt, die Fontanelle sinkt ein. Selten kommt es zu spastischen oder allge-
meinen Convulsionen ; unter den Erscheinungen von hoher Athmungsinsufficienz tritt
der Tod ein.
Die Dauer einer Bronchitis mittleren Grades ist etwa auf 7 — 11 Tage
anzugeben, vorausgesetzt, dass keine Complication vorliegt. Die grösste Mehrzahl
der Fälle endigt mit Genesung, doch darf man besonders bei Säuglingen die
Krankheit in keiner Beziehung unterschätzen, da Neigung zu Recidiven und
Steigerung der bronchitischen Erkrankung vorhanden ist.
Diagnose. (Selbstverständlich muss eine genaue Untersuchung des Kindes
vorgenommen werden.) In Anbetracht der mitunter stürmischen Erscheinungen
ist der physikalische Befund wenig ergiebig. Die Percussion ergibt nichts po-
sitives, d. h. der Schall ist beiderseits gleich und in keiner Weise abgeändert.
Die Auscultation der Lunge wird je nach der Zeit der Erkrankung zwei
verschiedene Befunde ergeben. Im Beginne der Erkrankung höi't man, da die
Schleimhaut bei spärlichem Secret blos geschwellt und liyperäiniBch ist, scharfes,
rauhes aber vesiculäres Athmen. Ist durch die Schwellung der Schleimhaut
ein kleinerer Bronchus verstopft, so kann das Athmungsgeräusch eine Zeit lang
fehlen, bis nach einem kräftigen Hustenstosse wieder Luft eindringt. Es ist zu
bemerken, dass das vesiculäre Athmen besonders bei Säuglingen bei der Enge
der Luftwege mitunter schwer von dem bronchialen Athmen zu unterscheiden ist,
doch kann man bei wiederholtem Anscultiren vor und nach dem Husten den
schlürfenden Charakter des vesiculären Athmens vom hauchenden des bronchialen
sicher unterscheiden. Bei spärlichem Secret hört man ab und zu vereinzelte
Easselgeräusche, nimmt letzteres zu, bei gleichzeitiger Schwellung der Schleim-
haut, so werden die Rasselgeräusche zahlreicher, feuchter und sind bei kleineren
Kindern mit der aufgelegten Hand durch die Thoraxwand zu fühlen. Bei Ab-
nahme des Fiebers gehen die entzündlichen Erscheinungen zurück und es bleibt
durch einige Zeit nur noch vermehrte Schleimabsonderung der Bronchialschleimhaut
(Bronchokatarrh) zurück, welche allmälig expectorirt wird. Solange noch Secret
vorhanden ist, besteht die Neigung zu Rückfällen, denen eine besondere Be-
deutung insoferne zukommt, als bei denselben gerne die Bronchialdrüsen in Mit-
leidenschaft gezogen werden.
Die Bronchitis befällt Kinder jeden Alters, zumeist aber Säuglinge, denen
sie besonders dann gefährlich Mird, wenn Darmaffectioneu in Folge künstlicher
oder unzweckmässiger Ernährung den Kräftezustand der Kinder heruntergebracht
haben. Der Aufenthalt in überfüllten Räumen, wie in Findelhäusern oder schlecht
ventilirten und feuchten AVohnungen ist mit eine der Ursachen der Bronchitis,
welche bei in ihrer Ernährung herabgekomraenen Kindern nach einem voraus-
gegangenen Bronchialkatarrh gewöhnlich die Terminalerscheinung bildet.
Die Bronchitis ist eine Theilerscheinung des Abdominaltyphus und der
Morbillen, sowie der Pertussis, welcher anatomisch ebenfalls ein analoger, wenn-
gleich sonst specifischer Process zu Grunde liegt.
Die Bronchitis nimmt selbst bei Säuglingen, wenn keine anderweitige Er-
krankung zu Grunde liegt, einen günstigen Verlauf. Abgesehen von der Geneigtheit
zu Rückfällen, ertolgt eine vollständige Genesung. Oft genug geht sie in die
capilläre Form oder aber in eine lobuläre Pneumonie über, die sofort physikalisch
nachgewiesen werden kann. Tritt bei herabgekommenen Kindern in Folge der
Schwäche der Respirationsmuskeln eine allmälig zunehmende Cyanose auf, so
kommt es vor dem letalen Ende zur einer serösen Durchfeuchtung der Lunge,
BRONCHIALAFFECTIONEX IM KINDES ALTER. 217
Die Behandlung ist eine wesentlich exspectative und beschränkt sich
auf Zuführung von genügend sauerstoffreicher und reiner, etwas feuchter Luft,
Beförderung der Expectoration und eventuell auf Minderung des Fiebers.
Den Hustenreiz mildert man durch schleimlösende oder schleimige Mitteln
{Mixt. gumm. 100*00, Bicarb. Sod. 0"25, Sijr, simpl. 10-00), nie aber durch
Narcotica, besonders wenn reichlicheres Secret vorhanden ist.
Bei intensiverer Cyanose und Abnahme der peripheren Empfindlichkeit und
des Hustenreizes sind stärkere Expectorantien am Platze, wie die Pohjgala
Senegae, Pulv, rad. Ipecacuanhae, Ammonium carh. siccum (Inf. rad. Pohjgal.
Senegae, o'OO ad lOO'OO, Liq. ammonii anisati gtt. 20, Syr. simpl. 10-00;
Inf. pulv. rad. Ipecacuanhae e 0-20 — 0'25 ad lOO'OO, Sal. ammoniaci de-
purati 0'25 — 0'50, Syr. simpl. lO'OO ; Ammonii carbonici sied O'lö — 0'20,
Sach. alhi 2-00 in dos. aequ. Kr. VI) ; letzteres Präparat nur bei starker
Cyanose und Erscheinungen der Athmungsinsufficienz.
Das begleitende Fieber erfordert, falls es nicht geradezu excessiv auftritt,
keine Behandlung, da es sich congruent dem Localprocesse verhält. Es unterliegt
keinem Zweifel, dass durch Darreichung der neueren Antipyretica das Fieber
heruntergesetzt wird, aber andererseits ist es ebenso zweifellos, dass die Anti-
pyrese auf den Localprocess keinen Einfluss ausübt, und die Krankheitsdauer-
keineswegs abgekürzt wird. Das mitunter eintretende Wohlbefinden des Kindes
wird durch eine eventuelle Herzschwäche bei höherem Fieber und bei längerem
Gebrauche des Antipi/rins und Antifehrins oft sehr übel ausgeglichen. — Chinin
sulf. in mittleren Dosen 0-25 — 050 pro die kann ohne Anstand gegeben werden,
weil es, falls keine antifebrile AVirkung eintritt, als herzkräftigendes Mittel wirkt.
Da es sich bei allen Bronchialaffectionen darum handelt, die Kinder jeden
Alters zu häufigen und tiefen Inspirationen zu veranlassen, so leisten PEiESSNiTz'sche
Einwicklungen und häufige Lageveränderungen gute Dienste. Ein entsprechend
breites Leintuch wird zur Hälfte je nach der Höhe des Fiebers in 20- — 26*^ C.
Wasser getaucht, gut ausgewunden und dem Kinde als Eumpfumschlag — nicht
zu fest, um die Eespiration nicht zu behindern — angelegt, mit dem trockenen
Theil der Binde umwunden und mit Sicherheitsnadeln befestigt. Etwa nach 6 Stunden
möge der Umschlag erneuert werden, bei höherem Fieber wird derselbe rascher
trocken und muss eher erneuert werden.
Von Wichtigkeit für die Expectoration ist es, dass die Kinder öfters die
Lage ändern, namentlich nicht lange am Rücken liegen, da in dieser Stellung
das Secret am wenigsten ausgehustet wird. Säuglinge müssen am Arme auch des
Nachts in verschiedener und auch aufrechter Stellung herumgetragen werden,
um sie zu tiefen Inspirationen zu zwingen.
Neigen die Kinder zu häufigeren Rückfällen, ist eine zweckmässig abhär-
tende Lebensweise einzuführen nebst Darreichung von leicht verdaulichen Eisen-
präparaten, nebst reichlicher Eiweissnahrung bei möglichster Vermeidung aller
Amylacea, insbesondere der Kartoffel.
Ist die Bronchitis eine Theilerscheinung der Rhachitis, so leite man sofort,
wenn die acuten Erscheinungen, wie das Fieber und die Respirationsbeschleunigung
vorüber sind, eine allgemeine ant irhachitis che Behandlung ein, sei es
durch Leherthran mit oder ohne Phosphor oder durch eine consequente Eisencur,
Steinsalzbäder und Regelung der Diät.
Bronchitis capillaris. Die Entzündung der feinsten Bronchien (Bronchio-
litis) schliesst sich unmittelbar au die Bronchitis an und ist eigentlich nur eine
Steigerung derselben. Es handelt sich somit um eine Schleimhautentzüudang der
feineren und feinsten Bronchien rait den gleiclien anatomischen Charakteren oder aber
um eine diffuse Entzündung des gesammten Schleimhauttractes der Luftwege incl.
der Luftröhre, welche mitunter an eine acute Laryngitis catarrhalis (Pseudocroup)
unmittelbar sich anschliesst.
218 BRONCHIALAFFECTIONEN IM KINDESALTER.
Die Capillärbroncliitis stellt weiters den natürlichen Uebergang zu der im
kindlichen Alter so häufigen lobulären Pneumonie dar. Fast bei jeder etwas
intensiveren Bronchitis cap. ist das den Bronchien nahe gelegene Lungenparen-
chym irgendwie verändert. Der betreffende Lobulus ist hyperämisch und durch
seine Farbe und stärkeres Hervorspringen auf der Schnittfläche leicht von der
Umgebung zu unterscheiden. Diese Stellen sind jedoch lufthaltig und sinken heraus-
geschnitten im Wasser nicht unter.
In den feineren Bronchien globulirt der Schleim zu einer anscheinend compacten
Masse wodurch er einer Croupmembran ähnlich sieht, sich aber jedoch im Wasser voll-
ständig auflöst.
Wie bei der Bronchitis simplex gleichen sich hier die Erscheinungen in
Bezug auf das Fieber, den Hustenreiz, das Verhalten der Respi-
ration und die Cyanose. Es handelt sich nur um Steigerung der einzelnen
Symptome in verschiedenem Grade, Ein Unterschied besteht nur in dem auscul-
tatorischen Befunde.
Das Fieher ist viel intensiver, steigt gleich im Beginne rasch bis auf
395 — 40*5" und bleibt bis zur Lösung gleichmässig auf dieser Höhe. Die abend-
lichen Exacerbationen sind gering und es gibt die Temperaturcurve keine
verlässlichen Anhaltspunkte, um eine Capillärbronchitis von einer Bronchitis simplex
zu unterscheiden. Durch die ganze Dauer der Erkrankung tritt im Verlaufe des
Fiebers keine auffällige Veränderung ein, nach Nachlass des localen Processes
fällt es allmälig oder aber auch rasch (Collapstemperatur) ab.
Die Eespiration, d. h. der Husten ist schmerzhaft, Interrupt (der Nachdruck
liegt auf der Exspiration) und beschleunigt. Da die feineren und feinsten Bronchien
von einem im Beginne dickflüssigen und zähen Secrete erfüllt sind, so ist die
Athmung auch erschwert. Bei Säuglingen, bei denen die Inspiration fast ganz
allein vom Zwerchfell besorgt wird, und auch bei grösseren Kindern findet man
in Folge der energischeren Contractionen desselben an der unteren elastischen
Thoraxapertur eine inspiratorische Einziehung (Trousseau's peripneumonische
Furche). Sie zeigt ein Athmungshindernis an, welches die Kinder mit mehr
oder weniger Kraft zu überwinden suchen. Am deutlichsten sieht man - sie am
rhachitischen und paralytischen Thorax; sie ist für keine bestimmte Form einer
Bronchial- oder Lungenaffection charakteristisch, sondern wird sowohl bei Pneu-
monien, Pleuritis, Bronchitis und auch im gewissen Grade bei der acuten Peritonitis
beobachtet. Da Erscheinungen einer inspiratorischen Einziehung an der oberen
Thoraxapertur fehlen und die Stimme nicht alterirt ist, so kann ein mechanisches
Hiadernis im Kehlkopfe oder Trachea ausgeschlossen werden.
Der Hustenreiz steht mit der Art der Respiration und der Cyanose in
unmittelbarem Zusammenhange. Obwohl im Beginne der Husten schmerzhaft ist,
wird doch das Secret aus den Bronchien entfernt und die Cyanose erreicht keinen
besonderen hohen Grad. Je mehr jedoch der Hustenreiz abnimmt und sich in Folge
dessen das Secret in den Bronchien ansammelt, desto beschleunigter und oberflächlicher
wird die Respiration, Dui-ch die UeberfüUung der feineren Bronchien mit zähem
Schleime steigert sich bei der energielosen Respiration die Kohlensäurevergiftung
des Blutes, wodurch wieder die periphere Empfindlichkeit der Schleimhaut herab-
gesetzt wird. Das venöse Blut staut sich in der Peripherie, womit der Abfluss
nach dem rechten Ventrikel wegen des Hindernisses im kleinen Kreislaufe ge-
hemmt ist und es stellt sich neben der Cyanose noch eine UeberfüUung der
subcutanen Venen ein, welche als bläuliche strotzende Netze durch die Haut
hindurch zu sehen sind, ein Umstand, der bei Erwachsenen nicht so sehr in die
Augen fällt, im Kindesalter jedoch von sehr ungünstiger Bedeutung ist. Dauert
dieser Zustand lange an, so kömmt es bei manchen Kindern in Folge von
seröser Durchfeuchtung der Meningen und des Gehirnes zu allgemeinen Con-
vulsionen.
BRONCHI ALAFFECTIONEN IM KINDES ALTER. 219
Die phj^sikalische Untersuchung- des Thorax ergibt keine Ver-
änderung im Percussionsschalle, hingegen hört man bei tiefen Ins^pirationen, je
nach der Menge des Secretes, fein- und Jdeinblaslge, consonirencle Bassei-
(/eräiische. Sie sind mitunter von dem knisternden Geräusche, welches man
im Beginne bei der lobulären oder lobären Pneumonie beobachtet, schwer zu
unterscheiden. Kann das reichliche Secret nicht expectorirt werden, so hört man
grossblasige Rasselgeräusche auch in den grösseren Bronchien und dei- Trachea.
Schliesslich kommt es bei zunehmender Cyanose und Muskelschwäche zu Lungen-
oedem. Die Rückkehr zur Norm erfolgt etwa in derselben Zeit, wie bei der
Bronchitis simplex bei allmäligem Nachlass der einzelnen Erscheinungen.
Die Capillärbronchitis geht weiters unmittelbar entweder nach längerem
Bestände oder gleich nach Beginn der Consonanzerscheinungen in jene Form von
Lungeninfiltration über, die man als katarrhalische Pneumonie (s. diese) be-
zeichnet. Hier sei nun bemerkt, dass einzelne kleine und zerstreute Infiltrate
weder eine Dämpfung noch bronchiales Athmen veranlassen. Man kann nun aus
dem Missverhältnisse der einzelnen Symptome z. B. wenig Secret und bedeutende
Cyanose bei oberflächlicher Respiration und langer Dauer der Erkrankung mit
einiger Wahrscheinlichkeit annehmen, es seien einzelne Lobuli infiltrirt. Weiters
kommt es insbesonders bei Säuglingen bei längerer Dauer und reichlichem oder
zähem Secret zu jenem Collapszustand in der Lunge, den man ah erworbene
Atelectase bezeichnet. In Folge des Katarrhes in den feineren Bronchien kann
die Lnft nicht in die Alveolen eindringen, daher bei längerem Bestände dieselben
luftleer werden und collabiren. Es findet keine Exsudation statt, sondern die vor-
handene Luft wird resorbirt und es kehrt die betreffende Lungenpartie zum
embryonalen Zustande zurück.
Die Atelectase kann ebenso wie die einzelnen lobulären Infiltrate nur ver-
muthet werden, da ein bestimmtes physikalisches Zeichen für dieselbe fehlt. Man
kann ebenfalls nur aus dem Missverhältnisse der einzelnen Symptome
und aus dem Abgeschwächtsein oder dem zeitweiligen Fehlen des Athmungs-
geräusches an einzelnen Stellen den Schluss ziehen, dass einige oder mehrere
Partien luftleer geworden sind. Sind die Kinder noch muskelkräftig, so kann
bei einer kräftigen Inspiration wieder Luft eindringen und das vesiculäre Athmen
oder Rasseln ist wieder zu hören.
Die Capillärbronchitis hat häufig, ohne dass es gerade zu lobulären Infil-
traten oder Atelectasen kommt, bei hohem Fieber einen schleppenden Verlauf.
Die Kinder kommen hiebei sehr herab, und es ist im Beginne eine Verw^echslung
mitunter auch im weiteren Verlaufe mit chronischer Tuberculose immerhin möglich.
Die Therapie der Bronchitis cap. fällt mit der der einfachen Bronchitis zu-
sammen. Bei reichlichem Secret, stockender Expectoration, geringem Hustenreiz
und hochgradiger sich allmälig steigernder Cyanose kann, wenn die Kinder sonst
noch muskelkräftig sind, ein Emeticum {Tartar. emetici O'Oo, Mixt, gunios. dq-OO^
auf ztvei Mal einzunehmen) gegeben werden. Doch ist der Erfolg meist ein
precärer. Auch liier leisten die Ammoniakpräparate gute Dienste und es kann
von der Darreichung derselben ein ausgiebiger Gebrauch gemacht werden (siehe
„Bronchitis"). Narcotica incl. des Codeins sind unter allen Umständen zu vermeiden.
Bei grösseren Kindern können Inhalationen von Terpentinöl (2 — 3 Tropfen auf
einem halben Liter heissen Wassers) mit gutem Erfolge angewendet werden. Die
übrige Pflege ist wie bei der Bronchitis anzuordnen.
A^on einer Behandlung des Fiebers durch Antipyretica init Ausnahme
des Chinins ist abzurathen, da das Fieber bei acuten Fällen geuau dem Local-
befunde entspricht und lebensgefährliche Symptome nur durch die Cyanose oder
die Herzschwäche veranlasst werden. Durch die forcirte Darreichung von Anti-
pyrin oder Antifebrin bis zur Herabsetzung der Temperatur zur Norm, be-
fördert man nur die Herzschwäche, ohne auf den Localprocess einzuwirken.
220 BROXCHIALAFFECTIONEN IM KIXDESALTER.
Bronchitis SufTocativa. Diese entzündliche Affection der Sclileimliaut der
feinsten Bronchien, die sich anatomisch in nichts von den übrigen Bronchitiden
unterscheidet, darf nicht mit der angeborenen Atelectase der Lunge verwechselt
werden. Man beobachtet sie nur bei Frühgeburten und Neugeborenen oder ganz
jungen Säuglingen ; zur Feststellung der Diagnose ist es weiter nothwendig, dass
die Erscheinungen nicht durch eine entzündliche Erkrankung des Lungenparenchyms
veranlasst sind.
Das Secret. welches die feinsten Luftwege fast vollständig verstopft, ist
spärlich und zähe. Dabei ist die Schleimhaut geschwellt und die nächste Folge
ist eine allmälig oder auch plötzlich sich einstellende Cj^anose.
Die meist oberflächliche Respiration wird von Erstickungsanfällen, die sich
von den beim Laryuxcroup, Laryngospasmus und der Pertussis beobachteten
leicht unterscheiden lassen, unterbrochen, und zwar dauert ein solcher Anfall
oft längere Zeit.
Das plötzliche Auftreten eines solchen Anfalles, die Steigerung der
Cyanose bei Abnahme der Intensität der Respiration — ist das charakteristische
Merkmal dieser dem ersten Kindesalter zukommenden se])r gefährlichen Er-
krankung. Die Respiration wird oberflächlich, kaum nachweisbar und schnell,
oder aber sie setzt ganz aus (Asphyxie^ bei Fortdauer des Herzschlages.
Zuckungen oder Krämpfe von Seite der willkürlichen Muskeln stellen sich nicht
ein. Die Anfälle sind von verschieden langer Dauer und wiederholen sich in der
Regel mehrmals. Da während eines Anfalles die Respiration fast oder ganz stille
steht, so fehlt auch die sogenannte peripneumonische Furche.
Die Kinder erliegen meist einem Anfalle; kommt hingegen die Respiration
wieder in Gang, so stellt sich etwas Husten ein und es geht die Cyanose zurück.
Wird das Secret dünnflüssiger, so entwickelt sich eine gewöhnliche Bronchitis
capill. oder eine lobuläre Pneumonie, der die Kinder gewöhnlich ebenfalls erliegen.
Die Stimme ist schwach und schreien die Kinder selbst bei starken Haut-
reizen wenig oder gar nicht.
Die Kinder sind fieberlos, gegen das letale Ende sinkt die Temperatur
unter die Norm. In Folge der ungenügenden Respiration sind die Extremitäten,
Stirne und die Nasenspitze kühl anzufühlen. Die Haut ist mit kaltem Schweisse,
die Mundschleimhaut mit klebrigem Secrete bedeckt, der Athem ist kühl und die
Kopfknochen sind übereinander geschoben (Collapsus). Eine Verwechslung mit
dem Endstadium einer Cholera nostras ist immerhin möglich, da auch hier in
Folge der Eindickung des Blutes Cyanose mit starker Beschleunigung der Re-
spiration eintritt. Durch die Anamnese und den Lungenbefund (scharfes pueriles
Athmen) kann man beide Zustände ziemlich sicher von einander trennen.
Die Auscultation und Percussion ergibt wenig Positives. Dämpfung
des Percussionsschalles wird kaum je nachzuweisen sein. In den Bronchien hört man
vermindertes Athmen und nur bei wiederholtem Auscultiren können bei tieferen
Inspirationen vereinzelte Rasselgeräusche gehört werden. Sie sind kleinblasig,
trocken, auch knatternd. Wird das Bronchialsecret reichlicher und dünnflüssiger,
so bekommt man gewöhnliches feinblasiges und consouirendes Rasseln zu hören.
Die Bronchitis suffbcativa ist eine auch im Säuglingsalter seltene Erkrankung,
ihr Verlauf ist ein meist ungünstiger, da bei weit vorgeschrittener Cyanose die
Haut und* die Schleimhaut unempfindlich wird und die Kinder unter den Er-
scheinungen der Asphyxie zu Grunde gehen. Bei entsprechendem therapeutischen
Einschreiten zur richtigen Zeit gelingt es manchmal, die Kinder am Leben zu erhalten.
Zunächst handelt es sich darum, die Kinder zu tiefen Inspirationen zu
veranlassen , da die Gefahr in der ungenügenden Respiration liegt. Nebst
dem bei der Bronchitis capillaris angegebenen medicamentösen Verfahren sind
hier der unterbrochene Strom und Senfbäder in Anwendung zu
bringen. Beide wirken als starke Hautreize und durch den elektrischen Strom
BRONCHIALAFFECTIONEN IM KINDESALTER. 221
werden überdies die Inspirationsmuskeln zu Contractionen veranlasst. Er wirkt
aber wie die Senfbäder {eine Hand voll Farin. semin. Sinapis auf ein Bad mit
26 — 28^ R.) auch in indiiecter Weise günstig auf die Eespiration ein. Wird
die Haut auf das Senfbad und den Strom rasch hellroth, so ist das ein günstiges
Zeichen, doch soll man die Bäder nicht forciren, da sonst Störungen in der
Haütcirculation eintreten können.
Nebst dem Liqu. atnmonii anisat. sind die stärkeren Analeptica, wie Äether.
sulfurici (gtt. 5 — 10 ad 100-00) oder Tinct. nervino-tonic. Bestiischefii^ in
gleicher Dosis zu geben, Campher hingegen wegen seiner üblen Einwirkung auf
die Magenschleimhaut zu vermeiden.
Chronische Bronchitis (Anschwellung der Bronchialdrüsen und Com-
pression der grösseren Bronchien).
Wenn die Bronchialschleimhaut der Sitz von lange andauernden und häufig
recidivirenden und exacerbirenden Entzündungen ist, schwellen ähnlich wie bei
chronischen Darmaffectionen die Mesenterial-, hier die Bronchialdrüsen in ver-
schiedenem Grade an. Von den innerhalb des Thorax gelegenen Lymphdrüsen
kommen nur die Glandulae pulmonales und die die Bifurcationsstellen der Trachea
und ihre Hauptäste umlagerndem Glandulae bronchiales in Betracht. Sie sind
meist pigmentirt, normal schon von bedeutender Grösse und stellen durch Aggre-
gation einen ziemlich grossen Knoten dar. Wenn sie anschwellen, so können sie
erheblich die Trachea und die Bronchien comprimiren. Auch der Lungenmagen-
nerv und der links zwischen dem Bronchus sinister und dem Aortenbogen durch-
gehende Nervus recurrens kann gedrückt werden. Luschka sah bei einem solchen
Falle die heftigsten Erstickungsanfälle mit Aphonie.
Die Lymphdrüsen schwellen in Folge der wiederholten katarrhalischen Pro-
cesse hyperplastisch an, induriren und bei Ablagerung von meist reichlichem
Pigmente entwickeln sich gelbkäsige Knoten (Verkäsung) ; die Kapsel ver-
dichtet sich ebenfalls und es kommt gelegentlich zur Vereiterung und Durchbruch
in die Trachea oder einen Bronchus. Bei Lymphom- oder Sarcombildung in dem
vorderen oder hinteren Mediastinum degeneriren die interthoracischen Drüsen in
gleicher Weise.
Die Bronchialdrüsen können zu ganz erheblichen Tumoren entartet sein,
ohne besondere Erscheinungen hervorzurufen, ihre Intumescenz kann aus Neben-
umständen vermuthet werden, mitunter auch nicht. Anders verhält sich die Sache,
wenn eine vergrösserte Drüse die Bifurcation oder einen grösseren Bronchus
comprimirt. Selbst bei massiger Compression erfolgen markante Symptome, die sich
aber bei der Natur der Erkrankung allmälig entwickeln, abgesehen von den
vorhandenen oder vorausgegangenen bronchitischen Erscheinungen.
Da die Krankheit meist im zweiten oder dritten Halbjahre beobachtet
wird, so ist es leicht erklärlich, dass an vielen Kindern die Zeichen von recenter
Ehachitis vorhanden sind. Rhachitische Kinder neigen zu Bronchialkatarrhen,
mag man auch letztere nicht als eine Theilerscheinung des rhachitischen Processes
gelten lassen. Die rhachitischen Veränderungen am Thorax veranlassen ohnedies
ungünstige ßespirationsverhältnisse, wodurch die Symptome noch deutlicher zu
Tage treten.
Wenn nun eine Compression eines grösseren Bronchus durch
eine degenerirte Drüse stattfindet, so entsteht zunächst ein Hindernis für das
Eindringen der atmosphärischen Luft zu den Lungenalveolen, welches durch die
Inspirationsmuskeln überwunden werden muss. Die nächste Folge hievon ist eine
Aspirationserscheinung am Thorax, die sich aber von denen, wie man sie bei
der acuten Lungenstenose beobachtet, in mehrfacher Weise unterscheidet. Die
atmosphärische Luft kann ungehindert durch den Pharynx, Larynx und die
Trachea eindringen, stösst aber an der Compressionsstelle auf ein Hindernis,
welches durch eine forcirte Zwerchfellcontraction meist leicht überwunden
222 BRONCHIALAFFECTIONEN IM KINDESALTER.
wird. Bei dem kindlichen und noch elastischen Thorax entsteht nun entsprechend
der Zvverchfellinsertion eine inspiratorische Einziehung-, welche für
diesen Zustand charakteristisch ist, da eine ähnliche Erscheinung an der oberen
Thoraxapertur naturgemäss fehlen muss. Da es sich um einen chronischen Zu-
stand handelt, so besteht die Einziehung in verschiedenem Grade und auch während
des Schlafes fort. Werden die Kinder erregter oder kommt es zu einem acuten
Nachschübe der Bronchitis, so steigern sich bei Beschleunigung der ßespiration
auch die Aspirationserscheinungen. Die übrigen Symptome einer mehr oder
minder heftigen chronischen Bronchitis entwickeln sich allmälig, aber in
mancherlei Beziehung in modificirter Art,
Fieber ist in der Regel, ausser bei Nachschüben, nicht vorhanden.
Der Husten ist trocken, krampfartig und mitunter einem Pertussisanfalle
sehr ähnlich. Die Kinder husten durch längere Zeit ganz erfolglos, d. h. ohne
von dem reichlichen Secrete in den Bronchien und der Trachea etwas entfernen
zu können. Der Husten hat manchmal einen bellenden Beiklang, wodurch er eine
gewisse Aehnlichkeit mit dem Crouphusten bekommt. Bei längerer Dauer der
Erkrankung, bei sehr reichlichem Secrete in den Luftwegen und bei mangelhafter
Expectoration werden die Kinder in verschiedenem Grade cyanotisch. Eine
Verwechslung mit Pertussis ist bei dem Fehlen der schrillen (erschwerten)
Inspiration nicht leicht möglich. Wenn die Kinder nicht husten, so hört man
mit freiem Ohre bei der In- und Exspiration in der Trachea ein sägendes und
knarrendes Rasseln von verschiedener Intensität. Ist es einigermassen stark, so
übertönt es beim Auscultiren das vesiculäre Athmen, das durch die Compression
des Bronchus ohnedies minder scharf und deutlich ist. Wenn letzteres bedeutend
ist, so hört man bei der Aus cultation das in den grossen Bronchien entstehende
Athmen besonders scharf, es gleicht in seiner Art dem bronchialen Athmen,
d. h. in der Trachea und an der Compressionsstelle hat es einen deutlichen
hauchenden Charakter, es ist aber schärfer und wird leicht weit fortgepflanzt
gehört. Es ist jedoch nicht in dem Sinne bronchial zu nennen, als sei der
obere Lungenlappen luftleer, sondern nur in Folge seiner Rauhheit, Schärfe und
der Nähe der Bifurcationsstelle am auscultirenden Ohre kommt es als hauchendes
Geräusch zur Geltung. Findet die Compression einseitig statt, so kann ein Ver-
gleich zwischen den Athmungsgeräuschen die Unterschiede mitunter feststellen.
Es ist notliwendig, bei den zahlreichen grossblasigen und meist feuchten
Rasselgeräuschen wiederholt während des Schlafes, in ruhigem Zustande und auch
während des heftigen Schreiens zu auscultiren, um sich vor Täuschungen zu
bewahren.
Die Percussion ergibt nichts Abnormes, bei längerem Bestände bemerkt
man manchmal ein Aufgedunsensein der Lungenränder (vicariirendes Emphysem).
Da selbst bedeutend vergrösserte Bronchialdrüsen vollständig im hinteren Media-
stinum zu liegen kommen, so erzeugen sie keine Dämpfung, letztere kommt nur
über faustgrossen Tumoren (Sarcome oder Lymphome) zu Stande, wenn die
Geschwulst in die Pleuraräume hineinwuchert.
Durch die physikalische Untersuchung kann man somit gewisse acute und
chronische Processe im Lungenparenchym, wie Pneumonie und chronische Lungen-
infiltrationen, ausschliessen, mehr aber auch nicht. Sehr selten liegen vergrösserte
Lymphdrüsen im vorderen Mediastinum, etwa in der Gegend der zweiten und
dritten Rippe, dass hiedurch der Percussionsschall verändert wird.
Die Respiration ist, wenn kein Fieber und keine Complication von Seite
der feineren Bronchien vorhanden ist, in ihrer Frequenz wenig oder gar nicht
verändert. Ist sie jedoch beschleunigt, so kann bei dem beschriebenen Typus in
Folge der Beschleunigung leicht eine Verwechslung mit der Respiration bei einer
acuten Lungeninfiltration oder aber mit einer acuten Larynxstenose stattfinden.
Durch eine genaue physikalische Untersuchung kann erstere leicht nachgewiesen
BRONCHIALAFFECTIONEN IM KINDESALTER. 223
werden, während das Vorhandensein der Stimme und der negative Rachenbefiind
vor einer Täuschung schützt.
Da die Eespiration nur massig behindert und das Secret mehr in den
grösseren Bronchien angesammelt ist, so ist auch die C y a n o s e im Anfange
gering. Sie wird durch Hustenanfälle vorübergehend stark vermehrt. Bei längerer
Dauer, wenn die katarrhalischen Zustände constant bleiben, steigert sich die
Cyanose allmälig, indem das Blut in den peripheren subcutanen Venen sich an-
sammelt, welche dann durch die blasse Haut, besonders am Thorax, als strotzend
gefüllte bläuliche Netze hindurchschimmern.
Die Anschwellung mehrerer Lymphdrüsen erleichtert die Diagnose. Die
Drüsen in der Leistengegend sind meist massig geschwellt und verhärtet. Häufiger
sind die Hals- und Axillardrüsen mehr oder minder afficirt, welche wegen ihrer
Nähe und der unmittelbaren Verbindung mit den Pulmonal- und Bronchialdrüsen
durch die Lymphgefässe der Luftröhre von besonderer Wichtigkeit sind. Die
Anschwellung der Traclieal-, Oesopliageal- mid Suhmaxülardrüsen, sowie der
Glandulae jugulares kommt ebenfalls in Betracht. Mitunter nimmt ein Drüsen-
packet die Vena azygos oder hemiazygos in sich auf und verhindert den Abfluss
des Blutes in das rechte Herz. Angeschwellte Drüsen am Halse können dasselbe
bei den vom Kopfe kommenden Venen bewirken. Die Folge davon ist, dass je
nach Umständen mehr rechts oder links am Thorax oder aber im Gesichte einzelne
ausgedehnte Venennetze beobachtet werden. Auch den Nervus vagus findet man
in Drüsenpackete eingebettet, doch scheint dies nicht immer laryngosp astische
Zustände hervorzurufen. Letztere, bei der Hyperplasie der Bronchialdrüsen be-
sonders gefährlich, sind nicht so sehr auf eine directe Affection des Nervus
vagus, als auf eine mehr oder weniger floride ßhachitis zurückzuführen.
Die Diagnose der Bronchialdrüsenhyperplasie mit Compression der grösseren
Bronchien lässt sich bei Kindern mit Y2 — ^^U Jaliren somit aus folgenden
Symptomen feststellen : Chronischer und meist fieberloser Verlauf, kurzer, trockener
Husten, stridulöses, sägendes, mit freiem Ohre laut hörbares Athmen mit con-
stantem grossblasigen Easseln in der Luftröhre und dem Kehlkopfe, nebst
schärferem Athmen an der comprimirten Stelle und inspiratorischer Einziehung
längs der Insertion des Zwerchfelles, während an der oberen Thoraxapertur keine
Veränderung vorhanden ist.
Es gibt manche Fälle, bei denen die Symptome nicht in derselben Weise
hervortreten, daher die ziemlich bedeutend vergrösserten Bronchialdrüsen nur
vermuthet werden können. Hielier gehören jene Fälle von Vergrösserung der
Bronchialdrüsen mit oder ohne Compression der Bronchien bei grösseren
Kindern. Auch bei kleineren Kindern können namhaft vergrösserte Bronchial-
drüsen ohne Compression der Luftwege keine auffälligen Erscheinungen ver-
anlassen.
Bei dem weiteren und geräumigeren Thorax der grösseren Kinder genügt
selbst die Compression eines grösseren Bronchus nicht, um eine inspiratorische
Einziehung an der unteren Thoraxapertur zu veranlassen. Ebenso fehlt bei der
grösseren Weite der Luftröhre das stridulöse Athmen. An der comprimirten Stelle
kann das schärfere (bronchiale) Athmen gehört werden, doch kann auch eine
umschriebene Lungeninfiltration im überlappen vorhanden sein. Erwähnt muss
werden, dass ganz bedeutende Tumoren, die von den Bronchialdrüsen ausgehen,
auch bei kleineren Kindern vollständig latent bleiben können.
Bei der Prognose ist Vorsicht am Platze. Bei einer hinzutretenden
lobulären Pneumonie oder aber in Folge Durchbruches einer vereiternden Drüse
in einen Bronchus kann der Tod ganz plötzlich einireten. Dieser Zufall kann
aber auch bei Laryngospasmus, an dem bekanntlich viele rhachitische Kinder
leiden, eintreten, besonders dann, wenn die Bronchien mit reichlichem Secret
erfüllt sind. Eine weitere Gefahr für den Organismus liegt nicht so sehr in den
224 BRUST- UND BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE.
bronchitischen und dyspnoischen Ersclieinungen, als darin, dass es von den
tuberciüisirten Entzündungsproducten ans zu einer Resorptionstuberkulose mili-
arer Form kommen kann, wie man sich bei jeder Autopsie der an Meningitis tuberc.
verstorbenen Kinder überzeugen kann, bei denen constant tuberculös degenerirte
Bronchialdrüsen angetroffen werden.
Therapie. Liegt der chronischen Bronchitis mit den Drüsenscliwellungen
eine mehr oder minder floride Ehachitis zu Grunde, so ist eine antirhachitische
Behandlung (siehe oben) einzuleiten. Um den weiteren Indicationen zu genügen,
sind resorbirende Mittel in Anwendung zu bringen und eine Abschwellung der
vergrösserten Lymphdrüsen zu veranlassen, wobei aber auf den Ernährungszustand
Eücksicht zu nehmen ist. Sind die Kinder blass, schlaff und abgemagert, so sind
Eisenpräparate mit oder ohne Arsen (Tind. amara, T. fern pomat. aa. ö'OO,
event. : Tlnd. arsenic. Fowlerl gtt. 6 — 10^ 2—3mal im Tage 10 — 15 Tropfen
zu nehmen) zu geben, stärkere Jodpräparate aber zu vermeiden.
Bei Besserung des Ernährungszustandes kann als üebergang zur reinen
Jodbehandlung Jod und Eisen in Form des leicht nehmbaren Jodeisensyrup (%r.
ferri jodati gtt. 4 — 10 auf Syr. simpl. 20, 3mal im Tage einen halben Kaffee-
löffel) gegeben werden. Die Dosirung von Jodkali oder Jodnatrium sei eine sehr
massige, um einen Jodismus zu vermeiden.
Die Jodkalibehandlung {Kali jodati 0-20 — 0-25 ad 100 g Colatur) wird,
wie die anderen Medicationen, durch methodische Einreibungen von Sapo viridis
und Gl'ijcerin zu gleichen Theilen wirksam unterstützt. Man lässt Früh und
Abends den Eücken tüchtig mit der Seife einreiben und reinigt vor jedem
weiteren Einreiben die Haut mit lauem Wasser.
Selbstverständlich muss die Ernährung eine zweckmässige sein und man
beobachtet nicht so sehr selten, dass bei Hebung des Ernährungszustandes die
Erscheinungen wesentlich nachlassen. v. hüttenbeennee.
Brust- und Baucheingeweide-Topographis. Bei inspection der
vorderen Brustwaud gewahrt man in der Mitte eine seichte Längsfurche,
zu deren beiden Seiten sich die Wände, je nach Geschlecht und physischer
Entwickelung, mehr oder weniger wölben. Beim Manne ist diese Wölbung
vom Grade der Entwickelung der hier lagernden Brustmuskeln abhängig;
eine hoch gewölbte Brust ist unter normalen Verhältnissen stets ein Zeichen
physischer Kraft. Beim Weibe sind es die Milchdrüsen oder das hier an-
gehäufte Fett, von denen das stärkere oder schwächere Vorspringen der
Brüste bedingt ist. Die Brustwarze ist beim Weibe in den meisten Fällen
der fünften Rippe entsprechend, ungefähr 11 Centimeter von der Mittel-
linie entfernt, gelagert, beim Manne befindet sie sich meistens im vierten
Intercostalraum, reicht zuweilen auf die vierte Rippe hinauf, kann aber
auch auf die fünfte Rippe hinabsinken. Die Warze ist gewöhnlich nicht
symmetrisch gelagert und liegt dann auf der einen Seite niedriger, als auf
der anderen. Die obere Grenze der Brustwand wird beiderseits durch die,
besonders bei mageren Subjecten, vorspringenden Schlüsselbeine angedeutet;
in der Mitte dieser Grenze findet man, dem oberen Rande des Brustbein-
griffes entsprechend, einen Ausschnitt. Ueber diesem Rande befindet sich
eine Grube, die Eossa suprasternalis ; ausserdem gewahrt man noch zwei
Gruben: die Fössa supradavicularis über der Mitte des Schlüsselbeins und
die Eossa infraclavicularis s. Mohrenheimi unter der Stelle, wo. das äussere
Drittel des Schlüsselbeines in das mittlere übergeht; im äusseren Theil
dieser Grube stösst man auf den Rabenschnabelfortsatz des Schulterblatts.
Die untere Grenze der vorderen Brustwand wird durch die beiderseits
vorspringenden Knorpel der siebenten wahren und der letzten falschen
Rippen angedeutet; seitlich wird die vordere Brustwand von den durch
Brust- und Baucheingeweide - Topographie.
Erklärung der Abbildung.
Bothe Linien. — Grenze des Herzens : a) Ostium venosum dextratn, b) 03tium venosum
ßinistrum, c) Ostium arterioautn dextrutn, d) Ostiura arterio3um sinistrutn, e) Aorta, f) Art.
pulmonalis, g) Truneus brachio-cephalicus, h) Art. subclavia dextra (wird in der Mitte zwischen
dem äusseren Ende dea Schlüsselbeins und der Mitte des Mauabrium sterni comprimiert),
i) Art. carotis comm. dextra (wird medianwärts vom Tuberculum des 6. Halswirbels, Tuber-
culum caroticura s. Chasaaignao comprimiert), A;) Art. iliaoa externa (wird in der Mitte zwi-
schen dem oberen Eande der Synchoadrosis pubis und der Spina anterior superior ilei
comprimiert).
Blaue Linien. — Die Grenzen der Pleuralsäcke.
Blaue weUenförmige Linien. — Die Grenzen der Lungen: a) Oberer Lappen,
ß) Mittlerer Lappen, "[) Unterer Lappen.
Gelbe Linien. — Die Grenzen der Leber, und dem ersten Lumbalwirbel entsprechend,
die Grenzen des Pancreas.
Violetrothe Linien links und hinter dem Magen, die Grenzen der Milz (der Längs-
durchmesser entspricht dem 9. lutercostalraum, das obere Ende der Milz ist der Wirbelsäule
zugekehrt und erreicht auf zwei Querfinger breit dieselbe nicht). Die Grenzen der Nieren (über
der Höhe des Nabels).
Grüne Linien. — Die Grenzen der Speiseröhre, des Magens, der Theile des Dunn-
und Dickdarms.
BRUST- UND BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE. 225
die Mitte der Achselhöhle gehenden verticalen Linien, den Ldneae axillares,
begrenzt. — Zur Lagebestimmung der Brusteingeweide dient noch eine
durch die Mitte der Brustwand, vom Randausschnitte des Brustbein griff es
gezogene Verticale, die Sternallinie {Linea sternalis). Ausserdem zieht
man noch verticale Linien durch die Grenze zwischen dem inneren und
dem mittleren Drittel des Schlüsselbeins, die Linea parasternalis, und durch
die Grenze zwischen dem mittleren und dem äusseren Drittel desselben
Knochens, die Linea jyapillaris s. mamillaris. — Die letztere Linie geht
gewöhnlich durch die Mitte der Brustwarze, die ParaSternallinie aber geht
im fünften linken Rippenzwischenraum gewöhnlich durch die Stelle, wo
sich die unter dem Namen des Herzstosses bekannte systolische Hebung
der Brustwand wahrnehmen lässt. Endlich benutzt man noch eine linker-
seits vom inneren Ende des Schlüsselbeines zur Spitze des elften Rippen-
knorpels gezogene Linie, die als Linea costo - clavicularis bezeichnet wird,
zur Bestimmung der Verrückung der unteren Grenze der Milz ; bei normalen
Verhältnissen wird diese Linie von dem unteren Ende der Milz nicht
überschritten.
Bei Inspection der Briistwand dürfen unter normalen Verhältnissen die oberfläch-
lichen Venen nicht zu sehen sein, das stärkere Hervortreten dieser Venen im oberen
Theile der Brustwand, besonders bei Kindern, deutet auf Hindernisse in der Circulation
der Brusthöhle oder auf schwache Respirationsexcursionen. Zu beiden Seiten des Brust-
knochens verlaufen vertical, die Rippenknorpel kreuzend, die Art. mammariae s. thoracicae
internae\ sie entspringen jederseits aus der Art. subclavia, nehmen, von zwei Venen
begleitet, längs dem Brustbeinrande abwärts ihren Lauf und entfernen sich im vierten
und fünften Rippenzwischenraum von diesem Rande, so dass hier der Abstand zwischen
der inneren Vene und dem Brustbeinrande 5 — 7 mm beträgt. Die Function des
Herzbeutels ist daher im vierten oder fünften Int er cos tal räume, fast
am Rande des Brustbeins, möglich. Die Art. mammaria interna versorgt haupt-
sächlich die vordere Brustwand und kann bei Obliteration der Aorta desoendens mit Hilfe
der Art. diaphragmaticae superiores et inferiores, der Epigastricae superiores et inferiores,
der Intercostales anteriores und der Thoracicae longae etc. einen collateralen Kreislauf
bilden.
Ln Brustraume sind drei seröse Säcke mit den von ihnen um-
schlossenen Eingeweiden und zwei Mittelfellräume, das Mediastinum antlcum
et postkum, enthalten. In den beiden seitlichen serösen Pleuralsäcken
befinden sich die Lungen, in dem mittleren Pericardialsack das Herz.
Die beiden seitlichen serösen Säcke füllen mit ihrem Inhalt die Seiten-
theile der Brusthöhle aus; zwischen ihnen ist vorn und unten, der Mitte
entsprechend, der mittlere seröse Sack, welchen das Herz einnimmt, ein-
gekeilt. In jedem dieser vollständig geschlossenen Säcke unterscheidet man
einen parietalen, die Brust- und Nachbarswände bekleidenden Theil und
einen visceralen, der die in den Säcken enthaltenen Organe bekleidet imd
mit ihnen verschmilzt. Die von den lateralen Säcken umschlossenen Lungen
haben die Gestalt eines Kegels mit stumpfer Spitze und schräg nach aussen
und unten abgetragener concaver Basis ; ausserdem lassen die Lungen eine
Aussen- und eine Innenfläche erkennen. Die Spitze {Apex pulmonis) ragt
über den Rand der ersten Rippe hinaus, ist an der rechten Lunge höher
(3 — 3-2 cm über dem Schlüsselbein) als an der linken (2—2-2 cm)\ gleich
über dem Schlüsselbeine gewahrt man eine von innen nach aussen gehende
Furche {Sulcus subclaviiis), die von der Schlüsselbeinarterie herrührt. Die
Basis {Superficies diaphragmatica) ist dem Zwerchfell zugekehrt, sie wird
durch einen scharfen Rand von der Aussenfläche geschieden;
die letztere {Superficies costalis) ist convex, den Rippen und Rippen-
zwischenräumen anliegend, hinten stösst sie an den äusseren Umfang
der Wirbelsäule, vorn an die Innenfläche des Brustbeins. Die Innen-
fläche (Superficies interna s. cardiaca) ist in ihrem mittleren und
unteren Theil concav und umschliesst hier das Herz; über und hinter
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. 1"
226 BRÜST- UND BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE.
dem Herzen findet man au dieser Fläche eine Längsfurche {Hilus pulmo-
nalis) ; sie entspricht ihrer Lage nach der Linea parasternalis, da wo diese
Linie den zweiten und dritten Rippenzwischenraiim kreuzt. Die Länge dieser
Furche beträgt 7 — 8 cm, ihre Breite 5 — 5-5 cm\ durch diese Furche
dringen Aeste des Bronchus, die Lungenarterie und die Bronchialarterien
in die Lunge ein; aus der Lunge kommen die Lungenvenen, Nervenäste,
die Bronchialvenen und Lymphgefässe ; diese Theile sind alle durch Binde-
gewebe mit eingeflochtenen elastischen Fasern verbunden. Am weitesten
nach hinten liegt in diesem Hilus der Bronchus, darauf folgen nach vorn
die Lungenarterie und die Lungenvenen ; im rechten Hilus folgen von oben
nach unten der kurze und dicke Bronchus, die längere Arterie und die
Venen aufeinander; im linken in derselben Richtung: die kürzere Arterie,
der lange und schmale Bronchus und die Venen. Vor der rechten Lungen-
arterie ist die obere Hohlvene und die Aorta ascendens gelagert; die obere
Hohlvene liegt der Innenfläche des rechten Brustfellsackes an. Zwischen
der Vene und dem Brustfell verläuft der N. phrenicus nach unten, rechts
gleich vor dem Hilus pulmonalis, links mehr nach vorn (15 — 18 mm). An
der linken Lunge ist hinter dem Hilus eine lange Furche bemerkbar, das
ist der Sukus aorticus, wo die Aorta descendens dem linken Brustfellsack
anliegt. — Von den drei Bändern jeder Lunge ist der vordere und der
untere scharf, der hintere stumpf; unter der Längsfurche der Lunge geht,
dem hinteren Rande parallel, bis zur Basis die viscerale Pleura in die
parietale über, es ist dies das sogenannte Ligamentum pulmonale, ein drei-
eckiges, nach unten sich verbreitendes Mesenterium der Lunge. Jede Lunge
ist durch Furchen (Incisurae interlobulares) in Lappen {Lobi pulmonales)
getheilt; die rechte in drei — den vorderen, mittleren und hinteren, die
linke in zwei — einen vorderen und einen hinteren. Die Theilungsebene
der linken Lunge kann man sich von dem hinteren Ende der zweiten Rippe
nach vorn und unten zum vorderen Knochenende der sechsten Rippe ge-
legt denken. Eine durch die Verbindungsstelle des vierten Rippenknorpels
mit dem Brustbein gelegte Horizontalebene theilt die rechte Lunge in
einen vorderen und einen prismatischen mittleren Lappen. Der Vorderrand
des vorderen Lappens der linken Lunge zeigt in seinem unteren Theil
einen Ausschnitt, die Incisura carcUaca. Der Lappen endigt unter dem Aus-
schnitt mit einem mehr oder weniger vorspringenden zungenförmigen Fort-
satz, der die Herzspitze bedeckt.
Die Grenzen der Brustfellsäcke können durch folgende
Linien bezeichnet werden. Rechts von der Verbindungsstelle des inneren
Drittels des Schlüsselbeins mit dem mittleren in einer Entfernung die dem
Querdurchmesser des vierten und fünften Fingers des gegebenen Individuums
entspricht, über dem Schlüsselbeine befindet sich die Spitze des Sackes.
Von diesem Punkt zieht man eine Linie zur Mitte der rechten Articulatio
stemo-clavicularis, weiter durch das Manubrium sterni zur Grenze zwischen
dem mittleren und dem linken Drittel der Verschmelzung des Manubrium
mit dem Körper des Brustbeins, von hier vertical nach unten bis zur
Ebene des vierten rechten Intercostalraumes, dann schräg nach rechts
zum fünften Intercostalraume, durch die Linea parasternalis geht die
Begrenzungslinie längs dem Knorpel der siebenten Rippe durch die Linea
papillaris längs der neunten Rippe durch die Linea axillaris im zehnten
Intercostalraum, oder sie geht längs dem oberen Rande der elften Rippe
nach hinten und innen, kreuzt die zwölfte Rippe und reicht bis zum Körper
des zwölften Brustwirbels. Links beginnt die Begrenzungslinie des Pleural-
sackes 10 — 12 Mm. niedriger oder um ein Kleinfingerbreit näher zum
Schlüsselbein, als rechts. Von diesem Punkt geht die Linie nach innen
BRÜST- UND BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE. 227
micl unten zur Articulatio sterno-clavicularis, weiter zur Verschmelzuuos-
stelle des Manubrium sterni mit dem Corpus sterui, wo das linke Drittel
in das mittlere Drittel übergeht. Dann verläuft die Linie bis zur Ebene
der dritten Eippe vertical nach unten, wendet sich hier links zur Mitte
des vierten Rippenknorpels und dem vierten Intercostalraum, dann wieder
zur Medianebene, zum Sternalende der fünften Rippe, geht dann nach
aussen und unten und kreuzt die Linea parasternalis an der siebenten
Rippe und verläuft weiter ebenso wie rechts, selten verläuft sie rechts
um 5 — 6 Mm. höher als oben angegeben.
Die Grenzen d e r L u n g e n fallen im oberen Theil der Brusthöhle mit
den eben angeführten Grenzen der Brustfellsäcke zusammen. Bei der Lispira-
tion legt sich der vordere Rand der linken Lunge vor den vorderen Rand der
rechten, wie überhaupt alle paarigen Organe der Brusthöhle, die sich in der
Mittelebene begegnen, sich so lagern, dass die linken vor den rechten zu lieo-en
kommen. Erst am Körper des Brustbeins gehendie Grenzen auseinander. Die
Grenze der rechten Lunge geht früher nach rechts als die Grenze des Pleural-
sackes nämlich in der Ebene des vierten Rippenknorpels; von hier aus
geht die Begrenzungslinie zum fünften Rippenknorpel, kreuzt die Linea
parasternalis an der sechsten Rippe, die Linea papillaris an der siebenten
Rippe und die Linea axillaris an der achten Rippe oder im achten Inter-
costalraum. Diese Grenzen sind am Leichnam bestimmt worden, sie sind
hier gut zu sehen, wenn Haut und Intercostalmuskeln entfernt sind und
die Lungen durch die Pleura durchschimmern. Die Grenzen der linken
Lunge weichen im vorderen unteren Theil von denen der rechten Lunge
ab. Von der Ebene der dritten Rippe an richtet sich die Grenze der linken
Lunge nach aussen zur Mitte des vierten Rippenknorpels, wendet sich
dann wieder nach innen zum Sternalende des fünften Rippenknorpels,
welches sie jedoch nur bei der Inspiration erreicht, verläuft dann nach
aussen und unten und kreuzt die Linea parasternalis an der sechsten
Rippe, die Linea papillaris an der siebenten Rippe und die Linea axillaris
an der achten Rippe oder im achten Intercostalraume, wie rechts. Zwischen den
Grenzen der Lunge und des Brustfells bleiben beiderseits Zwischenräume frei
wo die parietalen Blätter des Brustfellsackes einander unmittelbar berühren
dies sind die Sinus pleurae, und zwar : der Sinus phrenico-costalis, zwischen
der Pleura phrenica und der Pleura costalis, der Sinus mediastino-phrenicus,
zwischen der Pleura pericardiaca und phrenica, welcher die Basis des
Herzbeutels umgibt, und der Sinus mediastino-costaUs, zwischen der Pleura
pericardiaca und costalis, besonders stark im linken Brustfellsack auso-e-
prägt. Von diesen Sinus pleurae kann der erste nie von der Lunge aus-
gefüllt werden, auch nicht bei maximaler Inspiration, er erstreckt sich
jederseits von der neunten oder achten Rippe bis zum zehnten Intercostalraum.
Zwischen den beiden Lungen befindet sich das Herz. Dieser bleibt aus
zwei Empfangshöhlen, Vorhöfen (Atria), und zwej Auswurfshöhlen, Herz-
kammern (Ventriculi) bestehende Muskelsack hat die Form eines Kegels
mit nach rechts oben und hinten gewandter Basis ^j^^\ j^r^^.]^ links, unten und
vorn gerichteter Spitze. Das Herz ist von eine ^ gleichfalls conischen Sack,
dessen Basis jedoch nach unten gerichtet ist^ während die Spitze nach
oben gewandt ist, hermetisch umschlossen, i^ dem Herzen sind zwei
nebeneinander (horizontal) und zwei übereinander (vertical) gelegene Höhlen
zu unterscheiden. Zwischen den beiden erstehen befindet sich der grosse
oder V er ticale Körperkreislauf, zwischen den beiden letzten der
kleine oder horizontale Lungenkreislauf. Die beiden ersten Höhlen
sind der rechte Vorhof {Atrium dextrum) und die linke Herzkammer
{Ventriad'us sinister), die beiden letzten der linke Vorhof (^l^r/n?/i sinistrum)
15*
228 BRÜST- UND BAÜCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE.
und die rechte Kammer (Venfricidus dexter). In den ersten Yorhof münden:
Die in verticaler Richtung verlaufenden Hohlveuen (die obere und die
untere) und, unter rechtem Winkel zur Pachtung dieser Venen, der von
links nach rechts gehende Sinus communis venarum cardiacarum cordis.
Von der linken Kammer aus wendet sich die Aoria nach oben und dann
Yertical nach unten, parallel den Hohlvenen. Aus der rechten Kammer
kommt die Lungenarterk, die sich in zwei horizontal auseinandergehende
Stämme, welche in die rechte und die linke Lunge eindringen, theilt ; aus
den Lungen kommen die Lungenvenen, welche horizontal in den linken
Vorhof münden. Die Lage des Herzens ergibt sich sehr genau aus den
hier angeführten Verhältnissen. Die zur Volumenvergrösserung der Vorhöfe
dienenden Herzohren (Auriculus cordis dexter et sinister) liegen über der
Querfurche des Herzens und umfassen von links und rechts den Stamm der
Lungenarterie. Der rechte Rand der rechten Kammer ist fast hori-
zontal, der linke Rand der linken Kammer fast vertical. In der
Richtung der Horizontalfurche des Herzens befinden sich die beiden venösen
und die beiden arteriellen Oeffnungen; wo grössere Kraftanwendung erfor-
derlich ist, da muss der Widerstand weniger getheilt sein und umgekehrt ;
daher wird die rechte venöse Oetfnuug durch eine dreizipfelige Klappe,
die linke Oetfuung aber durch eine zweizipfelige verschlossen. In den
arteriellen Oeffnungen dienen die halbmondförmigen Klappen als Verschluss.
Das Herz wird eng vom Herzbeutel umschlossen, dieser Beutel ist unten
durch eine fibröse Schicht mit der oberen Fläche des Sehnentheils des
Centrum tendineum diaphragmatis verbunden. Der conische, mit der Basis
nach unten gerichtete Beutel ist ausserdem durch zwei Bindegewebsstränge
am Manubrium sterni (Lig. sterno-pericarcUacum superius) und an der Basis
des Schwertfortsatzes {Lkj. sterno-perkardiacum inferius) befestigt, in jedem
dieser Bündel sind Muskelfasern enthalten: im oberen Fasern des M.
sterno-thyreoideus, im unteren Fasern des Sternaltheiles des Zwerchfells.
Das Herz hängt nicht frei in der Brusthöhle, sondern wird, ebenso wie die
Theile der Gelenke und wie die Baucheingeweide, durch .äusseren Luft-
druck, durch Muskelkraft und durch Adhäsion in seiner Lage erhalten;
diesen Kräften bieten Widerstand: das Gewicht des Organs, seine Elasti-
cität und die mit seiner Bewegung verbundene Reibung. — Die vordere
obere Wand der Kammern liegt der Brustwand und den Lungen an, zwei
Drittel derselben gehören der rechten Kammer, ein Drittel der linken
Kammer an, die hintere untere Wand stützt sich auf das Zwerchfell, und
zwar gehören hier zwei Drittel der linken Kammer, ein Drittel aber der
rechten Kammer an. Da Muskelarbeit nur bei entsprechendem Widerstände
geleistet werden kann, so ist die Arbeit des Herzens von dem Widerstände
der umgebenden Organe und Muskeltheile abhängig, da der Mechanismus
des Zipfelklappenverschlusses in der Gegenwirkung der Warzenmuskel, von
denen jeder auf zwei ^benachbarte Zipfel wirkt und des Druckes der
Kammerblutsäule besteht, und da der systolische Ton hauptsächlich
durch das Erzittern der Valvulae venosae im Zustande starker Spannung
bedingt wird, so ergibt sich hieraus die Abhängigkeit dieses Tones
von dem Grade der Kraftentwicklung der Kammermuscula-
turund der Brustwandmuskeln. Ebenso ist der zweite Ton, welcher
der Schliessung der Valvulae sigmoideae entspricht, von dem Grade der
Elasticität der Arterienstämme und dem Widerstände derjenigen
Theile, durch welche der Strom aus den Stämmen getrieben wird, abhängig.
Die Coronararterien des Herzens nehmen meist auf der Grenze des Sinus
Valsalvae ihren Anfang, doch kann der Blutstrom nur dann in diese Arterien
dringen, wenn die austreibende Kraft der Kammerwände abnimmt, denn
BRUST- UND BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE. 229
je mehr sich die Wände der Arterienstämme ausdehnen, desto schräger
stellen sich die Klappen und desto mehr werden ihre freien Ränder wie
Kreissehnen gespannt. Das Herz ist in der Läugenrichtung spiralig gedehnt
und so gelagert, dass eine durch die Mitte des Brustknochens gehende
Sagittalebene alle vier Höhlen trifft, wobei ein Drittel des Herzens zur
Rechten, zwei Drittel aber zur Linken dieser Ebene zu liegen kommen.
Auf die vordere Brustwand projicirt, kann die Lage des Herzens hier durch
folgende Linien bestimmt werden : eine in der Mitte des zweiten rechten
Intercostalraumes 18 mm (%'0 vom rechten Sternalrande am Cadaver ein-
gestochene Xadel triffst bei normalen Verhältnissen die obere rechte Grenze
der rechten Vorkammer; eine durch die Verbindungsstelle des fünften
rechten Rippenknorpels mit dem Brustbein gehende Nadel streift die
Grenze des rechten Vorhofs und der rechten Kammer; eine an der Kreuzung
der linken Linea parasternalis mit der Mitte des fünften Intercostalraums
der linken Seite eingestochene Nadel trifft meist die Herzspitze und eine
in die Mitte des zweiten linken Intercostalraums um eine Daumenbreite
vom linken Brustbeinrande eingestochene Nadel muss der Grenze zwischen
dem linken Rande des linken Vorhofs und der linken Kammer entsprechend
durchgehen ; eine Nadel am linken Brustbeinrande, gleich über dem Knorpel
der zAveiten Rippe, im ersten linken Intercostalraum trifft den obersten
Theil des linken Vorhofs. Die die Stichstellen dieser Nadeln verbindenden
Linien bezeichnen die auf die Fläche projicirten Grenzen des Herzens;
hierbei entspricht die Linie von der ersten zur zweiten Nadel dem Rande
des rechten Vorhofs, die die zweite mit der dritten Nadel bogenförmig
über die Basis des Schwertfortsatzes verbindende Linie bezeichnet den
rechten Rand der rechten Kammer, die von der dritten zur vierten Nadel
gezogene Linie fällt mit dem linken Rande der linken Kammer zusammen ;
eine die vierte und die letzte Nadel verbindende Linie bezeichnet den
linken Rand des linken Vorhofs, endlich entspricht eine die fünfte mit der
ersten Nadel verbindende Linie der oberen Grenze der beiden Vorhöfe.
Eine von der zweiten zur vierten Nadel gezogene Linie fällt mit dem
Sulcus transversus, also der Grenze zwischen Vorhöfen und Kammern
zusammen. Diese absoluten Grenzen des Herzens bestimmen ziemlich
genau dessen Lage : die Ränder und die Spitze desselben sind von den
Lungen bedeckt, dem Brustbein liegt das rechte Ohr und die Vorderwand
der rechten Kammer an, der grössere, untere Theil der Hinterwand der
linken Kammer ruht auf dem Zwerchfell, und zwar namentlich auf dessen
vorderem, sehnigen, am wenigsten beweglichen Theil. Der obere Theil der
Hinterwand der linken Kammer und die Hinterwand des linken Vorhofs
sind dem ]\lediastinum posterius zugewandt. — Trägt man auf den auf oben
beschriebene Weise projicirten Grenzen des Herzens die vorderen Grenzen
der Lunge ab, so erhält man die Gegend der Herzdämpfung, da
diese Gegend der von der Lunge entblössten Vorderwand des Herzenz
entspricht. Eine von der Herzspitze zum linken Rande des Brustbeines in
der Mitte des dritten Intercostalraumes gezogene Linie bezeichnet die
Richtung der Herzkammerscheidewand. Das Ostiiim venosum dextrum liegt
auf einer Linie, die das Stenialende der fünften rechten Rippe mit einem
,um eine Daumenbreite vom Stenialende der linken ersten Rippe nach links
liegenden Punkte verbindet. Die Mitte der Üetfnung entspricht der Kreuzungs-
stelle dieser Linie mit einer durch die Sternalenden der vierten Rippen-
knorpel gelegten Ebene. Die Richtung der Valvulae friciispidales kann durch
eine Linie, die das Sternalende der vierten rechten Rippe mit dem Stenial-
ende der fünften linken Rippe verbindet, angegeben werden. Das Ostium
venosum sinistrum liegt in der Richtuu"; einer die Mitte des Sternalendes
230 BRÜST- UND BAUCHEINGFWEIDE-TOPOGRäPHIE.
der dritten rechten Rippe mit dem von der Linea parasternalis gekreuzten
Rande des zweiten linken Rippenknorpels verbindenden Linie ; der Mittel-
punkt der Oeünung befindet sich im zweiten linken Intercostalraum, eine
Querfingerbreite vom linken Rande des Brustbeins entfernt, eine von diesem
Mittelpunkte zum linken Umfang der Herzspitze gezogene Linie entspricht
der Richtung der Valvulae mitrales. Das Osfiimi arteriosum dextrum befindet
sich meist am linken Rande des Brustbeins, der Mitte des Litercostalraumes
entsprechend, die Oeffnung ist nach links und oben gerichtet, das Ostium
arteriosum sinistrum schaut nach rechts und oben, sein Centrum ist der
Mitte des dritten linken Intercostalraumes entsprechend, am linken Rande
des Brustbeins gelagert. Die auf der Mitte der Ebenen einer jeden arteri-
ellen Oeifnung errichteten Perpendikel kreuzen sich unter spitzem Winkel.
Im Brustraum befinden sich noch ein vorderer und ein hinterer
M i 1 1 e 1 f e 1 1 r a u m. Der V 0 r d e r e Mittelfellraum (Mediastinum anterius) liegt
hinter dem Manubrium sterni, er reicht nach hinten bis zur Trachea, ist
beiderseits von den lateralen Brustfellsäcken begrenzt. Seine Form ist die
eines horizontal gelagerten dreieckigen Prismas mit nach unten gekehrter
Kante und nach oben gekehrter Fläche, welche dem oberen Rande des
Manubrium sterni entspricht. In diesem Räume liegen von vorn nach hinten :
die Glandula Thymus beim Neugeborenen, die beim Erwachsenen zu einem
Fettlappen oder zu fetthaltigem Bindegewebe wird, die Venae brackio-
cephalicae (innominatae) dextra et sinistra nebst der aus ihrer Verbindung
entstehenden oberen Hohlvene, der Arcus aortae, dessen obere Convexität
bis zu einer durch die Knorpel des ersten Rippenpaares gelegten Ebene
reicht; dieser Bogen geht von rechts vorn nach links hinten über den
linken Luftröhrenast ; aus der Convexität dieses Bogens entspringen der
Mitte des Manubriums entsprechend der Truncus brachio-cephaUcus (Art.
mnominata), der zum oberen Theile der Articulatio sterno-clavicularis dextra
seinen Lauf nimmt, und weiter nach links und hinten die Arteria carotis
sinistra und subclavia sinistra. Hier befinden sich die N. ylirenici, von denen
der rechte zwischen der Vena brachio-cephalica dextra und dem rechten
Pleuralsacke, der linke aber zwischen der Art. subclavia sinistra und dem
linken Pleuralsacke verläuft. Vor dem Bogen der Aorta befindet sich der
N. vagus sinister, der am unteren Umfang des Bogens den rücklaufenden
N. laryngeus sinister inferior abgibt. Im Hintertheil des Mittelfellraumes
bildet sich vor und rechts von der Trachea der Plexus cardiacus, der sich
nach unten in den Plexus coronarius dexter et sinister fortsetzt. Endlich
findet man hier vor dem Aortabogen noch 8 — 10 Glandulae mediastinae
anteriores; sie erhalten ihre Vasa afferentia aus der Leber, dem vorderen
Theil des Zwerchfells, der Thymus, dem Pericardium und dem Herzen,
ihre Vasa efferentia münden in den Truncus lymphaticus communis dexter
et sinister.
Der h i n t e r e M i t t'e 1 f e 1 1 r a u m {Mediastinum posterius) liegt hinter der
Trachea und dem Pericardium, seine Seiteuwände werden von den Brust-
fellsäcken gebildet, hinter ihm befindet sich die ganze Brustwirbelsäule
vom ersten bis zum letzten Wirbel. In diesem Raum sind die Aorta thoracica
und die Speiseröhre gelagert, wobei die letztere den linken Bronchus hinten
kreuzt und in der Höhe des fünften Brustwirbels sich rechts von der
Brustaorta lagert, um in der Höhe des siebenten Brustwirbels sich vor die
Aorta zu begeben und in der Höhe des zehnten Brustwirbels durch
eine Oeifnung im Zwerchfell in die Bauchhöhle einzutreten. Die Länge der
Speiseröhre beträgt im Mittel 28 cm, wovon 24 cm auf den Mittelfellraum
fallen. Zu beiden Seiten der Wirbelsäule verlaufen die Venae azi/gos und
hemiazijgos, wobei die letztere Vene gewöhnlich in der Höhe des siebenten
BRÜST- UND BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE. 231
oder achten Brustwirbels in die erstere einmündet. Die Vena azygos geht
bogenförmig über den Bronchus dexter und mündet, 6 mm stark, von hinten
in die Vena cava superior. Die Wurzehi der Vena azygos beginnen aus den
Venae iliacae communes und den Lumbaivenen, sie nehmen die Venae
intercostales, bronchiales, oesophageae, mediastinales posteriores et phrenicae
auf; es ist die Vena azygos ein Vermittlungsglied zwischen den beiden
Hohlvenen, sie nimmt hauptsächlich die Brustwandvenen und die Venen
der Wirbelsäule auf. Zwischen Vena azygos und Aorta liegt der Dnctufi
thorocicus major s. Pecquefdanus, dessen Durchmesser 8 mm beträgt und
der aus der Bauchhöhle kommt und am Halse in den Winkel des Zusammen-
flusses der A'ena subclavia und jugularis communis sinistra einmündet.
Längs der Aorta kann man noch 8 — 12 Gl. mediastinicae posteriores beob-
achten; die V. afferentia dieser Drüsen kommen vom Oesophagus, von der
hinteren Wand des Pericardiums, dem hinteren Theil des Zwerchfelles,
auch vom rechten Lebertheil; die V. efferentia verlaufen direct zum Ductus
thoracicus und den Bronchialdrüsen. Die Aorta thoracica erstreckt sich
vom dritten bis zum zwölften Brustwirbel in einer Länge von 17 — 18 cm,
sie liegt auf der linken Seite der Brustwirbelkörper, aus ihr entspringen
hier die Art. bronchiales, oesophageae, mediastinales posteriores, phrenicae
superiores et intercostales aorticae. Dem Oesophagus liegen die Nn. vagi
an, im unteren lateralen Theil des Mediastinums kommen die Nn splanchmci
zu liegen. Das Zellgewebe des Mittelfellraumes geht beiderseits in eine
Schicht Bindegewebe über, die zwischen den Pleuralsäcken und der Brust-
wand gelagert ist: das ist die Fascia endothoracica. Von der linken Lamelle
des Mediastinum aus gehen Muskelfasern gürtelförmig um die Aorta zum
linken Rande des Oesophagus als M. phiiro-oesophageiis (Hyrtl), sie setzen
sich in die Kreisfasern der Speiseröhre fort, einige reichen sogar bis zur
hinteren Wand des Pericardiums. Die Längsfaserschicht der Speiseröhre
erhält ein schmales Muskelfaserbündel aus der häutigen Hinterwand des
linken Bronchus, den M. broncho-oesophageus (Hyrtl).
Beim Studium der Topographie der Bauchliöhle muss man an
der Vorderwand dieser Höhle eine obere Regio epigastrica, eine mittlere
Regio mesogastrica und eine untere Regio hypogastrica unterscheiden.
Tn jeder dieser Regionen werden noch ein mittlerer und zwei Sf^itliche Theile
beschrieben. Die Grenzen dieser Regionen sind folgende: Die Regio epigastrica wird oben
von den Rippenknorpelenden und vom Zwerchfell abgeschlossen, nach unten reicht sie
bis zur Horizontalfläche, die die Knorpelenden der elften Rippe beiderseits verbindet;
von dieser Horizontalebene nach unten bis zu einer durch die Spinae ilei anteriores
superiores gelegten Ebene erstreckt sich die Regio mesogastrica, die seitlichen Grenzen
dieser Region werden durch Verticallinien, die von der Spitze der elften Rippe zum
Darmbeinrande jederseits herabfallen, bestimmt; unter der letzteren Region bis zur
Synchondrosis pubis in der Mitte und dem Arcus cruralis auf beiden Seiten befindet
sich die Regio hypogastrica. Wenn man die durch genau bestimmte gerade Linien be-
grenzte Regio mesogastrica in drei gleiche Theile zerlegt, so erhält man zwei seitliche
Felder, die Regiones lumbales anteriores, dextra et sinistra, und einen mittleren Theil,
die Regio umbilicalis. Die Begrenzungslinien dieser Regionen, nach oben und unten iort-
gesetzt, theilen auch die beiden übrigen Regionen in einen medialen und zwei Seiten-
theile. In der Regio epigastrica ist der mediale Theil, die Regio gastrica propria, von
den beiden Seitenth eilen, dem Hypochondrium dextrum et sinistrum, zu unterscheiden.
Die Regio hypogastrica zerfällt in die Regio hypogastrica propria s. piibis in der Mitte
und in die lateralen Regiones iliacae dextra et sinistra. Den Rückentheil der Bauchwand
zwischen der letzten Rippe und dem Darmbeinkamme bildet, durch Verticallinien in drei
Drittel getheilt, die Regio certebralis in der Mitte und die Regiones lumbales posteriores
dextra et sinistra zu beiden Seiten.
Die Wände der Bauchhöhle bilden die Bauchpresse, die durch
ihre Contraction zugleich mit dem Luftdruck und der Adhäsion die Bauch-
eingeweide in ihrer Lage erhält. Diese Bauchpresse wird gebildet: oben
vom Zwerchfell, vorn und seitlich von den Bauchmuskeln und den von
232 BRUST- UND BAUCHEIXGEWEIDE-TOPOGRAPHIE.
ihren Aponeurosen gebildeten Scheiden, hinten von der Wirbelsäule, den
langen Rückenmuskeln und den Lumbalmuskeln, unten vom Kreuz- und
Steissbein, den beiden Beckeuknochen und den Muskeln des Beckenaus-
ganges und des Dammes. Die Arteriae lumbales und die Kervi intercostales
verlaufen hier gürtelförmig, die letzteren bis zur Mitte zwischen dem Nabel
und der Synchondrosis pubis. Unter dieser Mitte verzweigen sich nach
demselben Typus die Xn. üeo-hi/pogastrici et ileo-inguinales aus dem Plexus
lumbalis. Zu den äusseren Genitalorganeu geht auch der A". spermaMcus
externys. In der Scheide der vorderen Bauchmuskeln befindet sich, auf der
Höhe des Nabels, ausserdem noch eine verticale Anastomose zwischen der
Art. epigastrica superior (aus der Art. mammaria interna) und der Art. epi-
gastrica inferior (aus der Art. iliaca externa). Bei der Function der Bauch-
höhle ist am vortheilhaftesten die Mitte zwischen der Spina anterior superior
ilei und dem Nabel zu wählen, da eine Daumenbreite nach innen von der
Spina ilei, ein Ast der Art. circumflexa ilei, die Art. epigastrica inferior
externa, dessen Caliber oft dem der Art. epigastrica inferior nahe kommt
oder gleich ist, aufsteigt.
In der Bauchhöhle sind in der Begio epigastrica rechts die Leber,
in der Mitte und links der Magen, welcher rechts in das Duodenum über-
geht, gelagert; hinter dem Magen liegt links die Milz, zwischen dieser und
dem Duodenum ist das Pancreas eingeschaltet. Die Form und Lage des
Magens ist sehr veränderlich, besonders an Leichen, wo Magen und Darm
durch Gase stark ausgedehnt werden, so dass bei ihren Bestimmungen
dieser Umstand zu beachten ist und die Untersuchungen immer an möglichst
frischen Leichen zu controliren sind. Die Cardia und der Fundus des
Magens erfahren wenig Abwechselung in ihrer Lage, am meisten variirt
seine untere und linke Grenze. — Ein massig umfangreicher Magen, in
einer möglichst frischen Leiche untersucht, lagert sich meist so, dass die
Cardia der Vereinigung des Knorpels der sechsten und siebenten linken
Flippe mit dem Rande des Brustbeins und dem linken Umfange der
Zwischenwirbelscheibe des neunten und zehnten Brustwirbels entspricht.
Der Fundus ventriculi (Saccus coecus) liegt links vom Mageneingang, ist
immer nach oben gerichtet und berührt die untere, concave Fläche des
Zwerchfells, sein höchster Punkt liegt in der Mamillarlinie, in der Höhe
der fünften Rippe oder zuweilen des unteren Theiles des vierten Intercostal-
raumes. Vom Fundus zieht sich die grosse Curvatur noch etwas nach links,
setzt sich im linken Hypochondrium nach unten fort und wendet sich nach
rechts zur Mittellinie des Körpers. In der Höhe der Cardia ist die grosse
Curvatur drei oder vier Finger breit vom linken Rande des Eingangs ent-
fernt; in der Mittellinie des Körpers ist die untere Greuze des Magens
sehr veränderlich, im mittleren Drittel des Abstandes zwischen der Basis
des Schwertfortsatzes und dem Nabel bald höher, bald tiefer stehend; am
häufigsten befindet sie srch in der Mitte dieses Abstandes. Die kleine Cur-
vatur beginnt in der Höhe der Basis des Schwertfortsatzes oder des unteren
Endes des Brustbeinkörpers, wendet sich Anfangs etwas nach links und
unten, verläuft darauf links von der Wirbelsäule und dieser parallel nach
unten bis zur Höhe des unteren Endes des achten linken Rippenknorpels:
hier w^endet sie sich nach rechts und durchschneidet die Mittellinie des
Körpers gewöhnlich 2^/^ Finger breit über der unteren Grenze des Magens.
Der Körper des Magens steht folglich vertical. Der rechts von der Mittel-
linie gelegene Theil des Magens ist das Antrum pyloricum; die untere
Grenze dieses Theils setzt sicli nach rechts oben bis zu einer Sagittal-
ebene, die durch den rechten Rand des Brustbeins geht, oder bis zu einer
Linie, die den Zwischenraum zwischen der Linea sternalis und parasternalis
[ BRUST- UND BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE. 233
halbirt, fort; hier liegt, dem inneren Ende des achten Rippenknorpels ent-
sprechend, die untere Grenze des Magenausgangs; seine obere Grenze
befindet sich l'S^ — 2*5 cm höher. — Die Grösse und Form des Magens
variirt stark nach den Gewohnheiten und der Qualität und Quantitcät der
Nahrung, zugleich verändern sich die seine Lage bestimmenden Grenzen.
Seine untere Grenze steigt höher oder tiefer, wobei das Colon transversura
dem Magen folgt, während der linke Magenrand sich der Mittellinie nähert
oder sich von derselben entfernt. Der Magen ist also vorzugsweise vertical
gestellt, wobei sein Fundus nach oben, die grosse Curvatur nach links und
unten, die kleine Curvatur nach rechts und in ihrem oberen Abschnitt
sogar etwas nach unten gerichtet ist. Das Antrum pyloricum durchschneidet
die Mittellinie des Körpers, der Pylorus ist nach rechts, zuweilen etwas
nach hinten gerichtet, er entspricht seiner Lage nach dem rechten Rande
des Brustbeins. Die Magenwände sind nach vorn und hinten gerichtet. —
Betrachtet man die Befestigung des Magens in seiner Lage, so ersieht
man leicht, dass eine Lageveränderung beim Anfüllen desselben nicht
möglich ist. Durch Bauchfellfalten wird der Magen oben, rechts, links,
hinten und unten befestigt. Von oben heftet sich das Lig. 'phrenico-gastrkum,
von rechts das kleine Netz oder Lig. hepato-gastricum, welches sich weiter
rechts in das Lig. hepato-duodenale fortsetzt, an ; vom oberen Theil der
Hinterfläche des Magens und der Curvatura major geht das Lig. gastro-
lienale zur Milz, vom unteren Ende der Milz und vom mittleren und unteren
Theil der grossen Curvatur kommt das Omentum majus s. Lig. gastro-colicum,
endlich gehen von der Curvatura minor Falten nach hinten zum Pancreas,
das Lig. pancreaüco-gasfriciim. Am unbeweglichsten ist der Magen an der
Cardia und am Pylorus, unten und links kann er sich wohl ausdehnen,
aber nicht wenden.
Die Milz liegt hinten und links vom Magen. Bei Oeffnung der Bauch-
höhle ist unter normalen Verhältnissen im linken Hypochondrium, links von
der Mitte der Curvatura major, nur das untere Ende der Milz zu sehen.
An einer nicht ganz frischen Leiche, in welcher die Gedärme durch Gase
ausgedehnt sind, kann ihr unteres Ende vom Magen oder vom Querdarm
verdeckt sein. Führt man die Axillarlinie bis zu ihrer Durchkreuzung mit
der zehnten Eippe der linken Seite, so entspricht gewöhnlich dieser Punkt
dem unteren Ende der Milz. Eine von diesem Kreuzungspunkte längs der
zehnten Rippe oder dem neunten Intercostalraum zur Wirbelsäule gezogene
Linie bestimmt genau die Lage der Milz ; diese Linie ist dem Längs-
durchmesser der Milz parallel. Die Milz ist bei normalen Verhältnissen mit
ihrem oberen Ende eine Querfingerbreite (18 — 20 mm) von der Wirbel-
säule entfernt. In das obere Ende der Milz geht das Lig. phrenico-lienale
über; das untere Ende liegt mit dem hinteren Theil seiner Innenfläche
dem linken Ende des Pancreas auf und wird mit demselben durch die
Wandung des linken Blindsackes des grossen Netzes fest verbunden ;
zwischen diesen beiden Befestiguugspunkten verläuft das Lig. gastro-lienale,
welches die Mitte der Innenfläche der Milz mit dem Magen in einer Linie,
die längs der hinteren Fläche des Magens von der Mitte der Curvatura
major in der Richtung zur Cardia geht, verbindet. An der Curvatura major
ist das Ligament lang (2 Querfinger breit) und die Milz hier leicht ver-
schiebbar, weiter nach oben aber wird dasselbe immer kürzer, die Milz
schmiegt sich fester an den Magen und endigt am Magengrund auf der
Höhe der Cardia. Nach hinten und innen vom oberen Abschnitt des hin-
teren unteren Randes der Milz liegt die linke Niere nebst Nebenniere,
Wenn die Milz sich vergrössert, so geschieht das anfangs nach oben in
der Richtung zur Wirbelsäule, bis sie dieselbe berührt, unten stösst sie
234 BRÜST- UND BAUCHEIXGEWEIDE-TOPOGRAPHIE.
bei ihrer Yergrösserung auf das Lig. phrenico-colicuin und wendet sich
dann mit ihrem unteren Ende nach unten und innen. Bei geringer Yer-
grösserung dieses Organs kann man dieses durch Percussion nicht consta-
tiren, da im hinteren Theil ihr dumpfer Ton unmittelbar in den der Niere
und der Wirbelsäule übergeht.
Die Leber ist mit ihrem grössten Theile (^4 ihrer Masse) in der
rechten Hälfte der Bauchhöhle gelagert. Bechts liegt der Lobus dexter.
Lobus Spigelii und Lobus quadratus, links der Lobus sinister. Der rechte
Theil liegt im Hypochondrium dextrum, der linke und ein Theil des Lobus
quadratus liegeu in der Begio gastrica propria der Innenfläche der vor-
deren, weichen Bauchwaud an: dieser Theil liegt über der Pars pylorica
des Magens und der Curvatura minor. Die obere Fläche der Leber liegt
dem Zwerchfelle an. Eine der Mittellinie des Körpers fast entsprechende
Falte des Bauchfells, das Lig. Suspensorium hepatis. liegt zwischen dem
Zwerchfell und der Leber. — Bechts unter der Leber ist der obere hori-
zontale Theil des Duodenum, weiter nach rechts die Curvatura colica dextra
gelagert, hinter dem Colon liegt der unteren Leberfläche die rechte Niere
an. Unter der Leber, zwischen dem Bogen des Duodenum und der Milz
befindet sich das Pancreas. Die untere Grenze der Leber entspricht dem
Bippenknorpelrande von der Spitze der eilften rechten Bippe bis zur Mitte
des achten rechten Bippenknorpels: von hier geht die uutere Grenze zur
Mitte des siebenten linken Bippenknorpels und dann zur sechsten linken
Kippe und zum fünften Intercostalraum, der Mitte zwischen dem linken
Bande des Brustbeins und der Linea parasternalis entsprechend oder sogar
bis zu dieser Linie oder die untere Grenze geht durch die Fortsetzung
der Sternallinie an der Verbindungsstelle des oberen und mittleren Drittels
des AbStandes zwischen dem Nabel und der Basis des Schwertfortsatzes.
Die obere convexe Fläche der Leber liegt der unteren concaven Fläche
des Zwerchfells eng an, namentlich der ganzen rechten unteren Hälfte
bis zum Foramen oesophageum und links dem medialen Abschnitt des
Bippentheils. Die Convexität der Leber steigt bis zur Höhe des vierten
Intercostalraumes in der Linea parasternalis, ist aber bis zur sechsten
Bippe von der Lunge bedeckt, so dass das Gebiet der Leberdämpfung
zwischen die untere Lungengrenze und die untere Lebergrenze fällt. —
Dort, wo die Linea parasternalis den Knorpel der achten Bippe kreuzt,
befindet sich der Grund der Gallenblase: die Wölbung des Lobus Spigelii
kommt gewöhnlich in der Höhe des zwölften Brustwirbels zu liegen, wo
sie mit dem inneren Schenkel der Pars lumbalis dextra des Zwerchfells
in Berührung kommt. Durch die Inspirationsbewegungen wird die Grenze
der Leber 1 — 1*5 cm nach unten gedrängt.
Die sich an die Leber heftenden Bauchfellfalten sind in drei einander perpendi-
culären Flächen gelagert: sagittal zur Leber liegt das Lig. teres und Suspensorium hepatis,
horizontal die Ligg. coronnria dextrum et sinistrum mit den Ligg. triangularia dextrum
et sinistrum, frontal das Lig. iiepato-renale, liepato-duodenale und hepato-gastricum. Alle
diese Falten erhalten aber doch die Leber nicht in ihrer Lage, da diese dieselben ver-
lässt, sobald man die Bauchhöhle öffnet: es ist der atmosphärische Druck, der Druck
der Bauchpresse und die Adhäsionen, die hier wirken, wie überhaupt in allen serösen
und synovialen Höhlen, welche hermetisch geschlossen sind. Im Lig. hepato-duodenale
■verlaufen: rechts der Ductus hepaticus, cysticus und cJioledochus, links die Art. ci/itica
und hepatica, ausserdem befinden sich hier Lymphdrüsen und -Gefässe, der Plexus
hepaticus, die Vena portae; hinter dem Ligament ist das Foramen Winslowii, welches
links hinten in die Bursa omentalis minor et major führt, gelagert. Das Lig. hepato-
renale bedeckt die Vena cava inferior.
Das Pancreas ist in der Tiefe, der Höhe des ersten Lendenwirbels
entsprechend, gelagert: es liegt unmittelbar vor der Aorta und der Vena
cava descendens.
BRUST- UND BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE 235
Hinter ihm befindet sich die A)-t. mesenterica superior und die Vena mesenterica
communis^ die aus der Verbindung der V. mesenterica superior et inferior entsteht, nahe
am oberen Rande des Pancreas die V. gastro-Uenalis aufnimmt und dann die Y. portae
bildet. Am oberen Rande verläuft die Art. Uenalis (links) und hepatica (rechts), vor dem
rechten Theil der Drüse die Art. gastro-epiploica äextra (aus der hepatica), am rechten
Rande die Art. diiodenalis superior (aus der gastro-epiploica dextra» und inferior (aus
der mesenterica superior , vor dem linken Rande die Art. gastro-epiploica (aus der lienalis).
Rechts wird das breite Ende des Pancreas bogenförmig von dem
Duodenum umgeben und reicht hier bis zur Mitte des Abstandes zwischen
dem rechten Brustbeinrande und der Linea parasternalis dextra, links
reicht das verschmälerte Ende bis zur Milz, Vor der Drüse ist der Magen,
mit dessen Curvatura sie durch das Lig. pancreatico-gastricum verbunden
ist, gelagert. Die Falte begrenzt eine Oetfnung, das Foramen pancrmtico-
gastrlcum, durch das die Bursa omentalis minor mit der Bursa omentalis
major in Verbindung steht. Hinter dem linken Theile der Drüse liegt die
obere Hälfte der linken Mere.
Der Darme anal besteht aus vier festen und drei beweglichen
Theilen, verbindet somit in Hinsicht seiner Lage möglichst grosse Festig-
keit mit Beweglichkeit. Fest sind (ohne Mesenterien): 1. das Duodenum,
2. das Colon ascendens, 3. das Colon dexcendens und 4. die zwei unteren
Drittel des Bedum^s; beweglich sind (hängen an Mesenterien): 1. das
Jejuno-üeum, Coecum und der Processus verm,icularis, 2. das Colon trans-
versum, 3. die Flexura sigmoidea und das obere Drittel des Rectums. Die
festen Theile sind in ihrer Lage beständig, die beweglichen aber sehr
verschieden gelagert. Das Duodenum ist hufeisenförmig um das breite
rechte Ende des Pancreas gelagert; sein oberer horizontaler Theil beginnt
am Pylorus des Magens, der Aussenrand des absteigenden Theiles liegt in
der Fortsetzung der Linea parasternalis, gewöhnlich in einer Linie mit dem
Grunde des Gallensackes. Der untere horizontale Theil verläuft nach innen,
um am zweiten Lumbaiwirbel in den Leerdarm bogenförmig überzugehen.
Vor dem absteigenden Theil befindet sich das Colon transversum, seine
hintere Fläche liegt der rechten Niere an. Das Colon ascendens beginnt
in der rechten Fossa iliaca über der Uebergangsstelle des Dünndarms in
den Dickdarm. Es geht in der rechten vorderen Lumbaigegend nach oben
bis zur unteren Leberfläche, wo es durch die Leberbiegung {Flexura coli
hepatica) in den Quergrimmdarm übergeht. In der Lumbaigegend ist das
Colon ascendens von der Höhe des Nabels an vor der rechten Niere
gelagert. Das Colon descendens beginnt mit der Milzbiegung {Flexura coli
lienalis), liegt tiefer als der aufsteigende Theil, von der linken Niere
lateralwärts, unten geht es in die Hüftbiegung {Flexura iliaca) über; vorn
wird es vom Dünndarm bedeckt. Das Ptectum liegt in der Höhle des
kleinen Beckens, wo es seitlich und sagittal gebogen ist; zu beiden Seiten
des oberen Theiles des Mastdarms sind die Ovarien nebst den Eileitern
vertical oder schräg gelagert, vor dem Mastdarm der Uterus und die
Vagina beim Weibe, seitlich die Samenbläschen und vor demselben die
Harnblase beim Manne. Medianwärts vom Colon ascendens und unter dem
Colon transversum, in der Höhe des Nabels, liegen der Leerdarm und der
Krummdarm (Intestinum jejuno-ileum), die am Mesenterium hängen. Da die
Wurzel des Mesenteriums von der Höhe des ersten Lendenwirbels an nach
unten und rechts zur Articulatio sacro-iliaca dextra geht, so sind die an
ihm hängenden Dünndarmschlingen nach links und unten gerichtet, kommen
daher öfter links als rechts in den hier beobachteten Brüchen vor. Unter
der Uebergangsstelle des Dünndarms in den Dickdarm in der rechten
Fossa iliaca ist das Coecum mit dem Processus vermicularis, die beide
an Gekrösen, dem Mesocoecum und dem Mesenteriolum des Processus
236 BRUST- UND BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE.
vermicularis liäEgen, gelagert. Zwischen dem aufsteigenden und dem ab-
steigenden Grimmdarm ist der an einem Gekröse hängende Quergrimm-
darm gelagert; er ist vorn vom Netze {Omentum s. Ei^iploon), das sich
nach unten wie eine Schürze über den Dünndarm fortsetzt, bedeckt. Der
Quergrimmdarm befindet sich gewöhnlich gleich über dem Nabel und reicht
bis zum mittleren Drittel des Abstandes zwischen der Basis des Schw^ert-
fortsatzes und dem Nabel. Er unterscheidet sich vom Magen dadurch, dass
er vom Netze bedeckt ward, vom Dünndarm aber dadurch, dass er Längs-
streifen (Ligamenta coli) führt, die an den Schlingen des Dünndarms nicht
vorkommen; ausserdem sind am Colon noch netzförmige Anhänge (Appen-
dices epiploicae) vorhanden, die weder am Dünndarm noch am Magen zu
beobachten sind. Der Quergrimmdarm verläuft von rechts nach links unter
der Leber und dem Magen, vor der rechten Niere, der Pars descendens
duodeni, vor der Flexura duodeni-jejunalis und vor der linken Niere.
Links setzt sich der Querdarm in einigen Fällen nach oben, zwischen dem
Magen und dem Diaphragma, vor und lateralwärts von der Milz, fort. Die
bewegliche Flexura iliaca mit ihrem Gekröse (Mesocolon flexiirae sigmoideae)
und der bewegliche Mastdarmtheil mit seinem Gekröse (Mesorectum) sind
zwischen den Schlingen des Dünndarms in der Regio iliaca sinistra oder
in der Regio hypogastrica propria gelagert, zuweilen liegen sie zwischen
den Dünndarmschlingen in der Beckenhöhle. Ausser der Bursa omentalis
minor et major kommen noch Ausstülpungen des Bauchfells nach hinten,
in w^elche die Eingew^eide als Hernia interna sich invaginiren können, vor.
Das sind: die Fossa duodeno-jejunaUs s. Betroversio inesogastrica, die Fossa
ileo-coecalis, die Fossa subcoecalis s. Betroversio liypogastrica dextra und die
Fossa intersigmoidea s. Betroversio hypogastrica sinistra.
Die Fossa duodeno-jejunalis ist vor der gleichnamigen Flexur gelagert, sie wird
links und oben von der Vena niesenterica inferior umgeben. Die Fossa ileo-coecalis liegt
unter dem Uebergange des Krummdarms in den Grimmdarm, sie wird auch theilweise
unten von dem Mesenteriolum processus vermicularis umgeben. Die Fossa subcoecalis ist
unter dem Coecum, an der Wurzel des Mesocoecum gelagert. Die Fossa intersigmoidea
ist an dem unteren Theile der Mitte der Wurzel des Mesocolon flexurae sigmoideae
gelagert.
Die Nieren befinden sich in der Tiefe der Bauchhöhle zu beiden
Seiten der Wirbelsäule, das untere Ende der rechten Niere liegt in der
Ebene des Nabels, das untere Ende der linken Niere ist eine Querfinger-
breite über dieser Ebene gelagert. Die Nieren nehmen eine solche Lage
ein, dass die durch die Mitte der beiden Nieren gelegten Frontalflächen
sich vor der Wirbelsäule unter einem Winkel von 60 '^ treffen würden ; die
unteren Nierenenden sind in sagittaler Richtung um ein Drittel weiter von
einander entfernt, als die oberen, so dass die Längsaxen beider Nieren,
nach oben fortgesetzt, sich unter einem Winkel von 35 ^ trotten. Das obere
Ende ist oben und innen von der Nebenniere bedeckt. Die linke Niere
reicht nach oben bis zur Horizontalebene des elften Brustwirbels, liegt
folglich hinten dem Sinus phrenico-costalis an, kann hier verwachsen und
durch Perforation Steine durch die Respirationsorgane ausführen. Die linke
Niere liegt hinten der Pars lumbalis diaphragmatis und weiter unten dem
M. quadratus lumborum an. Vor der Spitze der linken Niere liegt der
Magen, das Pancreas, dann das Colon transversum und der Dünndarm.
Lateralwärts schliessen sich die Milz und das Colon descendens an. Die
rechte Niere stösst oben auf den Lobus dexter hepatis, an die Faciecula
renalis, hinten an die Pars lumbalis diaphragmatis und den M. quadratus
lumborum, medianwärts liegt der M. psoas major. Vor der rechten Niere
ist das Colon ascendens und weiter nach oben und innen der verticale Theil
des Duodenum gelagert. Hinter dem oberen Theil der Nieren verläuft
BRUST- UND BAUCHEINGEWEIDE-TOPOGRAPHIE. 237
schräg der zwölfte Dorsalnerv und niedriger der N. ileo-hypogastricus ;
diese Nerven gehen in dem unteren Theil der Bauchwand bogenförmig
nach vorne und endigen hier in der unteren Hälfte des Abstandes zwischen
Nabel und Synchondrosis pubis. — Unter normalen Verhältnissen und bei
gut entwickelter Bauchwand kann man die Nieren nicht durchfühlen, die
Inscriptiones tendineae musculi recti abdominis oder fester Inhalt des
Colon ascendens können leicht täuschen, was am Cadaver gut controlirt
werden kann. In dem Hilus der linken Niere liegen von unten nach oben
und von hinten nach vorne der Ureter, die Vena renalis und die Arteria
renalis, rechts von hinten nach vorne die Vena renalis, die Arteria renalis
und der Ureter.
Ausser den Gpaarigen Wandarterien (5 lumbales und 1 Art. phrenica
inferior), findet man in der Bauchhöhle 3 paarige und 3 unpaarige Arterien-
stämme vor. Die 3 ersten verlaufen zu den Nebennieren, den Nieren und
den Geschlechtsdrüsen (Testiculi oder Ovaria), die 3 unpaarigen verlaufen
zu den unpaarigen Baucheingeweiden, und zwar: Die Art. coeUaca zum
Magen, zur Leber, zur Milz, zum Pancreas und zur oberen Hälfte des
Duodenums ; die Art. mesenterica superlor zur unteren Hälfte des Duodenums,
zum Leer- und Krumradarm und der rechten Hälfte des Colon; die Art.
mesenterica inferior zur linken Hälfte des Colon, zur Flexura sigmoidea und
dem beweglichen Theil des Mastdarmes. Alle diese Arterien sind von sym-
pathischen Nervengeflechten umgeben, die aus dem Plexus abdominalis, dem
Plexus renalis und dem Plexus aorticus ihren Ursprung nehmen.
Da die Länge der Arteria lienalis sich zur Länge der Arteria hepatica wie 11:7
oder 12 : 8 verhält und da diese Arterien mit dichten Nervengeflechten bedeckt sind, so
erklären sich die Stiche und Schmerzen im linken Hypochondrium bei schwach ent-
wickelter Bauchpresse und daher beweglicher Milz besonders bei schwachen, in der
Kinderstube erzogenen Mädchen und später bei Frauen in Folge des ^orsettragens ; oft
können solche Mädchen nicht mehr wie 30—40 Secunden laufen und müssen in Folge
von Stichen im linken oder auch im rechten Hypochondrium die Bewegung einstellen.
Aus den unpaarigen Eingeweiden sammeln sich alle Venen in der
Vena portae, von den paarigen Organen und den Bauchwänden in der Vena
Cava inferior, aus der Wirbelsäule, den Venae iliacae communes und den
Lumbaivenen kommen die Wurzeln der Vena azygos und hemiazygos. Die
Vena spermatica interna sinistra tritt gewöhnlich unter rechtem Winkel in
die Vena renalis sinistra, während die Vena spermatica dextra unter spitzem
Winkel in die Vena cava inferior sich ergiesst. Dadurch erklärt sich theil-
weise der grössere Umfang des linken Testikels und des linken Ovariums.
Um die Bauchaorta sind bis zu den Querfortsätzen der Lumbal wirbel
20 bis 30 Glandulae lumbales gelagert, die ihre Vasa efferentia aus den
Beckendrüsen, den Inguinaldrüsen, den hinteren Bauchwänden und von der
Flexura sigmoidea erhalten. Die Vasa efferentia dieser Drüsen vereinigen
sich jederseits zum Truncus lymphaticus lumbalis. Die Glandulae mesen-
tericae sind in einer Anzahl von 100 — 200 für den Dünndarm und von 20
bis 30 für den Dickdarm zwischen den Blättern des Mesenterium gelagert;
sie nehmen die Lymphgefässe aus dem Dünn- und dem Dickdarm bis zur
Flexura sigmoidea auf und versammeln ihre Vasa efferentia im Truncus
intestinalis. Um die Aorta über der Art. mesenterica superior und den
Aesten der Arteria coeliaca sind die Glandulae coeliacae in einer Zahl von
16 — 20 gelagert; sie erhalten ihre Lymphgefässe aus dem Magen, der
Leber, der Milz, dem Pancreas und den oberen Theil des Duodenum und
entsenden ihre Vasa efferentia ebenfalls zum Truncus intestinalis. Auf der
Vorderfläche des ersten Lumbaiwirbels vereinigen sich die paarigen Trun-
ci lymphatici lumbales und der unpaarige Truncus intestinalis zum Ductus
thoracicus major s. sinister s. Pecquetianus. p- lesshaft.
238
CACHEXIE.
Cachexi6 (Siechthum). Progressive constituHonelle Hi/potrophien. Der
an den Signa ex habitu geschulte „praktische Blick" wird sich wohl immer
rasch vergewissert glauben, ob für einen Kranken die Bezeichnung
„cachedisch" passt. Sobald jedoch eine halbwegs ausreichende Umschreibung
des zu Grunde liegenden Symptomenbildes gefordert wird, dürften Manche
in eine gewisse Verlegenheit kommen, auch wenn pathogenetische Momente
ganz ausser Betracht bleiben. Trotz der Mannigfaltigkeit der casuistischen
Bedingungen, w^elche erfahrungsgemäss in letzter Instanz Siechthum herbei-
führen, begnügt man sich nicht selten mit der Feststellung gewisser
ursprünglich localer Erkrankungen, vor Allem z. B. eines Carcinoms an
wichtigen Abschnitten des Gastrointestinaltractes, um das ärztliche Gewissen
über das schlechte Aussehen des Kranken zu beruhigen. Allerdings ist sich
hiebei Jedermann klar, dass der Terminus Cachexie mehr als „schlechtes
Aussehen" bedeuten sollte. Aber so sehr auch prägnante Beispiele der
Abzehrung in die Augen springen, bietet doch die Cachexie, soweit sie als
abnormer Habitus durch Abweichungen im Volum und der sonstigen physi-
kalischen Beschaffenheit der Körpertheile und als Complex von Functions-
anomalien mit den gewöhnlichen klinischen Mitteln feststellbar ist, im All-
gemeinen nur wenig scharf geprägte Charaktere, Und ein imaginäres Modell,
durch welches man die mannigfaltigen, in verschiedenen Fällen beobachteten
Zeichen zusammenfassen und von anderen pathologischen Typen abgrenzen
könnte, ist bei der vielfachen Gegensätzlichkeit der individuellen Krank-
heitsbilder kaum construirbar.
Die symptomatische Unsicherheit äussert sich denn auch schon in
der einschlägigen Nomen clatur, obwohl sich dieselbe eines ehrwürdigen
Alters rühmen darf. Man erinnere sich nur an die vielen gebrauchten
Synonyma, in welche man schliesslich doch immer etwas Besonderes hinein-
zuinterpretiren bemüht war. So wurde die Macies, die Emadaüo, der Marcor
besonders auf den Fettschwund bezogen. Die Bezeichnung Tabes reser-
virten die Einen für die Abmagerung der Muskeln, Andere wollten
die Abzehrung in Folge von schweren Nervenkrankheiten so genannt
wissen. Phthisis wiederum sollte die allgemeine Abmagerung nach ulcerativen
Processen, Consumptio speciell jene nach fieberhaften Krankheiten heissen.
Hedik bezeichnete die Abzehrung durch Säfteverluste u. s. w.
Zu einem relativ klarer detiniibaren Krankheitstypus hat sich neben
diesen vagen Syndromen die Anämie in ihren verschiedenen klinischen
Formen ausgestaltet. Es ist dies ausschliesslich der gegenwärtig ausreichend
gestützten Aulfassung des Blutes als Gewebe zu danken.
Die Aufstellung eines besonderen Symptomenbildes des Marasmus
neben demjenigen der Cachexie erscheint kaum irgendwie gerechtfertigt.
Die Unbefangenheit des medicinischen Sprachgebrauches hat jedoch den
Nutritionsstörungen bei einer Reihe bestimmter Krankheiten {Cardnom,
Leukämie, Scorhut, gewisse^ dironische Infede und Vergiftungen) eine specielle
Prägung als Cachexie, bei einer Reihe anderer wiederum als Marasmus
ertheilt. Wie schon einmal angedeutet, sind aber die so bezeichneten
Nutritionsstörungen auf diese Weise ein blosses Prosdoton der genannten
ursprünglich oft sicher localen Krankheiten geworden.
Die Abweichungen im Volum und in der sonstigen physikalischen
Beschaffenheit der Körpertheile, welche den vielfach wechselnden Habitus
cadiedicus bezeichnen sollen, sind folgende. An die Spitze gestellt werden
muss das progressive, in fortschreitender Abnahme des Gesammtkörper-
gewichtes sich äussernde Schwinden mehrerer oder vieler Körpertheile,
ohne dass dieselben sonst direct erkrankt scheinen. Die Haut wird dabei
zunehmend bleicher, bekommt eine ins Fahle oder ins Gelbliche, bisweilen
CACHEXIE. 239
ins Bläuliche spielende Farbe. Sie wird dünn, an der Oberfläche trocken,
die Epidermis desquamirt nicht selten in kleinen Schuppen. Die glanzlosen
Augen umgeben sicli mit dunkelgrauen oder bräunlichen Ringen. Das ganze
Gesicht collabirt und zeigt einen leidenden Ausdruck. Die Haare verlieren
ihre Elasticität und fallen aus, die Nägel verkümmern, krümmen sich. Der
Panniculus adiposus schwindet, jedoch sehr verschieden rasch in ver-
schiedenen Fällen. Die Muskeln werden dünnbäuchig und schlaff. Der durch
Beklopfen mit dem Percussionshammer hervorzurufende sogenannte idio-
musculäre Wulst stellt sich auffallend deutlich (gross) dar und bleibt immer
lange stehen. Der Puls verliert an Spannung. Besonders wichtig ist auch
die habituelle Ungleichheit der Blutvertheilung und die entsprechende
Differenz der Wärme der einzelnen Körpertheile. Das Blut schwindet
entweder einfach in demselben Verhältnis wie die übrigen Gewebe oder
es zeigt charakteristische Veränderungen. Die Alkalescenz sinkt, die Blut-
dichte wird geringer. Hämoglobingehalt und Blutkörperchenzahl zeigen sich
gleichfalls in verschiedenem Grade vermindert. Auch ohne dass eiweiss-
haltige Flüssigkeit aus den Gefässen austritt, kann das Blutserum einen
Verlust an Gesammteiweiss darbieten, indem das Serum an dem allge-
meinen pathologischen Eiweissverlust participirt. Ein Verhältnis zwischen
Blutkörperchenzahl und Hydrämie existirt dabei nicht. Charakteristisch ist
ferner, dass in Fällen vorgeschrittener Cachexie trotz hochgradiger Anämie
Regenerationserscheinungen an den Erythrocyten dauernd vermisst werden
(Fehlen von kernhaltigen rothen Blutkörperchen im Blute), und dass nicht selten
auch die Zahl der Leucocyten (polymorphkernige, neutrophile) sinkt. Unter
gegenwärtig nicht genügend klargestellten Bedingungen finden wir aller-
dings im Gegensatz hiezu wieder dauernde Leucocytose. Hinsichtlich der
oxyphilen Leucocyten haben sich constante Verhältnisse nicht herausgestellt;
in vorgeschrittenen Krankheitsstadien schwinden dieselben. Von Bedeutung
ist vielleicht auch der allerdings nicht regelmässige, aber doch in vielen
Fällen besonders von Carcinomcachexie nachweisbare vermehrte Zucker-
gehalt des Blutserums. Auf den Schleimhäuten bleiben die Secrete liegen.
Die Abnahme des Volums der tiefen Theile manifestirt sich oft besonders
deutlich an der Milz, deren Dämpfung in vorgeschrittenen Stadien des
Siechthums oft kaum nachweisbar ist.
Der einschlägige Complex von Function sanom allen ist an
Umfang und Intensität ein sehr wechselnder. Seit Alters spricht man von
dem „Torpor" der Functionen im Siechthum. Dies bezieht sich vor Allem
auf die Muskeln. Oft auffallend frühzeitig, bei noch vorhandenem Fett-
polster, stellt sich fortschreitende Verminderung der körperlichen Leistungs-
fähigkeit ein. Schon die Körperhaltung ist eine schlaffe, der Körper ist
leicht vornübergebeugt. Alle Bewegungen werden matt, energielos. Noch
früher stellt sich leichte Ermüdlichkeit bei den geringfügigsten Anstrengungen
ein. Als charakteristisch gilt ferner eine dauernde psychische Verstimmung,
Schwäche der psychischen Functionen, Schlaflosigkeit, Verlust des
Appetits. W^ährend die übrigen Secretionen meist verändert erscheinen,
besteht nicht selten Neigung zu localen Schweissen. Wohl bekannt war schon
den alten Aerzten die schädliche Wirkung bestimmter Medicamente in relativ
geringen Dosen und der Verfall, den insbesondere Blutentziehungen selbst in
geringer Quantität hervorrufen. Nicht minder charakteristisch ist die geringe
Geneigtheit zu Regeneration in localen entzündlichen Herden, das Ausbleiben
von compensatorischen Hypertrophien, die Lentescenz und Malignität aller ört-
lichen krankhaften Processe, die schlechte Heilung der Wunden und eine gewisse
Neigung zu Hämorrhagien. Die schwerem Siechthum verfallenen Menschen
acquiriren endlich leicht Tuberkulose, Pneumonien, Gangraenen u. s. w.
240 CACHEXIE.
Abgesehen davon nun, dass alle diese Abweichungen in functioneller Hin-
sicht und die früher angeführten Eigenthümlichkeiten des Habitus in den ver-
schiedensten Combinationen und in äusserst wechselnder Intensität erscheinen
können, so dass von den leichtesten Fällen mit noch in die, Breite der
Norm fallender „Schwächlichkeit" bis zu den charakteristischen
Typen des Siechthums eine fortlaufende Reihe sich herausstellt,
greift auch noch vielfach ein gegensätzliches Verhalten innerhalb
dieser Reihe Platz.
Zunächst ist eine Zahl von prägnanten Fällen abzusondern, wo der
fortschreitende Verfall des Ernährungszustandes von Anfang an hauptsäch-
lich den Eiweissbestand (die Musculatur) betrifft, Fälle, in welchen bei sehr
gut erhaltenem Panniculus adiposus das Muskelvolum und die Muskelkraft
rasch abnehmen.
Ferner markirt sich ein gegensätzliches Verhalten dadurch, dass in
einer bestimmten Zahl von Fällen, nachdem reichliche Säfteverluste (Er-
brechen, Diarrhoeen u. s. w.) vorausgegangen, eine Exsiccation der ver-
schiedenen Gewebe eintritt. Dann wird die welke Haut gleichsam zu weit
für die gleichfalls stark geschwundenen Muskeln. Die Haut legt sich in
Falten, bildet Runzeln, aufgehobene Falten der Haut bleiben stehen. Dass
dann auch die übrigen Gewebe eine analoge Veränderung angenommen haben,
beweist ein einfacher Trinkversuch. Führt man derartigen Kranken, deren
Körper lange Zeit hindurch grosse Wasserverluste ertragen, beispielsweise zwei
Liter Flüssigkeit per os oder subcutan zu, so erscheint das ganze Flüssigkeits-
guantum nach relativ kurzer Zeit wieder im Harn. Die Gewebe halten
trotz ihrer Eintrocknung nichts zurück, sie haben das Vermögen der
Quellung eingebüsst. In einer andern Gruppe von Fällen erscheint im
(Jegentheil unter dem Einflüsse der Hydrämie, der Paresis cordis und
anderer Umstände die Parenchymflüssigkeit im Ganzen und auch in der
Haut vermehrt, so dass das bekannte gedunsene Aussehen entsteht. Von
einem solchen Verhalten bis zum hochgradigen universellen Hydrops cachec-
ticorum besteht nun wiederum eine ununterbrochene Reihe.
Das Vage des vorstehend geschilderten Symptomenbildes und die
angeführten gegensätzlichen Typen gestatten uns jedoch nicht, die Objecte
zu ignoriren. Und da wir jetzt wenigstens theilweise darüber aufgeklärt
sind, worauf im Wesentlichen die mangelhafte Ernährung der an Siech-
thum leidenden Kranken beruht, dürfen wir von den mannigfaltigen
entfernteren Ursachen, die früher in einer Darstellung der Cachexie
den wichtigsten Platz einnehmen mussten, abstrahiren und das Krank-
heitsbild hinsichtlich seiner Charaktere und Pathogenese
selbstständig betrachten.
Wir können dabei von dem ausgehen, w^as auch schon den älteren Aerzten
völlig klar war: der cachectische Zustand, mag er in weiterer Instanz
selbst im einzelnen Falle von verschiedenen und mehrfachen Ursachen
abhängen, ist eine bestimmte Mangelhaftigkeit der Nutrition, die als Hypo-
trophie bezeichnet werden kann. Man hat sich hier bisher weniger an den
zu Grunde liegenden P r o c e s s als an das Resultat gehalten. Für einzelne
Körpertheile läuft dieses Resultat auf das hinaus, was man seit alter Zeit
in der Pathologie als Atrophie zusammenzufassen pflegt. Zur Erweiterung
der einschlägigen Vorstellungen darf man nun an eine gleichfalls alte
Vorstellung, diejenige der „Constitution" anknüpfen. Mit letzterem Begriffe
versuchen wir die histioide und chemische Beschaffenheit und die Art
des Functionirens der Theile des Organismus als eines geordnet zu-
sammenhängendenSystems zu betrachten. Merkmal der Constitutions-
anomalien, soweit dieselben eine Reihenfolge von pathologischem Geschehen
CACHEXIE. 241
verursachen, wird sein, dass viele oder nur eine Zahl besonders wichtiger
Organe abnorm functioniren, sei es nun, dass dieselben grob nachweisliche
Abweichungen aufweisen oder dass Läsionen der Structur anscheinend
fehlen und nicht einmal ein bestimmtes Einzelorgan als Krankheitsherd
sich erweist. In diesem Sinne kann man nun auch von Constitution eilen
Hypotrophien sprechen.
Für die Entwicklung des letzten Resultates, der Verminderung des
Umfanges zahlreicher Körpertheile, kommen, allgemein betrachtet, numerische
Abnahme der Elemente (Hypoplasie), mangelhafte Evolution (z. B. Rhachitis)
und einfacher Schwund der anatomischen Theile in Frage. Nur die letzt-
erwähnten Krankheitsformen interessiren uns an dieser Stelle.
Schon die Chemiater haben die Atrophie in zwei Unterabtheilungen
gesondert, je nachdem das Schwinden hauptsächlich das Fett (Marcor) oder
die Muskeln, das Körpereiweiss {Tabes) trifft. Wenn man berücksichtigt,
was neueren chemischen und physiologischen Arbeiten hinsichtlich der
Pathogenese einschlägiger Nutritionsstörungen zu danken ist, kann man
diesen alten klinischen Vorstellungen eine exacte Grundlage verschaffen.
Man gelangt nämlich dazu, einschlägige pathologische Nutritions-
störungen richtig abzuschätzen, wenn man den heutzutage auch hinsichtlich
des menschlichen Organismus ziemlich ausreichend charakterisirten Zustand
der chronischen Inanition zum Vergleich heranzieht. Es ist dies
jener Zustand, welcher eintritt, wenn dem Körper durch Wochen und
Monate Nahrungsstoffe nur in ungenügender Menge einverleibt, be-
ziehungsweise zunutze gemacht werden.
Zur Erhaltung des KörperLestandes bedarf es bekanntlich gewisser
Mengen von Nahriingsstoffen. Für die Berechnung des Nahrungsquantums bedient man
sich als einheitliches Mass der Wärmemengen in Calorien, welche bei der Zersetzung
der verschiedenen einzelnen Nahrungsstoffe entwickelt werden; man spricht dann schlecht-
weg von einem täglich enGesammtcalorienbediirfnis. Dabei ist es aber erfahrungs-
gemäss unbedingt nothwendig, zu beachten, dass die Vertretung der verschiedenen
wichtigsten Nahrungsstoffe {Eiweiss, Fett, Kohlenhydrate) unter einander ihrem Calorien-
werthe entsprechend nur innerhalb gewisser Grenzen möglich ist. Eine bestimmte minimal?
Menge Eiweiss (Erhaltungseiweiss), welche durch Fett oder Kohlenhydrate unter
keiner Bedingung substituirbar ist, muss dem Organismus immer zugeführt werden. Man
hat die untere Grenze der Eiweisszufuhr, bei welcher noch Stickstoffgleichgewicht be-
hauptet werden kann, für den gesunden erwachsenen Menschen auf etwa 30 g pro die
geschätzt. Die Grösse der absolut nöthigen Eiweissmenge ist übrigens unter normalen
und pathologischen Bedingungen schwankend. Wird bei ausreichender Gesammtcalorien-
menge eben noch das Erhaltungseiweiss mit gereicht, so wird nicht mehr Stickstoff im
Harn ausgeschieden, als in der Nahrung enthalten ist (Stickstoffgleic hgew icht).
Wenn die Gesammtcalorienmenge der Nahrung nicht ausreicht oder wenn bei aus-
reichender Gesammtcalorienmenge zu wenig Eiweiss verabreicht wird, so erscheint mehr
Stickstoff im Harn, als die Nahrung enthielt.
Jener Zustand von chronischer Inanition nun kommt schon bei sonst
gesunden Individuen zu Stande, wenn z.B. durch längere Zeit abso-
lut zu wenig genossen wird oder wenn bei sonst ausreichendem Kostmass
unverhältnismässig starke Muskelanstrengungen geleistet werden. Unter
pathologischen Verhältnissen stellen z. B. Individuen mit narbiger
Oesophagusstenose den Typus der chronischen Inanition viel prägnanter dar.
Bei solchen Kranken mit langsam progredirender Störung der Nutrition
bis zu schliesslicher voller Carenz wollte man nun zunächst die Erfahrung
gemacht haben, dass das Gesammtcalorienbedürfnis herunter regulirt sei.
Doch sind die einschlägigen Angaben zahlenmässig nicht sehr verlässlich,
Normalwerthe der Sauerstoifzehrung, welche ich selbst mit der Methode
von ZuNTz für Menschen, die an hier in Betracht kommenden Krankheiten
litten, ermittelt habe, sprechen nicht dafür, dass unter dem Einfluss der
Krankheit weniger Stoff verbraucht wird als in der Norm. Fest steht
BüdI. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. 16
242 CACHEXIE.
es dagegen, dass der Organismus unter derartigen patho-
logischen Bedingungen mit seinem Ei weiss ausserordent-
lich sparen lernt. Die Erhaltungsmenge des Eiweiss wird sehr erheblich
reducirt (auf 5 gm N pro die). Bei Caloriendeficit schmelzt der sonst gesunde
Organismus erfahrungsgemäss vor Allem Körperfett, nur zu einem relativ
kleinen Theil auch Eiweiss ein. Trotz der erwähnten Verminderung des Ei-
"weissstoffwechsels, welche die chronische Inanition begleitet, kann aber bei
Fortdauer des Zj.istandes das Deficit an Zersetzungsmaterial nicht mehr aus-
schliesslich durch Körper fett gedeckt werden, es wird allmälig auch Organ-
eiweiss abgeschmolzen. Zum Marcor gesellt sich also auch Muskelschwund
und Muskelschwäche. Allerdings bleibt der Marcor das Vorwiegende. Ver-
luste des Körpergewichtes um 30 Procent des ursprünglichen Bestandes
und mehr sind unter solchen Verhältnissen beobachtet.
Von naheliegendem Interesse wäre es, noch den Einfluss einfacher chro-
nischer Inanition auf die Zusammensetzungdes Blutes genauer festzu-
stellen. Hinsichtlich des Menschen kann nach dieser Richtung blos angeführt
werden, dass die Blutdichte sich in der Nähe der Norm hält und die Zahl der
rothen Blutkörperchen, sowie der Hämoglobingehalt nur massig absinken.
Wahrscheinlich wird die Gesammtblutmenge in vergleichbarer Weise redu-
cirt wie Fett und Muskelfleisch, ohne dass Hydraemie sich einstellt. Die
Zahl der Leucocyten im Blute ist gewöhnlich absolut und relativ verringert.
Die Alkalescenz des Blutes ändert sich höchstens unbedeutend. Eine gewisse
Bedeutung ist schliesslich der inanitiellen Acetonurie, Diaceturie und Oxy-
buttersäureausscheidung nicht abzusprechen.
Je nachdem sichnundieprogressivenconstitutionellen
Hypotrophien inHin sieht der Pathogenese und des sympto-
matischen Verhaltens einfach dem Zustande der chronischen
Inanition an die Seite stellen lassen oder wesentliche Ab-
weichungen davon bieten, kann man dieselben in zwei auch
klinisch auseinander zu haltende Gruppen sondern, welche
prognostisch verschieden beurtheilt werden müssen und der Ernährungs-
therapie verschiedene Aufgaben stellen.
Bei beiden Gruppen der Nutritionsstörung kann die Abmagerung gleich
erschreckende Grade erreichen. Die Unterscheidung beruht vielmehr darauf,
ob zum Fettschwunde nur der mangelhaften Ernährung correspondirende also
eigentlich physiologische Eiweissverluste sich hinzugesellen, oder
ob noch andere Ursachen mitwirken, den Eiweissbestand
ganz speciell herabzusetzen. In der zweitangeführten Reihe von
Fällen führt der Harn nicht blos Stickstoff, dessen Menge abhängig ist von
der Ernährung, sondern auch iioch solchen, welcher dem pathologischen
Gewebszerfall entspricht.
Die Abstinenz der psychisch Kranken, die chronischen Magen-Darm-
krankheiten, die Pancreasaffectionen, der Icterus, aber auch der Diabetes
führen ein Siechthum herbei, welches der ersten Gruppe der constitu-
tionellen Hypotrophie einzureihen ist.
Wie verschieden auch die chronischen Magendarmkrankheiten den
Körperbestand, einzeln betrachtet, gefährden, ist es doch leicht begreiflich,
dass es hier immer auf ein Nichtgedecktsein des Calorienbe-
dürfnisses durch die Nahrung ankommen wird! Am meisten ge-
schädigt wird auf diese Weise der Fett-Eiweissbestand des Körpers bei
nervöser Dyspepsie^ Gastritis glandularis chronica, Ulcus ventricidi, Gastrectasie
mit Hypersecretion und chronischen ulcerösen Enteritiden.
Complicirter erscheinen bei oberflächlicher Betrachtung die Verhält-
nisse beim Diabetes mellitus. Bei den schweren Formen dieser Erkrankung
CACHEXIE. 243
pflegt die Eiweisszersetzung eine absolut sehr hohe zu sein : ein Stickstoff-
gehalt von 40 f/ im Tagesharn ist nichts Ungewöhnliches. So hohe Werthe
erreicht nun die Stickstoffausscheidung schon deswegen, weil die Diabetiker
mehr Fleisch essen als Gesunde. Das erhebliche Plus von Eiweiss jedoch,
welches ein derartiger Kranker im Vergleich mit einem gesunden Menschen
bei derselben Kost umsetzt, rührt nach Massgabe genauer Versuche fast
ausschliesslich von der Beschränkung der Zuckerverbrennung
im diabetischen Organismus her. Der Diabetiker scheidet einen grossen Theil
der circulirenden Kohlenhydrate ungenützt aus. Das ist gerade so viel,
als ob die mit dem Harn verlorenen Kohlenhydrate gleich von der Nahrung
abgezogen wären. Das Resultat ist (chronische) Inanition. Die Eiweissver-
luste, welche der Zuckerharnruhrkranke auf diese Weise erfährt, sind, wie
quantitativ bedeutend sie sich auch darstellen mögen, in dem mehrfach
erwähnten Sinne als physiologische zu bezeichnen. Sie sind nur eine un-
mittelbare Consequenz der Glykurie und des hievon abhängigen Calorien-
deficites. Erst wenn eine im spätem Verlauf der Zuckerharnruhr häufige
Complication, die Säureautointoxication, sich hinzugesellt, kommt auch eine
eigentlich pathologische Eiweisszersetzung dazu. Solche Diabetiker verlieren
noch Stickstoff', wenn ihre Nahrung abzüglich des Harnzuckers die normalen
40 Galerien per Kilo ausmacht.
Die Folgen der vorstehend angeführten Krankheitsprocesse sind auch
sonst der chronischen Inanition analog.
Die verschiedenen febrilen Infede, gewisse Vergiftungen (z. B. mit
Phosphor) und Äutointoxkationen (Conia der Diabetiker), die Anaemia gravis
und die Leiikaemie, sowie insbesondere der Krel)s (ohne Rücksicht auf seine
Local sation) verursachen dagegen eine Aeuderung der früher dargelegten
Gesetze des Stickstoffgleichgewichtes bei genügender Zufuhr im directen
Sinne stärkeren Umsatzes. Es findet gegenüber gesunden Menschen unter
gleichen Bedingungen eine oft hochgradig gesteigerte Eiweiss-
zersetzung statt.
Die Phosphorvergiftung, welche bei hungernden Hunden eine
höchst bedeutende Zunahme des Eiweisszerfalles hervorruft und ebenso
die febrile Steigerung des Stickstoffumsatzes sind zum Paradigma ein-
schlägiger Ernährungsstörungen überhaupt und zur Veranlassung geworden,
in einschlägigen Fällen von einem t o x o g e n e n Eiweisszerfall zusprechen.
Bei den febrilen Infecten denkt man an lösliche Gifte, welche
durch Wechselwirkung der pathogenen Mikroorganismen und der Körper-
substanzen entstehen und auf das Protoplasma necrosirend wirken. Die
gesammte Stoffzersetzung (Oxydationen) sind, wie ich selbst durch Bestim-
mung der Sauerstoffzehrung bei zahlreichen Fieberkranken nachweisen
konnte, hiebei nicht wesentlich erhöht. Nur im Material, welches der infi-
cirte Organismus umsetzt, sind Verschiebungen eingetreten : die Kranken
verbrauchen über das Nahrungs- auch eigenes Muskel- und Drüseneiweiss.
So einfach, dass ein Fieberkranker, bei gleicher Ernährung gleichzeitig
mit einem gesunden Menschen einer Stoffwechseluntersuchung unterzogen,
am Schlüsse relativ ärmer an Eiweiss, dagegen reicher an Fett sich heraus-
stellen würde, liegen die Verhältnisse aber natürlich nicht. Es macht sich
leicht begreiflicher Weise auch hier gleichzeitig immer die Inanition geltend,
mehr bei länger dauernden als bei ganz acuten Infecten. Auf diese Weise
müssen die Fieberkranken schliesslich auch fettärmer werden, und die
febrile Consumption läuft schliesslich ebenso auf Fett- wie auf Eiweiss-
schwund hinaus.
Es braucht wohl kaum besonders hervorgehoben zu werden, dass
auch bei der Krebskrankheit der Einfluss der chronischen Inanition
16*
244 CACHEXIE.
sich wird geltend machen können oder müssen. Wie aber schon aus der
Symptomatologie der Carcinomcachexie hervorgeht, eilt der Muskel-
schwund hier dem Mar cor oft voraus. Mit noch reichlichem Fett-
polster versehene Krebskranke zeigen sonst schon den Habitus cachecticus und
exquisite Muskelschwäche. Schon in Frühstadien des Krebsleidens, unabhängig
vom Sitze des primären Carcinoms, stellt es sich dann heraus, dass die Kranken
trotz reichlicher Nahrung (ausreichende Calorienzufuhr), trotz annähernd
normaler Eesorptionsbedingungen in den ersten Wegen und besonders trotz
genügenden Eiweissgehaltes der Nährstoffe dennoch Stickstoff aus dem
eigenen Körper abgeben. Auch die immer weitere Steigerung der
Stickstoff zufuhr ändert dies nicht, die Stickstoffausfuhr
überschreitet die Zufuhr. Entgegen dem mangelhaft • ernährten
Gesunden, welcher, wie wir sahen, vorzugsweise Fett abschmilzt, geht es
hier au das Muskel- (und Drüsen-)eiweiss.
Entsprechend dem abweichenden Typus der Nutritionsstörung stellt
sich bei den progressiven Hypotrophien der zweiten Gruppe auch die
Blutbe schaff enheit wesentlich anders dar. Charakteristisch sind Hydraemie,
Anaemie und Mangel an regenerativen Bestrebungen. Das Sinken der
Alkalescenz und die Vermehrung des Zuckergehaltes kommt vor allem
für diese Formen des Siechthums zur Geltung.
Die Gründe, welche auch beim Krebs die Annahme eines toxischen
Eiweisszerfalles nahelegen, sind folgende. Schon der Umstand, dass der
Stickstoffumsatz der Carcinomkranken nicht blos vom augenblicklichen
Körperbestand und nicht von der Eiweisszufuhr allein abhängt, zwingt,
einen anderweitigen, speciellen Factor in Erwägung zu ziehen. Die Analogie
dieser Stoffwechselanomalie mit bestimmten Vergiftungsbildern (Phosphor-
intoxication) ist ferner eine in die Augen springende. Ebenso, wie bei der Phos-
phorvergiftung und bei den bacteritischen Infecten zum gesteigerten Eiweiss-
zerfall chronische oder paroxysmale Säureintoxication sich hinzugesellt,
geschieht dies auch hier. Dieselben Säuren stehen bei den Krebskranken
im Chemismus der Autointoxication, und die Intensität der letzteren erreicht
nicht so selten Grade, dass Coma und rascher Exitus letalis den Beschluss
bilden. Und endlich hat sich bei directen Versuchen das Blutserum von
Krebskranken insofern giftig erwiesen, als es bei intravenöser Injection
den Eiweisszerfall der Versuchsthiere nicht unerheblich mehr steigert, als
normales Serum in denselben Quantitäten. Ob das fragliche Gift (das
„pathologische Histozijm") aus dem Carcinom selbst stammt, ist von neben-
sächlicher Bedeutung.
Da bei manchen Nervenkrankheiten (Morbus Basedow) und
gewissen, der Aetiologie nach schwer zu deutenden Affectionen (M. Addisonii)
bisweilen eine ähnliche Nutritionsstörung beobachtet werden konnte, hat
man auch die Hypothese eines nervösen Einflusses auf den Eiweissstoff-
wechsel heranziehen wollen, vorläufig jedoch nur mit schwacher Begründung.
Für die dif f er entielle Diagnose der beiden Hauptgruppen von
progressiver constitutioneller Hypotrophie reichen die allergewöhulichsten
klinischen Mittel allerdings nicht aus. Entsprechende Nahrungszufuhr und
annähernd normale Ausnützung der Nahrun gsstoft'e vorausgesetzt, wird wohl
die Wage am Schluss einer längeren Beobachtung entscheiden lassen, ob
ein specieller pathologischer Factor die Ursache des gesteigerten Eiweiss-
zerfalles ist. Aber ein ausreichendes Mass der hier in Betracht kommenden
Nutritionsstörungen ergibt sich aus systematischen Körperwägungen nicht
unmittelbar. Die Diagnose der ursächlichen Erkrankung reicht auch nicht
. aus für die Entscheidung, weil einerseits chronische Inanition und patho-
logischer (toxogener) Eiweisszerfall sich vielfach combiniren, und anderer-
CACHEXIE. 245
seits auch z. B. beim Carcinom in gewissen Stadien des Leidens und bei
bestimmter Localisation des Krankheitsherdes chronische Inanition allein
vorhanden sein kann.
Entscheidend ist hier blos der lege artis augestellte
Stoffwechselv ersuch.
Man wende nicht ein, dass der Stoff wechseLversu c h umständlich sei und
Laboratoriumsmittel und endlich geduldige Patienten voraussetze. Hinsichtlich der Kranken
wird es immer so sein, dass diese oft dem Arzte, und nicht selten, dass der Letztere den
Patienten in den Ansprüchen nicht genügt oder zu weit geht ! Die Umständlichkeit eines
Stoffwechselveisucbes darf nicht mit banalen Längenmassen geschätzt werden. Es wird
soviel unnütz untersucht an und hinter dem Krankenbett, dass man sich hier nicht
beschweren sollte. Wozu wird z. B. der Diabetikerharn fortwährend quantitativ auf seinen
Zuckergehalt geprüft? Was endlich die Laboratoriumsmittel anlangt, so kommt man ohne
dieselben und ohne — Arbeitstheilung heutzutage nicht weiter.
Die Prüfung der krankhaften Erhöhung des Eiweissumsatzes kann
in relativ einfacher Weise erfolgen, wenn der Kranke soweit der chronischen
Inanition verfallen ist, dass man ihm blos kleine Mengen Stickstoff armer
Flüssigkeiten (Thee, Kaffee, leere Suppe) zuführen kann, oder zuzuführen
braucht, um der Esslust zu genügen. Es braucht dann bei solchem Kost-
mass nur etwa drei Tage lang die tägliche Stickstotfmenge im Harn bestimmt
zu werden (vorausgesetzt, dass die Ausscheidung der stickstoffhaltigen
Eiweissderivate normal geschieht). Liegen die gefundenen Zahlen höher
als die bekannten Normalwerthe, ist der Schluss auf pathologische Steigerung
des Eiweisszerfalles schon gerechtfertigt.
Nährt sich das fragliche Individuum noch ausgiebiger, dann muss der
Stoffwechselverlust anders (umständlicher) angestellt werden. Es wird dann
dem Kranken das Erhaltungseiweiss in leicht assimilirbarer Form und das
Calorienbedürfnis ausreichend deckende sonstige Nahrung (im Betrage von
35 — 45 Calorien) zugeführt. Wird bei dieser Yersuchsanordnung nicht blos
in den ersten beiden Tagen, sondern noch nach 4, 5, G Tagen mehr
Stickstoff ausgeschieden als die Nahrung enthielt, so ist darauf zu schliessen,
dass pathologische Factoren den Eiweissumsatz erhöhen.
Die specielle Technik solcher Versuche ist gegenwärtig genau
ausgearbeitet und kann in dem besonderen Artikel ^^ Stoff wechselunter suchung^
dieses Sammelwerkes nachgelesen werden.
Die quantitativen Veränderungen des Stoffwechsels
bei den hier in Betracht kommenden Krankheiten äussern
sich hauptsächlich im Eiweissumsatz. Von der Messung der Ge-
sammtoxydationen durch den respiratorischen Gaswechsel (Bestimmung der
Sauerstoffzehrung), welche heutzutage sehr einfach durchgesetzt werden
könnte, ist nichts zu erwarten.
Die Bedeutung dieser Feststellung der Stoffwechselbilanzen liegt nicht
blos in der Unterscheidung der beiden Hauptgruppen der progressiven
Hypotrophien. Sie verschaffen uns ausserdem auch noch die Möglichkeit, die
Ernährung des Kranken genügend zu controliren und die Diät dem Um-
setzungszustande anzupassen. Dagegen wird wohl Niemand die
Diagnostik des Eiweissstoffwechsels etwa bei der Untersuchung benigner
Tumoren und carcinomatöser Neubildungen heranziehen wollen.
Es wurde schon früher hervorgehoben, dass die constitutionellen Hypo-
trophien, je nach dem sie sich dem Zustande der chronischen Inanition
einfach an die Seite stellen oder davon abweichen, auch prognostisch
sehr verschieden zu beurtheilen sind. Mag die Ursache der Erhöhung des
Eiweisszerfalles bei der Krebscachexie welche immer sein, die Thatsache,
dass das Vorhandensein einer vielleicht kleinen, ganz localen Neubildung
den Ernährungszustand des ganzen Körpers (Eiweissbestand von Muskeln
246 CACHEXIE.
und Drüsen) bis zum Tode progressiv herabsetzt, während eine gutartige
Neubildung von solchem Umfange, wie der schwangere Uterus und sein
Inhalt das Allgemeinbefinden nicht zu berühren braucht, rechtfertigt wohl
schon genügend diese Behauptung.
Wenn dagegen eine acute oder chronische Krankheit es einfach kürzere
oder auch längere Zeit unmöglich gemacht, die Stoffzersetzung mit der
Nahrung ins Gleichgewicht zu bringen, so dass der Körper zur Fortdauer
der vitalen Functionen eigene Substanz abschmelzen musste, ist erfahrungs-
gemäss der Organismus in der Reconvalescenz oft im Stande, selbst aus
solchen zugeführten Nahrungsmengen, bei denen ein wohl-
genährter Körper Eiweiss abgeben müsste, Stickstoff an-
zusetzen und für den Wiederaufbau von Geweben zu ver-
werthen. Hier machen die Zellen als Lebensherd ein Regenerations-
bestreben geltend, welches die sonstigen Gesetze der normalen Ernährung
durchbricht ; es wird Eiweiss angesetzt, ohne dass der Eiweissbestand vorher
schon ein reicher gewesen, und es kommt nicht sofort, wie in der Norm
zur Herstellung des Stickstoffgleichgewichtes! Dies gilt beispielsweise für
die Genesungsperiode nach Infectionskrankheiten und für Individuen, welche
in Folge von Oesophagusstenose und anologen Affectionen der chronischen
Inanition verfallen sind.
Erfahrungen wie diese ermuthigen uns sogar, den Eiweissbestand des
Diabetikers, welcher, wie wir sehen, einer analogen Nutritionsstörung unter-
liegt, zu schützen. Es wird auch hier eine Nahrung zusammen zu stellen
sein, welche so reich an Eiweiss und insbesonders an Fetten ist, dass
der Kranke seinen Ausgaben Genüge leistet.
Die vorstehenden Betrachtungen enthalten endlich auch wichtige
therapeutische Gesichtspunkte.
Bekanntlich gewinnt gegenwärtig die Anschauung immer mehr Raum,
dass die Therapie aller Zehrkrankheiten eine Ernährungstherapie sein
müsse. Nur Stoffwechseluutersuchungen wie die früher angeführten können
solchen therapeutischen Bemühungen eine exacte Basis verschaffen.
Die erste hier aufzustellende Frage lautet: lässt sich ein Weg finden,
wie den durch gesteigerten Eiweisszerfall charakterisirten progressiven
Hypotrophien (Krebscachexie) entgegen zu arbeiten wäre ? Die vorliegenden
Erfahrungen sprechen dafür, dass hier der fortschreitende Zerfall nicht
aufzuhalten ist. Es ist in einzelnen wenigen Fällen gelungen, bei Krebs-
kranken mit der charakteristischen Nutritionsstörung den gesteigerten Eiweiss-
zerfall durch hohe Fettgaben unter die Grenze der Norm herabzudrücken.
Aber es braucht wohl kaum hervorgehoben zu werden, dass eine Methode
einer derartigen internen Behandlung des Carcinoms durchaus nicht existirt
und kaum je Aussicht auf zahlreiche Erfolge hat.
Die praktische Chirurgie, die sich bisher um einschlägige Fragen
wenig kümmerte, findet in den mitgetheilten Thatsachen nur eine neue
Indication zum Eingreifen auch in solchen Fällen von Carninom, in denen
Recidiv und Metastasen sicher bevorstehen. Denn mit der Entfernung des
Krankheitsherdes ist doch wenigstens vorübergehend die Beseitigung der
perniciösesten Ursache der progressiven Abzehrung zu erhoffen.
Die Aufgaben einer rationellen Ernährungstherapie
beschränken sich also auf die Feststellung der Mittel,
welche der chronischen Inanition bei Krankheiten ent-
gegenwirken. Schon mit dem Postulat, der chronischen Inanition ent-
gegenzuarbeiten, scheint etwas gewonnen. Wenn z. B. die Nutritionsstörung
in einem Falle von Gastritis glandularis höhere Grade erreicht hat, wird
man endlich doch einmal aufhören, sich an das banale Schlagwort der
CARDIALGIE. 247
„Schonung" des kranken Organs zu klammern. Freilich bedarf es mancher
Arbeit, zu erforschen, wie unter den mannigfachen hier in Betracht kom-
menden pathologischen Verhältnissen die Nahrungsstoffe passend bemessen
und gemischt werden müssen, um der progressiven Hypotrophie ein Ziel zu
setzen und den WiederauiT3au der geschwundenen Gewebe zu ermöglichen. Die
medicinisrhe Praxis wird vor Allem bestrebt sein müssen, die Patienten dazu
zu bringen, dass sie genügende Mengen von Nährstoffen zuführen, trotz der
meist bestehenden Appetitstörung (vergi. ^^Ernährungstherapie'-'').
F. KRAUS.
CsrdiäiQie (Gastralgie, Gastrospasmus, Gastrodynie, Magenkrampf).
Man versteht unter Cardialgie anfallsweise auftretende heftige
Schmerzattaquen, die, im Epigastrium beginnend, nach den Hypochon-
drien, dem Kücken, Brust, selbst Armen ausstrahlen oder auch den ganzen
Unterleib umfassen und sich selbst bis in die Blase- und Genitalorgane hin
erstrecken können. Die Anfälle sind quantitativ verschieden hochgradig:
zwischen leichten, schnell vorübergehenden, krampfartigen Zusammen-
schnürungen bis zu den intensivsten mit tiefem Collaps einhergehenden
Spasmen finden sich zahllose Uebergänge. Die typischen Anfälle zeichnen
sich aber durch ein ausgeprägtes Ergriffensein des Gesammtorganismus,
durch Unfähigkeit zur Berufsarbeit, durch das Bedürfnis nach absoluter
körperlicher Ruhe aus. Die Anfälle zeigen bezüglich der Wiederholungen
gleichfalls die allergrössten Variationen.
Aetiologie. Unter den Ursachen der Gastralgieen sind zu er-
wähnen a) solche, welche vom Magen selbst oder dessen Umgebung aus-
gehen, b) centrale Erkrankungen, c) Infectionen, bezw. Intoxicationen,
d) Reflexe von anderen Organen aus.
Unter den vom Magen und dessen Umgebung ausgehenden Cardi-
algieen sind zu erwähnen : die bei Ulcus ventriculi chronicum beobachteten,
ferner die in Folge localer peritonitischer Adhäsionen (Perigastritis) sich
entwickelnden Spasmen, endlich Schmerzattaquen, die durch directen Druck
von Geschwülsten der Nachbarschaft (Leber, Pancreas, Darm) hervorgerufen
werden. Unter den centralen Erkrankungen ist in erster Reihe die Tabes
dorsalis zu nennen, bei welcher schon in früheren Stadien gastralgische
Anfälle beobachtet werden (Crises gastriques). Aber auch bei anderen Spinal-
und Cerebralleiden kommen gelegentlich Gastrodynieen vor. Von Infec-
tionen disponirt am häufigsten die Malaria zu Gastralgieen; von Intoxi-
cationen ist der Abusus von Nicotin als nicht seltene Veranlassung gastral-
gischer Anfälle zu erwähnen. Reflektorisch können Cardialgieen in erster
Linie durch Erkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane und deren
Adnexa ausgelöst werden, auch männliche Genitalleiden (Spermatorrhoe,
Peyer) geben bisweilen die Ursache gastrischer Schmerzparoxysmen ab.
Ferner können Nieren-Dislocationen, Hydronephrose, Descensus der Bauch-
eingeweide, Darmschmarotzer zu Schmerzattaquen in der Magengegend die
Veranlassung bieten.
Symptome. In den ausgeprägten Anfällen wird die Scene durch
gewisse prodromale Erscheinungen eingeleitet: Gefühl allgemeinen Unbe-
hagens, Stauung, Völle im Leibe bezw. in der Magengegend, Uebelkeit,
Zusammenlaufen von Wasser im Munde etc. Bald darauf beginnen die
eigentlichen Schmerzattaquen, die gradatim anwachsen^ sich über Brust,
Bauch und Rücken erstrecken und auf ihrem Höhepunkte das Allgemein-
befinden des Kranken tief lädiren (Collaps, Erbrechen, kühle Extremitäten,
kleiner, leicht unterdrückbarer Puls u. A.). Meist endigt der Anfall mit
Erbrechen, theils von Speisen, theils von Schleim bezw. Galle. Gelegentlich
erfolgt auch als Abschluss eines gastralgischen Anfalles eine copiöse Stuhl-
248 CARDIALGIE:
absetzung. Nach dem Anfall wird ein reichlicher, heller, dünner Urin ab-
gesondert (Urina spastica). Als Folge schwerer Anfälle beobachtet man
eine mehrtägige Mattigkeit sowie Schmerzhaftigkeit der Magen- und
Rückengegend.
Diagnose. Die Diagnose hat einmal die Aufgabe, den Anfall als
gastrischen festzustellen, dann womöglich die Ursache der Schmerzparo-
xysmen zu eruiren. Erst, wenn bei genauester Untersuchung eine sub-
stantielle Basis nicht zu finden ist, hat man das Recht, von idiopatischen
Cardialgieen zu sprechen. Die Diagnose des Anfalls ergibt sich aus dem
Symptomencomplex, dem plötzlichen Beginn, dem Ausgang vom Epigastrium,
der strahlenförmigen Ausbreitung nach dem Rücken, Brust, Armen, Hypo-
chondrien, Därmen zu, der ausgesprochenen Alteration des Allgemein-
befindens, dem Gefühle der Vernichtung u. A. Von objectiven Symptomen
wird dem gastralgischen Anfalle die Eigenschaft zugeschrieben, durch
manuellen Druck vermindert zu werden; sicherlich ist dieses Zeichen nur
in einer kleinen Minderzahl zu constatiren, im positiven Falle mag ihm
ein gewisser diagnostischer Werth zukommen. Dasselbe gilt von der
günstigen Beeinflussung des Anfalles durch Galvanisirung (Anode auf den
Schmerzpunkt, Kathode auf die Wirbelsäule).
D i f f e r e n t i a 1 d i a g n 0 s e. Es kommen im Wesentlichen in Betracht :
Darmkoliken, Cholelithiasis, Nierenkoliken, Ulcus ventriculi, Atrophie der
Magenschleimhaut, Intercostalneuralgieen.
Bei Darmkoliken ist der Leib mehr oder weniger stark aufge-
trieben, der Schmerzanfall entwickelt sich nicht am Epigastrium, sondern
tiefer, in der Nabelgegend; es gehen dauernde oder vorübergehende Un-
regelmässigkeiten der Stuhlentleerungen voraus.
Die Unterscheidung der Darmkoliken von Cholelithiasis ist in
typischen Fällen leicht und für letztere sprechen: die Lebervergrösserung
und Schmerzhaftigkeit besonders in der Gegend der vesica fellea (ver-
längerte ParaSternallinie). Ausser der genannten Schmerzhaftigkeit besteht
auch ein circumscripter Schmerzbezirk an der hinteren Leberfläche, etwas
rechts vom zwölften Brustwirbel. Ist Icterus vorhanden oder sind schon früher
Concremente gefunden und finden sich Temperatursteigerimgen, so kann
ein Zweifel überhaupt nicht walten. In wenigen typischen Fällen kann die
Diagnose lange Zeit schwanken. Hier muss nach jedem Anfalle gewissenhaft
nach Concrementen gefahndet werden. Für Cholelithiasis sprechen ferner:
der Beginn der Anfälle auf der rechten Seite, das häufige Auftreten
während der Nacht, der Zusammenhang der Anfälle mit Diätfehlern, end-
lich das Bestehen hartnäckiger Obstipation.
Die Unterscheidung der Gastralgieen und Nierenkoliken wird in der
Regel und in ausgesprochenen Fällen kaum auf Schwierigkeiten stossen,
dagegen können Nierenkoliken längere Zeit aus unklaren Symptomen einher-
gehen. Vor Irrthümern kann hier nur sorgfältige Analyse des Urins, be-
sonders das Fahnden auf Blut- oder Harn-Concremente nach den An-
fällen schützen.
Die Diö'erentialdiagnoso zwischen Cardialgieen und Ulcus ventri-
culi ist in typischen Fällen leicht. Der Eintritt der Schmerzparoxysmen
im Anschluss an die Speiseaufnahme, die Abhängigkeit der ersteren von
der Qualität und Quantität der Ingesta, endlich der charakteristische
Druckschmerz im Epigastrium oder Dorsum entscheiden die Diagnose
Ulcus ventriculi. Ist gar eine Magenblutung oder Meläna vorausgegangen,
so ist jede Verwechslung ausgeschlossen. In typischen Fällen kann die
Differentialdiagnose grossen Schwierigkeiten begegnen, namentlich wenn
epigastrische und dorsale Druckpunkte fehlen. In solchen Anfällen wird
CATARRHÜS AESTIVUS. 249
man nach v. Leube's Rath gut thiin, den Fall so wie ein chronisches
Magengeschwür (s. dieses) zu behandeln. Der günstige Effect würde a priori
für die Richtigkeit der Prämisse sprechen. Ebenso ist nach meiner Er-
fahrung die günstige Wirkung einer probeweise gegebenen Argenticum
nitricum-Lösung (0-3: l20 — 150, 3 Mal täglich 1 Esslölfel) für Ulcus und
gegen Cardialgie.
Die Difterentialdiagnose zwischen idiopathischen Cardialgieeu
und Schmerzparoxysmen bei Atrophie der Magenschleimhaut
(Änadenie, Phthisis mucosae ventriculi) kann nur auf Grund einer sorgfältigen
Mageninhaltsanalyse entschieden werden. Bei letzterer findet sich ausser
den bekannten Symptomen der chronischen Dyspepsie absoluter HCl- und
Enzymmangel, während bei Neurosen in der Regel der Chemismus dem
normalen Verhalten entspricht.
Gelegentlich können auch Intercostalneuralgien, cardialgische Anfälle
vortäuschen. Die Entscheidung beruht einmal auf der regionären Be-
grenzung des Schmerzanfalls, sodann auf der Druckempfindlichkeit der
betreffenden Nerven in ihrer ganzen Ausdehnung oder wenigstens ein-
zelner Punkte.
Therapie: Die erste Bedingung einer rationellen Behandlung der
Cardialgieeu besteht in der Erforschung eines etwa zu Grunde liegenden
Leidens, namentlich verdienen bei Frauen, wie erwähnt, der Genital-
apparat und die Nieren, bei Männern besonders die Centralorgane ein-
gehende Untersuchung. Findet man eine palpable Grundlage nicht, so hat
man trotzdem noch kein Recht, die Anfälle als rein „nervöse" anzusprechen,
eine gewisse Reserve des Urtheils ist hier ausserordentlich angebracht.
Inzwischen begnüge man sich mit einer symptomatischen Behandlung. Von
äusseren Mitteln kommen in Betracht: heisse Aufschläge (Filzschwamm,
Hafer, Leinsamenmehl) oder Sinapismen, auch Einreibungen mit Chloro-
formöl {Chloroformü, Ol. Hyosciiami aa. 25*0) pflegen fast immer sedativ
zu wirken. Hat man einen constanten Apparat zur Ha,nd, so kann man die
Anwendung des galvanischen Stromes nach v. Leube's Rath ver-
suchen. V. Leube applicirt einen Strom von 10 — 50 Elementen 5 — 10 Min.
lang und setzt die Anode auf die schmerzhafte Stelle im Epigastrium, die
Kathode in die linke Axillarlinie oder in die Nähe der Wirbelsäule. Bei
heftigem und schweren Ergriff'ensein des Allgemeinbefindens, einhergehenden
Schmerzparoxysmen ist die subcutane Anwendung von Morphium oder
Codein jeder anderen Behandlung vorzuziehen. In leichteren Fällen kann
man auch Morphium oder Codein innerlich oder in Form von Suppositorien
darreichen. In einzelnen Fällen, speciell solchen auf nervöser Basis, sind
die eigentlichen Nervina: AnUpijrin, Plienacetin, Exalgin, am besten in
Verbindung mit kleinen Dosen Morphium' oder Codein, am geeignetsten.
Bei Malaria-Card ialgieen ist das Chinin in dreisten Gaben (2 Mal
täglich 1-0) zu reichen. Von leichter einwirkenden Mitteln sind die Tina.
Valerian. aether., der Spirit. aethereus oder Aether sulfiur. in Tropfenform vor
der Anwendung von Opiaten immerhin eines Versuches werth. boas.
CatarrhuS aeStiVUS {Sommerkatarrh, Frilhsommerhatarrh, Heufieber,
Heuasthma) ist eine am europäischen Continent ziemlich seltene Krankheits-
form, welche aber in England und Amerika viel häufiger vorkommt und daher
gewöhnlich mit seinem englischen l^&meii Haijfever oder Hayasthma in der Lite-
ratur bezeichnet wird. Dieses Leiden befällt meistens jüngere Individuen,
und zwar besonders Männer bis zum 30. Lebensjahre, später entwickelt
sich die Krankheit nicht mehr. Bei Kindern kommt der Sommerkatarrh
selten vor. Stadtbewohner und besser situirte Leute disponiren bei Weitem
250 CATARRHUS AESTIVüS.
mehr zu dieser Krankheit, und oft lässt sich eine persönliche oder heredi-
täre Disposition zu nervösen Affectionen oder asthmatischen Zuständen bei
solchen Kranken nachweisen. Die Sommermonate von Mai bis Juli bilden
ihre Hauptsaison; in den meisten Fällen lässt sich eine unmittelbar dem
Ausbruch des Anfalles vorausgegangene Einathmung der Ausdünstungen der
Getreidefelder nachweisen. Viele Beobachtungen weisen darauf hin, dass
die eingeathmeten Pollenkörner den Sommerkatarrh hervorrufen, man hat
die Pollen direct im Secret der Nase und der Luftwege nachgewiesen, auch
hat Blakley durch experimentelle Einbringung dieser Körner auf die
Nasenschleimhaut den Anfall erzeugt. Dieser Versuch gelingt aber nur bei
solchen, die überhaupt zu dieser Atfection disponiren.
Man beschuldigt am meisten die Gramineen, und thatsächlich fällt die Mehrzahl
der Erkrankungen auf ihre Blüthezeit. In Amerika blüht die Ambrosia artemisiaefolia^
welche in Europa nicht einheimisch ist, im August und September und verursacht dort
in diesen Monaten viele Beschwerden den von Natur aus disponirten Amerikanern. Ausser
diesen Pflanzen hat man in einzelnen Fällen auch andere beobachtet, so bekam Bkottssais
den Sommerkatarrh nach der Einathmung des Rosenduftes, während v. Helmholtz in
seinem Nasensecrete Micrococcen aufzufinden glaubte. Symptomatologisch differirt aber
diese Krankheitsform gar nicht von jenen Asthmaformen, welche durch Einathmung von
Ipecacuanha und Lycopodiumiyulver bei gerade dazu Disponirten auftreten, noch von den
Fällen, wo der asthmatische Anfall durch Einathmung der Ausdünstungen von Gruben,
neuen Mauern, nassem Gyps (bei den betreffenden Professionisten) oder von der schwefligen
Säure, der nehligen Luft erzeugt wird. Nachdem aber alle diese Stoffe diesen Effect nur
bei vereinzelten Individuen haben, und selbst bei diesen nicht alle, sondern nur einzelne
wirksam sind, so muss man diese Wirkung als eine Art von Idiosynkrasie der
Athmungsorgane auffassen, ebenso wie im Wege der Verdauungsorgane Krebse, Erd-
beeren etc. bei einzelnen Menschen Urticaria hervorrufen.
Die Symptome des Sommerkatarrhs erscheinen in zwei Arten, welche
von MoEREL Mackenzie als katarrhalischer und asthmatischer Typus ge-
sondert worden sind. Die erstere (Haijfever) entspricht dem Bilde eines
äusserst heftigen Schnupfens : häufiges Niesen, Schwellung der Nasenschleim-
haut, vermehrte Secretion. Dabei können selbst leichtere Fiebererschei-
nungen auftreten, bald breitet sich der katarrhalische Zustand auf die Con-
junctiva der Augen aus, es zeigt sich eine starke Conjunctivitis mit Oedem
der Augenlider. Oft wandern diese Zustände in den Schlund und selbst in
den Larynx, die Trachea und grösseren Bronchien hinunter. Als Compli-
cation zeigen sich manchmal Erytheme und Urticaria. Der Verlauf dieser
Form zieht sich oft auf längere Zeit hinaus, die Krankheit kann selbst
mehrere Wochen und Monate dauern, obzwar sie in vielen Fällen binnen
einigen Tagen endet. Recidive treten, sobald sich die Ursache erneuert,
prompt ein. Die asthmatische Form {Hayasthma) entspricht vollkommen
einem Anfalle von sogenanntem Asthma bronchiale seu nervosum und com-
plicirt sich häufig oder wechselt ab mit Herpes labialis, Urticaria cutis.
Diese Anfälle können auch entweder kurzdauernde sein, oder sie verlängern
sich in variabler Intensität durch mehrere Wochen.
Diese scheinbar sehr differenteu Typen des Sommerkatarrhs zeigen oft Uebergangs-
formen, was umso leichter zu verstehen ist, als man eigentlich den Asthmaanfall auch
als eine acute Anschwellung der Schleimhaut der feineren und feinsten Bronchien auf-
fassen muss (trotz der sehr geistreich ausgedachten Bronchialmuskelkrampftheorien) und
somit kein principieller Unterschied zwischen den katarrhalischen Erscheinungen der
oberen Luftwege und denen der vielleicht weniger secernirenden tieferen besteht. Alles,
was ich über diesen Zustand beobachtet habe, und ich habe zufällig eine ziemlich reiche
Erfahrung sammeln können, scheint mir zu beweisen, dass diese Schwellung der Schleim-
häute em Analogon zur Urticaria der Haut bildet, wie das schon von älteren Autoren
ermittelt wurde. So kann man das häufige Auftreten von Nesselsucht bei Asthmakranken
verstehen, umso mehr, da beide Affectionen durch gewisse idiosynkrasische Ursachen her-
vorgebracht werden.
Die 0 b j e c t i V e U n t e r s u c h u n g ergibt entweder die Symptome des
Katarrhs der oberen Luftwege oder die Zeichen der erschwerten Athmung
CEREBROSPINALMENINGITIS. 251
nebst schnurrenden und pfeifenden Geräuschen über den Lungen. Im ersteren
Fall kann man im Secrete der Nase, in der Thränenflüssigkeit nach Pfuhl
die Pollen theils unversehrt, theils gequollen und zerplatzt, in ganz kleine,
oft lebhafte Bewegungen zeigende Körnchen zerfallen nachweisen ; in
letzterem Fall hat man im Sputum die CHARCOT-LEYDEN'sche Asthma-
krystalle nachgewiesen. Die Diagnose ergibt sich neben den erwähnten
Symptomen aus dem Nachweise der Ursachen, sie wird besonders bei Re-
cidiven dadurch sehr erleichtert. Die Prognose ist quoad vitam gut, in-
sofern aber, dass Recidiven sehr leicht auftreten, ziemlich ungünstig, da
die betreffende Disposition gewöhnlich sehr lange besteht.
Die Therapie sollte in erster Pteihe gegen die Wiederkehr der
Anfälle gerichtet werden, was man durch Fernbleiben von Getreidefeldern
nur sehr schwer erreichen kann, da die Pollen während der Blüthenzeit
in der Luft sehr verbreitet sind. Das beste Ptesultat ergibt ein Aufenthalt
an der Seeküste oder in nicht bebauten, höheren Gebirgsorten, obzwar
diese letzteren oft von Asthmatikern nicht gut vertragen werden. Kann der
Patient seinen "Wohnort nicht verlassen, so könnte man einen Versuch mit
dem Respirator von Blackley anstellen oder probeweise Jodkalium oder
Belladonna nehmen lassen, welche manchen Kranken grosse Erleichterung
verschaffen. Bei der mehr katarrhalischen Form rühmt v. Helmholtz die
an sich selbst erprobte Lösuog von Chininum sulf. (1 : 740), mit welcher
täglich öfters die Nasenhöhle ausgespritzt werden soll. Eichhorst empfiehlt
folgendes Schnupfpulver: Calomel. Almnin. aa 3 0, Morph. hydrocMor.
0'3 ; täglich dreimal einen linsengrossen Theil auf zuschnupf en. Ich möchte
noch die Arsenwässer (und besonders Roncegno) anempfehlen. Natürlich
wird man, wo es nöthig, allgemein tonisirende Curen einleiten; in den
Fällen endlich, wo man ausgesprochene (!) krankhafte Zustände im
Nasenrachenraum constatirt, eine angemessene locale Behandlung eintreten
lassen. e. jendrässik.
CerebrOSpinalmeningitiS {Epidemische Genickstarre) ist eine Infec-
tionskrankheit, über welche nur aus unserem Jahrhundert Berichte existiren.
Die Epidemien treten gewöhnlich blos in einzelnen Orten, nicht über
grössere Territorien (grosse Länder oder Welttheile) ausgedehnt auf, oft
haben sie einen endemischen Charakter und localisiren sich in einigen
Strassen, Häusern. Besonders häufig wurden in Kasernen solche Endemien
gesehen, welche allerdings bei Dislocation der Truppen dieselben weiter
begleiteten; somit muss angenommen werden, dass das Virus nicht so sehr
an der Kaserne als an deren Bewohnern haftet. Die Jahreszeit scheint
auch einigen Einfluss auf das Auftreten dieser Krankheit zu haben, die
meisten Fälle kommen in den kälteren Monaten, besonders im März,
April vor, während die heissen Sommermonate gewöhnlich die Epidemien
beenden, indessen hat diese Regel auch ihre Ausnahmen. Die Anzahl der
Erkrankungen in den einzelnen Epidemien ist sehr verschieden, gewöhn-
lich sind die Fälle nicht sehr zahlreich, und die Epidemie zieht sich in
sporadischen Fällen oft über längere Zeit hinaus. Die Erfahrung scheint
ganz entschieden gegen einen direct von Menscheii auf Menschen über-
tragbaren Ansteckungsstoff zu sprechen, und so könnte man von einem mias-
matischen Ursprung dieser Krankheit reden, wenn man nur durch diese
Benennung etwas Thatsächliches angeben könnte. Am meisten werden von
dieser Epidemie Kinder betroffen, und zwar liefern das grösste Contingeut
Kinder bis zum ersten Lebensjahre, dann kommen die Kinder von 1 — 4 Jahren,
von diesem Alter an wird die Empfänglichkeit immer geringer; über dem
30. — 40. Jahre ist sie so gut wie erloschen. Wie die meisten Epidemien
252 CEREBROSPINALMENINGITIS.
nistet sich auch diese in die unhygienischen Stätten der Armut hein, wählt
aber ihre Opfer unter den blühendsten, scheinbar gesündesten Kindern
und jungen Leuten. Was die eigentliche Art der Infection betrifft, so
sind unsere diesbezüglichen Kenntnisse noch äusserst lückenhaft, wir wissen
nicht, wo sich das Virus ausser dem Körper aufhält, und nicht wie es in den
Körper gelangt. Für die erstere Frage ist es von Bedeutung, dass sich die
Epidemie auf einzelne Häuser und Stadttheile beschränkt; diese sind jedoch
nicht immer die am schlechtesten gelegenen, es scheint vielmehr, dass,
wenn einzelne Stellen inficirt werden, diese Infection nicht von der Be-
schaffenheit des Bodens, des Wassers etc. abhängt, sondern blos dem Zufall
zugeschrieben werden muss.
Ebenso kennen wir keine persönlichen prädisponirenden Momente,
und jene einzelnen Fälle, wo Traumen oder Erkältung dem Ausbruch der
Krankheit vorangegangen sind, kann man nicht für einen causalen Zu-
sammenhang verwerthen. Während einer Cerebrospinalmeningitis-Epidemie
herrschen auch häufig andere Infectiouskrankheiten, namentlich die Pneu-
monie, Abdomiualtyphus, Eecurrens, Parotitis, acute Exantheme, was also
nur einen starken Genius epidemicus — der Entwicklung infectiöser
Krankheiten günstige äussere Verhältnisse — bedeutet. Unter diesen Um-
ständen ist die Zeit der Incubation auch schwer bestimmbar, sie scheint
aber ziemlich kurz zu sein, es gibt Beobachtungen, nach welchen die Incu-
bation nicht über 6 Tage dauern kann. Ein einmaliges Ueberstehen der
Krankheit schützt nicht vor neuerer Infection, wenigstens nicht für lange Zeit.
Die eigentliche Aetiologie dieser Erkrankung ist noch nicht mit
aller Bestimmtheit festgestellt, Bordoki-Uffreduzzi u. A. haben im
Meningealexsudate Coccen nachgewiesen, welche sie Meningococcen nannten,
diese werden heute als DipJococcus lanceoJafus bezeichnet. Bei den meisten
Sectionen hat man den FEÄNKEL'schen Biplococcus nachgewiesen, den
Erreger der croupösen Pneumonie, und einzelne Forscher sind geneigt
diese klinisch so verschiedenen Krankheitsformen von demselben Mikro-
organismus verursacht anzunehmen, welche Ansicht jedoch von mehreren
Autoren, weil sie ganz specifische Erreger besser mit dem epidemischen
Auftreten der Krankheit vereinigen können — nicht angenommen wird;
doch sind uns noch die gewiss nicht zu unterschätzenden Einflüsse der
äusseren Verhältnisse auf die Virulenz und andere noch weniger erforschte
Eigenschaften der Bakterien so gut wie unbekannt, so dass man in Anbe-
tracht der übereinstimmenden Befunde die Möglichkeit dieser Annahme
nicht ohneweiters abweisen kann.
Die Symptome entwickeln sich bei dieser Krankheit ziem-
lich rasch. Wenn auch in manchen Fällen ein leichteres Unwohlsein
einige Stunden oder Tage dem eigentlichen Ausbruch des Leidens voraus-
geht, so tritt doch gewöhnlich der erste Schüttelfrost im besten Wohlsein
auf; Kopfschmerzen, Kackenstarre und häufig Erbrechen erscheinen zugleich
mit der Temperaturerhöhung. Bei ganz kleinen Kindern ist neben den all-
gemeinen Krankheitserscheinungen die Genickstarre, welche am meisten in
die Augen fällt; diese geht oft schon am 2. — 3. Tage in eine tonische
Contraction sämmtlicher Rückenmuskeln über, so dass die Kinder nicht
am Piücken liegen können. Die Kopfschmerzen werden meist im Hinter-
haupt localisirt, doch nicht immer, ihre Intensität wechselt, im Allgemeinen
sind sie aber sehr heftig. Viele Patienten klagen auch über Schmerzen in
den Contrahirten Muskeln, und selbst in der Wirbelsäule. — Das Fieber
ist gewöhnlich intensiv (40 — 410) hat aber keinen regelmässigen Gang, ist
oft remittirend, manchmal auch intermittirend, häufig lässt es nach einigen
Tagen bedeutend nach und verliert sich allmälig. Der Puls ist oft, doch
CEREBROSPINALMENINGITIS. 253
nicht regelmässig weniger frequent, als es der Temperatur entspräche. In
anderen Fällen ist die Frequenz erhöht, es treten auch häufig im weiteren
Verlaufe aus unbekannter Ursache schnelle Aenderungen in der Puls-
frequenz ein.
Die weiteren Symptome sind theils Reizungs-, theils Lähmungserschei-
nungen des Nervensystems. Als erstere zeigen sich namentlich bei kleinen
Kindern Convulsionen, Eclampsieanfälle, besonders zu Beginn der Erkran-
kung; zu diesen müssen wir die oben schon besprochene Nackenstarre
auch zählen, ferner treten in manchen Fällen Contractionen im Facialis-
gebiet, oder in den Kaumuskeln (als Trismus) ein. Oft gewahrt man bei
der Untersuchung, dass die Glieder, besonders die unteren bei passiven
Bewegungen in Beugecontractur verfallen : KERNiG'sches Phänomen. In der
Sensibilitätssphäre findet man eine weit ausgebreitete Hauthyper-
ästhesie, so dass die leichtesten Berührungen Schmerzen verursachen. Die
bekannten TROUSSEAu'schen Taches cerebrales beweisen den labilen Zustand
der Vasomotoren. Eine allgemeine Reizbarkeit zeigt sich in der Unruhe und
wechselnden Stimmung der Kranken. Zu den Lähmungserscheinungen müssen
wir in erster Pteihe die Bewusstseinsstörung zählen, die in vielen Fällen
sehr hochgradig ist, doch nicht in allen beobachtet wird, namentlich be-
halten Kinder oft ihr Bewusstsein bis nahe zum Tode. Delirien und coma-
töse Zustände werden auch beobachtet. Als specielle Symptome sind be-
sonders Gehör- und Seh Störungen wichtig. Die ersteren hängen zwar
oft mit Erkrankungen des Mittelohres zusammen, doch bildet in der Mehr-
zahl der Fälle das Uebergreifen der Entzündung auf den Stamm des Hör-
nerven die Ursache der Taubheit. Im N. opticus kann derselbe Process
stattfinden, die Neuritis optica ist aber oft nur der Ausdruck der allgemeinen
Circulationsstörung im Gehirn und bedeutet nicht immer eine directe
Erkrankung des Sehnerven. Die Pupillen zeigen oft Unregelmässigkeiten ;
sie sind bald auffallend eng, bald weit, oft von verschiedener Grösse, ihre
Reactionsfähigkeit herabgesetzt oder fehlend. In einzelnen Fällen zeigen
sich Augenmuskellähmungen (besonders Ptosis), Paresen der Zunge, sehr
selten der Extremitäten. — Die Pieflexe zeigen kein einheitliches Vej-
halten, sie scheinen manchmal herabgesetzt zu sein, oft aber eher erhöht.
Von den übrigen Organen ist wenig zu berichten, das Abdomen ist ein-
gezogen, der Stuhl träge, in schwereren Fällen kann aber Meteorismus
auftreten. Die Milz ist gewöhnlich etwas vergrössert. Der Urin enthält
manchmal Eiweiss, selbst Zucker, seine Menge ist bald verringert, bald
nicht unbedeutend erhöht, bei getrübtem Bewusstsein kann es zu Harn-
retention kommen.
Der Verlauf der Krankheit ist je nach der Epidemie und den
einzelnen Fällen ein sehr verschiedener, ihre Dauer beträgt 2 — 6 Wochen,
es wurden aber auch Fälle beobachtet, welche binnen wenigen Stunden
zum Tode geführt haben {Meningitis epidemica acutissima seu siderans). In
grösseren Epidemien scheint die Mortalität geringer zu sein als bei den
sporadischen Fällen, doch werden die ganz leichten Fälle nur w^ährend
der Epidemien richtig diagnosticirt und in der Statistik mitgerechnet. Es
scheint, dass im Allgemeinen die Mortalität zwischen 20 — 50o/o beträgt.
Die Intensität der einzelnen Symptome wechselt oft, und obgleich der
letale Ausgang besonders in den mehr acuten Fällen in den ersten Tagen
vorkommt, so kann doch auch nach längerer Dauer, nach einer scheinbaren
Besserung die tödtliche Wendung eintreten. Es kommen aber auch in
grösserer Zahl ganz leichte abortive Fälle vor, welche nur den Kopf-
schmerz, die Halssteifigkeit und die allgemeinen Symptome aufweisen, in
wenigen Tagen ablaufen, manchmal aber doch in die schwere Form übergehen.
254 CEREBROSPIXALMEXmGITIS.
Während des Verlaufes zeigen sich manche Complicationen,
deren häufiges Auftreten auf einen causalen Nexus hinweist. Von gerin-
gerer Bedeutung ist unter diesen der Herpes labialis (wie er auch
bei der Pneumonie vorkommt), ferner beobachtet man besonders in
einzelnen Epidemien acute Anschwellungen der Gelenke, hauptsächlich
der Knie- und Handgelenke, bald zu Beginn der Erkrankung, bald zu Ende
derselben, in einigen Fällen mit Endocarditis verbunden. Die häufigste
Complication ist die Pneumonie, welche oft als katarrhalische, doch auch
als croupöse auftritt. Ich erinnere mich zweier Fälle, welche unter
dem Bilde schwerer Pneumonie in einigen Tagen letal verliefen und wo
nur die Section und die eben herrschende Epidemie die infectiöse Meningitis
nachwies. Die betreft'enden Patienten wurden während ihrer Krankheit
öfter über Kopfschmerzen befragt, doch immer mit negativem Ptesultat.
Mehr dem Zufall oder der erhöhten Disposition muss man zuschreiben die
hie und da gesehene Complication mit Typhus abd., verschiedenen Haut-
afecfiomn (Erytheme, Exantheme, Erysipel, Furunkulose etc.).
Tritt Besserung ein, so schwinden die Symptome allmälig, doch bleiben
in manchen Fällen dauernde Störungen zurück; unter diesen müssen
wir in erster Keihe der Taubheit gedenken, welche bei noch nicht oder
kaum sprechenden Kindern Taubstummheit nach sich zieht. Weiterhin kann
ein Defect im Sehen oder völlige Blindheit zurückbleiben; manchmal
entwickelt sich ein Hydro cephalus und verdunkelt auf ewig die Hirnthätig-
keit der Betroffenen. Ein Theil der Lähmungserscheinungen kann auch
persistiren, der Kopfschmerz, besonders bei geistiger Thätigkeit erscheinend,
quält gewöhnlich noch lange Zeit die Genesenen.
Die Diagnose stützt sich auf die aufgezählten Symptome und be-
sonders auf die sich allmälig ausbildenden Lähmungserscheinungen, während
Kopfschmerz, Benommenheit und andere nervöse Symptome bei allen fieber-
haften Krankheiten vorkommen können. Freilich ist die Unterscheidung
von der einfachen Meningitis oft sehr schwer. In dieser Hinsicht muss
man in jedem Falle eifrig nach primären Herden suchen, welche eine so-
genannte Meningitis cerebro-spinalis simplex hervorgerufen haben könnten
(chronische Ohrleiden, Ekzeme der Kopfhaut, Coryza, allerhand Infections-
krankheiten, so auch die Pneumonie). Von der tuberculösen Meningitis ist
sie zu unterscheiden durch die Verschiedenheit des Verlaufes, welcher
langsamer, chronischer ist und durch den Nachweis der Tuberkulose über-
haupt. Immerhin bleibt der epidemische Charakter das wichtigste Merkmal.
Unter den verschiedenen Meningitisformen hat aber die epidemische die
beste Prognose.
Der pathologisch-anatomische Befund ergibt ausser den
Veränderungen, welche dieses Leiden mit den übrigen Infectionskrankheiten
theilt, eine höchst entwickelte eitrige Leptomeningitis. Die weichen Hirn-
und Ptückenmarkshäute sind stark hyperämisch, entzündet und in den
Furchen findet sich, besonders in der Fossa Sylvii, dann an der Gehirn-
basis, am Kleinhirn, ferner im Lumbaltheil des Rückenmarkes das eitrige
Exsudat. Die Entzündung greift aber auch in die Hirnsubstanz hinein,
begleitet oft die eintretenden Gefässe und verursacht manchmal Abscesse.
Die Hirnventrikel sind ausgedehnt, ihr Inhalt ist auch oft getrübt. Der
Cervicaltheil des Rückenmarks ist gewöhnlich am wenigsten ergriffen, im
Rückenmark bedeckt das Exsudat besonders die hintere Fläche desselben.
Was die Therapie anbelangt, so sind die allgemeinen Massregeln
der Behandlung infectiöser Krankheiten auch hier geltend. Die allgemeinen
Symptome, selbst die so quälenden Kopfschmerzen werden in der Regel
durch die Antipyretica sehr gut beeinflusst, das salicylsaure Natron und
CHOLERA — CHOREA. 255
dsiS Antipyrin haben ihre Vertreter gefunden. Man trachte eine vollständige
Intermission des Fiebers zu erreichen und wiederhole, wenn nöthig, die
Gabe nach den Principien der Antipyrese, besonders wenn das Fieber
höhere Grade erreicht. Kalte Bäder sind bei diesem Leiden kaum durch-
führbar, die Patienten leiden ungemein bei den hier nothw.endigen Mani-
pulationen. Oertlich* thun kalte Umschläge oder die Eisblase am Kopfe
gute Dienste, auch lobt man die lindernde Wirkung der CnAPMAN'schen
Eisbeutel, der Wirbelsäule entlang befestigt, selbst Blutentziehungen, be-
sonders durch Blutegel hinter dem Kopfe können Erleichterung verschaffen.
Sollten sich die Schmerzen trotz der eben aufgezählten Eingriffe nicht
lindern, so muss man natürlich zu den narkotischen Mitteln greifen, Opium,
oder MorpUneins'prdzungen (O'Ol) geben. Gegen Aufregungszustände ver-
schreibt man Bromkali oder Chloral, letzteres in Klystieren. Tritt Heilung
ein, so resorbirt sich das Exsudat prompt (ebenso wie die eiterigen Pleura-
exsudate bei Pneumonie), trotzdem pflegt man Jodkalium oder selbst
Ungii. cinereum zur Beförderung der Resorption zu geben. Mehr Gewicht
sollte man auf Ernährung, regelmässigen Stuhlgang (wenn nöthig durch
Calomel, Jalappa oder R'winusöl) legen. Sollte Harnverhaltung die Anwen-
dung des Katheters erheischen, dann sterilisire man denselbea sorgfältig
direct vor der Application. In der Pieconvalescenz kann man von den
Tonicis Gebrauch machen und lasse die Kranken warme Bäder nehmen,
auch thun dann PEiESNiTz'sche Umschläge, während der Nacht applicirt,
gut gegen die zurückbleibenden Kopfschmerzen. e. jendeassik.
Cholera, Brechruhr, Brechdurchfall. Wie der Name „Typhus" für
klinisch und ätiologisch vollkommen "getrennte Krankheitsbilder Geltung
fand, so hat der medicinische Sprachgebrauch auch die Bezeichnung
„Cholera" für eine Reihe von Krankheiten eingeführt, bei denen Brechen,
profuse Durchfälle und die Symptome eines rasch eintretenden Collapses
die wichtigsten Erscheinungen der klinischen Bilder darstellen.
Gebräuchlich ist heutzutage noch folgende Eintheilung: 1. Cholera
asiatica, die unter dem Stichworte „Indische Cholera" Darstellung finden
wird. 2. Cholera nostras, als „Einheimische Cholera" beschrieben.
3. Cholera infantum, welche im vorliegenden Sammelwerke Professor
Pott als eine besondere Form des „Brechdurchfalls der Säuglinge" (ver-
gleiche pag. 189 u. ff.) beschrieben hat.
Chorea, wir wollen im Nachfolgenden blos von der Chorea
minor, einer im Kindesalter nicht selten auftretenden Krankheit, sprechen.
Das was man im Mittelalter vornehmlich V e i t s t a n z genannt hat, welcher
Name als volksthümliche Bezeichnung auch heute noch für diese Krankheit
gang und gebe ist, gehört nach den vorliegenden Beschreibungen nicht
hieher, sondern in das Gebiet der Hysterie.
Die Chorea ist eine Neurose, d. h. eine derjenigen Krankheiten
des Nervensystems, bei denen wir pathologische Veränderungen dieser
oder jener Art zum Verständnisse supponiren müssen, welche Veränderungen
jedoch derartige sind, dass wir sie mit den uns zur Verfügung stehenden
Mitteln bisher nicht haben auffinden können, respective nicht aufge-
funden haben.
Die Chorea befällt vor Allem Kinder einer gewissen Altersperiode,
Tom Alter der zweiten Dentition bis zum Eintritte der Pubertät also m
der Zeit zwischen dem 6.— 15. Lebensjahre. Doch ist es wohl zweifellos,
•dass auch jüngere Individuen von ihr ergriffen werden können, sowie sie
das spätere Alter nicht ausnahmslos verschont. Unter den Erkrankten
256 CHOREA.
überwiegt die Zahl der weiblichen Individuen bei Weitem die der
männlichen. So hatte beispielsweise Steiner unter 202 Patienten 155
Mädchen und nur 47 Knaben. Aehnliche Verhältnisse gibt jeder Autor an.
Die von der Krankheit befallenen Kinder sind meist gracil, wenig
gut genährt und von blassem Aussehen. Ich hatte Gelegenheit in einigen
Fällen Hb -bestimmungen zu machen und fand den Haemoglobingehalt
schwankend zwischen 60 — 85o/o (Fleischl's Apparat). In einem Falle fand
ich auch die Zahl der Erythrocyten reducirt auf 3,800.000, doch ist die
Anaemie auch als Folge der Chorea denkbar.
Wir haben es bei der Chorea hauptsächlich mit einer Störung der
Coordinirten und combinirten Muskelbewegungen zu thun. Den
Patienten gehen die Muskeln durch, ihnen ist die feine Abwägung und Ab-
schätzung der coordinirten Bewegungen sowie die Controle über dieselben
verloren gegangen, ohne dass die Fähigkeit, diese Bewegungen auszu-
führen, eine Einbusse erlitten hätte. (Folie musculaire.) Durch jeden Willens-
impuls wird eine Steigerung dieser Störung herbeigeführt. Diese Störung
ist gleichzeitig das vorstechendste Zeichen der Krankheit.
Bei leichten Graden der Krankheit machen die Kinder den
Eindruck ungewöhnlicher Lebhaftigkeit gepaart mit Zerstreutheit, was
schon ungerechtfertigter Weise manchmal zur Bestrafung derselben daheim
und in der Schule geführt haben mag. Ist das Leiden ausgeprägt, dann
sind die Kinder absolut nicht im Stande, auch nur kurze Zeit sich ruhig
zu verhalten. Arm-, Bein- und Gesichtsmus culatur sind in unaufhörlicher
Bewegung begriffen. Bald zuckt es hier, bald dort. Die Kinder grimmassiren,
lachen und lächeln ununterbrochen.
Die Störungen werden deutlich, sobald die Kinder aufgefordert
werden, eine ihnen recht geläufige Handlung auszuführen. Bei solchen
Gelegenheiten sieht man die Unzweckmässigkeit aller intendirten Bewe-
gungen. Sie schiessen über das Ziel hinaus, werden mit dem Gewollten
nicht fertig. Dies äussert sich vornehmlich dort, wo eine feinere Abwägung
der vorzunehmenden Muskelthätigkeit gefordert wird. Man kann sich am
besten von der Art der Störungen überzeugen, wenn man die Kranken
einen Knoten schlingen, einen Knopf zumachen, oder überhaupt die Kleider
in Ordnung bringen lässt. Je mehr die Kinder sich abmühen, das Gewollte
zu vollbringen, um so markanter ist die Störung. In der Regel ist die
gesammte Musculatur des Körpers in gleicher Weise afficirt. Selten ist
die eine Körperhälfte allein oder vorwiegend betheiligt. Wir sprechen dann
von Hemichorea.
Die Intensität der Muskelunruhe ist eine sehr verschiedene, je
nach dem Grade der Krankheit. In hochgradigen Fällen schleudern die
Kinder die Extremitäten hin und her, kommen nicht einmal im Bette zur
Ruhe. Suggillationen an_ den vorspringenden Theilen des Körpers, den
Ellbogen, Tibien, Knöcheln etc. sprechen für die Heftigkeit der Muskel-
action. In solchen Fällen sind die Kinder nicht im Stande, zu stehen und
zu gehen. Sie knicken im Knie ein oder fallen hin, wenn sie es versuchen.
Auch ihre Sprache ist alterirt. Sie sind zeitweise unfähig zu reden. Sie
mühen sich ab, die Worte hervorzubringen, doch machen Lippen-, Zungen-
und Larynxmusculatur andere als die gewollten Bewegungen ; die Sprache
wird undeutlich und unverständlich und schliesslich brechen die Kinder
bei derartigen Versuchen in Weinen aus. Ebenso ist das Schlucken der
Speisen sehr erschwert In leichteren Fällen wird regelmässig nur ein
Theil des zu Geniessenden verschüttet. In schweren sind die Kinder nicht
im Stande die Speisen in den Mund zu bringen, müssen gefüttert werden,
CHOREA. 257
weil schon in Folge dieser mechanischen Gründe die Ernährung derselben
leidet. Wegen möglicher Verletzungen soll man Choreatische nicht mit
Messern und Gabeln hantiren lassen.
Charakteristisch ist die Schrift solcher Kranker. Da es sich zumeist
um bereits die Schule besuchende Kinder handelt, ist fast stets Gelegenheit
geboten, dieselbe zu studireu. Die Kinder sind nicht im Stande, in einer
geraden Linie zu schreiben. Haar- und Schattenstriche zeigen in Folge des
Ungehorsams der Musculatur eine ungewohnte Vertheilung. Meist geht es
noch mit den ersten Buchstaben eventuell Worten halbwegs leidlich, während
undefinirbare Hieroglyphen den Schluss des verlangten Pensums bilden,
falls selbes in Folge Ermattung nicht früher noch unterbrochen wird. In
schwereren Fällen wird kaum ein erkennbares Zeichen producirt. Bei
Ziffern bietet 8 die grössten Schwierigkeiten. Die Schrift ist ein sehr
brauchbares Mittel, den Verlauf des Leidens zu verfolgen. An ihr lässt
sich die Besserung des Zustandes am leichtesten coutroliren.
Ueber das elektrische Verhalten der Muskeln bei Chorea existiren
widersprechende Angaben. Die elektrische Erregbarkeit wird von einigen
als erhöht angegeben. Erb konnte sich davon weder dem faradischen noch
dem galvanischen Strom gegenüber überzeugen. In mehreren Fällen konnten
wir das Vorhandensein mechanischer erhöhter Erregbarkeit constatiren und
fanden einige Male, nicht immer, als Ausdruck derselben die Anwesenheit
des Facialis-Phaenomenes.
Während des Schlafes, der jedoch bei den Choreatischen oft ein
unruhiger, häufig unterbrochener ist, sistiren die Bewegungen in der Regel,
die Fälle ausgenommen, welche so heftig sind, dass es bei ihnen ausser
durch Hypnotica überhaupt nicht zum Schlafe kommt. Merkwürdiger Weise
klagen clie Patienten trotz der heftigsten Muskelactionen nicht über Er-
müdung und treten auch keine Temperatursteigerungen in Folge der-
selben auf.
Als Störungen in der sensiblen Sphäre werden Hyper- und An-
aesthesien angegeben. Wir können diese daher zur Diagnosenstellung nicht
verwerthen und müssen daher stets auf die charakteristischen motorischen
recurriren.
Bei den von uns untersuchten Fällen fanden wir keine Erhöhung der
Patellarreflexe.
Die Psyche der Kinder bietet fast ausnahmslos Abweichungen von
der Norm. Die Kinder sind sehr leicht erregbar und einem sehr raschen
und leichten Wechsel der Gemüthsstimmung unterworfen. Man könnte
ebenso von einer Chorea des Gemüthes reden wie von einer Chorea der
Musculatur. Die Kinder sind sehr leicht zum Lachen und Weinen zu
bringen. Sie sind zerstreut, flüchtig oder ängstlich. Dies ist die Regel.
Daneben wurden alle Stufen geistiger Störung beschrieben, bis zum Ein-
tritte von Blödsinn, bis zum Eintritte von tödtlich verlaufenden maniakali-
schen Delirien. Wir können uns nicht enthalten, anzunehmen, dass hier
wohl mancherlei zusammengefasst worden sein mag, was nicht in den
Rahmen der Krankheit hineingebort. Mit dem Schwinden der Krankheit
bessern sich auch die Störungen des Gemüth- und Seelenlebens.
Dass es sich bei der Chorea meist um an ae mische Individuen
handelt, haben wir bereits erwähnt. Von sonstigen somatischen Ver-
änderungen möchten wir hier der häufiger vorkommenden Herzgeräusche
Erwähnung thun. Es finden sich meist systolische Geräusche über der Mitralis,
noch deutlicher vernehmbar über der Pulmonalis. Da dieselben in den
weitaus meisten Fällen ohne sonstige Störungen im Circulationsapparate
vorkommen, auch im Verlaufe der Krankheit derartige Störungen nicht
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. 1 '
258 CHOREA.
eintreten, so haben wir allen Grund, diese Geräusche für ac cidentell e,
für anae mische Geräusche zu halten, wozu sie auch ihr Charakter
stempeh. Zweifellos verhält es sich in einigen Fällen nicht so, zweifellos
liegen in einigen Fällen organische Veränderungen am Klappenapparate
des Herzens vor. Dies ist jedoch das seltenere. Davon noch später. —
Arhythmischer Puls kommt bei Chorea öfter vor. Derselbe ist dann in
der Regel sehr langsam.
Andere Organe und Functionen des Körpers sind meist intact oder
weisen nicht mit der Krankheit direct zusammenhängende Störungen auf.
Oefter findet man, wie nicht selten bei nervösen Affectionen, in den
Stühlen grössere Mengen von Schleimflocken und Schleimmembranen.
Die Dauer der Krankheit ist immer eine Wochen lange, beträgt
durchschnittlich 6 Wochen bis 21/3 Monate. Ablauf in 14 Tagen ist eine
Seltenheit. Der Verlauf ist als ein chronischer zu bezeichnen. Recidive
kommen vor. Der Beginn ist in vielen Fällen ein plötzlicher, und zwar
plötzlich eintretend mit aller Heftigkeit. So sah ich einmal die Krankheit
bei einem Knaben plötzlich auftreten an dem ersten Tage seines Schul-
besuches in einer ihm fremdsprachigen Schule. Auch sonst wird angegeben,
dass sich die Krankheit nach heftigem Schreck oder einer anderen
psychischen Emotion plötzlich eingestellt hätte.
Aetiologie. Nach dem heutigen Stande der Dinge können wir uns
zu einem einheitlichen Standpunkte betreffs der Ursache der Chorea nicht
bekennen. Es ist kaum zu bezweifeln, dass es eine Reihe von Individuen
gibt, die, von Natur aus schwächlich beanlagt, eine Disposition, wenn wir
wollen, hereditäre Belastung für Störungen im Bereiche des Nervensystems
mitbringen, die vielleicht durch mangelhafte Pflege, eventuell durch directe
Schädigungen vermehrt wird, so dass Stürme, die an einem sonst gesunden
Individuum spurlos vorübergehen, hier mit schweren Störungen beantwortet
werden. Nur in diesem Sinne können wir Schreck und andere psychische
Erregungszustände als Ursachen der Chorea gelten lassen. Sie sind die
auslösenden Momente, die veranlassende Ursache, nicht die Ursache
der Krankheit.
Von französischen und englischen Autoren wird dem Bheiitnatismus
eine wichtige Rolle in der Aetiologie der Chorea zugeschrieben. Viele
deutsche Autoren haben sich dieser Ansicht angeschlossen. Meist tritt die
Chorea nach Ablauf des Rheumatismus auf. sehr selten während desselben
und höchst selten vor Beginn eines solchen. Es lässt sich die Thatsache
nicht leugnen, dass eine grössere Reihe von Kindern, welche die Chorea
acquiriren, mehr oder weniger lange Zeit vorher Rheumatismus durch-
gemacht haben. Aber der causale Zusammenhang beider Krankheiten
kann durchaus nicht als erwiesen betrachtet werden und die Versuche, die
Chorea als eine rheumatoide Erkrankung des Rückenmarks aufzufassen,
sind heute noch nicht als geglückt zu bezeichnen. Jedenfalls sind wir ver-
pflichtet, auf das Mit- und Nebeneinandervorkommen beider Krankheiten
unser Augenmerk zu richten. Viele Beobachtungen können die Frage
klären. Dabei ist auf Eines zu achten. Bei Kindern verläuft der Rheuma-
tismus öfter mit äusserst geringen allgemeinen und localen Symptomen
und in vielen Fällen gibt erst eine später eintretende Endocarditis mit
ihren schweren Symptomen Aufschluss über die Natur eines nur allzu leicht
übersehenen Leidens.
W^eiter wurde acuten Erkrankungen anderer Art, z. B. der Diphtherie,
Scarlatina, den MorbiUis, ferner Helminthen, Digestionsstörungen, der Mastur-
bation etc. in der Aetiologie der Krankheit eine Rolle zugetheilt. Vorläufig
CHOREA. 259
halten wir an der Neurosennatur des Leidens und der anfangs gegebenen
Definition fest.
Mit wenigen Ausnahmen endet die Krankheit mit Genesung nach
der schon früher erwähnten Zeit. Manche chronische Fälle überdauern die
oben erwähnte Zeitperiode um ein Bedeutendes. Exitus ist sehr selten,
und zwar erliegen die Fälle dem Leiden, bei denen die Heftigkeit der
Bewegungen eine excessive ist, bei denen auch Nachts Schlaf und Ruhe
nicht eintritt und beides nicht durch Hypnotica zu erzwingen ist. Vielleicht
handelt es sich bei einigen mitgetheilten Fällen dieser Art um eine andere
cerebrale Erkrankung, denn nicht immer sind Autopsien solcher mitgetheilt.
Man nimmt 27^ Mortalität an. Ursache des Todes ist Erschöpfung, Apo-
plexia cerebri, eventuell andere complicirende Leiden. So z. B. sah
Strümpell einen Fall tödtlich enden in Folge der zahlreichen Hautver-
letzungen, die durch nichts hintanzuhalten waren.
Intercurrente fieberhafte Erkrankungen, z. B. Pneumonie, MorhilU,
Scarlafina wirken während des Verlaufes des fieberhaften Stadiums öfter
verschlechternd auf die choreatischen Bewegungen, nach Ablauf desselben
meist günstig, wenigstens werden mehrere solche Beobachtungen mitgetheilt
(Soltma]s;n). Bokai hat mehrfach Complication mit Herpes zooster ge-
sehen, vielleicht in Folge der Arsencur. Escherich beschrieb einen Fall
mit Canities ccipttJitü, die als trophische Störung aufgefasst wurde.
Ueber die Frage nach dem Sitze der Krankheit hätten uns vor
Allem diejenigen Fälle Aufschluss geben müssen, bei denen es zum Exitus
und zur Autopsie gekommen war. Allein hier stehen den mitgetheilten
positiven Fällen eine noch grössere Reihe negativer entgegen und die
positiven selbst sind durchaus nicht gleichartig und gleichwerthig. Nebst
verschiedenen accidentellen Befunden, die nichts zur Klärung der Frage
beitragen, fand Klebs neben endocarditischen Veränderungen Embolien in
den feinsten Arterien des Gehirns und des Rückenmarks, Flechsig u. A.
Veränderungen im Corpus striatum und im Linsenkern. Skoda glaubt, dass
es sich um einen Exsudationsprocess im Rückenmarke oder im Gehirne
handle, Steiner hält die Chorea für eine Spinalreizung, die, durch mannig-
faltige Störungen acuter und chronischer Art unterhalten, gelegentlich zum
Ausbruch kommen kann u. s. w. Wir schliessen uns denen an, welche die
Betheiligung des Gehirns und Rückenmarks an dem Leiden annehmen.
Für die Betheiliguug des ersteren sprechen die fast nie fehlenden
psychischen Alterationen der Kinder, sowie das Auftreten der Hemichorea.
Bei dem Umstände, dass die Krankheit in der Regel vollständig heilt,
dürfte es sich schwerlich um ernste anatomische Läsionen bei derselben
handeln.
Die Chorea electrica und die Chorea hysterica sind zwei
Krankheitsbilder, welche von dem beschriebenen durchaus abweichen und
die besser in das Capitel der Hysterie im Kindesalter einzureihen wären.
Desgleichen möchten wir die choreaähnlichen Bewegungen, welche vielleicht
im Gefolge von Hirnprocessen , Hirntuberkeln etc. vorkommen können,
nicht hieher rechnen und keine eigene Abart der Krankheit unter dem
Titel symptomatische Chorea im Gegensatze zu der idiopathis eben
aufstellen.
Die Prognose der Krankheit ist eine gute.
Therapie. Wichtig ist es, die Kranken ihrer gewohnten Umgebung
möglichst zu entziehen und ihnen vollkommene geistige und körperliche Ruhe
angedeihen zu lassen. Sie müssen daher unbedingt im Bette liegen, sollen
dasselbe nicht allzu früh verlassen. In Fällen mit excessiver Bewegung ist
für gute Polsterung der Betten Sorge zu tragen, um die Kranken vor Ver-
17*
2G0 CHOREA HEREDITARIA DER ERWACHSENEN.
letzuDgen zu schützen. Die Ernährung sei eine möglichst gute und sollen
die Kinder, so lange sie die Speisen verschütten, gefüttert werden. Tritt
spontan kein Schlaf ein, dann muss man denselben durch Chloralhydrat,
TJrethan, Sulfonal erzielen. Mit Eecht erfreut sich unter den gegen die
Krankheit angewendeten Medicamenten das Arsen eines allgemein ver-
breiteten guten Eufes. Man gibt dasselbe entweder als Tinct. Foideri,
beginnend mit 2 gtts., steigend bis zu 15 Tropfen pro die, unmittelbar nach
dem Essen oder während des Essens. Man steigt täglich um einen Tropfen
und kehrt ebenso fallend bis zur Anfangsdosis zurück. Es ist zweckmässig,
den Patienten eine Tabelle mit der einzunehmenden Tropfenzahl für die
einzelnen Tage mitzugeben. Aussetzen des Medicamentes ist bei stark
belegter Zunge und Diarrhoeen geboten. Oder man gibt das Arsen in Pillen,
und zwar : Äcid. arsenic. ^/2 mg pro Pille, 1 — 2 Pillen fäglich.
In angenehmer Form wird dieses Medicament verabreicht bei Gebrauch
des Levico- und JRoncegnoirassers oder der Guberqiielle. Bei schweren Fällen
von Chorea ist der Gebrauch kalter Bäder und kalter Uebergiessungen wegen
deren excitirender Wirkung nicht angezeigt. Gegen protrahirte ivarme Bäder
ist nichts einzuwenden. Manche Autoren verwenden mit Vorliebe Kai.
bromat., manche den faradischen Strom gegen die Krankheit. Manche ver-
suchen durch gymnastische Uehungen und durch Concentrirung der Auf-
merksamkeit auf einen Punkt, der Krankheit Herr zu werden und erzielen
günstige Resultate. In neuester Zeit wurde auch Antipyrin^ durch längere
Zeit genommen, gegen die Krankheit angewendet.
Man muss sich vor Augen halten, dass die Krankheit in sehr vielen
Fällen gewiss bei allgemeinen hygienischen Massregeln ohne
jede specielle Therapie in längerer Zeit heilt, dass verschiedene Wege zur
Heilung führen können und dass wir mit keinem Medicamente im Stande
sind, der Krankheit in diesem oder jenem Stadium Halt zu gebieten oder
auch nur deren Dauer sehr wesentlich mit Sicherheit abzukürzen.
LOGS.
Chorea hereditaria der Erwachsenen. (Huntington.) Die
hereditäre Chorea, schon von Water (1863) erwähnt, zum ersten Mal
von Huntington (1872) genau studirt und beschrieben, ist im Allgemeinen
in ihrem klinischen Bilde mit dem der juvenilen sog, S YDENHAM'schen
Chorea identisch, es bestehen dieselben irregulären, spasmodischen, momen-
tanen Muskelcontractionen und dieselbe Incoordination bei willkürlichen Be-
wegungen, in den schweren Fällen mit ausgesprochener Muskelschwäche
verbunden. Die Bewegungen sind ziemlich irregulär, sowohl der Zeit wie
dem Charakter, und der Intensität nach. Die Affection der Gesichts- und
Sprachmuskeln leitet die Krankheit ein, allmälig werden jedoch die Muskeln
des Ptumpfes und der Extremitäten von den Zuckungen befallen. Anfangs
treten die Bewegungen nur gelegentlich auf, ihre Häufigkeit nimmt jedoch
mit ihrer Heftigkeit zu,"^ bis sie schliesslich so andauernd und heftig sind,
dass sich die Extremitäten permanent in Bewegung befinden. Die moto-
rischen Erscheinungen betreffen gewöhnlich von Anfang an beide Seiten
in gleicher Weise. Die Athmungsmuskeln, speciell das Diaphragma, haben
häufig an der Irregularität einen sehr wichtigen Antheil: die Athmung
wird unregelmässig, tiefe Athembewegungen wechseln mit oberflächlichen
ab; das Schlingen und Kauen wird mangelhaft, die Sprache monoton,
singend und kaum verständlich. Die Sprachstörung tritt ziemlich früh auf.
Der halbtanzende, stolpernde Gang ist ebenfalls seiner Unregelmässigkeit
Avegen charakteristisch ; auf kurze, langsame, schleppende Schritte folgt
eine Pause , die von ausserordentlich heftigen , an die Propulsion er-
innernden Schritten begleitet ist. Die Patienten sind gewohnt, in eigen-
CHOREA HEREDITARIA DER ERWACHSENEN. 261
thümlichen Stellungen lange Zeit zu verweilen. Die Augen bleiben in der
Regel bei der hereditären Form verschont.
Die Sehnenreflexe sind gewöhnlich erhöht, die Sensibilität gelegentlich
afiicirt (Schlesinger, Huber). Die elektrische Erregbarkeit der Muskeln
und Nerven bleibt unverändert. Der Spasmus wird in der Regel durch
Erregungen verstärkt, und ein Kranker, der sich selbst überlassen, ver-
hältnismässig ruhig ist, wird etwa durch den Besuch eines Fremden in die
heftigste physische Unruhe versetzt. Freilich ist auch eine gewisse Beein-
flussung der Bewegung durch einen energischen Willensact oder durch
intendirte Bewegung möglich. Im Schlafe hören die choreatischen Be-
wegungen meist auf, man hat aber auch zuweilen beobachtet, dass sie
während desselben fortbestanden (West).
In den meisten Fällen ist Abnahme der Intelligenz und des Gedächt-
nisses bis zur progressiven chronischen Demenz, in manchen maniakalische,
eventuell melancholische Anfälle zu beobachten. Seltener sind diejenigen
Fälle, wo der geistige Stumpfsinn dem Ausbruch der Chorea vorausgeht
oder die psychischen Anomalien ganz fehlen.
Eine directe Ursache des Leidens lässt sich selten auffinden, zu-
weilen scheint eine deprimirende Gemüthsbewegung der Agent provo-
cateur zu sein. Rheumatismus und Herzfehler werden seltener als bei der
juvenilen Form in der Anamnese erwähnt, ein allgemein neuropathischer
Boden fehlt dagegen fast nie. Epilepsie, Idiotie, Hysterie und Psychosen
sind in solchen Familien ausnahmslos zu finden. Die HuNTiNGTON'sche Chorea
ist hereditär, kommt gewöhnlich bei zahlreichen Mitgliedern derselben
Familie vor (in mehreren Generationen); ausnahmsweise kann eine Gene-
ration völlig übersprungen werden, die Chorea wird dann durch eine andere
Neurose oder Neuropsychose ersetzt. Die neuropathische Belastung muss
hier deshalb in etwas weiterem Sinne als es von Huntington und Hoff-
mann geschah, aufgefasst werden, als sogenannte „gemischte Heredität".
Bei der gewöhnlichen Chorea werden Mädclien entschieden häufiger
befallen, als Knaben (3 : 1), bei der chronischen verhält sich die Sache eher
umgekehrt. Die Krankheit entwickelt sich am meisten zwischen dem 30. und
40. Jahre, mithin in einem Alter, wo die juvenile Chorea nur ausnahms-
weise auftritt. Man kann mit Recht sagen, dass die SYDENHAM'sche Chorea
kaum in 5% der Fälle nach dem 20. Lebensjahre, die HuNTiNGTON'sche
ebenso selten vor dem 20. Jahre beginnt. Jedoch sind Fälle bekannt, wo
die ersten Zeichen der chronischen Chorea vor dem 6., resp. nach dem
60. Lebensjahre sich einstellten i). Die Dauer der persistirenden Form ist
sehr lang (20—40 Jahre), das Leiden hat nämlich wenig Tendenz, das
Leben zu verkürzen. Eine intercurrente Krankheit oder seniler Marasmus
machen gewöhnlich dem Leben ein Ende. Das progressive Leiden zeigt
keinerlei Tendenz zur Heilung und wird durch Arsenbehandlung durchaus
nicht beeinflusst.
Verwechslungen mit der Maladie des tks sind durch den typisch
choreatischen Charakter der Bewegungen ausgeschlossen. Doppelseitige
Aihetose verläuft mit spastischen Erscheinungen bei Bewegungen, die auch
im Schlafe anhalten, und ist fast nie eine Familienerkrankung.
Die pathologische Anatomie und Pathogenese der Chorea
hereditaria sind zur Zeit eine ziemlich streitige Frage. Weder über den
primären Sitz der Erkrankung, noch über die Natur und die Ursache der
Veränderung in den Nerveneleraenten lässt sich eine definitive Meinung aussagen.
') Unlängst beobachtete ich einen 75 jährigen Greis, bei dem eine allgemeine, pro-
gressive Chorea nach dem 72. Lebensjahre sich zu entwickeln begann.
262 CHYLÖSER ASCITES.
Veränderungen wurden im Nervensystem sehr mannigfache constatirt: Entzündung
der Hirnhäute, chronische Encephalitis, diffuse Endarteriitis, Hyperämie der motorischen
Rindenregion, kleinzellige Infiltration und Degeneration der Nervenzellen, circumscripte
Herde in den ver schieden sten Äbtheilungen des Centralnervensystems. Die Meinungen
einzelner Autoren bezüglich der anatomischen Localisation des Leidens gehen deshalb
so sehr auseinander. In der Hirnrinde, dem Thalamus, dem Streifenhügel, dem Linsen-
kern, dem hinteren Theile der inneren Kapsel, den Hirnschenkeln, der ^rücke, der
Oblongata und den Pyramidenbahnen des Rückenmarkes suchte man den Krankheits-
process zu localisiren. Jakoweiv-ko betrachtet die hyalinen Körperchen in den subcorti-
calen Ganglien {Globus pallidus) als charakteristisch für die Chorea, Tuckwell und A.
beschuldigen in der Entstehung des Leidens Embolien der Art. basilaris, vertebralis,
die von einem Herzfehler herstammen sollen. Nach Lattpenatjer ist die Chorea eine
Infectionskrankheit, deren Mikroben sowohl chronische Encephalitis, wie Polyarthritis
und Endocarditis verursachen können, nach Lextbe ist es ein toxischer Bkitbestandtheil,
der die motorische Hirnregion einer permanenten Reizung aussetzt.
BerückFichtigt man jedoch die Thatsache, dass man einerseits sog. hyaline
Körperchen, Embolien und Mikroorganismen in den Hirnarterien nur in Ausnahmsfällen
bei Chorea findet, andererseits häufig denselben bei Sectionen begegnet, wo keine ana-
logen Motilitätsstörungen intra vitam bestanden, so dürfte der factische Boden der er-
wähnten Hypothesen ziemlich schwankend erscheinen. Für die acute Chorea ist der
infectiös-toxische Boden ziemlich wahrscheinlich. Dasselbe gilt von allen Herdlocalisa-
tionen, zu denen übrigens weder die hereditäre Natur des Leidens, noch die constant
auftretenden psychischen Alterationen, noch endlich die unwiderlegbare Analogie mit
der acuten juvenilen Chorea gut passen würden.
Am nächsten liegt es als anatomisches Substrat der Chorea
angeborene diffuse Alteration an der Hirnrinde zu betrachten, die zunächst
vielleicht rein functioneller, später organischer Natur ist. Analogien solcher
hereditären Degeneration finden wir in der sog. FRiEDREicn'schen Krankheit,
ERB'schen Dystrophie und der progressiven Muskelatrophie. Die latente
congenitale Tendenz zur diffusen Degeneration wird vielleicht hie und da
durch ein toxisches Virus in Activität gesetzt. Ob den Ausgangspunkt der
histologischen Veränderungen das Gefässsystem, das Nervenparenchym, das
interstitielle Gewebe darstellt, ist eine zur Zeit kaum entscheidbare Frage.
H. HIGIEE.
ChylÖSdr Ascites, Ascites ckylosus ist eine ziemlich seltene Er-
krankung; die erste von Poncy herrührende Beobachtung fällt bereits in
das Jahr 1699; seitdem sind nach einer in letzter Zeit erschienenen Zu-
sammenstellung (von Bahrgebuhr) im ganzen nur noch 47 Fälle ver-
öffentlicht.
Das charakteristische Zeichen ''der Affection ist die Ansamm-
lung einer weissen, wie Milch aussehenden, mitunter einen leichten Stich
ins gelbe oder bläuliche darbietenden Flüssigkeit in der Bauchhöhle. Das
specifische Gewicht derselben schwankt zwischen 1007 und 1026, die
Reaction ist meistens deutlich alkalisch, bei längerem Stehen setzt sich an
der Oberfläche eine dünne, weisse Rahmschicht ab. Die Flüssigkeit ist reich
an Eiweiss und an Fett, der Fettgehalt zeigt jedoch sehr erhebliche
Schwankungen und ist in hohem Grade von der Nahrungsaufnahme abhängig;
in einigen Fällen konnte der Uebergang des mit den Speisen verabreichten
Fettes in die ascitische Flüssigkeit direct nachgewiesen werden. Mitunter
ist Zucker in derselben gefunden worden. Schüttelt man nach Zusatz von
etwas Natronlauge mit Aether aus, so bleibt ein mehr weniger klares, einem
gewöhnlichen Transsudat gleichendes Fluidum zurück.
Bei Betrachtung unter dem Mikroskop sieht man kleinste punkt- bis
staubförmige Körperchen (Fettkörnchen) neben spärlichen Lymphocyten.
Die Flüssigkeit ist, wie aus ihrer Zusammensetzung hervorgeht, ent-
weder reiner Chylus oder eine Mischung desselben mit Transsudat.
Als Ursache für den Erguss von Chylus in die Abdominalhöhle sind
Behinderungen des Abflusses der Lymphe anzusehen. Mehrfach
GHYLÖSER ASCITES. 263
sind durch äussere Gewalteinwirkuug bedingte Zerreissungen des Milchbrust-
ganges in der Höhe der mittleren und unteren Brustwirbel durch die Section
nachgewiesen. Verschluss der Mündung desselben durch Thrombose und
durch Obliteration der linken Vena subclavia ist in je einem Falle berichtet,
ebenso Verstopfung des Receptaculum chyli durch einen Stein. In einer
Anzahl von Fällen ist Compresslon des ductus thoracicus durch vergrösserte,
tuberculös oder carcinomatös entartete Lymphdrüsen und durch Tumoren,
welche in der Nachbarschaft sich entwickelt hatten, so Aneurysmen, Carci-
nome des Pancreas, Darm, Peritoneum beobachtet. Quincke beschreibt eine
Compression der feineren Chylusgefässe durch entzündliche Verdickung des
Mesenteriums an der Insertionslinie des Darms und macht auf die bei der-
selben Patientin und bei mehreren Mitgliedern ihrer Familie bestehende
Elephantiasis einzelner Extremitäten aufmerksam, welche wohl auf eine aus-
gebreitete Erkrankung des Lymphgefässsystems schliessen lässt. Der von
WiNCKEL beschriebene Fall endlich beweist, dass auch Parasiten die Ursache
eines chylösen Ascites sein können, welche durchaus der Filarla sanguinis
hominis, der Urheberin der Chijlurie, gleichen. Die Patientin hatte längere
Zeit in den Tropen (Surinam) gelebt, ihr Urin war stets von normaler
Beschaffenheit gewesen.
Die Krankheit tritt in jedem Lebensalter auf und ist bei beiden Ge-
schlechtern in gleicher Häufigkeit beobachtet. Die Symptome unterscheiden
sich nicht von denen eines gewöhnlichen Ascites. Die Diagnose dürfte daher
kaum vor der Punction zu stellen sein. Nur wenn im Anschluss an ein
Trauma Ascites sich entwickelt und gleichzeitig durch die Wunde nach
aussen chylusartige Flüssigkeit abfliesst, wäre eine Möglichkeit für die
unmittelbare Diagnose gegeben.
Die Prognose ist im Allgemeinen ungünstig; die Mehrzahl der
Kranken erlag ihrem Leiden. In einigen Fällen ist Genesung constatirt.
Wahrscheinlich haben sich bei diesen collaterale Lymphbahnen entwickelt,
welche den Zufluss des für die Ernährung so wichtigen Chylussaftes zum
Blute ermöglichten.
Die Therapie ist im Wesentlichen eine symptomatische und unter-
scheidet sich nicht erheblich von der der einfachen Bauchwassersucht.
Jedoch sind Functionen auf das äusserste Mass einzuschränken und nur bei
dringendster Indication auszuführen.
Eine äussere Aehnlichkeit mit dem Ascites chylosus hat der A. chyli-
formiS; treffender A. adiposus genannt, welcher aber eine durchaus andere
Entstehung und Bedeutung hat. Auch bei diesem ebenfalls sehr seltenen
Zustande finden wir ein Exsudat von milchiger Beschaffenheit und grossem
Eiweiss- und Fettgehalt in der Bauchhöhle, welches bei längerem Stehen
eine Rahmschicht absetzt. Der Fettgehalt ist aber nicht durch Beimengung
von Chylus, sondern von abgestossenen, fettig degenerirten Endothelien oder
Geschwulstzellen zu einem ascitischen Exsudat bedingt. A. adiposus s. chyli-
formis ist bei Tuberculose, Carcinom und Sarcom des Peritoneum und der
drüsigen Organe des Unterleibs zuweilen beobachtet. Die Unterscheidung
von dem chylösen Ascites wird hauptsächlich durch die mikroskopische
Untersuchung ermöglicht, welche neben freien Fetttröpfchen fettig degenerirte
Zellen nachweist. Bei der chemischen Untersuchung ist besonders auf die
Anwesenheit von Zucker zu ächten. Positiver Ausfall der TROMMER'schen
Probe spricht unbedingt für chylösen Ascites (da normale Lymphe und
Chylus stets Zucker enthält, Senator), während allerdings ein negatives
Ergebnis nicht gegen denselben verwerthet werden kann.
264 CIRCULÄRES IRRESEIN.
Ansammlung von Cliylus in der Pleurahöhle, Chylothorax, ist noch
viel seltener beobachtet als chylöser Ascites. Im ganzen sind bisher 10 Fälle
dieser Affection beschrieben. Nach schweren Verletzungen des Brustkorbes
hatte sich zumeist in kurzer Zeit ein pleuritischer Erguss entwickelt, welcher
bei der Function seinen chylösen Charakter offenbarte. Der Verlauf war
ungünstig, das Exsudat stieg nach der Entleerung rasch wieder an, der Tod
erfolgte theils durch den Druck desselben, theils durch allgemeine Ent-
kräftigung. Bei der Section ist mehrmals Zerreissung des Ductus thoracicus
gefunden, in einigen Fällen konnte die Ruptur eines Lymphgefässes zwar
nicht nachgewiesen werden, war aber aus dem Verlaufe der Erkrankung
als das Wahrscheinlichste anzunehmen. hilbert.
CirCUläreS Irresein (FoUe drculaire, FoUe ä double forme, ctjMiscJie
Psycliose, Melancholie mit Mcmie), eine Unterform der periodischen Psychosen,
gehört zu den best charakterisirten Krankheitsformen der klinischen Psy-
chiatrie. Es kennzeichnet sich durch die periodische Wiederkehr von An-
fällen, in welchen, in der Regel bei nur massig gestörtem Bewusstsein, die
Zustandsbilder der Melancholie und Manie oder umgekehrt, von annähernd
gleicher Dauer, regelmässig auf einander folgen, von längeren oder kürzeren
relativ freien Zeiten unterbrochen.
Aetiologie. Es beruht in erster Linie auf erblicher Belastung und
tritt dann häufig schon zur Zeit der Pupertäts-Entwicklung, mitunter aber
erst im Klimacterium auf. Viel seltener wird es durch tiefe Gemüths-
bewegungen bei anaemischer Blutbeschafifenheit erworben. Bei Belasteten
besteht nicht selten schon lange vor dem Ausbruche der ausgesprochenen
Erkrankung ein habituelles Schwanken zwischen gesteigerter Thätigkeit
und abnormer Erschöpfung des Nervensystems, dem Vorbilde des späteren
Wechsels zwischen Exaltation und Depression. Bei nicht wenig Menschen
bleibt das Krankheitsbild während des ganzen Lebens auf so niedriger
Entwicklungsstufe stehen, dass dasselbe nur für Launenhaftigkeit gehalten
und nicht als Geistesstörung erkannt wird.
Pathogenese. L. Meyer machte die interessante Beobachtung,
dass die Patienten im maniakalischen Stadium nicht allein blühend und
jünger aussehen, sondern auch (im Gegensatze zu der gew^öhnlichen Manie)
an Körpergewicht, manchmal sogar sehr beträchtlich (bis 35 und 54 Pfund
in drei Monaten!), zunehmen. Er hält deshalb die circuläre Störung für
eine Trophoneurose des gesammten Organismus. Meynert sucht die patho-
logische Grundlage des eigenthümlichen Wechsels in periodischen
Störungen der vasomotorischen Innervation. In Folge von ge-
steigerter Reizbarkeit des Gefässcentrums soll sich ein verstärkter Con-
tractionszustand im gesammten Arteriengebiete mit gleichzeitiger Him-
anämie als Ursache der depressiven Verstimmung entwickeln. Gerade die
so entstandene mangelhafte Ernährung des vasomotorischen Centrums soll
dann weiter eine Lähmung desselben, Erweiterung der Gefässe und Hyper-
aemie des Gehirns herbeiführen, welche dann die Erscheinungen des mania-
kalischen Stadiums auslöst.
Die auf einander folgenden Zustände, von welchen bald die Melan-
cholie, bald die Manie zuerst auftritt, gehören zusammen, sie bilden nur
zwei Phasen eines Anfalls, deren Dauer und Intensität entweder
annähernd gleich ist oder wenigstens in einem bestimmten proportionalen
Verhältnisse steht, der Art, dass mit Zu- und Abnehmen des einen auch
das andere Stadium zu- und abzunehmen pflegt. Auf die abklingende
folgt alsbald die andere Phase, ohne dass wirklich, wenn auch mitunter
scheinbar, eine freie Zeit zwischen beiden liegt. Die mittlere Dauer des
CIRCÜLÄRES IRRESEIN. 265
Gesammtanfalles belauft sich auf eine grössere Reihe von Monaten bis
auf ein Jahr. Doch gibt es auch Fälle von mehrjährigem und solche von
nur 1 — 2 monatlichem Typus. Erst nach Ablauf beider Phasen stellt sich
das anfallsfreie Intervall ein, das zumeist von längerer Dauer ist, aber
nach kurzen Anfällen auch nur wenig hervortreten kann.
Das klinische Bild ist in der Mehrzahl der Fälle, nachdem es
sich nach mehrfachen vorausgegangenen Schwankungen einmal fixirt hat,
ein vollkommen typisches.
Die depressive Phase verläuft zumeist als einfache Ver-
stimmung ohne Hallucinationen und ausgeprägte Wahnideen. Der Kranke
ist still, einsilbig, gedrückt, energielos. Alles erscheint ihm in so trübem
Lichte, dass er sich namenlos unglücklich fühlt. Er wähnt, durch eigenes
Verschulden sein Verhängnis heraufbeschworen zu haben. Interesse- und
freudlos steht er Dem gegenüber, was ihm früher das Liebste war. Für
Trost vollkommen unzugänglich, schleppt er mühselig seine Tage dahin.
Er fühlt selbst, dass er leistungsunfähig geworden ist und den geringsten
Anforderungen nicht mehr genügen kann. Oft sitzt er Tage lang, stumpf
vor sich hinbrütend, umher, unfähig, sich zu irgend einer That aufzuraffen,
oder er kann Tage bis Wochen lang zu Bett liegen bleiben. Seine Energie-
losigkeit schützt ihn in der Regel vor dem Triebe zum Selbstmord, der
hier seltener als bei der einfachen Melancholie beobachtet wird. Da-
gegen verweigert er nicht selten die Nahrung.
In einzelnen Fällen kann die Verstimmung bis zur Hemmung aller
geistigen Functionen, bis zum Stupor, fortschreiten.
Seltener wird eine ausgesprochene Angst -Melancholie oder eine
agitirte Melancholie mit ruhelosen motorischen Entäusserungen, mit an-
haltend und laut wiederholten Selbstvorwürfen u. dgl. mehr beobachtet.
Diese Form zeigt oft Züge der Moral-Insanity, indem sich das innere
Wehegefühl in ausgesuchten Kränkungen und Anklagen der Umgebung mit
gelegentlichen Wuthattaquen reflectirt. Mitunter kann auch ganz acut das
Bild des depressiven Wahnsinns in Scene treten.
Zumeist besteht in dieser melancholischen Phase ein ausge-
sprochenes Krankheitsgefühl, ja nicht selten sogar eine gewisse
Krankheitseinsicht. Die Patienten bedauern dann die in ihrer Aufregung
begangenen Excesse und Verkehrtheiten und fürchten, solche in Bälde
von Neuem begehen zu müssen.
Mancherlei somatische Störungen pflegen nicht zu fehlen. Zu-
nächst finden wir solche der Sensibilität, wie Brennen, Druck und Schmerz
im Epigastrium, Intercostal-, Quintus- etc. Neuralgien, Cephalalgien, Glieder-
schmerzen. Die Circulation ist (mit Ausnahme der activen Form) zumeist
verlangsamt, die Extremitäten blau, kalt, der Gefässtonus herabgesetzt,
die Herztöne abgeschwächt, die Athmung oberflächlich, die Haut trocken,
fahl und runzelig. Es besteht Mattigkeit und Abgeschlagenheit, Appetit-
losigkeit, belegte Zunge, gestörte Verdauung. Der Schlaf ist stets unge-
nügend. Das Körpergewicht pflegt zu sinken.
Mit dem Eintritte der Phase der Exaltation, welche sich in der
Regel allmälig vollzieht, ändert sich das Krankheitsbild völlig.
Mit gleichzeitiger grösserer Blutfülle des Kopfes und ansteigender Thätig-
keit des Herzens wird das Aussehen ein völlig anderes, es stellen sich
lebhafter Turgor vitalis, belebte Miene, ausdrucksvolle Gesichtszüge ein.
Die Bewegungen werden frei und elastisch. Ess- und Trinklust werden
gesteigert, die Verdauung gefördert.
Die Exaltation stellt sich in der überwiegenden Majorität der Fälle
in geradezu charakteristischer Weise als einfache Aufregung dar mit
26& CIRCULÄRES IRRESEIN.
Erhaltung derBesonnenheit, als Mauia mitis, Hypomanie, Mania sine
delirio. Der Kranke fühlt sich heiter und gehoben, frisch und wohl. Er sucht
sich zu beschäftigen und zeigt lebhaftes Interesse für die Umgebung. Bald
wird er massig erregt. Die Auffassung äusserer Eindrücke und der Verlauf
der Vorstellungen vollzieht sich bei ihm mit grösserer Leichtigkeit, sein
Interesse steigt nach den verschiedensten Richtungen hin. Er erscheint
deshalb aufgeweckter, scharfsinniger, leistungsfähiger als in gesunden Tagen.
Er spricht gern und viel und ergeht sich oft in witzigen, auch ironischen
Wendungen und Wortspielen.- Alles, was er unternimmt, scheint ihm leicht.
Er kennt keine Ermüdung und bekundet eine ihn selbst überraschende
körperliche und geistige Regsamkeit. Dabei ist aber doch stets ein gewisser
Mangel an innerer Einheit des Vorstellungsverlaufes, eine Unfähigkeit zu
consequenter Verfolgung einer bestimmten Gedankenreihe, zur logischen
Durcharbeitung gegebener Ideen, eine Unbeständigkeit der Interessen, ferner
Abspringen von einem auf den anderen Gegenstand nicht zu verkennen.
Neben der gehobenen Stimmung besteht nicht selten eine geringere
oder grössere gemüt bliche Reizbarkeit. Erfahren dann die un-
gezügelten Strebungen einen Widerstand, so kann es zu heftigen Zorn-
ausbrüchen, selbst bis zu gewaltthätigem Gebahren kommen. In Folge der
Bestimmbarkeit durch momentane Eindrücke und unbeherrschte Affecte
erscheinen die Handlungen oft triebartig und bei der geringen Störung der
Intelligenz mitunter unmoralisch.
Einen hervorstechenden Krankheitszug bildet die ruhelose Viel-
geschäftigkeit. Der Kranke sucht Gesellschaften auf und knüpft viele
Verbindungen an. Er geht auf Reisen und strebt die verschiedenartigsten
Unternehmungen an. Er macht eine Menge zweckloser Einkäufe, weil jedes
neue Object seine Begierde reizt, scheut auch gelegentlich nicht vor einem
Diebstahl oder einer Uebervortheilung zurück, um einen momentan auf-
getauchten Wunsch zu befriedigen.
Er kleidet sich auffällig, vielleicht phantastisch, aber doch ungeordnet.
Er schreibt viel in auffälliger Form, verfasst wohl auch Gedichte. Er
führt überall das grosse Wort, hält Reden und Declamationen und äussert
die grössten Renommagen. Geschlechtlich erregt und zugleich rücksichtslos
macht er obscöne Witze in Frauengesellschaft oder treibt sich Tage lang
in Bordellen umher. Die bis dahin sittsame Frau erscheint in kokettem
Anzüge in zweideutigen Tanzlocalen oder unterhält ganz offen Liebesver-
hältnisse. Der früher einsame Stubenmensch sitzt jetzt den ganzen Tag
im Wirthshause, woselbst er beständig essend, trinkend und rauchend, mit
jedem hergelaufenen Menschen Freundschaft schliesst.
Es ist charakteristisch, dass der Kranke trotz seiner Aufregung
und seines unsinnigen Benehmens eine den Fremden leicht täuschende
Besonnenheit zeigt. Freilich fehlt ihm vollständig jede Einsicht in
seine Krankheit; fühlt er sich doch gesünder als je und lässt er sich
niemals durch Hinweis auf seine Verkehrtheiten von seinem pathologischen
Zustande überzeugen; vielmehr weiss er seine absurden Handlungen mit
ausserordentlicher dialektischer Gewandtheit zu motiviren. Gerade durch
diese Congruenz zwischen der Besonnenheit und dem maniakalischen
Handeln kann der Kranke eine grosse Plage für seine Umgebung werden,
indem ihn seine Intelligenz in Stand setzt, seinen Neigungen und Gelüsten
mit einem gewissen Scharfsinn nachzugehen. Er ist dann erfinderisch in
Mitteln, seine Umgebung zu hintergehen, sich der Ueberwachung zu ent-
ziehen und alle möglichen tollen und zwecklosen Streiche zu verüben.
In seltenen Fällen kann sich auf der Anfallshöhe — für kurze
Zeit — eine tiefere Störung des Bewusstseins einstellen mit Zeichen von
COLITIS UND PERICOLITIS STERCORALIS. 267
directem Hirnreiz (Kopfcongestion und Gefässaufregung), in welchem Zustande
flüchtige Wahnbildungen und Hallucinationen beobachtet werden können.
Die Esslust ist zumeist ausserordentlich gesteigert, der Schlaf un-
gestört, das Körpergewicht zeigt in der Regel eine erhebliche Zunahme.
Das Schwinden der Phase der Exaltation vollzieht sich selten plötz-
lich und unvermittelt, zumeist langsam unter mancherlei Schwankungen.
Kurz sei hier erwähnt, dass in seltenern aber klinisch beglaubigten
Fällen anstatt der Phase der Melancholie eine solche des Stupors, sowie
anstatt derjenigen der Manie eine solche des Wahnsinns treten kann,
die bei den betreffenden Individuen in stets gleicher typischer Weise
wiederkehren.
Das zwischen den Gesammtanfällen liegende Intervall ist kein
absolut freies, bekundet vielmehr durch verschiedenartige Symptomenreihen
die Fortdauer der Erkrankung. Es kann die vorausgegangene Phase in
nachklingender melancholischer oder maniescher Färbung, aber mit zu-
nehmender Lucidität, fortsetzen, oder es stellt ein einfaches geistiges
Erschlaffungsstadium dar. Das ganze psychische Wesen ist dann träge und
müde, ohne Initiative, die Stimmung muth- und theilnamslos, die Haltung
schüchtern und verzagt, das Handeln mühsam, energielos und rasch er-
schöpft. Im Verlaufe von Monaten kann sich die alte Persönlichkeit wieder
einigermassen herausarbeiten, ohne aber je die frühere Kraft und Frische
zu erreichen. In anderen Fällen endlich tritt im Intervall ein mehr oder
minder hoher Grad von Gemüthsreizbarkeit oder von reizbarer Schwäche hervor.
Der Verlauf des echten circulären Irreseins ist ein durchaus
typischer. Jahre und Jahrzehnte lang können sich die Anfälle in regel-
mässiger Weise wiederholen mit ihren beiden Phasen, deren Erscheinungen
immer und immer eine ganz erstaunliche, oft bis in die kleinsten Züge aus-
gebildete Gleichartigkeit zeigen. In anderen Fällen aber (namentlich in der Ruhe
des Anstaltslebens) werden die Intervalle successive länger und länger mit
dem Charakter einer langsam zunehmenden geistigen Schwäche. Endlich
kann sich aber auch der Typus allmälig verwischen und ein dauernder
maniescher oder melancholischer Zustand darstellen mit schliesslicher
Verblödung.
Hiernach ist die Prognose im Allgemeinen sehr übel zu stellen.
Immerhin ist in einigen wenigen Fällen der Ausgang in Genesung beob-
achtet worden.
Ein irgendwie charakteristischer pathologisch -anatomischer
Befund für das circuläre Irresein ist nicht bekannt.
Die Behandlung hat hier keine anderen als symptomatische Auf-
gaben zu erfüllen. Zunächst kommt hier der schützende und beruhigende
Aufenthalt in der Irrenanstalt in Betracht. Bei Durchführung der Bettruhe
während der Melancholie soll sich das expansive Stadium weniger stürmisch
gestalten. Zur Bekämpfung der Erregungszustände hat man Bromkalium,
Opium und Morphium in systematischer Anwendung empfohlen. kirn.
Colitis und PeriCOlitls SterCOraliS. Unter dieser Bezeichnung
verstehen wir einen Process, der im Wesentlichen ein Analogon der
Typh litis darstellt, sich von dieser jedoch durch die L o calisation
unterscheidet. Es ist somit eine diffuse oder circumscripte entzündliche
Infiltration der Dickdarmwand.
Die Aetiologie der Colitis deckt sich zum Theile mit der der
Typhlitis. Wir sehen sie bei Individuen auftreten, welche an chronischen
Darmstörungen leiden, insbesondere wenn Kothstauungen bestehen, welche
gelegentlich durch diarrhoische Entleerungen unterbrochen werden. Meist
268 COLITIS UND PERICOLITIS STEßCOKALIS.
handelt es sich um alte motorische Störungen des Dickdarmes allgemeiner
oder partieller Natur, deren Sitz gewöhnlich die Flexuren sind. Mit einiger
Wahrscheinlichkeit ist aber die unmittelbare Ursache der Erkrankung nicht
in der Stauung der Fäcalmassen allein zu suchen, sondern in der Qualität
der letzteren. Zum Mindesten scheinen die fast typisch eigenartig, penetrant
stechend riechenden Entleerungen für das Vorhandensein von ganz abnormen
Zersetzungsprocessen im Darminhalt zu sprechen.
In vereinzelten Fällen begegnen wir ihnen, ohne dass nachweisbar
namhafte Stuhlverstopfung vorausgegangen wäre.
Zu den weiteren ätiologischen Momenten wären zu zählen Infections-
krankheiten, welche localisirte Dickdarmerscheinungen hervorrufen, wie
Dysenterie, Typhus oder Intoxicationen (z. B, Quecksilber). Hier haben wir
jedoch vorwiegend die Colitis stercoralis im Auge und verweisen
bezüglich der übrigen Formen der Colitis auf die entsprechenden Artikel.
Die Krankheitserscheinungen entwickeln sich, soweit unsere
Beobachtungen zeigten, nach mehr oder minder ausgesprochenen Störungen
der Defäcation unter leichter Fieberbewegung, nicht selten mit Ueblich-
keiten und Erbrechen. Gleichzeitig stellt sich an einer Stelle des Dick-
darmes Auftreibung, bedeutende Druckempfindlichkeit ein, neben vermehrter
Kesistenz und Dämpfung des Percussionsschalles. An der Configuration des
sich entwickelnden Tumors erkennt man bei halbwegs entspannten Bauch-
decken mit Leichtigkeit, dass es sich um ein Darmstück handelt. In unseren
Beobachtungen waren es Flexurerkrankuugen. In solchen kann auch die
Zuhörigkeit der erkrankten Partie zum Colon unzweifelhaft festgestellt werden.
Zu den ersten Symptomen gehört daher die Geschwulst und der
Schmerz. Im weiteren Verlaufe treten je nach der In- und Extensität der
Erkrankung jene functionellen Störungen in den Vordergrund, welche durch
die Atonisirung der erkrankten Darmpartie herbeigeführt werden — Stenosen-
erscheinungen (Meteorismus, Koliken etc.), welche sich zuweilen bis zur
Occlusion steigern, wobei die eingangs erwähnten diarrhoischen Entleerungen
fortbestehen können.
Diese letzteren sind nicht rein wässerige, sondern mit bröckligen
Massen untermengte, reichlich schleimhältige Stühle von dem erwähnten
penetranten Gerüche und geringer Quantität.
Ebenso wie die Typhlitis führt auch die Colitis gelegentlich zu circum-
scripten peritonealen Erkrankungen (Pericolitis, Peritonitis circumscripta),
welche gewiss auch zur allgemeinen Peritonitis Veranlassung geben können.
Dass die Erscheinungen der Pericolitis mit intensiveren Fiebererschei-
nungen und schwereren Allgemeinerscheinungen einhergehen, bedarf nur
Frösten weises. Kommt es zur Abscedirung. so kündigt sich diese mit
des Hinan,
Angesichts der intensiven Störung der Verdauungsorgane kommen an
Colitis Leidende rapid herunter, und namentlich bei älteren Individuen wird
sehr rasch der Verdacht rege, dass es sich um eine maligne Neubildung
handle, welche Annahme bei einer ungenauen Kenntnis der Entwicklungs-
geschichte des Processes erst durch den Verlauf widerlegt wird.
Differentialdiagnostisch kommen bei dem fast regulären Sitz
der Aifection an den Flexuren alle Processe in Betracht, welche sich in
dieser Gegend entwickeln, so Peri- und Paranephritis, Nierentumoreu,
Perihepatitis, Abscessus hypophrenicus (von anderen Organen ausgehend),
Intussusception, Carcinom des Colon und einfache Coprostase wegen Atonie
eines unteren Darmabschnittes (Kothtumor).
In letzterem Falle ist die Entscheidung durch eine vollkommene Ent-
leerung des Darmes am leichtesten herbeizuführen.
CONVULSIONEN. 269
Pathologisch- an atomi s ch handelt es sich offenbar um den Vor-
gängen bei der Blinddarmentzündung ganz analoge Processe, Eine gesonderte
Darstellung derselben liegt unseres Wissens nicht vor und es bleibt deshalb
dahingestellt, ob die Fälle von Perforation des Colon, deren in der Literatur
mehrere beschrieben sind, Ausgänge dieser Atfection darstellen. In den drei
Fällen von Windscheid, welche in der Literatur bisher vorliegen, sowie in
den Fällen unserer eigenen Beobachtung trat Heilung ein.
Die Prognose ist somit wie bei der Typhlitis, wenn rechtzeitig ein
correctes Regime eingeleitet wird, zwar eine relativ günstige, doch wird selbst-
verständlich durch die Ausbreitung des Processes, durch den Zutritt irgend
einer Complication (Peritonitis, Perforation, Sepsis etc.) das Leben gefährdet.
Tritt Heilung ein, so bleibt die erkrankt gewesene Darmpartie ein
punctum minoris resistentiae. Recidiven scheinen sehr leicht aufzutreten.
Die Therapie stützt sich auf die Principien der Behandlung der
Blinddarmerkrankungen. In erster Linie steht die prompte Entleerung des
Darmes durch Eingiessungen von 20 — 22° Pi. unter niedrigem Druck, im ent-
zündlichen Stadium keine Abführmittel, örtlich die Eisblase. Opium soll ico-
möglich vermieden werden und nur bei starken Schmerzen oder stürmischer
Peristaltik gereicht werden. Kommt es zur circumscripten Peritonitis, so
tritt unter Umständen die Indication zum chirurgischen Eingriff ein. Zur
Resorption des Exsudats: Eifireibung mit grauer Salbe. Später Elektricität
und Massage zur Hebung der Darmfunction. pal.
Convulsionen. Convulsio bedeutet als Substantiv zu convellere,
das den allgemeinen Sinn hat: „aus der Lage reissen", eigentlich ganz
allgemein jede plötzliche „Zuckung" — im speciellen Sinne — eines Muskels.
Der Begriff ist jedoch schon in der alten Sprache — z. B. convulso latere,
faiices convulsae etc. — auf diejenigen Muskelcontractionen eingeschränkt
worden, welche gegen den bewussten Willen eines Menschen vor
sich gehen. Die Abwesenheit dieses psychischen Momentes muss also
in jedem Fall in der Praxis besonders geprüft und festgestellt werden, bevor
die betreffende Muskelcontraction als Convulsion bezeichnet werden darf.
Das Festhalten einer solchen scharfen Scheidung ist durchaus nothwendig,
wenn im einzelnen Fall z. B. bei Gutachten die Beschreibung von Krampf-
erscheinungen in eindeutiger Weise geliefert werden soll. Es handelt sich
dabei also nicht um eine begriffliche Spielerei, sondern um eine Grund-
unterscheidung der praktischen Diagnostik. Allerdings darf dabei „bewusster
Wille" und „Bewusstsein" nicht verwechselt werden. Z. B. kommen bei
Epileptischen auch bei erhaltenem Bewusstsein oft „Convulsionen" d. h. also
nicht willkürlich bewirkte Muskelcontractionen vor. Natürlich gibt es zwischen
diesen beiden Extremen der willkürlichen und der unwillkürlichen Muskel-
contraction eine Reihe von Bindegliedern, wie es im geistigen Leben zwischen
dem bewussten und dem rein mechanischen Gehirnvorgang Bindeglieder
gibt. Diese Ueberlegung ist besonders bei den „hj/sterischen Krämpfen^,
ferner bei den Krampferscheinungen der unter dem Namen Katatonie (s. d.)
zusammengefassten Psychosen der Fall. Trotzdem darf jene Unterscheidung
als erstes Mittel zur Orientirung über die Natur des als Krampf erscheinenden
Phaenomens nie ausseracht gelassen werden. Convulsion ist also ein etwas
engerer Begriff als „Krampf", womit man auch solche Muskelzustände
bezeichnen kann, zu deren Zustandekommen das Psychische mitwirkt, wie
z. B. die „Schnauzkrärapfe" bei den Katatonischen.
Zweitens müssen aus der grossen Gruppe der unwillkürlichen Muskel-
contractionen diejenigen abgelöst werden, welche nach Reizung eines sensiblen
Nerven refl ectorisch von Statten gehen. Es ist also passend den Ausdruck
270 CONVULSIONEN.
Convulsion auf diejenigen unwillkürlichen Muskelcontractionen einzu-
schränken, welche durch Reizzustände im motorischen Apparat bedingt
sind: Muskel, motorischer Nerv, motorische Bahnen im Rückenmark, Medulla
oblongata, Rons, Hirnschenkel, innere Kapsel, Stabkranz und motorische
Regionen des Gross-Hirns.
Natürlich gibt es Uebergangszustände zwischen den reflectorisch -ange-
regten plötzlichen Muskelcontractionen und den „Convulsionen" im
engeren Sinne besonders in den Fällen, wo ein minimaler Reiz genügt, um
die stärksten Krämpfe hervorzurufen (cfr. z. B. Strychninintoxication, Quer-
schnittsmyelitis etc.), wo also der Reiz in gar keinem Verhältnis mehr zu der
enormen motorischen Wirkung steht. Immerhin ist es auch praktisch wichtig,
die Unterscheidung von Convulsionen und reflectorisch ausgelöstem Krampf
im genannten Sinne festzuhalten und besonders zu untersuchen, ob nicht
die vorhandenen „Convulsionen" in Wirklichkeit reflectorisch ausgelöste
Krampferscheinungen sind. Auch hier bietet die begriffliche Unterscheidung
einen wichtigen Gesichtspunkt für die Untersuchung.
Der klinischenErscheinung nach müssen die Convulsionen in klonische und
tonische eingetheilt werden, je nachdem mehrfache Zuckungen hintereinander
zu Stande kommen oder eine einmalige länger dauernde Contraction auftritt.
In erster Reihe kommen nun in Betracht die isolirten Convulsionen
einzelner Muskeln, bei denen eine Verwechslung mit psychisch bedingten Con-
tractionen wohl kaum in Frage kommen kann. Das ist z. B. der Fall bei den
isolirten schmerzhaften Krämpfen in der Wade, die ganz gut ihrer klinischen
Erscheinung nach willkürlich nachgeahmt werden könnten.
Ferner sind zu nennen : Convulsionen im Sternocleidomastoideus, wodurch
Caput obstipura zu Stande kommen kann, ferner die Tics convulsifs im Facialis-
gebiet, wenn sie nur einen Muskel, z. B. Frontalis oder Orbicularis palpeb-
rarum, betreffen, ferner die krampfhaften Zusammenziehungen des Zwerch-
fells, welche das „Schluchzen" bewirken {Singiütus).
Zweitens gehören hierher die gleichzeitigen Convulsionen in mehreren
Muskeln, welche einem bestimmten peripheren Nerven angehören.
Wenn zum Beispiel gleichzeitig Sternocleidomastoideus und Cucullaris zucken,
so lassen sich diese beiden Krampfphänomene aus Reizung eines bestimmten
Nerven {N. accessorius) leicht erklären. Hierher gehören ferner die Tics
convulsifs, bei denen mehrere Muskeln des Facialisgebietes betheiligt sind.
Drittens könnten diejenigen Convulsionen in Betracht kommen,
welche durch Reizung von Nervenplexus, aus denen eine Reihe verschiedener
peripherer Nerven entspringen, zu Stande kommen. Diese werden im Ein-
zelnen nur durch das sorgfältigste Studium derjenigen Muskeln, welche
sich an der unwillkürlichen Contraction betheiligen, durch Unterordnung
dieser unter die bekannten Nervenbahnen und Verfolgung letzterer bis zu
demjenigen Punkt, von dem aus sich der Complex von Reizungen erklärt,
erkannt werden können. Es sind hier natürlich die mannigfaltigsten klini-
schen Erscheinungen denkbar je nach dem Angriffspunkt der Reizung. In
der Praxis wird hier nur die sorgfältigste anatomisch-physiologische
Analyse des einzelnen Falles helfen.
Viertens kommen Convulsionen in functionell zusammengehörigen
Muskel-, beziehungsweise Nervengebieten in Betracht, wie z. B. Krämpfe in
der Beugemusculatur einer Extremität,
Fünftens sind zu nennen die Convulsionen, welche durch Reizung
der motorischen Bahn von den Vorderhörnern des Rückenmarkes an bis
zum Grosshirn entstehen können.
Sechstens kommen die allgemeinen Convulsionen in Betracht, wie
sie z. B. bei der Epilepsie vorkommen (cfr. Artikel „Krämpfe"), sommee.
COORDINATIONSSTÖRUNGEN. 271
CoordinationSStÖrungen. Unter Coordination versteht man
jene Function des Nervensystems, durch welche die zur präcisen Ausführung
einer willkürlichen Bewegung nöthigen Muskelcontractionen in den ent-
sprechenden Muskeln in der eben nothwendigen Reihenfolge und mit der
angemessenen Kraft ausgelöst werden. Es ist bekannt, dass bei einer jeden,
scheinbar noch so einfachen Bewegung eine grosse Anzahl von Muskeln thätig
ist, und zwar ebenso die der intendirten Richtung direct entsprechenden,
als ihre Antagonisten; durch dieses allseitige Mitwirken sämmtlicher im
Bereich der zu bewegenden Körpertheile liegenden Muskeln gewinnt die
Bewegung ihre Sicherheit, Präcision, d. h. ihre Coordination. Ist diese
Harmonie der Innervation fehlerhaft geworden, so spricht man von Coor-
dinationsstörungen. Diese Störungen können nun entweder aus mangelhafter
Ausbildung oder vollständigem Fehlen resultiren : physiologische In-
coordination, oder aus theilweisem oder gänzlichem Verlust eintreten:
pathologische In coordination.
Was zunächst die erstere anbelangt, so sehen wir sie theils bei kleinen
Kindern, die eben die einzelnen Bewegungen auszuführen beginnen, theils
im späteren Alter bei Erlernung von complicirteren Bewegungsacten, wie
z. B. des Schreibens, Ciavier- und Violinspielens etc. Der Hauptcharakter-
zug dieses Mangels an Coordination ist die Unzulänglichkeit der Bewegungen
in Folge der nicht genügend präcisen Bestimmung des Zieles oder der Un-
kenntnis der zur richtigen Ausführung nöthigen Muskelactionen. Die be-
treffenden Bewegungen fallen zu kurz, zu langsam aus, sind dabei
unsicher. Die Kinder greifen ohne die Finger gehörig auszustrecken oder
sie schliessen sogar ihre Hand, noch bevor sie ihr Ziel erreicht hätten; die
Finger des Anfängers am Ciavier wollen nicht gut auseinander.
Die pathologische Incoordination hingegen betrifft ein Nerven-
system, welches schon, wenigstens für gewisse Bewegungen, eine vollkom-
mene Coordination besass ; dieser Umstand erklärt die Verschiedenheit des
Symptomenbildes. Diese Bewegungsstörung kann in zweierlei Weise auf-
treten : entweder stellt sie sich nur bei gewissen, meist complicirten Be-
wegungsformen ein, oder aber sie begleitet jede Innervation der betroffenen
Muskelgebiete. Die erstere beobachten wir besonders an der oberen Extre-
mität bei den sogenannten Beschäftigungsneurosen (Schreibe-, Violin-
spielerkrampf etc.) Diese Art der Coordinationsstörung ist durch einen der
normalen Coordination sich anreihenden tonischen Krampf bedingt, welcher
oft von schmerzhaften Empfindungen begleitet ist, welcher aber sofort nach-
lässt, wenn der Kranke die betreffende Beschäftigung aufgibt. Andere Be-
wegungen bleiben hiebei ganz intact und die rohe Kraft ist nicht herab-
gesetzt. (Vergleiche den Artikel „Beschäftigiingsneuroi^en'', pag. 161, „Interne
Mediän und Kinderkrankheiten^^.) Eine ganz ähnliche Coordinationsstörung
ist das Stottern. Strümpell sah einen Beschäftigungskrampf bei einem
Clarinettenbläser an der Zunge. An den unteren Extremitäten kommen
auch manchmal derartige Zustände vor, und die als Astasie und Abasie
neuerdings benannten Störungen wären hieher zu rechnen.
Die Bezeichnung Astasie — Abasie wurde von P. Blocü im Jahre 1838 ein-
geführt. Die mit diesem Terminus bezeichneten Erscheinungen werden gewöhnlich bei
der Hysteri" beobachtet und bilden dann oft die einzige Krankheitserscheinung; daher
nennt W. Mitchell diesen Zustand hystei-ische Ataxie. Die betroftenen Patienten können
kaum oder gar nicht gehen noch stehen, obzwar ihre Muskelkraft und bei anderen Be-
wegungen auch ihre Coordination ganz normal ist; so vermögen die Kranken sich auf
allen Vieren oder selbst hüpfend weiterzubewegen und andere Bewegungen auszuführen,
sobald sie aber die gewöhnlichen Gehbewegungeu oder einfach nur aufrecht zu stehen
versuchen, fallen sie hilflos zusammen, wobei sie gewöhnlich über Schmerzen in den
Beinen und im Rücken klagen. Chakcot unterschied eine choreaartige (chon'iforme) und
eine zitternde (trqndente) Form der Astasie-Abasie, je nachdem bei Gehversuchen grössere
272 COORDINATIONSSTÖRUNGEN.
oder kleinere incoordinirte , die normalen Bewegungen verhindernde Zuckungen dabei
eintreten.
Eine wenigstens symptomatologisch nahe verwandte Bewegungsstörung wird bei
der Tabes beobachtet, welche die Engländer mit der Bezeichnung „giring way of the
legs" (Durchgehen der Füsse) charakterisiren, und welche darin besteht, dass die Kranken
fast momentan die Herrschaft über ihre unteren Extremitäten verlieren und zusammen-
fallen. Hiebei ist keine Lähmung eingetreten, denn im nächsten Augenblick erheben sie
sich wieder und gehen weiter.
Die zweite Form der pathologischen Incoordination nennt man
Ataxie, ihr klinisches Bild besteht darin, dass die betreffenden Bewegungen
zu lang oder zu brüsk ausfallen, dadurch auch unregelmässig werden.
Freilich erscheint diese Störung in ihrem ersten Beginnen noch wenig
charakteristisch ; der Gang, die Bewegungen der Hände sind einfach unge-
schickt, steigert sich aber das Uebel, dann werden die Bewegungen immer
schlechter und bekommen einen eigenartigen Charakter, welcher haupt-
sächlich in einem brüsken Hinausschiessen über das gewünschte Ziel besteht ;
demgemäss macht der Tabeskranke bei ausgebildeter Ataxie grössere Schritte,
seine Beine werfen sich stossweise, oft in falsche Richtung und über das
richtige Mass nach vorne zuckend und fallen dann stampfend auf den Boden
(schleudernder Gang, locomotorisclte Ataxie). Es ist natürlich, dass der Kranke
seine incoordinirten Bewegungen sicherer zu machen trachtet, dies zeigt sich
am meisten beim Gehen: er hält deswegen seine Beine weit auseinander
(hiedurch gewinnt er eine breitere Basis), ferner überwacht er sorgfältig
mit den Augen seinen Gang (Compensation der Ataxie), ja sogar beim Stehen
kommt ihm die Controle der Augen zu Gute; es ist dies leicht begreiflich,
da das (erlernte) aufrechte Stehen auch fortwährende Muskelthätigkeit er-
fordert, welche in Folge der Incoordination nicht gleichmässig bleibt [statische
Ataxie) ; die leichteren Grade dieses Zustandes erscheinen besonders beim
Stehen auf einem Fuss. Aehnlich sind die Störungen, welche bei Bewegungs-
versuchen in der Rückenlage sich zeigen. Fordert man den Kranken auf,
sein Bein auf eine gewisse Höhe zu heben, oder mit der Ferse die Fuss-
spitze des anderen Fusses zu berühren, somit etwas complicirtere Bewegungen
zu machen, dann laufen allerhand Zick-zackstösse der intendirten Bewegungs-
richtung unter. Bei der Ataxie der oberen Extremitäten ist die Störung
auch sehr ausgesprochen ; will der Patient ein Glas fassen, so spreizt er
schon bei Beginn der Bewegung seine Finger und trachtet dann unter
ängstlicher Controle der Augen den Gegenstand ja im geeignetsten Moment
zu erhaschen, sonst würden die zwischenlaufenden, hier und dort aufblitzenden
Zuckungen allen Versuch vereiteln. — Die grobe motorische Kraft scheint
selbst bei ziemlich hochgradigen Bewegungsstörungen noch intact oder doch
kaum geschwächt zu sein, eigentlich ist aber ein vollständiger Verlust der
Coordination gleichbedeutend mit dem Aufhören der willkürlichen Bewegungs-
fähigkeit, da wir bei der-Erlernung der einzelnen Bewegungen eben ihren
Coordinationsmechanismus — und nichts anderes — einüben. Somit be-
deutet ein vollkommener Verlust der Coordination bei Erwachsenen einen
noch grösseren Defect, wie ihr Mangel bei Neugeborenen, da nach der Er-
lernung der coordinirten Bewegungen jene mehr automatischen des ersten
Kindesalters verloren gehen. Dies sehen wir bei der Tabes, wo sicli die
fortschreitende Coordinationsstörung allmälig zu vollkommener Bewegungs-
unfähigkeit steigert, ohne dass wir im strengsten Sinne des Wortes von
Lähmung sprechen könnten.
In ihrer klinischen Erscheinung tritt die Ataxie besonders an den
Extremitäten hervor, weil hier die Unregelmässigkeiten der Miiskelcontrac-
tionen in Folge der Hebelwirkung der langen Knoclien mehr evident werden,
doch kann man dieselben Störunaen manchmal bei sehr ausgebildeter Ataxie
COORDINATIONSSTÖRUNGEN. 273
auch in den Sprachwerkzeugen und im Facialisgebiet beobachten. Sie ist an den
unteren Extremitäten eine der classischen Erscheinungen der Tabes dorsalis.
Ataxie kommt bei folgenden Krankheiten vor: 1, bei circum-
scripten Herden im motorischen Gebiet der Hirnrinde, und zwar in einer Form,
welche ganz der tabischen entspricht; 2. als Spätsymptom oder Nachkrank-
heit bei gewissen Intoxicationen (bes. Ergotismus) und schweren Infections-
krankheiten (Diphtherie, Rothlauf etc.) ; 3. bei der Tabes dorsalis ; 4. end-
lich hat man die Ataxie in einigen Fällen von umschriebener, meist trau-
matischer Affectionen des Rückenmarkes und der Oblongata beobachtet. Diese
Fälle verdienen ein ganz specielles Interesse, weil durch sie allein die Mög-
lichkeit des Entstehens der Ataxie aus einer Rückenmarksaffection gesichert
wäre; leider ist aber bei einem Theile der hieher gerechneten Fälle der
Krankheitsprocess so complicirt oder die Diagnose so zweifelhaft (Landet,
VuLPiAN, Gaeeod, Kahlee Und Pick, Letden etc.), dass sie zu einer
sicheren Folgerung nicht brauchbar scheinen. Der andere Theil der Fälle
betrifft solche, in welchen die Ataxie nach einer Lähmung, mit der Wieder-
kehr der Motilität auftrat (Joffeoy et Solmon, Gilbeet, Neumann, Käst,
Stieglitz u. A.) und sich dann allmälig wieder verlor. Wir kommen auf
die Bedeutung dieser Fälle noch zurück.
Unter dem Namen sensorische Ataxie bezeichnet man noch hie und
da eine Bewegungsstörung, die als Folge von Sensibilitätsdefecten vor-
kommt, ferner als cerebellare Ataxie einen, theils bei Rückenmarks-, haupt-
sächlich aber bei Cerebellarleiden beobachteten Zustand, welche beide von
der Störung des Lage- und Gleichgewichtsgefühles herstammen und keine
eigentliche Coordinationsstörungen sind ; auch sind ihre klinischen Symptome
ganz verschieden, bei der cerebellaren Ataxie ist der Gang taumelnd, ähn-
lich dem eines Betrunkenen.
Was nun die Localisation der Coordinationsstörungen
im Nervensystem anbelangt, so sind unsere diesbezüglichen Kenntnisse noch
ziemlich verworren; auch ist es noch keine vollkommen gelöste Frage, wo
und wie im Nervensystem die normale Coordination zu Stande kommt. Da-
rüber kann aber kein Zweifel obwalten, dass ihre Entstehung im Central-
nervensystem zu suchen sei. Nachdem aber Coordination eine zielbewusste
Thätigkeit, also eine Abwägung der speciellen Umstände bedeutet, so müssen
wir beim decapitirten Frosch — der ganz zielgemäss sich noch gegen
äussere Reize wehrt — die Coordinationsthätigkeit wenigstens zu ihrem
grossen Theile ins Rückenmark localisiren. Diese Fähigkeit des Rückenmarkes
verliert sich aber umso mehr, eine je höhere Stufe in der Entwickelung
das Thier einnimmt; beim Menschen hat dieser Theil des Centralnerven-
apparates gar keine bewusste Thätigkeit, sämmtliche willkürlichen Be-
wegungen des Menschen stammen von seiner Hirnrinde her, es ist nicht
möglich, eine zielbewusste Bewegung (also nicht eine einfache Muskel-
contraction ohne besondere Coordination) von einem anderen Theile des
Nervensystems hervorzurufen, weder auf experimentellem Wege (bei Hin-
gerichteten), noch in pathologischen Beobachtungen. Und das muss uns als
höchst natürlich erscheinen, sobald wir bedenken, dass der Mensch mit sehr
wenigen Fähigkeiten zur Welt kommt, im Gegentheil fast sämmtliche Be-
wegungen nach der Geburt selbst erlernen muss. Das Thier entwickelt sich
vor seiner Geburt bedeutend weiter als der Mensch, es hat ererbte Er-
innerungen, der Mensch fast nur erworbene. Diese Verschiedenheit macht
aus unserem Rückenmark ein Organ von viel niedrigerer Bedeutung, als das
der Thiere, welches Verhalten auch einig'ermassen in der anatomischen Ge-
staltung Ausdruck findet. Beim Erlernen der einzelnen Bewegungen sammeln
wir die Erfahrungen in unserer Gehirnrinde, und so oft wir das Erlernte
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. 1°
274 COORDINATIONSSTÖRUNGEK
wiederholen, muss die betreffende Rindenpartie in Action treten. Es ist eine
oft gemachte Angabe, dass der geübte Clavierspieler etc. diese Fähigkeit
in seinem Rückenmark besitzt und von der Rinde aus nur den ersten Anstoss
zur Ausführung sendet, wie wir etwa ein Uhrwerk in Gang setzen. Niemand
wird es bezweifeln können , dass wir beim Erlernen einer technischen
Fertigkeit die Erinnerungsbilder in unserer Rinde sammeln und aufbewahren ;
wieso dann die Wiedergabe einer Kenntnis, welche im Gehirn aufgespeichert
ist, durch das Rückenmark erfolgen könnte, ist mir nie klar geworden. Im
Gegentheil lehren sämmtliche Beobachtungen, dass alle unsere erlernten
Fähigkeiten, vom Gehen an begonnen, ausschliesslich in ganz specielle Ge-
biete der Hirnrinde localisirt sind, und Zerstörung dieser Theile beim Menschen
definitive Verluste, der betreffenden Fähigkeiten nach sich zieht. Der Weg
von diesen speciellen Gebieten führt dann in die eigentliche motorische Zone,
in welcher diese Bewegungsimpulse den Pyramidenbahnen übermittelt werden.
Die Thätigkeit jener Centren, sowie aller Centren im Grosshirn, ist eine
associative, das Resultat derselben ist die zielbewusste Bewegung, welche
ohne Zweifel schon von ihrem ersten Entstehen an coordinirt ist, umsomehr,
da wir ja eben die Coordination bei den Bewegungsübungen erlernen. Aus
all' diesem folgt, dass wir keine besondere Coordinationscentren annehmen
brauchen, da diese mit den eigentlichen psychomotorischen zusammenfallen.
Eine weitere Folgerung dieser Betrachtungen ist, dass der Weg der coor-
dinirten Bewegungsimpulse von der Rinde durch die einzigen motorischen
Bahnen, die Pyramidenbahnen, gebildet wird. Die Annahme (welche man
der tabischen Ataxie zu . lieb herbeizog), dass die Coordinationsbahnen in
den Hintersträngen verlaufen, entbehrt jedweder Grundlage, denn erstens
würde ein solches Verhalten soviel bedeuten, dass die Pyramidenbahnen
atactische Bewegungserregungen leiten, welche noch vor ihrem Austritt aus
dem Rückenmark geordnet werden müssten, u. zw. : angepasst an die momen-
tanen Gesichts-, Gehörs- und Tasteindrücke — was fast undenkbar ist;
zweitens aber widersprechen einer solchen Annahme ebenso die experimen-
tellen, als die klinischen Erfahrungen. Es ist namentlich noch trotz viel-
facher Versuche nicht gelungen, bei Thieren durch Durchschneidung der
Hinterstränge des Rückenmarkes Ataxie hervorzubringen, und es sind schon
mehrere Fälle beobachtet, in welchen trotz der postmortal nachgewiesenen,
ausgedehnten Entartungen der Hinterstränge beim Menschen die klinische
Beobachtung keine Coordinationsstörungen nachweisen konnte. Es ist aber
auch noch als eine offene Frage zu betrachten, ob überhaupt Coordinations-
störungen in Folge einer Läsion der motorischen Leitungsbahnen entstehen
können. Dieser nur zu leichtfertig gemachten Annahme gegenüber stehen
in überaus grosser Anzahl die Fälle von engbegrenzter und langsam fort-
schreitender Myelitis, bezw. Compressionsmyelitis, in welchen Ataxie so gut
wie gar nicht vorkommt, und was die schon oben erwähnten Fälle von Ataxie
bei der wiederkehrenden Motilität anbetrifft, so ist ihre Deutung noch nicht
ganz klar. Es ist auffallend, dass in diesen Fällen die Ataxie parallel mit
der Besserung zunahm, u. zw. nicht in der Weise, dass man glauben könnte,
die wiederkehrende Motilität lasse die Coordinationsstörung erkennen, viel-
mehr zeigten sich die ersten Anfänge der Bewegung noch ganz normal und
nur dann entwickelte sich ziemlich rasch und sehr intensiv die Ataxie. Die
Deutung dieser Beobachtungen scheint uns nicht leicht zu sein, immerhin
glauben wir, dass durch sie die Annahme von Coordinationsfasern nicht
gestützt wird, da es unverständlich wäre, wieso bei einem Heilungsprocesse,
welcher ziemlich rasch zu einer vollständigen Herstellung führt, die moto-
rischen Leitungselemente in demselben Maasse wieder gangbar würden, als
die Coordinationsbahnen ihre Leitungsfähigkeit einbüssten.
CROUP. 275
Wo die Entstehungsursache der tabischenAtaxie sitzt, ist heute noch
eine ungelöste Frage. Es scheint uns aus den oben angegebenen Gründen nicht
im mindesten wahrscheinlich zu sein, dass sie mit der bekannten Riickenmarks-
afFection in ursächlicher Beziehung wäre, und da man bei der Tabes neuerlich
auch in den peripheren Nerven und besonders im Gehirn anatomische
Veränderungen nachgewiesen hat, so kann man einstweilen über die Locali-
sation dieses Symptoms nicht bestimmt urtheilen. Erb äusserte sich dahin,
dass die Ursache der Coordinationsstörung nur zwischen dem Willensorgan
und den Vorderhörnern sein kann, aber ausserhalb der eigentlichen Pyra-
midenbahnen. Unsere anatomischen Kenntnisse zeigen aber, dass zwischen
der Hirnrinde und den motorischen Rückenmarkszellen nur die Pyramiden-
bahnen liegen, somit würde diese Annahme die betreffende Läsion in die
motorische Rindenzone (Willensorgan) localisiren, was uns aus anderen Ur-
sachen auch wahrscheinlich scheint. — Wir wollen uns hier nicht länger
mit den sensorischen Ataxietheorien (von Axenfeld, Landky, Leyden, Rühle
u. A.), noch mit den Reflextheorien dieser Stö;:ung (Browx-Seqüaed , Topi-
NAED, Jaccoud, Cton) beschäftigen, da sie heute schon genügend wider-
legt sind. Man hat neuerdings durch periphere Nervenläsionen (Neuritis)
entstandene Ataxien beschrieben (Strümpell, Leyden), doch genügen diese
Fälle den Anforderungen der Lehre von den Localisationen nicht, sie ent-
sprechen vielmehr diffusen, noch wenig gekannten Affectionen.
Die als „Beschäftigungsneurosen" benannten Coordinationsstörungen
müssen ganz bestimmt in specielle Rindentheile localisirt werden, unsere
Kenntnisse über die Localisation der betreffenden Bewegungen würden keine
andere Deutung zulassen.
Die Prognose der Coordinationsstörungen fällt mit ihrem Grundleiden
zusammen, die Therapie desgleichen, doch hat man einige Mittel direct
gegen die Coordinationsstörungen und namentlich gegen die Ataxie anem-
pfohlen. Früher wollte man diese Störungen durch die Bettruhe vermindern,
heute ist man mehr für methodische Gehübungen eingenommen. Bei dieser
letzteren sollen die Patienten jjeführt werden und sie müssen trachten, die
Coordination von Neuem zu erlernen. Einigen Kranken hilft die Suspension
nach Motschutkowski-Charcot, Andere werden mit mehr — weniger Er-
folg elektrisirt, massirt und hydropathisch behandelt. Brown-Sequard und
seine Anhänger beschreiben Wundercuren mit der Hodenflüssigkeit. Schade,
dass alle diese und viele andere meistens ohne jeden Erfolg versucht werden,
und glücklich Der, der in einem Moment der nicht so seltenen spontanen
Remissionen bei der tabischen Ataxie eine neue Cur beginnt ! jendrassik.
Croup {Laryngotracheitis ßbrinosa, Croup cVemhUe, häutige Bräune).
Das aus dem Schottischen stammende Wort bezeichnet nach Cooke den
Pips, eine weisse Auflagerung auf der Zunge junger Hühner, nach Wilson
ist es auf einen altdeutschen Stamm zurückzuführen, der gleichbedeutend
ist mit Schrei. In die medicinische Literatur wurde es eingeführt durch
das bekannte Werk von Francis Home : Inquing info the natiire, cause and
eure of the croup. Edinh. 1765. Er schildert darin sowohl die durch katar-
rhalische Schwellung als die durch fibrinöse Auflagerungen im Kehlkopf hervor-
gerufenen Krankheitserscheinungen, die er als verschiedene Stadien einer und
derselben Krankheit, der Suffocatio stridula, betrachtet.
Erst später lernte man den durch acute katarrhalische Schwellung
hervorgebrachten Zustand, den sogenannten Pseudocroup, von dem mit
Membranbildung einhergehenden trennen, für welch letzteren die Bezeichnung
Croup oder echter Croup reservirt wurde. Leider wurde das rasch einge-
bürger;e Wort alsbald noch in anderem Sinne gebraucht, so gebrauchten
18*
276 CROUP.
und gebrauchen heute noch viele Autoren das Wort für jene Fälle von
Laryngotracheitis librinosa, welche nicht durch diphtherische Infection
hervorgebracht sind, also in einem ätiologischen Sinne, und Virchov^ hat
die Bildung fester, fibrinöser, der Schleimhaut nur locker aufgelagerter.
Membranen als Croup (croupöse Entzündung) der Schleimhaut bezeichnet.
Indem er diese croupöse der sogenannten diphtheritischen Schleimhaut-
entzündung, bei welcher das fibrinöse Exsudat in die obersten nekrotisirten
Schichten der Schleimhaut abgesetzt wird, gegenüberstellte, gab er Veran-
lassung zu einer heillosen Verwirrung des Croupbegriffes, welche selbst
dadurch noch nicht genügend beseitigt ist, dass man in jedem Fall aus-
drücklich hinzusetzt, ob man das Wort in ätiologischem, anatomischem oder
klinischem Sinne gebrauche. Zur Beseitigung derselben scheint es am zweck-
mässigsten, das Wort croupös als Bezeichnung eines anatomischen Verhaltens
gänzlich fallen zu lassen und, wie dies bereits vielfach geschieht, durch
fibrinös zu ersetzen, das W^ort Croup aber auf die Bezeichnung des
durch die Bildung häutiger Auflagerungen im Kehlkopf ent-
stehenden Symptombildes, gleichviel aus welcher Ursache dasselbe
entstanden, zu beschränken. Die Natur des Krankheitsprocesses müsste dann
in jedem Falle erst durch die wissenschaftlich richtige Bezeichnung :
Laryngo-tracheitis diphtherica, non diphtherica etc. angegeben werden. Es
empfiehlt sich diese auch historisch gerechtfertigte Beschränkung speciell aus
praktischen Gründen, einmal, weil das Publicum das Wort Croup gerade in
diesem Sinne gebraucht und sicherlich noch weiterhin gebrauchen wird,
dann aber, weil damit dem Arzte die wichtigste und nothwendigste Directive
für sein Handeln : die Beseitigung der drohenden Erstickungsgefahr, gegeben
ist, neben welcher die Erforschung des ätiologischen Momentes zunächst
wenigstens an Wichtigkeit zurücktritt.
Die beim Croup auftretenden Symptome setzen sich zusammen aus
solchen, die durch ungenügenden Luftzutritt zu den Lungen und solchen,
welche durch die Anwesenheit der fibrinösen Entzündung hervorgerufen
sind. Die ersteren sind die weitaus wichtigeren, jedoch für Croup keines-
wegs charakteristisch, da sie in gleicher Weise durch katarrhalische
Schwellungszustände , Oedema glottidis, Tumoren etc. veranlasst werden
können. Sie bestehen zunächst in einer Veränderung des Athemtypus in der
Art, dass bei kräftigen Kindern die Inspiration angestrengt, von hörbarem
Stridor oder krähenden Geräuschen begleitet und verlängert wird, die Ex-
spiration zwar lautlos oder mit viel schwächerem Stridor aber gleichfalls
unter starker Betheiligung der Bauchmusculatur activ und noch mehr ver-
längert vor sich geht. Die normale Athempause kommt dadurch in Wegfall,
die Zahl der Respirationen in der Minute wird, wenngleich nicht constant,
verringert (gemischte Dyspnoe). Gleichzeitig stellen sich während der mit
Anstrengung aller Hilfsmuskeln ausgeführten Einathmung Aspirationserschei-
nungen am Thorax ein, welche dadurch bedingt sind, dass in Folge des
ungenügenden Zutrittes von Luft durch die verengte Glottis der Luftdruck
im Innern beträchtlich vermindert wird, und die nachgiebigen Thoraxpartien
nach innen einsinken. Solche sind die Supraclavicular- und die Jugulargrube,
bei Kindern die Ansatzstellen des Diaphragma an der vorderen Thorax-
apertur, bei. rhachitischen mehr die seitlichen, bei älteren mehr die mitt-
leren mit dem Processus xiphoideus, welch' letzterer manchmal bis fast
zur Wirbelsäule hin eingezogen wird. Auch das Abwärtssteigen des Kehl-
kopfs während der Inspiration auf das Gerhardt aufmerksam gemacht,
gehört hierher. Die gleichen Verhältnisse führen an den Lungen zu einer
abnormen Ausdehnung (Blähung) der oberen dem Zug der kräftigen inspira-'
torischen Hilfsmuskeln ausgesetzten Lungenpartien, nicht selten auch durchs
CROUP. 277
Platzen einzelner Lungenbläschen zu subpleuralem und interstitiellem Em-
physem, während es in den unteren zu einer Anschoppung des Blutes, zur
Bildung von Atelectasen und lobulär-pneumonischen Herden kommt. Trotz-
dem kommt es, so lange die Bronchien frei bleiben, in Folge der ungenü-
genden Exspiration zu einer Ansammlung von Residualluft und damit zu
einer wachsenden Ausdehnung und Inspirationsstellung der Lunge, wobei
der untere Lungenrand mehr und mehr schliesslich bis zur Ijmschlagstelle
der Pleura hinabgedrängt wird. Die Rückwirkung dieser Verhältnisse auf
den Gaswechsel ist eine trotz der angestrengten Athmung ungenügende
Zufuhr von Sauerstoff und eine zunehmende Ueberladung des Blutes mit
Kohlensäure. Die weitere Folge ist dann eine allmälig sich ausbildende
Kohlensäurevergiftung, die sich in der hochgradigen Cyanose, Sinken des
Blutdruckes, Benommenheit und schliesslich Lähmung des Respirations- und
Circulationscentrums äussert. Die Circulation wird aber schon früher direct
geschädigt, indem die forcirten Inspirationen ein Sinken des Blutdrucks bis
zum Unfühlbarwerden des Radialpulses bewirken, die gedehnten Exspira-
tionen und der häufige Husten den Abfluss des venösen Blutes nach dem
Thorax erschweren, und so zur Entwicklung der Cyanose beitragen.
Die physikalischen Erscheinungen, welche auf die membra-
nöse Natur des Athmungshindernisses schliessen lassen, sind: allmälige
Steigerung der Athemnoth mit intercurrenten Stfckanfällen, totale Aphonie
der Stimme und des Hustens, klappende und schnarrende Geräusche im
Kehlkopf, insbesondere nach der Tracheotomie. Den sicheren Nachweis
liefert die laryngoskopische Untersuchung oder die Expectoration von
röhrenförmigen Membranstücken, die, wenn sie aus der Trachea stammen
nicht selten ein eigenthümlich gesticheltes Aussehen zeigen.
Noch ein Wort über die eigentliche Ursache der Laryngostenose! Man
könnte versucht sein zu glauben, dass die Verengerung, welche die ohnehin schmale
kindliche Glottis durch die Auflagerung der Membranen auf den schmalen Rand der
Stimmbänder erleidet, allein eine hinreichende Erslärung für die Entstehung derselben
und ihr Vorkommen gerade im kindlichen Alter liefern. Die laryngoskopische
Untersuchung croupkranker Kinder sowie die Sectionsbefunde haben diese Auffassung
nicht bestätigt; dieselbe ist vielmehr wie wir aus den Untersuchungen von Rauchfuss,
PiENAZEK u. A. wissen, zum grösseren Theile durch die Behinderung der Abductions-
bewegung der Stimmbänder veranlasst. Man sieht ich kann dies aus eigener Unter-
suchung bestätigen — die Stimmbänder der Medianlinie genähert, unbeweglich fixirt, so
dass die Glottis einen schmalen fast linearen Spalt bildet, der bei tiefen Inspirationen
sich sogar noch weiter verengert. Die Adduction beim Phoniren ist unbehindert. Als
Grund dieser behinderten Bewegung nach aussen betrachtet Piexazek die in dem Inter-
arytänoidalraum befindlichen fibrinösen Membranen, welche die Aryknorpel mechanisch
einander nähern, ohne dass die schwachen Glottiserweiterer des Kindes diesen Zug zu
überwinden vermögen.
In der weitaus grössten Zahl der Fälle wird die Diagnose des
fibrinösen Croup dadurch erleichtert, dass schon vor Beginn der croupösen
Erscheinungen oder gleichzeitig mit denselben Membranen im Rachen er-
scheinen, die mit Sicherheit als diphtherische bezeichnet werden können. Man
spricht dann von einem absteigenden Croup. Sehr viel seltener und schwieriger
sind diejenigen Fälle zu beurtheilen, in welchen sich die Croupsymptome
an eine membranöse Erkrankung der tieferen Bronchien anschliessen ; doch
glaube ich solche zweimal im Anschluss an Pneumonie und Bronchitis beob-
achtet zu haben (aufsteigender Croup). Auch nach anderen Infectionskrank-
heiten wird Croup beobachtet, so besonders häufig nach Masern, nach
Scharlach, Pertussis, Erysipel, Pneumonie. Die Besprechung dieser Formen
gehört in das die betreffenden Erkrankungen behandelnde Capitel, jedoch sei
hier erwähnt, dass es sich dabei um ätiologisch ganz verschiedenartige Dinge
und nicht immer um Complicationen mit Diphtherie handelt.
Im Gegensatze zu diesem im Gefolge anderer Erkrankungen auftretenden
278 CROUP.
secundären Croup bezeichnet man diejenigen Fälle, in welchen die fibrinösen
Auflagerungen im Kehlkopf und Trachea beginnen, als primäre Croupfälle,
auch Croup im engeren Sinne des Wortes, Croup d'emblee der Franzosen.
Nur von diesem soll im Folgenden die Rede sein.
Die weitaus häufigste Ursache des primären wie des secundären
Croup ist die Diphtherie. Das Verdienst, diese Zugehörigkeit erkannt
zu haben, gebührt Bretonneau, dem genialen Begründer der Lehre von
der Diphtherie. Seine Anschauung fand vielfach Widerspruch, allein die
neuesten bakteriologischen Untersuchungen ergaben in der That, dass auch
in den klassischen Croupfällen die LöFFLER'schen Bacillen gefunden wurden
(Kolisko-Paltaup, Concetti, E. Feaenkel). Sie können selbst dann vor-
handen gewesen sein, wenn sie zur Zeit der Untersuchung vermisst werden.
Jedenfalls kann ein Zweifel darüber nicht bestehen, dass die Mehrzahl der
Croupfälle ätiologisch als primäre Diphtherien des Kehlkopfes und der
Trachea betrachtet werden müssen, und verweise ich betreffs des anatomischen
Befundes auf das diese Erkrankung behandelnde Capitel.
Mit dieser Annahme steht auch das in Uebereinstimmung, was wir
über das Vorkommen und die Verbreitung der Krankheit wissen.
Zunächst entspricht die ganz vorwiegende Betheiligung der jüngsten Alters-
classen zwischen 2 — 7 Jahren durchaus dem bei der Diphtherie im Allge-
meinen beobachteten Verhalten. Aus der Säuglingsperiode wie aus dem
höheren Alter werden nur vereinzelte Fälle berichtet. Auch das örtliche
und zeitliche Auftreten des Croup zeigt die gleiche Uebereinstimmung.
Nach Hirsch sind besonders die höheren Breitegrade und die kalten, feuchten
Winden ausgesetzten Gegenden von demselben heimgesucht, und nimmt die
Häufigkeit desselben gegen die Tropen zu ab. Die Zeit der jähen Temperatur-
wechsel, somit die kalten Monate November bis Mai, sind dem Auftreten
der Croupfälle am günstigsten. Eine individuelle Disposition könnte höchstens
in der leichten Verletzlichkeit oder in schon bestehenden katarrhalischen Ver-
änderungen des Epithels der Luftwege gefunden werden. Nach der Angabe
der Autoren kommt der Croup sowohl in epidemischer und endemischer
Ausbreitung als sporadisch vor. Auch diese sporadischen Fälle stehen zu
Diphtherieepidemien insofeme in einem gewissen Zusammenhang, als sie
denselben vorauszugehen oder nachzufolgen pflegen. So berichtet Bartels,
dass dem Ausbruch der Diphtherie in Kiel im Jahre 1862 durch eine Reihe
von Jahren sporadische Croupfälle vorausgegangen. Dasselbe erzählt Minnich
von Salzburg. Die wenigen Fälle, welche ich zu beobachten Gelegenheit hatte,
fallen gleichfalls in eine sonst von Diphtherie freie Periode. Im Uebrigen
bin ich der Meinung, dass sicher constatirte Fälle von primärer Kehlkopf-
diphtherie heutzutage überaus selten sind. Wenn man die Möglichkeit in
Betracht zieht, dass Membranen an nicht sichtbaren Theilen der Nasen-
oder Rachenhöhle vorhanden oder dass dieselben zur Zeit der Untersuchung
bereits wieder geschwunden sind, so bleiben unter den Hunderten von mir
beobachteten Diphtheriefällen kaum 2 oder 3, welche ich in diesem Sinne
als reine Croupfälle ansprechen möchte. Auch die anderen Autoren geben an,
dass in dem Maasse, in dem die Diphtherie endemisch geworden, die primären
Croupfälle immer seltener beobachtet werden.
Gleichwohl wird von klinischer Seite noch immer sm der Existenz
eines nicht diphtherischen, fibrinösen Croup festgehalten, der sich durch das
sporadische Auftreten, die Begrenzung auf die oberen Partien des Bronchial-
baumes und die günstigen Heilresultate der Tracheotomie von dem diphthe-
rischen unterscheiden soll. Ausgehend von der schon Bretonneau bekannten
Thatsaehe, dass es gelingt, durch Einathmung von Ammoniakdämpfen in
der Trachea von Kaninchen fibrinöse Membranen zu erzeugen, glaubte man
CROUP. 279
als Ursache derselben einen durch athmosphärische Einflüsse besonders
gesteigerten Entzündungsprocess annehmen zu können. Dies dürfte aber nur
für die seltenen Fälle zutreffen, in welchen evidente schädliche Stoffe wie
Verbrennungsgase, Salzsäuredämpfe etc. eingeathmet wurden. Für die gewöhn-
lichen Fälle muss auch hier auf Bacterien als Erreger zurückgegriffen
werden, und die bacteriologischen Untersuchungen haben allerdings gezeigt,
dass ausser dem LÖFFLEE'schen Bacillus auch noch andere Mikroorganismen
im Stande sind, durch ihre Ansiedlung auf der Schleimhaut membranöse
Entzündungen hervorzurufen. Auf der der Untersuchung leichter zugäng-
lichen Rachenschleimhaut kennen wir bereits eine Reihe von sogenannten
diphtheroiden d. h, klinisch der Diphtherie durchaus ähnlichen Krankheits-
processen. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die Kehlkopfschleimhaut
sich ähnlich verhält. In der That sind von Martin Croupfälle, und zwar
sowohl primär im Kehlkopf localisirte als secundäre, mit Belägen im Rachen
beginnende beschrieben worden, bei welchen der Diphtheriebacillus während
der ganzen Dauer der Erkrankung vermisst und statt dessen ein kleiner
Coccus gefunden wurde. Jedoch geht aus der Schilderung nicht hervor, ob
bei den Croupfällen wirklich Membranen vorhanden waren Ich selbst verfüge
über zwei Beobachtungen, einen vom Rachen absteigenden und einen primären
fibrinösen Croup, in denen es mir trotz zahlreicher Untersuchungen nicht
gelang LöFPLEE'sche Bacillen nachzuweisen. Die Zahl dieser nicht diphtheri-
schen Croupfälle ist noch zu gering, als dass es möglich wäre Näheres über
ihr Vorkommen und die ihnen eigenthümlichen pathologischen Veränderungen
zu sagen. Ihr klinischer Verlauf ist in der Regel ein günstiger.
Die vielbesprochene Frage der Contagiosität beantwortet sich
nach dem Vorstehenden dahin, dass die Möglichkeit der Ansteckung ent-
schieden vorhanden ist, wenn auch die primäre Localisation des infectiösen
Krankheitsprocesses im Kehlkopf auf einen mehr gutartigen Charakter und
geringere Neigung des Infectionsstoffes zur Ausbreitung nach den Bronchien
hinweist.
Man kann bei der Erkrankung nach dem Vorgange von Rauchfüss
zweckmässig 3, übrigens nicht scharfgeschiedene Stadien unterscheiden.
1. Prodromale Erscheinungen im Wesentlichen den Symptomen
einer acuten Larijngo-tracheitis entsprechend bis zu den Erscheinungen der
Stenose.
2. Stetige oder progressive Erscheinungen der Larijngo-stenose mit
sufficirten Compensationen.
3. Wachsende Stenose mit Compensationsstörung und Asphyxie.
Das erste Stadium kann sehr kurz sein, so dass es ganz zu fehlen
scheint, und die Krankheit sofort mit stenotischen Erscheinungen beginnt.
Da, wo es vorhanden, findet man Heiserkeit, trockenen, bellenden Reizhusten
ohne Expectoration, Kitzel im Halse, Krankheitsgefühl entsprechend der
Höhe des in der Regel vorhandenen Fiebers. Bei der laryngoskopischen
Untersuchung erscheint die Schleimhaut des Kehlkopfes dunkel geröthet,
gesehwellt, stellenweise mit reifähnlichen Auflagerungen versehen. In den
acutesten Fällen werden die ersten Beläge frühestens 12 Stunden nach
Beginn der Erkrankung gefunden; in anderen Fällen treten die genannten
Symptome viel allmäliger im Laufe von Tagen in Erscheinung, ehe es
zur Entwicklung des zweiten Stadiums kommt.
Klinisch ist| dieses ausgezeichnet durch die eingangs erläuterten
Erscheinungen der Laryngostenose. Kleinere Kinder liegen in Seitenlage mit
nach rückwärts gebeugtem Kopfe, grössere sitzen zumeist mit angestemmten
Händen und ängstlichem Gesichtsausdruck aufrecht im Bette. Die angestrengte
Athemthätigkeit wird unterbrochen durch Husten, der klanglos fast unhörbar
280 CROUP.
erfolgt und manchmal unter Würgbewegungen von den Expectorationen von
Membranen gefolgt ist, oder durch Stickanfälle, die durch vorübergehende
Verlegung der Stimmritze durch Secret oder abgelöste Membranen veranlasst
sind. In diesen steigert sich die Athemnoth aufs höchste, die Kinder ver-
langen stürmisch auf den Arm der AVärterin, die sie mit den Händchen
umklammern.
Laryngoskopisch findet man Auflagerungen, zunächst noch nicht
confluirend als weisse Inseln der Schleimhaut des Kehlkopfeinganges auf-
gelagert. Alsbald jedoch sieht man eine einzige weiss bis weiss-gelbliche
zusammenhängende Membran, die sich von dem Rande der Epiglottis, die
hintere Fläche desselben überziehend, über die Taschen- und Stimmbänder
hinweg in die Tiefe der Glottis senkt. Die Bima selbst erscheint zu einem
schmalen, unveränderlichen Spalte verengt, bisweilen kommen darunter noch
die geschwellten und mit Belag bedeckten Schleimhautwülste der Regio sub-
glottica zum Vorschein.
Die Inspiration während des Stickanfalles erfolgt unter Anstrengung
aller Hilfsmuskeln langgezogen mit krähenden Geräuschen und tiefen Ein-
ziehungen unvollständig oder in mehreren Absätzen, dabei wird das Gesicht dunkel-
blau, cyanotisch, die Augen treten hervor. Mund und Nasenflügel sind erweitert,
die Züge gleich denen eines Erstickenden verzerrt. Nach der gewaltigen An-
strengung der Inspirationsbewegung sinkt das Kind erschöpft zurück, es folgen
eine Reihe oberflächlicher kurzer Athemzüge, dann erholt sich das Kind und
kehrt scheinbar zu dem früheren Zustande zurück. Scheinbar, denn in Wirk-
lichkeit markiren diese Stickanfälle die fortschreitende Verschlimmerung
und beschleunigenden Verfall der Kräfte. Es drückt sich dies auch alsbald
durch den Nachlass der compensirenden Muskelthätigkeit, durch die raschere
und oberflächlichere Athmung, sowie das Sinken der Herzkraft aus. Damit
tritt der Kranke in das dritte, das asphyktische Stadium.
Die Kinder liegen nunmehr in passiver Rückenlage, an Stelle des auf-
regenden Kampfes um Luft ist eine Ruhe getreten, welche die Angehörigen
oft über die Gefahr dieser Aenderung hinwegtäuscht. Allein die tief
halonirten Augen, die Kühle der Extremitäten, die rasch zunehmende
Cyanose, der ungemein frequente kaum fühlbare Puls, endlich ein gewisser
Grad von Apathie, ja Benommenheit gestatten keinen Zweifel, dass es sich
hier um eine beginnende Kohlensäureintoxication handelt. In rascher Folge
kommt es dann zu Tracheairasseln, und nach einer mehr weniger protrahirten
Agonie zum Tode. Das Ganze kann sich in Zeit weniger Stunden oder Tage
abspielen oder aber durch einen Zeitraum von 8 — 14 Tagen hinziehen.
Nicht in allen Fällen durchläuft die Krankheit all diese Stadien. Es
gibt leichte Fälle insbesondere bei älteren Kindern, bei denen nur Aphonie
und Andeutung von Athemnoth durch kürzere oder längere Zeit bestehen
und erst das Erscheinen der Membranen im Rachen oder im Auswurf die
Diagnose sichert. Auch schwere Erkrankungen mit ausgesprochen stenotischen
Erscheinungen und Stickanfällen können sich noch unter Ausstossen von
Gerinnseln und Auftreten reichlichen schleimigeitrigen Secretes zurückbilden.
Am häufigsten wird das Bild durch die später zu erwähnenden operativen
Eingrifi'e, sowie durch Complicationen verändert.
Auch die begleitenden Erscheinungen können sehr verschieden sein.
Schwere Fälle zeigen meist hohes, remittirendes Fieber, wenigstens solange
die Membranbildung im Fortschreiten ist und die der diphtherischen
Intoxication zukommenden Allgemeinerscheinungen ; bei leichten kann das
Fieber bis auf eine initiale Temperatursteigerung völlig fehlen; ebenso
Albuminurie, Milztumor, Drüsenschwellung, überhaupt jede beträchtliche
Störung des Allgemeinbefindens. Trotzdem kann es sich, wie die bakterio-
CROUP. 281
logische Untersuchung zeigt, auch bei diesen um einen echten diphtheriti-
schen, freilich auf die örtliche Wirkung beschränkten Process handeln.
Unter den Complicationen ist das Absteigen der fibrinösen Aus-
schwitzung, die Bronchitis ßbrinosa, die weitaus häufigste und gefährlichste.
Sie tritt zu dem primären Croup zwar seltener als zu dem von den Rachen-
organen absteigenden, aber immerhin noch in Vs ^^^ Va der Fälle hinzu. Der
nach den Bronchien absteigende Croup zeigt sich meist in den ersten
Tagen nach Eintritt der Laryngostenose und wird daher meist bei Tracheoto-
mirten beobachtet. Er setzt ein mit mehr minder bedeutender Temperatur-
steigerung. Die Respirationsfrequenz steigt trotz Tracheotomie auf 40 bis
80 Athemzüge in der Minute, über der Lunge hört man trockenes Rasseln,
in den unteren Partien abgeschwächtes Athmen, die nach der Operation
geschwundenen Einziehungen am Zwerchfellansatz werden von Neuem bemerk-
bar, zugleich die Erscheinungen einer allmälig fortschreitenden Kohlensäure-
vergiftung : fahle Blässe der Haut, livide Färbung der Schleimhäute, Sinken
des Blutdruckes, Apathie und Benommenheit des Sensoriums, unter denen
dann auch unaufhaltsam der Tod eintritt.
Heubnee bemerkt, dass an der Schwere und Raschheit des Eintrittes
dieser Erscheinungen auch die directe schwächende Einwirkung des diplithe-
ritischen Toxines auf das Herz betheiligt ist. Nach Bartels breitet sich
die fibrinöse Bronchitis mit Vorliebe nach den blut- und saftreicheren unteren
Partien der Lunge aus.
An Stelle des bis in die feinsten Bronchien absteigenden Croup trifft
man namentlich bei Kindern der ersten Lebensjahre eine diffuse katarrhali-
sche Bronchitis und Bronchiolitis, die man als unmittelbare Fortsetzung
des Krankheitsprocesses oder als Ausdruck der durch die Stenose behinderten
Expectoration auffassen kann. Man hört über den Lungen, besonders den
unteren Partien zahlreiche feuchte Rasselgeräusche, stellenweise klingend,
und schwach bronchiales Athemgeräusch. Die Erscheinungen der Broncho-
stenose und Kohlensäureintoxication entwickeln sich in ähnlicher Weise wie
bei dem absteigenden Croup und führen bei dem zarten Alter der Patienten
meist rasch zu dem tödtlichen Ende.
In Begleitung und im Gefolge der genannten Complicationen stellt
sich fast regelmässig eine mehr oder weniger ausgebreitete Katarrhal-
pneumonie ein, welche durch Aspiration des Bronchialsecretes hervorgerufen
wird und je nach der Art der darin enthaltenen Infectionserreger die
lobuläre (Streptococcen) oder die pseudolobäre (Pneumococcus) Form an-
nimmt. Ihr Erscheinen wird aus den bekannten auscultatorischen Erschei-
nungen erschlossen, doch darf auf das Vorhandensein kleiner Herde auch
bei einfach bronchitischen Symptomen geschlossen werden, wenn ein durch
andere Erscheinungen nicht erklärbares, hohes, leicht remittirendes Fieber
vorhanden ist. Die pneumonischen Erscheinungen können die fibrinöse
Exsudation noch lange überdauern und gefährden noch nach Ablauf der
letzteren das Leben des Patienten in hohem Grade. Monti hat den Ueber-
gang in die chronische Form der Pneumonie beobachtet.
Die bei den Sectionen fast stets vorhandene Lungenblähung und das
interstitielle Emphysem machen, abgesehen von dem Tiefstande der unteren
Lungenränder, keine besonderen klinischen Erscheinungen. Nur in den
seltensten Fällen kommt es durch Platzen eines Alveolus zu Emphysem
des Mediastinums und des Unterhautzellgewebes oder Pneumothorax (Cnopf).
Als Na chk rankheit können, wie bei allen diphtherischen Erkran-
kungen, Lähmungszustände auftreten. Der einzige Fall von sensibler Kehl-
kopflähmung, den ich zu beobachten Gelegenheit hatte, trat nach Ablauf
eines durch Tracheotomie geheilten Croupfalles auf.
282 CROUP.
Die Dauer der Erkrankung bis zur entschiedenen Abnahme der
stenotischen Erscheinungen oder dem Eintritt des Todes beträgt nach
Rauchfuss 6 — 8 Tage. Die Laryngostenose erreicht durchschnittlich am
dritten Tage so hohe Grade, dass die Operation nothwendig wird. " An-
dauerndes hohes Fieber ist, wenn andere Ursachen dafür nicht erkennbar,
ein Zeichen der fortschreitenden Ausbreitung der Exsudationen. Albuminurie
ist ein prognostisch ungünstiges Symptom der diphtherischen Allgemein-
intoxication. Weitere prognostische Anhaltspunkte gibt das Verhalten der
Kinder nach der Tracheotomie (siehe oben), sowie das Aussehen der die
Trachea auskleidenden Membranen. Locker aufliegende, röhrenförmige,
zusammenhängende Fibrinauflagerungen gestatten, selbst wenn sie eine
beträchtliche Dicke (bis zu 3 mm) aufweisen, eine günstigere Vorhersage,
als dünne, festhaftende, der Schleimhaut eingelagerte, im anatomischen
Sinne diphtheri tische. Die günstigere Prognose, welche der primäre Kehl-
kopfcroup gegenüber dem vom Rachen absteigenden darbietet, beruht im
Wesentlichen darauf, dass die Häufigkeit der sogenannten croupösen, respec-
tive fibrinösen Form der Exsudationen über die diphtheritische überwiegt.
Von Einfluss ist ferner das Alter. Kinder unter 2 Jahren sind viel
mehr gefährdet als ältere; doch soll auch bei diesen die Tracheotomie
versucht werden. Die Mortalität schwankt sehr, ist auch von dem recht-
zeitigen Eingreifen des Arztes abhängig, beträgt 65 (Monti) bis 85 Proc.
(Rauchfuss). Martin hat von seinen nicht diphtherischen Croupfällen nur
einen an Pneumonie verloren.
Der Heilungvorgang der schweren Fälle leitet sich ein durch Absinken
der Temperatur, Auftreten lockerer Rasselgeräusche und Expectoration von
Membranen, welche nicht selten an der Unterfläche Blutspuren tragen.
Dieselben zeigen jetzt eine morsche, bröcklige Consistenz, enthalten viele
Rundzellen und Coccen. Gleichzeitig damit erscheint eine Tracheitis mit
reichlichem schleimigeitrigen Sputum, die sich noch lange in die Recon-
valescenz hinziehen kann. Dabei werden, insbesondere wenn die Kinder
durch die Canüle athmen, von Zeit zu Zeit aus den Bronchien stammende
geballte Pfropfe ausgeworfen, die man nicht mit Membranen verwechseln darf.
Die Entwicklung und das Bild des Croup sind so charakteristisch,
dass die Diagnose kaum auf Schwierigkeiten stösst. Immerhin wird man
gut thun, in zweifelhaften Fällen die laryngoskopische oder doch die Digital-
untersuchung des Schlundes vorzunehmen, um sich vor unliebsamen Ver-
wechslungen mit Retropharyngealabscess, Wirbelcaries, Fremdkörper, Oedema
glottidis etc. zu schützen. Schwierig, ja unmöglich mag in manchen Fällen
die Unterscheidung von dem Pseudocroup, der acuten katarrhalischen und
der im Beginne und nach Ablauf der Morbillen auftretenden Laryngitiden
werden. Entscheidend sind hier die früher angeführten, für die Existenz
von Membranen charakteristischen Symptome, sowie die laryngoskopische
Untersuchung, die namentlich bei dem ersten Versuche auch bei wider-
spänstigen Kindern leichter gelingt als man erwartet. Wiederholtes Befallen-
werden, Auftreten der Erkrankung bei Nacht und rascher Nachlass der
stenotischen Erscheinungen, bellender Husten und mehr heisere, nicht
aphonische Stimme spricht für katarrhalische Laryngitis. Die Natur der den
Exsudationsprocess veranlassenden Erkrankung muss in jedem Einzelfall
aus der Untersuchung der Membranen : Nachweis, respective Fehlen der
Diphtheriebacillen, festgestellt werden. In vielen, jedoch nicht allen Fällen
von diphtherischem Croup werden auch in dem von den Tonsillen abge-
kratzten Schleime Bacillen gefunden und ermöglichen so die Diagnose.
Die Behandlung der Laryngotracheitis fibrinosa gehört nur soweit
hieher, als sie eine symptomatische, auf die Einschränkung des localen
CROUP. 283
Entzimdungsprocesses und die Beseitigung des Athemhindernisses gerichtete
ist. Die Anwendung ableitender Mittel, wie Senfteig, Blutegel, reizende
Salben am Halse, sind schon mit Rücksicht auf die nachfolgende Tracheotomie
in neuerer Zeit fast ganz verlassen worden. Von all' diesen Mitteln ist nur
noch die Kcälte in Form von Eiscravatte und Eispillen in Gebrauch und auch
diese sollte, nachdem man in allen Fällen eine Infection als Ursache der
Erkrankung annehmen muss, auf jene Fälle eingeschränkt bleiben, in
welchen es zu einer stärkeren Entzündung der Gewebe, zur Bildung
diphtheritischer Schleimhautinfiltrate und Lymphdrüsenschwellimgen ge-
kommen ist.
Sehr viel wichtiger und mannigfaltiger sind die Mittel, welche der
zweiten Indication, der Beseitigung der Athemnoth, dienen sollen. Es muss
dies geschehen durch Beseitigung der Membranen aus den Luftwegen,
Dieser Process kann einmal durch Anregung von Hust- und Würg-
bewegungen, dann aber durch Anfeuchtung, auflösende Mittel, Ver-
mehrung der Secretion und Transsudation auf der Schleimhautober-
fiäche begünstigt werden. Aus diesem Grunde werden in den leichteren
Fällen Expectorantien, unter denen ich das die Secretion befördernde
Ayornorplnyi 0-006— 0-01 : 150. 7mt einigen Tropfen Salzsäure bevorzuge,
sowie brechenerregende Mittel empfohlen. Die Verwendung der letzteren
{Ipecaciianh. mit Tart. stib.,Apomorphin subcutan) sollte man jedoch wegen der
länger dauernden nausealen Wirkung und der Schwächung der Herzkraft nur
als ultimum refugium auf jene Fälle beschränken, in denen eine operative
Beseitigung der Erstickungsgefahr nicht in Frage kommen kann. Der leider
so vielfach verbreitete Usus, die Kinder erst durch Brechmittel zu erschöpfen
und dann zur Tracheotomie zu schreiten, ist ganz verwerflich. Als ein
weniger zweischneidiges, namentlich bei ausgebreiteter Bronchitis oder be-
ginnender [Betäubung verwendbares Mittel sind die HARDEß'schen Be-
giessungen von Kopf und Nacken mit 10 — 12" Wasser. Dieselben werden
in leichteren Fällen im lauen Bade, in schweren in der leeren Badewanne
mit nachfolgendem Frottiren ausgeführt, so oft die Respiration oberflächlich
wird. Die weitaus wirksamste Methode, die Membranen aus den Luftwegen
zu entfernen, ist die Tracheotomie und die mechanische Ausräumung der
Trachea. Gute Dienste hat mir auch die rhythmische Compression synchron mit
der Exspiration ^insbesondere zur Herausbeförderung der in den tieferen
Luftwegen befindlichen Membranen geleistet.
Eine zweite Gruppe von Mitteln zielt auf die Lockerung und Abhebung
der fibrinösen Exsudate von der Schleimhaut ab, welche der Expectoration
vorausgehen muss. Dahin gehört die möglichste Anfeuchtung der einzu-
athmenden Luft durch Zerstäuben oder Verdampfen von Flüssigkeit. Wir
verwenden dazu meist denselben Apparat wie bei der Nachbehandlung der
Tracheotomirten (siehe unten). Wo dieser fehlt, kann ein gewöhnlicher
Theekessel benutzt werden, jedoch soll dabei die Sorge für frische Luft
nicht verabsäumt werden. Die Application der die Membranen lösenden
Mittel im Kehlkopf stösst auf Schwierigkeiten. Am besten ist noch die
Verwendung des SiEGLE'schen Zerstäubers. Als Inhalationsflüssigkeit empfiehlt
sich Natron hicarhonicum (2 procentige Lösung) oder statt dessen entsprechende
Mineralwässer (Emser Krähnchen, Viclnj, Preblauer, Gleichenherger, Emma-
quelle) oder Kalkwasser, dem Küchenmeister als „Kohlensäureverschlucker"
noch etwas Liquor natrli caustici (1 : 3 Aqua calcis) hinzufügen lässt. Diese
Inhalationen werden so oft als möglich (2stündlich) durchgeführt, jedoch
ohne dass die Kräfte der Patienten zu sehr in Anspruch genommen werden.
Bei Kindern unter 4 Jahren wird der Spray zweckmässiger durch Wasser-
dampfinhalationen ersetzt.
284 CROUP.
Mit den genannten Mitteln mag es gelingen, die sich der Expectoration
durch Zusammenballen und Antrocknen der Schleimmassen entgegenstellenden
Hindernisse zu beseitigen. Die Hauptsache bleibt aber die Ablösung der
Auflagerung von der Schleimhaut. Es ist eine alte klinische Erfahrung,
dass derselbe durch die Anregung der Drüsenthätigkeit und eines Trans-
sudationsstromes gegen die Schleimhautoberfläche begünstigt wird, sei es,
dass derselbe die in den Drüsen haftenden Verbindungsfäden herausschwemmt
oder durch den Druck der angesammelten Flüssigkeit die Membranen mecha-
nisch abhebt. In die Reihe dieser Mittel gehört nach Rauchfuss das Queck-
silber, das sich bei Croupbehandluug schon der warmen Empfehlung
Bretonneau's erfreut. Es wird innerlich in Form von Calomel (0*05 — 0*2 g
2 stündlich) oder als Sublimat, zweckmässiger in Form der Inunction mit
grauer Salbe gegeben, je 1 g 2stündlich an Brust, Rücken und Extremitäten
einzureiben. Jedoch ist diese Behandlung nicht über 1—2 Tage fortzusetzen.
Eine andere Behandlung, welche den Vorzug hat, keine diflferenten
Mittel in den Körper einzuführen, ist die Anwendung von SchiHtzciiren
(WACHSMUTH'sche Methode). Die Kinder erhalten unter gleichzeitiger Verab-
reichung grösserer Flüssigkeitsmengen eine Volleinpackung in Tücher, die
in heissem Wasser ausgerungen sind; darüber ein trockenes Leintuch und
eine Wolldecke. Kach 3 Stunden werden sie abgetrocknet, Kachschwitzen
durch 1 Stunde, hierauf 2 Stunden lang Priessnitzumschläge auf den Leib.
Dieser östündige Turnus wird 3mal am Tage wiederholt. Nachts Ruhe.
Die Packungen scheinen nur bei beginnender Stenose entschieden günstig
auf die Abstossung der Membranen zu wirken; jedoch ist bei zarten, erreg-
baren Kindern und schwachem Pulse davor zu warnen. Dasselbe gilt von
den neuerdings wieder warm empfohlenen PiJocarpinwjecfionen. Ich gebe
1/4 bis V25 bei älteren Kindern 1 Spritze der Iprocentigen Lösung eines
von E. Merk bezogenen Präparates und habe seitdem viel weniger oder
eigentlich gar keine üblen Nachwirkungen des Mittels gesehen.
Die Kinder erhalten zumeist erst nach Vornahme der Tracheotomie, wenn
Auswurf fehlt, 1 — 2 Injectionen pro die und ich hatte den bestimmten
Eindruck, dass in den ciafür geeigneten Fällen thatsächlich eine Lockerung
und Abstossung der vorher festhaftenden Membranen bewirkt wird. Freilieh
müssen solche mit diphtheritischen Exsudaten, mit septischen Complicationen
oder Erkrankungen der Respirations- und Circulationsorgane ausgeschlossen
werden. Da, wo diese Massnahmen im Stiche lassen oder die Zeit zu ihrer
Anwendung fehlt, bleibt nur die operative Beseitigung mittelst Tracheotomie.
Bezüglich der Wahl des Zeitpunktes bekenne ich mich als Anhänger
der Frühoperation und glaube, dass die Operation vorgenommen werden
sollte, sobald bei unzweifelhafter und allmälig wachsender Stenose ein oder
mehrere ausgesprochene Erstickungsaufälle vorhanden waren. Es werden
dadurch die Kräfte des Patienten geschont und die Aussichten für die
Genesung entschieden günstigere, als wenn bis zum Eintritt des asphyk-
tischen Stadiums und der Kohlensäureintoxication gewartet wird. Auch kann
ich mich der Vorstellung nicht erwehren, dass die langgezogenen angestrengten
Inspirationen des stenotischen Stadiums das in den oberen Luftwegen vor-
handene Infectionsmaterial nach den tieferen Partien aspiriren und so zur
Verbreitung des diptherischen Processes und zur Entstehung von Lobulär-
pneumonien beitragen können. Als einen weiteren wichtigen Indicator be-
trachte ich den Stand des unteren Lungenrandes. Je weiter derselbe in
der rechten Mamillarlinie von dem unteren Rande der sechsten Rippe,
seinem normalen Stande, gegen den Rippenbogen in den Complementär-
raum hinabrückt, um so ungenügender wird die Respiration, um so drin-
gender die Operation. Ausnahmen von dieser Regel sind selten und durch
CROUP. 285
besondere, leicht zu erkennende Verhältnisse (Verstopfung grösserer Bronchien
durch Gerinnsel) bedingt. Da, wo eine unmittelbar das Leben bedrohende
Laryngostenose besteht, gibt es eigentlich keine Contraindication, wenn
auch zugegeben werden muss, dass sehr zartes Alter des Patienten, Cöm-
plication mit ausgedehnter Bronchitis, Pneumonie, absteigendem Croup,
Sepsis, sehr weit vorgeschrittene Asphyxie und Kohlensäureintoxication die
Prognose zu einer sehr ungünstigen gestalten, so dass man in der Privat-
praxis unter Umständen von der Operation absehen wird. Andererseits
erzielt man aber doch bisweilen bei einem schon aufgegebenen Falle
mittelst der Operation einen unerwarteten Erfolg.
Man hat die Frühoperation noch von einem anderen und sehr be-
achtenswerthen Gesichtspunkte aus empfohlen. Man versuchte nämlich,
durch gleichzeitige Application antiseptischer Mittel in der eröffneten Luft-
röhre das Fortschreiten des Processes aufzuhalten und die tiefer gelegenen
Theile vor der Infection zu schützen. Roser umwickelte die Canüle mit
einem Jodoformläppchen, das der Wandung der Luftröhre fest anlag,
Andere führten vor Einlegung der Canüle einen Tampon oder einen langen
Jodoformgazestreifen nach oben zu in die Trachea ein. Mir selbst haben
diese Methoden trotz mannigfacher Variationen noch keine befriedigenden
Resultate ergeben. Auch ist die Zahl der Fälle, in welchen die nothwendige
Voraussetzung zur Anwendung derselben gegeben, d. h. die Trachea noch
frei von Membranen und diphtherischer Infection ist, nur eine sehr geringe.
Ich habe in Fällen, wo ich bei dem ersten Auftreten stärkerer laryngealer
Dyspnoe operirte, wiederholt schon ausgedehnte Membranbildung in der
Luftröhre gefunden.
Nachdem die Tracheotomie in einem anderen Theile dieses Sammel-
werkes noch eine ausführliche Darstellung findet, beschränke ich mich hier
auf die Mittheilung der speciellen Erfahrungen, welche ich bei der
Ausführung dieser Operation an Kindern zu sammeln Gelegenheit
hatte. Ich habe dabei stets den Standpunkt vertreten, dass der Kinderarzt
sich dasjenige Mass chirurgischer Fertigkeiten aneignen kann und soll, um,
besonders schwierige Fälle ausgenommen, diese Operation auch ohne Da-
zwischentreten des Chirurgen ausführen zu können. Es ist dies wichtig,
weil der Zeitpunkt für die Vornahme der Operation nur bei einem Ueber-
blick über den gesammten Verlauf, also nur von dem behandelnden Arzte
richtig gewählt werden kann und dann meist auch sofortiges Handeln ver-
langt; ferner weil bei der dem Kinderarzte obliegenden Nachbehandlung
jederzeit noch Zufälle eintreten können, welche eine genaue Kenntnis des
Ganges der Operation und eine ebenso gründliche chirurgische Schulung
verlangen, als die Vornahme der Operation selbst. Mir selbst ist unter fast
300 Tracheotomien kein Fall vorgekommen, in welchem trotz der oft un-
zulänglichen Assistenz die Durchführung der Operation misslang ; und seitdem
ich mich ausschliesslich des stumpfen Vorgehens bediene, gehört selbst eine
stärkere, die Unterbindung erfordernde Blutung zu den Seltenheiten.
Der Kranke liegt in leichter Chloroform- oder Pentalnarkose mit
nach hinten gebeugtem Kopfe über einem Rollkissen oder einer mit Tüchern
umwickelten Flasche. Nach entsprechender Reinigung des Operationsfeldes
führe ich einen medianen, die Haut und Unterhautbindegewebe durch-
trennenden Schnitt, welcher sich vom unteren Rande der Cartilago cricoidea
bis fast zum Jugulum herab erstreckt; blutende Hautvenen werden mit Quetsch-
zangen comprimirt. Alsdann trenne ich mittelst einer starken Hohlsonde in
langen Zügen das lockere Bindegewebe, das die Muskeln in der Median-
linie verbindet; das Messer wird nur zur Durchtrennung der auf die
Hohlsonde aufgeladenen Fascien benutzt. Dilatirt man alsdann die Wunde
286 CROUP.
durch Auseinanderziehen der in den oberen und unteren Wundwinkel ein-
geführten, hakenförmig gekrümmten Finger, so erscheinen bei der Tracheo-
tomia inferior alsbald in der Tiefe die weisslich schimmernden Tracheai-
ringe. Nur bei stärkerer Struma sind sie von Venengeflechten bedeckt,
die sich jedoch mit Haken seitlich auseinanderziehen lassen. Ist die Trachea
blossgelegt, so wird sie angehakt und zwischen den Haken in der Mittellinie
möglichst nahe der Struma senkrecht mit spitzem Messer angeschnitten.
Der Rücken des Messers ist dabei stets der Struma zugewandt. Nach der
Eröffnung der Luftröhre werden, wo es angeht, die locker haftenden und
flottirenden Membranen mittelst Feder und Pincette entfernt, hierauf die
Canüle eingeführt.
Betreifs der Stelle, an welcher die Eröffnung der Luftwege am zweck-
mässigsten geschieht, ist noch immer keine Einigung erzielt. Zwar ist die
von HtJTER empfohlene Cricotracheotomie wegen der schweren Schcädigung,
welche der an der Stimmbildung betheiligte Ringknorpel erleidet, ziemlich
allgemein verlassen; aliein bezüglich der Frage, ob oberhalb oder unter-
halb der Schilddrüse eingeschnitten werden soll, sind heute noch die
Meinungen getheilt. Zumeist wird angenommen, dass die Tracheotomia
superior wegen der oberflächlicheren Lage und des Mangels grosser Gefässe
an dieser Stelle leichter auszuführen und deshalb insbesondere weniger
gewandten Operateuren zu empfehlen sei. Trendelenburg legt jedoch in
seiner vorzüglichen Abhandlung über Tracheotomie (Gerhardt's Handbuch,
Bd. 6) dar, dass die anatomischen Verhältnisse gerade bei Kindern für
die inferior günstiger liegen.
Ich selbst habe Anfangs die Tracheotomia superior geübt. Man ist
dann genöthigt, den meist den Ringknorpel und die obersten Tracheairinge
bedeckenden Isthmus und Processus pyramidalis der Schilddrüse von der
Trachea abzulösen. Auch bei Anwendung des von Rose angegebenen queren
Schnittes gelingt dies nur selten ohne leichte Blutung und Zeitverlust.
Weitere Nachtheile sind die hohe Lage des Schnittes und die Neigung zur
Bildung von Granulationen, die um so grösser ist, je näher die Fistel an
den Schildknorpel heranrückt.
Jetzt übe ich seit Langem ausschliesslich die untere Tracheotomie,
bei welcher man nach Durchtrennung der Muskelschichte auf die in ge-
nügender Ausdehnung freiliegende oder höchstens von Venengeflechten
bedeckte Trachea stösst. Es wird dadurch die Operation wesentlich leichter
und kürzer dauernd, ich rechne vom Einschnitt in die Haut bis zur Be-
endigung der Operation, trotz langsamen, stumpfen Präparirens, nicht mehr
als 4 — 6 Minuten. Bei ganz kleinen Kindern und stark entwickelter Struma
kann die Wunde so tief und schwer zugänglich werden, dass, namentlich
wenn die genügende Assistenz zum Fassen und Hervorziehen der Trachea
mangelt, die superior den Vorzug verdient. Die viel besprochene Nähe der
grossen Gefässe kann bei vorsichtigem Präpariren nur den Furchtsamen
erschrecken. Die tiefere Lage des Schnittes ermöglicht locale Mittel zur
Verhinderung des Absteigens der Membranen, sowie zur mechanischen
Entfernung derselben in Anwendung zu ziehen ; Granulationen und Druck-
geschwüre werden entschieden seltener, als nach der superior beobachtet.
Als Nachtheile der Methode ist die im Ganzen etwas grössere und tiefere
Wunde, das schwierigere Einführen und Wechseln der Canüle, die Nähe
des Mediastinums und die in einigen Fällen durch Druck der Canüle her-
vorgerufenen Blutungen aus der Art. anonyma anzuführen. Die Entstehung
von Emphysem und Mediastinitis lässt sich dadurch vermeiden, dass man
sieh bei der Operation möglichst nahe dem unteren Rande der Schild-
drüse hält.
CROUP. 287
Als Canüle benützen wir die gewöhnliche, in Form eines Kreissegmentes
gebogene Doppelcanüle mit Hagedorn 'schem Schild. Bei Kindern mit
Struma verdient die von Foltanek angegebene Modification mit verstell-
barem Schild den Vorzug. Grosses Gewicht ist darauf zu legen, dass das
Lumen derselben ein möglichst weites und der Schnitt in der Trachea
nicht zu gross sei. Die Einführung geschieht am besten so, dass das Schild
seitwärts gehalten und der untere Rand der Canüle senkrecht gegen den
Schnittrand in der Trachea angedrückt wird. Es wird dadurch die Wunde
klaffend gemacht und mittelst einer Drehung um 90^ gleitet die Canüle
ohne Schwierigkeit in das Lumen der Trachea. Besondere Diktatoren sind
überflüssig. Wiederholt sind mir Fälle begegnet, in denen in der Trachea
so dicke und festhaftende röhrenförmige Ausgüsse vorhanden waren, dass
sie erst besonders eröffnet und theilweise entfernt werden mussten, ehe
die Canüle eingeführt werden konnte. Ernste Schwierigkeiten können auch
dadurch entstehen, dass der Schnitt in Folge seitlicher Drehung der Trachea
durch unrichtig eingesetzte Haken zwar median geführt, aber bei Ruhelage
der Trachea seitlich gelagert ist. Es steht dabei das leichte Hinausgleiten
der Canüle aus der Trachealwunde und die Entstehung von Emphysem zu
befürchten. Bei ganz jungen Kindern kann das Ueberwiegen des äusseren
Luftdruckes nach Blosslegung der Trachea sogar ein säbelscheidenförmiges
Einsinken des Tracheairohres bewirken. Man vermeidet dies am besten
durch Einlegen der Tube vor Beginn der Operation.
Der Effect der Operation tritt sofort ein und ändert mit einem
Schlage das ganze Krankheitsbild. Nach Eröffnung der Trachea und dem
ersten freien Athemzuge werden mit der nächsten Exspiration Membranen
und Secret oft weit emporgeschleudert. Es folgt eine tiefe Inspiration und
hierauf ein Athemstillstand, Apnoe, welche den Anfänger durch die todten-
äbnliche Ruhe des Operirten erschrecken kann. Allein der ruhige, befriedigte
Gesichtsausdruck, die pulsirenden Carotiden, die allmälig sich einstellende
Röthe der Wangen und Schwinden der Cyanose belehren ihn, dass es sich
hier im Gegentheil um eine Uebersättigung des erschöpften Athemcentrums
mit Sauerstoff handelt. Die Einziehungen schwinden, die Athmung erfolgt ruhig
20 — 30mal in der Minute, höchstens durch Hustbewegungen unterbrochen. Der
Thorax sinkt aus seiner Lispirationsstellung zurück und verkleinert, in der
Mamilla gemessen, seinen Umfang um 2 — 3 cm. Der untere Lungenrand,
der tief in den Complementärraum hinabgetreten war, geht, wenn die Luft
nunmehr unbehinderten Zutritt zu den tieferen Theilen des Respirations-
tractes hat, auf den normalen Stand zurück. Der Puls bleibt noch be-
schleunigt, ist jedoch beträchtlich voller und gieichmässig in Zahl und Stärke.
Nicht immer tritt dieser Wechsel des Bildes sofort ein. Es bedarf
manchmal erst der Entfernung vorliegender Membranstücke oder Secret-
massen mittelst Pincette, Feder, Ansaugen durch den Katheter, um dies
zu erreichen. Auch die manuelle Compression des Thorax im Momente
der Exspiration und zur Verstärkung derselben befördert die Expectoration
insbesondere aus den tieferen Theilen des Bronchialbaumes.
Leider tritt dieser Erfolg der Operation nicht in allen Fällen ein.
Da, wo die Membranen und] das Secret zu reichlich, die ersteren noch
nicht bis zur Abstossung vorgeschritten sind, kommt es nur zu einer kurz-
dauernden Apnoe, die Athmung bleibt frequent, der Tiefstand des Lungen-
yandes und die Einziehungen am Zwerchfellansatz bleiben, wenn gleich in
geringerem Grade, bestehen. Prognostisch noch ungünstiger ist der Fall,
wenn es sich nicht um die gewöhnliche Art der derben, der Schleimhaut
aufgelagerten fibrinösen, sondern um die dem Gewebe eingelagerten, im
anatomischen Sinne diphtheritischen Membranen handelt. Es kommt alsdann
288
CROUP.
nur zur Expectoration eines spärlichen blutigschleimigen Secretes und
kleiner zarter Membranfetzen, die leicht übersehen werden können.
Die weitere Behandlung üben wir in der Weise, dass die Wunde
reichlich mit Sublimat ausgegossen und dann mit Jodoform bestäubt wird.
Teendelenburg lässt eine leichte Aetzung der Wundflächen mit in ver-
dünnten Liq. ferri getauchter Watte vorangehen. Alsdann wird ein Jodoform-
streif um die Canüle gewickelt, um das Austreten von Secret aus der
Trachealwunde nach Möglichkeit zu vermeiden, und die Wunde bis zum
Niveau der Haut mit Jodoformgaze tamponirt. Nur da, wo der Hautschnitt
besonders weit nach unten gegangen, wird derselbe durch einige Knopf-
näthe vereinigt. Um die Canüle wird alsdann ein eingeschnittenes Lint-
läppchen und zum Schutze des Verbandes ein ebensolches Stück Billroth-
battist gelegt, die Wunde direct mit in Sublimat getauchten Jodoformgaze-
streifen bedeckt, die nach Bedarf gewechselt werden können. Die An-
feuchtung der durch die Canüle zugeführten Luft geschieht am zweck-
mässigsten durch grössere 1 — 2 Liter fassende Dampfkessel, welche die
Wasserdampfwolken durch eine horizontal gestellte Röhre austreten lassen.
Die vielfach gebrauchten SiEGLE'schen Zerstäuber verursachen ungleich
mehr Arbeit und durchnässen die Kinder und die Betten. Wo dies fehlt
genügt auch ein in Sprocentige Carbolsäure getauchter poröser Schwamm
vor die Canülenöffnung gebunden und ausgiebige Anfeuchtung der Zimmer-
luft. In manchen Spitälern sind Vorrichtungen vorhanden, durch welche das
ganze Zimmer mit Wasserdampf erfüllt werden kann. Ausserdem muss die
innere Röhre mindestens zweistündlich herausgenommen und gereinigt und
halbstündlich das Secret aus der Trachea mechanisch entfernt werden. Da
wo reichlich flüssige Massen mit oder ohne beigemengte Membranen vor-
handen sind, verwende ich Taubenfedern in schwacher Kalilösung gut
ausgekocht und mit P/oo Sublimat benetzt, eventuell Aspiration durch einen
dünnen, durch die Canüle eingeführten Katheder; bei trockenem Husten
und festhaftenden Membranen Einträufelungen von Kalkwasser oder
1/2 : 1000 Sublimat mit nachfolgender Ausräumung mittelst Feder. Die
Canüle bleibt unter normalen Verhältnissen 3 — 4 Tage liegen ; alsdann hat
sich bereits durch Infiltration der Wundränder ein starrer Canal gebildet,
so dass die Wiedereinführung keinen Schwierigkeiten begegnet. Selbstver-
ständlich wird mit diesem Wechsel eine Desinfection der Wundränder,
Erneuerung der Jodoformstreifen etc. verbunden. Von da an bis zur
definitiven Entfernung der Canüle wird dieser Wechsel je nach dem Zustand
der Wunde 1— 3tägig wiederholt.
Das Decanülement kann in günstigen Fällen zwischen dem 3. — 8. Tage
vorgenommen werden, wenn die Neubildung von Pseudomembranen in
Rachen und Trachea aufgehört hat. Man lässt demselben gewöhnlich das
Einlegen einer gefensterten, sogenannten Sprechcanüle vorausgehen und
schreitet erst dazu, wenn das Kind die Verkorkung derselben einen halben
oder ganzen Tag ertragen hat. Der Schluss der Wunde, die nach den all-
gemeinen chirurgischen Grundsätzen behandelt wird, erfolgt meist rasch
und nimmt weitere 8 — 14 Tage in Anspruch. Am spätesten schliesst sich
die Wunde in der Trachea, wo es meist zu einer Necrose der an die
Canüle anstossenden Knorpeltheile und einer meist nur geringgradigen
Verengerung der Luftröhre kommt. (Wyss.)
Auf die Prognose ist das Stadium, in welchem die Operation vor-
genommen wird, das Alter und der Kräftezustand des Patienten, endlich
auch die Geschicklichkeit des Operateurs und die mehr weniger sorgfältige
Nachbehandlung von Einfluss. Bei Kindern im ersten Lebensjahre ist die
Zahl der Heilungen eine so geringe (5 Proc), dass manche Autoren die
CROUP. • 289
Ausführung der Operationen in diesem Alter principiell verwerfen. Als
Todesursache findet man zumeist absteigenden Croup und eitrige Bronchitis,
die in Folge der geringen Expectorationsfähigkeit dieser Kinder frühzeitig
zur Bildung von Atelectasen und lobulär-pneumonischen Herden Veran-
lassung gegeben. Auch die Ernährung bietet grosse Schwierigkeiten. Der
ungünstige Einfluss des Alters lässt sich bis zum 4. und 6. Lebens-
jahre hinauf statistisch verfolgen. Unter sonst gleichen Verhältnissen hängt
aber der Erfolg der Operation in erster Linie von der Natur und dem
Charakter der Grundkrankheit ab. Trennt man jene Fälle, welche mit
vorwiegenden örtlichen Symptomen primär im Kehlkopf beginnen und die
Bildung derber, leicht ablösbarer fibrinöser Membranen aufweisen von den-
jenigen, die mit ausgesprochen diphtherischen oder septischen Allge-
meinerscheinungen einhergehen, so ergibt sich für die ersteren eine sehr
günstige Mortalitätsziffer. Henoch hatte bei diesen von ihm als „idiopathi-
scher Croup" bezeichneten Fällen 60 Proc. Heilungen, gegenüber 15 Proc.
bei der anderen Gruppe. Jedoch scheint mir die Berechtigung einer
Scheidung dieser Gruppen vom ätiologischen Standpunkte aus noch fraglich.
Diejenigen Statistiken, welche sich auf alle Fälle ohne Auswahl beziehen,
wie die von Krönlein weisen ca. 30 Proc. Heilungen, einzelne allerdings
bis zu 42 und 45 Proc. auf.
Sieht man von dem infectiösen Moment ab, so gestattet das oben
erwähnte Verhalten der Membranen, und des unteren Lungenrandes, das
mehr oder weniger vollständige Schwinden der Stenosenerscheinungen,
Dauer der Apnoe etc. Wahrscheinlichkeitsschlüsse auf den Ausgang der
Krankheit. Martin hat in neuester Zeit die Bedeutung der Temperatur-
curve für die Prognose hervorgehoben. Die Operation selbst verursacht fast
stets einen einige Stunden später eintretenden Anstieg der Temperatur.
Sinkt dieselbe alsdann rasch oder in langsamem Abfall wieder auf Normal
zurück, so ist dies von günstiger, staffeiförmiges Ansteigen oder Stehen-
bleiben auf bedeutender Höhe von ungünstiger Vorbedeutung. Es handelt
sich in den letzteren Fällen stets um Complicationen des Krankheits-
verlaufes ; am häufigsten um Fortschreiten der Membranbildung nach den
kleinen Bronchien zu. Man erkennt das Eintreten dieses Zustandes bei
Tracheotomirten an der continuirlich steigenden Frequenz der Piespiration,
höherem Fieber, Auswerfen verzweigter Gerinnsel. Da, wo die ganze
Trachea mit Membranen ausgekleidet ist, gelingt es selbst bei tiefem Ein-
führen der Feder nicht, Hustenstösse hervorzurufen. In ungefähr zwei-
drittel bis einhalb der tödtlich endenden Fälle findet sich absteigender
Croup als eigentliche Todesursache; ein weiteres Drittel oder Viertel der
Fälle erliegt der Complication mit Pneumonie, zu deren Entstehung die
den Bronchialcroup begleitende Bronchitis reichlich Gelegenheit bietet.
Dieselbe befällt vorwiegend die Unterlappen und kann noch, bevor die
bekannten physikalischen Anzeichen deutlich erkennbar sind, aus der hohen
Febris continua sowie der begleitenden Leukocytose vermuthet werden.
In diesen Fällen ist die Krankheitsdauer bis zum Tod eine sehr wechselnde,
im Ganzen jedenfalls länger als in den vorigen. Relativ gering ist der
Procentsatz der Operirten, welche unmittelbar an den Folgen der diphthe-
rischen Intoxication, Herzlähmung, Nephritis, Neuritis, manchmal erst nach
völligem Ablauf des örtlichen Processes zu Grunde gehen; jedoch macht
sich der Einfluss der Infection insbesondere der das Herz schwächenden
und den Blutdruck herabsetzenden Wirkung in der geringen Widerstands-
fähigkeit gegen die eintretenden Complicationen bemerkbar (Heubner).
Schliesslich kann auch in der Operation und ihren Folgezuständen
die Ursache für Complicationen und selbst tödtlicheu Ausgang gelegen
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. 1^
290 ' CROUP.
sein. Ein fast regelmässiges Vorkommnis ist ein weisslicher Belag und ent-
zündliche Infiltration der Tracheotomiewuude, der in der Regel wohl einer
Infection von der Trachea aus seinen Ursprung verdankt. Es handelt sich
hier nicht um echte Wunddiphtherie — wenigstens ergab mir die bacterio-
logische Untersuchung keine Diphtheriebacillen — sondern um eine ober-
flächliche Gewebsnecrose hervorgerufen durch eine Mischinfection mit
pyogenen Coccen insbesondere Streptococcen, wie sie ja auch in den
diphtherischen Membranen vorhanden sind. Trotz der an diesem Orte nur
mangelhaft durchführbaren Antisepsis habe ich nur ganz ausnahmsweise
schwerere progredinale Formen dieser Gewebsnecrose gesehen, die dann zu
ausgedehnten Zerstörungen der Weichtheile, Infection des Mediastinum und
der Pleuren, Arrosion von Gefässen und Blutungen aus der Wunde führen
können. Jodoform, Aetzungen mit Chlorzink, Verschorfung mit Paquelin sind
dagegen anzuwenden und helfen noch in verzweifelten Fällen.
In Ausnahmsfällen kommt es auch zu einer echten Wunddiphtherie,
die auch auf die Epidermis der äusseren Wundränder übergreifen kann.
Speonk hat auf das Vorkommen von hämorrhagischen Oedemen aufmerksam
gemacht, die sich von der Wunde auf die Vorderfläche des Thorax hinab
erstrecken können und durch das Eindringen der Diphtheriebacillen in das
Gewebe hervorgerufen werden. Ich kann dies aus eigener Erfahrung
bestätigen.
In der Trachea verursacht das Einführen und das längere Liegen
der Canüle eine weitere Reihe von Complicationen : Granulationswucherungen,
welche die Entfernung der Canüle erschweren oder unmöglich machen,
Decubitusgeschwüre, die zu Wucherungen, Stricturen, tödtlichen Blutungen
Veranlassung geben können ; Knickungen und Verengerungen der Tracheal-
knorpel, die durch partielle Necrosen oder unrichtige Schnittführung ent-
stehen. Die lange fortgesetzte Athmuug durch die Canüle kann Parese der
Glottisöffner oder reflectorischen Glottiskrampf bei dem Versuche des
Decanulements hervorrufen. Bezüglich der Art und der Therapie dieser
Complicationen sei auf den Artikel „Tracheotomie" verwiesen.
Immerhin kann man sagen, dass ernstere Störungen oder gar Todes-
fälle als Folgen des operativen Eingriffes zu den seltenen Vorkommnissen
gehören und mit der Uebung des Operateurs, mit einer sorgfältigen Nach-
behandlung und der Herstellung günstiger hygienischer. Bedingungen sich
mehr und mehr vermindern. Gleichwohl war man seit langer Zeit bestrebt,
auch diese Gefahren zu vermeiden und die mechanische Beseitigung der
Laryngostenose auf unblutigem Wege durch den Katheterismus des
Larynx zu erreichen. Indess wurden erst in der von O'Dwtee angegebenen
Intubation die grossen technischen Schwierigkeiten soweit überwunden,
dass sie ernstlich mit der Tracheotomie in Wettbewerb treten konnte. Auch
bezüglich dieses in neuester Zeit viel besprochenen Eingriffes beschränke
ich mich auf die, Darlegung der von mir geübten Technik und der Indi-
cationen ihrer Anwendung.
Ich bediene mich zur Vornahme der Intubation ausschliesslich des
von O'DwTER angegebenen, von George Ermold in New-York gefertigten
Besteckes und kann vor Modificationen desselben wie der von Stovs^e nur
warnen. Dagegen scheinen mir einige kleine Aenderungen wie sie von
Baer in Zürich an den O'Dv^YER'schen Instrumenten angebracht worden,
recht zweckmässig zu sein. Bei Einführung der Tube soll der Operateur
vor dem Kinde stehen (nicht sitzen), das Kind, dessen Kopf von einem
Assistenten fixirt wird, auf dem Schosse der Wärterin festgehalten werden.
Ist die an einen Faden angeschlungene Tube unter Führung des linken Zeige-
fingers bis über den Kehlkopfeingang gebracht, so gelingt es unter Nach-
CROUP. 291
hilfe mit der Fingerspitze leicht durch starke Hebung des Grilfes dieselbe
in den Spalt zwischen die Stimmbänder einzuführen. An diesem Punkte
angelaugt pflege ich die Tube vom Introductor abzustossen und letzteren
zurückzuziehen. Die Tube gleitet dann ohne Anwendung von Gewalt höchstens
unterstützt durch einen leichten Druck des linken Zeigefingers in die
Trachea. Liegt die Tube richtig, was man durch das Gefühl und den hohlen
Klang des Hustens leicht erkennt, so lasse ich den Faden in der Regel
liegen und befestige mittelst Heftpiaster an der Wange, nur bei sehr un-
bändigen Kindern muss der Faden entfernt werden. Ueble Zufälle während
der Intubation sind nicht häufig; der schlimmste zum Glück nur selten
vorkommende ist das Hinabstossen der im Kehlkopf liegenden Membranen
in die Trachea, wodurch plötzliche hochgradige Erstickungsnoth hervor-
gerufen und die sofortige Tracheotomie nothwendig wird.
Der Effect der gelungenen Intubation bei einem laryngo-
stenotischen Kinde ist ähnlich, jedoch nicht ganz gleich günstig wie bei
der freien Eröffnung der Trachea. Niemals kommt es zu einer so ausge-
sprochenen Apnoe, die Rückbildung der durch die Stenose bedingten Ver-
änderungen geht langsamer vor sich und wird häufig durch einen quälenden
lange dauernden Husten gestört. Es folgt dann in den günstig verlaufenden
Fällen ein Zustand, wobei die Kinder sich ganz wohl fühlen, im Bette
aufsitzen, spielen und keinerlei Beschwerden von der im Kehlkopf liegenden
Tube zeigen. Auch die Pflege ist eine einfachere, insoferne die Vorrich-
tungen zur Anfeuchtung der Athmungsluft, das Reinigen und Wechseln der
Canüle, die Behandlung der Wunde etc. entfällt. Selbst im Falle, dass die
Tube bei noch bestehender Stenose ausgehustet wird, bleibt die Athmung
meist durch eine halbe bis eine Stunde frei, so dass Zeit bleibt, den Arzt
zu rufen und die Tube von Neuem einzuführen. Man kann übrigens diesen
Zufall fast mit Sicherheit vermeiden, wenn man von Anfang an grössere
Tuben, eventuell die nächst höhere Nummer einführt. Da wo der Faden
liegen bleibt, ist auch die Wärterin im Stande, im Falle der Verstopfung
der Tube dieselbe sofort zu entfernen. Sobald die Ursache der Stenose
behoben, kann die Tube entfernt werden, falls sie nicht von selbst aus-
gehustet wird und der Kranke ist alsdann bis auf eine leichte, rasch vor-
übergehende Aphonie genesen. Die Behandlungsdauer ist somit eine kürzere
als bei der Tracheotomie und Schwierigkeiten bei der Entfernung seltener
als bei dem Decanülement, doch sind von Widerhoper und Ranke solche
Fälle beobachtet worden.
Nimmt man dazu, dass der Eingriff ohne äussere Wunde und ihre
Complicationen in Zeit weniger Secunden ohne geschulte Assistenz und
selbst bei ganz ungenügender Beleuchtung ausgeführt werden kann, so
sind dies Vorzüge, welche die Intubation als einen der glänzenden Fort-
schritte in der Crouptherapie und auf den ersten Blick vielleicht sogar der
Tracheotomie überlegen erscheinen lassen.
Allein diesen Vorzügen stehen Na cht heile gegenüber, welche ihre
Anwendung auf bestimmte Fälle und Verhältnisse einschränkt. Zunächst ist
es doch nur cum grano salis zu verstehen, wenn man sagt, dass die Intu-
bation keinerlei Verletzungen setzt. Das Einlegen der Mundsperre zwischen
die Kiefer, das Einführen des linken Zeigefingers und der Tube w^erden
denn doch in den seltensten Fällen ohne jede Verletzung abgehen.
Wichtiger als dies sind aber gewisse mechanische Momente, welche
durch das Liegen der Tube im Kehlkopf hervorgerufen werden und
ganz vorwiegend bei den schweren die Bronchien und Lungen in Mitleiden-
schaft ziehenden Fällen zum Ausdrucke kommen. Als eine der unangenehmsten
und fast constanten Begleiterscheinungen der Intubation ist das Ver-
19*
292 CROUP.
schlucken anzuführen, das beim Genüsse von Flüssigkeiten beobachtet
Avird. Alle dagegen vorgeschlagenen Mittel wie : Trinken bei hängendem
Kopf, Verabreichung von festweicher Nahrung, von Milch- oder Wein-
gallerte helfen wenig, und kleinere Kinder verweigern trotz lebhaften
Durstgefühles jede flüssige Nahrung oder werden durch die fortwährenden"
Hustenanfälle in hohem Grad« erschöpft. An denjenigen Stellen, wo der
freie Rand der unteren Tubenmündung die Trachealwand berührt, seltener
an und unter den Stimmbändern, werden Schleimhauterrosionen und
Decubitusgeschwüre angetroffen. Sie können schon 24 Standen nach der
Intubation vorhanden sein und führen bei längerem Liegen der Tuben und
bei geschwächten Kranken zu ausgedehnten Substanzverlusten und Necro-
tisirung der Knorpel. In zwei Fällen habe ich ausgehend von einem
Decubitalgeschwüre der vorderen Trachealwand das oben beschriebene
echt diphtherische Oedem auf der Vorderfläche des Halses entstehen
sehen. Heilen die Substanzverluste aus, so kann es zu Stricturen der
Trachea kommen. Die Häufigkeit und Schwere des Decubitus wechselt
übrigens sehr nach den Beobachtern und wird sich mit der zunehmenden
Vertrautheit mit der Methode vermindern. Zur Vermeidung derselben
empfiehlt sich die Intubation nicht über 5 Tage hinaus fortzusetzen, sondern
wenn alsdann die Entfernung der Tube noch nicht ertragen wird, die
Tracheotomie nachfolgen zu lassen. Der wichtigste Einwand gegen die
Intubation scheint mir aber die gegenüber der Tracheotomie zweifellos
erschwerte und mühsam ere Exp ectoration der Membranen
und des Secretes aus den tiefer gelegenen Partien zu sein.
Es ergibt sich dies aus der einfachen Betrachtung der mechanischen Ver-
hältnisse, sowie aus der directen klinischen Beobachtung. Ist es aber
einmal durch Verstopfung der Bronchien zu Atelectasen und lobulären
Pneumonien gekommen, so macht sich weiterhin noch der für solche
gesteigerte Anforderungen ungenügende Luftwechsel durch das enge Lumen
der Tube geltend.
Den besten Beweis für das Zutreffende dieser Ausführungen liefert
die Vornahme und der Erfolg der secundären Tracheotomie. Wenn es
bei liegender und frei durchgängiger Tube durch Fortschreiten des Pro-
cesses auf die tieferen Theile des Bronchialbaumes neuerlich zu frequenter,
dyspnoischer Athmung, Einziehungen, Cyanose und reichlichem Rasseln in
der Trachea und den grossen Bronchien kommt, wird selbst von den
begeistertsten Anhängern der Intubation der Luftröhrenschnitt als letztes
Hilfsmittel empfohlen. In der That kommt mit der Einführung der Canüle
eine sichtliche Erleichterung der Athemnoth und zumeist eine reichliche
Expectoration des zurückgehaltenen Secretes zu Stande, Die Beobachtung
eines solchen durch die anstrengende Tubenathmung und durch fortwährende
Hustbewegungen erschöpften, dyspnoischen Kranken nach Vornahme der
Tracheotomie, me Athemnoth und Cyanose schwindet und Membranen und
Secret durch die Canüle ausgeworfen und mittels der Feder entfernt
werden, wie er gierig nach der dargebotenen Flüssigkeit greift und — seit
Langem zum ersten Male — seinen Durst nach Behagen stillen kann, wie
er dann mit dem Ausdrucke der Befriedigung auf den Zügen in einen
erquickenden Schlaf versinkt, spricht meines Erachtens deutlicher und
unzweideutiger als alle Statistiken, dass für solche Fälle die Intubation
nicht die Tracheotomie zu ersetzen vermag. Freilich ist der Erfolg der
letzteren nur ein vorübergehender. Fast alle Kranken erliegen dem
Fortschreiten des Processes. Die jüngste Statistik ergibt unter 75 nach-
träglich Tracheotomirten nur 5—6 — 7 Proc. Heilungen. Der weitere Vor-
wurf, den man der Intubation macht, dass sie die Entstehung von
CROUP. 293
Pneumonien begünstige, erscheint nur insoweit berechtigt, als es unter
den erwähnten Verhältnissen leichter zur Bildung von Atelectasen, der
Vorstufe der lobulären Herde kommt. Dagegen ist bis jetzt noch kein Fall
bekannt, in welchem durch Eindringen von Speisetheilchen durch die Tube
eine Schluckpneumonie veranlasst worden iväre.
Zu dem gleichen Resultate führt das Ergebnis der Statistik. Während
die Tracheotomie im Durchschnitt 30 — 35 Proc. Heilungen angibt, zählt
die auf 20ÜU Fälle gestützte Intubationsstatistik von Brown 11 Proc.
Heilungen. Das Plus an Todesfällen, das die Intubation gegenüber der
Tracheotomie aufzuweisen hat. entspricht den weniger günstigen Bedin-
gungen, welche sie bei den mittelschweren und schweren Fällen durch
die erschwerte Expectoration der Membranen und des Secretes, sowie durch
die geringere Lungenventilation setzt.
Die neuerdings von Pianke mitgetheilten Zahlen sind allerdings für
die Intubation wesentlich günstiger bis 42*6 Proc. Heilungen, und es
ist nicht ausgeschlossen, dass das genauere Studium und die fortwährenden
Verbesserungen des Verfahrens die vorderhand noch bestehenden Bedenken
gegen die allgemeine Einführung derselben verscheuchen. So ist es O'Dwyer
neuerdings gelungen, durch Abrundung des unteren Tubenrandes die
Häufigkeit und Schwere des Decubitus zu vermindern und in jüngster
Zeit hat er kreisrunde, kurze Tuben mit sehr weiter Lichtung construirt,
durch welche das Aushusten von Membranen leichter vor sich gehen soll.
Dieselben können jedoch nicht länger als 24 Stunden im Kehlkopf liegen
bleiben. Eigene Erfahrungen über die Anwendung derselben besitze ich nicht.
Bis zu diesem Zeitpunkte betrachte ich, da wo man zwischen den
beiden Operationen frei wählen kann, nach wie vor die Tracheotomie
als die normale Operation zur Beseitigung der den Croup begleitenden
Athemnoth. Nur in einer geringen Zahl von Fällen, wobei es sich um
primäre auf Pbachen und Kehlkopf beschränkte Membranbildung bei gutem
Kräftezustand und nicht septischem Charakter handelt, kann sie ohne
Xachtheil vielleicht sogar mit Vortheil für den Patienten durch die Intu-
bation ersetzt Averden, Sobald jedoch Lunge und Bronchien ergriffen sind
oder deren Erkrankung aus dem raschen Fortschreiten des Processes ver-
muthet werden muss, ferner bei sehr jungen Kindern sowie Kranken mit
geschwächtem Kräftezustand ist von vorneherein die Intubation auszu-
schliessen. Stellen sich bei einem wegen Laryngostenose intubirten Kranken
Symptome ein, die auf ein Fortschreiten der Erkrankung auf die Bronchien
oder Lungen schliessen lassen, so sollte gleichfalls sofort die Tracheotomie
nachfolgen : desgleichen wenn die Tube durch 5 oder mehr Tage nicht
entfernt werden kann, da in diesen Fällen die Gefahr des Decubitus droht.
Dagegen bleibt der Intubation ein unbestrittenes weites Feld da, wo
aus äusseren Gründen die Tracheotomie unausführbar, wo es sich um
erschwertes Decanülement oder chronische Kehlkopfstenose handelt. Wenn
der Arzt zu einem schon asphyktischen Kranken gerufen wird, wenn während
der Vornahme der Tracheotomie die Athmung sistirt, wenn die nöthige
Assistenz zur Vornahme der Operation fehlt, so kann die rasch und ohne
geschultes Personal vorzunehmende Intubation zu einem lebensrettenden
Eingriff sich gestalten. Es sind dies Zufälle, die sich in der Privatpraxis
viel häufiger als im Spital erreignen und es ist zu bedauern, dass die
Intubation den praktischen Aerzten bisher so gut wie unbekannt geblieben.
Entgegen der Anschauung der meisten deutschen Autoren bin ich der
Meinung, dass der Intubation gerade in der privaten Praxis Bedeutung gebührt
und zwar nicht nur zur vorübergehenden Beseitigung drohender Erstickungs-
fälle, sondern auch für die Behandlung des Croup überhaupt, da es sich
294 CUR UND CUREN.
hier viel häufiger ereignet, class die Tracheotomie und die complicirtere
Nachbehandlung derselben unausführbar oder die Vornahme der Operation
seitens der Angehörigen verweigert wird. Ich kann mich dabei nicht nur
auf eigene Erfahrungen, sondern vor allem auf die Angaben der amerika-
nischen Aerzte stützen, welche die Aveitaus grösste Zahl der intubirten
Patienten in den Wohnungen behandeln. Freilich muss bei einer länger
dauernden Intubationsbehandlung der Arzt leicht erreichbar sein und eine
nicht zu kleine Tube eingelegt werden.
Die Intubation kann ferner bei allen Schwierigkeiten, die sich beim
Entfernen der Canüle ergeben, unschätzbare Dienste leisten, gleichviel ob
es sich um psychische oder mechanische Momente handelt. Sie wirkt dabei
nicht nur dadurch, dass sie die Heilung der Wunde und die Athmung auf
natürlichem Wege gestattet, sondern auch direct heilend, indem sie den
Druck auf andere Stellen verlegt und auf die die Glottis obstruirenden Hinder-
nisse einen mechanischen Druck ausübt. Wir dürfen hoffen, dass durch
richtige Anwendung dieses Hilfsmittels die Zahl derjenigen Fälle, welche
zu einem längeren oder dauernden Tragen der Canüle nach Tracheotomie
verurtheilt sind, sich erheblich vermindern werde (Ranke). In diesem
Sinne sollten beide an sich so verschiedene Operationen je nach dem
individuellen Falle einander ergänzend und unterstützend in Anwendung
gezogen werden. Mit der Aufstellung bestimmter Indicationen wird auch
der Streit enden, der jetzt noch zwischen den unbedingten Anhängern und
Gegnern der Intubation besteht und der die volle Entfaltung und Ver-
werthung der jeder einzelnen eigenthümlichen Vorzüge hindert.
ESCHERICH.
Cur und Curen. „Cur" bedeutet ursprünglich die Fürsorge für
einen Menschen, seine Wartung und Pflege. Es ist an und für sich ein
einheitlicher Begriff. Man muss eigentlich von „der Cur" sprechen. Aber
schon die Scheidung in Curen für Gesunde und Kranke, in vorbeugende
und heilende, hat die alte Bedeutung, die ganz allgemein war, specialisirt
und aus der „Cur" sind die „Curen" geworden. Im Laufe der Zeiten
sind dann je nach den wechselnden Systemen und Anschauungen, nach den
Namen der Autoren und der Mittel etc. zahllose „Curen" entstanden. Man
hat die Cur wie ein Glas zerschlagen und jeden Splitter als ein Ganzes
hingestellt. Sie wieder zusammenzufügen und zu kitten zu der einzigen
Cur, die es geben sollte, ist das Ziel unserer Entwicklung. Und diese
„Cur", xaT £;o/Yiv, ist die individualisirende. Alle Curen haben nur inso-
weit Berechtigung, als sie uns Mittel an die Hand geben, um die indivi-
dualisirende Cur mannigfach und zweckmässig auszubauen. Die wesentlichen
unter ihnen einer kurzen Besprechung zu unterziehen, ist die Aufgabe
dieses Artikels. Alles Ausführliche muss den Specialabhandlungen überlassen
bleiben. ')
Im Vordergrunde des Interesses stehen die diätetischen Curen.
Man kann sie im Wesentlichen in Mast-, Hunger-, Durstcuren und Curen
durch ausschliessliche oder doch vorherrschende Entziehung oder Zufuhr
eines bestimmten Nahrungsmittels eintheilen. Allerdings gibt es zwischen
den Gruppen zahlreiche Uebergänge.
Die Mastcuren haben ihr typisches Beispiel in neuester Zeit in
der WEiR-MiTCHELL-PLAYFAiR'schen Methode gefunden; ihr Zweck ist.
') „Cur" wird häufig als Bezeichnung für eine auf 3 Wochen angesetzte Beliand-
lung gebraucht, z.B. in Badeorten ; „doppelte Cur" ist danach ein Ausdruck für eine
5 — 6 Wochen dauernde badeärztliclie Bemisshandlung. Eine Nachcur schliesst sich
einer meist eingreifenderen Cur an, z. B. Karhbader Cur mit Nachcur in Kissingen
Seebadeciir mit Nachcur im Harz u. s. w.
CUR UND CUREN. 295
durch rasche Herstellung eines sogenannten guten Ernährungszustandes,
soweit dieser in einer Zunahme des Körperumfanges und Gewichtes sich
kennzeichnet, gewisse Störungen zu beseitigen. Sie findet daher bei ver-
schiedeneu SchAvächezuständen des menschlichen Körpers, bei Blutarmuth,
Bleichsucht, Abzehrung, Abmagerung, Reconvalescenz, frühem und spätem
Marasmus, Neurasthenie etc. Anwendung. Ihre Principien sind: Entfernung
der Kranken aus ihrer gewohnten Umgebung, Bettruhe, überreiche Zufuhr
von Nahrungsmitteln, Elektricität, Massage des Körpers. Die Cur wird mit
der consequenten Durchführung einer Milchdiät eingeleitet. Mit kleinen
Quantitäten beginnend, steigt man allraälig bis zu einer Menge von 2 — 3 /
täglich. Von Tag zu Tag werden dann neue Nahrungsmittel zugeführt,
Eier, Fleisch, Brod, Kartoffeln, Mehlspeisen etc., deren Menge gleichfalls
immer mehr gesteigert wird. Die Resultate sind in vielen Fällen, nament-
lich momentan, günstig. Die Kranken nehmen häufig an Gewicht, nicht
immer an wirklichen Kräften zu. Mannigfaltige Krankheitssymptome können
dabei schwinden. In dem ganzen Verfahren liegen jedoch Gefahren. Die
starke Zufuhr von Nahrungsmitteln führt bei vielen Kranken zu Verdauungs-
störungen. Bei Anderen, welche die Cur scheinbar gut vertragen oder bei
ihrer Anwendung nicht kränker werden, schlägt sie ab und zu nicht im
gewünschten Sinne an, und wieder Andere fallen, wenn sie die Cur scheinbar
geheilt abbrechen und in ihre alten Verhältnisse zurückkehren, rasch in
das alte Elend zurück. Man hat Fälle erlebt, w^o eine derartige Mastcur
in 2 Monaten eine Zunahme des Körpergewichtes um 12 Pfund hervor-
gerufen hatte und nach Aufhören der Cur einige Tage genügten, den Status
quo ante ganz wiederherzustellen. Der Darmcanal wird überladen, Magen-
erweiterungen sind nicht selten Folge der Mästung; dadurch und durch
den Mangel an Bewegung treten Muskelatrophien, Inactivitätsstörungen,
Blutstauungen in den Bauchorganen etc. auf, die unter Umständen den
Nutzen der Cur völlig vernichten. Gar oft ist eine erfolgreiche Mastcur von
dieser Art eine ancurirte Krankheit, d. h. eine durch Unterdrückung
des schon elenden Stoffwechsels erzeugte anämische Fettleibigkeit. Abgesehen
davon sind die Kosten der Cur so beträchtlich, dass man sie nur bei wohl-
habenden Kranken oder im Spitale anwenden kann. Dass die Weir-
MiTCHELL-PLAYFAiß'sche Cur Zahlreiche Modificationen erlebt hat, ist er-
klärlich. Eine Reihe von Behandlungsarten hat sich aus ihr entwickelt; alle
haben als gemeinsamen Zug überreiche Nahrungszufuhr. Sie sämmtlich auf-
zuzählen, würde hier zu weit führen.
Die absoluteHungercur wird verhältnissmässig selten angewendet .
Was der menschliche Körper in dieser Beziehung ertragen kann, wissen wir
unter Anderem aus den Versuchen der Berufshungerer Tanner, Succi etc.,
wobei allerdings Uebung und Trainirung eine Rolle spielten. Die relative
Hunger cur hat oft eine gewisse Berechtigung. Durch völlige Nahrungs-
entziehung, die beschränkt in der Zeit oder wiederholt geschehen kann,
wird im Stoffwechsel des Körpers eine solche Umwälzung hervorgebracht,
wie kaum durch eine andere Einwirkung. Dadurch wird unter Umständen
ein günstiger Einfluss auf manche krankhafte Zustände ausgeübt. Empfehlens-
werth ist zeitweiliges Hungern bei acuten Störungen der Verdauung, so beim
Brechdurchfall der Kinder, bei bestimmten Diarrhöen Erwachsener etc.
Dass die Hungercur auch bei chronischen Leiden oft Vortheil bringt, be-
weist ein Blick in die Literatur der Zeiten, als das Hungernlassen modern
war. Der Italiener sagt : Dieta tutti i mali acquieta, d. h. Hungern beruhigt
alle Leiden. Der Ausdruck rührt wohl daher, dass viele Menschen davon
krank werden, dass sie zu viel oder nicht richtig essen und namentlich in
wärmeren Ländern die Verdauungsstörungen vorherrschen, auch mehr ein-
296 CUR UND CUREN.
gestanden werden als bei uns, wo der Patient sie auf „Erkältung" (Ueber-
hitzung) zu schieben liebt.
In gewisser Beziehung gehören in die eben behandelte Gruppe auch
andere Curen, bei welchen den Kranken bestimmte Nahrungsmittel völlig
oder theilweise entzogen werden. So sind hier die Banting-, Oertel- und
EssTEm-Cur zu erwähnen. Sie werden in den Artikeln über Fettsucht,
Gicht etc. weitere Besprechung finden. Im Wesentlichen beruhen sie auf
Entziehung der Fette oder der Kohlehydrate etc. ; letzteres, das Verbot
der Kohlehydrate, findet seinen schroffsten Ausdruck in der heute üblichen
Diabetes cur. Es ist keinem Zweifel unterworfen, dass man in den
meisten Fällen die Zuckerausscheidung durch eine strenge Diät zum
Schwinden oder wenigstens zur Abnahme bringen kann. Ob das aber jedes-
mal ein Vortheil für den Kranken bedeutet, ist durchaus nicht entschieden.
Viele Kranke befinden sich bei derselben subjectiv schlechter und durch
ausschliessliche Eiweissnahrung entsteht leicht Acetonurie und Coma diabe-
ticum. So kann also die schablonenmässige Entziehung der Amylacea in hohem
Grade schädigend wirken. Die Zufuhr der Zuckerbildner ist eben mehr
oder weniger Lebensbedingung.
Auch die Eiweissentziehung hat ihren Ausdruck in einer „Cur" ge-
funden. Die BENEKE'sche Carcinomcur beruht darauf, eine Stickstoff- und
phosphorarme Nahrung zu geben. Sie verdankt ihre Entstehung wohl dem
statistischen Umstände, dass in Ländern, wo viel Fleisch gegessen wird
(England), das Carcinom häufiger vorkommt, sowie der Beobachtung, dass
unter den Thieren die Fleischfresser davon befallen werden, die Herbivoren
(Grasfresser) dagegen nicht. Dass man durch obige Cur wirklich Carcinome
heilt, wird Niemand erwarten. *Die zeitweise günstigen Resultate sind wohl
auf dieselben Ursachen zurückzuführen, denen die vegetarischen Curen ihre
Erfolge verdanken.
Parallel mit den Hungercuren gehen die Dur st curen. Auch von
ihnen gilt, was oben gesagt wurde, dass eine mächtige Umwälzung des
Stoffwechsels durch sie gesetzt wird, die sich unter Umständen durch
Gewichtsabnahme, sogar durch Fiebertemperaturen und deletäre Con-
sumptionszustände deutlich zeigt. Ein typisches Beispiel der Durstcur ist
die ScHROTH'sche oder sogenannte Semmel cur. Ihr Princip ist thuulichste
Flüssigkeitsentziehung. Die Kranken werden auf eine Diät gesetzt, bei der
ihnen nur ganz minimale Mengen Flüssigkeit zugeführt werden, und die
Speisen werden so gewählt, dass ihr Wassergehalt gering ist. Die Nahrung
besteht im Wesentlichen aus alter, ausgebackener Semmel und einigen
Vegetabilien, die in Breiform zubereitet werden. Verbunden ist die Schroth-
Cur mit feuchten Einwicklungen. Dass man mit ihr einen grossen und viel-
fach auch wohlthätigen Einfluss auf acute und chronische Leiden, nament-
lich gewisse Dyscrasien, ausüben kann, unterliegt keinem Zweifel. Ihre
Gefahren liegen in der Schädigung des Ernährungszustandes und der Kräfte,
sowie in der schablonenhaften Durchführung längere Zeit hindurch. Bei
ihrer Anwendung ist Vorsicht geboten, die durch Individualisirung und
tägliche Modification nach vorliegenden Bedürfnissen etc. ihre Bestätigung
findet.
Nahe Beziehungen zur ScHROTH-Cur hat die Oertel- Cur. Sie be-
zweckt eine Entlastung der Herzthätigkeit durch Verminderung der Wasser-
menge im Körper und sucht das durch eine starke Einschränkung der
Flüssigkeitszufuhr zu erreichen. Nicht allein die Menge des Getränkes wird
dabei herabgesetzt, sondern auch Speisen gewählt, die einen geringen
W^assergehalt haben und, ähnlich wie bei der BANTiNG-Cur, eiweissreieh
sind. Dazu kommt eine methodische Uebung des Herzmuskels durch Berg-
CUR UND CUREN. 297
steigen, Oertel hat seine Cur ursprünglich für Leute mit Fettherz auf-
gestellt ; später sind auch Kranke mit Herzklappenfehlern nach der
Methode behandelt worden. Es steht ausser Frage, dass die OERTEL'schen
Vorschriften einen guten Kern haben und für die OERTEL'schen Krauken
passen. Die Erfolge sprechen manchmal überzeugend. Namentlich ist es
sicher, dass die Diurese durch die zur Zeit geringe, aber eventuell desto
häufigere Zufuhr von Flüssigkeit sich oft hebt. Andererseits ist aber die
Cur so einschneidend und schwierig, dass durch ihre Verbreitung und
kritiklose, nicht individualisirende Anwendung mehr Unheil als Segen ge-
bracht wird. Herzkranke dürfen nicht nach der Schablone behandelt werden.
Für sie ist jedes Zuviel in der Behandlung eine Verschlimmerung. Die
Vorschriften der ÜERTEL-Cur sind alle drei scharfe Waffen und es ist oft
schwer, manchmal unmöglich, bei ihrem Gebrauche dem ersten und vor-
nehmsten Grundsatze der Medicin, dem „nil nocere" Rechnung zu tragen.
Selbst der vorsichtigste Arzt wird ab und zu schlimme Erfahrungen mit
der genannten Behandlungsart machen. Für die grosse Masse der Herz-
kranken, die nicht in der Lage sind, sich ständig vom Arzte überwachen
zu lassen, ist die Methode im höchsten Grade gefährlich.
Die Oertel- Cur hat mannigfache Veränderungen erfahren, indem bald
das, bald jenes hinzugefügt oder modificirt worden ist. Alle davon abge-
leiteten Behandlungsmethoden lassen sich mehr oder weniger unter den
von Oertel selbst so genannten Begriff T errain cur an bringen, die
augenblicklich in der Praxis einen grossen Ruf haben. Sie verdienen ihn
nur sehr bedingt.
Von den Curen, die in der Darreichung bestimmter Nahrungsmittel
bestehen, sind zusammenfassend zu nennen die Fleisch-, Ve geterianer-,
M i 1 c h-, M 0 1 k e n-, K e f i r-, Kumys- und die 0 b s t c u r e n verschiedener Art.
Die Fleischen ren fallen in der Hauptsache mit den Diabetes- und
Entfettungscuren zusammen, wir verweisen auf diese beiden Artikel. Die
Vegeterianarcur führt dem Körper nur vegetabilische Nahrung zu,
von thierischer höchstens Eier, Milch, Butter und Käse. Die Hartnäckigkeit,
mit der die Vegeterianer den Kampf gegen die Anhänger der gemischten
Nahrung führen, ist bekannt und die Gründe für und gegen genug be-
sprochen worden. Dass beide Ernährungsarten die Möglichkeit gesunden
Lebens geben, ist bewiesen. Je nach Ort, Zeit und Entwicklung des Volkes
oder des einzelnen Menschen wird die eine oder andere Methode ange-
bracht sein. Dass die vegetarische Kost als die allein seligmachende hin-
gestellt wird, ist unbegründet. Blinder Fanatismus hat nirgends Berech-
tigung, am allerwenigsten in der ärztlichen Praxis, und es ist unstatthaft,
einer Theorie zu Liebe die Ergebnisse der menschlichen Entwicklung und
Erfahrung über den Haufen werfen zu wollen. Dass unter Umständen eine
vegetarische Cur vortheilhaft sein kann, leugnet Niemand; ja ab und zu
ist sie ein werthvolles Mittel in der Behandlung, so bei gewissen Formen
chronischer Verdauungsstörungen und der Gicht.
Die Milch cur im strengen Sinne des Wortes besteht in der Dar-
reichung der Milch als einzigen Nahrungsmittels. Sie findet Verwendung
in Schwächezuständen, Hydrops, Typhus, Magengeschwür, Morbus Brightii,
Cirrhosis hepatis etc. Dass sie eine Berechtigung hat, geht aus der Ver-
wendung der Milch als Kindernahrung hervor. Doch liegen die Verhältnisse
bei Erwachsenen und Kranken meist etwas anders. Die zur Erhaltung und
Hebung der Kräfte nöthigen Quantitäten sind so gross — bei ausschliess-
licher Milchnahrung durchschnittlich 4—5 / pro Tag — dass es schwer
hält, sie dem Kranken beizubringen. Dabei ist noch die Gefahr der Ueber-
ladung des Darmcanals zu berücksichtigen. Freilich sind die Erfolge in
298 CUR UND CUREN.
vielen Fällen glänzend, namentlich wenn die Vorsicht gebraucht ist, nur
kleine Mengen auf einmal, diese aber um so häufiger, zu geben. Eine Zahl
von Kranken bleibt aber übrig, denen die Milchcur keinen Nutzen bringt,
obwohl sie aus wissenschaftlichen Gründen indicirt erschien. Bei ihnen
stellt sich völlige Appetitlosigkeit ein, die Kräfte fallen immer mehr und
man hat nun Mühe, durch einen Wechsel der Diät den Schaden gut zu
machen. Nicht zum kleinen Theile sind die geschilderten Unannehmlich-
keiten übrigens durch die hartnäckige Verstopfung bedingt, welche häufig
Folge der Milchdiät ist. Combinationen der Milchcur mit anderen Behand-
lungsarten und Diätformen sind vielfach ausgeführt worden, so namentlich
in der Behandlung der Lungenschwindsucht, mit ungleichen Resultaten.
Weniger gebräuchlich, aber in vieler Beziehung empfehlenswerth ist
die Anwendung der sauren und Buttermilch. Letztere wird von Vielen
lieber getrunken ; nicht zu unterschätzen ist ihre leicht abführende Wirkung.
Die Molkencuren sind in den letzten Jahren etwas in den Hinter-
grund getreten, namentlich verdrängt durch die typischen Milchcuren. Die
Molken sind die Bückstände, welche nach erfolgter Butter- und Käse-
abscheidung aus der Milch bleiben. Je nach Art des Verfahrens bei der
Käsegewinnung unterscheidet man süsse und saure Molken. Verwendung
finden sie bei Aifectionen der Athmungsorgane und Stockungen im LFnterleib.
Kumys- und Kefir euren gehören zusammen. Bei ihnen wird dem
Körper Stuten-, beziehungsweise Kuhmilch zugeführt, die durch eine besondere
Gährung verändert worden ist. Bei manchen Kranken erzielt man damit Erfolge,
andere zeigen unüberwindlichen Widerwillen gegen diese Nahrungsmittel.
Für alle diese Curen gilt, was oben von den Milchcuren gesagt wurde.
Sie führen leicht zu einer Ueberladung des Darmcanals, deren schädliche
Folgen zur Vorsicht mahnen. Auch die Monotonie der Nahrung ist vielfach
vom Uebel.
Die Trauben- und Obst curen lassen sich ebenfalls unter einem
Gesichtspunkte betrachten. Sie sind gekennzeichnet durch die mehr oder
weniger grosse Zufuhr von Trauben oder bestimmten Obstsorten. Beim
Gebrauche grösserer Mengen, von 2 — 6 kg, tritt dabei die abführende
Wirkung des Obstes in den Vordergrund und Curen dieser Art fallen mit
einem gewissen Eechte unter den Begriff der sogenannten Blutreinigungs-
Guren, die noch betrachtet werden sollen. Die massig durchgeführten Obst-
curen, bei denen bis 2 kg täglich aufgenommen werden, sind gewöhnlich mit
anderen kräftigenden Diätformen verbunden. Ihre Wirksamkeit ist nicht
zu unterschätzen, sie haben einen grossen Einfluss auf den Stoffumsatz des
menschlichen Körpers.
Die physikalischen Curen haben in neuester Zeit vielleicht noch
eine weitere Verbreitung gefunden als die diätetischen. Namentlich wird
die Bedeutung der W a s s e r c u r e n aller Art immer mehr anerkannt.
Leider sind aber dabei verderbhche Ansichten geschaffen worden. Man hat
aus dem W^asser ein Allheilmittel gemacht, das überall und jedesmal ge-
braucht werden muss und angeblich auch hilft. Wie viel Unheil durch
diese kritiklose Anwendung der Wassercuren angerichtet worden ist, entzieht
sich jeder Schätzung. Doch fragt sich, ob der Nutzen fanatischer Wasser-
behandlung ihren Schaden aufwiegt, und es ist möglich, dass bei einer
Reaction, die früher oder später der jetzigen Begeisterung folgen wird, uns
auf lange Zeit der richtige Gebrauch des Wassers, eines unserer kostbarsten
Heilmittel, verloren geht. Die Ansichten der ärztlichen Praxis ändern sich
sprungweise und man hat bereits manches Gute aus unserer Kunst als
„obsolet" ausgewiesen, weil es die hochgespannten Erwartungen nicht erfüllte.
Die mannigfaltigen Formen der Behandlung mit Wasser, als Getränk,
CUR UND CUREN. 299
Bäder, Douchen, Abreibung, Umschlag, Einwickluiig, finden eingehendere
Besprechung in dem Artikel „Hydrotherapie". Hier sei nur darauf hin-
gewiesen, dass einige Gebiete derselben vernachlässigt sind. So ist die
Bedeutung der localen heissen und kalten Applicirungeu neben den Voll-,
Halb- und Theilbädern zur Hebung von Ernährungs- und Kreislaufstörungen
localer oder allgemeiner Natur, Beeinflussung reflectorischer Vorgänge,
nervöser Zustände, functioneller und materieller Veränderungen noch lange
nicht genügend anerkannt. Hierher gehören auch die fast unentbehrlichen,
wohlthätigen Einwirkungen, wie sie durch Guttaperchapapierumschläge mit
oder ohne feuchte Applicationen in den mannigfachsten Variationen und
Combinationen und bei den verschiedensten Kranken und Leiden mit mehr
oder minder Erfolg angewendet werden.
Aehnlich steht es mit den Massage euren. Auch der Glaube an
ihre Wirkung und demzufolge ihre Anwendung ist in erschreckender Weise
übertrieben worden; gerade deshalb steht auch hier der wirkliche Nutzen
oft sehr in Frage. Die kritiklose, systematische, nicht genug individuali-
sirende Anwendung der Massage — und sie wird fast nur kritiklos und
schablonenhaft verwendet, in uncontrolirten Instituten und von ungebildeten
Laien, die dort machen können, was sie wollen — ist eine dauernde Gefahr
für den Ruf unseres Standes. Die Wissenschaft hat sich leider der Wasser-
und Massagebehandlung nur zaghaft, spät und ungenügend angenommen und
sich später die Praxis wieder aus den Händen reissen lassen- Das rächt
sich jetzt sowohl an uns Aerzten, deren Ansehen sinkt, als an den Kranken,
die vielfach durch den blinden Eifer dauernd geschädigt werden. Auch bei
der Massage könnte es in Zukunft leicht dahin kommen, dass sie durch
übertriebene Anwendung völlig in Verruf geräth.
Als besondere Abarten der Massagecuren, die in einem eigenen
Artikel eingehendere W^ürdigung finden, sind die s e h w e d i s c h e G y m n a-
stik, Curen an besonderen Apparaten, Reitcuren etc. zu erwähnen, die bei
Unterleibsstockungen und Störungen im Bewegungsapparate viel gebraucht
werden (vergl. „Mechanotherapie").
Hand in Hand mit der Massage gehen die elektrischen und hydro-
elektrischen Curen, die wie alle anderen Curen vielfach combinirt und
variirt werden. Das Nothwendigste darüber wird in dem Artikel ,,Electro-
therapie" abgehandelt.
Die pneumatischen Curen haben als Princip die Anwendung
comprimirter oder verdünnter Luft. Je nachdem man mehr auf den ge-
sammten Stoffwechsel oder mehr auf die Lungenthätigkeit Einfluss üben
will, werden entweder der ganze Körper oder blos die Lungen der Ein-
wirkung der veränderten Luftdichtigkeit ausgesetzt. Neben allgemeinen
Ernährungsstörungen sind es hauptsächlich Affectionen des Respirations-
apparates, gegen welche die Methode empfohlen wird. Vorsicht ist dabei
wie bei jeder Cur geboten. Namentlich ist der starke Einfluss der Cur auf
die Blutcirculation — Hämorrhagien ex vacuo — im Auge zu behalten.
Eng an diese Behandlungsart schliesst sich die Expre ssions cur an, die
Gerhardt bei bronchitischem Emphysem und Bronchiectasien anwendet
und die namentlich auch mutatis mutandis bei Unterleibsstörungeu ver-
schiedener Art, Blähungen, Atonie des Darmes, Obstipation, Fettanhäufuug,
Zwerchfellverschiebung etc. zweckmässige Verwendung findet. Durch Druck
auf die Brust- und Bauchwand wird dabei die Kraft der Exspiration wesent-
lich verstärkt. Auch hier lassen sich üble Zufälle nicht immer ganz vermeiden.
Es gibt dann noch eine grosse Zahl von A t h m u n g s c u r e n, bei
denen theils durch Gymnastik, theils durch bestimmte Apparate eine
Regelung der Respirationsthätigkeit bezweckt wird. Auch die verschiedenen
300 CUR UND CUREN.
Stottercuren wollen mehr oder weniger eine Uebereinstimmung zwischen
Sprechen und Athmen herbeiführen und gehören so in gewissem Sinne
hierher. Als Curiosität sei schliesslich der Gähn cur Erwähnung gethan,
die sich zur Zeit einer sonderbaren Beliebtheit erfreut.
Die Inhal ations euren, die sich hier passend anreihen, habenden
Zweck, dem Respirationstractus mit der Athmungsluft bestimmte Medica-
mente zuzuführen. Dazu lassen sich gasförmige, flüssige und pulverförmige
feste Körper verwenden. Je nach dem Mittel, dem Individuum und dem
zu Grunde liegenden Uebel ist die Wirkung verschieden und bei einzelnen
Massnahmen, so bei der Inhalation von Sauerstoff und Stickstoff, lassen
sich Beeinflussungen des Stoffwechsels erzielen. Eine Rolle haben in dieser
Beziehung zeitweilig die Ozoncuren gespielt; man hat sich allmälig von
ihrer Nutzlosigkeit überzeugt. Im Wesentlichen bezwecken die Inhalations-
curen locale Einwirkung auf die Respirationsorgane.
Die früher üblichen Räuchercure n stehen auch jetzt noch nament-
lich bei den Curpfuschern in Gunst ; sie beruhen im Ganzen auf denselben
Grundlagen, wie die eben genannten. Ebenso ist die Insuf flations-
Methode, das Einblasen bestimmter Arzneimittel, in Indication und
Wirkung mehr oder weniger übereinstimmend mit der Inhalationscur.
Die klimatischen und Luft euren, zu denen die grosse Zahl
der Gebirgs- und Wintercuren, unter Anderem auch die Seebäder gehören,
suchen die Verschiedenheiten der Klimate im weitesten Sinne des Wortes
zu therapeutischen Zwecken zu benutzen. Ihre Wirkung ist eingehend studirt
und sie bilden ebenso wie die Badecuren einen umfangreichen Zweig
der Praxis. Wichtig ist es, auf den Unfug hinzuweisen, der mit den Bade- und
Luftcuren getrieben wird. Leicht ist es, einem Kranken zu sagen: „Gehen
Sie in den und den Curort oder brauchen Sie das und das Bad", aber es
ist ein niedriger Standpunkt, womöglich nach einer einzigen Untersuchung
den Kranken mit einem, solchen billigen Rathschlage zu entlassen und die
Sorge für ihn einem Badeort mit oder ohne ganz unbekanntem Badearzt
anzuvertrauen. Eine Garantie, was aus dem Patienten wird, hat man dabei
nicht, und doch ist es Pflicht jedes Arztes, für einen Kranken, der ihn
consultirt und dessen Behandlung er übernommen hat, die thunlichstp
Verantwortung zu tragen. Die meisten Badeorte kennt der sie empfehlende
Arzt nur aus Büchern und in Büchern steht viel.
Aehnlich verhält es sich mit den Trink- und Brunn encuren.
Auch sie werden vielfach ohne die nöthige Kritik und nähere Details ge-
braucht und ohne genügendes Bewusstsein, dass eine Brunnencur ein
differenter therapeutischer Eingriff ist. Abgesehen von den socialen Schädi-
gungen, die der Kranke unter Umständen durch ein solches Verfahren
erleidet, sind Verschlimmerungen seines Leidens durchaus nicht aus-
geschlossen. Gerade die Trinkcuren sind für gewisse Kranke durch die
mehr minder differenten Flüssigkeiten, ihre Menge, die Art uüd Weise
ihrer Zufuhr in hohem Masse gefährlich und von ihnen gilt das, was oben
über die Milchcuren gesagt wurde, umsomehr, als es sich hier nicht um
ein Nahrungsmittel, sondern um ein Arzneimittel handelt. Es will überlegt
sein, ehe man dem Magen und Darme eine solche Anstrengung, wie der
Gebrauch der Brunnen für diese Organe mit sich bringt, zumuthen darf.
Eine ganze Reihe von Curen trägt ihren Namen nach bestimmten thera-
peutischen Manipulationen, welche dabei vorgenommen werden, so die Schmier-,
Injections-, Sonden- und Intubationscuren. Auf sie einzugehen
muss den Specialartikeln überlassen bleiben. Hier sei nur kurz auf einige
Nachtheile hingewiesen, die bei ihrer Anwendung hervortreten. So ist es
beispielsweise üblich geworden, beim Tripper ohne weiters Ein spritz un-
CUR UND CUREN. 301
gen ZU gebrauchen. Man sollte stets daran denken, wie leicht auf einer
entzündeten Schleimhaut durch Einspritzung chemisch und physikalisch
differenter Mittel Schädigungen veranlasst und Geschwüre gebildet werden,
die mit den nachfolgenden Narben und Stricturen recht unangenehm
werden können. Das trifft selbst oft für Injectionen zu, die von geschickter
und berufener Hand gemacht werden. Bei der Gewohnheit, solche Eingriffe
pfuschenden Laienhänden zu überlassen, liegt die Gefahr noch viel näher.
Auch das Sondiren wird vielfach zu weit getrieben. Ganz abgesehen
davon, dass durch ungeschicktes Bougiren jede Verengerung verschlimmert
wird, wird auch oft fälschlich eine Strictur diagnosticirt, wo nur eine
Schwellung der Schleimhaut oder ein Krampf der Muskelfasern besteht.
Als Inje ctionscur ist weiterhin die Tuberculinb ehandlung
aufzufassen. Auch die Methylenblau- Injectionen, wie sie in der
Behandlung der verschiedensten Nervenaffectionen und des Carcinoms
üblich geworden sind, müssen hier erwähnt werden, wenn ihr Werth auch
nur sehr zweifelhaft genannt werden kann. Das Merkwürdigste auf diesem
Gebiete ist die BgöwN-SiiiQuÄRD'sche Spermin cur. Sie versetzt uns in
mittelalterliche Zustände zurück und bei ihr darf man wohl sagen: der
Glaube macht selig.
Die Impfcuren haben in der Tollwuthimpfung und der Erysipelas-
Impfung ihre Repräsentanten, an die wir noch die Blutserum-Injectionen
bei Pneumonie, Tetanus, Diphtherie und die alkoholischer Thiosinaminlösungen
gegen Narbenbildungen etc. anreihen wollen.
Was die mit Ausspülungen des Magens oder Darmes ver-
bundenen Curen angeht, so steht fest, dass durch methodische Ausspülungen
Erweiterungen und functionelle Störungen des Magens oft eher hervor-
gerufen als geheilt werden.
Eine Analogie hiezu bilden die Curen, bei denen bestimmte Medi-
camente in Anwendung gezogen werden, und deren Zahl Legion ist.
Nur einige sollen kurz angedeutet werden: die Eisen-, Schwefel-, Jod-,
Quecksilber-, Opium- und Morphiumcuren. Sie tragen fast alle den Stempel
der Schablone. Durch Jahrhunderte hindurch haben sie sich vererbt, ohne
dass eine gesunde Kritik ihren Werth geprüft hat. Sie sind in vieler
Beziehung ein Hemmschuh für die Entwicklung unserer Kunst. Vor Allem
in der Psychiatrie, die doch am meisten das Individuum berücksichtigen
sollte, sind die Opium- und Morphiumcuren noch gang und gäbe. Bequemer
ist es ja jedenfalls, den Geisteskranken mit Narcoticis den Mund zu
stopfen. Aber die Palliativwirkung ist schliesslich nicht der Hauptzweck
der Heilkunst.
Auch die Curen gegen bestimmte Affectionen finden ihre Besprechung
besser in den einzelnen Abhandlungen. Diese Anti-Curen haben aber,
das muss gesagt werden, insgesammt den Fehler, dass sie den alten, von
der Theorie längst begrabenen Satz: „Hie Krankheit, hie Mittel" praktisch
am Leben erhalten.
Die Entwöhnungscure n von Alkohol, Tabak, Morphium, Opium,
Cocain etc. sind mannigfach ausgestaltet worden. Meist beruhen sie auf
einer allmäligen Entziehung des Giftes. Ob das unter allen Umständen
das Richtige ist, bleibt zweifelhaft. Es gibt sicher eine Reihe von Säufern
und Morphinisten, denen nur durch plötzliche absolute Entziehung zu helfen
ist, freilich meist nur in Verbindung mit einer Menge anderer individuell
gewählter und dann sehr wirksamer Massnahmen.
Eine hervorragende Stelle in der Therapie nehmen die sogenannten
Blutreinig ungscuren ein. Sie zerfallen im Wesentlichen in Schwitz-,
Abführ- und Kräutercuren.
302 CUR UND CUREN.
Dass die methodischen Schwitzcureu, wie sie durch prolongirte
Bäder, Einwicklungen, Dampfbäder oder Arzneimittel herbeigeführt werden,
einen grossen Einfluss auf Ernährungs- und Circulationsstörungen aller Art
haben, steht fest. Sie bringen eine gewaltige Revolution im Körper hervor
und sind eines unserer brauchbarsten Hilfsmittel. Ihre Uebelstände sind
freilich nicht zu unterschätzen, um so mehr, je ausschliesslicher und
kritikloser sie Verwendung finden.
Gefährlicher und auch weniger nutzbringend sind die Abführ euren.
Sie setzen vielfach so ungünstige Verhältnisse und verfehlen ihr Ziel so
häufig, dass sie nur mit der grössten Vorsicht benutzt werden sollten. Ihre
weite Anwendung bei Ernährungsstörungen ist jedenfalls nicht zu recht-
fertigen.
Parallel mit ihr gehen die B r e c h c u r e n und die E k e 1 c u r e n.
Heutzutage hat man freilich von deren Verwendung fast ganz Abstand
genommen.
Die Kräuter euren sind neuerdings mehr verlassen worden. Doch
werden sie noch ab und zu in Gebrauch gezogen, bald mit Theeaufgüssen,
die innerlich zu nehmen sind, bald äusserlich als Einpackungen oder Dunst-
bäder. Ihre seltene Anwendung lässt schon ihren Werth sehr bedingt
erscheinen.
In mancher Beziehung gehören auch die Blutentziehungs euren
hierher. Der Aderlass stand früher neben Brechen und Abführen im Mittel-
punkt der Therapie und Curen und wurde dann fast ganz aufgegeben. Er
ist in der neuesten Zeit wieder bei der Chlorose empfohlen worden, und
dass er ein wirksames Agens bildet, ist sicher. Ein unfehlbares Heilmittel
gegen die Chlorose stellt er aber nicht dar. Ebenso wie bei der Eisen-
behaudlung werden wieder hartnäckige Kranke bleiben, denen der Aderlass
auch gar nichts hilft, vielleicht schadet. — Die Blutegelcuren und Scarifi-
cationen haben in gleicher Weise ihre Berechtigung (vergl. „Blutentziehungen").
Einen scheinbaren Gegensatz hierzu bilden die Transfusions curen,
wie sie ab und zu bei Störungen der Blutbildung, Verblutung, und neuerdings
bei der Cholera gebraucht wurden. Der Zweck ist jedoch auch hier, eine
Anregung der Blutregeneration, wenn ihr Werth auch ziemlich illusorisch
ist, und unsere Vorstellungen über Blutbildung und ihre Veranlassung zum
Theil noch sehr mangelhaft, ja gewiss geradezu fehlerhaft sind.
Anzuschliessen sind hier die Derivations curen, die freilich
immer mehr in Vergessenheit gerathen. Das verdienen sie eigentlich nicht.
Die Fontanellen, Vesicatore, das Ferrum candens etc. sind immerhin unter
Umständen ganz brauchbare Mittel.
Eine eigenartige und bedeutsame Rolle spielen die psychischen
Curen. Immer mehr bricht sich die Ueberzeugung Bahn, dass der psychi-
sche Einfluss des Arztes ein Hauptpfeiler seines Könnens ist und vielfach
ausschlaggebend für die Behandlung und ihren Erfolg bleibt. Die grosse
Verbreitung, welche die methodische Suggestionstherapie, namentlich bei
verschiedenen functionellen Störungen allenthalben gefunden hat, ist ein
bedeutender Fortschritt. Ihr curmässiger Ausbau ist zwar noch gering, aber
die Principien stehen im Grossen und Ganzen fest, und auch der Gefahren
ist man sich dabei wohl bewusst. Eine so grosse Zukunft dieser Methode
zu prophezeien, Mäe ihre Anhänger hoffen, ist immerhin gewagt. Neben der
methodischen Suggestion und Hypnose gehören hierher die sogenannten
magnetischen Curen und die Metallother apie. Ihr Erfolg beruht
meist ebenso, wie bei den zahllosen Wundercuren katholischer Länder, auf
psychischer Einwirkung.
In einen unberechtigten Gegensatz zu einander werden immer noch
CUR UND CUREN. 3O3
die allopathischen und homöopathischen — besser alle thera-
peutischen und homöotherapeutischen — Curen gebracht. Von
Allopathie zu reden, ist bei unseren veränderten Anschauungen gar nicht
mehr gut möglich, und auch die früher geltenden Theorien der Homöopathie
sind überwunden. Daran ändert die Thatsache nichts, dass es noch unzählige
gläubige Homöopathen gibt. Jedenfalls hat uns die homöopathische Lehre
neben dem Fortschreiten unserer Kenntnisse von dem fanatischen Arznei-
glauben befreit und sie wird deshalb stets in der Geschichte der Medicin
ihre Bedeutung behalten. Eine Erweiterung haben die homöopathischen
Methoden in der homöopathisch-elektrischen MATTEi-Cur gefunden, die an
den Glauben der Menschen wunderbare Anforderungen stellt und auch
erfüllt findet.
Auch gewisse Bekleidungs-Curen hat man aufgestellt. Das
JÄGER'sche Wollregime und im Gegensatz dazu die Verwendung der Baum-
wolle (Lahmann u. A.) als Heilmittel haben weit und breit Anhänger
gefunden. Dass in beiden Theorien ein guter Kern steckt, ist klar, aber
ebenso sicher ist, dass wohl selten etwas so völlig kritiklos gehandhabt
worden ist wie das Wollregime, und dass die Bedeutung dieser Dinge
unverantwortlich übertrieben worden ist.
Wohl die weiteste Ausbreitung und die höchste Begeisterung haben
in letzter Zeit die Naturheil -Metho den und -Curen gefunden, denen
im gewissen Sinne auch die bekannte KNEipp-Cur anzureihen ist. Das
Streben ihrer Jünger hat Berechtigung; dass jetzt mehr denn früher die
Heilkraft der Natur betont wird, ist ein Glück für unsere Kunst, und dass
mit den letzten Resten des mittelalterlichen Wunderglaubens unserer
Wissenschaft gründlich aufgeräumt wird, bedauern nur die, denen das „Ut
aliquid fiat" als die höchste Weisheit erscheint. Aber Anmassung sonder
gleichen muss es genannt werden, wenn sich Leute, die keine Ahnung vom
W^esen und Leben des menschlichen Körpers haben, als Bringer einer
neuen Gesundheitslehre hinstellen. Von der Natur, nach der sie sich
benannt haben, wissen sie nichts, und bei jedem Versuche, ihr Verständnis
für die Naturvorgänge darzuthun, machen sie sich lächerlich, Ihre W^eisheit
reicht nicht soweit, um zu merken, dass die Anwendung des Wassers
principiell dasselbe ist wie die des Quecksilbers, und dass der Peiessnitz-
sche Umschlag nicht mehr Natur in sich trägt als die Amputation eines
Beins. Ihre Dogmen sind der Ausdruck einer Reaction gegen die Aus-
wüchse der Wissenschaft, aber sie sind genau so kurzsichtig und weit
oft gefährlicher als die Irrthümer der Schulmedicin, Gerade die Natur ist
diesen Afterkünstlern völlig verschlossen, während es hinter den Bergen
der Wissenschaft immer noch Leute gibt, die sich die Welt und ihr Werden
und Sein angesehen haben, neben und frei von schädlichen, engbegrenzten
Doctrinen und die so aufgeklärt oder so „einfältig" im besten Sinne sind,
dass sie die ganze Natur als ihre Apotheke betrachten,
Dass es neben der Naturheilkunst noch andere wunderbare Erschei-
nungsarten der Laienphantasie gibt, beweisen der B a u u s c h e i d t i s m u s ,
die KuHNE'sche Cur etc. Die Verbreitung der letzteren lehrt, dass die
Gunst des Publicums am bequemsten durch das Auftischen einer grossen
Albernheit gewonnen wird. Auf diese Leute passt wirklich der Ausdruck
„Curpfuscher."
Eine Merkwürdigkeit unter den Curen bleibt die sogenannte
ScHWENiNGEE-C u r, Sie ist in jeder Beziehung ein raffinirter Betrug. Man
hat eben hier nur läuten aber nicht schlagen gehört; die „Entdecker"
dieser „Cur" haben aus einigen individuell gegebenen Verordnungen gewisse
Lehren, Schablonen, Principien erdichtet, diese dann zusammengestellt und
304 CUR UND CUREN.
dem erzielten Gebräu den Namen der ScHWENiNGER-Cur gegeben. Diese
Lehre oder ihre Identificirung mit der OEKTEL-Cur wurde des Weiteren
sogar in wissenschaftlich medicinischen Werken vorgetragen. Schweninger
selbst hat mit dieser „Cur" nicht das Geringste zu thun. Er ist ein solcher
Feind jeder Schablone, dass er während seiner ganzen ärztlichen Thätigkeit
niemals eine sogenannte „Cur" verordnet hat, am wenigsten aber seinen
vornehmsten Kranken, über welche die haarsträubendsten Curfabeln ver-
breitet worden sind, während darüber thatsächlich keine authentischen
Aeusserungen bis jetzt vorliegen, ausser dem was Schweninger selbst in
der Vorrede zu seinen gesammelten Arbeiten gesagt hat.
Aus der vorstehenden Zusammenstellung ersieht man, wie mannigfach
ärztliche und Laien-Phantasie gespielt hat, neue Behandlungsarten zu
erfinden, und schon das blosse Aufzählen so vieler methodischer Curen
genügt zu beweisen, wie diese im Grunde genommen sämmtlich nur relativen
Werth besitzen — noch mehr, wenn man in Bäderalmanachen u. a. 0.
sieht, gegen wie viele Leiden es Curen gibt, und dass jede Cur wie die
modernen Arzneimittel mehr minder ein Allheilmittel sein soll. Jede Cur
trägt in höherem oder geringerem Grade den Stempel der Schablone.
Darum ist jede „methodische Cur" ein Verstoss gegen
den wichtigsten Grundsatz des ärztlichen Handelns:
gegen das Individualisiren. Während die Theorie längst
erkannt hat, dass der Begriff der Krankheit als des Feindes der
Gesundheit falsch ist, dass vielmehr Gesundheit und Krankheit nicht
absolute Gegensätze sind, sondern verschiedene Gradformen des Lebens,
wie Wärme und Kälte verschiedene Gradformen der Temperatur sind,
während also die Theorie die Schablone nach langem Kampfe überwunden
hat, rechnet die Praxis noch immer mit diesen irrigen Anschauungen und stellt
der feindlichen Kraokheit die methodische und ausschliessende Cur gegenüber.
Der Fortschritt unserer Kunst wird dadurch sehr gehemmt, denn
unser Können nimmt nur zu, wenn es mit unserem Denken und Wissen
übereinstimmt. Und wenn es theoretisch richtig ist, dass Aerzte nicht
Krankheiten, sondern Kranke behandeln, so muss dieser Satz in die Praxis
übertragen werden. Die Behandlung mittelst einer sogenannten „Cur"
richtet sich aber stets gegen eine Krankheit. Sie ist die schablouenhafte
Anwendung eines Mittels gegen einen Feind, der nicht existirt. Deshalb
sind alle nicht individuellen Behandlungsmethoden von Grund aus und ohne
Ausnahme zu verwerfen.
Allen „Curen" gegenüber ist eine Einheit herzustellen, die indivi-
dualisirende Cur. Sie ist die einzige, die allgemeine Giltigkeit hat. Bei
jedem Kranken unterzieht sie alle zugänglichen äusseren und inneren Punkte
des Lebens einer eingehenden Würdigung. Auf die Regelung aller Einwirkungen
auf den menschlichen Körper muss für jeden Fall in umsichtiger, streng
individualisirender Weise Rücksicht genommen werden. Dabei ist die Idee
stets vorherrschend, unter der Leistungsfähigkeit des Individuums, der
Organe und Functionen zu bleiben, während man dieselbe gleichzeitig
steigert. Die Leistungsfähigkeit bis zum mehr oder minder Gesunden in
einfachster Weise zu erhöhen, ohne sie zu erschöpfen, ist das Ziel unserer
Kunst. Die mannigfachen Modificationen und Variationen, die sich dabei
durch weitere Beobachtung und Controle ergeben, lassen es sehr wohl zu,
alle die Hilfsmittel, die uns Kunst, Wissenschaft, Erfahrung und Humanität etc.
an die Hand geben anzuwenden, und so lange als erforderlich beizubehalten,
wenn sie auch nur ein nothweudiges Uebel darstellt.
CUR UND CUREN. 305
Wenn Wissenschaft und Staat ihre Aufgabe erfüllt hätten und nicht
überall die Schablone und den Mangel an Denken begünstigten, würden
diese Forderungen längst erfüllt sein, was sie jetzt nicht sind. Wissenschaft
und Staat, ja die Menschheit im Ganzen auf den individualisirenden
Standpunkt zu stellen, wo es nicht Krankheiten, sondern Kranke gibt, ist
unser Ziel. Wenn es erreicht wird, fallen die „Curen", und es bleibt nur
die „Cur".
Trotzdem erreicht die Behandlung der Kranken durch Curen Erfolge.
Allein es sind bei jeder Cur Dinge zu berücksichtigen, die Anleitung
geben, wie das Problem zwischen der sich scheinbar widersprechenden
Theorie und Praxis gelöst werden kann.
Zunächst wird eine grosse Anzahl von Kranken von selbst
gesund. Schon das Kranksein an und für sich mit den grossen
Veränderungen, denen es den Menschen unterwirft, bringt oft die
Genesung, die Natur hilft sich eben oft von selbst. Erklärlich ist,
dass diese Heilungen der Cur zugeschrieben werden, die zufällig
gebraucht wurde. Sodann gewinnt der Arzt durch das Einleiten einer Cur
ein grosses psychisches Uebergewicht über den Kranken, und schon der
moralische Einfluss allein genügt oft zur Herbeiführung der Besserung und
Heilung. Der Glaube macht eben nicht allein selig, sondern auch unter
Umständen gesund. Ferner wird durch jede Cur eine solche Umwälzung
im menschlichen Leben, namentlich in Stoffwechsel und Circulation herbei-
geführt, dass daraus sehr wohl günstige Ergebnisse hergeleitet werden
können. Endlich sind alle Curen so construirt, dass sie die vorherrschenden
Symptome, welche der Kranke bietet, mit einer gewissen Sicherheit
beseitigen. Dass oft mit der Wegschaffung des Hauptsymptomes ein Kranker
gesund wird, ist ebenso verständlich, wie dass dies unter Umständen nach
Beseitigung gewisser Einflüsse und Ursachen vorkommt.
Bei alledem bleibt eine nicht geringe Anzahl Kranker übrig, die
durch keine Cur genesen. Sie zu heilen ist mit schablonenhafter Behandlung
nicht möglich. Sie sind keine „Schulfälle" (die ja so selten sind), sondern
stellen Individualitäten dar; sie sind die zahlreichen Uebergangsglieder
zwischen den einzelnen Gruppen, zu welch' letzteren man Kranke nach
ihren Affectionen zusammenfasst, um sie dann mit einem griechischen oder
lateinischen Namen gestempelt als Krankheiten aufzuführen. Will man Alle
heilen, die zwar keine Krankheit haben aber krank sind, dann ist es nöthig,
für Jeden von ihnen eine eigene Behandlungsweise aufzustellen. Das wäre
dann eine Cura im wahren Sinne.
Man müsste diese Patienten nach Berücksichtigung und Würdigung
aller einschlägigen Verhältnisse und Momente in die denkbar einfachsten
Verhältnisse bringen, um alle störenden Factoren auszusondern und einen
thunlichst klaren unzweideutigen Einblick und Einfluss in die Thätigkeit und
Leistungsfähigkeit des Organismus und seiner Theilezu gewinnen. Denn schliess-
lich sind alle Menschen, seien sie gesund oder krank, das Product ihrer
gesammten Lebensweise, Verhältnisse und Einflüsse. Ein einziger Factor
in diesem Product vortheilhaft verändert, muss das Resultat anders gestalten,
um so günstiger und nützlicher, je wichtiger der betreffende Factor ist.
Hat man die Kranken unter Bedingungen gestellt, die nicht mehr schädigend
einwirken, und vor Allem die in ihrer Wirkung zu controlliren sind, hat
nianEssen,Trinken, Bewegen, Ruhen, Schlafen, Arbeiten, zweckmässig etc. mit
Mass und Ziel und in gehöriger Abwechslung zu beeinflussen und ihre
Wirkung anstandslos zu überblicken vermocht, so kann man leicht aus der
Masse der zugängigen Hilfen und Mittel (im weitesten Sinne des Wortes)
noch diejenigen Variationen und Abänderungen treffen, die nothwendig,
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. 20
306 CYANOSE.
wünschenswerth oder nützlich sind, ausserdem dabei die Leistungsfähigkeit
des Körpers und seiner Theile zur thunlichsten Höhe zu bringen suchen.
So kann man stufenweise sie in den Sturm der Welt wieder zurückführen
bis zu dem Punkte, wo ihre Kraft und Leistungsfähigkeit noch ausreicht.
Sie bis dahin zu leiten und ihnen ein Leben zu schaffen, das sie nach
Möglichkeit gesunden lässt, wo möglich gesund erhält, nicht krank macht
und vor weiterer Erkrankung schützt, das ist die Kunst des Arztes, das
heisst Individualisiren und das ist Schweninger's Cur.
SCHWENINGER-GEODDECK.
CyanOSe ^). Cyanose, als klinisches Symptom, ist jene bläuliche Ver-
färbung der Haut und der Schleimhäute, welche dieselben in Folge venöser
Beschaffenheit des in ihren Capillaren enthaltenen Blutes annehmen. Die
Anhäufung eines solchen venösen, d. h. C02-reichen und im Gegensatze
zum hellrothen 0-reichen arteriellen Blute dunkelblaurothen Blutes wird sich
vorwiegend und zunächst an den gefässreichen und durchscheinenden
Körperstellen, welche bereits für gewöhnlich lebhafter gefärbt sind, wie
die Ohren, Wangen, Lippen und Zunge, als cyanotische Färbung derselben
äussern.
Als nächste Ursache der Cyanose müssen sämmtliche Momente
gelten, welche entweder den Uebergang des venösen Blutes in arterielles
hindern oder die Umwandlung des arteriellen in venöses fördern. Ersteres
kommt in den Capillaren des kleinen Kreislaufes durch herabgesetzte
0-Aufnahme und herabgesetzte C02-Abgabe in Folge Beschränkung des
respiratorischen Gaswechsels, daher vorwiegend bei Athmungshindernissen
vor; letzteres in den Capillaren des grossen Kreislaufes durch gesteigerte
0-Abgabe und gesteigerte COg-Aufnahme in Folge Verlangsamung des
Blutstromes, daher vorwiegend bei Circulationshindernissen. Die Arteria-
lisirung des venösen Blutes durch Oxydation und Decarbonisation der
rothen Blutkörperchen erfolgt bekanntlich in der Lunge vermöge des
.respiratorischen Gaswechsels und ist daher von folgenden Umständen ab-
hängig: 1. von dem Querschnitte und der Geschwindigkeit des in- und
exspiratorischen Gasstromes, sowie der chemischen Beschaffenheit der
inspirirten Luft ; 2. von dem Querschnitte und der Geschwindigkeit des in
den Aesten der Pulmonalarterie fliessenden Blutstromes und der Anzahl,
Grösse und Beschaffenheit der oxydationsfähigen, corpus culären Elemente
im Blute. Was die chemische Beschaffenheit der inhalirten Luft anlangt,
so muss vor Allem 0 in genügender Quantität und hinreichender Spannung
in dieser vorhanden und andererseits nicht mit relativ grösseren Mengen
CO2 gemischt sein. Die tödtlichen Asphyxien der Luftschiffer in einer Höhe
von 8000 m sind wohl in erster Linie durch geringe Spannung des 0 in
so hohen Luftschichten und durch die Unfähigkeit des Hämoglobins, bei
niedrigem Drucke 0 zu absorbiren, bedingt, der trotz beschleunigter
Athmung dem Organismus nicht mehr in genügender Menge zugeführt
werden kann. Auf der anderen Seite sind die seltenen Fälle von Erstickung
in Gährkellern, in welchen CO^ in reichlicher Menge sich entwickelt, sowie
die berüchtigten Asphyxien in der Hundsgrotte Beispiele für die Irrespira-
bilität einer mit CO.2 geschwängerten Luft.
Eine Beschränkung des Gasaustausches in der Lunge
zwischen Blut und der atmosphärischen Luft wird durch Erkrankung der
*) Auf der Basis dieses Stichwortes hat der Autor ein differential- diagnostisches
Bild sämmtlicher Lungen- und Herzkrankheiten entworfen. — Durch an entsprechender
Stelle angebrachten Wechsel des Druckes erscheinen die wichtigsten Schlagworte genügend
hervorgehoben und Averden dieselben auch in's General-Register mit den nöthigen
Hinweisen eingefügt werden. D- Red.
CYANOSE. 307
Respirationsorgane veranlasst. Hier kann wiederum durch Stenosen im
Larynx oder in der Trachea oder durch Verkleinerung der Respirations-
fläche in Folge von Verstopfung, sei es der Bronchien oder der Alveolen,
mit flüssigen oder festen Stoö"en oder in Folge Schwund des Parenchyms
eine Verminderung des Querschnittes der inspirirten Luft, andererseits
durch verminderte Elasticität der Lunge oder Insufficienz des neuro-
musculären Respirationsapparates eine Herabsetzung der Geschwindigkeit
der ein- und ausströmenden Gase herbeigeführt werden. Schliesslich wird
der Gaswechsel dadurch ungenügend, dass trotz unbehinderten Luftzutrittes
zu den Lungen eine zu geringe Menge Blutes mit der Luft in der Zeit-
einheit in Berührung tritt, wie bei Verkleinerung des Strombettes der
Arteria pulmonalis oder durch Verlangsamung des Blutstromes in den
Lungengefässen. In diesen letztgenannten Fällen kommt es secundär zum
behinderten Abflüsse des venösen Blutes in das rechte Herz und so zu
einer Ueberfüllung des venösen und capillaren Gefässsystems. Indem so
zu dem chemischen Momente der verhinderten Oxydation des Lungenblutes
noch das mechanische der Stauung im Körpervenensystem hinzutritt, erreicht
die Cyanose in dieser letzten Reihe von Fällen die beträchtlichsten Grade.
Wiewohl demnach sowohl bei Respir ati ons- als auch bei Circu-
lationsstörungen der letzte Grund der Cyanose eine unvollkommene
Arterialisirung des Gesammtblutes ist, so ist dennoch die effective Wirkung
der besprochenen Factoren auf das Zustandekommen jenes Phänomens eine
ungleichmässige. Bei Erkrankungen der Respirationsorgane wird zwar die
Cyanose häufig beobachtet, doch steht sie nicht immer im geraden Ver-
hältnisse zur Verkleinerung der Respirationsoberfläche und Erschwerung
des Luftzutrittes zu den Lungen. Hochgradige pleuritische Exsudate mit
Ausschaltung einer ganzen Lunge, hochgradige Destructionsprocesse des
Lungenparenchyms weisen entweder überhaupt keine oder nur geringe
Grade der Cyanose auf, wenn der Patient sich ruhig im Bette verhält.
Bei diesen Erkrankungen, soweit sie ausschliesslich nur den Respirations-
tract betreffen, wird durch Zunahme der Respirationsfrequenz und Ver-
tiefung der Athemzüge die dem vielleicht herabgesetzten Sauerstoffbedarf
der Gewebe entsprechende Sättigung des Blutes mit 0 bis zu einem
gewissen Grade erreicht, und die Cyanose entsteht nur dann, wenn jene
regulatorischen Momente nicht hinreichen, sei es, dass ein aussergewöhn-
liches und in acuter Weise entstandenes Athmungshindernis vorliegt oder
die Respirationsmuskeln und ihre Innervationsapparate in ihrer Thätigkeit
erlahmen. Auf der anderen Seite sind es die Klappenfehler des Herzens,
insbesondere die angeborenen Herzanomalien, welche mit hochgradiger
Cyanose, manchmal ohne auffällige Athmungsstörungen einhergehen können.
Als allgemeine Regel muss demnach der Satz aufgestellt werden, dass
bei Respirationskrankheiten die Dyspnoe, bei Erkrankungen
des Circulationsapparates hingegen die Cyanose in den Vorder-
grund tritt, ferner dass bei uncomplicirten Erkrankungen des Respirations-
apparates, welche mit Dyspnoe einhergehen, vorwiegend nur dann aus-
gesprochene Cyanose sich bemerkbar macht, wenn der Rückfluss des venösen
Blutes in die Brusthöhle behindert ist, wie dies z. B. in vorübergehender
Weise bei Keuchhusten durch Steigerung des Exspirationsdruckes der Fall
sein kann, oder wenn die Respirationskräfte nicht ausreichen, um durch
ausgiebige Lungenventilation die Arterialisirung des Blutes zu besorgen,
sei es, dass das Respirationshindernis im vorhinein zu gross ist, oder dass
der musculös-nervöse Athmungapparat vom Hause aus zu schwach ist oder
erst im Kampfe mit dem Respirationshiudernis insutficient wird. Aus diesem
Grunde ist die Abnahme einer früher vorhandenen Dyspnoe, wenn die
20*
CYANOSE.
Cyanose gleichzeitig als neues Symptom hinzutritt oder, sobald sie früher
vorhanden gewesen, sich steigert, ein Zeichen der respiratorischen Incom-
pensation, daher in der Regel ein prognostisch ominöses Symptom bei
Krankheiten des Respirationsapparates.
Wenn wir nun die Affectionen des Respirationstractus der Reihe
nach durchgehen, welche, wie oben betont, zu Dyspnoe und Cyanose führen,
so sind es zunächst diejenigen, welche Verengerung des Einganges
der Luftwege bewirken, die wir hervorzuheben haben.
Im Isthmus faucium bleiben oft Fremdkörper, namentlich grosse
Bissen nicht gut gekauter Nahrung, stecken und führen so zu Cyanose und
Erstickungsgefahr. In solchen Fällen wird uns die Diagnose keine Schwie-
rigkeiten bereiten.
Casuistisch interessant ist ein von mir beobachteter Fall, der unter dem Bilde
einer hochgradigen, transitorischen Dyspnoe und Cyanose auftrat, und bei dem es sich
um Bildung einer mit blutig serösem Inhalte gefüllten Blase an der Uvula handelte,
welche bis zu Pflaumengrösse herangewachsen war und dabei den Isthmus faucium ver-
engerte. (Angina herpetica.)
Cyanose mit Athemnoth kommt als häufiges Symptom bei den ver-
schiedenen Kehlkopfaffectionen vor, hier stets verursacht durch acute
oder chronische Verengerung oder Verschluss des Athmungscanals. Während
bei Kindern schon massige Anhäufung zähen Schleims (Pseudocroup),
der einfache, rein nervöse Glottiskrampf namentlich bei rhachitischen Kin-
dern zu den bekannten Suffocationserscheinungen mit Cyanose führen kann,
ist bei Erwachsenen das Symptomeubild des Laryngospasmus, wie er bei
Epilepsie, Paramyoclonus, Tetanie, Tetanus, Chorea und Lyssa, auch Tabes
(crises laryngees), schliesslich bei Gehirntumoren und Hydrocephalus
vorkommt, in der Regel weniger stürmisch, ausgenommen bei Hysterischen,
bei welchen in Folge des Stillstandes der Respiration durch den Glottis-
verschluss selbst allgemeine Krämpfe auftreten können. Auch ein fieberhafter
Laryngotrachealkatarrh kann bei Hysterie und Tetanie dadurch, dass bei
jedem Hustenanfalle die Respirationsmuskehi und Glottisverschliesser in
tetanische Contraction gerathen und dass die durch Sauerstoffarmuth aus-
gelöste tiefe Inspiration noch bei verschlossener oder verengerter Stimm-
ritze erfolgt, zur hochgradigen Cyanose mit intermittir ender Athemnoth und
Brustbeklemmung führen.
Dyspnoe mit Cyanose durch Lähmung der Glottis kommen bei ver-
schiedeneu Cerebr OS pinalerk rankungen und Aflectionen des Vagus
vor, wie bei Gehirnhämorrhagien, Embolien der Art. vertebralis, Affectionen
der Gehirnrinde bei progressiver Paralyse, nuclearer Lähmung des Vago-
accessorius und narbiger Constriction desselben oder Druckatrophie durch
Keubildungen und metastatische Geschwülste am Halse und im Foramen
jugulare, Aneurysmen und Abscesse, ferner im Gefolge von Tabes, amyo-
trophischer Lateralsklerose und Degeneration des Vagus bei chronischer
Bleivergiftung. Die Lähmung der Glottismusculatur kann ferner durch myo-
pathische Processe bedingt sein, me in Folge von Rheumatismus, Lues,
Diphtheritis und Trichinen.
Cyanose zählt weiterhin zu den geläufigsten und wichtigsten Symp-
tomen der Rachendiphtheritis und des Kehlkopf Croups.
Die Dyspnoe und Cyanose diirch Larj/nxödem vfir Ah ei },lorhusBrightii,
bei Herzkranken, Strumen, Amyloiddegeueration der Organe, bei acuter
Laryngitis, Perichondritis, insbesondere der Aryknorpel, Ülcerationeu
im Kehlkopfe, bei Syphilis und Lepra, ferner bei entzündlichen Vorgängen
CYANOSE.
309
der Zunge und des Gaumens, seltener der Parotis, Glandula submaxillaris,
der Lymphdrüsen am Halse und der Schilddrüse beobachtet.
In ähnlicher Weise können Oesophaguscarcinome, Aneurysmen der Aorta, Narben
am Halse Glottisödem erzeugen ; ferner ist das angioneiirotische Larijnxödem zu erwähnen
und schliesslich jene seltenen Fälle, die vielleicht als Urticaria der Schleimhäute (der
Zunge und des Larynx) aufgefasst werden können. Das Larynxödem kann auch nach
Jodkaliumgebrauch entstehen, selbst bei verhältnismässig kleinen Dosen, als eine seltene
Erscheinung des Jodismus. Auch die Vergiftungen mit corrosiven Giften und Verbrü-
hungen erzeugen Cyanose und Dyspnoe, meistens durch Larynxödem.
Typhus, Variola, Scarlatina, Erysipel und Pyämie, Rotz und Endocarditis ulcerosa
haben ebenfalls durch Bildung von Glottisödem, Larynxgeschwüren, metastatischen Ent-
zündungen des submucösen Zellgewebes und Perichondritis laryngea Cyanose und Dys-
pnoe im Gefolge, wie sie in ähnlicher Weise Tuberculose begleiten können.
Anderweitige Larynxstenosen, sei es in Folge Narbenschrumpfung oder
intralaryngealer Tumoren, veranlassen, je nach dem Grade der Verengerung
geringere oder höhere Grade der Cyanose.
Selten entsteht Dyspnoe und Cyanose durch So orwuch erung im
Kehlkopfe.
Traumen bilden bisweilen die Ursache von Blutsuff usi onen,
welche den Kehlkopf stenosiren. Fremdkörper rufen entweder an sich oder
durch secundäre Veränderungen am Larynx Stenosenerscheinungen hervor.
Namentlich oft ist in diesen Fällen das Fehlschlingen die Ursache der in
der acutesten Weise auftretenden Cyanose, wie es bei Anästhesie der
Kehlkopf Schleimhaut nach Diphtheritis, seltener Bulbärparalyse, Syringo-
myelie, Vagusaffectionen, Syphilis und Hysterie beobachtet wird.
Durch Einwandern von Ascariden in den Kehlkopf können
Suffocationsanfälle, in sehr seltenen Fällen auch der Tod durch Ersticken
erfolgen.
Im Allgemeinen ist Cyanose mit dem Gefühle grosser Athemnoth und
Brustbeklemmung, wobei sich die Kranken bemühen, jeden Exspirationsact,
insbesondere den Husten, zu unterdrücken, und bei welchem die Athem-
noth hauptsächlich während des Lispiriums auftritt, charakteristisch für die
Stenosen der Ptespirationswege. Angestrengte Muskelthätigkeit zur Ueber-
windung des Athmungshindernisses, Verlängerung der Inspirationsphase, Ab-
wärtsbewegung des Larynx, inspiratorische Einziehung der Intercostalräume,
der Fossa jugularis, der Supraclaviculargruben und der Magengrube, ste-
notische Athmungsgeräusche, Pfeifen, Schnurren und Rasseln mit Abschwä-
chung oder gänzlichem Fehlen des vesiculären Athmens charakterisiren das
klinische Bild derLarynxstenose. Die Abweichungen hievon hängen
vom Sitze und den sonstigen Verhältnissen der steuosirenden Ursache ab.
Larynxstenosen durch Narben und Neubildungen im Kehlkopfe erzeugen je
nach ihrem Sitze gewöhnlich die schwersten Inspirationsstörungen, welche
bald die Inspiration, bald die Exspiration, bald beide Respirationsphaseu
betreffen. Bewegliche Geschwülste, z. B. Polypen unterhalb der Glottis,
können letztere bei der Exspiration ventilartig verlegen und demzufolge
exspiratorische Dyspnoe bei normaler und leichter Inspiration erzeugen.
Polypen oberhalb der Glottis erzeugen in der Regel inspiratorische Dys-
pnoe, welche in seltenen Fällen, nur dann, wenn die Kranken die dem Sitze
des Polypen entgegengesetzte Lage annehmen, auftritt, und zwar dadurch,
•dass der gestielte und bewegliche Tumor vermöge seines Gewichtes die
Glottis verlegt und beim Inspirium weiter aspirirt wird, so dass er den
Verschluss noch vollständiger macht. Auch in den meisten übrigen Fällen
der Larynxstenosen prävalirt der inspiratorische Typus der Dyspnoe. Als
Prototyp desselben, namentlich bei stärkeren Muskelanstrengungen, mit
laut tönendem Stridor bei ungehinderter Exspiration und normaler Phonation
gibt doppelseitige Lähmung der Glottisöffner, d. i. der Musculi crico-ary-
310 CYANOSE.
taenoidei postici, wie sie lange Zeit das einzige initiale Symptom der Tabes
darstellen kann.
Eetropharyngeala bscesse können durch Stenose des Larynx eben-
falls Dyspnoe, Cyanose, Stridor und Veränderung der Stimme, welche näselnd
und gurgelnd, doch nicht klanglos wird, aber nicht den charakteristischen
Crouphusten bewirken. Die Schlingbeschwerden, sowie die Steifheit des
Halses, mit Neigung nach der gesunden Seite, müssen in einem solchen
Falle stets die Aufmerksamkeit des Arztes auf die Möglichkeit eines der-
artigen Processes lenken und ihn zur Untersuchung der hinteren Pharynx-
wand auffordern.
In gleicher Weise, wie bei Larynxstenosen, kommt selbstverständlich
Dyspnoe und Cyanose bei Stenosen der Trachea vor. Charakteristisch
für Trachealstenosen ist die inspiratorische Dyspnoe, doch tritt dieselbe
nicht so deutlich hervor, wie bei Larynxstenosen: auch fehlen bei Tracheal-
stenosen die respiratorischen Abwärtsbewegungen des Larynx und die nach
hinten geneigte Stellung des Kopfes, ebenso Phonationsstörungen. Letztere
können nur in manchen Fällen von Stenosen der Trachea, me sie bei Stru-
men, Mediastinalgeschwülsten und Aneurysmen vorkommen, durch Recur-
rens-Lähmungen entstehen.
Auch bei BronchiaFstenosen prävalirt der Typus der inspira-
torischen Dyspnoe, diesfalls mit den Folgen der Luftverdünnung nur im
betreffenden Thoraxabschnitte, daher nebst Unbeweglichkeit der Lungen-
ränder einseitige Retraction des Thorax mit inspiratorischen Einziehungen
oder, bei hohen Graden der Stenose, Unbeweglichkeit der Intercostalräume
der Supraclaviculargegend und der Magengrube. Die Auscultation ergibt
manchmal an der Seite, wo die Stenose ihren Sitz hat, abgeschwächtes
Athmen oder lautes Stenosengeräusch. Die stenosirende Ursache besteht
am häufigsten im Druck durch Tumoren der Schilddrüse, Thymus, Speise-
röhre, des Mediastinums, der Lymphdrüsen und der Lunge, durch Senkungs-
abscesse bei Wirbelcaries, ferner durch Aneurysmen der Aorta, Dilatation
des linken Yorhofs, grosse pericardiale Exsudate, ferner in entzündlichen,
geschwürigen und narbigen (Syphilis) Veränderungen der Brouchialwand.
Von besonderem Interesse ist der sogenannte wandernde Kropf. Es handelt sich
hier um ausserordentlich bewegliche Kröpfe, welche bald an ihrer normalen Stelle, z. B.
im Bereiche der ersten Tracheairinge liegen, bald hinter das Sternum oder hinter die
rechte Clavicula in das rechte oder linke Mediastinum aspirirt werden und dann durch
Druck auf die Trachea und die grossen Gefässe Erstickungsanfälle und Circulations-
störungen hervorrufen. In solchen Fällen handelt es sich zuweilen gleichzeitig um eine
auffallende Verschieblichkeit der Luftröhre und des Kehlkopfes in der Richtung von oben
nach unten. Diesen Wanderkropf trennt Wölpler vom sogenannten goitre plongeant, wel-
cher, retrostemal oder retroclavicular liegend, in Folge seiner eigenen Beweglichkeit durch
die Inspiration tiefer herabgezogen wird und bei der lixspiration wieder hervortritt. (Till-
MAKXs.) Andererseits erzeugt der endothoracale Kropf bei gewissen Bewegungen des
Kopfes, z. B. nach vorne oder hinten, plötzliche, unter Cyanose einhergehende Erstickungs-
anfälle, sei es, dass diese, wie beim Wanderkropf, durch Verschiebung der Geschwulst selbst,
sei es, dass sie durch Compression oder durch Abknickung der Trachea ausgelöst werden.
Man erkennt eine endothoracale Struma an der Unbeweglichkeit des Kehlkopfes beim
Schlucken und an der Mitbetheiligung der ev. in jugulo palpablen Geschwulst bei seit-
lichen Bewegungen der Schilddrüse.
Bilden Fremdkörper die stenosirende Ursache, so ist unter Umstän-
den das Wechseln der Stenosenerscheinungen und der Athemnoth mit den
manchmal vorkommenden Lageveränderungen der Fremdkörper diagnostisch
wichti-g. Fremdkörper, wenn sie im Larynx eingeklemmt werden, pflegen gewöhn-
lich im ersten Momente die heftigsten Erscheinungen der Larynxstenose zu
erzeugen, während in der Folgezeit trotz ihres Verweilens im Kehlkopfe
eine Abnahme der jeweilig vorhandenen Beschwerden und sogar eine merk-
würdige Toleranz der Schleimhaut dem Fremdkörper gegenüber eintreten
CYANOSE. 311
kann. Fremdkörper können aber auch durch die Glottis in die Trachea
fallen, aus welcher sie wieder in die Höhe gestossen werden, um auf kurze
Zeit im Larynx zu verweilen und dann wieder in die Trachea und die
Bronchien zurückzufallen. So kann man in der ersten Periode, bevor Ent-
zündung der Schleimhaut und Fieber sich einstellt, durch diese Wanderung
auffallenden Wechsel der Symptome beobachten, indem die heftigsten Anfälle
von Husten und Erstickung mit einem Zustande relativer Erleichterung abwech-
seln. Auch ist ein quälender Hustenreiz, mit eitrigem, zeitweise blutigem
Auswurfe, der sich durch kein Narcoticum unterdrücken lässt, und der häufig
von den Erscheinungen einer circumscripten Lungengangrän und Pleuritis ge-
folgt ist, für die Diagnose von Fremdkörpern, welche in die kleineren Bron-
chien eingedrungen sind, verwerthbar, wofern die Anamnese keine sicheren
Anhaltspunkte hiefür gibt, wie dies z. B. bei Kindern oft der Fall ist.
Bei intensiver capillarer Bronchitis kann sich allmälig ein
asphyktisch-cyanotischer Zustand entwickeln. Bei bestehender Thoraxrhachitis
und Deformität des Thorax tritt im Verlaufe dieser Erkrankung auch bei
Erwachsenen Cyanose schon frühzeitig in den Vordergrund. In gleicher
Weise findet man bei acuten, schweren, fieberhaften Bronchitiden der
Säuglinge, sowie Bronchiolitis der Greise cyanotische Verfärbung des Ge-
sichtes auftreten.
Cyanose mit einer langgezogenen, krampfhaften, pfeifenden Inspiration,
der eine Reihe von kurz dauernden, explosiven, stossweise sich wieder-
holenden Exspirationsbewegungen folgt, bis endlich, nicht selten unter
Würgen und Erbrechen, ein glasartiger, zäher Schleim herausbefördert wird,
charakterisirt den Hustenparoxysmus der Pertussis in ihrem convulsiven
Stadium. Durch die ungenügende Glottisöffnung bei den Exspirationsstössen
und dadurch bedingte Drucksteigerung im Innern des Thorax entsteht eine
Stauung in den Hohlvenen, welche sowohl die Cyanose, als auch die in
heftigen Anfällen vorkommenden Blutungen der Schleimhäute und manch-
mal tödtlichen Hämorrhagien der Meningen und des Gehirnes erklärt.
In den besprochenen Fällen ist das Vorkommen der Cyanose an die Hustenanfälle
geknüpft. Durch Gomplicationen, wie hochgradige Lungenblähung oder interlobuläres
Emphysem, Pneumothorax in Folge Zerreissiing von Alveolen, oder, wie seltene Fälle
beweisen, durch ein consecutives Glottisödera kann Cyanose mit Dyspnoe die Anfälle
überdauern. Wenn im Verlaufe des Keuchhustens ein fieberhaftes Leiden entsteht, wie
z. B. acute Exantheme, so pflegen die Keuchhustenanfälle in den Hintergrund zu treten,
in gleicher "Weise bemerkt man diesen Einfluss beim Hinzutreten von Bronchopneumonie,
und ist auch hier das Auftreten einer bleibenden Cyanose bei Abnahme der Keuchhusten-
paroxysmen, sowohl was die Intensität derselben als die Häufigkeit anlangt, nebst Tem-
peratursteigerung ein wichtiger Symptomencomplex für die Diagnose einer Bronchopneu-
monie, deren Constatirung, bei der Gefahr dieser Complication mit Pertussis, dem Arzte
in prognostischer Hinsicht eine vorsichtige Haltung auferlegen muss.
Cyanose kann ferner im Verlaufe oder nach dem Ablaufe des Keuch-
hustens durch selbstständige Nachkrankheiten der Pertussis, und zwar durch
Tuber culose der Bronchialdrüsenin Folge Compressionder
Bronchien, der Venen und der Nerven entstehen. Die Pieihenfolge
der klinischen Symptome wird von der Zahl und Grösse der tuberculösen
Drüsen, sowie davon abhängig sein, welche Organe und in welchem Grade
dieselben dem Drucke ausgesetzt sind. Fälle, bei welchen die betroffenen
Nerven, und zwar in erster Linie der Recurrens gegen den Druck mit
Reizphänomenen reagiren, können dadurch, dass sie dem Keuchhusten ähn-
liche Hustenparoxysmen erzeugen, zu der falschen Diagnose einer „Per-
tussisrecidive" führen. Eine in solchen Fällen nach derartigen Pseudoper-
tussisparoxysmen zurückbleibende Cyanose mit Schwellung der Halsvenen
muss zur genauen Untersuchung der Thoraxorgane, insbesondere des Larynx
auffordern.
312 CYANOSE.
Cyanose mit hochgradiger Dyspnoe wird auch bei jenen stürmisch
beginnenden Formen der Bronchitis beobachtet, welche die katarrhalische
Form des Athma nervös um vorstellen, die mit zahlreichen, feinen
Rasselgeräuschen einhergehen, insbesondere bei Kindern anfangs die beun-
ruhigendsten Symptome machen, doch nach kurzem Verlaufe in Heilung
übergehen. In solchen Fällen kann der Arzt leicht zu der prognostisch be-
deutungsvollen Diagnose einer Bronchitis capillaris verleitet werden.
Das Auftreten der Cyanose mit hoher Athemfrequenz und hohem
Fieber, verbunden mit schmerzhaftem Husten, im Verlaufe einer einfachen,
anscheinend harmlosen und nicht ausgebreiteten Bronchitis ist nicht selten
ein diagnostisch und prognostisch wichtiger Symptomeucomplex, darauf hin-
weisend, dass zur einfachen Bronchitis sich eine Bronchopneumonie
hinzugesellt hat. Denn die Bronchopneumonie in allen Lebensperioden
charakterisirt sich durch die frühzeitige Neigung zur Cyanose und erinnert
in dieser Beziehung an das Bild der Miliartuberculose, im Gegensatze zur
croupösen Pneumonie, bei welcher das Gesicht der Kranken im Anfange
geröthet, turgescirend und, abgesehen von etwa hinzutretenden Compli-
cationen, in der Regel erst im weiteren Verlaufe, mit zunehmender Dys-
pnoe cyanotisch wird.
Cyanosen mit grosser Athemnoth, Fieber, schaumigem, mitunter blu-
tigem Auswurfe und zahlreichen pfeifenden Rasselgeräuschen gelangen ferner
bei der acuten fibrinösen Bronchitis zur Beobachtung. Dasselbe gilt
von der fieberlosen, chronischen Bronchitis fibrinosa, für
welche Cyanose, gepaart mit Erstickungsanfällen, heftigen Hustenparoxysmen,
manchmal auch Hämoptoe vor der Expectoration der Gerinnsel, geradezu
als charakteristisch angesehen werden muss und eine diiferentialdiagno-
stische Bedeutung haben kann, wenn einfacher chronischer oder subacuter
Bronchialkatarrh in eine fibrinöse Bronchitis übergeht. Da die chronisch-
fibrinöse Bronchitis einen intermittirenden Verlauf hat und keine habituelle
Dyspnoe zu erzeugen braucht, sondern manchmal nur bei körperlichen An-
strengungen Athemnoth mit Cyanose hervorruft, so können derartige Fälle,
allerdings nur bei oberflächlicher Beobachtung, zur Verwechslung mit Asthma
nervosum führen. Für die Bronchitis fibrinosa, wie überhaupt für die Bron-
chialstenosen, ist der inspiratorische Charakter der Dyspnoe wesentlich;
während gerade das Asthma nervosum als Paradigma der exspiratorischen
Dyspnoe hingestellt werden kann. Ausserdem wird auch die Untersuchung
des Sputums durch den Nachweis von expectorirten Bronchialgerinnseln einer-
seits, durch das Auffinden eosinophiler Zellen, eventuell der CnARCOT'schen
Krystalle und CüESCMANN'schen Spiralen andererseits, die Differential-
Diagnose zwischen Bronchitis fibrinosa chronica und Asthma nervosum
entscheiden.
Nicht zu verwechseln sind die primären, fibrinösen Bronchitiden mit
den symptomatischen, fibrinösen Pseudobron chitiden, die
bei geschwürigen Processen der Trachea und der Bronchien vorkommen,
insbesondere bei Syphilis. Die Bronchialgerinnsel der echten Bronchitis
fibrinosa sind Ausscheidungsproducte bei unversehrter Schleimhaut, während
sie im anderen Falle den abgestosseneu speckigen Belag des Geschwüres
bilden. Auch bei tuberculösen Bronchialgeschwüren kommt es in den sel-
tensten Fällen zur Bildung membranöser Massen, welche unter Cyanose
und Dyspnoe mitunter zum Tode führen können.
Bronchitis fibrinosa kommt manchmal im Verlaufe acuter Pneumonien vor als
Weiterverbreitung der alveolären, fibrinösen Gerinnselbildungen auf die grösseren Bron-
chien und ist in solchen Phallen die Cyanose mit Dyspnoe eines der hervorstechendsten
Symptome. In anderen Fällen schliesst sich die Bronchitis fibrinosa an Croup des Larynx
und der Trachea an und ist das Vorausgegangensein dieser beiden Erkrankungen (Pneu-
CYANOSE. 313
monie, Croup) als ätiologisches Moment bei der Feststellung der Diagnose einer Bron-
chitis fibrinosa von Wichtigkeit.
Bei chronischen Bronchialkatarrhen entwickelt sich die
Cyanose erst bei längerer Dauer der Erkrankung, und zwar in Folge fettiger
Degeneration des rechten Ventrikels selbst in solchen Fällen, bei welchen
das secundäre Emphysem von geringer Ausdehnung ist.
Bei Bronchiektasien, wenn sie ausgebreitet sind und längere Zeit
andauern, wird das Aussehen der Patienten cyanotisch. Sind jedoch die
Bronchiektatiker hochgradig cyanotisch, so ist der Verdacht auf eine Com-
plication mit einer Herzkrankheit oder Lungenemphysem begründet.
Die Cyanose bei essentiellem Asthma bronchiale tritt erst
im Verlaufe des Anfalles auf. Das gewöhnlich Plötzliche, Unerwartete des
Anfalles, wo dies nicht der Fall ist, die ihm vorausgegangenen nervösen
Symptome, wie das Constrictionsgefühl auf der Brust, unangenehme Sen-
sationen im Darme, zuweilen Erscheinungen von Seite der Nase, wie Niesen
mit Verstopfung der Nase, die rasch sich darauf entwickelnde Dyspnoe mit
geräuschvoller und pfeifender Inspiration, mit verlängerter pfeifender Ex-
spiration unter Zuhilfenahme aller exspiratorischen Muskeln, besonders der
Bauchpresse mit mühsamem Husten und spärlichem Auswurfe, der durch
die Gegenwart reichlicher eosinophiler Zellen ausgezeichnet ist, gehören zu
dem Bilde eines derartigen Anfalles.
Sowohl alle diese Erscheinungen als insbesondere das Fehlen der heftigen neural-
gischen Schmerzen in der Brust mit Irradiation in die Schulter und den Arm unterscheiden
das idiopathische Bronchialasthma von jenen seltenen Fällen von paroxysmaler
Dyspnoe im Gefolge eines stenölcardischen Anfalles, bei denen Cyanose vorkommt. Der
ausgesprochene Charakter der exspiratorischen Dyspnoe bringt das Asthma nervosum
in Gegensatz zum Laryngospasnius, der ebenfalls nur durch das paroxystische Auftreten
eine oberflächliche Aehnlichkeit mit Bronchialasthma darbieten könnte. Ueberdies kommen
noch die kurze Dauer des Anfalles und neben inspiratorischer Dyspnoe (durch Behinderung
der Inspiration in Folge krampfhaften Glottisverschlusses) auch die übrigen Erschei-
nungen einer acuten Larijnxstenose bei Glottiskrampf für die Unterscheidung beider Affec-
tionen in Betracht. Den beiden letztgenannten Leiden stehen hinwiederum gegenüber.:
der idiopathische, tonische Zwerchfellkrampf und jene in Folge von Tetanie und chroniiicher
Strychninvergiftung vorkommenden Respirationslcrämpfe, bei welchen die krampfhafte,
protrahirte Inspiration in die unbehinderte Exspiration plötzlich übergeht.
Cyanose mit oberflächlicher beschleunigter Athmung und inspirato-
rischem Einsinken des Thorax kommt auch in Folge mangelhafter Venti-
lation der Lunge bei ausgedehnter Lungenatelektase zur Beob-
achtung. Durch mangelhafte inspiratorische Ausdehnung der Lunge und
durch die in Folge der herabgesetzten Wirkung des elastischen Zuges der
Lunge bewirkte Verminderung der Thoraxaspiration entsteht eine Stauung
im kleinen Kreislaufe und im weiteren Verlaufe eine Dilatation des rechten
Herzeus.
Cyanose und Dyspnoe mit gesteigerter Athemfrequenz, welche in der
Regel der Verminderung der Athmungsfläche entspricht und daher bei bila-
teraler Pneumonie am häufigsten ausgeprägt ist, begleitet die acute, croupöse
Pneumonie. Cyanose mit beschleunigter Respiration und Anstrengung der
accessorischen Respirationsmuskeln kann ohne subjective Dyspnoe auch bei
geringem Hustenreize bei schweren Pneumonien im Greisenalter
und bei delirirenden und soporösen Potatoren, ferner auch bei der cepha-
lischen Form der K in derp neu monie vorkommen. Cyanose, combinirt
mit hochgradiger Dyspnoe, Kleinheit und ausserordentlicher Frequenz des
Pulses auch bei geringer Ausbreitung des pneumonischen Processes, findet
sich bei Pneumonien vor, welche nicht typisch, mit einmaligem Schüttel-
froste, sondern mit mehrmaligem Frösteln und Hitzegefühl beginnen, wie
z. B. die Influenzapneumonien. Eine eigenthümliche Mischung von
Cyanose mit Icterus gelangt bei septischen Pneumonien zur Beobach-
214 CYANOSE.
tung, bei welchen hohe Temperatur, Benommenheit des Sensoriums, Delirien,
Coma, beschleunigte Respiration als ein häufiger, prämortaler Symptomen-
complex anzusehen sind. Hochgradige Cyanose kann ferner bei Pneu-
monie durch Complicationen, z. B. mit Thyreoiditis, Mediastinitis,
Endocarditis, Pericarditis und Malaria bei raschem Temperaturanstieg ent-
stehen, ferner bei secundären Pneumonien in Folge von CO-Vergiftungen,
bei Schluckpneumonien, z. B. bei den dem Ertrinkungstode Entrissenen.
Cyanose kann bei Pneumonie auch dann einen hohen Grad erreichen,
wenn sie Individuen befällt, derenHerz schon vor dem Auftreten
der Pneumonie degenerirt war.
DerartigePneumonien zeichnen sich nicht selten durch abnorm hohe Pulsfrequenz,
schwache Herztöne, Arhythmie und niedrigen Druck im Aortensysteme aus, der in ver-
schiedener Weise sich klinisch documentiren kann: durch kleinen, weichen oder grossen,
paralytisch aufgeblasenen, leicht unterdrückbaren, in beiden Fällen häufig dicroten Puls,
Schwäche des ersten Herztones und Abschwächung des zweiten Aortentones, schwachen
oder fehlenden Herzstoss, Stauung im Venensystem. Für die Prognose ist insbesondere das
Verhalten der Herztöne von Wichtigkeit. Bekanntlich hängt die Stärke des ersten Herz-
tones von der Energie der systolischen Contraction ab, der zweite Ton entspricht der
Höhe des Blutdruckes. Die Abschwächung des ersten Tones bedeutet die herabgesetzte
Contractionskraft des Herzens, die Abschwächung des zweiten, die Verminderung des
Blutdruckes. Das Verschwinden des zweiten Tones ist bei Infectionskrankheiten in den
meisten Fällen ein präagonales Symptom, welches, gerade so wie bei Cholera algida, auch
bei den besprochenen Pneumonien, Herzkranken den Tod verkündet.
Manchmal hat jedoch die Abschwächung und sogar das Verschwinden des zweiten
Tones nicht jene ominöse Bedeutung, und zwar bei bestehenden Klappenfehlern, nament-
lich bei Mitralstenosen, wenn eine Pneumonie zu dieser hinzutritt. Bei Mitralstenose ist
dieses Symptom durch die mangelhafte Füllung und den mangelhaften Druck des Aorten-
systems auch ohne bestehende Herzmuskelschwäche hinlänglich erklärt, daher ist zur
richtigen diagnostischen und prognostischen Deutung dieses Phänomens die Berücksichti-
gung des gesammten Complexes der Erscheinungen nothwendig. Auch bei diesen Pneu-
monien, die zu einer präexistirenden Mitralstenose hinzutreten, können wir
Arhythmie mit unregelmässiger Herzaction, kleinem schwachen Puls, Abschwächung des
zweiten Tones über der Aorta und Carotis finden und uns zur falschen Diagnose einer
idiopathischen oder myokarditischen Herzaffection um so leichter verleiten lassen, wenn
die gedachte Klappenafi'ection, wie dies manchmal vorkommt, ohne typische Geräusche
einhergeht. Dieser Irrthum. der jedoch durch Berücksichtigung des Missverhältuisses
zwischen dem starken Herzschlage insbesondere am unteren Theile des Sternums. dem
hypertrophischen rechten Ventrikel entsprechend, und dem schwachen, kleinen, unregel-
mässigen Puls, ferner zwischen dem kaum hörbaren oder fehlenden zweiten Aortenton
und dem lauten zweiten Pulmonalton vermieden werden kann, ist sowohl wegen der auf
ihn gegründeten falschen Prognose als der daraufhin eingeleiteten excitirenden Therapie,
die in solchen Fällen ganz zwecklos ist, um so verhängnissvoller, als der Patient oft nur
durch die Anwendung dreister Digitalisdosen zu retten gewesen wäre.
In gleicher Weise wie bei den Pneumonien mit Herzmuskelafifectionen
gestaltet sich das klinische Bild bei den sogenannten asthenischen
Pneumonien, bei welchen Cyanose, Dyspnoe, abnorm gesteigerte Puls-
frequenz bei nicht excessiver Temperaturhöhe, Schwellung der Milz und
Leber, Icterus, Meteorismus, nephritische Erscheinungen, typhöse Prostration
den bösartigen Charakter der Krankheit bekunden, als Zeichen allgemeiner
Infection oder Intoxication mit den giftigen Producten des jeweiligen Pneu-
monieerregers. Die Cyanose ist in diesen Fällen durch parenchymatöse
Degeneration des Herzens und vielleicht auch der Ganglienzellen desselben
bedingt. Aus diesen Gründen muss unter allen Umständen eine bei der
Pneumonie frühzeitig auftretende Cyanose bei übermässiger und von Tag
zu Tag zunehmender Pulsfrequenz ohne entsprechende Temperatursteigerung
und ohne complicirende Pericarditis, insbesondere bei geringer Ausbreitung
des pneumonischen Processes, als prognostisch ungünstiges Zeichen be-
trachtet werden.
Bei alten und decrepiden Individuen kommt der eben genannte Symptomencomplex
manchmal im Beginne solcher Pneumonien vor, welche in Lungenbrand übergehen,
doch auch bei jugendlichen Individuen muss eine derartige starke Cyanose mit grosser
CYANOSE. 315
Athemnoth und hoher Pulsfrequenz die Befürchtung einer Gangränescenz der Pneumonie
erwecken, die diesmal durch secundäre Infection von einem präexistenten, vielleicht sehr
verborgenen Erkrankungsherde, z B einem Ulcus duodeni. veranlasst sein kann.
Cyanose bei Pneumonien, welche vor der Krise auftritt, ist wegen
ihres kurzen Bestandes, wenn sie nach der Krise zurückgeht, von geringerer
Bedeutung. Immerhin weist sie auf asthenische Beschaffenheit des Herzens
oder, bei beträchtlicher Ausbreitung der pneumonischen Infiltration, auf
eine Rückstauung des Blutes zum rechten Herzventrikel, daher entspre-
chende, mangelhafte Füllung des Aortensystems hin, welche beide Momente
auch in diesem Stadium die Gefahr eines Lungenödems involviren. Freilich sind
auch Fälle von peracutem transitorischem Lungenödem während der Pneumonie-
krise beschrieben, das trotz ausgeprägter Herzschwäche nach kürzester
Zeit (wenigen Secunden) wieder verschwindet und, da die Herzschwäche
nur vorübergehend war, den Kranken nicht ernst gefährdet. Nicht selten
ist die Cyanose Folge plötzlicher Temperaturherabsetzung durch Antipyre-
tica, z. B. Antipyrin und selbst Chinin, insbesondere bei den Kindern in
den ersten Lebensjahren, und ist in gleicher Weise, wie die nach der Krise
auftretende Cyanose ein Eutfieberungssymptom, das dann auftritt, wenn der
durch hohe Temperaturen gereizte Herzmuskel des abnormen Reizes auf
einmal nicht entbehren kann.
Plötzlich eintretende Cyanose und tödtlicher Collaps durch Herzläh-
mung oder Lungenödem kann nach regelrecht abgelaufenen Pneumonien in
der Reconvalescenz auftreten bei Patienten, welche das Bett frühzeitig
verlassen, ein Moment, das nach überstandener Pneumonie dieselbe ver-
hängnissvolle Rolle spielen kann wie ein Diätfehler im Verlaufe der Typhus-
reconvalescenz.
Pneumonie der Diabetiker kann gleich im Beginne zu Cyanose,
Coma und zum Tode führen. Da es nun Pneumonien bei Diabetes gibt, die
fieberlos und nicht immer letal verlaufen, andererseits auch bei dem stets
tödtlichen Coma diabeticum Temperatursteigerungen vorkommen können,
und schliesslich auch Fettembolien der Lungenarterien bei Diabetes beob-
achtet wurden, so sind diagnostische und prognostische Irrthümer nach allen
drei Richtungen möglich. Bei echtem Coma diabeticum habe ich trotz hoch-
gradiger, charakteristischer Dyspnoe Cyanose nie gesehen, so dass ich
nach meinen Erfahrungen gerade das Fehlen der Cyanose bei bestehender
inspiratorischer Dyspnoe ohne Orthopnoe als eine Aufforderung ansehen
muss, den Urin eines solchen Kranken auf Zucker zu untersuchen.
In ähnlicher Weise wie die Dyspnoe, welche das Coma diabeticum einleitet, zeichnet
sich ebenfalls durch den Mangel der initialen Cyanose jene Dyspnoe aus, welche durch
Inspirationskrämpfe erzeugt, mit Erstickungsgefühl und furchtbarer Angst verbunden im
Beginne des hydrophobischen Stadiums der Lyssa auftritt. In allen von mir beobachteten
Fällen war gleichzeitig mit jenen Erscheinungen intensive Acetonurie vorhanden, und ist
nach meiner Ansicht letzteres Symptomi bei einer Krankheit wie Lyssa, welche sich klinisch
gerade durch das Fehlen der comatösen Erscheinungen auszeichnet, geeignet, die Auffassung
des Coma diabeticum als Acetonvergiftung stark zu erschüttern. Im weiteren Verlaufe der
Lyssa kann durch klonische und tonische Krämpfe der Gesammtmusculatur, welche manch-
mal dem asphyktischen Tode vorangehen, Cyanose in ähnlicher Weise auftreten wie bei
Epilepsie und Tetanus.
Cyanose mit Dyspnoe, geräuschvollem Athmen und zahlreichen feuchten
Rasselgeräuschen, kleinem Pulse und zunehmendem Collapse ist charak-
teristisch für Lungenödem als häufiges, terminales Zeichen bei Er-
krankungen des Respirations- und Circulationsapparates.
Von Krankheiten der Respirationsorgane kommen hiebei in Betracht: Bronchitis
capillaris, Bronchopneumonie, Embolie der Pulmonalarterie, croupöse Pneumonie, Pleu-
ritis, Lungentuberculose. Weiterhin fuhren acute Exantheme, Typhus, Recurrens, Influenza,
acuter Gelenksrheumatismus und Malaria, in seltenen Fällen acute Alkoholvergiftung,
CO-Vergiftung, Schlangenbiss, Erfrierungen und Insolationen, schliesslich auch Affectionen
des Gehirns (Gehirnerschütterungen) zu Lungenödem. Von besonderem Interesse sind die
316 CYANOSE.
manchmal tödtliclien Lungenödeme, welche bei incarcerirten Herniea durch Infection der
Lunge mit Bacterium coli bedingt sind, und schliesslich die Lungenödeme ex vacuo mit
albuminöser Expectoration nach Thoraxpunctionen, sowie die Lungenödeme der Luft-
schiifer. Als einen der wichtigsten ätiologischen Momente des acuten Lungenödems ist
schliesslich der Morbus Brightii zu erwähnen.
Bei Embolien eines Hauptastes oder des Stammes der Pul-
monalarterie geht Dyspnoe und Cyanose mit Bewusstlosigkeit dem
plötzlichen synkopalen Tode oder der protrahirten, suffocatorisch asphyk-
tischen Agonie voran. Bei Embolie kleiner oder mittelgrosser Aeste der
Pulmonalarterie, deren Eintritt nicht selten von einem Schüttelfroste be-
gleitet wird, kann plötzlich aufgetretene Cyanose und Dyspnoe nach kurzer
Zeit abnehmen, um sich entweder zu wiederholen, oder nach wiederholten
derartigen Anfällen in tödtliches Lungenödem oder in eine Pneumonie und
manchmal in Heilung überzugehen. Der Verlauf einer solchen Lungenem-
bolie, falls sie nicht zu einer Pneumonie führt und falls sie vorher fieber-
freie Individuen befällt, ist fieberlos und ist gerade das Fehlen des Fiebers
nach vorausgegangenem initialen Schüttelfroste ein diagnostisch wichtiges
Zeichen zur Unterscheidung von der Pneumonie.
Der Grad der Cyanose und Athemnoth in diesen Fällen ist abhängig
von der Grösse des durch die eingewanderten Pfropfe respirationsunfähig
gewordenen Lungenabschnittes. Bei Embolien der kleinen Aeste kommt es
nicht selten nach vorausgegangenen Ohnmachtsanfällen zur Bildung eines
hämorrhagischen Infarctes und Hämoptoe ohne Cyanose, manchmal jedoch
durch mehrfache Embolien zu andauernder Dyspnoe und Cyanose, ohne dass
sich der Beginn durch heftige Anfälle markirt. Embolien der kleinsten
Aeste der Art. pulmon. rufen manchmal keine wesentlichen Symptome her-
vor, doch kommt es auch hier durch secundäre disseminirte Bronchopneu-
monien zu Cyanose, welche z. B. bei Trichinose einen hohen Grad er-
reichen kann.
Die Aetiologie aller dieser Embolien ist eine verschiedene. Lungenembolien
kommen vor nach Kopfverletzungen durch Auswanderung oder Ablösung von Thromben-
massen aus den Venen der Diplöe, bei Fracturen der Röhrenknochen, indem theils die
in den Venen derselben gebildeten Thromben, theils das Fett des Knochenmarkes, das
in die eröffneten Venen hineingelangt, das Material für die Embolien liefern, bei Um-
bilicalphlebitis, am häutigsten jedoch bei Thrombose der Vena cruralis und saphena, wie
sie so häufig im Puerperium, bei Kachexien (Tuberculose, Carcinom), auch bei Chlorose
und Infectionskrankheiten während der Reconvalescenz beobachtet wird. Tödtliche
Lungen-Embolien können durch Massage eines von varicösen Venen durchzogenen Unter-
schenkels, durch unvorsichtige Manipulation mit den Extremitäten eines mit Phlegmasia
alba dolens behafteten Patienten hervorgerufen werden.
Embolien der Pulmonalarterien wurden ferner bei Repositionen eingeklemmter
Hernien beobachtet, entstanden durch Loslösung der Thromben in den eingeklemmten
Darmvenen und Auswanderung derselben in die venösen Anastomosen zwischen der
Pfortader und der Vena cava inferior. Das embolische Material liefern schliesslich au-
tochthone Gerinnungen im rechten Herzen, und zwar am häufigsten im er\veiterten
rechten Herzohr sowie an der Tricuspidalklappe und im Bereiche des nicht geschlossenen
Ductus Botalli. Endlich gehören hieher auch jene Lungenembolien, wie sie durch Ein-
tritt von Luft in die Körpervenen zu Stande kommen.
In der Mehrzahl der Fälle bildet hochgradige Cyanose mit Suffocations-
anfällen und Angstgefühl, nicht selten mit allgemeinen Convulsionen und
Bewusstlosigkeit das klinische Bild der tödtlichen Lungenem-
bolien. Doch gibt es auch foudroyante Fälle, bei welchen der Tod nicht
unter Asphyxie und Cyanose, sondern, indem die Kranken blass zusammen-
stürzen, durch Synkope erfolgt. Derartige synkopale Todesfälle unter
extremer Blässe der Haut und der Schleimhäute, Präcordialangst erinnern
an die plötzlichen Todesarten während der stenokardischen Anfälle durch
Verstopfung der Kranzarterien, unterscheiden sich jedoch von diesen, ab-
gesehen von etwa vorausgegangenen Symptomen, welche auf Thrombose des
CYANOSE. 317
Herzens und der Körpervenen hinweisen, gerade durch das Fehlen des
durch ausstrahlenden Herzschmerz charakterisirten Symptomencomijlexes
einer Angina pectoris.
Autochthone Thrombosen der Lungenarterie, wie sie in der
Reconvalescenz nach schweren Krankheiten in Folge von Herzschwäche,
sowie unter dem Einflüsse von Marasmus und von Krankheiten, die zu
Kachexien führen (Tuberculose, Carcinom) oder bei Compression der Art.
pulmonalis durch Mediastinalgeschwülste vorkommen, sind nicht selten Ur-
sache intensiver Cyanose und Dyspnoe. Doch können manchmal Thrombosen
mehrerer Aeste der Pulmonalarterie, wenn sie sich langsam bilden, ohne
die erwähnten Symptome latent bleiben und können sich solche auch im
Verlaufe von Krankheiten, bei welchen in Folge des Grundleidens Cyanose
und Dyspnoe besteht, entwickeln, ohne die genannten Symptome zu
steigern.
Cyanose mit hochgradiger Dyspnoe und auffallend beschleunigter Re-
spirationsfrequenz kommt bei L un g e n b r a n d vor und ist weniger von der
Ausdehnung des Brandes, als von der ursächlichen Krankheit und von
häufigen Complicationen mit Pleuritis, Pneumothorax und Pneumonie abhängig.
Cyanose, wie sie sich bei länger dauernden Lunge nemphyse men
in Folge des erschwerten Athmens und des häufigen, durch gleichzeitige
Bronchitis veranlassten Hustens entwickelt, gehört bekanntlich zu den häu-
figen Symptomen des Lungenemphysems. Trotz der ausgesprochenen Dys-
pnoe ist die Respirationsfrequenz bei Emphysematikern nicht wesentlich
erhöht, wenn nicht entzündliche Complicationen von Seite der Lunge, der
Bronchien und des Herzens die Steigerung derselben herbeiführen. Die
Dyspnoe ist vorwiegend exspiratorisch, also das Exspirium deutlich ver-
längert unter Betheiligung der Bauchpresse, insbesondere bei körperlichen
Anstrengungen in Folge verminderter Elasticität der Lungen. Die Behin-
derung des Inspiriums, welches den hochthoracischen Athmungstypus unter
Zuhilfenahme der inspiratorischen Hilfsmuskeln des Schultergürtels zeigt,
ist auf mangelhafte exspiratorische Entgasung der Lungenalveolen, auf
Tiefstand, daher inspiratorische Unbeweglichkeit des Zwerchfells, auf Be-
hinderung der Sauerstoffaufnahme in Folge Obliteration der Lungengefässe
zurückzuführen. Indem so sämmtliche Momente zusammenwirken, kommt
es schliesslich zu Hypertrophie und Dilatation des rechten Ventrikels mit
ihren Folgeerscheinungen. Bronchialkatarrhe begünstigen die Entwicklung
des Emphysems und steigern die Arbeitsleistung des Herzens.
Es kommen daher bei dem Entstehen der Cyanose bei Em-
physem mehrere Momente in Betracht. Vor allem die primäre Erkran-
kung der Lunge selbst, dann die begleitenden Bronchialkatarrhe, welche
nicht selten einen asthmatischen Charakter annehmen, und schliesslich die
secundären Degenerationen des Herzmuskels; davon hängt es auch ab, ob
die Cyanose vorübergehend oder dauernd auftritt. Auch die Prognose wird
sowohl von dem Grade und der Ausbreitung der anatomischen Veränderung
in der Lunge, als von der Intensität und der Häufigkeit der begleitenden
Bronchialkatarrhe, sowie auch von dem Zustande des Herzens, dessen Be-
schaffenheit vor allem anderen den Verlauf der Krankheit bestimmt, be-
stimmt sein, und es ist daher wichtig zu erkennen, inwieweit die bestehende
Dyspnoe und Cyanose auf Rechnung des einen oder des anderen Factors
zu setzen ist.
Zeigt z. B. ein Emphysematiker bei Muskelanstrengungen, wie beim Treppensteigen,
keine auffallende Pulsbeschleunigung und Arterienleere, so muss man
daraus schliessen, dass trotz aufgetretener Athemstörung der rechte Ventrikel hinreichend
im Stande ist, durch erhöhte Leistung den erhöhten Anforderungen zu genügen, um so-
wohl die Arterienleere, als auch die Venenstauung zu verhüten. Im entgegengesetzten
318 CYANOSE.
Falle ist eine unter solchen Verhältnissen auftretende Dyspnoe und Cyanose im Vereine
mit beschleunigtem und kleinem Arterienpuls ein Zeichen von insufficienter Herzthätigkeit.
Gleichzeitiges Auftreten von G lobulin ur ie, Albuminurie und Urobi-
linurie bestätigt weiterhin den Bestand von verminderter Zufuhr des arteriellen und
Stauung des venösen Blutes. Doch nicht nur für Emphysematiker, sondern ebenso in
allen Fällen, bei welchen die Leistungsfähigkeit des Herzens beurtheilt und sein Antheil
an Affectionen anderer Organe abgeschätzt werden soll, sind obige Symptome, welche
z. B. nach einem forcirten Probespaziergange auftreten, von grosser diagnostischer und
prognostischer Bedeutung, und ich bediene mich dieses Experimentes jedes Mal, bevor
ich mich entschliesse, einen Leberkranken, dessen Herz mir verdächtig erscheint, nach
Karlsbad zu entsenden.
Dem Verhalten der Halsvenen bei Lungenemphysem muss eine beson-
dere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Unter normalen Verhältnissen findet eine in-
spiratorische Abschwellung und eine exspiratorische Anschwellung der Venen statt, be-
dingt durch den elastischen Zug der Lungen, der während des Inspiriums zunimmt.
Findet bei vorhandener Anschwellung der Venen eine inspiratorische Abschwellung nicht
oder nicht immer statt, so dass die Venenfüllung während der beiden Respirationsphasen
die gleiche bleibt, so muss man daraus auf verminderte Elasticität der Lunge schliessen,
Verhältnisse wie sie bei Emphysem und bei Lungentrophie vorkommen. Die Berück-
sichtigung dieses Verhaltens der Halsvenen ist insbesondere in solchen Fällen wichtig,
wo das Emphysem durch das Auftreten hydropischer Ergüsse in die serösen Höhlen, z. B.
durch beiderseitigen Hydrothorax oder beiderseitige Pleuritis, resp. durch secundären
Hochstand des Zwerchfells in Folge von Ascites maskirt ist, sich also dem percutorischen
Nachweise entzieht. In solchen Fällen empfiehlt es sich, die Untersuchung des Patienten
in der Bauchlage vorzunehmen. Durch das Abfliessen der freibeweglichen Flüssigkeit
in den vorderen Pleuraraum kann die Lungenbasis frei gemacht werden und nach wieder-
holten Inspirien das ursprüngliche Volumen erlangen. Diese Untersuchungsmethode, das
maskirte Emphysem zu entlarven, wird man immer dann vorzunehmen sich veranlasst
fühlen, wenn das früher erwähnte Verhalten der Venen, das Fehlen des inspiratorischen
Abschwellens derselben den Verdacht auf Bestehen eines Emphysems erweckt hat.
Bei Untersuchung der Verhältnisse des Herzens bei Emphysem spielt neben Be-
rücksichtigung der anderen für die Diagnostik der Hypertrophie des rechten Herzens gil-
tigen Regeln namentlich die Berücksichtigung der Herzdämpfung eine hervor-
ragende Rolle. Nach Geehaedt ist für die Percussionsdämpfung des Herzens die Füllung
des linken Vorhofes von wesentlichem Einflüsse. Dilatation des linken Vorhofes kann die
Herzdämpfung wesentlich vergrössern und mangelhafte Füllung dieselbe wesentlich ver-
kleinern. Bei hochgradigen Emphysemen kommt es durch Obliteration der Lungencapil-
laren und Verkleinerung des pulmonalen Strombettes zu einer mangelhaften Füllung der
Pulmonalvenen des linken Vorhofes und somit auch der linken Kammer und der Arterien.
Durch mangelhafte Füllung des linken Herzens können systolische Geräusche im linken
Ventrikel entstehen, welche bei der bestehenden Hypertrophie des rechten Ventrikels
zur falschen Annahme einer das Emphysem complicirenden Mitralinsufficienz führen.
Gerade für solche Fälle ist die Grösse der Herzdämpfung von Bedeutung. In Folge der
mangelhaften Füllung des linken Vorhofes erscheint die ohnehin durch das Emphysem
verkleinerte Herzdämpfung noch kleiner im Gegensatz zu solchen Fällen von Emphysem,
wo eine Mitralinsufficienz vorliegt. Bei Mitralaffectionen erweitert sich der linke Vorhof
und vergrössert die Herzdämpfung derart, dass sie auch bei einem Emphysematiker
deutlich zu Tage tritt und so durch ihr Verhalten auch einen Anhaltspunkt dafür gibt,
in welchem Sinne ein etwaiges Geräusch über der Mitralis aufzufassen ist.
Eine mit Berücksichtigung sämmtlicher angegebener Punkte gestellte Diagnose
wird natürlich nicht nur für die Prognose, sondern auch für die Therapie von bestim-
mendem Einfluss sein, welch' letztere vor allem zu berücksichtigen hat, ob im gegebenen
Falle das rein pulmonale, das nervös-asthmatische, das bronchiale oder das cardiale Ele-
ment in den Vordergrund tritt.
Cyanose mit Dyspnoe kommt ferner bei Lii ngenatrophie, insbe-
sondere bei gleichzeitiger Complication mit Bronchialkatarrhen, Bronchiek-
tasien und Degenerationen des Herzfleisches vor. Nur bei ausgesprochenen
Lungenatrophien, welche mit hochgradigem Schwund der Alveolen und
Verödung der Capillareu einhergehen, ist das Volumen der Lunge klein
und die Herzdämpfung durch Pietraction der Lungenränder vergrössert.
Die Cyanose erklärt sich durch Verödung eines grossen Theiles der Lungen-
capillaren. Je nach dem Grade der Atrophie und des durch die Atrophie
bedingten Elasticitätsverlustes des Parenchyms werden die beim Emphysem
vorkommenden Erscheinungen, wie die inspiratorische Unbeweglichkeit der
CYANOSE. 319
Lungengrenzen, sowie das Fehlen der inspiratorischen Abschwellung der
Halsvenen ausgeprägt sein. Ein für die Diagnose der Lungenatrophie ziemlich
wichtiges auscultatorisches Phänomen ist schliesslich ein eigenthümliches,
zischendes, dem puerilen Athmen ähnliches und doch nicht vesiculäres
Athemgeräusch, welches nur bei Uebung von dem scharf vesiculären
inspiratorischen Geräusch unterschieden werden kann. Dieses scharfe, unrein
vesiculäre Athmen entsteht wahrscheinlich als vicariirendes Athmen in den
noch nicht atrophisch gewordenen Lungenpartien und ist in solchen Fällen,
wo kein Katarrh vorliegt, wo daher das verschärfte Athmen nicht als Zeichen
von Schwellung der Schleimhaut der feinsten Bronchien aufgefasst werden
kann, ein für die Diagnose dieses Leidens wichtiger Befund. In der Regel
fehlt bei der Lungenatrophie die secundäre Dilatation und Hypertrophie
des rechten Ventrikels als ein der Lungenatrophie gleichwerthiges Zeichen
des senilen Marasmus. Doch gibt es Fälle, in welchen die senile
Lungenatrophie nicht gleichmässig die ganze Lunge befällt, so dass
nebst partieller Verkleinerung des Lungenvolums partielle Erweiterung
der Lungenalveolen mit tiefem Zwerchfellsstande und den percutorischen
Zeichen eines Emphysems vorliegt und bei denen manchmal das pseudo-
puerile marantische Athmungsgeräusch beobachtet wird. Derartige Fälle
bereiten diagnostische Schwierigkeiten, und ist die Constatirung der Atrophie
in anderen Organen, als Begleiterscheinung des senilen Marasmus, unter
Umständen für die Diagnose einer derartigen mit Emphysem einherge-
henden Atrophie der Lungen von Wichtigkeit, insbesondere aber die gleich-
zeitig bestehende Atrophie des Herzens, speciell des rechten Ventrikels.
Zum klinischen Bilde eines ausgesprochenen Emphysems mit Tiefstand
des Herzens gehört eine Pulsatio epigastrica, und zwar nicht von der Aorta
ausgehend, sondern vom Herzen, was man durch die Auscultation der pul-
sirenden Stelle sehr leicht feststellen kann, indem der Nachweis von einem
Tone im ersteren, von zwei Tönen im letzteren Falle entscheidet. Vormisst
man bei einem Emphysematiker eine Pulsatio epigastrica als Aus-
druck derTieflage des Herzens und seiner rechtsseitigen Hypertro-
phie, so kann dies durch verschiedene Ursachen hervorgerufen werden : vor
allem durch hochgradige Verfettung und Dilatation des Herzens, oder durch
Fixation desselben in Folge vonVerwachsung mit der Umgebung, oderVerkalkung
der Aorta, oder aber durch abnorme Beweglichkeit des Herzens, welches in dem
geräumigen Mediastinum nach rückwärts sinkt und daher verborgen bleibt. Findet
man in der unteren Sternalgegend keine Dämpfung, ist man daher berechtigt,
eine Dilatation des tiefliegenden Herzens auszuschliessen, vermisst man
ferner die Symptome einer intra- oder extrapericardialen Herzverwachsung,
lässt sich ein hochgradiges Atherom der Aorta palpatorisch und ausculta-
torisch nicht nachweisen und tritt auch im Sitzen, Stehen oder in der
Bauchlage des Patienten keine Pulsatio epigastrica auf, so dass ein hyper-
trophisches Wanderherz ausser Betracht kommt, so kann in solchen Fällen
die Diagnose auf Atrophie des Herzens gestellt werden, eine Diagnose,
die bei gleichzeitig kleiner Leber mit gallenarmen Stühlen ohne Icterus
und Vorhandensein der vorhin für Lungenantrophie angegebenen Zeichen
zur Auffassung dieser Erscheinungen von dem gemeinschaftlichen Stand-
punkte der Senescenz der Organe berechtigt. Dieser diagnostische Gedan-
kengang hat mich in zwei Fällen, die durch die Section bestätigt wurden,
nicht im Stiche gelassen.
Cyanose als Stauungssymtom in Folge von Lungenschrumpfung
ist eine häufige Folgeerscheinung der interstitiellen Pneumonie, wie sie
sich nach pleuritischen Exsudaten und gewissen Formen von subacuten
Bronchopneumonien, ferner bei den ßbrösen Formen der Phthise und Lungen-
320 CYANOSE.
Syphilis, Antlirahosis, Chalikosis und Siderosis mit atrophischer Induration
der Lunge und Dilatation der Bronchien entwickelt. Sowohl der Grad
der bestehenden Cyanose, als auch die richtige Deutung des Befundes
am Herzen, welch' letzteres durch Lungenschrumpfung freigelegt werden
und dessen Dämpfungsfigur daher eine Dilatation vortäuschen kann, ist für
die correcte Auffassung des concreten Falles von Werth.
Das Auftreten von Cyanose und Dyspnoe bei Lungen aktin o my-
kose hängt weniger von der localen Ausdehnung des einzelnen Krank-
heitsherdes in der Lunge, als vielmehr von der Eigenthümlichkeit des
Pilzes ab, sprungweise von einer Stelle zu verschiedenen anderen Stellen
des befallenen Organs zu wandern und auf diese Weise multiple Krankheits-
herde zu erzeugen. Gerade durch diese durch den Pilz gesetzten Infiltrate
und deren fibröse Umwandlungsproducte und ebenso durch die Propagation
auf die umgebenden serösen Häute, insbesondere die Pleura und das Pericard
ist sowohl der Grad als der Charakter der Dyspnoe und Cyanose bedingt.
Cyanose mit Dysnoe wird ferner bei dem sogenannten intersti-
tiellen oder interlobulären Emphysem beobachtet, bei welchem
durch Zerreissung von Lungenalveolen Luft in das interlobuläre und in
weiterer Folge in das intermediastinale Gewebe eindringt. Dieses Emphysem,
welches an häufigsten bei der Bronchitis der Kinder, manchmal beim ab-
steigenden Croup und Keuchhusten, zuweilen auch bei Erwachsenen in
Folge stärkerer Anstrengung, z. B, bei schweren Entbindungen, bei Ein-
dringen von Fremdkörpern in die Luftwege beobachtet wird, kann, wenn
es interlobulär ist, durch Compression der Lungenalveolen, wenn es im
Mediastinum auftritt, durch Compression der grossen Gefässe zu Dyspnoe
und Cyanose führen. Ein interlobuläres Emphysem mit hochgradiger Cyanose
habe ich bei einem jungen Mädchen im Gefolge einer Chorditis siibvocalis
beobachtet. In diagnostischer Beziehung kommt bei ausgeschlossener Per-
foration des Oesophagus und des Larynx das gleichzeitige Auftreten von
Hautemphysem in Betracht, welches, wie dies bereits Traube hervorgehoben
hat, auch im Gefolge eines interlobulären Lungenemphysems stets zuerst
in der Fossa jugularis entsteht.
Auch Lungensyphilis, die unter dem Bilde einer acuten oder
chronischen Phthise, oft bei vorhandenen Erscheinungen einer interstitiellen
Pneumonie, auftritt, kann Cyanose und Dyspnoe zur Folge haben. Die richtige
Diagnose dieser Erkrankung begegnet, insbesondere der Lungentuberculose
gegenüber, grossen Schwierigkeiten.
Sprechen weder die anamnestischen Daten, noch das Vorhandensein gleichzeitiger
Aeusserungen desselben Grundleidens an anderen Körpertheilen, für die Annahme der
einen oder der anderen Aifection, so sind noch folgende Umstände für Syphilis
diagnostisch zu verwerthen: Fehlen der Tuberkelbacillen im Sputum, Erscheinungen
einer Dilatation der Bronchien mit münzenförmigen, eitrigen Sputis, Seltenheit der Hä-
moptoe, Fehlen der paralytisch-phthisischen Thoraxdeformation, die Localisation der
syphilitischen Herde, deren Lieblingssitz die Centralpartien der Lunge, daher der rechte
Mittellappen oder die untere Partie des Ober- oder die obere Partie des Unterlappens
ist. das häufige Mitergriffensein des Larynx. Beachtung verdient auch der Gegensatz
zwischen der Ausbreitung der Destructionsprocesse und dem Allgemeinbefinden und den
Ernährungsverhältnissen der Kranken, die gewöhnlich erst dann kachektisch werden,
wenn die Ausbreitung des Processes oder Degenerationen in anderen Organen, Leber,
Niere (Lebersyphilis, amyloide Degenerationen) platzgreifen. Im Gegensatze zu Lungen-
carcinom wäre das Fehlen der Compressionserscheinungen und das Fehlen der steinharten
Infiltrationen der Supraclavicular- und Halsdrüsen bei Lungensyphilis zu erwähnen.
Ich kann nicht umhin, bei dieser Gelegenheit auf einen Umstand hinzuweisen,
welcher geeignet ist, die Diagnose der Syphilis in complicirten Fällen wesentlich
zu unterstützen, Syphilis zeichnet sich unter Anderem dadurch aus, dass sie frühzeitig
Erkrankungen sowohl der Gefässe, als auch ihrer Aduexa, unter die ich auch insbeson-
dere die blutbildenden Organe einbeziehen möchte (Knochenmark), hervorruft. Diese
krankhafte Gefässreizuug findet ihren anatomischen Ausdruck in der bei der Syphilis
CYANOSE. 321
so häufig vorkommenden Endar^eritis, die Läsion der blutbildenden Organe in der bei
Syphilis vorkommenden Anämie, welch letztere im Gegensatze zu Tuberculose die Charak-
tere einer qualitativen Veränderung der P'ormelemente des Blutes bietet. Aus diesem
Grunde ist der klinische Nachweis von Ge fäs s ver an derun gen, insbesondere
bei jugendlichen Individuen, andererseits der mikroskopische B lutbe fnn d, welcher
eine krankhafte Proliferationsthätigkeit der blutbildenden Organe durch qualitative Ver-
änderung der Erythrocyten, Vermehrung der Knochenmarkselemente (eosinophile Zellen),
schliesslich Vermehrung der Hämatoblasten . (deren endothelialer Ursprung für
mich immer wahrscheinlicher wird), bekundet, gleichsam als Leitfaden zu benützen bei
der Dilferentialdiagnose gegenüber jenen Erkrankungen, welche für gewöhnlich eine
wesentliche Mitbetheiligung der Gefässe und der Blutbildungsorgane nicht erkennen lassen
(Tuberculose).
Luiigencarcinome, am häufigsten im Gefolge von Mammacarci-
nomen oder Oesophaguscarcinomen, seltener als Metastasen von primären
Carcinomen der Bauchorgane können durch Compresslon der oberen Hohl-
vene und ihrer Aeste zu hochgradigen Cyanosen führen. Die Dyspnoe
resultirt weniger aus der Localisation der Aftermasse in der Lunge, viel
häufiger ist sie Folge der Compression der Trachea und der Bronchien.
Durch den Druck auf den Vagus, Kecurrens, Phrenicus und Sympathicus
kann das klinische Bild vielgestaltig werden. Die jeweiligen Compressions-
symptome, wie Glottiskrampf, Erbrechen, Tachykardie, Singultus, hoch-
thoracische Dyspnoe, Dysphagie, asthmatische Anfälle, besonders in der
Nacht, daneben die Neigung zu Hämoptoe und die Expectoration von him-
beerartigem Auswurf, in dem mitunter sich Carcinommassen mikroskopisch
nachweisen lassen, charakterisiren das klinische Bild. Wiegen die Com-
pressionserscheinungen der Vena cava vor, so tritt bei fieberlosem Verlaufe
das Lungencarcinom in differential-diagnostische Beziehung zum Aneurysma
der Aorta, bei miliarer Carcinose der Lunge und febrilem Verlaufe hin-
gegen zur Miliartuberculose.
Sowohl die Cyanose als auch die Dyspnoe können noch durch andere
Momente als die erwähnten der Compression bedingt sein, so letztere d-urch
das Coma carcinomatosum {Acetoncoma, Jaoksch), erstere durch nicht car-
cinomatöse Erkrankung des Respirationsapparates (Pneumonie, Pleuritis) oder
der Oirculationsorgane (Pericarditis), sowie insbesondere durch Embolien
der Arteria pulmonalis und Thrombose der Pulmonalvenen. Eine solche
Cyanose in Folge multipel auftretender Thrombenbildung in denPulmonal-
venenästen beobachtete ich an einem bewusstlosen 18jährigen Mädchen, in
dessen Urin geringe Mengen von Zucker und Aceton nachweisbar waren.
Die Section ergab Carcinom des linken Bronchus, Thrombose des Sinus
transversus und der Pulmonalvenen. Auch in solchen nach allen Piich-
tungen diagnostisch complicirten Fällen ist das plötzliche Auftreten von
hochgradiger Cyanose neben Dyspnoe und Acetonurie ein Wink, dass dem
Zustande ein mechanisches Circulationshindernis und nicht ausschliesslich
ein toxisches Element zu Grunde liegt.
In ähnlicher Weise wie Lungencarcinome können andere guta rtige
und bösartige Lungengeschwülste, wie Sarkome, Melanome,
Enchondrome, Lipome. Fibrome, Osteome, Derraoidcysten und Lungenechino-
coccen durch Compression der Luftwege und der grossen Gefässe, sowie
durch Complicationen Cyanose und Dyspnoe erzeugen. Bei Lungen-
echinococcen kann, falls die Colonien umfangreich und zahlreich sind,
insbesondere durch Compression der Lungenarterien Cyanose, Dyspnoe und
Hydrops entstehen, ebenso wenn die Echinococcen in den Lungenvenen oder
in der Lungenarterie sitzen. In letzterer können sie sich entweder primär
ansiedeln oder in dieselbe secundär aus der Leber durch die Aeste der
Vena hepatica, oder, wie Fälle in der Literatur lehren, durch Durchbruch
einer endocardialen Colonie in das Innere des rechten Ventrikels auf em-
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kindei-kranklieiten. 21
322 CYANOSE.
bolischem Wege gelangen. Namentlich kommt starke Cyanose, mit Erstickungs-
gefahr und andauernden Hustenstürmen bei Echinococcen vor, welche in
die Lunge durchbrechen. Die Untersuchung des Kranken, sowie der ex-
pectorirten Massen wird uns bald auf den richtigen Weg leiten. Perforation
in die Pleura wird unter ähnlichen Symptomen die Zeichen eines in
acutester Weise entstandenen Pleura-Exsudates darbieten und nicht zu
unterschätzen ist in beiden Fällen das Auftreten einer Urticaria, wie sie
auch bei Probepunctionen der Leberechinococcen manchmal beobachtet wird.
Bei subacut verlaufender Lungentuberculos e, wenn sie nicht
sehr ausgebreitet ist, ist Cyanose ein im Allgemeinen nicht häufiges
Symptom. Bei hochgradig anämischen und herabgekommenen Phthisikern
wird sogar bei ausgedehnter Infiltration der Lunge und Hinzutreten grosser
Ptespirationshindernisse, wie z. B. Pneumothorax, gewöhnlich Dyspnoe und
Cyanose vermisst. Das Ausbleiben der Cyanose erklärt sich durch die
quantitative Verarmung des Blutes an rothen Blutkörperchen, desjenigen
Materiales, welches durch 0-Abgabe in den Capillaren venöse Eigenschaften
annimmt.
Heftige Dyspnoe und Cyanose im Verlaufe der Lungentuberculose
muss demnach stets den Verdacht erwecken, dass zu dem Grundleiden ein
ho chgradiges Respirations- und Circulationshin dernis hin-
zugetreten ist. Abgesehen von den manchmal acut auftretenden Larynxstenosen
bei Perichondritis oder Glottisödem kann der Sitz des Hindernisses auch tiefer
liegen, und das Auftreten sowie der Grad der Cyanose hängt dann manch-
mal davon ab, ob das pneumonische oder bronchitische Element prävalirt.
Die erstere Form wird gegenwärtig auf Grund bakteriologischer Untersuchungen
als Mischinfection mit dem Tuberkelbacillus und Diplococcus pneumoniae ange-
sehen. Hier treten die fieberhaften und die physikalisch nachweisbaren Er-
scheinungen in den Vordergrund. In dem manchmal rostfarbenen Sputum
sind in solchen Fällen nebst dem Tuberkelbacillus im Beginne der Er-
krankung auch Pneumoniediplococcen nachweisbar, welche sich nicht selten
unter dem Mikroskope als Kapselcoccen präsentiren und auch in solchen
Fällen, wo die Kapsel fehlt, in der ersten aus dem Sputum gezüchteten
Pteincultur hochgradige Virulenz für Versuchsthiere erkennen lassen. Sowohl
die mikroskopische Untersuchung als auch das letzterwähnte Thierexperi-
ment haben nicht nur einen diagnostischen, sondern auch einen prognosti-
schen W^erth, da eine zur Tuberculose hinzugetretene Pneumonie zweifellos
eine ernste Gefahr für den Kranken bedeutet.
Derartige tuberculose Pneumonien zeichnen sich ferner nach
unseren bisherigen Beobachtungen durch das Fehlen eines ausgesprochenen
Fibrinnetzes im Blute, sowie durch das Fehlen der für die genuine Pneu-
monie charakteristischen hochgradigen Verminderung der Chloride im Harne
aus. Dieser negative Befund im Blute und im Harne soll namentlich in
jenen Fällen, in welchen unter dem Eindrucke der in den Vordergrund
tretenden pneumonischen Erscheinungen und bei der Mangelhaftigkeit der
anamnestischen Aufschlüsse bei einem in' halb soporösem Zustande zur
Beobachtung gelangten Individuum die Möglichkeit einer Tuberculose als
latenten Grundleidens ausser Acht gelassen worden wäre, den Arzt ge-
mahnen, das rostfarbene Sputum nicht nur auf Pneumoniecoccen, sondern
auch auf Tuberkelbacillen zu untersuchen.
Bei der bronchitischen und peribronchitis chen Form der
Lungentuberculose kann bei nicht hochgradig heruntergekommenen
und anämischen Individuen grosse Athemnoth und Cyanose dann entstehen,
CYANOSE. 323
wenn durch VerengeruDg der Bronchiallumina der Lungengaswechsel be-
hindert wird, was physikalisch durch den Befund ausgesprochener, doppel-
seitiger, nicht selten über den ganzen Brustkorb ausgebreiteter Bronchitis
und bisweilen den eines Lungenemphysems zum Ausdrucke gelangt. Dies
beobachtet man nicht selten bei jenen Formen der Capillarbronchitis,
welche bei Kindern zu bestehender Phthise hinzutritt und ausnahmslos zu
asphyktischem Tode führt. Tritt jedoch im Verlaufe von Tuberculose bei
verhältnismässig geringer Ausbreitung der bronchitischen Phänomene hoch-
gradige Cyanose, auffallende Steigerung der Athmungs- und Pulsfrequenz
neben fehlender subjectiver Dyspnoe, jedoch hohem Fieber, ausserdem Be-
nommenheit des Sensoriums mit zunehmendem Verfall der Kräfte auf, so
spricht dieser Symptomencomplex für Miliartuberculose, insbesondere
dann, wenn meningeale Hirnerscheinungen hinzutreten.
Tritt jedoch die Miliartuberculose ohne tuberculose Antecedentien unter
einer Typhusmaske auf, so haben die erwähnten S}'mptome zwar auch gegenüber
dem Typhus eine grosse differentialdiagnostische Bedeutung, doch bewegt sich die Diagnose
in den meisten derartigen Fällen, wenn der Augenspiegelbefund keine Chorioidealtuberkel
aufweist und die bakteriologische Untersuchung des Urins und des Stuhles zu keinem
positiven Ergebnisse führt, auf einem sehr unsicheren Boden. In solchen dilferential-
diagnostisch schwierigen Fällen ist allerdings bei längerer Beobachtung ein Irrthum durch
genaue Aufzeichnung des Verhältnisses der Temperatur, Athem- und Pulsfrequenz zu
vermeiden, wenn man bedenkt, dass Typhus, abgesehen von therapeutischen Eingriffen,
sich durch den Parallelismus der Körpertemperatur, Respirations- und Pulsfrequenz cha-
rakterisirt, während die Miliartuberculose gerade in dieser Hinsicht vielfache Dishar-
monien zeigt.
Cyanose kommt endlich bei jenen seltenen , afebril verlaufenden
chronischen Formen der Phthise vor, welche zu Hypertrophie und Dilatation
des rechten Ventrikels, manchmal sogar zu relativer Tricuspidalinsufficienz
führen. Es sind dies insbesondere jene Formen, die als Phthisis fibrosa
bezeichnet werden, und bei welchen durch die häufigen Complicationen,
wie Emphysem, Lungenschrumpfung, Verwachsung der Pleurablätter, ins-
besondere Verwachsung des Herzens mit dem Herzbeutel veranlasste
Circulationsstörungen derart in den Vordergrund treten, dass der Verlauf
weniger dem einer Phthise als vielmehr dem einer Herzkrankheit ähnlich
wird. Manchmal treten diese Formen der Lungentuberculose unter der
Maske eines Lungenemphysems oder Asthma nervosum auf, insbesondere
bei arthritisch-uratischen Individuen. Durch Uebersehen des Grundleidens
kann die Therapie in ganz falsche Bahnen gerathen, und daher erscheint
mir nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, dass bei nicht ganz durchsichtigen
Fällen von Emphysem oder Asthma nur die minutiöse Untersuchung des
Sputums, und zwar des aus einer grossen Menge desselben durch Centri-
fugirung gewonnenen Sedimentes auf Tuberkelbacillen für die Diagnose
entscheidend werden kann.
Doch auch im Verlaufe der gewöhnlichen, infiltrirten Lungen-
tuberculose kann in Folge Circulationsstörungen, insbesondere durch
Pericarditis oder auch durch Veränderung des Herzens selbst, wie durch
fettige Degeneration des Myokards, Cyanose in verschiedenem Grade auf-
treten. Namentlich die bei Tuberculosen so häufigePericardial-
verwachsung verdient eine besondere Beachtung und soll selbst schon
leichte Cyanose der Lippen, welche in einem Missverhältnis zum Umfange
der örtlichen Veränderungen in den Lungenspitzen steht, bei nicht fiebernden
Phthisikern den Gedanken an jene Complication wachrufen.
Bei einem solchen tuberculösen Kranken, welcher an der Herzspitze deutliche
systolische Einziehung zeigte, beobachtete ich Verschlimmerung des Zustandes während
des Aufenthaltes im Hochgebirge, unter Zunahme der Dyspnoe und der Herzbeschwerden.
Nicht selten ist eine bestehende Pericardialverwachsung verbunden mit Degeneration
des Herzmuskels Ursache eines tödtlichen Lungenödems im Verlaufe von Lungentuberculose.
21*
324 CYANOSE.
Eine der häufigsten Ursachen hochgradiger und plötzlich entstehender
Cyanose bei Tuberculosen sind Embolien der Lungenarterie, ent-
standen durch Verschleppung marantischer oder infolge Compression der
Venen durch Lymphdrüsen verursachter Venenthromben aus dem Bereiche
der Hohlvene, am häufigsten aus den grossen Schenkelvenen (Vena cruralis,
profunda und saphena), seltener aus dem Gebiete der Vena jugularis. Cya-
nose kommt ferner bei denjenigen Formen der Lungen tu berculose vor,
diesichsecundärbei AffectionenderPulmonalklappenundAneu-
rysmen der Brustaorta entwickeln. Dies gilt in gleicher Weise für Fälle
von Tuberculose bei bestehenden Verkrümmungen des Thorax, sowie jene
seltenen, welche zu einem bestehenden Klappenfehler des linken Herzens hin-
zutreten. Bei der Tub erculose der Bronchial drüsen, wenn letztere
grössere und zusammenliegende Convolute bilden und zu Compression der
Gefässe führen, findet man nebst Ausdehnung der Halsvenen Cyanose des^
Gesichtes, der Lippen und der Zunge, welche jedoch zeitweise auftreten
und verschwinden, gleichwie sich die habituelle Atheninoth auch paroxystisch
zu heftigen Anfällen steigern kann. Cyanose mit hochgradiger Dyspnoe und
wiederholter Pneumorrhagie kann ferner durch Ver ei terung tubercu-
löser Drüsen ins Perikard oder in die Aorta entstehen, wie ich
erst vor kurzem einen derartigen Fall beobachtet habe.
Ferner kommt imVerlaufe der Tuberculose Cyanose mit den hef-
tigsten Suffocationsanfällen bei Pneumorrhagien vor. Es ist vielleicht ein
statistischer Zufall, dass ich gerade die tödtlichen Pneumorrhagien in
solchen Fällen beobachtet hatte, bei welchen weder die örtlichen noch die
allgemeinen Symptome ausgesprochen waren und bei welchen ausser Re-
traction der Lungenspitzen und schmerzhaften Sensationen in dem afficirten
Lungentheile keine Symptome vorlagen, welche zu einer ernsten Prognose
berechtigt hätten. Diese Fälle gingen, zur Behebung ihrer Beschwerden
ins Hochgebirge gesendet, gleich nach ihrer Ankunft, vielleicht durch den
raschen Wechsel des Luftdruckes, plötzlich an einer tödtlichen Pneumorrhagie
zu Grunde. Prognostisch ist die Möglichkeit derartiger Eventualitäten im
Auge zu behalten und diagnostisch den Geräuschen, welche in den
aneurysmatisch erweiterten Aesten der Lungenarterie über den infiltrirten
Lungenpartien wahrnehmbar sind, ein besonderes Augenmerk zu schenken.
Cyanose mit Dyspnoe in Folge von chronischem Lungenödem beob-
achtet man bei Combinationen von Tuberculose mit Nephritis.
Leichte Cyanose der Lippen, der Ohren und des Gesichtes bei
afebriler Phthise habe ich imVerlaufe des Diabetes mellitus
beobachtet. Es soll demnach eine im Verlaufe des Diabetes mellitus auf-
tretende Cyanose einerseits zur genauen Untersuchung der Lunge auifordern,
andererseits die Cyanose bei fieberlosen Phthisikern ein veranlassendes
Moment auch für die Untersuchung des Urins auf Zucker sein, um das
Grundleiden nicht zu übersehen.
Gerade letztere Erscheinungen und das Fehlen von Nachtschweissen hat mich ein-
mal bei einem ambulanten Phthisiker, der von einem Arzte zu einer Traubencur nach
Meran geschickt wurde, auf die Diagnose des Grundleidens, des Diabetes mellitus, gebracht.
Bei Pleuraexsudation kommt Cyanose gepaart mit Dyspnoe vor
und hängt weniger von der Menge des Exsudates als vielmehr von der
Raschheit ab, mit welcher sich dieses entwickelt. Es gibt Fälle von exsuda-
tiver Pleuritis, welche dadurch, dass sie mit wiederholten Schüttelfrösten
und hohem Fieber einsetzen und manchmal mit Expectoration eines blu-
tigen Sputums einhergehen, zu der Diagnose einer Pleuropneumonie ver-
CYANOSE. 325
leiten. Das Exsudat entwickelt sich mit einer solchen Raschheit, dass schon
nach wenigen Tagen die Entleerung desselben vorgenommen werden muss.
Bei diesen unter dem Bilde der Pleuropneumonie einsetzenden Pleuritiden,
deren Unterscheidung von der Pneumonie, namentlich in solchen Fällen,
wo eine Probepunction vom Patienten nicht zugelassen wird, im Beginne
der Erkrankung manchmal auf grosse Schwierigkeiten stösst, kommt gerade
der Cyanose eine hohe Bedeutung zu, welche, wie bereits erwähnt, bei
genuinen, nicht complicirten Pneumonien für gewöhnlich ein tardives Symptom
ist. Die Cyanose ist hier directe Folge der durch Raumbeschränkung im
Thorax behinderten Herzdiastole ; daraus resultirt im Weiteren mangel-
hafte Füllung des Arteriensystems, daher Kleinheit der Pulse und Ver-
minderung der Diurese, Symptome, welche unter Umständen eine unver-
zügliche Vornahme der Thorakocentese indiciren können.
Ebenso kommen als Ursache der Cyanose bei Pleuraexsudaten die begleitenden und
ursächlichen Krankheiten in Betracht. Das gilt insbesondere für intrathorakale Car-
cinome und S a r k o m e,- welche zu Ergüssen in den Pleuraraum führen. Carcinomatöse
Schwellung der Lymphdrüsen kann im ersteren Falle durch Compression der Veneii etwa
schon bestehende Cyanose erhöhen. Es können auch durch Druck solcher Drüsen auf die
Piilmonalarterien und die Pulmonalvenen oder durch directes Uebergreifen des carcinoma-
tösen Processes auf die Gefässwände sowohl in Folge von Thrombosirung, als auch von
Embolien Cyanose und Dyspnoe in acuter Weise auftreten. Auch durch directe Gefäss-
infection bei genuinen Pleuritiden können derartige Thromben in den Aesten der Pulrao-
nalarterie und Pulraonalvene sich bilden und namentlich bei Entleerung des Exsudates
aus den letzteren in den grossen Kreislauf getrieben werden.
Cyanose und Dyspnoe können übrigens bei Pleuritis, abgesehen von der
Menge des Exsudates, auch durch begleitende Lähmung des Zwerch-
fells einen hohen Grad erreichen, sei es in Folge von entzündlichen
Atfectionen desselben bei Pleuritis diaphragmatica oder in ähnlicher Weise
wie bei grossen, in den Brustraum hineinreichenden Echinococcen, diesfalls
durch Druck von unten infolge consecutiver Atrophie des Zwerchfells. Die
Faradisation des Nervus phrenicus kann in solclien Fällen nach Gerhardt
Vorwölbungen des Hypochondriums, resp. Einziehungen desselben, abhängig
vom jeweiligen Stande des Zwerchfells, insbesondere je nachdem es nach
oben oder unten coiivex ist, ergeben.
Nicht nur bei massigen, sondern auch bei grossen Exsudaten der
Pleura kann die Cyanose fehlen, wenn die Kranken nicht fiebern und
ruhig im Bette liegen, doch bei der geringsten Körper au strengung,
beim Aufstehen oderAufsetzen solcher Kranken kann hochgradige
Athemnoth mit Cyanose auftreten. Dies kann durch verschiedene Ursachen
bedingt sein. Durch Knickung der Luftröhre, Knickung der Vena cava,
Herzschwäche und Thrombose des Herzens, Lungenödem, Durchbruch des
Exsudates, Diese Anfälle von Athemnoth mit Cyanose können bisweilen
zum Tode führen ; einige derartige Fälle habe ich bei pleuritischen Ex-
sudaten und gleichzeitiger Verwachsung des Herzens mit dem Herzbeutel
gesehen, insbesondere nach Thoraxpunctionen, wo trotz regelrechter Ent-
leerung des Exsudates rascher Tod erfolgte, ohne dass dafür eine andere
Erklärung als nur die Verwachsung des Herzens mit dem Herzbeutel und
schwielige Mediastinitis gefunden werden konnte. Aus diesem Grunde ist
es geboten, vor jeder Thorakocenthese das Herz in der erwähnten Richtung
bei verschiedenen Lagen des Patienten genau zu untersuchen und eine
echte systolische Einziehung der Herzspitze, unter Berücksiclitigung sämmt-
licher für die Diagnose der Pericardialverwachsung bestehender Cautelen,
nicht zu übersehen,
Athemnoth und Cyanose können schliesslich bei geringer Exsudat-
menge dann auftreten, wenn sich die Pleuritis in, durch frühere Ver-
wachsung der Pleura entstandenen, abgesackten Räumen entwickelt,
326 CYAXOSE.
indem zu dem durch die Verwachsung bedingten Athmungs- und Circu-
lationshindernisse sich noch das raumbeschränkende Moment des pleuritischen
Ergusses hinzugesellt. In solchen Fällen können folgende Momente für die
Diagnose verwerthet werden: 1. die anamnestischen Daten des Patienten,
welche auf vorausgegangene Pleuritis hinweisen; 2. das Missverhältnis
zwischen der Dislocation der Thoraxorgane insbesondere des Herzens und
der nachweisbaren geringen Menge des Exsudates; man findet z. B. bei
kleinem linksseitigen Exsudate ausgesprochene Dextrokardie ; 3. das Miss-
verhältnis zwischen dem geringen Exsudate und den subjectiven Beschwerden
des Kranken, welche manchmal in Athemnoth und nicht selten in hoch-
gradigen Schmerzen in der afficirten Thoraxhälfte bestehen: letztere
bezeichnen die Kranken nicht selten als schmerzhafte Empfindung, wie
wenn ihnen in der Brust etwas zerreissen möchte, was wohl dem that-
sächlichen Zerreissen der bindegewebigen Adhäsionen der Pleura entspre-
chen dürfte ; 4. die unregelmässige Form der pleuritischen Dämpfung, indem
z. B. das Dämpfungsniveau vorne weiter hinaufreicht als hinten, obgleich
der Patient bei Bildung des Exsudates die Piückenlage eingenommen hat ;
5. die absolute Unbeweglichkeit der Därapfungsgrenze, trotz längerer Lage-
veränderung des Patienten, welch' letzterer Befund jedoch nur im Vereine
mit den früheren diagnostisch verwerthbar ist.
Auch totale Verwachsungen der Pleurablätter als Ausdruck einer a d-
häsiven Pleuritis können zu Cyanose und Dyspnoe führen, und zwar
insbesondere bei stärkeren Körperanstrengungen. Die Ursache hievon liegt
in der Insufficienz der Eespiration, welche hauptsächlich dadurch bedingt
ist, dass die verwachsene Lunge sich im verticalen Durchmesser nicht er-
weitern kann, was eine mangelhafte Abwärtsbewegung des Zwerchfells zur
Folge hat. Es muss demnach der Thorax sich im frontalen und sagittalen
Durchmesser stärker ausdehnen als normal und in Folge dessen der costale
Athmungstypus prävaliren. Das Fehlen der respiratorischen Verschiebung
der die normalen Grenzen nicht überschreitenden Lungenränder und die
Schwäche des vesiculären Athmungsgeräusches an der Thoraxbasis sind die
weiteren Folgen der Pleuraverwachsung. Mit der Zeit kommt es theils durch
die mangelhafte inspiratorische Entfaltung der Lunge, theils durch secundäre
Bronchialkatarrhe in ähnlicher Weise wie bei Emphysem zu Hypertrophie
und Dilatation des rechten Ventrikels, welch' letztere so beträchtlich werden
kann, dass eine relative Tricuspidalinsufficienz entsteht. Das Auftreten und
der Grad der Cyanose bei Verwachsung der Pleurablätter wird demnach von
ähnlichen Momenten abhängig sein wie bei Lungenemphysem, nämlich insbe-
sondere von den begleitenden Bronchialkatarrhen und von den Veränderungen
des rechten Herzventrikels.
Derartige Verwachsungen der Pleurablätter kommen in Folge von Pleuritis im
Verlaufe der chronischen Tuberculose vor, und zwar insbesondere bei jener Form, welche
mit Bindegewebsneubildung einhergeht (Phthisis fihrosa). Nicht selten findet man diese
adhäsive Form der Entzündung auch an anderen serösen Membranen, z B. Perikard und
Peritoneum, ohne gleichzeitige Tuberculose, und Baubeeger hat derartige Fälle als primäre,
degenerative Entzündungen des subserösen Zellstoffes beschrieben. Das klinische Bild
kann durch diese multiplen Localisationen der adhäsiven Entzündung an verschiedenen
serösen Membranen, bei welchen sowohl der Umfang als auch der Grad der consecutiven
Verwachsung der Pleurablätter, der Pericardialblätter, der Leber mit der Bauchwand und
mit dem Zwerchfell verschieden sein kann, soM'ie durch das Fortschreiten des entzünd-
lichen Processes ins interstitielle Bindegewebe der verwachsenen Organe eine grosse Viel-
gestaltigkeit gewinnen. Die in Bede stehende adhäsive Pleuritis pflanzt sich mit Vorliebe
auf das Pericard und die grossen Gefässe fort, wobei auch mitunter der Nervus phreni-
cus und Vagus in Mitleidenschaft ge;'.ogen wird.
Die meisten Schwierigkeiten bereitet die Differentialdiagnose zwischen
Lungenemphj'sem und dieser Verwaclisung der Pleurablätter. Die
Dilatation des Thorax bei Pleuraverwachsung erinnert an die des Emphysems, der
CYANOSE. 327
costale, eventuell hochtlioracische Respirationstypns kommt beiden Krankheiten zu, und
die Verlängerung der Exspiration kann in beiden Fällen vorlianden sein. Auch die Aus-
cnltationserscheinungen, insbesondere die Abschwächung der Respirationsgeräusche an der
Thoraxbasis, können einen übereinstimmenden Befund ergeben und andererseits die für
das Emphysem charakteristische Erweiterung der respiratorisch unbeweglichen Lun?en-
partien an der Thoraxbasis durch Complication des Emphysems mit beiderseitigem Ergüsse
m die Pleura oder durch Hochstand des Zwerchfells (Ascites), wie bereits früher erwähnt,
dem percutorischen Nachweise entzogen und somit dieser Unterschied für die Differential-
diagnose nicht nutzbar gemacht werden. Fügen wir noch hinzu, dass nicht selten das
Emjihysem nur in den vorderen und oberen Lungenpartien eine bedeutende Intensität
erreichen, dass andererseits bei der Verwachsuug der Pleurablätter sich sowohl wie oben
erwähnt, Hypertrophie des rechten Ventrikels, als auch secundäres Lungenemphysem ent-
wickeln kann, so lässt sich ermessen, welche t?chwierigkeiten einer Differentialdiagnose
beider Erkrankungen entgegenstehen. Von Wichtigkeit ist die Untersuchung der Patienten
während eines etwaigen asthmatischen Anfalles, wobei die Erweiterung der Lungengrenzen
beim Emphysematiker zunehmen und percutorisch nachweisbar werden kann. Das Haupt-
gewicht für die Dift'ereutialdiagnose liegt in der normalen Beschaffenheit des Percussions-
schalles und des Stimmfremitus bei Pleuraverwachsung, wählend bei Emphysem der Per-
cussionsschall hypersonor und der Stimmfremitus abgeschwächt zu sein pflegt (Graxchee).
Für die Differentialdiagnose nicht zu unterschätzen ist ferner das fast constante Vor-
kommen der eosinophilen Zellen in vermehrter Menge im Sputum bei Emphysem, während
dieselben bei Verwachsung der Pleurablätter, insbesondere auf tuberculöser Basis in der
Kegel fehlen. Auch dem Fehlen der Pulsatio epigastrica (die, abgesehen von den
früher angegebenen Ausnahmen, als charakteristisch für das Emphysem angesehen
werden muss) muss bei der Differentialdiagnose Rechnung getragen werden. Manchmal
gelingt es mit einem Schlage, die Diagnose auf Emphysem zu stellen, wenn sich eine
zu diesem hinzugetretene Pleuritis sicca durch Reiben documentirt. Die Fortpflanzung
der adhäsiven Entzündung auf das Zellgewebe des Mediastinums kann durch Ver-
wachsung der grossen Gefässstämme mit der vorderen Thoraxwand jene Symptome er-
zeugen, welche Ki'ssmai'l als für Mediastinitis chronica ührosa charakteristisch beschrieben
hat : inspiratorisches Anschwellen und exspiratorisches Abschwellen der Halsvenen
und Pulsus paradoxus. Von diesen Symptomen könnte letzteres ebenfalls bei Emphysem,
in Complication mit Pericarditis, sowie bei anderen Erkrankungen durch inspiratorische
Abschwächung der Triebkraft des linken Ventrikels, oder durch Corapression der Arteria
subclavia durch inspiratorische Hebung der ersten Rippe zu Stande kommen, während
die ersteren, wie schon früher erwähnt, gerade bei Emphysem das entgegengesetzte Ver-
halten bieten.
Pneumothorax führt nur danu zu Cyanose und Athemnoth, wenn
er plethorische Individuen befällt, wie dies z. B. bei Stichverletzungen und
bei Emphysem der Fall sein kann. Bei Phthisikern hingegen sind diese
Erscheinungen entweder gar nicht oder nur schwach angedeutet vorhanden,
insbesondere dort, wo der Pneumothorax entweder circumscript oder durch
Perforation einer hochgradig erkrankten, daher ohnehin respirationsunfähigen
Lunge entstanden ist. Ist aber die Cyanose in auffälliger Weise vorhanden,
so ist sie unter allen Umständen ein prognostisch ungünstiges Symptom
und entsteht dadurch, dass der Pneumothorax an der weniger erkrankten
Lunge bei hochgradig afficirter Gegenseite aufgetreten ist. Unter solchen
Umständen kann der Pneumothorax nicht nur zu hochgradiger Dyspnoe und
Cyanose, sondern sogar bei seiner Entwicklung zu asphyktischem Tode führen.
Während wir nach dem früher Gesagten bei den uncomplicirten Er-
krankungen des Ptespirationsapparates nur geringeren Graden der Cyanose
begegnen, so gelangt diese bei Herzfehlern von den leichtesten bis zu den
höchsten Graden zur Beobachtung, derart, dass die Haut rein blau oder
auch blauschwarz gefärbt sein kann.
Die Cyanose bei erworbenen Klappenfehlern des Herzens er-
reicht niemals einen so hohen Grad, wie bei angeborenen Herzano-
nialien, auch läuft bei erworbenen Herzfehlern der Grad der Cyanose mit
der Intensität der subjectiven Beschwerden mehr oder weniger parallel,
während bei den angeborenen Herzfehlern oft ein autfallender Contrast
328 CYAKOSE.
zwischen ersterer und letzteren bestehen kann, der bisweilen auch dann
noch sich geltend macht, wenn unter dem Einflüsse der Anomalie die Er-
nährung gelitten hat. Auch wenn bei angeborenen Klappenfehlern, bei
welchen die Cyanose fehlte, letztere durch complicirende, die Circulatiou
schädigende Krankheiten hervorgerufen wird, kann die aufgetretene Cya-
nose mit der Intensität der sie unmittelbar veranlassenden Krankheit, wie
z. B. Bronchitis, ein auffallendes Missverhältnis zeigen. Daher muss vom
diagnostischen Standpunkte das Auftreten der Cyanose im Verlaufe leichter
Erkrankungen des frühesten Kindesalters, bei Mangel sonstiger subjectiver
Beschwerden, wie z. B. Dyspnoe, den Gedanken wachrufen, dass ein con-
genitaler Fehler des Herzens, respective der grossen Gefässe vorliegt.
Selbst grosse Defecte der Kammersc beide wand können ohne
Cyanose verlaufen. In der Regel führen jedoch derartige Defecte im ex-
trauterinen Leben durch Ueberströmen des Blutes aus der linken in die
rechte Kammer zu Dilatation und Hypertrophie der letzteren. Die Cyanose
entsteht in solchen Fällen transitorisch durch Schreien, Husten, oder an-
dauernd durch Insufficieuz des Herzmuskels. Die Mischung des venösen
Blutes mit dem arteriellen infolge des Ueberströmens desselben aus der
einen Kammer in die andere, wurde früher zur Erklärung der angeborenen
Cyanose herangezogen. Wiederholte Beobachtungen ergaben jedoch, dass
in mehreren Fällen, bei welchen hochgradige Defecte des Kammerseptums
gefunden wurden, Cyanose in den ersten Lebensjahren gefehlt hat.
Da nach dem zuvor Gesagten bei Kammerscheidewand-Defecten der rechte Ven-
trikel hypertrophirt, um dem Drucke vom linken Ventrikel her durch gleichen Gegen-
druck Stand zu halten, so kann im späteren Verlaufe bei herabgesetzter Arbeitsleistung
des linken Ventrikels das Blut aus der rechten Kammer in die linke hineingetrieben
werden und auf diese Weise durch Blutwirbel ein Geräusch in letzterer entstehen. Bei
Perforationen der Kammerscheidewand, welche im späteren Alter durch mj^okarditische
Processe verursacht werden, kann bei sonst normaler Beschaffenheit des Herzens und
seiner Klappen das Blut vom linken Ventrikel in den rechten hinüberströmen, insolange
der Druck im linken Ventrikel überwiegr. Bei gleichzeitig bestehenden Herzfehlern aber,
welche mit mangelhafter P'üllung der linken Kammer einhergehen, wie z. B. bei Mitral-
stenose oder hochgradigem Lungenemphysem einerseits, andererseits bei Hypertrophien
des rechten Ventrikels im Gefolge von Mitralaffectionen. Emphysem und Affectionen der
Tricuspidalklappen ist ein Ueberströmen des Blutes aus der rechten in die linke Kammer
durch die Perforationsöffnung möglich. Das Entstehen der < Geräusche bei Durchbohrung
des Ventrikülseptums wird hai;ptsächlich von der Grösse der Oeffnung abhängen. Bei
sehr grosser Comraunicationsöffnung wurde von Hexoch kein systolisches Geräusch be-
obachtet; auch bei sehr kleinen Löchern, die währe d der herzsystobschen Contraction
geschlossen werden, so dass ein Ueberströmen des Blutes nicht stattfinde'i kann, werden
gleichfalls keine Geräusche entstellen können. Bei mitte grossen Oeffnungen wird ein
systolisches Geräusch liurch Blutwirbel in jener Herzhälftn entstehen, in welche das Blut
hineingetrieben wird, dal>ef bei Ueberkraft des rechten Ventrikels im linken und umge-
kehrt, demgemä^s im eisten Falle an der Ausoultationsstelle der Mitralis, im zweiten Falle
an der Tricuspidalis wahrnehmbar sein. Im ersten Falle kann daher die Differential-
diagnose einer Mitralinsufticienz, im letzteren die einer Insufficienz der Tricuspidalis in
Frage kommen. Im ersten Fallo wird das Fehlen der Verstärkung- des zweiten Pulmonal-
tones und insbesondere, wenn es sich um ein mit angeborener Cyanose behaftetes Kind
handelt, zu Gunsten einer Communication der Ventrikel sprechen, im zweiten Falle wird
das Verhalten der Venenpulse um Halse entscheiden. Selbstverständlich gilt diese dia-
gnostische Ueberlegung nur für jene Fälle, in denen keine Complicationen mit anderen
Herzfehlern bestehen.
Die angeborenen Herzfehler. M-elche von Geburt an mit Cya-
nose und gestörter Herzfunction einhergehen, sind meist mit Stenose der
Pulmonalis und Insufficienz der Tricuspidalis complicirt und die Cyanose
«rklärt sich durch einfache Stauung des venösen I31utes.
Offenes Foramen ovale wird häufig bei den Sectionen gefunden,
ohne dass intra vitam irgend welche Symptome, namentlich Geräusche, vor-
handen gewesen wären. Es erklärt sich dies durch die Druckverhältnisse in
den Yorhöfen; der Druck im linken Vorhofe ist unter normalen Verhältnissen
CYANOSE. 329
höher als der innerhalb des rechten Vorhofes. Es könnte daher bei offenem
Foramen ovale das Blut nur von dem linken in den rechten Vorhof, nicht
aber umgekehrt hinüberströmen. Doch findet dieses Ueberströmen auch
im ersteren Falle deshalb nicht statt, weil die das Foramen ovale begren-
zenden Falten ein gegen den linken Vorhof offenes Ventil bilden, das durch
Ueberdruck im letzteren geschlossen wird. Anders verhalten sich die
Dinge, sobald im rechten Vorhofe Drucksteigerung entsteht, wie dies bei
Insufficienz der Tricuspidalis und bei Stenose des Tricuspidalostiums der
Fall ist. Unter diesen Verhältnissen kann das durch die Beschaffenheit
des Foramen ovale ermöglichte Ueberströmen des Blutes vom rechten in
den linken Vorhof thatsächlich erfolgen.
Durch Etidocarditis an den Spa'trände'n oder an den Klappen können nebst Cya-
nose auch anderweitige Symptome, als Herzklopfen u s. w. entstehen. Auch Herzschwäche
in Folge von Momenten, welche den Organismus und den Herzmuskel schwächen, z. B.
chronische Diarrhöen, kann in eben derselben Weise wirken.
Andererseits sind Fälle von Persistenz des Foramen ovale
und des Ductus Botalli bekannt, in welchen sogar bei Complicationen
mit später erworbenen Herzkrankheiten, z. B. mit Verwachsung des Herzens
mit dem Herzbeutel, Cyanose gefehlt hat.
Persistenz des Ductus art. Botalli kommt fast nie allein vor,
sondern in Combination mit anderen Entwicklungshemmungen am Herzen, wie
z. B, mit Puhnonalstenose und Stenosen der Aorta. Die Circulationsstörungen
hängen demnach zum Theile von diesen Complicationen, zum Theile auch
von der Lichtung des Ductus ab. Das Ueberströmen des Blutes aus dem
rechten Ventrikel durch die Pulmonalarterie in die Aorta kann nur in den
ersten Tagen nach der Geburt stattfinden, und zwar wegen der Stärke der
rechten Kammer und des höheren Druckes in der Pulmonalis zu jener
Zeit. Mit zunehmender Entwicklung des linken Herzens und Druckstei-
gerung in der Aorta strömt das Blut von der Aorta in die Pulmonalarterie.
Auch hier gibt es wiederum Fälle, wo seit Geburt Cyanose, Herzklopfen
und Athembeschwerden bestanden, neben anderen, wo die Cyanose gefehlt
hat. Ist sie vorhanden, so erklärt sie sich durch die in Folge Druck-
steigerung in der Pulmonalarterie bewirkte Mehrbelastung und Dilatation
des rechten Ventrikels. Doch selbst Combinationen von Persistenz des
Ductus Botalli mit Stenose der Pulmonalarterie können jahrelang ohne
Cyanose verlaufen.
Bei der angeborenen Verengerung der Pulmonalarterie
besteht jedoch in der Piegel Cyanose von der Geburt an und gilt dies nach
Rauchfuss ausnahmslos für Fälle hochgradiger Stenose bei geschlos-
sener Kammerscheidewand. Nicht selten erfolgt der Tod unter hochgradiger
Cyanose, Erstickungsanfällen, CuEYNE-STOKEs'schem Athmen und Con-
vulsionen. Bei Stenosen geringen Grades kann die Cyanose entweder fehlen
oder nur massig sein und temporäre Steigerungen zeigen, im weiteren Ver-
laufe kann die Cyanose einerseits durch Besserung der Compensation,
andererseits bei zunehmender Compensationsstörung in Folge relativer Blut-
verarmung, bisweilen auch dadurch, dass durch das geöffnete Foramen ovale
Blut aus dem rechten Vorhofe in den linken abfliesst, abnehmen. Umge-
kehrt kann die wegen Anämie und Inanition anfangs geringe Cyanose mit
Besserung der Verhältnisse der Blutbildung zunehmen. Mehrere Fälle in
der Literatur sind bekannt, in welchen Cyanose erst in reiferen Jahren
nach Erkältung, psychischen Aufregungen oder auch nach schweren Ent-
bindungen eingetreten ist. Nicht selten sind neben Endocarditis die acuten
Infectionskrankheiten, insbesondere die acuten Exantheme, und andere
intercurrente Erkrankungen, wie Keuchhusten, im Stande, acute Compeu-
330 CYANOSE.
sationsstörungen hervorzurufen und das letale Ende zu beschleunigen. Sitzt
die Stenose an dem Klappenring der Palmonalis, so wird theils durch die
Erkrankung der Klappe, theils durch die mangelhafte Füllung des Pul-
monalarteriengebietes der zweite Pulmonalton entweder fehlen oder auf-
fallend schwach sein. Eine neben den Symptomen der Stenose des Pul-
monalostiums bestehende Verstärkung des zweiten Pulmonaltones spricht
für angeborene Verengerung des Conus arteriosus dexter meist mit gleich-
zeitigem Offensein des Duct. art. Botalli. Auch bei Stenosen der Pulmonal-
arterie jenseits der Klappen wie sie in Folge Compression durch Neubildungen
in den Lungen seitens Mediastinaltumoren und Aneurysmen entstehen, findet
man Verstärkung des zweiten Pulmonaltones.
Im Gegensatze zu den bisher erwähnten Entwicklungsfehlern, bei
welchen die Cyanose kein constantes Symptom bildet, zeichnen sich fast
alle Fälle von angeborener Stenose und Insufficienz der
Tricuspidalis durch das Vorhandensein von Cyanose, welche allerdings
verschiedene Grade haben kann, aus. Die Zeichen von Hypertrophie und
Dilatation des rechten Vorhofes, welche sowohl in Vergrösserung der Herz-
dämpfung nach rechts in der Vorhofsgegend als in ausgesprochenen Venen-
pulsen ihren Ausdruck finden, und die Abschwächung des zweiten Pulmonal-
tones, sowie die rasch folgende Herzinsufficienz sind für die Diagnose von
Wichtigkeit. Die Stärke der negativen Venenpulse nimmt im Stadium
mangelhafter Compensation durch fettige Degeneration des rechten Vorhofes
und Erlahmung der Thätigkeit des rechten Ventrikels ab und in eben dem-
selben Maasse die Cyanose zu.
Hochgradige Cyanose von Geburt an, die das ganze Leben hindurch
gleichmässig andauert, ist eines der constantesten Symptome der Traus-
position der grossen Arterienstämme.. Diese Cyanose kann ohne
anderweitige Krankheitsstörungen zur Beobachtung gelangen. Rauchfuss
betont bei diesem Entwicklungsfehler den Mangel jener Erstickungsanfälle,
welche bei Stenose der Lungenarterie neben Steigerung der Cyanose so
häufig auftreten. Die Cyanose ist bei der Transposition der grossen
Arterienstämme nicht allein durch Stauung zu erklären, sondern auch durch
veränderte Blutmischung, nämlich durch venöse Beschaffenheit des in den
Körperarterien circulirenden Blutes, welches die aus dem rechten Ventrikel
entspringende Aorta von letzterem bezieht. Daher auch wahrscheinlich die
Neigung zu Convulsionen, durch mangelhafte Versorgung des Gehirnes mit
arteriellem Blute. Diagnostisch ist das Fehlen von Herzgeräu-
schen, sowie das Fehlen von Herzhypertrophien bei hoch-
gradiger Cyanose wichtig; allerdings gibt es auch hier Ausnahmen.
Bei angeborener Verengerung des Aortenostiums ist
Cyanose ebenfalls ein constantes Symptom und entsteht durch Stauung in
dem linken Vorhofe, welche sich durch Rückstauung auf das rechte Herz
fortpflanzt. Sowohl Erstickungsanfälle als auch Convulsionen kommen bei
diesem Entwicklungsfehler vor.
Bei den Isthmusstenosen, d. h. Stenosen der Aorta an der Ein-
mündungsstelle des Duct: art. Botalli, wurde Cyanose bei Kindern nebst
Athembeschwerden. Laryngospasmus und Convulsionen beobachtet, doch
gibt es auch Fälle ohne Cyanose. Mit Isthmusstenosen behaftete Individuen
können sogar ein höheres Alter erreichen und gehen unter den gewöhn-
lichen secundären Veränderungen am Herzen, oder an intercurrenten
Erkrankungen oder an Ruptur der Aorta, wie ich einen solchen Fall beob-
achtet habe, zu Grunde.
Bei der angeborenen Enge des Aortensystems tritt die
Cyanose mit den übrigen Erscheinungen der Compensationsstörung, Dyspnoe,
CYANOSE. 331
Hydrops nur in Folge secundärer Veränderungen am Herzen, manchmal
nach Körperanstrengungen, oder durch Erkrankungen des Klappenapparates
und Pericards veranlasst, auf. Sonst sind für die Hypoplasie des
Aortensystems mangelhafte Körperentwicklung, kindlicher Habitus, herab-
gesetzte Blutbildung mit Anämie charakteristisch. Bei unveränderter Blut-
mischung, wie solche Fälle ebenfalls bekannt sind, entwickelt sich Hyper-
trophie des linken Ventrikels und die Cyanose entsteht dann nur durch
secundäre Veränderungen desselben.
Wie aus diesen Ausführungen hervorgeht, entziehen sich die ange-
borenen Herzanomalien meist einer genauen Diagnose.
Die Prognose ist im Allgemeinen ungünstig, und meist tödten die verschiedenen
Bildungsfehler durch Insufficienz des Herzens schon in den ersten Tagen nach der
Geburt. Erreichen die Kinder die Pubertätsperiode oder ein noch höheres Alter, so ent-
wickelt sich eine kolbenartige Verdickung der Finger (Trommelschlägelfinger). Meistens
ist die "Wärmebildung herabgesetzt, die Hände und Füsse sind kalt, es besteht beschränkte
Arbeitsfähigkeit, grosse Neigung zu Blutungen, schlechte Verdauung und nicht selten
herabgesetzte Intelligenz, mitunter Idiotismus und Blödsinn.
Auffallend ist es, wie dies bereits Gerhardt betont hat, dass manche
angeborene und auch sonstige Formen von Blausucht, welche die kleinen
Venen der Haut auf das äusserste ausdehnen, auf grosse Venen fast gar
keinen Einfluss ausüben. Ueberdies verfallen, wie Gerhardt weiter aus-
führt, diese Kranken z. B. mit angeborenen Pulmonalstenosen weniger
leicht in Wassersucht und weisen geringere Stauungen in den inneren
Organen auf. Man könnte sich diese Thatsache des mangelnden Hydrops
trotz hochgradigster Cyanose vielleicht derart erklären, dass bei angeborenen
oder auch in der frühesten Kindheit erworbenen Herzfehlern die Venen-
capillaren und die grösseren Venen hypertrophiren und daher impermeabler
für das Blutserum werden, während für die Mchterweiterung der grossen
Venen eine Ursache sich kaum auffinden lässt.
Diesen Erscheinungen, insbesondere dem Missverhältnisse zwischen der
Cyanose und den Stauungen in den inneren Organen könnte die Beobachtung
an die Seite gestellt werden, die man bei vielen Herzkranken bestätigt findet, dass trotz
centraler, vom Herzen ausgehender Circulationsstörung sowohl die Vertheilung der cyano-
tischen Bezirke, als auch die Reihenfolge ihres Auftretens eine ungleichmässige ist,
während man a priori bei einer Ursache, die für alle Bezirke in gleicher Weise besteht,
auch einen in allen diesen in gleicher Weise sich äussernden Effect anzunehmen sich
berechtigt fühlen würde. Die Thatsachen scheinen jedoch darauf hinzuweisen, dass
gewisse Prädilectionsstellen für das Auftreten der Stauungserscheinungen angenommen
werden müssen, so dass dasselbe Circulationshindernis bei verschiedenen Individuen in
verschiedener Weise zur Geltung gelangt. Beginnende Compensationsstörung kündigt sich
daher in einem Falle mit Cyanose des Gesichtes, in einem anderen mit Leberschwellung
oder Albuminurie u. s. w. als erstem Symptome an. Aus diesem Grunde muss auch der
allgemein aufgestellte Satz, dass eine Stauung in der Pfortader ohne Stauung an den
peripheren Theileu, also ohne Schwellung der Extremitäten, ein Herzleiden ausschliesst,
insoferne eine Einschränkung erfahren, als es seltene Fälle gibt, in welchen die Stauung
in der Pfortader als erste Manifestation einer eintretenden Herzinsufficienz erscheint. So
z. B. beobachtete ich einen Fall von Concretio pericardii c. corde, wo der Ascites dem
Anasarca voranging, ein Umstand, der zur falschen Annahme einer Lebercirrhose Ver-
anlassung gab. Es genügt unter Umständen eine minimale Reizung des Peritoneums, um
dasselbe zum Locus minimae resistentiae für die centrale Stauungsursache zu gestalten.
In einem anderen Falle beobachtete ich bei einem an Fettherz leidenden Individuum das
plötzliche Auftreten von multiplen marantischen Thromben im Wurzelgebiete der Pfort-
ader, vorwiegend in den Mesenterialvenen. In diesem Falle hat die Herzschwäche durch
Verlangsamung der Circulation im Pfortadersysteme gerade hier die Veranlassung zur
Bildung von Thromben gegeben.
* *
Ist schon die früher erwähnte Mchterweiterung der grossen neben
hochgradiger Ausdehnung der kleinen Venen bei angeborener Cyanose kein
constantes Vorkommnis, so gehört gerade das entgegengesetzte Verhalten,
Ausd.ehnung der grossen Venen, zu den Begleiterscheinungen der
332 CYANOSE.
incompensirteii Herzfehler Erwachsener. Entwickelt sich bei diesen
die Stauung in acuter Weise, so kommt es allerdings zunächst zu einer
Blutanhäufung in den Yenencapillaren. Bei länger dauernder Behinderung
des Rückflusses des Blutes jedoch erweitern sich die grösseren Venen und
es kann sogar die Cyanose dadurch in den Hintergrund treten, weil die
ausgedehnten Venen gleichsam als Reservoir für das angestaute Blut
dienen.
Die genaue Berücksichtigung des Verhaltens der ge-
schwellten Venen am Halae ist für die Beurtheilung der Cyanose
hei Klappenfehlern des Herzens, und zwar namentlich bei Klappenfehlern
an den venösen Ostien desselben von grossem Werthe. Sie wirft bei vielen
derselben nicht nur ein Licht auf die Art und den Grad des Klappen-
fehlers selbst, sondern auch auf die Beschaffenheit der zur Compensation
desselben berufenen musculösen Plerzabschnitte.
Bei Fehlern der Tricuspidalis ist es der reciite Vorhof, dem diese Aufgabe der
Compensation zunächst zufällt, bei denen der Mitralis, der linke Vorhof und erst in
zweiter Linie der rechte Ventrikel. Wollen wir uns daher bei einem der genannten Herz-
fehler das Auftreten der Cyanose, als ersten Zeichens gestörter Compensation recht
erklären, so dürfen wir uns nicht allein mit der Constatirung der Art und des Grades
des Herzfehlers begnügen, sondern müssen uns auch über die Muskelbeschaffenheit der
die Compensation besorgenden Herzabschnitte, und hier wieder der in erster Linie dabei
betheiligten Vorhöfe Klarheit zu verschaffen suchen.
Finden wir hochgradig geschwellte Venen am Halse, mit deutlicher
inspiratorischer Ab Schwellung und exspiratorischer An-
schwellung, so müssen wir eine Stauung in den Venen annehmen, bei
welcher jedoch die Lunge ihre Elasticität bewahrt hat und in ihrem vollen
Umfange ausdehnungsfähig geblieben ist. Ebenso können hochgradige Ver-
wachsungen der Pleura, Emphysem, ausgedehnte Bronchiolitiden mit
Schwellung der Schleimhaut oder Verstopfungen der Bronchien durch
katarrhalisches Secret unter solchen Umständen ausgeschlossen werden.
Sind die respiratorischen Venenbewegungen schwach oder fehlen sie, und
zeigen die Venen deutliche pulsatorische Phänomene, welche mit der
Herzcontraction im Zusammenhange stehen, so kann man daraus schliessen.
dass bei vorhandenem Circulationshindemisse die Compensationsthätigkeit
der rechten Kammer und insbesondere die des rechten Vorhofes eine
genügende ist. Sind die respiratorischen Schwankungen in den Venen
deutlich ausgeprägt, demnach die Elasticität der Lunge hinreichend, anderer-
seits die circulatorischen Venenphänomene schwach, so kann die Aufmerk-
samkeit entweder auf eine hochgradige Dilatation des rechten Vorhofes,
eventuell der rechten Kammer, oder Atrophie, respective Verfettung des
Myokardes des rechten Vorhofes, gelenkt werden. Bei der Dfferential-
diagnose kommt nebst dem Verhalten der Venenpulse noch ihre Recipro-
cität zur Contraction der rechten Kammer und zum Verhalten des zweiten
Pulmonaltones in Betracht.
Folgender Gedankengang einer Diagnose auf Atrophie der
Vorhofmu s culatur. welche durch die Section bestätigt wurde, möge
dies beleuchten : Wir finden bei stark geschwellten Venen einen schwachen
Puls derselben, der sich durch den Vergleich mit der Carotis als prä-
systolisch, d. i. negativ erweist. Der Gegensatz zwischen dem schwachen
Pulse und der stark geschwellten Vene legt uns den Gedanken nahe, dass
der Vorhof sein Blut in nicht genügender Weise in den Ventrikel entleert.
Dies kann auf zweierlei Weise veranlasst sein : Entweder besteht eine
Insufficienz des rechten Ventrikels mit Hyperdilatation desselben, so dass
wegen der in diesem eingetretenen Stauung der Vorhof nicht alles Blut
in den Ventrikel befördern kann, oder die Kraft des Vorhofs ist an und
CYANOSE. 333
für sich unter der Korm. Welcher von beiden Umständen vorliegt, darüber
entscheidet die Ausciiltation des zweiten Pulmonaltones. Weist eine vor-
handene Verstärkung des zweiten Pulmonaltones auf eine hinreichende
Arbeitsleistung des rechten Ventrikels hin und bewirkt die Darreichung
der Digitalis trotz Erhöhung der Contractionen des rechten Ventrikels
nicht eine Verstärkung der Venenpulse, so können wir eine Insufficienz
des rechten Ventrikels als Ursache jenes Phänomens ausschliessen und
diagnosticiren eine herabgesetzte Arbeitsleistung des rechten Vorhofes.
Dies kann nun durch Atrophie seiner Musculatur, durch Compression von
Seiten eines pericardialen Exsudates, beziehungsweise entzündliche Mit-
betheiligung der Musculatur hervorgerufen sein. Lassen sich die beiden
letzteren Verhältnisse ausschliessen, dann stellen wir die Diagnose auf
Atrophie des rechten Vorhofes. Diese isolirte Atrophie der Vorhöfe bei
bestehenden Dilatationen und Hypertrophien der Ventrikel ist kein häufiger
Zustand, da es bekannt ist, dass bei Degenerationszuständen des Myokardes
die Vorhöfe in der Regel am spätesten degeneriren und dass sie auch
viel später absterben als die Ventrikel. Werden die Kranzarterien abge-
klemmt, so beobachtet man nach vorausgegangenen frustranen Contractionen
der Ventrikel Stillstand in der Systole, und, obwohl die Kammern sich
nicht mehr contrahiren, pulsiren noch die Vorhöfe. Es geht daraus hervor,
dass die rhythmische Contraction der Vorhofsmusculatur diejenige der
Kammern überdauert, vorausgesetzt, dass die Vorhofsmusculatur in ihrer
Textur intact ist.
Ich wurde einmal als Assistent Bambeeger's in der Nacht von einer Wärterin
gerufen, um bei einem plötzlich verstorbenen Herzkranken den Todtenschein zu unter-
schreiben. Ich hatte diesen Fall einige .Stunden vorher, in der Nachmittagsvisite, als
Atherom der Aorta mit Insufficienz der Klappen vorgestellt. Da der Patient überdies
Stenokardische Erscheinungen darbot, so stellte ich auch die muthmassliche Diagnose auf
Atherom der Kranzarterien. Bei der Todtenbeschau fand ich den Patienten pulslos, todten-
blass, keine Herztöne, also Stillstand der Herzaction. Zu meiner Ueberraschung fand ich
aber pulsatorische Bewegungen an den Halsvenen als Zeichen der bestehenden Contraction
der Vorhöfe. Es folgte dann noch ein Athemzug, darauf verschwanden auch die Venen-
pulse und dann war alles ruhig. Dieser Fall ist die Bestätigung der Thierversuche Cohx-
heim's für den Menschen, nach welchen bei Unterbindung der Kranzarterien die Pulsationen
der Vorhöfe die der Ventrikel um ein Bedeutendes überdauern. Deshalb stellte ich auch
auf Grund der agonalen Erscheinungen im vorerwähnten Falle mit Berücksichtigung der
im Krankheitsverlaufe gewonnenen Anhaltspunkte die Diagnose auf Verschluss der Coro-
nararterien, welche auch bei der Autopsie bestätigt wurde.
Im Gegensatze hiezu beobachtet man aber auch, dass die hypertro-
phischen Ventrikel manchmal ante mortem sehr kräftig pulsiren, während
die muskelschwachen Vorhöfe früher erlahmen und unter Um-
ständen ihre Reactionslosigkeit auf Digitalis früher bekunden, als die
muskelstarken Ventrikel. Dieses Verhalten der Vorhöfe, welches im
Verschwinden der Venenpulse seinen Ausdruck findet, kann unter Umständen
für die jeweilige Prognose schwerer Herzfehler ein wichtiges Zeichen ab-
geben und manchmal, insbesondere in Fällen, wo Digitalis verwendet wurde,
trotz guter Kammercontraction, trotz hinreichender Diurese. trotz lauter
Herztöne und kräftiger Pulse den Tod verkünden, weil jede Herzhälfte
eine Doppelpumpe ist und der Vorhof jeder Seite einen wesentlichen An-
theil an der Arbeitsleistung des Herzens hat.
Positive Venenpulse bedeuten Insufficienz der Tricuspidalklappen
und entstehen dadurch, dass bei der Systole des rechten Ventrikels eine
Blutwelle in die Vena cava zurückgeworfen wird.
Dieser Puls ist für die Tr i c uspidalinsuf f icienz pat h ognomon ischund
hängt sowohl von der Intensität der Systole des rechten Ventrikels als auch von der
Capacität des rechten Vorhofes ab, welcher, wenn er abnorm erweitert ist, die Regurgitation
abschwächen kann. In noch höherem Grade kann die enorme Erweiterung des Vorhofes
und der grossen intrathoracischen Venenstämme bei der Tricuspidalstenose den
334 CYANOSE.
Füllungsgrad und die präsystolischen Venenphänomene beeinflussen. Der Vorhof und die
grossen intrathoracischenVenenstämme können durch hochgradige Dilatation gewissermassen
ein Reservoir für die angestauten Blutmassen bilden und dadurch die Jugularvenen ent-
lasten, d. h. deren Anschwellung vermindern. Von der Kraft der Vorhofssystole wird die
Intensität der negativen präsystolischen Pulse abhängen.
Ist gleichzeitig neben der Tricuspidalstenose auch Insuf-
ficienz vorhanden, so hängt sowohl die Art als auch die Inten-
sität der Venenpulse von derPrävalenz des einen oder des
anderen Klappenfehlers ab.
Dieses Verhalten der Venen am Halse kann für die Diagnose jener mit Tricuspi-
dalinsufficienz complicirten Tricuspidalstenosen verwerthet werden, welche wie bei reiner
Tricuspidalinsufficienz nur ein systolisches und kein diastolisches Geräusch am rechten
unteren Sternalrande zeigen. In solchen Fällen kann das Missverhältnis zwischen dem
langgezogenen systolischen Geräusche an der Auscultationsstelle der Tricuspidalis und
der Schwäche des positiven Jugularvenenpulses für die Diagnose einer Tricuspidal-
stenose neben einer Tricuspidalinsufficienz, daher einer anatomischen Veränderung des
Klappenringes, verwerthet werden. Bei relativer Tricuspidalinsufficienz werden wir selbst-
verständlich dieses Missverhältnis niemals antreffen können.
Neben jener letztgenannten Erscheinung und den Zeichen der Dilatation des rechten
Ventrikels bei relativer Insufficienz entscheidet bisweilen die Digitalis die Diffe-
rentialdiagnose zwischen organischer und functioneller Tricuspidal-
insufficienz. Gelingt es durch Digitalis die Dilatation der Kammer und mit ihr auch
die relative Tricuspidalinsufficienz rückgängig zu machen, so verschwindet auch das sy-
stolische Geräusch und die positiven Venenpulse; wird jedoch ersteres nach Digitalis -
gebrauch lauter und werden letztere deutlicher, so spricht die Thatsache für organische
Veränderung der Klappe.
Positive Venenpulse können auch ohne Tricuspidalinsufficienz
dann zu Stande kommen, wenn beiMitralinsufficienz gleichzeitig-
offenes Foramen ovale besteht, indem bei der Contraction des linken
Ventrikels die Regurgitationswelle aus dem linken Vorhofe in den rechten
und aus diesem sich in die grossen Venen fortpflanzt. Das Fehlen der Ab-
schwächung des zweiten Pulmonaltones und namentlich das Fehlen eines sy-
stolischen Geräusches am rechten unteren Sternalrande unterscheiden diese
complicirte Mitralinsufficienz von der organischen Tricuspidalinsufficienz.
Anders verhält es sich jedoch, wenn eine relative Tricuspidalinsufficienz
in Betracht kommt, bei welcher oft, trotz vorhandener positiver Venenpulse am Halse,
ein systolisches Geräusch fehlt, da das erweiterte Kiappenostium anatomisch intact, also
nicht mit Excrescenzen versehen ist, andererseits die Contractionen des rechten Ventrikels
zu schwach sind, um ein Regurgitationsgeräusch zu erzeugen. In solchen Fällen ist so-
wohl das Verhalten des zweiten Pulmonaltones, der bei Tricuspidalinsufficienz abge-
schwächt ist, sowie der Herzbefund nach Digitalisgebrauch von diagnostischer Bedeutung.
Geht nach Digitalis die Dilatation der rechten Kammer und mit ihr auch die relative
Tricuspidalinsufficienz zurück und verschwinden dabei die positiven Venenpulse, so ist
die Vermuthung eines offenen Foramen ovale aus dem Bereiche des diagnostischen Cal-
culs zu verweisen. Werden jedoch bei diesem therapeutischen Experimente die positiven
Venenpulse deutlicher und tritt trotzdem kein Geräusch an der Auscultationsstelle der
Tricuspidalis auf, so wird die Vermuthung, dass das Foramen ovale offen ist, mehr Wahr-
scheinlichkeit gewinnen.
Bevor wir die Betrachtung der Erscheinungen an den Halsvenen und
ihrer diagnostischen Bedeutung verlassen, wollen wir noch den diasto-
lischen Venencollaps erwähnen, welchen Friedreich bei Ver-
wachsungen de s Herzens und bei schwieliger Mediastinitis
beobachtet hat. Dieser entsteht durch das diastolische Zurückschnellen der
Brustwand nach vorausgegangener systolischer Einziehung.
Diese Einziehung ist höchst selten zu beobachten, weil zu ihrem Zustandekommen
das gleichzeitige Bestehen mehrerer Factoren nothwendig ist, vor Allem eine extraperi-
cardiale Verwachsung des Herzens mit den Thoraxwandungen, eine kräftige Contraction
des Herzens und Nachgiebigkeit des Thorax, Verhältnisse, die man in dioeer Vereinigung
selten vielleicht nur bei Kindern beobachten kann. Auch bei offenem Foramen ovale
kann 'durch plötzliche Entleerung der Halsvenen in den linken Vorhof und in den linken
Ventrikel diastolischer Venencollaps entstehen.
CYANOSE. 335
Für die Diagnose der Tricuspidalinsufficienz wäre noch ein
Phänomen zu erwähnen, welches Popoff erst vor kurzem als ein für letztere
charakteristisches Symptom bezeichnet hat, es ist dies die relative Kleinheit
des Pulses in der rechten Radialis. Die üeberfüllung und Dilatation
des rechten Vorhofes der oberen Hohlvene und der Venae anonyraae kann nach
Popoff einen Druck auf die grossen arteriellen Gefässstämme ausüben. Diesem
Drucke werden die Aorta, die Anonyma und am meisten die von denselben ab-
gehenden Arterien ausgesetzt, und zwar letztere an ihrer Abgangsstelle, während
dieselben in ihrem weiteren Verlaufe noch von Seiten der Vena jugularis interna
einerseits und der Vena subclavia andererseits comprimirt werden. Gerade die
Compression der Arteria subclavia dextia wird sich durch Kleinheit des Pulses
an der rechten Radialis documentiren.
In ähnlicher Weise wie die Kleinheit des Pulses an der rechten Radialis
für die Diagnose der Tricuspidalinsufficienz ist die relative Kleinheit des
Pulses in der linken Radialis nach PoPOFF eine charakteristische Er-
scheinung bei der Mitralstenose, bedingt durch Beeinflussung desjenigen
Theiles des Aortenbogens, aus dem die linke Art. subclavia und Carotis com-
munis entspringen. Besteht dabei gleichzeitige Insufficienz der Tricuspidalklappe,
so werden die Pulse auf beiden Seiten durch beiderseitigen Druck gleich ab-
geschwächt.
Bei dem häufigsten Herzfehler des linken Herzens der Mitral-
insufficienz, sowie der Mitralstenose wird die Compensation zuerst durch
vermehrte Arbeitsleistung und Hypertrophie des linken Vorhofes besorgt. Der
steigende Druck in den Lungenvenen und den Lungenarterien veranlasst in der
Folge Hypertrophie des rechten Ventrikels. So lange der rechte Ventrikel im
Stande ist, die Widerstände zu überwinden, wird Cyanose nicht auftreten, mit
dar beginnenden Entartung seiner Musculatur fangen auch die Compensations-
störungen an.
Da das Verhalten der Venae pulmonales als Anhaltspunkt für die Beur-
theilung der Thätigkeit des linken Vorhofes der Inspection nicht in der Weise
zugänglich ist, wie das der Venae jugulares in Bezug auf den rechten Vorhof
und das ürtheil über seine Contractionskraft nur in den allerseltensten, bespro-
chenen Fällen des offenen Foramen ovale bei bestehenden Mitralfehlern möglich
ist, so ist der Einblick in die jeweiligen Functionen des linken Vorhofes un-
gemein erschwert und stösst auch die Beurtheilung, in welchem Grade derselbe
erweitert oder hypertrophisch ist, in der Mehrzahl der Fälle auf grosse Schwie-
rigkeiten. Eine bestehende Dilatation des linken Vorhofes kann man
mit Wahrscheinlichkeit dort diagnosticiren, wo das systolische Geräusch
bei einer Mitralinsufficienz nicht am lautesten an der Herzspitze, sondern ander
Auscultationsstelle der Pulmo nalis deshalb am lautesten gehört
wird, weil dasselbe durch das erweiterte und der Thoraxwand genäherte linke
Herzohr daselbst direct auf die Thoraxwand fortgepflanzt wird.
In noch höherem Grade wird die Dilatation des linken Vorhofes
bei Stenosen des Mitralostiums auftreten müssen. Auch da wird es von
der Hochgradigkeit der Stenose, sowie von der Muskelbeschaffenheit und Ernäh-
rung des Vorhofes abhängen, ob derselbe dilatirt, hypertroplürt, frühzeitig fettig
degenerirt, oder atrophisch wird. Durch die ausgiebige Contraction eines hyper-
trophischen linken Vorhofes, welche eben am Ende der Kammerdiastole präsy-
stolisch erfolgt, kann bis zu einem gewissen Grade die mangelhafte diastolische
Füllung der linken Kammer ausgeglichen werden, dadurch, dass er durch eine
kräftige präsystolische Contraction das in ihm enthaltene angestaute Blut activ
in die Kammer hineintreibt. Ist unter solchen Verhältnissen das verengerte Mi-
336 CYANOSE.
tralostium rauh, so ist es klar, dass diese kräftigen Contractionen des liaken
Vorhofes sich durch ein lautes präsystolisches Greräusch kundgeben werden.
Das Auftreten und die Intensität des diastolischen Ge-
räusches hängt von der Stromgeschwindigkeit des Blutes bei dem Durchtritte
durch das verengerte Klappenostium, daher von dem jeweiligen Druckunterschiede
zwischen dem kleinen und grossen Kreislaufe resp. zwischen dem linken Vorhofe
und linken Ventrikel ab. Das verengerte Ostinm bildet gleichsam ein zwischen
beide Systeme eingeschaltetes Diaphragma, durch welches das Blut durchgepresst
wird. Es kommen daher bei Entstehung des diastolischen Geräusches die Kraft,
mit welcher der rechte Ventrikel das Blut in die Lungenarterien hineintreibt,
die Elasticität der Wandungen dieser, die Aspirationskraft der Lungen und die
Beschaffenheit der Thoraxmuskeln als druckbefördernde Momente, andererseits die
Aspirationskraft des linken Ventrikels während der Diastole in Betracht. Wenn
nach wiederholten frustranen Herzcontractionen, bei welchen der Ventrikel seinen
Inhalt nur sehr unvollkommen in die Aorta entleert und der Druck in demselben
derart steigt, dass das Blut in geringer Menge und mit minimaler Geschwindig-
keit aus dem Vorhof in den Ventrikel einströmen karn, so wird am Klappen-
ostium kein diastolisches Geräusch entstehen, oder es wird ein solches, wenn
früher vorhanden gewesen, verschwinden. Erfolgt nun nach einer Eeihe derartiger
schwacher Kammercontractionen einmal eine ausgiebige Systole, so tritt nicht
selten in der darauffolgenden Diastole ein langgezogenes Geräusch auf, welches
die Diastole überdauert und die Herzpause ausfüllt. Letzteres ist demgemäss der
Ausdruck des Unterschiedes zwischen dem Druck im vollständig entleerten linken
Ventrikel einerseits und dem während der vorhergegangenen unvollkommenen
Kammercontractionen von angestautem Blute überdehnten linken Vorhofe an-
dererseits.
Ist die Geschwindigkeit des Blutes, das die stenosirte Stelle passirt, genü-
gend gross, um Blutwirbel zu erzeugen, und entsteht dennoch kein Geräusch,
so muss man annehmen, dass das Ostium glatt, ohne Excrescenzen, ist. In solchen
Fällen kann, trotz gleichzeitig bestehender Schlussunfähigkeit der Mitral-
klappe, ein systolisches Geräusch fehlen, wenn der Spalt sehr eng
und die Contraction der schwach gefüllten linken Kammer zu wenig ausgiebig
ist, um ein Regurgitationsgeräusch zu erzeugen.
In anderen Fällen, in welchen der Klappentrichter anatomisch nicht hoch-
gradig verändert ist, daher tonfähig bleibt, hört man am linken Ventrikel
blos einen laut accentuirten, systolischen Ton, dem in der Diastole ein
gespaltener Ton folgt, wodurch ein dem Dactylus ähnlicher Ehythmus der Herz-
töne entsteht. Dieser Dactylusrhythmus ist, nebst Verstärkung des
zweiten Pulmonaltones, manchmal das einzige auscultatorische Phänomen jener
seltenen Formen der Mitralstenose, die ohne Geräusche verlaufen, und bei
welchen nur bei stärkeren körperlichen Bewegungen ein präsystolisches Geräusch
an der Herzspitze auftritt, das gleichsam einen kurzen Vorschlag zu dem nächst-
folgenden Tone bildet. Der laute nnd accentuirte erste Ton wird durch die Zu-
nahme der Differenz der Spannung erklärt, in der sich die Mitralklappe am Ende
der Diastole und zu Beginn der Systole befindet.
Dem entgegen möchte ich glauben, dass dieser als „systolisch" allgemein
erkannte Ton dadurch entsteht, dass unter dem Einflüsse einer kräftigen
Vorhofscontraction die Klappensegel bereits während der Präsystole in tönende
Schwingungen versetzt, auch in der nachfolgenden Kammersystole weiter fort-
tönen. Nach dieser Auffassung wäre demnach der laute erste Mitralton
eigentlich ein präsystolisch -systolisch er Ton und seine Intensität
weniger von der Zunahme der Spannungsdifferenz der Klappen, als vielmehr von der
Energie der Vorhofscontraction abhängig und daher ein Zeichen bestehender
HypertropMe des Vorhofes.
CYANOSE. 337
Oft verschwindet ein früher bestandenes präsystolisches Geräusch deswegen,
weil der rechte Ventrikel die bisherige Compensationsthätigkeit des linken Yorhofes
als muskelkräftigeres Organ vollständig übernimmt. Auch ein zweiter Umstand kann
dieses Verschwinden des präsystolischen Geräusches bewirken. Bei Bett-
ruhe nämlich, wo an das Herz geringe Anforderungen gestellt werden, kann der das
Compensationsgeschäft allein besorgende rechte Ventrikel der Hilfeleistung des linken
Vorhofes entbehren. Demnach wird das präsystolische Geräusch, als Ausdruck der
kräftigen Action des letzteren verschwinden, kann jedoch dadurch wieder hervor-
gerufen werden, dass man die Patienten körperlichen Anstrengungen unterwirft, oder,
dass durch Digitalis das Herz zu kräftigerer Bethätigung gebracht wird.
Wenn jedoch ein präsystolisches Geräusch, welches in einer früheren Periode
der Mitralstenose vorhanden war, mit zunehmender Drucksteigerung im Pulmonal-
system imd Hypertrophie des rechten Herzens schwindet und sich clieses Geräusch
durch die früher erwähnten Proceduren nicht hervorrufen lässt, so ist man berechtigt,
dieses andauernde Verschwinden bei beginnenden Erscheinungen gestörter Compen-
sation durch eine fettige Degeneration des linken Vor ho f es zu erklären
und dahin die Diagnose zu stellen.
Im Anschlüsse an diese Betrachtungen sei noch erwähnt, dass die Unter-
suchungen von Keehx und Komibeeg, sowie His und Fako ein neues Licht in die
Erkenntnis der Thätigkeit und Bedeutung der Vorhöfe zu bringen scheinen,
indem dieselben dem Vorhofe die Rolle eines automatischen Apparates
zutheilen, von welchem der Antrieb zur normalen, rhythmischen Contraction auf den
Ventrikel fortgeleitet wird. Es wird weiteren klinischen Beobachtungen überlassen
bleiben, zu entscheiden, inwieweit die Degeneration der Vorhöfe bei Klappenfehlern
auf die rhythmische Herzthätigkeit einen Einfluss ausübt, insbesondere dort, wo das
Herz mit noch kräftiger, wenig veränderter Kammermusculatur seine Arbeit plötzlich
einstellt.
Für das Zustandekomnieu der Cyanose bei Mitralstenosen ist
ferner nebst dem Grade derselben auch deren rasche Entwicklung massgebend.
Bei Mitralstenosen, welche nicht hochgradig sind und bei w^elchen durch ver-
mehrte Arbeitsleistung des linken Vorhofes und des rechten Ventrikels die
Widerstände derart überAvunden w^urden, dass die Füllung der Aorta und der
Kranzarterien unverändert bleibt, kann die Hypertrophie des rechten
Ventrikels einen hohen Grad erreichen und durch lange Zeit den Klappen-
fehler compensiren. Erst im weiteren Verlaufe, wenn die Leistungsfähigkeit
des hypertrophischen rechten Ventrikels abnimmt, wird eine mangelhafte
Füllung der Aorta sich ergeben, die ihrerseits wieder insofern auf den rechten
V^entrikel zurückwirkt, als derselbe von der Arteria coronaria dextra unge-
nügend ernährt wird und seine Kraft umsomehr herabsinkt. Kur w^nn die
Stenose im vornherein so hochgradig ist und sich so rasch entw'ickelt hat,
dass die Füllung der Kranzarterien schon im Beginn der Erkrankung insuf-
ficient ist, so kann sich eine compensirende Hypertrophie des rechten
Ventrikels überhaupt nicht entwickeln, vorausgesetzt, dass nicht etwa
bestehende oder anomal sich bildende accessorische Gefässe, wie solche z. B.
bei angeborenen Pulmonalstenosen in einzelnen Fällen nachgewiesen worden
sind, auch in diesem Falle vicariirend das Herz mit Blut versehen. Es wäre
Aufgabe der Anatomen, diesen Verhältnissen Aufmerksamkeit zu schenken,
insbesondere w^ären die kleinen Aeste der Kranzarterien, welche zu den Yor-
höfen, zur Aorta und zur Lungenarterie gehen, zu berücksichtigen.
Im Gegensatze zu den Erkrankungen der Mitralklappe, bei welchen durch
Stauung in den Körpervenen Cyanose zu den frühen oder späten S}inptomen
gehört, zeichnen sich die Affectionen der Aortaklappen gerade
durch dasFehlen der Cyanose aus, weil diese Klappenfehler vorwiegend
Bibl. med. Wissenschaften I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. -^^
'338 CYANOSE.
das Arteriensystem betreffen und die Hypertrophie des linken Ventrikels durch
lange Zeit imstande ist, die Compensation zu besorgen. Es ist demnach in
einem gewissen Grade berechtigt, von einer blauen Facies mitralis und einer
blassen Facies aortica zu sprechen. Cyanosen kommen jedoch auch bei In-
sufiicienzen der Aortaklappen vor, sei es durch complicirende Erkrankungen
der Mitralis, sei es durch Vorbauchung des Kammerseptums infolge hoch-
gradiger excentrischer Hypertrophie des linken Ventrikels und daclurch be-
dingte Raumbeschränkung des rechten, sei es durch fettige Degeneration des
Myokards des linken Ventrikels oder schliesslich durch complicirende Erkran-
kungen des Respirationsapparates und der serösen Membranen. Dasselbe gilt
auch von den Aortenstenosen.
Auch bei Erkrankungen der Semilunarklappen der Pulmonal-
arterie ist die Cyanose keineswegs ein constantes Symptom. Bei erworbener
Insufficienz der Pulmonalklappen ohne gleichzeitige Stenose, wie sie in den
allerseltensten Fällen durch Endocarditis bei Gelenksrheumatismus, häufiger
noch als Folge von Traumen, wie Schlag auf die Brust, veranlasst wird, tritt
im Beginne der Affection weniger die Cyanose, als die Dyspnoe in den Vor-
dergrund. Im weiteren Verlaufe entsteht die Cyanose entweder bei beginnen-
der Insufficienz des rechten Ventrikels in derselben Weise wie bei anderen
incompensirten Herzfehlern, oder am häufigsten durch Embolie der Pulmonal-
arterie.
Während bei den angeborenen Stenosen der Pulmonalarterie die
Cyanose, wie früher erwähnt wurde, die Regel bildet, zeigt sie bei den im
Extrauterinleben erworbenen Stenosen ein wenig constantes Auftreten
und ist in der Regel ein tardives Symptom. Nach Constantin Paul ist gerade
das Fehlen der Cyanose und der Oedeme selbst in vorgeschrittenen Stadien
der Krankheit, sowie die Geringfügigkeit der Dyspnoe bei körperlichen An-
strengungen charakteristisch für diese Klappenerkrankung, ebenso wie die
Häufigkeit der Hämoptoen, deren Ursache weniger im Klappenfehler selbst,
als vielmehr in der häufigen Combination mit Tuberculose zu suchen ist. Bei
Klappenring-Stenosen Erwachsener findet man gegen alle Voraussicht, nach
CoNSTANTiN Paul, eine Dilatation der Pulmonalarterie mit Verdünnung der
Wände.
Das Auftreten der Cyanose bei Thrombosen des Herzens hängt von
der Localisation der Thromben und ihren weiteren Schicksalen ab. Thromben,
welche im linken Vorhofe sitzen und das Mitralostium stenosiren, oder rechts-
seitige Herzthromben, welche in die Pulmonalarterie auswandern, werden
selbstverständlich in der Regel mit Cyanose einhergehen. Möglicherweise
kann auch das Auftreten der Cyanose davon abhängen, ob ausgedehnte Thromben
im linken oder rechten Herzohre sich bilden. Im ersteren Falle kann durch
das thrombosirte linke Herzohr das Lumen der Art. pulmonalis, im zweiten
Falle das Lumen der Aorta durch das thrombosirte rechte Herzohr beein-
trächtigt werden und nicht nur zu systolischen Stenosengeräuschen, sondern
auch zur mangelhaften Füllung der entsprechenden Gefässsysteme führen.
Im Gegensatze zu den Fällen, welche mit Dyspnoe und Cyanose einhergehen, gibt es
auch Fälle Yon Herzthrombose ohne Cyanose und ohne Dyspnoe, bei welchen
die Erscheinungen der mangelhaften Füllung des Arteriensystems: frequente, kleine und
unregelmässige ßadialpulse, grosse Blässe und Ohnmachtsantalle sich geltend machen. In
anderen Fällen beherrschen fremdartige Symptome seitens entfernter Organe das klinische
Bild. Es sei hier ein von mir beobachteter Fall erwähnt, wo im Verlaufe eines Magen-
carcinoms Thrombose im linken Herzen, und zwar an einer atheromatösen Mitralklappe
auftrat, welche die auscultatorischen Symptome einer Mitralinsufficienz darbot und zur
tödtlichen Embolie der Arteria fossae Sylvii führte.
Die Cyanose im Verlaufe einer acuten, u 1 c e r ö s e n Endocarditis
ist weniger von dem Grundleiden als von den vielfachen Complicationen, wie
z. B. von der Bildung von Klappenaneurysmen, Aneurysmen des Herzens, von
CYANOSE. 339
der Localisation an den jeweiligen Klappen und ihren Ostien, von dem Grade
der Herzdilatation und mehr oder minder rasch sich entwickelnden Herz-
insufficienz, von der gleichzeitigen Betheiligung des Myokards und Perikards,
sowie schliesslich von der Localisation der Metastasen in anderen Organen,
insbesondere multiplen Embolien der Lungenarterie, bei Affectionen des rechten
Herzens, abhängig. Differentialdiagnostisch ist demnach weder ihr Fehlen
gegenüber der Miliartuberculose, noch ihr Vorhandensein gegenüber dem
Typhus von besonderer Bedeutung. Dasselbe gilt auch von jenen Formen
der Aortitis purulenta, wo die Abscesse, die Aortenintima perforirend, in den
Blutstrom sich ergiessen. Bei diesen Formen der Aortitis sind retrosternale
Schmerzen, Gürtelgefühl am Thorax, Pulsationen der erweiterten Aorta, ins-
besondere paroxysmale Athemnoth mit langgezogener Inspiration und relativ
weniger erschwerter Exspiration, wie bei Aortenaneurysma, beobachtet worden.
Hochgradige Cyanose mit Todesangst, heftigen Palpitationen, in einem
der Fälle sogar mit Convulsionen, habe ich bei zwei Patienten mit Endo-
carditis der Aortaklappen beobachtet. Beide Fälle betrafen junge,
kräftige Bursche, bei welchen im Verlaufe eines acuten Gelenksrheumatismus
sich Endocarditis mit consecutiver Insufficienz der Aortaklappen entwickelt
hatte. Ab und zu im weiteren Verlaufe auftretende Fieberbewegungen deu-
teten darauf hin, dass der endocarditische Process trotz Besserung des All-
gemeinbefindens noch nicht erloschen war. Gleichzeitig nahm die schnellende
Beschaffenheit der Pulse ab, welche härter und kleiner wurden. Das neben
dem diastolischen hörbare systolische Geräusch über der Aorta wurde immer
länger und deutlicher als Zeichen einer progressiv sich entwickelnden Stenose.
Die Kleinheit der Pulse nahm zu und plötzlich, unter stürmisch auftretenden
Erscheinungen von Asphyxie gingen die Patienten durch Verschluss des Aorten-
ostiums zu Grunde. Eine solche productive Endocarditis, welche die anfangs
entstandene Aorten-Insufficienz im weiteren Verlaufe durch Bildung von Ve-
getationen bis zum normalen Verhalten der Arterienpulse corrigirt, ist dem-
nach, wenn sie dabei nicht stillsteht, sondern das Ostium progressiv stenosirt,
ein heimtückisches Leiden, auf dessen ernste Gefahr nebst den unregelmässigen
Fieberbewegungen die übrigen besprochenen Zeichen des Fortbestandes der
Endocarditis hinweisen sollen.
Die Cyanose beiPericarditis hängt vor allem Anderen von der Menge
des Exsudates, von der Ptaschheit seiner Bildung, sowie von dem Zustande
des Herzmuskels und der Klappen ab. Sie entsteht bei grösseren Exsudaten
durch mechanische Behinderung des Blutzuflusses in die Vorhöfe und conse-
cutiv mangelhafter Füllung der Ventrikel. Bei hochgradiger Cyanose kommt
auch die directe Compression der Gefässstämme, insbesondere der oberen
Hohlvene in Betracht, namentlich dann, wenn der Herzbeutel durch einen
rasch entstehenden Erguss plötzlich ausgedehnt wird.
Entsprechend der Menge des Exsudates nimmt auch die für pericardiale Exsudate
charakteristische dreieckige Dämpfung zu.. Doch darf man nicht vergessen, dass die Grösse
der Dämpfung von verschiedenen Factoren abhängig ist. Vor allem wird durch
eine gleichzeitige Pericarditis externa adhaesiva, in Folge Verwachsung der Lamina me-
diastini mit der gegenüberliegenden Pleura costalis, der Herzbeutel an der vorderen
Thoraxwand fixirt und jede auch nur geringe Zunahme des Exsudates wird demnach eine
Eetraction der Ltingenränder und daher Zunahme der Dämpfung bedingen. Gesellt sich
dazu noch eine Dilatation des Herzens durch Theilnahme des Herzmuskels an dem ent-
zündlichen Processe, so wird die Därnj^fung auch bei verhältnismässig geringer Menge des
Exsudates noch grösser erscheinen, und, da letzteres Moment auch allein, ohne Compression
der Vorhöfe, zu Stauungserscheinungen führen kann, so ist es begreiflich, dass die Grösse
der Herzdämpfung, der Grad der Cyanose und der Grad der Arterienleere für die eventuelle
Indication einer I'aracentese des Herzbeutels allein nicht genügen können. In solchen
Fällen ist manchmal das Kleinerwerden und Verschwinden der früher vorhandenen negativen
Venenpulse als ein wichtiges diagnostisches Zeichen der zunehmenden Compression der
Vorhöfe zu betrachten. Zunahme der Dyspnoe und Cyanose in der Pdickenlage durch
stärkere Belastung der Lungen und der in dieser Lage von dem specifisch leichteren peri-
22*
340 CYANOSE.
cardialen Exsudate überlagerten und comprimirten Herzabschnitte führt instinctiv zur Ver-
meidung der Rückenlage und gewöhnlich zur Einnahme einer aufrechten, oder nach vorne
iTnd links gebeugten Stellung, wahrscheinlich, um hauptsächlich die Cava superior und den
rechten Vorhof sowie auch den linken Bronchus dem Drucke zu entziehen. Dies setzt
allerdings eine gewisse Beweglichkeit des Exsudates voraus, welche bei pericardialen Exsu-
daten, die zu partiellen Verwachsungen führen, nicht immer vorhanden ist. — Im Gegen-
satze dazu wird bei dem stets beweglichen, hydropischen Ergüsse ins Pericardium bei
Lagewechsel die Stauung, abhängig von der bald stärkeren, bald schwächeren Compression
der Vorhöfe, immer bald zu-, bald abnehmen und damit werden auch die Dyspnoe, Cyanose
und etwa vorhandene negative Venenpulse in ihrem Auftreten und ihrer Intensität wechseln.
Im Endstadium findet man daher bei hochgradigsten Flüssigkeitsansammlungen im Pericar-
dium die Patienten bei hochgradiger Cyanose, kaum fühlbaren Pulsen und Anfällen hoch-
gradiger Athemnoth eine vornübergebeugte Stellung einnehmen.
Diese erwähnte Stellung, welche die Patienten zur Erleichterung ihrer Beschwerden
einhalten, trifft man jedoch nicht nur bei pericardialen Flüssigkeitsansammlungen, sondern
auch bei Mediastinaltumoren an, wie ein Fall auf der Klinik Bamberger lehrte.
Dieser betraf eine Patientin, welche, ausser dreieckiger Herzdämpfung, dumpfe Herztöne,
ausgesprochene Cyanose und Stauungserscheinungen in den Unterleibsorganen zeigte. Zur
Erleichterung ihrer Dyspnoe kniete sie vor dem Bette iind presste ihren Kopf gegen die
verschränkten, auf dem Bette aufgestützten Arme. In der Tiefe der Fossa jugularis war
eine Resistenz fühlbar, die Bamberger für ein pericardiales Exsudat als „zu hart" erkannte.
Auf Grundlage dieser alleinigen Wahrnehmung stellte er die Diagnose auf Carcinoma
mediastini, welche auch durch die Section bestätigt wurde.
Bei acuten Exanthemen, insbesondere bei Variola und Scarlatina,
kann eine mit auffallender Pulsbeschleunigung auftretende Cyanose unsere
Aufmerksamkeit auf eine bestehende Pericarditis lenken. Das Gleiche gilt für
Pericarditis im Verlaufe einer Pneumonie, insbesondere bei Potatoren.
Cyanose im Verlaufe chronischer Erkrankungen, z. B. Morb.
Brightii, Scrobut, Carcinom ist bei Hinzutritt pericardialer Ergüsse nicht selten.
Die Symptome des Hy droper icardiums, eines bei Morbus Brightii
sowie bei Herzfehlern häufigen Zustandes, sind bereits früher betont worden.
Gleichzeitiges Emphysem kann die Diagnose häufig erscliM^eren. Hat das Hydro-
pericardium einen höheren Grad erreicht, so ist darin die Aufforderung zu
einer unverzüglich einzuleitenden diuretischen Therapie gegeben, welche kein
Mittel der Pharmakopoe unversucht lassen soll. Es sei nämlich erwähnt, dass
die Wirkungsweise der Diuretica individuell ungemein verschieden ist, so dass
man bei einem Individuum, nach fruchtloser Anwendung einer ganzen Keihe
von Diureticis, plötzlich mit einem anderen, versuchsweise dargereichten einen
überraschenden Erfolg erzielt.
Ein nicht geringeres therapeutisches Interesse beanspruchen jene Fälle von exsudativer
Pericarditis, wo die Differentialdiagnose zwischen tuberculöser und rheu-
matischer Pericarditis Schwierigkeiten bereitet, sei es, dass die Pericarditis vor der
articulären Affection erscheint, Fälle, die selten sind, immerhin aber vorkonanien, oder, dass
sich Miliartuberculose vorwiegend im Pericard und in den Gelenken localisirt. In acuten
Fällen entscheiden oft die Erfolge der Salicvlbehandlung, in chronischen mitunter die der
Digitalis. Dass in ähnlichen Fällen ein Herzklappenfehler auch nicht vergessen w^erden
darf, illustrirt folgender Fall : Ein Taglöhner, der nebst Zeichen von Kachexie auch deutlich
ausgesprochene Cyanose der Wangen und Lippen darbot, zeigte bei seiner Aufnahme einen
massig beweglichen Erguss ins Perikard und in beide Pleurasäcke, dumpfe Herztöne,
kleinen Puls und Ascites, gleichzeitig remittirendes Fieber nach vorausgegangenen Geleuks-
schmerzen, gegen die Natr. salicylicum ohne Erfolg angewendet wurde. Die ursprüngliche
Diagnose lautete: Tuberculosis serosarum, musste aber aufgegeben werden, als nach Ge-
brauch der Digitalis, unter colossaler Diurese von A—bl per Tag, die Ergüsse in die se-
rösen Höhlen in der kürzesten Zeit schwanden und, nebst Accentuirung des zweiten Pul-
monaltones, an der Herzspitze ein schwaches systolisches Geräusch hörbar wurde, worauf
die Diagnose: Insufficienz der Mitralis mit Staiiungserscheinungen und Hydrops gestellt
wurde. In solchen Fällen ist die Digitalis ein diagnostisch werthvoUes Reagens, weil die
Ergüsse bei Tuberculosis serosarum entweder gar nicht, oder zum mindesten in nicht so
prompter Weise zur Resorption gelangen können.
Blutergüsse in den Pericardialsack (Haemopericardium),
entstanden durch Rupturen eines Herzaneurysmas, Zerreissung des Herz-
muskels an verfetteten oder nekrotisirten Stellen desselben, durch Verwun-
dungen, durch Ruptur von Aortenaneurysmen, führen unter acuter Cyanose,
CYANOSE. 341
Schmerzen in der Herzgegend, Collaps und Convulsionen zum Tode. Bei pro-
trahirtem Verlaufe ist die Cyanose, neben zunehmender Vergrösserung der
Herzdämpfung infolge Ansammlung des Blutes im Pericardialsacke, für die
Diagnose zu berücksichtigen.
Bei Pneumopericardium, welches bekanntlich durch die ver-
schiedensten Ursachen, insbesondere durch Perforation tuberculöser Cavernen,
bei perforirendem Pyothorax, seltener bei exulcerirendem Carcinom des Oeso-
phagus und Exulceration des Magens in den Herzbeutel auftritt, sind hoch-
gradige Cyanose, mit schmerzhaften Empfindungen in der Herzgegend, Dyspnoe,
Beklemmungsgefühl und Collaps fast constante Erscheinungen. Die charak-
teristischen metallischen Auscultations- und Percussionsphänomene sichern die
Diagnose.
Cyanose ist ein häufiges Symptom von Fettherz, ähnlicherweise wie
bei Klappenfehlern als Ausdruck mangelhafter Triebkraft des Herzens. Sie
kann bei körperlichen Anstrengungen, unter ungewöhnlicher Zunahme der
Pulsfrequenz, und im Verlaufe von febrilen Erkrankungen zunehmen. In
diesen Fällen nimmt die Spannung des Pulses bei zunehmender Frequenz des-
selben ab.
Andererseits gibt es Fälle von Hypertrophie und Dilatation des
Herzens, entweder in Folge von Arteriosklerose oder chronischer Nephritis,
wo im Stadium der Compensationsstörung Cyanose neben Hydrops, sparsamer
Harnsecretion, bei übermässig gespannten Ptadialarterien, als Zeichen abnorm
gesteigerten Aortendruckes sich finden. In solchen Fällen kann die zur Be-
hebung der Beschwerden verabreichte Digitalis die Kranken der Gefahr einer
Hirnblutung aussetzen.
Degenerationen des Myokardes, sowohl primäre als auch die-
jenigen, welche im Anschlüsse an eine vom Perikard übergreifende Ent-
zündung zu Stande kommen und Verwachsungen des Herzens mit dem Herz-
beutel begleiten, führen in solchen Fällen, wo die Circulationsstörung durch
Hypertrophie nicht ausgeglichen ist, zu Cyanose.
Bei dem Symptomencomplexe : Vergrösserung der Herzdämpfung, schwacher Herzstoss,
dumpfe Beschaffenheit und Arhythmie der Herztöne, stellen wir die Diagnose: Entartung
der Herzmusculatur, ohne aber in diesen Symptomen ein sicheres Mass für deii Grad
der anatomischen Veränderungen im Herzen zu besitzen; denn in vielen Fällen sind erstere
sehr deutlich intra vitam ausgesprochen, und die Autopsie ergibt verhältnismässig geringe
Veränderungen im Herzfleische, in anderen treten sie weniger deutlich zu Tage, die fettige
Degeneration aber betrifft das ganze Herz und ist hochgradig, so dass man überall den
Finger in das Herzfleisch eindrücken kann. Unter dem Einflüsse verstärkter Innervations-
impulse kann eben auch ein kranker Muskel noch viel leisten.
Diese mit anatomischen Veränderungen nicht gleichen Schritt haltende Leistungs-
fähigkeit zeigt sich auch in der Reaction des Herzens auf Digitalis. Bei alten,
hydropischen, mit Fettherz behafteten Individuen geht der Hydrops auf Digitalis unter
Steigerung der Diurese nach einigen Tagen zurück, doch auf einmal werden die Kranken,
z. B. bei Aufsetzen im Bette, ohnmächtig und sterben im Collapse durch Herzparalyse.
Andere Patienten, deren Herz viel mehr degenerirt ist, können ungestraft viel
grössere Dosen mit Erfolg gegen die Compensationsstörung vertragen. Derartige entgegen-
gesetzte Erfahrungen erklären die Furcht vor Digitalis bei fettigen Degenerationen auf der
einen, das allzu grosse Vertrauen zu derselben auf der anderen Seite.
Auch die übrigen Erkrankungen des Herzfleisches, welche in theils pri-
mären, theils secundären, im Anschlüsse an Infectionskrankheiten erfolgenden
interstitiellen oder parenchymatösen Entzündungen des Herz-
fleisches bestehen, führen dadurch, dass sie die Herzkraft schwächen, zu
Druckerniedrigung im Aortensystem und damit zu Venenstauung und Cyanose.
Namentlich einzelne Infectionskrankheiten sind es, zu denen sowohl während
ihres febrilen Verlaufes, als auch in der Eeconvalescenz, sich die Zeichen
einer acuten, oder chronischen Affection des Herzens hinzugesellen.
Auf diese Weise entsteht Cyanose im Verlaufe eines acuten Gelenks-
rheumatismus, und zwar nicht nur bei den hyperpyretischen Formen,
342 CYANOSE.
sondern auch bei jenen, bei welchen die Temperaturen niedrig bleiben, aber
schon in den ersten Tagen cerebrale Symptome, Delirien auftreten, die Sali-
cylpräparate wirkungslos bleiben und der Puls unter Zunahme der Herz-
dämpfung frequent, klein und unregelmässig wird. Der Sectionsbefund ergibt
in solchen Fällen die Klappen intact, die Herzhöhlen sehr weit und die Mus-
culatur auffallend brüchig.
Auch bei Diphtherie kommen sowohl im acuten Stadium, als auch
nach Ablauf desselben derartige Degenerationen der Herzmusculatur vor und
werden mit dem plötzlichen Tode im Verlaufe dieser Erkrankung in Zusammen-
hang gebracht. Dasselbe gilt für Scharlach, Dysenterie, exanthematischen
Typhus, und ist namentlich bei letzterem, selbst nach überstandener Erkran-
kung, das Auftreten von Cyanose oft bei geringfügigen Veranlassungen ein
Zeichen der Mitbetheiligung des Herzens.
Die Veränderungen des Herzmuskels bei Ileotyphus äussern sich so-
wohl während des Krankheitsverlaufes,' als auch in der Reconvalescenz durch
die verschiedensten klinischen Zeichen von Herzschwäche wie: Cyanose, Ge-
dunsenheit des Gesichtes, Knöchelödem, Abschwächung des ersten Mitraltones,
unregelmässigen kleinen, beschleunigten Puls und sparsame Diurese, nicht
selten Albuminurie.
Während diese erwähnten Erscheinungen manchmal zu raschem, mitunter plötzlichem
Tode führen, kommt es auf der anderen Seite vor, dass sie wieder rasch und ohne irgend
welche üble Folgen vorübergehen. In den letzteren Fällen dürften sie jedoch kaum
durch eine anatomische Läsion des Herzens bedingt sein, sondern sie könnten auf
Toxin Wirkung zui'ückgeführt werden, wofür die Thatsache spricht, dass im Defervescenz-
stadium reichliche Ausscheidung von Diaminen im Urine stattfindet. Die Untersuchung
des Urines auf den Gehalt an Ptomai'nen (Diaminen) gibt uns Aufklärungen über den ein-
zelnen Fall, und zwar ist gerade das Felden der durch die Benzoylchloridreaction nach-
weisbaren Diamine ein Anhaltspunkt für die Annahme der Ptetention dieser Substanzen und
für die Möglichkeit einer cumulativen Wirkung derselben.
Die richtige Auffassung dieser bedrohlichen Symptome bewahrt den Arzt,
der sein Urtheil nicht blos auf seine individuellen statistischen Erfahrungen
stützt, vor einer bald optimistischen, bald pessimistischen Prognose. Anderer-
seits wird sie auch sein therapeutisches Handeln auf den richtigen Weg
lenken, das sich bei der Annahme einer durch Retention von Ptomai'nen
bedingten Störung die Elimination derselben auf dem Wege der Harn-
und Schweisssecretion (lauwarme Bäder), im zweiten Falle, bei der Annahme
einer anatomischen Veränderung des Herzens, die Kräftigung
der Herzthätigkeit zur Aufgabe machen muss. In solchen Fällen, wo im
Verlaufe des Typhus Cyanose, Dyspnoe nebst grosser Um^ihe, Delirien, kleinem,
um^egelmässigem Pulse auftritt, wird an den Arzt die Frage herantreten, ob
zur Linderung der Erscheinungen nicht etwa Opium angezeigt wäre. Traube
warnte überhaupt vor Gebrauch des Opiums in Fällen von Dyspnoe bei
gleichzeitiger Cyanose behufs Linderung der Athemnoth und gestattete dessen
Anwendung nur bei Dyspnoe anämischer Individuen. Diese Vorsicht hat ins-
besondere bei Pneumonie volle Berechtigung. Für Typhus möchte ich Aus-
nahmen von dieser Piegel gelten lassen, da ich Fälle von schwerem Typhus
gesehen habe bei jungen, jweiblichen, sonst gesunden, nicht anämischen Indi-
viduen, wo das Auftreten" von Unruhe und Cyanose, bei ausgebreitetem Bron-
chialkatarrh und schwachem, kleinen, beschleunigten Pulse nach kleinen Dosen
von Opium, ebenso wie die übrigen Symptome, auf das günstigste beeinflusst
wurden.
Bisweilen sind es ganz bestimmte Anzeichen im physikalischen Herzbefunde und an
den Pulsen, welche drohende Herzschwäche verkündigen. Hierher gehören nebst
Schwächerwerden imd Verschwinden des Spitzenstosses die Abschwächung des ersten Tones,
manchmal das Auftreten eines systolischen Geräusches über der Herspitze und schliesslich
ein als Embryokardie bezeichneter Rhythmus der Herztöne.
Während bei einfacher, sei es paroxysmaler, oder basedowischer Tachykardie sowohl
die Differenz, welche in der Stärke und im Accent zwischen dem ersten und zweiten Herzton
CYANOSE. 343
besteht, als auch das Verhältnis zwischen der kleinen und grossen Herzpause proportional
der Beschleunigung erhalten bleibt, charakterisirt sich die von Huchard beschriebene Ein-
hryokardie nebst Tachykardie durch Gleichheit des ersten und zweiten Herztones in Stärke
und Accent, sowie durch zeitliche Gleichheit der Intervalle. Daraus resultirt ein Rhyth-
mus, wie er am fötalen Herzen vorkommt. Nach Huchard ist die Embryokardie iii erster
Liniq ein Zeichen herabgesetzten Blutdruckes im Aortensystem, dessen klinischer Ausdruck
die Abschwächung des zweiten Aortentones ist, als Resultat der schwachen Herzsystole und
des verminderten Tones in den Arterien. Die schwache Herzsystole erklärt auch die Ab-
schwächung des ersten Tones. Gleichzeitig mit dem Symptome der Embryokardie beobachtet
man livide Cyanose des Gesichtes und der Extremitäten, Sinken der Diurese, Abnahme der
Hauttemperatur bei Steigei-ung der centralen Temperatur. Das Auftreten des embryonalen
Herzrhythmus, z. B. im Verlaufe eines Typhus, berechtigt jedesmal zur ernsten Prognose
und ist, wenn es mehrere Tage ohne Aenderung neben den genannten Symptomen des
Collapses andauert, ein präagonales Symptom.
Periodische Irregularitäten des Pulses ohne Pulsbeschleunigung kommen nach Noth-
nagel auch in solchen Fällen von Typhus vor, welche zur Genesung führen, während ein
ausgesprochen unregelmässiger, andauernd beschleunigter und kleiner Puls prognostisch
absolut ungünstig ist.
Cyanoseii werden ferner auch bei den seltenen Erkrankungen des Her-
zens beobachtet, wie bei Amyloiddegeneration, Herzabscess und
schliesslich bei Herztunioren: Carcinomen, Sarkomen, Tuberkeln, Syphi-
lomen, sowie Parasiten wie Cysticerken und Echinococcen.
Die Erscheinungen hängen sowohl von der Localisation der After-
masse, als auch von den begleitenden Krankheiten ab, und zeichnet sich die
ganze Reihe dieser Krankheiten noch dadurch aus, dass sie bei den Sectionen
als überraschender Befund angetroffen werden, da die Diagnose auf andere
seltene oder häufige Affectionen des Herzens und seines Klappenapparates
lautete. Manche Abweichungen von den klinischen Erscheinungen, über die
man sich vorher keine Rechenschaft zu geben vermochte, finden erst dann
ihre Erklärung, wie in dem Falle von Litten, wo intra vitam Erscheinungen
von Insufficienz und Stenose der Pulmonalklappen vorlagen, während dennoch
neben dem systolischen Schwirren häufig reine Töne über der Pulmonalarterie
hörbar waren, und die Section einen den Hauptast der A. pulmonalis nicht
vollständig obturirenden Echinococcus ergab.
Auch mir steht ein Seitenstück zu jenem Falle zur Verfügung: Ein 43jähriger Schuh-
macher wurde mit Oedem der Extremitäten, linksseitiger Hemiplegie, Dyspnoe und massiger
Cyanose bei afebrilem Verlaufe, ohne Hämoptoe, auf eine Abtheilung des Rudolfspitales
gebracht. Die Herzdämpfung verbreitert, über der Pulmonalis ein sehr scharfes systolisches
Geräusch ohne deutliche diastolische Töne. Radialis massig atheromatös, Puls relativ klein,
von massiger Spannung. Pulsation des rechten Ventrikels vorhanden. Singultus, Icterus,
später Decubitus ad sacrum, der hemiplegischen Körperhälfte entsprechend. Nach circa
dreiwöchentlichem Krankenlager Tod unter Cyanose und Dyspnoe. Mein College Prim.
Mader stellte die Diagnose auf Stenose dei- Pulmonalis insbesondere mit Rücksicht auf das
laute, scharfe systolische Geräusch an der Auscultationsstelle derselben. Die Section ergab
nebst zerstreuten Miliartuberkeln der Lunge und pericardialer Verwachsung: ausgebreitete
tuberculöse Infiltration der vorderen oberen Wand des rechten Ventrikels mit Schwielen-
bildung und Verengerung des Conus artei'iosus dexter, massige Hypertrophie des rechten
Ventrikels bei unverändertem Klappenapparate, Embolie der rechten Art. fossae Sylvii.
Wiewohl ein zweiter Pulmonalton nicht hörbar war, und das Geräusch am lautesten über
der Pulmonalis gehört wurde, so verleitete mich dennoch die rasch entstandene Hemiplegie,
die ich als Embolie der Arteria fossae Sylvii richtig auffasste, zur falschen Diagnose einer
atypischen Mitralinsufficienz mit der maximalen Intensität des Geräusches über der Pul-
monalis im NAUNYN'schen Sinne.
Cyanose als Symptom der Arteriosklerose ist in ihrem Auftreten
davon abhängig, ob das die verminderte Leistung der Arterien compensirende
Herz hypertrophirt und wie lange es in diesem Zustande leistungsfähig bleibt.
Ausserdem hängt ihr Auftreten von der Vielgestaltigkeit und von der Locali-
sation des arteriosklerotischen Processes in verschiedenen Organen ab, wobei
hinsichtlich der Localisation im Respirationsapparate die Arteriae intercostales
und bronchiales, hinsichtlich der im Herzen beide Kranzarterien in Betracht
kommen. Auch ist die Localisation der Atherose in den Nierenarterien wegen
ihrer Rückwirkung auf die Circulationsorgane nicht zu unterschätzen. In
344 CYANOSE.
vielen Fällen mag sowohl darauf, als auch auf den Grad und die Form der
Arterienerkrankung in verschiedenen Gefässbezirken auch das ursächliche
Moment von Einfluss sein. So z. B. bilden die Gehirnarterien für Syphilis,
die Merenarterien für die Bleiintoxication, die Lebergefässe für den Alko-
holismus einen Locus minoris resistentiae.
Aus diesen Gründen und speciell mit Rücksicht auf unser Thema erscheint
mir das isohrte Atherom der absteigenden Aorta einer kurzen Besprechung
würdig.
Wenn man bedenkt, dass von der absteigenden Brustaorta zahlreiche Aeste
abgehen, sowohl die Arteriae bronchiales posteriores, Arteriae oesophageae, media-
stinicae, und insbesondere die Art. intercostales, welche sowohl die Rippen, als die
Rippenmuskeln versorgen, so ist es klar, dass ein ausgebreitetes Atherom des
Haupt stamm es, mit Verengerung der Ausmündungsstellen dieser kleineren Aeste,
eine mangelhafte Blutversorgung der zu diesen gehörigen Gebiete zur Folge haben
wird, und dass demnach das Atherom der Aorta bei bestehendem Emphysem mit
starrer Dilatation des Thorax (vielleicht entstanden durch Ernährungsstörungen in
den Rippen und in den Muskeln) als ätiologisches Moment in Betracht kommt.
Das Atherom der Arterien kann sich ungleich massig verbreiten.
Man sieht nicht selten, dass hochgradige Veränderungen an den Arterien des einen
Organes nicht immer von gleich starken eines anderen begleitet sind. Man beob-
achtet manchmal hochgradige allgemeine Atherose, sowohl der ganzen Aorta, als
auch der Arterien der Extremitäten bei intacten Kranzarterien und umgekehrt.
Andererseits kommt hochgradige Atherose der Aorta bei geringen Veränderungen
in den Extremitätenarterien vor. Auch finden wir nicht selten ein isohrtes Atherom
der aufsteigenden Aorta, welches sich klinisch durch eine Dämpfung über dem
Manubrium sterni, der erweiterten Aorta entsprechend, deutliche Pulsation im Jugulum
und klingenden zweiten Ton an der Auscultationsstelle der Aorta kundgibt, letzteres
in Folge der guten Resonanz in der erweiterten und anatomisch veränderten Aorta.
Greift der atheromatöse Process auf die Klappen über, so findet man nicht selten
in solchen Fällen, wo nur eine Klappe durch die Arteriosklerose verkürzt wurde,
nebst dem zweiten klingenden Ton ein demselben anhängendes diastohsches Geräusch,
als Zeichen der incompleten Insufficienz. Man macht dann die interessante Beob-
achtung, dass, wenn auch über der Auscultationsstelle der Aorta das diastohsche
Geräusch noch so laut ist und den zweiten Ton verdeckt, in der rechten Carotis
nur der rudimentäre zweite Ton, nicht aber das Geräusch hörbar ist. Es erklärt
sich dieses Verhalten dadurch, dass musikalische periodische Schwingungen in guten
Leitern sich auf grössere Distanzen fortpflanzen, als unregelmässige, Geräusche
bildende Schwingungen. So kommt es, dass musikalische Geräusche über der Aorta,
welche durch Klappenrisse entstehen, sich auf weite Entfernungen, mitunter sogar
in die Arteriae brachiales und in die Cruralarterien fortpflanzen, während noch so
laute, nicht musikahsche Geräusche über der Aorta nur bei besonderer Intensität
in den Carotiden hörbar sind, derart, dass das Fehlen des zweiten Aorteutones in
den Carotiden als ein semiotisches Zeichen für Aorteninsufficienz aufgestellt wurde.
Da aber nach dem vorhin Gesagten auch bei bestehendem Regurgitationsgeräusch
ein rudimentärer zweiter Aortenton bestehen und dieser nur in die Carotis sich fort-
pflanzen kann, so darf das Vorhandensein des zweiten Tones in der Carotis in jenen
zweifelhaften Fällen, wo die Diagnos« zwischen Aorten- und Pulmonalinsufficienz
schwankt, zur unbedingten Ausschhessung der Aorteninsufficienz nicht benutzt werden.
Die Distanz, bis zu welcher sich die an der Aorta entstandenen Geräusche oder
Töne fortpflanzen, hängt aber nicht nur von dem musiliahschen Charakter und der
Intensität dieser selbst, sondern auch von der Resonanz des schallleitenden Arterien-
rohres ab. Ist der Truncus anonymus und die rechte Carotis atheromatös, so wird
CYANOSE. 345
man bei bestehendem Atherom des Anfangstheiles der Aorta den zweiten klingenden
Ton in den afficirten Gefässen ebenso gut, wie über der Aorta, jedenfalls aber
lauter hören, wie in der verschont gebliebenen linlcen Carotis, und ebenso kann
bei vorwiegender Localisation des Atheroms in der linlten Carotis, die klingende
Beschaffenheit des zweiten Tones deutlicher in diesem Gefässe als in der rechten
Carotis werden, ein Befund, der im Vereine mit einer tastbaren Verhärtung der
linken Carotis auf eine gleiche Läsion der linken Art. fossae Sylvii hinweisen
und daher prämonitorische Bedeutung haben kann. Verbreitet sich das Atherom der
Brustaorta über einen grossen Theil derselben bis in die Bauchaorta hinein, so wird
auch der diastolische Ton hinten am Thorax, dem Laufe der Aorta entsprechend,
weit vernehmbar sein,' und kann sich eventuell bei Atherom der Bauchaorta auch
über dieser erhalten, wie ich einen solchen Fall gesehen habe, der sow^ohl wegen
dieser Erscheinung, als auch wegen Schmerzhaftigkeit des stark pulsirenden Gefässes
zur falschen Diagnose eines Aneurysma der Bauchaorta verleitete.
Ich habe im Vorangeführten diesen Verhältnissen deshalb mehr Raum gegeben,
weil dem Atherom der Aorta descendens und insbesondere dem der von ihr ab-
gehenden Aeste bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, und doch zwingen
mich einige Beobachtungen, sowohl am Krankenbette, als auch am Secirtische, zur
Annahme eines Causalnexus zwischen Arteriosklerose der Brouchial-
und Intercost alart erien und den emphysematösen, respective atro-
phischen Zuständen der Lunge und des Brustkorbes.
Was nun die Bedeutung der Arterioskle rose für das Herz anlangt,
so hängt die Arbeitsleistung des Herzens davon ab, ob die das Herz ernährenden
Coronararterien vom atheromatösen Processe verschont bleiben, oder frühzeitig von
demselben ergriffen werden. Im letzteren Falle wird die compensatorische Hyper-
trophie des Herzens trotz der durch Atherose der Körperarterien bedingten Ver-
mehrung der peripheren Widerstände aufgehalten, so entwickelt sich vielmelu: allge-
meine Entartung des Herzmuskels, oder partielle Myomalacie durch Verlegung von
Aesten der Kranzarterien mit ihren Folgen, wie Aneurysmen des Herzens, Herzzer-
reissung und Schwielenbildung. In allen diesen Fällen kann ein klinisch wohl charak-
terisirtes Symptomenbild den Krankheitsverlauf vollkommen beherrschen: die soge-
nannte Stenokardie (Angina pectoris), ein paroxysmal auftretender, unter demSternum
von der Herzgegend ausgehender heftiger Schmerz, welcher sehr häufig in den linken
Arm, viel seltener anderswohin ausstrahlt und mit Vernichtungsgefühl verbunden ist.
Die Respiration während eines stenokardischen Anfalles ist nicht be-
hindert, in den meisten Fällen trotz des vorhandenen Schmerzes nicht oder nur dem
Schmerzreflexe entsprechend beschleunigt und unregelmässig, im Gegensatze zum
Asthma cardiacum, bei welchem subjective und objective, schmerzlose Dyspnoe das
Krankheitsbild charakterisirt und sowohl Cyanose als auch Stauungserscheinungeu in
den Lungen nachweisbar sind. Bei Stenokardie finden wir in der Regel negativen
Lungenbefund, am Herzen entweder hochgradig verlangsamte Herzaction, manchmal
mit Verschwinden des ersten Mitraltones oder hochgradig beschleunigte, oder un-
regelmässige Herzthätigkeit. Der zweite Ton über der Aorta ist entweder klingend
oder bei gleichzeitig bestehender Aorteninsufficienz mit einem diastolischen Geräusch
abschliessend oder durch dieses ersetzt. Während eines stenokardischen Anfalles
ist das Gesicht in der Regel blass, verfallen, von kaltem Schweisse bedeckt, und
nicht selten contrastirt die Blässe der Haut mit der Cyanose der Lippen, anderer-
seits der kleine Puls mit der turbulenten Herzthätigkeit in jenen Fällen, wo das
Herz nicht verwachsen oder fettig degenerirt, oder durch Pericardialergüsse von der
Thoraxwand entfernt ist. Die Diagnose der Stenokardie kann manchmal sehr leicht,
manchmal sehr schwer sein. Insbesondere bereiten Combinationeu der Angina pectoris
mit Asthma cardiacum diagnostische Schwierigkeiten.
Gegenüber den Formen der Angina pectoris bei chronischer Tabak-
vergiftung sowie bei Herzneurasthenien und Angina pectoris vaso-
motoria ist im ersten Falle der anamnestisch erhobene Tabaksmissbrauch und die
346 CYANOSE.
bei Nicotinismus vorkommenden Defecte des Fai'bengesichtsfeldes, im zweiten das
Vorhandensein anderweitiger ueurastlieuisclier Zustände, die Seltenheit der Anfälle
während der Xacht und manchmal Motilitätsstörungen am linlieu Arme, falls der
Schmerz in dieselben irradiirt (Rosenbach), und schliesslich die Hyperästhesie der
Haut in dem Irradiationsbezirk (Nothnagel), Erscheinungen, welche bei echter An-
gina pectoris nicht vorkommen, für die Diagnose zu berücksichtigen.
Ich möchte noch auf gewisse Fälle von ausstrahlenden retrosternalen Schmerzen
aufmerksam machen, welche nicht selten im Yerlaufe eines klinisch nachweisbaren
Atheroms der Aorta auftreten und fälschlich prognostisch als ernste Fälle von Steno-
kardie gedeutet werden. Man beobachtet nicht selten bei Individuen, welche eine
Hypertrophie des linken Yentrikels mit Zeichen allgemeiner Afherose und klingenden
zweiten Aortenton zeigen, bei körperlichen Bewegungen, Dyspnoe und Schmerzen
unter dem Sternum, welche manchmal in beide oberen Extremitäten, manchmal gegen
den Hals und Kopf ausstrahlen und bei Ruhe wieder verschwinden. In einiger Zeit
entwickelt sich dann eine Insufficienz der Aortaklappen. Ich möchte diese Schmerzen
auf eine das Atherom der Aorta begleitende Affection der Adventitia der Aorta zu-
rückführen (Periaortitis) und das Auftreten der Schmerzen bei körperlichen Be-
wegungen durch die Dehnung des Gefässes infolge der vermehrten Blutfüllung er-
klären. In Fällen, wo der atheromatöse Process nicht ausgebreitet ist und sich nicht
durch einen klingenden zweiten Aortenton kundgibt, können derartige bei Bewegungen
auftretende, ausstrahlende Schmerzen einerseits als stenokardische Anfälle, andererseits
als Rheumatismus der Brustmuskeln gedeutet werden. Differentialdiagnostisch dürfte
nicht unwichtig sein, dass ein bestehendes Atherom der Kranzarterien die Gresammt-
ernährung herabsetzt, in der Regel zum vorzeitigen Marasmus führt, und dass daher
dieser Umstand insbesondere dann in die Wagschale fällt, wenn wir es mit einer
Angina pectoris zu thun haben, welche bei arthritischen, plethorischen Individuen
ohne eine Erkrankung der Coronararterien auftritt und entweder als Reflexstenokardie
z. B. vom Magen aus, oder durch uratisch-entzündliche Reizung des Plexus cardiacus
oder der Herzganglien bedingt ist.
Dem gegenüber muss betont werden, dass die arthritisch-ur atische
Diathese beim Entstehen der Arteriosklerose eine ätiologische Rolle spielt. Die
bei arthritischer Diathese fast constant vorkommende Leukocytose als Ausdruck der
Ueberernährung kann bei Verlangsamung der Blutströmung, infolge der bestehenden
Plethora ad vasa, zum Eindringen der Leukocyten in die Innenwand der Arterien
führen und dadurch pathologische Proliferationsprocesse in derselben anregen. An-
dererseits ist es aber auch möglich, dass die Zerfallsproducte der nucleinhältigen
Fleischnahrung, seien die Harnsäure oder Xanthinbasen oder giftige Ptomaine, bei
mangelhafter 0-Zufuhr die Gefässv/ände unter Drucksteigerung reizen und bei längerer
Wirkung anatomisch schädigen, ebenso wie dies bei anderen Giften z. B. von Blei,
Ergotin etc., bekannt ist. In dem Umstände, dass bei herbivoren Thieren der
atheromatöse Process sehr selten ist, liegt ein therapeutischer Wink sowohl zur
Verhütung der Arteriosklerose bei disponirteu Individuen vom Standpunlvte der
Prophylaxis, als auch zur Bekämpfung der bei schon bestehender Atherose auf-
tretenden Beschwerden, somit auch gegen Angina pectoris. (Vegetarianismus, Linde-
wiese.) Schliesslich darf nicht übersehen werden, dass die Disposition zu Gefäss-
erkrankungen sich vererben ICann in der Form, dass vorzeitige Arteriosklerose in der
Descendenz ein Erbstück der Syphilis in der Ascendenz sein kann. Dadurch mag
die günstige Beeinflussung gewisser Fälle durch Jodkali ihre Erklärung linden.
*
Wie bei den schmerzhaften Herzneurosen, so ist auch bei paroxys-
maler Tachykardie, welche sich nebst Angstgefühl durch Brechreiz,
profuse Schweisse während des Anfalles und durch colossale Pulsbeschleunigung,
bis 180 Pulsschläge in der Minute, auszeichnet, die Cyanose nur ein variables
Symptom. Diese paroxysmale Tachykardie, bei welcher nicht selten Verbrei-
terung der Herzdämpfung während des Anfalles nachweisbar ist, kommt sowohl
CYANOSE. 347
bei myokarditisclien Veränderungen des Herzens, als auch als rein nervöses
Leiden vor und kann auch in letzteren Fällen während des Anfalles Cyanose
nebst Schwellung- der Jugularvenen auftreten, insbesondere wenn der Puls
weich und klein ist und in einem grellen Widerspruche zur Herzcontraction
steht, weil sich die Herzhöhlen in nur unvollkommener Weise entleeren und
eine geringe Menge Blutes in das Arteriensysteni hineintreiben. Die Unter-
suchung des Kranken nach dem Anfalle ergibt bei reiner nervöser Tachykardie
normalen Herzbefund, bei myokarditischer Tachykardie objective Erscheinungen,
welche auf eine organische Erkrankung des Herzens hinweisen. Auch bei
nervösem Herzklopfen, bei welchem nicht das Symptom der Tachykardie in
den Vordergrund tritt, sondern das subjective Gefühl des Herzklopfens bei
schwacher und unregelmässiger, allerdings frequenter Herzaction, können leichte
cyanotische Erscheinungen, Kühle der Hände und Füsse, sowie Ohnmachts-
anfälle auftreten. Dasselbe gilt für Morbus Basedowii, wo ebenfalls nebst
wechselndem Erröthen Cyanose des Gesichtes beobachtet wurde.
Da dem Gesagten zufolge Cyanose bei den Herzneurosen, von der einfachsten
bis zu der vollausgebildeten Angina pectoris in der Reihe der Symptome eine n u r u n t e r-
geordnete Bedeutung hat und in keinem innigen Zusammenhange mit den übrigen
Erscheinungen steht, so sind wir, wenn sie im hohen Grrade auftritt, eher geneigt, entweder
die Annahme einer Herzneurose ganz fallen zu lassen, oder an eine Complication derselben
mit einer anderen Affection zu denken, in erster Linie bei einem stenokardischen Anfalle
an ein gleichzeitig bestehendes Aneurysma der Aorta.
Die Cyanose bei Aneurysmen ist ein Compressionssymptom und daher
von der Grösse und dem Sitze desselben abhängig. Bei Compression des
rechten Vorhofes und der Hohlvenen entstehen die intensivsten Cyanosen,
welche namentlich bei Perforationen der Aneurysmen in die genannten Venen
nebst ausgedehnten Pulsationen der betreffenden Venenabschnitte ausserordent-
lich hohe Grade erreichen können. Auch in Fällen, wo die Arteria pulmonalis
dem Drucke von Aneurysmen ausgesetzt wird, und consecutive Hypertrophie
des rechten Ventrikels sich entwickelt, wird Cyanose nebst Dyspnoe im kli-
nischen Bilde eine Rolle spielen. In gleicher Weise wirkt die Compression
der Aorta und bei grossen Aneurysmen auch die seltene Compression der
Lungenvenen. Die Compression der Trachea und der Bronchien führt zu Cya-
nose durch insuöiciente Lungen- und Blutventilation, die manchmal von ver-
schiedenen Lagen und Stellungen, sowie dem Füllungszustande des Aneu-
rysmasackes abhängig ist. Schliesslich ist diese Cyanose in der Endphase der Aneu-
rysmen durch die insufficiente Herzthätigkeit, wie bei anderen Erkrankungen
des Herzens, hinlänglich erklärt, wobei zu betonen ist, dass Hypertrophie des
rechten Ventrikels bei Aortenaneurysmen ein verhältnismässig häutiger Befund
ist ; Hypertrophie des linken Ventrikels ist, wenn sie vorkommt, nicht so sehr
auf das Aneurysma selbst, sondern auf die demselben zu Grunde liegende aus-
gebreitete Arteriosklerose zurückzuführen. Die Hypertrophie des rechten Ven-
trikels ist in der Regel vorhanden, wenn die Pulmonalarterien einen be-
deutenden Druck von Seiten des Aneurysmas erleiden, und sie kann bisweilen
für die Ausschliessung eines Aneurysmas der Pulmonalarterie eine differential-
diagnostische Bedeutung erlangen.
In manchen Fällen wird eine HyiJertrophie des Herzens durch Aneurysmen
der absteigenden Brustaorta vorgetäuscht, indem sich die retrocardialen
Pulsationen derselben dem Herzen mittheilen. Ist gleichzeitig eine vergrösserte Herz-
dämpfung percutorisch nachweisbar und besteht ein systolisches Geräusch über der
Herzspitze, so liegt die Verwechslung mit einer Mitralinsul'ficienz nahe. In einem
solchen Falle sollen eventuelle neuralgische Rückenschmerzen, welche bei Bewegungen
des Stammes sich steigern, Retardation des Cvuralpulses, bestehender Collateralkreis-
348 CYANOSE.
lauf an der vorderen Brustwand in Folge Compression der Vena azygos und hemi-
azygos, Dysphagie, insbesondere bei horizontaler Eückenlage, unsere Aufmerksamkeit
auf das Bestehen dieses in der Mehrzahl der Fälle nicht diagnosticirbareu Leidens
leulven.
Aneurysmen der Arteria pulmonalis sind ungemein selten; sie ent-
stehen sowohl in Folge des atheromatösen Proeesses in derselben, als auch bei hoch-
gradigen Mitralstenosen, in Folge des gesteigerten Druckes im Pulmonalarteriensystem.
Bei einer Pulsation im zweiten linken Intercostakaum mit entsprechender Dämpfung
und dem auf eine Affectiou der Pulmonalklappen hinweisenden fehlenden zweiten
Tone, respective diastolischen Geräusche muss insbesondere bei gleichzeitiger Mitral-
stenose die Möghchkeit eines Aneurysmas der Puhnonalarterie erw^ogen werden. Diese
Erwägungen schliessen sich an den von Skoda beobachteten Fall von Aneurysma
der Pulmonalarterie an, welches sich intra vitam unter der Maske einer
Mitralinsufficienz präsentirte. Verbreiterte Herzdämpfung, systolisches Geräusch
im linken Ventrikel, welches sich gegen den rechten Ventrikel und gegen die Herz-
basis fortpflanzte, schwacher Herzstoss, verminderte Diurese, Hydrops. Die Pulmonal-
töne kaum angedeutet, Dyspnoe und bedeutende Cyanose. Gerade die letzte Symp-
tomentrias, die dem Bilde einer typischen Mitralinsufficienz nicht entspricht, ins-
besondere aber hochgradige Cyanose bei kaum hörbaren Pulmonaltönen soll den Arzt
bei den sonstigen Symptomen einer Mitralinsufficienz und ausgeschlossener Erkrankung
der Tricuspidalklappeu (die eventuell auch die abgeschwächten Pulmonaltöne erklären
könnte), an ein Aneurysma der Pulmonalarterie gemahnen.
Die Diagnose der Aneurysmen unterliegt nach alldem den erheblichsten
Schwierigkeiten dann, wenn dieselben, m der Brusthöhle verborgen, sich den Wänden des
Thorax nicht nähern und daher dem palpatorischen und percutorischen Xachweise ent-
zogen bleiben. Xoch dunkler und unbestimmter wh'd das Bild, wenn sich zu den übrigen
Erscheinungen andere, namentlich Compressionssymptome hinzugesellen, welche einer
richtigen Deutung womöglich noch weniger zugänglich sind. So können die Aneurysmen
durch Compression des Vagus, des Plu-enicus, des Larjiigeus recurrens und des Sympa-
thicus Erscheinungen hervorrufen, welche geeignet sind, die Diagnose in ganz falsche
Bahnen zu lenken und es begreiflich machen, dass Verwechslungen mit Asthma nervosum,
mit Asthmaparoxysmen der Emphysematiker, mit Zwerchfellskrampf und sogar mit
Hysterie bereits vorgekommen sind. Für solche Fälle darf man nicht vergessen, dass die
Asthmaparoxysmen mit Ausschluss der die Respii-ationswege stenosirenden Formen,
welche im Vorhergehenden bereits berücksichtigt worden sind, dem Typus des Asthma
cardiacum angehören, daher inspiratorische und exspiratorische Dyspnoe zeigen, mit
zäher, schaumiger, zellenreicher und nicht selten Pigmentzellen enthaltender, reich-
licher Expectoration einhergehen {Asthma humidum), weder Tiefstand des Zwerch-
fells noch Einziehungen der lutercostalräume hervorrufen, wobei die Dyspnoe den
Anfall überdauert und bei körperlichen Anstrengungen wieder auftritt.
Bei Asthma nervosum kommt dem nervösen Elemente eine gewisse Unabhängig-
keit von der Intensität des Katarrhs zu, der Thorax ist inspiratorisch unbeweglich und
das vesiculäre Athemgeräusch ist abgeschwächt oder fehlend, während bei einem Herz-
kranken und bei einem Aneurysmatiker die Luft unbehindert in die Lunge inspiratorisch
eindringen kann (wenn nicht Compression der Luftwege vorliegt) und so das vesiculäre
Athemgeräusch. sofern Rasselgeräusche dasselbe nicht verdecken, deutlich wahrnehmbar
ist. Auch das Fehlen der eosinophilen Zellen im Sputum eines Aneurysmatikers ist nach
meinen Beobachtungen ein wichtiger differentialdiagnostischer Befund gegenüber dem Asthma
nervosum.
Bei Emphysem, soweit nicht secundäre Degenerationen des Herzmuskels platz-
gegriffen haben, prävalirt die exspiratorische Dyspnoe, im Gegensatze zur Dyspnoe der
Herzkranken, welche m gleichem Grade beide Respirationsphasen betrifft.
Der Symptomencomplex der hysterischen Dyspnoe zeigt in seiner Vielgestaltig-
keit gewisse Charaktere, welche ihn von Dyspnoen organischen Ursprunges unterscheiden.
Allarmirende Respirationsstörungen verschwinden plötzlich und alterniren mit anderen
Manifestationen der Hysterie, wie Krampf der Schlundmusculatur, das Gefühl der vom
Epigastrium aufsteigenden Kugel (Globus hystericus), das Gefühl des Zusammenschnürens
im Halse mit Schwellung der Jugularvenen. Fast in allen Fällen besteht Dysphagie und ist
CYANOSE. 349
auch der Umstand wichtig, dass solche Anfälle, im Gegensatze zn Asthma cardiacum ge-
wöhnlich nicht in der Nacht auftreten. Durch Complication mit Antipyrin- oder Anti-
febrinvergiftung, welche ebenfalls zu Cyanose führen, können auch hier unvorhergesehene
Schwierigkeiten der Diagnose erwachsen.
I d i o p a t h i s ch e, kl 0 ni s c h e Z w e r ch f e 11 k r ä m p f e führen durch rasch aufeinander-
folgende, kurze Inspirationsstösse zum Tetanus sämmtlicher Respirationsmuskeln und inspi-
ratorischer Dilatation des Thorax mit Tiefstand des Zwerchfells, endlich zu einer raschen,
ebenso krampfhaften Exspiration; Zwerchfellslähmungen zu oberflächlicher beschleunigter
Respiration mit costalem, hochthoracischem Athmungstypus, bei totalem Mangel abdominaler
Athmung, oder zu inspiratorischer Einziehung und exspiratorischer Erweiterung des Ab-
domens.
Die durch Vagusreizung entstandene Respirationsstörung bietet in der Regel
Charaktere einer exspiratorischen Dyspnoe. Dieses Phänomen kann bei Aneurysmen isolirt
wahrgenommen werden.
Die Recurrenssymptome können sich sowohl als Krampf, wie auch als Lähmung
der Stimmbänder äussern und dementsprechend können auch die Charaktere der Dyspnoe
wechseln.
Damit ist das äusserst wechselvolle Bild der Symptome bei Aneurysmatikern lange
noch nicht erschöpft. Zum Beweise folgender von mir beobachteter Fall : Ein junger Mann,
welcher fast durch ein Jahr neurasthenische Erscheinungen darbot, mit Platzangst, als
hervorstechendstem Symptom, zeigte im weiteren Verlaufe der Erkrankung Symptome,
welche einem hysterischen Laryngospasmus nicht unähnlich waren. Der Fall wurde von
hervorragenden Wiener Aerzten als Hysteria virilis aufgefasst, zumal in den Thoraxorganen
keine Veränderungen nachweisbar waren. In meine Ambulanz gekommen, wurde der
Patient von einem Laryngospasmus befallen und bekam gleichzeitig ein derartiges Angst-
gefühl, dass er, ohne sich untersuchen zu lassen, die Flucht ergriff. Nach dem flüchtigen
Eindruck konnte auch ich auf keine schwere Krankheit schliessen. Im weiteren Verlaufe
nun stellten sich beim Patienten charakteristische Symptome eines Aortenaneurysmas ein,
welchem der Patient auch erlag. In einem solchen Falle im Beginne wäre natürlich auch
Dysphagie zwischen Aortenaneurysma und Hysterie differentialdiagnostisch nicht entscheidend
und ebenfalls geeignet, zu einer lebensgefährlichen Untersuchung mit der Schlundsonde zu
verleiten.
Bei Sklerose der Liingenarterie, auch ohne aneuiysmatische
Erweiterung derselben, bestand in den von Klob und Romgeeg veröffentlichten
Fällen intra vitam hochgradige Cyanose mit Hypertrophie des rechten Ven-
trikels, systolischen Geräuschen an der Herzspitze, accentuirteni zweiten
Pulmonalton und kleinen, weichen Radialpulsen. Das Merkwürdige des Falles
liegt in der ausserordentlich hochgradigen Cyanose bei völligem Fehlen von
Oedem bis zum Tode.
Die Ursache der im Verlaufe der verschiedenen Lifectioiiskraiikheiteii
auftretenden Cyanose liegt theils in directer Schädigung des Herzmuskels,
theils in Complicationen im Respirationstractus, theils, wie bei A'ergiftungen,
in directen Veränderungen des Blutes, durch Bildung der vom Krankheits-
erreger erzeugten toxischen Producte. Im Verlaufe der bisherigen Erörterungen
haben wir sowohl bei Besprechung des Respirations-, als auch des Circulations-
apparates Gelegenheit gehabt, die einschlägigen Affectionen bei Infections-
krankheiten zu behandeln, so dass uns nur erübrigt, im Zusammenhange
theils auf das bereits Besprochene im kurzen Rückblicke hinzuweisen, theils
noch nicht Berücksichtigtes zu betonen.
Cyanose mit heftigem, unaufliörlichem Reizhusten, mit Erstickungs-
anfällen und peinlicher Oppression kommt bei Morbillen, theils infolge der
den Masernkatarrh begleitenden Follikelschwellung, theils infolge von Ulce-
rationen und Erosionen der Kehlkopfschleimhaut vor. Manchmal treten diese
schweren Larynxsymptome schon im Prodromalstadium auf, und Hehra
erzählte in seinen Vorlesungen von Patienten, welche behufs Tracheotomie
auf die chirurgischen Kliniken gel^racht wurden und sich im weiteren Verlaufe
als Masernkranke erwiesen. Auch bei bösartigen Formen von Scharlach,
welche unter schweren Hirnzufällen, heftigem Fieber, Unruhe, Delirien,
manchmal eklamptischen Anfällen, selbst Tetanus, Trismus, Erbrechen und
350 CYANOSE.
Diarrhöen, liocligradiger Dyspnoe und ausserordentlich gesteigerter Pulsfrequenz
in der kürzesten Zeit zum Tode führen, tritt Cyanose als Ergebnis mehrerer
Factoren auf. Bei Complication mit Endocarditis und Myocarditis ist die
Cyanose im acuten Stadium des Scharlachs hinreichend begründet, ebenso
wie im weiteren Verlaufe durch das Auftreten von Hydrops, Glottisödem
infolge von Complication mit Nephritis. Durch Schwellung der Halslymph-
drüsen und des Halszellgewebes entsteht nebst Schwellung des Gesichtes
besonders in der Parotisgegend Cyanose mit hochgradiger Erschwerung des
Athmens, der Sprache und des Schlingens.
In ähnlicher Weise wird die Cyanose im Verlaufe der Variola
beobachtet, sowohl durch complicirende Herzaffectionen, als auch infolge Re-
spirationshemmung, sei es durch Larynxgeschwüre, Abscesse, durch Perichon-
dritis mit secundärer Knorpelnekrose und Glottisödem, oder dadurch, dass
sich der variolöse Process bis in die grossen Bronchien erstreckt. Cyanose
bei Intermittens und insbesondere Typhus recurrens kann durch com-
plicirende Endocarditis entstehen. Bei Erysipelas internum kann eine
von erysipelatöser Angina ausgehende Laryngitis und Bronchitis mit pneu-
monischen Infiltrationen zu Cyanose und Dyspnoe führen. In manchen
Epidemien der Influenza sind suflbcatorische Zustände mit Cyanose, zuweilen
ohne entsprechende, objectiv nachweisbare Veränderungen in den Lungen
beobachtet und daher von einigen Autoren auf Functionsstörungen im Bereiche
des Vagus, von anderen auf Lungencongestion zurückgeführt worden. Bei
dem epidemischen Schweissfriesel (Sudor anglicus) wurde bei acutem
Verlaufe Cyanose des Gesichtes mit schnell erfolgtem, tödtlichem Collaps
beobachtet. Cyanose mit intensiver Dyspnoe, Fieber und heftigem, blutigem
Auswurfe, verbunden mit zusammenschnürenden Schmerzen auf der Brust,
die bei Bewegungen sich steigern, sowie mit Angst und Kältegefühl in den
inneren Organen kommt bei jenen Formen von Milzbrand vor, bei welchen
vorwiegend die Lunge und die Pleura von zahlreichen Bacillenherden betroffen
sind. Nicht selten bleibt klares Bewusstsein l)is zum Tode erhalten und
häufig treten gleichzeitige Dannerscheinungen bei der als Anthrax intestinalis
bezeichneten Form in den Vordergrund. Die Ursache der Cyanose in solchen
Fällen dürfte nicht auf Insuflicienz des Herzens beruhen, weil dieses Organ
im Gegensatze zu den anderen Infectionskrankheiten bei Anthrax in der
Regel nicht fettig degenerirt, sondern meist gesund gefunden wird.
In gleicher Weise, wie bei Milzbrand, wird Cyanose mit Athemnoth
und Verfall der Kräfte bei der sogenannten Hadernkrankheit, wie sie in
Papierfabriken durch Inhalation von Hadernstaub auftritt, beobachtet. Diese
Infectionskrankheit tritt unter dem Bilde einer Lobulärpneumonie, mit Kopf-
schmerz, Oppressionsgefühl auf der Brust, krampfhaften kurzen Hustenstössen,
zähschleimigem Auswurf, bei häufig fehlendem Brustschmerz und manchmal
niedriger Temperatur auf. Als bemerkenswerthe Krankheitszeichen sind ferner
die relativ geringe Ausbreitung der physikalischen Erscheinungen in den
Lungen, sowie das Freisein des Sensoriums bis zum Tode hervorzuheben.
Die Hadernkrankheit wurde früher ziemlich allgemein für Anthrax pulmonalis
angesehen, und es ist wahrscheinlich, dass viele Fälle durch Inhalation von Hadern staub,
in welchem Milzbrandsporen enthalten sind, entstehen. In anderen von krannhals be-
schriebenen Fällen ist nicht der Anthraxbacillus, sondern der Bacillus des malignen Oedems
Ursache der Haderninfectionskrankheit. In ähnlicher Weise, wie im subcutanen Binde-
gewebe, verbreitet sich der durch die Lunge als Eingangspforte aufgenommene Oedem-
bacillus in dem Bindegewebe des Mediastinums, der Pleura, des Pericards und der Bron-
chialdrüsen. In anderen Fällen dürfte es sich um eine Mischinfection von Milzbrand und
malignem Oedem, vielleicht auch anderen Septhaemien handeln. Darin niag die Viel-
gestaltigkeit der klinischen Symptome ihre Erklärung finden, sowie auch die auffallende
Thatsache, dass die als exquisite Anaeroben bekannten Oedembacillen dennoch in der Lunge
des Menschen und der Mäuse (in Gegenwart anderer sauerstoffentziehender Mikroorganismen)
vegetiren können.
CYANOSE. 351
Bei Rotz hängt die Cyanose von der Localisation des Processes in dem
Respirations- und Circulationsapparate ab. Cyanose mit Dyspnoe beobachtet
man ferner bei Trichinose, und zwar bei Invasion der Trichinen in die
Respirationsmuskeln. Bei vorwiegendem Sitz der Trichinen im Muskelfieische
des Zwerchfells beobachtete traube Cyanose mit costalem Typus der Re-
spiration, Brustbeklemmung und hohe Pulsfrequenz. Die durch Affection der
Respirationsmuskeln entstandene Cyanose kann durch die bei Trichinose häufig
vorkommenden disseminirten Bronchopneumonien, welche nicht selten durch
Embolien der kleinsten Lungenarterienäste bedingt sind, gesteigert werden.
In heftigen Fällen von Dysenterie tritt nebst herabgesetzter Körper-
temperatur Trockenheit und Cyanose der Haut, sowie der Schleimhäute, als
prognostisch ungünstiges Zeichen auf. Bei Complication mit Peritonitis oder
Gastroenteritis zeigt sich in manchen Fällen von Dysenterie das vollkommene
Bild der Cholera asphyctica, indem zu den Diarrhöen und dem Erbrechen
Cyanose, Kälte der Extremitäten und Pulslosigkeit hinzutritt. Im asphyktischen
Stadium der Cholera entsteht die Cyanose theils durch Paralyse des Herzens
und Sinken des Blutdruckes, theils dadurch, dass die Arterien blutleer und
die Venen mit durch Wasserverlust eingedicktem, circulationsunfähigem Blute
erfüllt sind. In ähnlicher Weise charakterisiren oberflächliche und beschleunigte
Respiration, Singultus, Erbrechen, Verfall der Gesichtszüge mit Cyanose der
Nase, Ohren und Extremitäten die Endphase der allgemeinen Peritonitis.
Bei Vergiftungen kommen für das Auftreten der Cyanose, ähnlich wie bei
den Infectionskrankheiten, mehrere Momente in Betracht : Schädigungen des
Respirations- und des Circulationsapparates sowie Veränderungen des Blutes,
die dasselbe zum Gasaustausche minder tauglich oder vollständig unfähig
machen.
Bei Vergiftungen mit Aetzgiften, wie Schwefelsäure, Salpetersäure, Salz-
säure, Kalilauge kommt Cyanose mit grosser Athemnoth insliesondere in
solchen Fällen vor, wo das Gift vornehmlich den Kehlkopf und die Luftröhre
anätzt und durch bedeutende Anschwellung der Schleimhaut der Luftzutritt
zu den Lungen erschwert ist. Im tetanischen Anfalle der Strychninver giftung
treten hochgradige Cyanose und Aufgedunsenheit des Gesichtes auf, haupt-
sächlich bedingt durch Krampf der Respirations- und Halsmuskeln. Kälte
der Haut, taumelnder Gang mit nachfolgender Lähmung, Respirationsstörungen
und Sinken der Pulsfrequenz, schliesslich cyanotische Verfärbung des Gesichtes
kommen bei Coniinvergiftung vor, desgleichen bei Vergiftungen mit Cicuta
virosa, Oenanthe crocata, sowie auch Aethusa cynapium. Cyanose der Lippen,
bei Anämie des übrigen Gesichtes, wird bei Vergiftungen mit Opium und
Chloroform beobachtet.
Dass Gifte, welche, wie z. B. Phosphor, in erster Linie fettige Degene-
ration des Herzens hervorrufen, zu acuten Stauungen im Venensystem führen,
ist selbstverständlich. Bei Phosphorvergiftungen wird aber die Cyanose durch
den gleichzeitig bestehenden Icterus verdeckt. Doch kann die Cyanose, welche
in nicht tödtlichen Fällen in der Reconvalescenz sich bemerkbar macht, eine
diagnostische Bedeutung haben als residuelles Zeichen einer bestehenden Schä-
digung des Herzmuskels. In seltenen Fällen von acuter Phosphorvergiftung
kann Cyanose nebst tödtlichem Collaps durch Ruptur an einer fettig degene-
rirten Stelle der Aorta zur Beobachtung gelangen.
Die meisten Gifte führen jedoch dadurch zu Cyanose, dass die hervor-
gerufenen Veränderungen des Blutes dasselbe irrespirabel, d. h. für' den Gas-
austausch in den Lungen unbrauchbar machen. Dies kann auf zweifache
Weise stattfinden. Entweder bildet das aufgenommene Gift, ohne Verän-
derung der rothen Blutkörperchen, eine Verbindung mit Hämoglobin, welche
nicht im Stande ist, Sauerstott" aufzunehmen, oder es bewirkt eine Umwandlung
des Oxyhämoglobins der rothen Blutkörperchen, mit oder ohne Zerstörung der-
352 CYANOSE.
selben, wobei sicli aus dem ersteren das ebenfalls respirationsunfäliige Methämo-
globin bildet.
Zu der ersten Gruppe gehören das Kohlenoxyd, Stichstoffoxyd, Ace-
tylen, Blausäure^ walirscheinlich Schivefelwasserstoff, Ammoniak und Qilor.
Der bestgekannte Repräsentant dieser Gruppe ist das KoUenoxyd, welcbes
den 0 aus dem Oxyliämoglobin verdrängt und mit dem Hämoglobin eine fe-
stere Verbindung bildet als Oxyliämoglobin, nämlich das oxydations- und re-
spirationsunfähige CO-Hämoglobin. Entsprechend der 0-Armuth und CO-An-
häufung im Blute kommt daher Cyanose insbesondere an den Extremitäten in
Form blauer Flecken bei CO-Vergiftung vor. Doch tritt dabei als wichtigstes
klinisches Kriterium Dyspnoe mit drohender Asphyxie und abnorm hoher Puls-
frequenz in den Vordergrund. Gleichzeitig Sopor und verminderte Reflexerreg-
barkeit, nebst Neigung zu entzündlichen Affectionen in der Lunge. Der Grund,
warum bei schweren CO- Vergiftungen trotz hochgradiger Verarmung des Blutes
an Sauerstoff die Cyanose keinen hohen Grad erreicht, liegt wahrscheinlich
in der veränderten Blutbeschaffenheit, nämlich Bildung von hellrothem CO-Hä-
moglobin, wodurch die Cyanose verdeckt wird.
Mitnnter kann der Arzt vor die Differentialdiagnose: Alkohol rausch oder
Kohlenoxydvergiftung gestellt werden, z. B. wenn ein dem Alkoholismus ergebener
Arbeiter einer Gasfabrik im comatösen Zustande ins Spital gebracht wird. In beiden Fällen
der Vergiftung findet man bei solchen Individuen den -charakteristischen Branntweingeruch
aus dem Munde. Ein curioser, differential-diagnostischer Behelf wurde mir von einem ame-
rikanischen Arzte mitgetheilt. Enveitert sich bei der Applicirung einer Ohrfeige die ver-
engerte Pupille, so liegt ein einfacher Eausch vor, welchen man den Patienten einfach aus-
schlafen lässt, erweitert sie sich jedoch nicht, dann ist der Verdacht auf CO-Vergiftung be-
gründet. Physiologisch lässt sich der dabei statthabende Vorgang durch eine Uebertragung
des kräftigen Trigeminusreizes auf den Dilatator pupillae erklären. Durch Modification des
obigen Verfahrens, Hineinblasen ins Ohr mit einer Trompete, wie sich ihrer die Eisenbahn-
conducteure bedienen, habe ich denselben Effect erzielt.
Bei Vergiftungen mit Lustgas kann nebst Beschleunigung der Respiration
Cyanose der Lippen auftreten. Vergiftungen mit Blausäure führen entweder
momentan durch allgemeine Paralyse oder unter Betäubung, Herzparalyse und
Convulsionen in sehr kurzer Zeit zum Tode. Bei protrahirten Vergiftungen
mit blausäurehältigen Substanzen, wie z. B. mit unreinem Bittermandelöl, kommt,
neben Beschleunigung der Respiration, Erweiterung der Pupillen und Kälte der
Extremitäten, Cyanose im Gesichte, elDenso am ganzen Körper vor. Vergif-
tungen mit Schwefelwasserstoffgas und Schwefelammonium können unter livider
Cyanose, Benommenheit, Convulsionen, Coma, zu asphyktischem Tode führen.
Im Gegensatze zu CO-Vergiftungen ist das rasche Auftreten der asphyktischen
Erscheinungen für SHg -Vergiftungen charakteristisch, doch ebenso rasch können
dieselben zurückgehen und somit zur Genesung führen. Dies erklärt sich dadurch,
dass die Verbindung des SH2 mit Hämoglobin eine lockere ist, daher rasche
Exhalation des Giftes in den Lungen erfolgen kann. Es stimmt damit die
Thatsache überein, dass bei intravenösen Injectionen von SH2 kein Uebertritt
desselben in das arterielle Blut stattfindet.
Die zweite Gruppe der Gift e charakterisirt sich durch Bildung des
Methämogiobins. Nach Hayem gibt es Substanzen, welche das Oxyhämoglobin
der rothen Blutkörperchen intraglobulär in Methämoglobin verwandeln, ohne
dabei dieselben zu zerstören. Dazu' gehören z. B. Amylnitrit und Kairin.
Andere Gifte bilden Methämogiobin, wobei die rothen Blutkörperchen gleich-
zeitig auch in ihrer Textur verändert werden. Doch ist der Grad der che-
mischen Veränderung des Hämoglobins dem der morphologischen Schädigung
des Zellleibes der rothen Blutkörperchen nicht immer proportional. Gewisse
Gifte lösen das Hämoglobin mit Leichtigkeit auf auch ohne namhafte Verän-
derung des Stromas, wie z. B. Natriumnitrit, übermangansaures Kalium, Pyro-
gallussäure, Antipyrin.
Emmerich und Tsuboi in München haben die Cholera asiatica als eine Intoxi-
cation mit salpetriger Säure zu erklären versuclit ; letztere gebildet vom Commabacillus Koch.
CYANOSE. 353
Sie begründeten ihre Ansicht mit der Uebereinstimmung der Symptome einer Nitritvergiftung
und jener der Cholera, vor Allem aber mit dem spectroskopischen Nachweise des Methae-
moglobinstreifens im Blute von an Cholera verendeten Meerschweinchen und dem gleichen
Nachweise im Blute der mit Natriumnitrit vergifteten Meerschweinchen. Dass die künstlich
gezüchteten Cholerabakterien, gleich anderen Bakterien, chemische Zersetzungen der Nähr-
substanz bewirken, ist hinlänglich bekannt. Nach Salkowski, Brieger, Bujwm unter-
scheiden sich die Cholera- von Fäulnisbakterien dadurch, dass erstere Ammoniak und dessen
Verbindungen zu salpetriger Säure zu oxydiren vermögen, während letztere Nitrate und
Nitrite zu Ammoniak reduciren können.
Die nitrificirende Eigenschaft kommt aber keineswegs nur den Cholerabakterien zu,
sondern auch vielen anderen, theils pathogenen, theils saprophytischen Bakterienarten. Die
Choleraroth-Eeaction, welche in den Culturen keiner anderen Bakterienart so rasch und
intensiv eintritt, wie in denen des Commabacillus, wurde als eine ganz gewöhnliche Nitroso-
Indol-Reaction erkannt und nach Salkowski liegt die Erklärung für die Thatsache, dass
diese Reaction in den Choleraculturen schon mit Schwefelsäure eintritt, einfach darin, dass
die Cholerabacillen constant salpetrige Säure produciren, welche sich als Nitrit in der Flüs-
sigkeit befindet. Charakteristisch für die Cholerabakterien ist daher gleichzeitige Bildung
von Indol und salpetriger Säure, welch' letztere aus ihren Salzen durch die ebenfalls von
den Cholerabacillen gebildete Milchsäure frei gemacht wird und nun nach Emmerich in statu
nascendi ihre deletäre Wirkung im Darm entfalten soll.
Während der Cholera-Epidemie in Oesterreich im Herbst 1892 habe ich im bacterio-
logischen Institute des Prof. Weichselbaum, sowie im chemischen Laboratorium des
Dr. Freund diesen Verhältnissen mein Augenmerk zugewendet und stellte sich bei Unter-
suchung der aeroben, wie der anaeroben Choleraculturen Folgendes heraus : Bei aerober
Züchtung kann die Nitritbildung bis zur Nitratbildung fortschreiten — Beweis dafür, dass,
wenn man eine Fleischbrühecultur des Cholerabacillus mit einer Lösung von Diphenylamin
und concentrirter Salzsäure versetzt, sich die Flüssigkeit sogleich intensiv indigoblau färbt.
Culturen der FiNKLER-PRiOR'schen Bacillen, DENNEKE'schen Spirillen und MiLLER'schen Ba-
cillen zeigten hiebei keine Farbenänderung. In gleicher Weise zeigte nur der Verfiüssigungs-
Trichter des Cholerabacillus in der Gelatinecultur, im Gegensätze zu den Trichtern der
früher erwähnten drei Bacterienarten (Fumkler-prior, Denneke und Miller) die Diphenyl-
aminreaction auf Nitrate. Tropft man nämlich in den Verflüssigungs-Trichter der Cholera-
cultur mit einer Pipette zuerst eine alkoholische Lösung von Diphenylamin, hierauf einige
Tropfen concentrirter Salzsäure, so färbt sich der flüssige Inhalt des vom Commabacillus
gebildeten Trichters sofort tief indigoblau bis in die unterste Spitze desselben. Nachdem
das Diphenylamin bekanntlich das charakteristischste und empfindlichste Reagens auf Sal-
petersäure ist, so geht aus obigem Versuche hervor, dass zum mindesten der Commabacillus,
welcher aus dem Stuhle des ersten tödtlichen Falles in Wien (Strkal) stammte, sowohl in
Fleischbrühe-, als in Gelatineculturen die Fähigkeit besass, Salpetersäure zu bilden, und zwar
in denselben Nährsubstanzen, welche für die Culturen der den Cholerabacillen ähnlichen
Bakterienarten verwendet wurden, welch' letztere, wie bereits erwähnt, die Diphenylamin-
reaction nicht gaben.
Andererseits fielen die Pi,eactionen mit salzsaurem Metaphenylendiamin auf salpetrige
Säure (Gelbfärbung) und die mit Sulfanilsäure und Naphthylamin (Rothfärbung) a\ eniger
prompt im Falle Strkal aus. Die Hamburger und Krakauer Culturen (älteren Datums) er-
wiesen sich bei diesen Proben als theils wenig, theils gar nicht nitrificirend.
Von besonderem Interesse ist noch der Umstand, dass eine im Laboratorium Weighsel-
baum von Dr. Schlagenhaufer gezüchtete, ganz frische anaerobe Cultur dieses STRKAL-Cho-
lerabacillus .weder die Metaphenylendiamin-, noch die Diphenylaminreaction zeigte, was
deshalb besonders hervorzuheben ist, weil der Commabacillus nach den heutigen Anschau-
ungen im Darme unter anaeroben Verhältnissen sich befindet. Uebrigens war auch bei
aerobem Wachsthume der älteren Culturen die Reaction auf Nitrate und Nitrite nicht immer
vorhanden. Endlich habe ich einen Stuhl von einem in Pest an Cholera Erkrankten und
Verstorbenen untersucht und weder in demselben direct, noch in dem Destillate, welches
nach Ansäuerung des Stuhles mit Schwefelsäure gewonnen wurde, Nitrite oder Nitrate mit
den erwähnten Reagentien nachweisen können. Jedenfalls geht aus all' dem Gesagten hervor,
dass der Cholerabacillus nicht bedingungslos nitrificirende Eigenschaften äussert und dass,
wenigstens nach unseren Befunden, diese Eigenschaften nur seiner aeroben Cultur und zwar
auch nur unter bestimmten Verhältnissen zukommen, während seine anaerobe Cultur, sowie
der aus dem anaeroben Darme entleerte Stuhl keine nitrificirenden Eigenschaften verrathen
haben. Diese Beziehungen zwischen Cholera asiatica und salpetriger Säure sind demnach,
d. h. nach meiner Ansicht, nicht so einfach und klar, wie dies Emmerich und Tsuboi be-
haupten zu können glauben. — Uebrigens kommt auch Klemperer zum Schlüsse, dass die
Cholera als Nitritvergiftung nicht gedeutet werden kann.
Andere Substanzen, insbesondere chlorsaure Salze und wahrscheinlich
ÄsH^ zerstören vorwiegend die rotlien Blutkörperehen selbst bei protraliirter
Wirkung und bilden auf diese Weise aus dem intraglobulären Hämoglobin
Methämoglobin. Die Art und Weise, wie diese angeführten Umwandlungs-
Bibl. med. "Wissenschaften. I. Interne Medicin imd Kinderkrankheiten. '-■o
354 CYANOSE.
Vorgänge durch Einwirkuiig der Gifte sich abspielen, dürfte jedoch auch nach
der individuellen Verschiedenheit des Hämoglobins mancherlei Differenzen in
obiger Richtung ergeben, und sowohl von dessen Löslichkeit als Krystallisir-
barkeit, Coagulationsfähigkeit und hygroskopischen Eigenschaften, die bei ver-
schiedenen Menschen verschieden sein können, abhängen, wofür zahlreiche
Beobachtungen am Krankenbette sprechen.
Das Auftreten von Cyanose bei Gebrauch von Äntipyrin ist wiederholt
beobachtet worden. Bambekger erzählte von einer Dame, welche nach jeder
Einnahme von 1 g Äntipyrin, das sie gegen Migräneanfälle anwendete, blau
wurde, ohne andere Erscheinungen zu bieten.
Ich selbst habe auf meiner Abtheilung einen Fall beobachtet, den ich wegen seines
casuistischen Interesses hier ausführlich uiittheile. Zu einer Hysterica, welche bereits mehrere
hysterische Productionen, wie Vortäuschung einer Peritonitis mit Hämatemesis, aufgeführt
• hatte, wurde ich einmal eiligst von einer Wärterin gerufen, weil jene angeblich moribund
sei. Ich fand beiderseitige Contracturen der Extremitäten, wie sie bei Hysterischen vor-
kommen, kleinen, beschleunigten Puls imd allgemeine Blaufärbung der Haut, insbesondere
im Gesichte. Sofort schöpfte ich den Verdacht auf die Möglichkeit einer Antipyrinvergiftung,
der sich auch durch die Angabe der Wärterin, dass die Patientin zehn halbgrammige Pulver,
welche sie gegen ihre Kopfschmerzen verordnet bekam, auf einmal zu sich genommen hatte,
als gerechtfertigt erwies. In der kürzesten Zeit verschwanden auf Einpackung in eiskalte
Tücher die hysterischen Contracturen und collapsähnlichen Symptome und allmälig dann
auch die Cyanose. Einige Tage später fand ich die Patientin bei der Morgenvisite wieder
blau, diesmal aber bei vollkommen gutem Befinden. Da die Patientin Einnahme von Anti-
pyriai in Abrede stellte, und dies auch von der Wärterin bestätigt wurde, so griff ich nach
einem nassen Handtuche und fuhr damit der Patientin über das Gesicht, wobei sich heraus-
stellte, dass die Cyanose von diesem auf jenes überging und dass die Blaufärbung, welche
einer Cyanose täuschend ähnlich sah, dem Methylviolett seine Entstehung verdankte, welches
im Krankensaale als Pieagens auf freie HCl im Mageninhalt in Verwendung stand. Die
sonst sehr intelligente Patientin dürfte sich andere cyanotische Kranke, welche in den ärzt-
lichen Cursen vorgestellt wurden, zum Muster für ihre so gelungene Nachahmung genommen
haben.
Bei Arbeitern in Anilinfabrihen kommt es durch Einathmung concen-
trirter Anilindämpfe neben Kopfschmerzen regelmässig zu Cyanose der Lippen,
Nägel, in den allerschwersteu, tödtlichen Fällen auch zu Verlangsamung der
Respiration, Krämpfen, Coma mit stark ausgeprägter Cyanose. Der Exitus
erfolgt unter dem Bilde einer asphyktischen Cholera. Die Nitrobetizolver-
giftungen führen unter ähnlichen Symptomen, wie Anilinvergiftung, ebenfalls
zu hochgradiger Cyanose. Dasselbe gilt für Nitroglycerin. Selbst in gut ver-
laufenden Fällen überdauert die Cyanose die übrigen Intoxicationserscheinungen.
Auch bei Glycerin, dem jetzt so beliebten Mittel gegen Nephrolithiasis und
Cholelithiasis, wurden bisweilen bei therapeutischer Anwendung Intoxications-
erscheinungen beobachtet, welche in Collaps, Kälte der Hände und Füsse,
Eingenommenheit des Kopfes und Cyanose des Gesichtes ihren Ausdruck
fanden. Es bleibt dahingestellt, wie viel von dieser Wirkungsweise Ver-
unreinigungen des Mittels und etwaigen Veränderungen von dessen Oxydations-
producten im Darme (Nitrificirung) zuzuschreiben ist. Bei Arbeitern, welche
mit Bedification von Petroleum beschäftigt waren, bobachtete Eulenbukg oft
Cyanose der Lippen und bläuliche Gesichtsfarbe.
Bei Vergiftungen mit Arsemvasserstoff, sowie chlorsaurem Kalium und
Pyrodin wurde ebenfalls Cyanose, bei ersterem auch Dyspnoe und ein soporöser
Zustand beobachtet. Niclrt uninteressant ist in solchen Fällen das Auftreten
kernhaltiger rother Blutkörperchen im Blute, ein Befund, der unter Umständen
diagnostische Bedeutung haben kann.
Bei Fischvergiftung, insbesondere nach Genuss der verschiedenen Arten
der Gattungen Sphyrena, Coryphena, Scomber, beobachtet man rothe oder
violette Gesichtsfarbe, oft mit bedeutender Anschwellung, besonders an den
Lippen und Augenlidern, ferner Athemnoth und Erscheinungen asthmatischer
Art, mitunter acuten Schnupfen mit Niesen, Thränenfiuss und Krampfhusteu.
Schliesslich ist schnell auftretende Cyanose neben Dyspnoe, Coma und allge-
CYANOSE. 355
meiner Lähmung, sowie scorbutälmliclien Hämorrliagien in sämmtliclien Kör-
pergeweben ohne Gefässzerreissung ein Symptom von Intoxication mit
Schlang engift.
Dass auch bei Infectionsk rankheiten manchmal hochgradige Cyanosen, tind
zwar nicht immer mit dyspnoischen Zuständen verbunden, auf Veränderungen des Blutes
zurückzuführen seien, ist mehr als wahrscheinlich und es dürfte von der chemischen Be-
schaffenheit der durch die pathogenen Organismen gebildeten Toxine abhängen, ob jene in
den Geweben und im Blute als Sauerstofi'entzieher wirken und daher den Gasstoffwechsel
behindern. In manchen Fällen mag die chemische Constitution der bacteriellen Stoff-
wechselproducte mit der aeroben oder anaeroben Lebensweise der jeweiligen Bakterien im
Zusammenhange stehen, doch muss auch hier der Satz ausgesprochen werden, dass die
Anaerobie nicEt eine Verringerung des Sauerstoffbedürfnisses bedeutet, sondern vielmehr
eine Steigerung der vitalen Fähigkeit, denselben aus den sauerstoffhaltigen, organischen
Verbindungen abzuspalten, ein Moment, welches bei Mischinfectionen insoferne von Bedeutung
werden kann, als die aeroben Mikroorganismen durch Sauerstoffentziehung die anaerobe
Lebensweise anderer Mikroorganismen fördern können.
Noch ein Moment verdient bei Vergiftungen berücksichtigt zu werden.
Die mit der Bildung von Methämoglolnn verbundene Zerstörung der rothen
Blutkörperchen, wie sie bei Vergiftungen mit chlorsauren Salzen bekannt ist,
kann zu Verstopfung der Gefässe mit Trümmern zugrunde gegangener rother
Blutkörperchen in den inneren Organen, insbesondere in der Lunge führen,
und auch auf diese Weise Circulationsstörungen veranlassen.
Aehnliches bemerkt man bei Hautverbrennungen, bei welchen
Cyanose mit Dyspnoe, Coma und niedriger Hauttemperatur beobachtet wird,
und sowohl die Toxinwirkung durch Kesorption der an den verbrannten Stellen
gebildeten Toxine auf das Blut, als auch multiple Gefässthrombosirung durch
Trümmer zugrunde gegangener rother Blutkörperchen in Betracht kommt.
Cyanose wird bei verschiedenen, theils chronischen, theils sub acuten
Erkrankungen v erschiedener Organe beobachtet, zu welchen secun-
däre Veränderungen im Circulations- und Respirationsapparate hinzutreten.
Zu diesen gehört in erster Linie der Morhus Brightii, dessen Rückwirkung
auf den Circulationsapparat hinlänglich bekannt ist. Nichtsdestoweniger be-
obachtet man auch bei Morbus Brightii selbst in solchen Fällen, wo die
Functionsenergie des hypertrophischen linken Ventrikels geschwächt ist, keine
Cyanose, weil letztere gegenüber der Anämie, die manchmal perniciös wird,
in den Hintergrund tritt. Es gibt jedoch Fälle von chronischer Nephritis, bei
welchen trotz längeren Bestandes der Krankheit die Blutbildung weniger ge-
litten hat. Dann kann der Beginn der klinischen Symptome sich durch das
Auftreten von Herzarhythmie, Galopprhythmus, Cyanose, Stauung in der Lunge
und Leberschwellung, manchmal auch durch herabgesetzte Diui'ese, wenn
früher Polyurie bestand, markiren, so dass oft die Differentialdiagnose,
ob ein cor renale oder ren cardiacus vorliege, Schwierigkeiten bereiten kann.
Die Verminderung des Gehaltes an Harnstoff, Urobilin, und insbesondere an den
Verbindungen der Phosphorsäure, namentlich der an alkalische Erden gebundeneu, im Urin,
das normale Verhalten der relativen Schwefelsäure, in Verbindung mit normaler oder wenig
herabgesetzter Diurese, sowie andere klinische Zeichen einer primären Nierenaffection, wie
z. B. Pietinitis, lassen in der Mehrzahl der Fälle das Pdchtige treffen. Die Insufficienz des
hypertrophischen linken Ventrikels im Verlaufe latenter Sclirumpfnieren kann in acuter
Weise zu Stande kommen und nicht selten ist ein paroxysmales Asthma (Asthma urae-
micum) die erste Manifestation des heimtückischen Leidens. Differential-diagnostisch gegen-
über den Asthmaparoxysmen bei primären Herzaff'ectionen ist zu bemerken, dass die Menge
des während des Anfalles entleerten eiweisshältigen und hell gefärbten Harnes grösser ist,
als bei Asthma cardiacum, bei dem gewöhnlich der Harn dunkel, concentrirt. reich an
Uraten und Urobilin ist und demgemäss ein hohes specifisches Gewicht besitzt. Manchmal
sind es einfache acute Erkältungskatarrhe der Luftwege, welche in ganz unvorhergesehener
Weise unter hochgradiger Dyspnoe, allgemeinem Hydrops, zahlreichen Piasseigeräuschen und
Cyanose das klinische Bild eröffnen und durch Lungenödem zum tödtlichen Abschlüsse
bringen ; dies erklärt sich dadurch, dass der Brightiker jeden Gewebsreiz mit Oedem
beantwortet. So wie ein Wespenstich zu einem colossalen Anasarka der betroffenen
Extremität, ein Herpes praeputialis zu einem Oedem des Praeputiums fülirt. so kann auch
eine einfache Laryngitis katarrhalis durch ein Larynxödem dem Brightiker verhängnisvoll
23*
356 CYANOSE.
werden. In ähnlicher Weise führen kleine pneumonische Heerde zu Lungenödem und nicht
selten sind plötzlich auftretende Dyspnoe, Cyanose und Coma bei chronischem Morbus
Brightii ein semiotisches Zeichen einer beginnenden Pneumomie, welche in der kürzesten
Zeit zu Lungenödem und zum Tode führen kann, derart, dass die objectiven Zeichen der
Pneunomie sich dem klinischen Nachweise entziehen. In solchen Fällen ist eine bestehende
Temperatursteigerung im Gegensätze zu den rein toxischen Formen der urämischen Dispnoe
und des urämischen Coma, bei welchem meist die Körperwärme sinkt, diagnostisch zu
verwerthen, Yorausgesetzt, dass nicht eine gleichzeitige Hirnblutung nach der anfänglichen
Erniedrigung der Temperatur ein rapides Steigen derselben veranlasst.
Manchmal kann das Lungenödem durch körperliche Anstrengungen, Bergsteigen.
Alkoholrausch, Excesse in Venere oder Gebrauch Yon manchen Medicamenten, z. B. Opium,
selbst in kleinen Quantitäten, sowie durch acuten Magenkatarrh, infolge plötzlich ein-
getretener Erlahmung des linken Ventrikels, während der rechte noch fortarbeitet, sich
einstellen, Fälle, die an die von leyden beschriebene besondere Form des Asthma cardiale
erinnern. In solchen Fällen findet man auch directe klinische Zeichen für Functions-
störung seitens des linken Ventrikels, wie Dilatation, Verminderung der Spannung im
Arteriensystem, Arhythmie und nicht selten Galopprhythmus.
In Fällen, wo diese Zeichen von Seite des linken Ventrikels vermisst werden und
trotzdem Symptome einer Stauung im Venen- und Pulmonalsystem (bei hoher Pulsspannung)
vorliegen, ist die Ursache der Compensationsstörung in Degeneration der Musculatur des
linken Vorhofes zu suchen, und bamberger hat in seinen Vorlesungen diejenige Hämoptoe,
welche manchmal als initiales Symptom eine Schrumpfniere verräth, auf Hyperämie des
linken Vorhofes zurückgeführt. Verabreichung von Digitalis oder Ergotin zur Behebung
dieser Erscheinungen muss als therapeutischer Fehlgriff bezeichnet werden und kann bei
der bestehenden abnormen Spannung im Aortensystem leicht eine Hirnhämorrhagie, zu
welcher ein Brightiker ohnehin disponirt, heraufbeschwören. Noch mehr Bestätigung
gewinnt die Diagnose einer Vorhofdilatation, wenn bei längerer Beobachtung eines solchen
Kranken sich sowohl die Cyanose, als die übrigen Stauungserscheinungen in den Lungen
und in den anderen Organen steigern, während die Untersuchung des linken Ventrikels
keine auffallenden Veränderungen wahrnehmen lässt, und zwar weder in functioneller
Hinsicht, in Bezug auf Arterienspannung, noch auch durch progressiv zunehmende Dislo-
cation des Spitzenstosses. Durch Bildung von Thromben in dem dilatirten linken Vorhofe,
Herzohre und im linken Ventrikel kann das klinische Bild eine grosse Vielgestaltigkeit er-
langen und manche diagnostische Schwierigkeiten bereiten.
Ausgesprochene Cyanose des gedunsenen Gesichtes, mit klonischen
Krämpfen und darauffolgendem Coma nach vorausgegangenen Kopfschmerzen,
Erbrechen und Verminderung der Pulsfrequenz, sehr häufig, doch nicht immer,
mit herabgesetzter Diurese, gehören bekanntlich zum Bilde des urämischen
Anfalles und sind durch Stauung des Blutes im Krampf anfalle bedingt. Die
Cyanose des Gesichtes entsteht hier auf dieselbe Weise, wie bei Epilepsie, die,
bei hochgradiger Cyanose während des Anfalles, den alten Aerzten als un-
heilbar galt. Die anfallsweise auftretende Dyspnoe der Brightiker, welche
gemeiniglich als urämische Dyspnoe bezeichnet wird, kann, wenn sie ohne
Krämpfe einhergeht, mit oder ohne Cyanose verlaufen, und ist die Cyanose in
solchen Fällen ausschliesslich von dem Grade der durch die Grundkrankheit
bedingten Circulationsstörung und Behinderung des Gasaustausches in der
Lunge abhängig. Die Cyanose fehlt bei der urämischen Dyspnoe gänzlich,
wenn letztere blos durch Reizung des bulbären Respirationscentrums durch
die excrementellen Bestandtheile des Harns bedingt ist. Manchmal kann diese
Dyspnoe nach vorausgegangenem Erbrechen die Einleitung zum urämischen
Coma bilden und tritt dadurch in differentialdiagnostische Beziehung zum
Coma diabeticum. In solchen Fällen ist daher dringend nothwendig, den Harn
nicht nur auf Albumen und Cylinder, sondern auch auf Zucker und Aceton
zu untersuchen, da mir ein Fall bekannt ist, bei welchem durch Unterlassung
des Zuckernachweises im Harne bei einer Puerpera die falsche Diagnose einer
eklamp tischen Dyspnoe gestellt und das wirklich bestehende Coma diabeticum
übersehen wurde.
Während, wie bereits früher erwähnt wurde, bei Coma diabeticum Cya-
nose fehlt und bei acuten Episoden des Diabetes nur durch Complicationen
mit organischen Erkrankungen des Respirations- und Circulationsapparates
auftritt, gibt es manche Fälle von chronisch verlaufendem Diabetes, in denen
leichte Cyanose des Gesichtes, insbesondere der Nase und der Ohren vorkommt
CYANOSE. 357
derart, dass beim ersten Anblick der Gedanke auftaucht, als hätte man es
mit einem herzschwachen Potator zu thun. Ich habe derartige bläuliche Ver-
färbungen des Gesichtes gerade bei fettleibigen Diabetikern beobachtet, und
empfehle daher bei vorhandener Cyanose, für welche der Thoraxbefund keine
hinreichende Erklärung gibt, den Harn jedesmal auf Zucker zu untersuchen.
Ganz anderer Natur ist j ene Gly kosnrie, bei welcher nebst acuter Dilatation des
Herzens, Cyanose mit schweren, raanchmal tödtlichen Formen der Tachykardie auf-
tritt. Sowohl die Glykosurie, als auch die Tachykardie ist als bulbäres Symptom aufzufassen.
In besonders complicirten Fällen kann auf die Deutung der Glykosurie eine genaue, quanti-
tative Bestimmung sämmtlicher Harnbestandtheile ein Licht werfen, die bei echten Formen
des Diabetes auch die für Diabetes charakteristischen Mehrausscheidungen der organischen
und anorganischen Harnbestandtheile ergibt.
Bei Bluterkrankungen wird in Folge der Verarmung des Blutes an
rothen Blutkörperchen in der Regel trotz bestehender Dyspnoe keine Cyanose
beobachtet, so z. B. bei Leukämie selbst dann nicht, wenn organische
Affectionen des Herzens hinzutreten, die sonst zu Cyanose führen. Bei Leuk-
ämie kommt letztere manchmal durch Verfettung der Papillarmuskeln und
Dilatationen beider Herzhälften vor, doch auch in diesen Fällen erreicht die
Cyanose nur ihre leichtesten Grade. Dasselbe gilt auch von jenen Formen von
Fettherz, welche mit hochgradiger Anämie einhergehen. Auch hier ist zum
Theile die quantitative Verminderung des Blutes, zum Theile die herabgesetzte
Kohlensäurebildung in den Geweben maassgebend für das Ausbleiben der Cyanose.
Die bei Bluterkrankungen auftretende Dyspnoe, und zwar sowohl bei
Chlorose, als bei schweren Formen der Anämie, ist in vielen Fällen
vorwiegend eine rein chemische und entsteht durch anämische Reizung der
MeduUa oblongata. Durch Zunahme der Respirationsfrequenz kann dem Sauer-
stofibedürfnisse des Organismus Genüge geleistet werden, weil der Respirations-
apparat und die Stromgeschwindigkeit des im Pulmonalstrombette circulirenden
Blutes normal geblieben sind. Ist jedoch bei anämischen Zuständen das Herz-
fleisch krank und daher die Triebkraft desselben herabgesetzt, so resultirt
daraus eine Verminderung des in der Zeiteinheit die Lunge durchströmenden
Blutquantums, sowie durch Erweiterung der Capillaren in den Alveolen eine
Verkleinerung der Respirationsoberfläche. Während bei der rein chemischen
Dyspnoe der Sauerstofibedarf der Gewebe durch vermehrte Respirationsfrequenz
gedeckt wird, so macht sich in der zweiten Gruppe von Fällen nebst vermehrter
Athemfrequenz auch eine Vertiefung der Athemzüge geltend, ein Respirations-
typus, wie er bei Herzkranken vorkommt. In diesen Fällen wird das Auftreten
der Cyanose davon abhängen, ob das circulatorische, oder das anämische
Element prävalirt. Letzterer Umstand verdient insbesondere dann Berück-
sichtigung, wenn die objectiven Symptome einer Schwellung der Bronchial-
schleimhaut mit Stauungskatarrhen bei bestehenden cardialen Complicationen
nicht nachweisbar sind, wie dies z. B. in Fällen schwerer perniciöser Anämie
häufig vorkommt, wo dann die Diagnose, ob das Herzfleisch und in welchem
Grade es degenerirt sei, mitunter grossen Schwierigkeiten begegnet. Bestehende,
wenn auch sehr leichte, cyanotische Färbung der Lippen kann nebst Zeichen
von Dilatation der Herzhöhlen und Schwellung der Jugularvenen in solchen
Fällen diagnostisch, eventuell therapeutisch verwerthet werden.
Auch bei Leukämie ist die Dyspnoe weniger der veränderten Blut-
mischung, als einer Dilatation des Herzens zuzuschreiben. Ein therapeutischer
Versuch mit Digitalis bei gleichzeitiger Bettruhe kann daher in solchen Fällen
für die Diflerentialdiagnose, ob die Dyspnoe hämatogenen oder cardialen Ur-
sprunges sei, entscheidend sein, was unter Umständen bei der Dyspnoe der
Leukämiker bezüglich der Indicationsstellung, ob Sauerstofi" und Körperbewe-
gung oder cardiale Therapie (Bettruhe, Eisbeutel aufs Herz) einzuleiten seien,
entscheidend sein kann.
358 CYANOSE.
Raiimbescliräiikeiide Processe, welche die respiratorisclie Erweiterung
des Thorax ungünstig beeinflussen, ja selbst die Thoraxorgane comprimiren,
jedoch nicht von diesen selbst ausgehen, werden natürlich auch als ätiologische
Momente für die Cyanose in Betracht kommen. Bei hochgradiger Ver-
krümmung des Thorax (Kyi^hoskoliose) kann ein einfacher Katarrh der
Luftwege zu hochgradiger Cyanose mit den übrigen Erscheinungen von In-
sufficienz des rechten Ventrikels führen. Die Cyanose entsteht hier durch
Zunahme der ohnehin bestehenden Behinderung des Lungeugaswechsels, durch
die Unmöglichkeit ausgiebiger inspiratorischer Erweiterung der Lunge. Bei
hochgradigen Skoliosen wird durch Compression der Lunge und dadurch ge-
hemmten Blutzufluss zum linken Herzen eine Rückstauung des Blutes zum
rechten Ventrikel und dementsprechend mangelhafte Füllung des linken Ven-
trikels geschaffen.
Zum Theile durch die auf diese Weise erfolgende mangelhafte Füllung des linken
Ventrikels und weiterhin dadurch bedingte ungenügende Spannung der Mitralklappen, zum
Theile durch secundäre Veränderungen der Papillarmuskeln infolge mangelhafter FüUujig
der Kranzarterien entsteht an der Herzspitze ein systolisches Geräusch, welches
einen Mitralklappenfehler Yortäuschen und behufs Linderung der Beschwerden zur Ver-
abreichung der Digitalis verleiten kann, eine Therapie, welche bei hochgradigen Verkrüm-
mungen des Thorax planlos und sogar durch Heraufbeschwörung eines Lungenödems ge-
fährlich werden kann.
Hochstand des Zwerchfelles, durch verschiedene Unterleibsprocesse,
sei es Ascites oder Ovarialcysten und anderweitige Unterleibstumoren bedingt,
kann selbstverständlich durch Behinderung ausgiebiger Athmung zu Cyanose
führen. Dieser Umstand spielt auch eine nicht geringe Rolle bei den Cya-
nosen, welche die Endphase der allgemeinen Peritonitis, sowie der inneren
Einklemmungen und Achsenckehungen des Darmes charakterisiren.
Die Cyanose kann schliesslich durch die verschiedensten Erkrankimgeu
des respiratorischen Bewegungsapparates hervorgerufen werden. Sowohl
Lähmungen als auch Atrophie der Brustmusculatur können zu
diesem Symptom führen. Lähmungen beobachtet man bei Affectionen des
Halsmarkes, bei Caries, Neoplasmen und Fracturen der Halswirbel, sowie bei
neuritischen Degenerationen der Nervi phrenici und Compressionen derselben
durch Geschwülste. Derartige Cyanosen entstehen im Verlaufe von acuter
Polyneuritis, Laxdey' scher Lähmung, Poliomyelitis, progressiver Muskelatrophie,
TnOMSEN'scher Krankheit und bilden nicht selten die Schlussscene verschie-
dener cerebrospinaler Erkrankungen, in welchen der Tod unter den Erschei-
nungen der Vagus- und Phrenicusparalyse erfolgt, z. B. Tabes, amyotrophischer
Lateralsklerose und Bulbärparalyse. Bei letzterer kommt übrigens die Cyanose
auf verschiedene Weise zu Stande, zunächst durch Fehlschlingen infolge Läh-
mungen der Schlingmusculatur und Gelangen der Nahrung in den Larynx.
Heftige zahlreiche Hustenanfälle, mit Angst und Erstickungsgefahr, begleiten
diese Erscheinung. Andererseits durch Lähmung der Respirationsmuskeln,
dann, wenn die Kranken von einem Bronchialkatarrh befallen werden. Bei
beginnender Lähmung der Respirationsmuskeln werden die Respirationen
schwach und unvollkommen, wodurch mangelhafte Sauerstoffaufnahme und
Cyanose, insbesondere bei körperlichen Bewegungen entstehen. Die Klang-
losigkeit der Stimme, sowie die Dyspnoe selbst bei der geringsten Anstren-
gung sind durch die Schwäche und Unfähigkeit der Thoraxmusculatur, Luft
in der Lunge anzuhäufen, erklärt und sowohl diese als auch die Schwäche
der Gesichtsmusculatur machen es begreiflich, dass die Kranken kaum im
Stande sind, ein Licht auszublasen.
Auch bei primären Affectionen der Thoraxmusculatur, z. B.
bei Myositis des Zwerchfelles oder bei Entzündungen desselben, welche von
benachbarten Organen ausgehen, nicht selten bei eitrigen Processen im Be-
reiche des Unterleibes, z. B. bei subphrenischen jauchigen Abscessen infolge
DEGENERATIVES IRRESEIN. 359
von Ulcus ventriculi, Perityphlitis, exulcerirendem Magencarcinom u. dgl. m.
beobachtet man Cyanose.
Ebenso kann im Verlaufe der eitrigen Peritonealentzündungen, durch
Fortpflanzung der Entzündung auf die Lymphgefässe des Zwerchfelles, eine
Insufficienz der Zwerchfellthätigkeit und somit auch Cyanose mit
ausschliesslich costalem Athmungstypus in ähnlicher Weise, wie dies bei Be-
sprechung der Trichinose erwähnt wurde, entstehen. edm. neusser.
Degeneratives Irresein. Der Ausdruck „degeneratives Irresein" ent-
hält, wenn das Adjectivum „degenerativ" darin nicht bloss in dem ganz ver-
waschenen Sinne gebraucht sein soll, dass dieses Irresein irgendwelche
Beziehungen zur Degeneration hat, — die Behauptung, dass es bestimmte
charakteristische Züge gibt, welche eine Psychose als Ausdruck von De-
generation erkennen lassen. Es muss also zunächst festgestellt werden,
was unter Degeneration zu verstehen ist.
Es muss hierunter eine durch die Componenten der Generation
implicite bedingte bis ins Pathologische geh ende Abweichung
vom Typus des genus verstanden werden.
Es fallen dadurch zunächst alle diejenigen Psychosen aus dem Begrifi
des degenerativen Irreseins heraus, welche durch von aussen an eine gesunde
Organisation herangebrachte Schädlichkeiten entstehen, also alle exogenen '-■)
Geisteskrankheiten. Hierher gehören also zunächst alle durch grobe Gehirn-
störungen bedingten Geistesstörungen (bei Paralysis progressiva, multipler
Sklerose des Hirns, Hirntumoren, Porencephalie, ferner diejenigen Fälle von
Idiotie, welche durch cerebrale Erkrankungen im fötalen oder kindlichen Leben
bedingt sind.)
Ferner fallen a priori aus dem Begriff heraus alle durch Intoxication
im weitesten Sinne bedingten Psychosen. Nun gibt es aber in der Psycho-
pathologie eine Reihe von Krankheiten, bei denen es zweifelhaft ist, ob sie
eine äussere, im individuellen Leben wirkende Ursache gehabt haben oder
nicht (z. B. die Erschöpfungspsychosen, Puerperalpsychosen u. s. w.). Auch
diese schalten wir vorläufig aus unserer Betrachtung aus.
Von den unzweifelhaft endogenen Geistesstörungen scheiden wir zu-
nächst die angeborenen Schwächezustände (Idiotie ohne cerebrale Erkrankung)
aus, da sie als gesonderte Gruppe in dem Rahmen der Psychopathologie längst
ihren Platz haben.
Es sind also zunächst diejenigen im postnatalen Leben ausbrechenden
Geistesstörungen unter dem Sammelnamen des degenerativen Irreseins unter-
zubringen, welche am deutlichsten ihren endogenen, von äusseren Um-
ständen unabhängigen Charakter zeigen. Ein Typus hiervon sind die perio-
dischen Formen des Irreseins. Allerdings werden auch hier bei den ein-
zelnen Ausbrüchen der bestehenden „Anlage" sehr leicht äussere Causalitäten
zu den einzelnen Perioden gesucht, sei es nun, dass der Mond, oder atmo-
sphärische Einflüsse, oder Aerger, Ueberanstrengung etc. als Gelegenheitsursache
angeschuldigt wird. Bei unbefangener Prüfung der Fälle zeigt sich aber,
dass, wenn einmal jemand dazu durch seine Organisation determinirt ist,
mehrere Anfälle von Geistesstörung zu bekommen, dass diese dann ohne jede
Beziehung zu äusseren Umständen in den besten und ruhigsten A'erhältnissen
und allen Vorbeugemassregeln zum Trotz ausbrechen. Allerdings darf nun
nicht jeder, der in seinem Leben mehrfach Anfälle von Geistesstörung hat,
als periodisch geisteski-ank im Sinne des degenerativen, endogen bedingten
Irreseins erklärt werden.
*) cfr. MoEBius, Die Eintheilung der Nervenkranklieiten. Centralblatt für Nerven-
heilkiinde und Psychiatrie 1892. Juli.
360 DEGENEEATIVES IRRE SEIN.
Für den Praktiker ist die Kenntnis der periodischen Psy-
chosen besonders wichtig wegen der günstigen Prognose des einzelnen An-
falls. Es ist deshalb bei jeder geistigen Erkrankung nicht nur der Beginn
dieser zu erörtern, sondern auch das oft schwer zu ermittelnde Vorhandensein
früherer Anfälle. Lässt sich dieses mehrfache Vorhandensein von Anfällen
psychischer Störung feststellen, so ist vor Allem zu fragen, ob diese Anfälle
etwa nur Ausdruck einer anderweitigen mit Geistesstörung verbundenen Nerven-
krankheit sind. Vor allem ist hierbei an Epilepsie zu denken und dement-
sprechend zu forschen. Es kommen jedoch z. B. auch Fälle von progressiver
Paralyse vor, welche mit ihrem Wechsel von Geistesstörung und Eemissionen
symptomatisch ganz den Eindruck einer periodischen Geistesstörung machen
können. Ferner ist auszuschliessen, dass die verschiedenen einander folgenden
Anfälle von Geistesstörung Folgen einer wiederholten von aussen kommenden
toxischen Einwirkung sind. Wenn z. B. jemand unter wiederholtem Abusus
spirituosorum mehrfach delirium tremens bekommt, welches öfter atypisch ver-
läuft und mit anderen Formen von Geistesstörung (hallucinatorische Ver-
wirrtheit, hallucinatorischer Wahnsinn etc.) verwechselt werden kann, so kann
fälschlich eine endogene periodische Geistesstörung angenommen werden,
während es sich um wiederholte Folgen gleicher äusserer Schädlichkeiten
handelt. Ebenso ist es z. B. bei mehrfachen Intoxicationen durch Gifte, wjelche
im eigenen Körper bei bestimmten Krankheiten gebildet werden, z. B. bei
Uraemie, ähnlich ferner beim Coma diabeticum.
Ferner muss erwogen werden, ob es sich etwa bei den verschiedenen
„Anfällen" nur um „Exacerbationen" oder stärkere Aeusserungen einer dauernd
bestehenden Geistesstörung handelt. Hier kommt besonders der Schwachsinn
mit Aufregungszuständen und die chronische Paranoia mit vorübergehenden
stärkeren Aufregungen in Betracht.
Schliesst man jedoch bei der Diagnose alle diese Fälle aus, so kann
man das wiederholte Auftreten von Geistesstörung als periodische Krankheit
bezeichnen und muss diese Formen für durchaus endogen als Typus des
degenerativen Irreseins erklären.
Die specielle Form, unter welcher die einzelnen Anfälle der periodischen
Geistesstörung auftreten, kann sehr verschieden sein. Es gibt eine perio-
dische Manie, periodische Melancholie, periodische Verwirrtheit, periodischen
hallucinatorischen Wahnsinn, periodische Zwangstriebe z. B. Dipsomanie.
Eine besondere Art der periodischen Geistesstörung ist das circuläre Irresein,
welches sich in einem Wechsel von „geistiger Gesundheit, Manie, geistiger
Gesundheit, Melancholie, geistiger Gesundheit u. s. w." abspielt. (Vergl. „Cir-
culäres Irresein'' p. 264 d. B.). Wenn die eingeschobenen Perioden geisti-
ger Gesundheit sehr kurz sind, so kann auch scheinbar ein blosser Wechsel
von Melancholie und Manie auftreten.
Die specielle symptomatische Erscheinungsform ist jedoch hier ver-
schwindend gegen den periodischen Zeitcharakter und die endogene Natur
der Störung.
An zweiter Stelle ist als durchaus endogene Geistesstörung die ori-
ginäre Paranoia zu nennen. Es handelt sich um Menschen, bei denen
die Entwickelung von verkelirten Ideen sich bis in die fi'ühe Kindheit zurück-
verfolgen lässt und die oft schon in sehr frühem Lebensalter in völliger Para-
noia endigen. Diese Gruppe von Geistesstörung ist jedoch klinisch so genau
umgrenzt, dass es trotz ihrer unzweifelhaft endogenen Natur verfehlt wäre,
sie unter dem weiten Begriff des degenerativen Irreseins unterzubringen.
Entsprechend ist es bei der im späteren Leben ausbrechenden Paranoia, so
dass wir diese Krankheitsformen später an anderer Stelle genauer behandeln
müssen. Nur muss hier die Frage kurz berührt werden, ob die Paranoia,
wenn sie nach einer Pteihe von Jahren geistiger Normalität ausbricht, überhaupt
DEGENERATIVES IRRESEIN. 361
ZU den endogenen Geistesstörungen gerechnet werden kann. Es sind jedoch
fast alle psychiatrischen Schriftsteller darüber einig, dass auch die spät aus-
brechende Paranoia fast immer Menschen betrifft, welche schon durch ihr
ganzes Leben lang sonderbare Züge gezeigt und die sehr häufig durch ander-
weitige Fälle von Geistesstörung in der Familie als erblich belastet erschei-
nen. Jedenfalls schliessen wir aber auch trotzdem die Paranoia hier aus der
Betrachtung aus, weil sie als klinisch genau definirbare Krankheitsform eine
gesonderte Betrachtung verdient.
An vierter Stelle muss der primäre Schwachsinn genannt werden,
welcher meist im Anfang der Zwanziger Jahre ausbricht und bei dem sich
nach einem relativ kurzen Initialstadium, in welchem das Bild der Manie,
Melancholie oder Paranoia bei oberflächlicher Betrachtung vorgetäuscht werden
kann, das ganze geistige Leben auf ein niedrigeres Niveau einstellt. Es ist
das gerade eine sehr wichtige Aufgabe der psychiatrischen Diagnostik, die-
jenigen Fälle von scheinbarer Manie oder Melancholie etc., in denen von vorn
herein das Element des Schwachsinns dominirt, richtig zu erkennen und diese
Fälle trotz der Aehnlichkeit mit anderen Formen von Psychose bald in die
für die Prognose entscheidende Ptubrik des primären Schwachsinns unter-
zubringen. ■ — Dieser Schwachsinn entstellt manchmal mit ganz kurzen aber
häufigen Aufregungszuständen, die für die Umgebung oft gar nicht unter den
Begriff der Psychose kommen. Die Kenntnis der durchaus endogenen Natur
dieser Krankheit ist von grösster Wichtigkeit für den Praktiker, weil gerade
in solchen Fällen immer causae externae gesucht, und oft Kecriminationen von
Angehörigen etc. erhoben werden. Z. B. handelt es sich nachweislich bei
einer Pieihe von schweren Soldatenmisshandlungen um solche während der
Militärzeit primär schwachsinnig Gewordene, welche gerade durch ihren nicht
richtig erkannten Schwachsinn die Brutalität von Vorgesetzten herausfordern
und später als „geisteskrank gemacht" hingestellt werden. Die specielle S}inp-
tomatologie dieser Krankheit muss später genauer erörtert werden. Auch
hier ist es besser, wegen der klinischen Abgrenzung diese Gruppe aus dem
Begriff des degenerativen Irreseins herauszunehmen und diesen noch mein-
einzuengen.
So schränkt sich der Kreis der Erkrankungsformen, welche unter den
Begriff des degenerativen Irreseins im engeren Sinne fallen, immer
mehr ein.
Vor allem hat man nun darunter diejenigen Geisteszustände zu verstehen,
in denen sich bestimmte Gedanken oder Gefühle, beziehungs-
weise Antriebe zu bestimmten Handlungen mit zwingender Gewalt
immer wieder in der gleichen Weise geltend machen. Wenn diese Handlungen
zufällig gegen das bestehende Gesetz sind, so imponieren sie dem psychiatrisch
Ungebildeten als Ausdruck einer besonderen criminellen Beanlagung. In Wirk-
lichkeit ist jedoch kein principieller Unterschied zwischen Zwangs-
handlungen, die sich im Rahmen des erlaubten Subjectivismus bewegen, und
solchen, welche im einzelnen Fall von psychiatrisch Ungebildeten als criminelle
Acte aufgefasst werden. Ebenso wenig ist psychologisch ein Unterschied
zwischen Zwangsgedanken, welche social indifferent sind und solchen, welche
ideell gegen bestehende Zustände gerichtet sind.
Für die Darstellung dieser Zustände ist es geeignet, das Moment des
Zwingenden in den Vordergrund zu stellen und die psychologische Differenz
von blossen Gedanken und Antrieben bei Seite zu lassen. Wir wollen daher
im Folgenden auch die stereotyp mit zwingender Gewalt auftretenden Gedanken
als Ausdruck eines Triebes mit den Antrieben zu Handlungen zusammen-
fassen. Diese Zwangstriebe müssen nun von einem doppelten Gesichtspunkt
aus einget heilt werden.
362 DEGENERATIVES IRRESEIN,
1. Nach der Reaction, welche die Gesammtpersönlichkeit des Be-
troffenen auf den vorhandenen Zwangstrieb zeigt,
a) in Zwangstriebe verbunden mit dem störenden Bewusstsein des Krank-
haften und Zwingenden ;
b) in Zwangstriebe ohne Bewusstsein des Kranldiaften und Zwingenden.
2. Nach dem Verhältnis der resultir enden Handlungen zur
socialen Gemeinschaft
a) in social störende.
b) in social indifferente.
Subjectiv am meisten als Tiaöo? zu betrachten sind diejenigen, welche
einerseits als fremdartig und zwingend empfunden werden, andererseits zugleich
social störend sind, — am wenigsten subjectives rtocöo? bieten diejenigen, welche
ohne Bewusstsein des Krankhaften im Individuum vor sich gehen und zugleich
social indifferent sind.
Aus der Combination dieser beiden Eintheilungsprincipien entstehen,
folgende 4 Gruppen :
I. (la -\- 2a) Zwingende Triebe, welche als fremd und krankhaft empfun-
den werden und gleichzeitig social störend sind.
n, (la -\- Ih) Zwingende Triebe, M''elche als fremd und krankhaft empfun-
den werden und dabei social indift"erent sind.
III. (Ih -\- 2a) Zwingende Triebe, welche nicht als krankhaft zum Be-
wusstsein kommen und social störend sind.
IV. (Ih -\- 2h) Zwingende Triebe, welche nicht als krankhaft zum Be-
wusstsein kommen und social indifferent sind.
Zur ersten Gruppe gehören z. B. viele Fälle von Onomatomanie (cfr.
Magnan, psychiatr, Vorlesungen IV V), in denen das zwangsmässig producirte
Wort social störende Wirkungen hervorruft. Wenn z. B. jemand im Theater
den Zwangstrieb bekommt, „Feuer" zu schreien, so können dadurch eine
Reihe von schlimmen Wirkungen hervorgebracht werden.
Allerdings ist naturgemäss diese Gruppe am kleinsten, weil diejenigen
Menschen, welche ihren Zwangstrieb als etwas Krankhaftes empfinden, sich
nur selten in Situationen bringen werden, wo derselbe für sie durch seine
sociale Wirkung noch verhängnisvoller werden kann.
Zur zweiten Gruppe gehören eine Reihe von sehr verschiedenen Zu-
ständen, Avie Grübelsucht (folie du doute), Onomatomanie, geschlechtliche Ver-
kehrtheiten, die als solche empfunden werden, viele Fälle von Dipsomanie,
Zahlenbesessenheit, Erinnerungszwang für Gesichter, Berührungsfurcht.
Magnan tiBterscheidet 4 Unterarten der Onomatomanie: 1. Manche suchen
ängstlich nach einem Namen der Worte, 2. andere haben ein Wort im Sinn mit dem
Zwange, es zn wiederholen; specielle Form: Koprolalie. 3. anderen kommt bei einem
gewissen Worte der Zahlen immer der Gedanke, dass es eine böse oder glückliche Be-
deutung habe. 4. Bei einigen stellt sich geradezu körperliches Uebelbefinden ein durch ein
anscheinend im Magen liegendes Wort und Erleichterung durch Würgen und Ausspucken.
Diese Zustände nähern sich mit ihrer Objectivirung eines Wortes schon völlig den Hallu-
cinationen des Gemeingefühls,_-w eiche in der Paranoia eine grosse Rolle spielen
Ferner gehören hieher : Lachkrämpfe; Angst, dass durch Feuer im
Haus Unglück passiren könne, Angst vor bestimmten Gegenständen z. B.
Wachsfiguren, Leichen, missgestalteten Menschen, Gewitterfurcht, Haemato-
phobie etc. ■»
Bei der dritten Gruppe, nämlich bei denjenigen Zwangstrieben, welche
ohne subjectiven Widerstand in der Persönlichkeit eines Menschen auftauchen
und zugleich antisocial sind, befinden wir uns völlig auf dem Boden der Cri-
minalität. In der That gibt es eine grosse Menge von Verbrechern, bei
welchen dies zutrifft. Der Streit, ob hier Geistesstörung oder Verbrechen
DEGENERATIVES IRRESEIN. 363
vorliegt, ist ganz überflüssig Es handelt sich einfach um determiniert anti-
sociale Individuen, welche dauernder Detention bedürften, wenn nicht an dem
ganz unzutreö'enden Begriff der Bestrafung e i n z e 1 n e r H a n d 1 u n g e n f e s t-
ge halten würde. Zu dieser dritten Gruppe rechne ich diejenigen Fälle,
welche gewöhnlich als moral insanity aufgefasst werden. Ferner gehört
hierher der sogenannte Querulantenwahn, da wir keinen principiellen Un-
terschied zwischen zwingenden Antrieben zu bestimmten Handlungen und zwin-
gend auftretenden Gedanken, aus denen erst secundär social störende Hand-
lungen entspringen, machen. In diese Gruppe gehören ferner alle die ver-
schiedenen Arten von perverser Sexualität, soweit sie nicht durch das
sociale Moment der Verführung, sondern durch zwingende Antriebe bedingt
sind und in der Gesammtpersönlichkeit des Menschen keinen hemmenden Wi-
derstand finden. Die Erscheinungsformen dieser specifischen sexuellen Hyper-
ästhesie sind individuell so mannigfaltig, dass eine gesonderte Hervor-
hebung einzelner Perversitäten aus der massenhaften Literatur hierüber
lückenhaft und deshalb überflüssig erscheint. Es stellt sich immer mehr heraus,
dass mit allen Arten von Vorstellungen in einzelnen Persönlichkeiten im Ge-
gensatz zu der Mehrzahl der andern Menschen Wollustgefühle verknüpft sein
können. Es hat gar keinen Zweck nach der zufälligen Beschaffenheit des
Objectes (Pelze, Schuhe, bestimmte Körpertheile, homosexuelle Menschen,
Thiere, Leichen u. s. f.) einzelne Krankheitsformen der sexuellen Perver-
sität zu unterscheiden. Das Wesentliche ist stets die Stellung dieser zwin-
genden Neigungen im Gesammtcharakter einerseits und der mehr oder minder
starke Widerspruch der resultirenden Handlungen zu dem Zustand der
socialen Umgebung.
Bei der Beurtheilung dieser Dinge kommt noch in Betracht, ob diese
zwingenden Antriebe bei normalem Verstände oder bei vorhandenem Schwach-
sinn auftreten. Sehr häufig findet man sie auch bei Menschen, die in ju-
gendlichem Alter eine Psychose (Manie, Melancholie etc. ) durchgemacht haben
und scheinbar zur Norm zurückgekehrt sind, so dass sie von ihrer Umgebung
gar nicht als psychopathisch angesehen werden. Z. B. kenne ich eine Frau,
die nach einer abgelaufenen agitirten Melancholie ganz normal erschien, so
dass sie heiraten konnte, die nur eine unüberwindliche Neigung hatte, sich
selbst die Haare auszuzupfen, wodurch sie sich den Kopf halb kahl gemacht
hatte.
Allerdings gehört dieses Beispiel eigentlich in die letzte Gruppe, nämlich
zu den Zwangstrieben, welche subjectiv nicht als Tra'iJoc: empfunden werden und
zugleich social indifferent sind. Hierzu gehören ferner viele Fälle von Dipso-
manie, wenn die Betreffenden sich mit ihrem krankhaften Trieb abfinden
und gleichzeitig durch ihre periodische Trunksucht vermöge ilii'er socialen
Situation nicht stören. Allerdings' kann man hierbei gerade sehen, wie sehr
es bei der socialen Beurtheilung dieser Dinge auf die Umgebung ankommt.
Mancher Dipsomane kommt überhaupt nur deshalb wenig zur Kenntnis seiner
Mitmenschen, weil seine verständige Frau das „Laster" gut vor den Menschen
zu verstecken weiss. Hieher gehören sodann viele Fälle von perverser Sexua-
lität. Wenn z. B. ein Mann durch den Anblick von nackten Männern
wollüstig erregt wird, ohne dass er den Trieb zur Paederastie hat oder ihn
nicht ausübt und wenn er zur Befriedigung dieses Gelüstes Handlungen begeht,
die jedem Manne erlaubt sind, z. B. Badeanstalten besucht, so ist er in socialer
Beziehung ganz indifferent, während er psychopathologisch völlig auf gleicher
Stufe mit einem sexuell Perversen steht, dessen Handlungen criminell werden.
So gibt es eine grosse Menge von Fällen, in denen gewisse für die Mehrzahl der
Menschen indifferente Vorstellungen mit grossem Wohlgefühl betont werden
und bei denen zugleich zufällig jede Criminalität fehlt.
364 DEMENTIA.
Körperliche D ege n er ationsz eichen in dem Sinne, dass aus ihrem
Vorhandensein der degenerative Charakter einer Psychose erkannt werden könnte,
gibt es nicht. Die sogenannten Degenerationszeichen, sofern sie nicht
Zeichen einer Cerebralerki^ankung sind, gehören in die Morphologie, nicht in
die Psychiatrie. ") eobeet sommer.
Dementia (Blödsinn). Unter Dementia verstehen v^ir alle Zustände von
hochgradiger Ahschwächung der Intelligenz mit nicht hervortretender Wahn-
bildung, welche, im Gegensatz zum Idiotismus, nicht angeboren, sondern er-
worben sind.
Aetiologie und Pathogenese der Dementia zeigen eine grosse Mannig-
faltigkeit. Dieselbe ist organisch bedingt, oder nur functionell. Die orga-
nische Dementia tritt primär auf bei den verschiedensten chronischen Ge-
hirnerki'ankungen, sowie nach Gehirntraumen, nach andauernden intellectuellen
und mechanischen Gehirnüberreizungen, nach habituellen geschlechtlichen Ex-
cessen und Onanie, nach chronischer alkoholischer oder anderer Intoxication,
nach mancherlei erschöpfenden körperlichen Erkrankungen, secundär nach
nicht zur Genesung tendirenden einfachen Psychosen (namentlich Melancholie
und Manie), nach Epilepsie und Hysterie. Die functionelle Dementia
kann sich nach erschöpfenden fieberhaften Erkrankungen, im Puerperium und
nach tiefen Gemüths eindrücken entwickeln.
Die Dementia zeigt eine total verschiedene Entwicklung, sowie einen
ganz anderen Verlauf, je nachdem sie acut oder chronisch in die Erscheinung
tritt.
Die Dementia acuta, welche sich in der P^egel primär entwickelt,
stellt einen acuten Erschöpfungszustand des Gehirns dar nach ernsten
consumirenden Fieberzuständen (Typhus, Variola, Erysipelas), nach schweren,
mit starken Blutverlusten verbundenen Geburten, seltener nach anderen er-
schöpfenden Einflüssen, wie geistigen Ueberanstrengungen oder intensiven
Gemüthsbewegungen, namentlich wälirend der Pubertätsentwicklung.
Zumeist handelt es sich hier um Lähmung des psychischen Centralorganes
infolge von functioneller Ueberreizung oder mangelhafter Ernährung. Bei
schweren, nach Typhus und Variola eingetretenen Fällen scheinen sich aber
auch zuweilen — nach neueren Untersuchungen — gröbere pathologisch-anato-
mische Veränderungen (degenerative Vorgänge) in den Ganglienzellen zu ent-
wickeln.
Krankheitsbild. Die Dementia acuta kann sich an Fieber- und Collaps-
delirien anschliessen, aber auch ganz plötzlich und unvermittelt ohne alle
auffallenden Vorboten hervortreten.
Der Kranke wird rasch in solchem Grade verwirrt, dass er die Umgebung und
die nächsten Angehörigen verkennt, keine verständige Auskunft melu- zu geben
vermag, sowie jedes Interesse für die Aussenwelt verliert. Während er auf
Anfragen nicht mehr in verständiger Weise zu reagiren vermag, kann er
zusammenhangslose, abgebrochene Sätze oder einzelne Worte reproduciren,
Fixirte Wahnvorstellungen sind nicht zugegen, wenn auch mitunter abrupte
Aeusserungen mancherlei unklare und rasch wieder untertauchende krankhafte
Ideen zum Inhalte haben können. Ein vages und dunkles Krankheitsgefühl
kann wohl auch zu der Aeusserung fühi^en, „den Verstand verloren zu haben,
verrückt geworden zu sein, " Die Stimmung ist mannigfachem Wechsel unter-
worfen.
Die acute Dementia kann eine stupide oder eine agitu'te Form annehmen.
Bei herrschender Stupidität sind die Kranken apathisch und absolut
passiv. Sie müssen aus- und angekleidet, gereinigt, oft auch gefüttert
*) cfr. Magnan, psychiatrische Vorlesungen IV/V., p.
DEMENTIA. 365
werden und setzen äusseren Einwirkungen nur selten einen weinerliclien Wider-
stand entgegen. In den schwersten Fällen sind sie abuliscli und reactionslos,
sie liegen dann regungslos mit stupiden und schlaffen Gliedmassen zu Bette,
äussern kein Wort und bedürfen der gleichen Fürsorge wie kleine Kinder.
Es handelt sich hier um einen tiefen geistigen Dämmerzustand, welcher aber
niemals bis zur Stufe der vollen Perceptionslosigkeit herabsinkt.
Mitunter nimmt auch die stupide Dementia einen atonischen Cha-
rakter an, namentlich wenn sie infolge intensiver Gemüthsaffecte sich eingestellt
hat. Sie kann dann durch hypochondi'ische Grübeleien oder durch neura-
sthenische Erscheinungen eingeleitet werden, oder ohne Vorboten auftauchen.
Es stellt sich zuweilen nach kurzdauernder Erregung eine ängstliche
Befangenheit ein, welche rasch zu einem tief benommenen Zustande führt. Nun
bekundet sich eine lebhafte Antheilnahme des vasomotorischen Systems in
„Rasch's" zum Kopfe, beschleunigtem Pulse mit Ueberwiegen der Carotiden-
thätigkeit bei nicht selten erhöhter Temperatur und kühlen röthlich-blauen
Händen. Bald kommen atonische Erscheinungen: Offenhalten des Mundes,
Ausstrecken der Arme und Beine, Starre der ganzen Musculatur. Die Reflex-
thätigkeit tritt zurück, während die mechanische Erregbarkeit der Muskeln er-
höht wird. Die Glieder sind aber nicht rigide und geben passiven Bewegungen
leicht nach. Jede angenommene Lage zeigt Behan'ung. Es besteht eine voll-
ständige geistige Ptegungslosigkeit, Mangel jeder Initiative, schlaffe ausdrucks-
lose Gesichtsmaske mit fast beständigem Lidschlusse. Der geistige Percep-
tionsschluss kann hier ein vollständiger werden.
Im weiteren Verlaufe der stupiden Demenz fällt die Temperatur oft unter
die Norm, die Athmung wird oberflächlich, der Puls klein und verlangsamt.
Die Pupillen sind zumeist weit und reagiren träge. Es entsteht Cyanose
und Oedem der unteren Extremitäten. Bei ungenügendem Schlafe, hartnäckiger
Obstipation und cessirender Menstruation sinkt das Körpergewicht mehr oder
weniger erheblich.
Die Erkrankung bleibt Wochen bis Monate auf ihrer Höhe, um dann einen
günstigen oder ungünstigen Verlauf zu nehmen. In ersterem Falle stellt sich
die Besserung nur sehr allmälig ein. Während wieder in langsam zuneh-
mendem Grade Muskelactionen ausgeführt werden können, hellt sich das
Bewusstsein schrittweise auf, kommen nach und nach wieder verständliche
Aeusserungen. Der Puls wird entwickelter, die periphere Cyanose tritt zurück,
die Ernährung hebt sich. Nach sehr langsamer Pieconvalescenz tritt endlich
Genesung ein.
In ungünstigen Fällen geht die acute in chronische Demenz über. Diese
zeigt entweder grössere Belebtheit und geistige Ptegsamkeit bei gleichzeitiger
x4.mnesie für alle seit dem Stuporeintritt vorgekommenen Erlebnisse, oder aber
es bleibt eine chronische Stupidität bestehen, eine Art geistigen Dämmerlebens,
in welchem der Kranke für Nichts mehr Sinn hat, oder endlich es tritt eine
partielle Rückbildung bis zur Stufe des Schwachsinns ein.
Bei der agitirten Form der Dementia acuta zeigen die Kranken eine
läppische, triebartige Erregtheit. Sie entkleiden sich, laufen und kiiechen
umher, oder suchen in der albernsten Weise zu entweichen. Sie arbeiten sinn-
los an ihren Kleidungs- und Bettstücken herum, wühlen in der Erde, klatschen
mit den Händen. Sie machen ohne Furcht vor Gefahr die waghalsigsten Exer-
citien. Sie stecken Alles, was ihnen in die Hände kommt, in die Taschen,
sie verzehren ohne Sättigungsgefühl alle erreichbaren Nahrungsmittel. Sie lachen
oft plötzlich und ganz unmotivirt laut auf und ergehen sich in oftmaliger
Wiederholung der gleichen unzusammenhängenden Worte und Sätze, um an
anderen Tagen ein vollkommen schweigsames Verhalten zu zeigen.
Auch diese Form kann, und zwar zumeist durch ein Stadium der Moria
hindiuTh, mit langsam zunehmender geistiger Aufliellung in Genesung über-
366 DEMENTIA.
gehen ; eben so oft aber aucli, namentlich bei zugrunde liegender Onanie, zu
dauernder blödsinniger Abstumpfung führen.
Die chronische Dementia stellt sich als eine dauernde hoch-
gradige Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit dar, und zwar
in den verschiedensten Abstufungen nach abwärts bis zum gänzlichen Ausfall,
resp. Stillstand der psychischen Functionen. Sie kann sich primär nach den
eingangs angegebenen Schädlichkeiten oder secundär namentlich nach nicht
geheilten Psychosen (besonders nach Manie und Melancholie) entwickeln.
Symptomatologie. Den Grundzug der chronischen Dementia bildet
eine mehr oder minder tiefe Abschwächung aller Seelenfunctionen,
welch' letztere bald gleichmässig, bald verschiedenartig betroffen sind.
U r t h e il und Auffassung sind mehr oder minder hochgradig geschwächt,
oft bis zu dem Grade, dass keine Perception mehr klar und richtig erfolgt
und sell)st geläufige Denkoperationeu geschädigt oder aufgehoben sind. Die
einfachsten Begriffe gehen verloren und schliesslich bilden nur noch Trümmer
bunt zusammengewlü'felter Yorstellungsmassen den Inhalt des Bewusstseins.
Die Associationen werden defect und entbehren jeder Logik,
Das Gedächtnis hat zumeist in gleichem Grade gelitten, kann aber
auch für gewisse Lebensabschnitte oder einzelne Wissensgebiete (z. B. Rechnen)
in contrastierender Schärfe erhalten bleiben. Die Rede ist unzusammenhängend
und ergeht sich in monotonen Gemeinplätzen, wobei unter Umständen manche
geistige Richtungen noch bis zu einem gewissen Grade beherrscht werden
können. Viele Kranke reden gar nicht, oder antworten nur auf Suggestiv-
fragen mit einem, oft durchaus nicht zutreffenden, „ja" oder „nein". An-
dere wiederholen einfach die an sie gerichtete Frage (Echolalie). Wieder An-
dere sprechen nur in der Infinitivform des Zeitwortes oder von sich in der
dritten Person. Der Inhalt der Rede kann sich auf die banalsten Phrasen
beschränken oder auch abgeblasste Reste früher gehegter Wahnvorstellungen
zum Ausdruck bringen. Je tiefer der Blödsinn, desto weniger zusammen-
hängend sind die sprachlichen Entäusserungen.
Die Stimmung ist theilnahmslos, apathisch. Die Apathie nimmt mit
dem Fortschritt des Blödsinns zu und endet in den höchsten Graden mit ab-
soluter Gleichgiltigkeit. An Stelle der altruistischen Gefühle tritt der niederste
Egoismus. Sogar dieser kann schliesslich schwinden, so dass die Kranken für
Hunger und Durst, für Wärme und Kälte unempfindlich werden. Bei manchen
derselben kann aber auch die eine oder andere Richtung des Gemüthslebens
auffallend lang erhalten bleiben z. B. die Pietät, bestimmte Liebhabereien ; aber
auch die letzteren werden immer mehr mechanisch und unklar. Andere
wechseln zwischen freundlichem Wesen und Gereiztheit mit lebhaften Zorn-
ausbrüchen oder gerathen von Zeit zu Zeit in vage Angstzustände mit Raptus
von Gewaltthätigkeit gegen sich oder Andere.
Das Begehren kann auf die niedersten sinnlichen Triebe sich be-
schränken, auf unersättliche Gefrässigkeit, bis zum Verzehren von Koth und
Urin, schamlose Masturbation, päderastische Gelüste. Nicht ganz selten macht
sich ein zwangsmässiger Trieb zum Stehlen oder zum Brandstiften geltend.
Bei eingehenderer Betraclitung treffen wir bei der Dementia die verschieden-
artigsten Krankheitsbilder ; alle lassen sich aber auf 2 Haupttypen, die apa-
thische und die versatile Form, zurückführen.
Bei der apathischen Dementia überwiegt die allgemeine Passivität
und Reactionslosigkeit, mitunter mit Mutacismus verbunden. Die Kranken
stehen oder kauern oft Tage lang an derselben Stelle, halten die angenommene
Lage krampfliaft fest und lassen sich nur widerwillig in Bewegung setzen.
Sie sind zu keiner Thätigkeit oder Entäusserung zu vermögen. Viele lassen
Stuhl und Urin unter sich gehen.
DEMENTL\. 367
Bei der versatilen Form lierrsclit eine planlose Unruhe, eine un-
geordnete psycho-niotorisclie Aufregung, in ^Yelcller sich die l)löden Willeus-
äusserungen der Kranken ohne Ziel und Zweck geltend machen. Ist der An-
trieb nach einer bestimmten Richtung hin häufig wiederholt worden, so wii'd
derselbe leicht fixirt. So entstehen eigenthümliche automatische Acte, Avie
stundenlang fortgesetztes einförmiges Hin- und Herrennen in einem genau
bestimmten Wegstücke oder im Kreise, bestimmte Körperbewegungen, wie
Falten der Hände, Niederkauern u. dgl. m. Ein Versuch, die Kranken zu
hemmen, kann, ebenso wie bei den Apathischen die Aufmunterung, leicht Paro-
xysmen von Gereiztheit bis zu massloser Heftigkeit heraufbeschwören.
Körperliche Begleiterscheinungen: Die allgemeinen Aende-
rungen des motorischen Verhaltens liegen im psychischen Gebiete der Moti-
lität und kennzeichnen sich als Störungen der Mimik und Physiognomik, der
Haltung und der willkürlichen Bewegungen. Die Gesichtszüge sind stumpf
und geistlos oder verzerrt, die mimischen Bewegungen erfolgen träge und
langsam, oder ungeregelt und choreaartig überstürzt. Die Kopfhaltung ist
in der Piegel schlaff; der Blick bald blöde hinstaunend, bald anhaltend auf
den Boden gerichtet, bald neugierig umhergaffencl. Die Augenlider sind oft
geschlossen. Der meist geöffnete Mund ergiesst überreichen dünnen Speichel.
Die Körperhaltung ist bei den apathischen Kranken vornübergebeugt, bei
Manchen steif. Zuweilen besteht eine gesteigerte Pteflexerregbarkeit der Planta
pedis mit klonischem Ki-ampfe des Fusses, sobald derselbe auf den Boden gesetzt
wii'd. Die Körperobeiüäche ist gewöhnlich pastös, gedunsen und fettreich.
Später kann auch die Haut eine pigmentartige DüiTe zeigen und sich reichlich
abschuppen. Oft besteht vasomotorische Lähmung mit Kälte, Cyanose und
Oedem der Extremitäten. Der Puls ist zuweilen auffallend veränderlich. Die
Haut-Sensibilität erweist sich in den höheren Graden der Dementia stets
abgestumpft, uamentlich die Schmerzempfindlichkeit. Die Sensibilität kann
auch periodisch und partiell aufgehoben sein.
Der Krankheit SV erlauf gestaltet sich verschiedenartig. Im All-
gemeinen geht der Blödsinn langsam zu immer tieferen Stufen abwärts. In
manchen Fällen hält sich der Zustand ziemlich stationär ; nicht selten aber
zeigt er periodische Aenderungen zwischen tieferer Torpidität und grösserer
Belebtheit oder Wechsel zwischen stumpfsinnigen und manisch erregten Perio-
den. Zuweilen beobachtet man aber auch erfi'euliche Besserungen, in welchen
das Interesse innerhalb beschränkter Grenzen wieder erwacht, der Ki'anke
etwas zugängiger und theilnehmender wird und wieder etwas beschäftigt werden
kann. Leider aber folgen auf solche Besserungen nur allzu häufig Piückfälle
in den Stumpfsinn.
Die pathologische Anatomie ergibt bei der acuten Demenz, bei
der es sich in der grösseren Zahl der Fälle um functionelle Störungen zu
handeln scheint, zumeist einen negativen Befund. Bei der clu-onischen Demenz
finden wir Atrophie der Windungen des Vorderhirns bald geringeren, bald
höheren Grades infolge degenerativer Veränderungen des Gewebes.
Die Therapie der Dementia hat wichtige symptomatische Aufgaben zu
erfüllen. Bei der acuten Erkrankung ist Bettruhe zu empfehlen, weiter
Sorge für genügende Eruälu'ung, für Pteinlichkeit, für Pflege der Haut durch
Bäder. Bei wieder beginnender Pieactionsfähigkeit muss dieselbe -— aber in
der schonendsten und vorsichtigsten Weise — gefördert werden. Die wieder
erwachende geringe geistige Kraft muss methodisch geübt werden. Es handelt
sich um eine förmliche Ptückerziehung. Bei gesteigerter Reizbarkeit erweisen
sich kleine Dosen von Opium nützlich. Weiter verordnet man Roborantieu,
China und Malz-Extract und reichlichen Aufenthalt im Freien. Leichte me-
chanische Beschäftigung unter sorgsamster ärztlicher Ueberwachung fördert
sehr die Kräftigung des Gehirns.
368
DEMENTIA PARALYTICA.
Bei der chrouisclien Dementia vermag eine rationelle mid humane
Behandlung in der Irrenanstalt viel zu leisten durch Erhaltung und Hebung
der Beste der noch vorhandenen geistigen Kraft, sowie durch richtige Ver-
werthung der schlummernden. Die systematische psychische Leitung muss vor-
Allem auf eine anregende Beschäftigung bedacht sein. Sie muss unterstützt
werden durch Erfüllung aller hygienischen Anforderungen, vor Allem durch
die Gewährung einer kräftigen, aber reizlosen Kost, sowie einer gesunden
Luft. S 0 können auch bei diesen verzweifelten Fällen noch manche relative
Erfolge erzielt werden. kirn".
Dementia paralytica. Die Dementia paralytica ist eine chronische
progressive Geistesstörung. Die wesentlichsten Symptome derselben
bestehen einerseits in einem allmälig eintretenden und bis zu den höchsten
Graden fortschreitenden Blödsinn, anderseits in schweren Störungen
von Seite des Nervensystems, vorwiegend auf motorischem Gebiete. Das ana-
tomische Substrat der Erkrankung sind diffuse chronisch-entzündliche und
degenerative Processe im Gehirn, die zu einer Atrophie des ganzen Gehirns
mit vorwiegender Betheiligung der Grosshirnhemisphären führen. Der Aus-
gang der Dementia paralytica ist fast ausnahmslos der Tod ; die Dauer der Er-
krankung beträgt in der Mehrzahl der Fälle zwischen 1—3 Jahren.
Die Dementia paralytica ist eine der häufigsten Geisteskrankheiten. Unter
14923 Geisteskranken, welche im Jahre 1889 in den österreichischen Irrenanstalten be-
handelt wurden, befanden sich 1642 Paralytiker, d, i. ll°lo. Ihre Häufigkeit ist am grössten
in grossen Städten und industriellen Bezirken, am geringsten unter der ländlichen Bevöl-
kerung. So zählte die Irrenanstalt in Wien im Jahre 1889 unter 1683 Geisteskranken 320 =
197o Paralytiker, die tirolischen Landesirrenanstalten dagegen unter 773 Geisteskranken
nur 38=4-57„ Paralytiker.
Die Dementia paralytica ist eine Erkrankung eines bestimmten
Lebensalters und zwar wird gerade das Alter der vollen Manneskraft
vorwiegend befallen ; zwischen dem 35. — 55. Lebensjahre stehen ihre meisten
Opfer. Von den 1642 Paralytikern, welche 1889 in Oesterreichs LTcnanstalten
behandelt wurden, standen 1239 in diesem Alter; vor dem 30. Jahre kommt
die Erkrankung nur äusserst selten vor; nach dem 60. Jahre wird die De-
mentia paralytica von der Dementia senilis abgelöst.
Die Dementia paralytica ist ferner vorwiegend eine Erkrankung des
männlichen Geschlechtes. Von den oben erwähnten 1642 Kranken
waren 1271 Männer, 371 Frauen. Noch auffallender ist die Differenz, wenn
wir nur die höheren Stände berücksichtigen. In Oesterreichs Privatirren-
anstalten wurden z. B. 1889 behandelt: 91 männliche und 3 weibliche Indi-
viduen.
In der Aetiologie der Dementia paralytica spielt die erste Rolle die
Syphilis. Es ist dieser Zusammenhang, ähnlich wie bei der Tabes, zunächst nur
auf statistischem Wege erhoben. Der Percentsatz der Paralytiker, welche fi^üher
syphilitisch inficirt waren, ist zwar je nach den Angaben verschiedener Beob-
achter ein sehr wechselnder, aber immer ein sehr hoher (bis zu 95%), den
Percentsatz der Syphilitischen unter den nicht paralytischen Individuen des-
selben Alters und Geschlechtes weitaus überragend. Die Dementia paralytica
tritt fast nie in der ersten Zeit nach stattgehabter syphilitischer Infection auf.
sondern erst Jahre, ja meist erst Jahrzehnte später ; sie folgt besonders häufig
in solchen Fällen, in denen die secundären Erscheinungen der Lues gering-
fügig waren, oft so, dass sie übersehen wurden, und in Folge dessen auch keine
oder doch nur wenig energische antiluetische Behandlung eingeleitet wurde.
Doch ist die Paralyse nicht direct eine syphilitische Erkrankung
des Nervensystems; dagegen spricht erstens der Umstand, dass es zweifellos
viele Fälle von Paralyse gibt, in denen Syphilis nicht vorausgegangen war;
es spricht ferner dagegen, dass die anatomischen Veränderungen, welche der
DEMENTIA PARALYTICA. 369
Dementia paralytica zu Grunde liegen, nicht den Charakter syphilitischer
Producte haben und sieh von den bei wirklicher Hirnsyphilis vorgefundenen
wesentlich unterscheiden. Es spricht gegen einen directen Zusammenhang
endlich auch noch die Unwirksamkeit antiluetischer Curen bei Dementia
paralytica.
Man nimmt daher vielfa ch an, dass die Syphilis n u r e i n e P r a e d i s-
position für die Erkrankung an Dementia paralytica schafit ; oder mau denkt
mit Strümpell an die Möglichkeit, dass die Syphilis in einem ähnlichen Ver-
hältnisse zur Dementia paralytica stehen könnte, wie die Diphtheritis zu den
postdiphtheritischen Lähmungen, dass also die praesumirten Syphilisbacillen in
den späteren Perioden der Erkrankung toxische Stoffe bilden, welche deletär
auf das Gehirn wirken.
Nach der Syphilis ist unter den ätiologischen Momenten in erster Linie
zu stellen die functionelle Ueberanstrengung des Gehirns. Intellec-
tuelle Anstrengungen allein, wie sie etwa die Arbeit des Gelehrten mit sich
bringt, sind dabei weniger wirksam, als intensive geistige Arbeit, verbunden
mit heftigen Gemüthsbewegungen und Aufregungen, sowie mit körperlicher
Ueberanstrengung und Excessen. Deletär wirkt auch der Mangel an Ptuhepausen
für das arbeitende Gehirn, da bei der überhasteten Genusssucht unseres
Zeitalters die Erholung selbst zur Anstrengung wird. Es erklärt sich daher
die Häufigkeit der progressiven Paralyse bei gewissen Berufsclassen, so z. B.
bei Kaufleuten und Börsenmännern, hei Künstlern, Officieren, Seeleuten etc.
Es scheint, dass auch eine gewisse Einförmigkeit angestrengter, mit unab-
lässiger Anspannung der Aufmerksamkeit verbundener psychischer Leistungen,
bei der fortwährend dieselben wenigen Hirnelemente in Anspruch genommen
werden, schädlich wirkt ; es würde sich so erklären lassen die Häufigkeit
der Dementia paralytica bei manchen Berufen, z. B. Rechnungsbeamten und
Comptoiristen, Telegraphisten, Berufsmusikern etc.
Von weiteren ätiologischen Momenten ist noch hervorzuheben der
Älcoholmisshrauch, das Schädeltrauma, die chronische Bleivergiftung, der Miss-
hrauch des Tabaks und die Einwirkung strahlender Wärme auf den Kopf.
Die Anschauungen der Autoren über die Beziehung des Alkohol-
missbrauchs zur Dementia paralytica sind noch nicht vollständig ge-
klärt; es kann darüber gestritten werden, ob man die Alcoholparalyse als eine
Erkrankung sui generis auffassen soll oder als eine Dementia paralytica, die
nur in Folge complicirender Erscheinungen des Alcoholismus chronicus ein
abweichendes Bild darbietet. Sicher ist, dass sich auf dem Boden langdauernden
Alcoholmissbrauchs Krankheitsbilder entwickeln können, die klinisch und ana-
tomisch die grösste Aehnlichkeit mit Dementia paralytica haben.
Manchmal schliessen sich an schwere Schädeltraumen Krankheits-
zustände an, die durch ein oft jahrelanges Prodromalstadium mit wenig charak-
teristischen nervösen und psychischen Symptomen schliesslich in manifeste
Dementia paralytica übergehen. Li anderen Fällen scheint das Schädeltrauma,
ähnlich der Syphilis, nur einen prädisponirenden Einfluss zu haben.
Calorische Schädlichkeiten endlich müssen herangezogen werden,
um die Häufigkeit der Paralyse bei Feuer arbeiten!, Köchinnen etc. zu erklären.
Eine auffallend geringe Rolle spielt in der Aetiologie der Dementia para-
lytica die Heredität, wie man vielfach annimmt, weil die hereditär Veran-
lagten viel weniger als die Träger leistungsfähiger Gehh^ne der Hauptursache
der Dementia paralytica, der functionellen Ueberanstrengung unterliegen, oder,
wenn sie sich ihr aussetzen, viel früher geistig erki'anken, in einem Alter, dem
die Dementia paralytica noch fremd ist. Geschützt sind natürlich auch die
Hereditarier keineswegs gegen die Dementia paralytica, und wenn die here-
ditäre Veranlagung zwar auf die Entstehung der Dementia paralytica keinen
Bibl. med. Wissenschaften.' I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. «
370 DEMENTIA PARALYTICA.
wesentlichen Einfluss hat, so übt sie ei nen solchen doch aus auf den Verlauf
derselben.
Krankheitsbild und Siinptoiiie. Die in allen Fällen von Dementia para-
lytica gemeinsame, nie fehlende Störung der psychischen Sphäre ist der
fortschreitende Blödsinn, und es gibt zahlreiche Fälle, welche während
der ganzen Dauer der Erkrankung anderweitige psychische Störungen nicht
aufweisen. In einer anderen grossen Eeihe von Fällen treten aber zu dem
Blödsinn Symptomenbilder psychischer Störung hinzu, die mit den auch als
selbständige Krankheitsbilder auftretenden Formen der Manie und Melancholie,
zum Theile auch der Amentia, grosse Aehnlichkeit haben und gleichzeitig eben
durch den hindurchleuchtenden Blödsinn eine charakteristische Färbung be-
kommen.
Man pflegt diese beiden Varietäten der Dementia paralytica wohl auch
mit den Terminis .,])aralijtisclier Blödsinn'-' und „parahjtische Geistesstörung"
zu difierenziren. Die erstere Varietät soll zunächst Gegenstand der Schil-
derung sein.
Dem Ausbruche der Erkrankung geht oft jahrelang ein Prodromal-
stadium voraus, dessen Symptome wechselnden und unbestimmten Charakters
höchstens zur Diagnose Neurasthenie berechtigen, die drohende Gefahr aber
keineswegs mit Bestimmtheit voraussehen lassen. In der psychischen Sphäre
ist es eine gewisse Unlust zu geistiger Anstrengung und rasche Ermüdung
bei derselben, eine hypochondrische Verstimmung, die viele Kranke zu
allerlei Curversuchen verleitet; der Schlaf ist oft schon frühe gestört; die
Kranken klagen über einen andauernden Kopfschmerz, der oft als ein zu-
sammenschnüi'ender beschrieben wird, oder es sind Symptome von Hirncon-
gestion: Schwindel, Ohrensausen, Funkensehen, worüber die Kranken klagen.
Auch rheumatoide Schmerzen wechselnden Sitzes in den Extremitäten oder
in intercostalen Bahnen werden oft geklagt.
Die ersten manifesten Störungen, welche die Krankheit in der psychischen
Sphäre setzt, betreifeu die Aufmerksamkeit, das Gedächtnis und die
Stimmung. Die Kranken werden unfähig zu andauernder ener-
gischer Anspannung der Aufmerksamkeit, sodass äussere Eindrücke
oder innere Ideengänge die gewohnten, durch Uebung gefestigten Associationen
nicht oder nur unvollständig wachrufen. Die Kranken machen infolge dessen
den Eindruck der Zerstreutheit und ermüden sehr leicht bei jeder gei-
stigen Leistung.
Die Gedächtnisstörung der Paralytiker betrifft zuerst die Erwerbung
neuer Erinnerungsbilder, so dass zunächst die Ereignisse der Jüngst-
vergangenheit mangelhaft reproducirt werden, während die früheren Er-
lebnisse noch fester im Gedächtnisse haften. Es mag daran auch der Mangel
an Aufmerksamkeit Schuld sein, infolge dessen die Erlebnisse aus der Zeit
seit Beginn der Erkrankung mit geringerer Intensität in"s Bewusstsein treten
und daher auch weniger fest haften.
Wichtiger als die vorübergehende Unfähigkeit, einzelne Erinnerungsbilder
wachzurufen, wie sie auch in der Vergesslichkeit normaler Menschen manchmal
zutage tritt, ist die Constatirung v o 1 1 s t ä n d i g e r G e d ä c h t n i s 1 ü c k e n, der
dauernden Unfähigkeit, sich an einzelne vor Kurzem vorgefallene Erlel)nisse
oder Eindrücke zu erinnern. So kann es sein, dass sich der Kranke un-
mittelbar nachher nicht an einen Besuch, eine Mahlzeit u. dgl. erinnert. Aus-
nahmsweise begreifen solche Gedächtnislücken selbst grössere Zeitabschnitte
in sich, so dass sich z. B. der Ehemann nicht erinnert, dass er sich ver-
heiratet hat; dass ein Domizilwechsel, eine Reise vollständig vergessen wird.
Infolge der Zerstreutheit und Gedächtnisschwäche pas-
sieren den Kranken eine Menge von Lapsus, die zum Tlieil recht
DEMENTIA PARALYTICA. 371
charakteristisch für dieses Leiden sind. Sie unterlassen z. B. aus Mangel an
Aufmerksamkeit einzelne unter gewissen Verhältnissen übliche Handlungen:
sie gehen unvollständig gekleidet, ohne Hut, ohne Kock auf die Gasse: sie
behalten im fremden Hause, in der Kirche den Hut auf dem Kopfe; sie rauchen
im Theater, befriedigen ihre Bedürfnisse an unpassenden Orten und in in-
decenter Weise; sie schreiben Briefe ohne Adresse, machen früher ungewohnte
orthographische und Rechenfehler in Menge. Es ist nicht selten, dass sie
aus Mangel an Aufmerksamkeit an öffentlichen Orten, im Theater, in einer
Sitzung, bei einem Diner einschlafen. Sie wiederholen sich endlos in ihren
Erzählungen, ohne es zu merken, oder verlieren auch plötzlich vollständig
den Faden einer Erzählung; sie unterlassen es, im Gasthause ihre Zeche zu
bezahlen, oder zahlen sie auch zweimal; sie zahlen einen kleinen Betrag mit
einer grossen Münze oder Note, ohne auf das Herausgeben des Restes zu
warten. Die Kranken begehen massenhaft Fehler in der örtlichen und zeit-
lichen Orientirung, kommen zu früh oder zu spät, halten wichtige Termine
nicht ein; sie localisiren Erlebnisse unrichtig in der Vergangenheit. Sie ver-
irren sich in bekannten Strassen und finden gelegentlich nicht einmal ihre
eigene Wohnung, oder klingeln ein Stockwerk zu hoch oder zu tief. Die
Berufsfähigkeit des Kranken geht meist schon in diesem Stadium verloren,
indem er die wichtigsten Verrichtungen verabsäumt, Geld, wichtige Actenstücke
u. dgl. verlegt und verliert, mit seinen Arbeiten zu spät fertig wird oder ihm
sonst ganz geläufige Leistungen gar nicht mehr zu Stande bringt.
Sehr früh stellen sich Anomalien der Stimmung ein; einerseits fällt
die Apathie auf, die den Kranken gegenüber den wichtigsten Interessen unem-
pfindlich erscheinen lässt; es tritt eine Ahstunipfung der ethischen und ästhe-
tischen Gefühle ein, infolge deren der Kranke nur für grob-sinnliche Genüsse,
Essen und Trinken, empfänglich ist, während er für Beruf und Familie, Elu'e
und Anstand gleichgiltig wird. Anderseits zeigt sich eine abnorme Reizbarkeif,
die den Kranken bei den geringfügigsten Anlässen in heftigsten Zorn gerathen
lässt, ja zu Thätlichkeiten verleitet; ebenso rasch als sie kamen, sind aber
diese Ausbrüche vergessen und machen wieder der gewohnten Apathie Platz.
Auch in einer früher ungewohnten Rührseligkeit mit Neigung zum Weinen
nlacht sich diese abnorme Erregbarkeit der Gefühlssphäre oft geltend.
Häufig fehlt den Kranken von Vorneherein jedes Krankhei tsbe wu sst sein und
macht sich ihre Apathie und ein oft früh schon nachweisbarer Mangel an Kritik geltend in
der Gleichgiltigkeit, mit der die Kranken die beunruhigendsten Verstösse und Lapsus hin-
nehmen oder wohl gar mit den einfältigsten Ausreden zu beschönigen suchen. Ausnahms-
weise findet sich aber wohl noch im Anfangsstadium ein Krankheitsbewusstsein und selbst
eine gewisse Krankheitseinsicht, und erklären diese Fälle die nicht gar zu seltenen Selbst-
morde der Paralytiker im Initial Stadium. Mit diesem wirklichen Krankheitsbe-
wusstsein ist nicht zu verwechseln das wahnhafte Krankheitsbewusstsein, wie es in der
hypochondrischen Form der Dementia paralytica zum Ausdruck kommt.
Im weiteren Verlaufe nehmen alle angeführten Erscheinungen an Inten-
sität zu, es beschränkt sich ferner die Gedächtnisstörung nicht bloss auf die
Unfähigkeit zur Aufnahme neuer Erinnerungsbilder, sondern es gehen nach
und nach auch die noch in gesunden Tagen erworbenen Erin-
nerungsbilder verloren, um so leichter, je complicirter sie einerseits
sind, je weniger sie anderseits durch frühen Erwerb und unablässige Wieder-
holung gefestigt sind.
Auffallend früh geht meistens das Zahlengedächtnis verloren und die Fähigkeit
mit Zahlengrössen zu operiren. Infolge dessen kann der Kranke die einfachsten Rechen-
exempel nicht mehr lösen ; er verliert die Beurtheilung von Geld und G eldeswerth : es gellt
die zeitliche Orientirung verloren, so dass der Kranke weder Datum nocli Jahreszahl weiss
irnd ausser Stande ist, Ereignisse in der Vergangenheit richtig zu localisiren. Schliesslich
hat der Kranke sein Alter und seinen Wohnort vergessen, er weiss die Namen seiner Kinder
nicht mehr; es gehen ihm nach und nach alle die Kenntnisse und Fähigkeiten- verloren,
auf denen seine Berufsthätigkeit beruhte.
2-4* .
372 DEMENTIA PARÄLYTICA.
Die zimelimende Verarmimg des geistigen Lebens beraubt den Kranken
der Fälligkeit, an der Hand der Erfahrung eine Correctur an seinen Vor-
stellungen durchzuftihren: es macht sich ein Mangel an Kritik geltend,
vermöge dessen der Kranke Alles für wahr und möglich hält und nicht im-
stande ist, Widersprüche zwischen seinen Meinungen, Wünschen und Be-
fürchtungen und der Wirklichkeit zu erkennen. Infolge des zunehmenden
geistigen Verfalls ändert sich auch der Charakter der Kranken. Die Ver-
armung an bestimmenden Vorstellungen und der Mangel an Interesse lässt
sie jeder nachhaltigen Initiative baar erscheinen, während sie anderseits dui'ch
die Verarmung an eigenen Motiven und die Unfähigkeit ziu^ Kritik äusseren
Einwii'kungen gegenüber ungemein empfänglich, in ihren Ansichten und ihren
Affecten sehr leicht umstimmbar und zu Handlungen selbst verbrecherischer
Natur verführbar sind.
Einen leisen Anklang an die gleich zu schildernde manische Verstimmung
gewisser Paralytiker kann man in der auch bei der dementen Form sehr
häufigen Euphorie finden, vermöge deren die Kranken mit Allem zufrieden
sind, Alles sehr schön und gut finden und sich und ilu'e Verhältnisse und
Umgebung im Lichte eines kritiklosen Optimismus betrachten.
In auffallendem Contraste zu dem tiefen geistigen Verfall, den eine ein-
gehendere Untersuchung aufdeckt, steht bei solchen Kranken häufig die noch
erhaltene Fähigkeit, gewisse früh angelernte und durch lange Uebung ge-
festigte Schablonen der Verkehrsformen zu bewaliren, gewisse Leistungen
aufzubringen, die mit den immer wiederkehrenden Verrichtungen des Alltags-
lebens und des primitivsten socialen Verkehrs zusammenhängen.
Im weiteren Fortschreiten der Erkrankung geht endlich auch dieser
spärliche Rest von noch erhaltenen Leistungen verloren; in diesem vor-
geschrittenen Zustande stellt sich der durch difi'use Hirnentartung bedingte
Blödsinn des Paralytikers dar als eine Summation von Ausfallserschei-
nungen, wie sie, jede einzeln, als Folge localisirter Hirnerkrankung auch
isolirt auftreten können: als motorische und sensorische Aphasie, als Rinden-
blindheit, als Apraxie in Folge Verlustes der Bewegungsvorstellungen etc. Der
Kranke erkennt Personen und Objecte nicht mehr, er hat den Gebrauch der
einfachsten Gegenstände verlernt, er weiss Messer und Gabel nicht melir zu
gebrauchen, und die Xahi'ungsaufnahme erfolgt in primitivster Weise mit den
Händen; der Kranke ist unfähig, Geniessbares von Ungeniessbarem zu unter-
scheiden, so dass ihm selbst der eigene Koth als ein zum Verzehren ge-
eignetes Object erscheint; der Kranke kann sich nicht auskleiden, weil er sich
in seinen eigenen Kleidungsstücken nicht zurechtfindet ; er lässt Koth und Urin
unter sich, ohne von der Beschmutzung Notiz zu nehmen. Die sprachlichen
Aeusserungen sind auf ein Stammeln unverständlicher Laute reduciert und es
fehlt jede Spur von Sprachverständnis; es fehlt auch jedes Verständnis der
Vorgänge in der Aussenwelt, so dass der Kranke selbst den zu seiner Pflege
und Reinigung dienenden Proceduren in seiner Rathlosigkeit oft einen im-
pulsiven Widerstand entgegensetzt,
Wälirend so in diesen als Dementia paralytica sensu strictiori zu be-
zeichnenden Fällen die Erkrankung vom Anfange bis zum Ende in gleich-
massigem Flusse unter dem Bilde eines progredienten Blödsinns verläuft,
stellen sich in den als paralytische Geistesstörung zu bezeichnenden
Fällen im Laufe der Erlo-ankung compli eierte Symptomenbilder ein,
die in der Mehrzahl der Fälle expansiven Character haben, wäh-
rend eine Minderzahl Depressionszustände aufweist. Neben
diesen Störungen schreitet aber der Blödsinn unaufhaltsam fort
gerade wie bei der früher geschilderten Verlaufsform und es verleiht gleich-
zeitig der zu Grunde liegende Blödsinn diesen expansiven und depressiven
Geistesstörungen ein characteristisches Gepräge, durch das sie sich von den
DEMENTIA PARALYTICA. 373
analogen nicht auf der Grundlage einer Dementia paralytica auftretenden
Störungen unterscheiden.
In den expansiven Formen der paralytischen Geistesstörung durchläuft
der Kranke in rascherem oder langsamerem Tempo häufig alle Intensitäts-
stufen maniakalischer Erregung.
Anfangs ähnelt das Bild dem einer geordneten Manie; der
Kranke wird heiter gestimmt, zu überaus optimistischer Auffassung seiner
Verhältnisse geneigt, wohl auch bei Widerspruch in zornige Erregung aus-
brechend; er wird mittheilsam und zudringlich, renommirt in plumper Weise.
Die gesteigerte Genusssucht äussert sich durch Excesse in Alkohol und Yenere.
Der Kranke macht massenhaft Pläne zu Geschäften, Reisen, Heiratspläne;
geht auch an deren unüberlegte und überstürzte Ausführung; er zeigt eine
zwecklose Kauflust, als deren die beginnende Demenz manifestierende Aeusse-
rung Masseneinkäufe besonders auffallen. Sehr häufig werden die Kranken in
diesem Stadium criminell, indem sie die Mittel zu ihren Ausschweifungen
und Verschwendungen bei mangelnder Voraussicht der Folgen sich durch
freche leicht entdeckte Diebstähle und plumpe Betrügereien und Fälschungen
verschaffen. Die characteristische Zerstreutheit und Gedächtnisschwäche ver-
räth schon jetzt, dass man es mit mehr als einer einfachen Manie zu thun
hat und früher oder später geht der Optimismus, die Selbstüberschätzung dieser
Kranken in ein Symptom über, das in den nicht paralytischen Manien selten
imd nie in diesem Grade vorhanden ist, in den paralytischen Grössen-
wahn.
Auch in den Grössenwahnideen der Paralytiker kommt die Demenz zum
Ausdrucke, vor Allem in der Ungeheuerlichkeit und Absurdität der-
selben, die aller physikalischen Möglichkeit spottet und in Folge deren der
Kranke bei Zahlenangaben rasch von den Tausenden zu den Milliarden und
Billionen aufsteigt. Der Kranke vereinigt in seiner Person alle möglichen und
unmöglichen Vorzüge, er nimmt es z. B. mit 100 Gegnern auf, er hat die
schönste Stimme, kann fliegen, zeugt mit tausend Weibern täglich ungezählte
Kinder. Er versteht alle Wissenschaften und Künste, spricht alle Sprachen
und produciert etwa gar auf Verlangen ein rasch improvisiertes Kauderwelsch
als Probe einer fremden Sprache; er ist unerschöpflich in den abenteuer-
lichsten und absurdesten Projecten; er ist unermüdlich in der Aufzählung
seiner fabelhaften Reichthümer; seine Macht erstreckt sich über ganze Länder,
über die Erde, über die Welt etc.
Ferner äussert sich der Blödsinn in den v i e 1 f a c h e n W i d e r s p r ü c h e n
■der Grössenwahnideen, welche dem Kranken gar nicht zum Bewusstsein
kommen, in der Vereinigung ganz incommensurabler Grösssen, so
dass er z. B. in der Aufzählung seiner Reichthümer neben Millionen Gold
und unermesslichen Schätzen in Gold und Edelsteinen noch eine kleine Summe,
die er etwa wirklich besitzt, hinzuzufügen nicht unterlässt; oder er ist z. B.
Gott und Ober-Conducteur zugleich.
Die Demenz des paralytischen Grössenwahns äussert sich ferner auch
darin , dass dem Kranken der C o n t r a s t zwischen Wahn und Wirk-
lichkeit nicht zu Bewusstsein kommt, so dass z. B. der Weltkaiser
und Obergott sich von einem Wärter widerstandslos zu einer geringfügigen
Dienstleistung commandieren lässt oder um einen Cigarrenstummel bettelt.
Die Grössen Wahnideen des Paralytikers sind nicht fix, wie die des
Paranoikers, sondern labil, von Minute zu Minute wechselnd, ebenso rasch produciert
als vergessen. Der Paralytiker schöpft ferner seine Glrössenwahnideen aus sicli selbst,
aus seinem eigenen Kraft- und Wonnegefühl, während sie der Paranoiker gewissennassen
von aussen bezieht, allerlei missdeutete Erlebnisse und Beobachtungen oder halluciiiirte
Nachrichten als Quelle derselben anführt. Dagegen ist der Paralytiker sehr leicht Sug-
gestionen zugänglich, lässt sich Wahnideen unschwer einreden, ist aber gelegentlich auch
geneigt, sie auf irgend einen Einwand hin aufzugeben.
374 DEMENTIA PARALYTICA.
Solange der Paralytiker noch in Freiheit ist, handelt er auch seinen Grössen-
wahnideen entsprechend; er vergeudet in kürzester Zeit die grössten Summen,
macht ungemessene Einkäufe und Bestellungen, schreibt und telegraphirt
sinnlos in der Welt herum, an Behörden, Souveräne etc., ladet alle Welt zu
abenteuerlichen Festlichkeiten, engagiert Diener, Beamte etc.
Mit dem Auftreten des Grössenwahns nimmt häufig rasch die maniaka-
lische Erregung zu; die heitere Verstimmung steigert sich zu einem Gefühl
uuermesslicher Glückseligkeit, der Ideengang wird bald ein abspringender bis
zur Ideenflucht, ja bis zur vollen Verworrenheit; die motorische Unruhe
steigert sich nach und nach zu sinnlosem Toben, oder es bricht plötzlich in
Folge irgend eines Conflictes, in den der Kranke durch sein Gebahren geräth,
oder in Folge einer Behauche ein Tobsuchtsanfall ein.
Während sonst im Laufe der Dementia paralytica Hallucinationen nur aus-
nahmsweise aixftauchen und keine besondere Rolle im Kranklieitsbilde spielen, können sie
in diesen tobsüchtigen Erregungszuständen sowie auch in den später zu erwähnenden angst-
vollen Erregungszuständen manchesmal sehr massenhaft und in grosser sinnlicher Lebhaf-
tigkeit auftreten, so dass das Krankheitsbild vorübergehend Aehnlichkeit mit einem Delirium
alcoholicum oder einer hallucinatorischen Verworrenheit (Amentia) erlangen kann.
Diese tobsüchtigen Erregungszustände können sich mit Re-
missionen, in denen der Kranke nur leichtere Grade manischer Verstimmung
zeigt und wieder in etwas geordneterer Weise seinen Grössenwahn produciert,
durch Wochen und Monate hinziehen. Früher oder später tritt bei dem
Kranken eine gewisse Beruhigung ein; die Demenz hat mittlerweile unauf-
haltsame Fortschritte gemacht und die Krankheit entwickelt sich jetzt in der-
selben Weise weiter wie bei den früher geschilderten Formen der einfachen
paralytischen Demenz.
Häufig bleiben aber gewisse Residuen aus der manischen Phase zurück; der Kranke
reproduciert noch hin und wieder Bruchstücke der früheren Grössenwahnideen aber ohne
die productive Thätigkeit der Phantasie und ohne den Schwung der Stimmung des ma-
nischen Stadiums. Solche Kranke sind es wohl auch, die ab und zu massenhaften
Erinnerungstäuschungen unterliegen, indem sie in ziemlich affectloser Weise den
Inhalt von Träumen, von Erlebtem und Grehörtem oder Gelesenem in buntem Durcheinander
reproducieren und diese confusen, phantastischen Erzählungen für wirkliche Erlebnisse aus
der iüngsten Vergangenheit ausgeben.
Im Einzelfalle weist der Verlauf dieser expansiven Form der paralytischen
Geistesstörung mancherlei Verschiedenheiten auf. Es können manische Er-
regungsstadien mit Grössenwahn mehrmals bei einem und demselben Indi-
viduum auftreten, indem der progressive Verlauf der Erkrankung durch die
bald zu erwähnenden Ptemissionen eine Unterbrechung erleidet; es können
vor Allem tobsüchtige Erregungszustände in den spätesten Stadien der Paralyse
noch einmal oder mehrmals recrudesciren. Oder es kann die Erregung sehr
bald, im Laufe weniger Tage, die höchsten Grade der Tobsucht erreichen und
auf denselben verharren; der Kranke ist aufs Aeusserste verworren, fast
perceptionslos, stösst nur mehr unarticulirte Laute und abgerissene Worte
und Silben aus; die motorische Erregung weist in ihrer fast convulsionsähn-
lichen, von einem Vorstellungsinhalte ganz losgelösten Ungeordnetheit direct
auf einen organischen Hirnreiz hin; die Kranken abstiniren vollständig, zeigen
meist leichte Fieberbewegungen. Bald collabiren sie und setzen ihre triebartigen
Bewegungen noch am Boden rutschend oder in der Rückenlage einige Zeit fort,
bis zu dem bald eintretenden Erschöpfungstode. Solche in wenigen Wochen
zum exitus letalis verlaufende Fälle werden als gallopierende Paralyse
bezeichnet. Es gehört hierher übrigens auch ein Theil der Fälle, die unter
dem Namen Delirium acutum in der Literatur beschrieben worden.
Von Combinationen expansiver mit depressiven Zuständen wird sofort
die Rede sein.
DEMENTIA PARALYTICA. 375
In einer Minderzahl von Fällen hat die paralytische Geistesstörung nicht
den Charakter der Exaltation, sondern den der Depression. Es treten bei
dem Kranken ängstliche und traurige Verstimmungszustände auf mit
entsprechenden Wahnideen, die Anfangs noch in massvollerer Weise und
mit weniger absurdem Inhalte vorgebracht werden, mit der Zeit aber einen
ganz grotesken, ungeheuerlichen Inhalt bekommen und in ihrer Ab-
surdität, in den Innern Widersprüchen, in der Inconsequenz, die das gleich-
zeitige Verhalten bekundet, und in dem vollständigen Uebersehen des Con-
trastes zwischen Wahn und Wirklichkeit den Grössenwahnideen der Paralytiker
ganz analog sind und ebenso wie diese eine weit vorgeschrittene Demenz
bekunden.
Mit Vorliebe haben diese Wahnideen eine hypochondrische Fär-
bung und bilden ihren Inhalt die unmöglichsten Veränderungen des Körpers
und seiner Organe, wobei es z. B. den Kranken, dessen Mastdarm zugewachsen
ist, nicht beirrt, dass er gerade im eigenen Kothe liegt, oder den Kranken,
dessen Speiseröhre und Magen vollständig fehlen, ebensowenig hindert, den
besten Appetit zu entwickeln.
Die melancholischen Wahnideen haben meist den Charakter der
Selbstanklagen und des Kleinheitswahns, die entweder durch ihre unsinnige
Uebertreibung oder anderseits durch das Missverhältnis zwischen der läppischen
Geringfügigkeit des Wahninhaltes und der Schwere der zur Schau getragenen
Verstimmung und der davon abgeleiteten Befürchtungen den zu Grunde
liegenden Blödsinn verrathen. In anderen Fällen liegen ängstliche bis zur
Panphobie gesteigerte Erwartungsaffecte mit entsprechendem Wahninhalte vor.
Das motorische und sprachliche Verhalten der Kranken in diesen De-
pressionszuständen ist entweder ein gehemmtes und es kann sich die Hem-
mung bis zu stuporähnlichen Zuständen steigern, oder es hat den Charakter
der ängstlichen Agitation.
Auch in den depressiven Formen der Dementia paralytica verblasst nach
längerer oder kürzerer Dauer die Lebhaftigkeit der Affecte und Wahnideen
und bleibt schliesslich nur der weit vorgeschrittene Blödsinn zurück. In
manchen Fällen erfolgt nach längerem Bestehen eines depressiven Stadiums
ein Umschlag in ein expansives, ja es kann ein solcher Wechsel von manischen
und melancholischen Phasen mehrmals stattfinden, wobei jede Phase mehrere
Monate andauert und mit jeder Wiederholung ein schwereres, mehr organisch
. bedingtes Gepräge annimmt. (Circuläre Form der Dementia paralytica)
Die häufigste Form der -progressiven Paralyse ist die einfach de-
mente, wenn auch diese Kranken als weniger störend und gemeingefährlich seltener in
den Irrenanstalten gefixnden werden. Nach ihr an Häufigkeit kommt die expansive Form,
während die depressive Form und die complicirteren Verlaufsweisen am seltensten sind.
Nach meiner Erfahrung kommen die beiden letzteren Formen sowie die gleich zu bespre-
chenden Remissionen besonders in jenen Fällen zur Entwicklung, wo eine starke hereditär-
psychopathische Anlage vorhanden ist.
Die erwähnten Eemissionen können sich in allen Stadien der Er-
krankung mit Ausnahme des letzten einstellen und sind besonders häufig bei
der expansiven Form. Die mit denselben verbundene Besserung im psychi-
schen Befinden kann eine verschieden weitgehende sein. Oft handelt es sich
nur um eine gewisse Beruhigung mit Correctur der Wahnideen, häufig aber
ist damit auch eine Besserung der Leistungsfähigkeit verbunden, die das
Individuum oft nur gesund erscheinen lässt, solange es nur vor die einfachen
Anforderungen des Anstaltslebens gestellt ist, während sich den complicirteren
A'erhältnissen der Aussenwelt gegenüber doch die geistige Insufficienz heraus-
stellt; ausnahmsweise werden jedoch solche Kranke selbst wieder berufsfähig.
Die Freude ist aber meist nur von kurzer Dauer; nach einigen Wochen oder
37,6 DEMENTIA PARALYTICA.
Monaten, äusserst selten erst nach Jahresfrist, setzt die Krankheit wieder
dort ein, wo sie abgebrochen hatte, um dann unaufhaltsam zum Ende zu führen.
Neben den psychischen Störungen spielen im Bilde der Dementia para-
lytica als jenen gleich werthige Symptome auch die körperlichen eine wesent-
liche Bolle; charakteristisch sind vor Allem Inner vations Störungen in
der motorischen Sphäre.
Wie der anatomische Process der Dementia paralytica, wenn auch vorwiegend in den
Grosshirnhemisphären localisirt, sich doch mehr weniger über das gesammte Nervensystem
verbreitet, so setzen sich auch die motorischen Symptome der Dementia paralytica aus ver-
schiedenen elementaren Störungen zusammen.
Die wichtigste motorische Störung der Dementia paralytica hat nicht,
wie der Name der Krankheit glauben machen könnte, den Charakter der
Lähmung, sondern den der Coordinationsstörung; kein einzelner Muskel ist
gelähmt, aber das Zusammenwirken verschiedener Muskeln zu geordneten
Bewegungen ist erschwert. Als Sitz dieser Coordinationsstörung ist die Hirn-
rinde anzusehen; die Ataxie ist eine corticale und Coordination-
motorische Ässodatimi. (Meyneet).
Es handelt sich nicht, wie bei der spinalen Ataxie des Tabetikers, um eine fehler-
hafte Ausführung an und für sich richtiger Impulse, sondern die Impulse selbst, die Be-
wegnngsvorstellungen sind mang elliaft, weil die Associationen gelitten haben, sowohl die
innerhalb der motorischen Centren selbst ablaufenden, als auch die, welche von anderen
Rindengebieten zu den motorischen Centren hinzielen. Es bekommen darum die coordina-
torischen Störungen das Gepräge von psychischen Defecten und sind mit anderen psychi-
schen Ausfallserscheinungen, die ja auch auf corticalen Associationsstörungen beruhen,
auf's Innigste verknüpft, wie vor Allem das Studium der paralytischen Sprach- und Schrift-
störung zeigt.
Ausser der Coordinationsstörung zeigt sich oft auch ein Intentions-
tremor, bald mehr kleinwelliger Natur, bald von grosser Excursionsweite,
so dass er täuschend ähnlich werden kann dem Tremor der multiplen Sklerose.
Eigentliche Lähmungserscheinungen treten erst in den
späteren Stadien der Dementia paralytica zu Tage; aber auch da handelt
es sich, abgesehen von den passageren Lähmungen der gleich zu erwähnenden
paralytischen Anfälle, nicht um complete Paralysen einzelner Muskelgruppen,
sondern um eine zunehmende Schwächung sämmtlicher der Willkür
unterworfener Innervationen. Manchmal ist diese Muskelschwäche
halbseitig stärker ausgeprägt; es kommt dann zu Ungleichheiten in der Inner-
vation des Facialis, zum Ueberhängen des ganzen Körpers nach einer Seite
u. dgl. Es ist diese Muskelschwäche in erster Linie abhängig zu denken
von der auch die motorischen Centren befallenden fortschreitenden Atrophie
der Hirnrinde, die in feinstdisserainirter Weise eine Unmasse von nervösen
Zellen und Fasern zum Schwunde bringt, ohne doch an irgend einer Stelle
den der Neurose eigenthümlichen und zu completer Lähmung führenden voll-
ständigen Untergang aller Elemente herbeizuführen.
Die Functionen, bei denen sicli die motorischen Störungen der Dementia
paralytica meist zuerst zeigen, sind die Sprache und die Schrift und man
hat daher von jeher auf den Nachweis der Sprachstörung grosses Gewicht flu'
die Diagnose dieser Erkrankung gelegt.
Die Sprachstöruirg der Paralytiker hat in früheren Stadien
weder den Charakter der Aphasie (abgesehen von den später zu erwähnenden
Anfällen), noch den der Lähmung, wie sie etwa bei der progressiven Bulbär-
paralyse sich findet; es ist nicht das Wort und nicht der Buchstabe, w as dem
Kranken fehlt, aber die Verbindung von Lauten zu Silben und Worten ist
eine erschwerte; es zeigt sich das charakteristische Silb e n s to Ip ern. Es werden
einzelne Silben ausgelassen oder anderseits verdoppelt; es werden Silben um-
gestellt, nicht nur innerhalb eines Wortes, sondern auch aus einem Worte
in ein anderes, oder die Silbe wird ganz umgekehrt; oder es werden endlich
DEMENTIA PAEALYTICA. 377
in eine Silbe fremde Buchstaben hineingestellt (z. B. drittende reitere
Katrilleriebrade statt diitte reitende Artilleriebrigade). Die Coordinations-
störung Yerräth sich beim Sprechen der Paralytiker auch in dem Ueber-
mass von Bewegungs Innervationen, die er dabei aufwendet; beginnt
ein solcher Kranke zu sprechen, so sieht man oft schon eine Eeihe von un-
regelmässigen Zuckungen über sein Gesicht ablaufen, bevor er einen Laut
herausbringt, und während des Sprechens treten fortwährend allerlei mimische
Mitbewegungen ein. Als Coordinationsstörung ist es offenbar auch aufzu-
fassen, wenn die Phonation der Articulation vorauseilt, so dass der Aussprache
des articulirten Wortes ein unarticulirter Laut vorausgeht. Durch mangel-
hafte Articulation überhaupt bekommt die Sprache der Kranken etwas Ver-
waschenes, w^odurch sie schwer verständlich wird.
Ausserdem wird häufig eine Verla ngsamung der Sprache beobachtet,
die oft den ausgesprochenen Charaläer des (sonst bei der multiplen Sklerose
häufigen) Scandirens hat. Manchmal ist auch wirkliches Stottern zu beobachten
und endlich verräth sich der Litentionstremor durch ein eigenthümliches
Tremuliren und Vibriren der Stimme.
Am auffälligsten zeigt sich die Sprachstörung beim lauten Lesen, eine
Prüfung, die daher sehr zu empfehlen ist. In vorgeschrittenen Fällen verliert
das Gelesene durch die Entstellung und Auslassung von Silben und Worten,
ja von ganzen Zeilen, jede Aehnlichkeit mit dem Original. Es eignet sich
diese Prüfung übrigens auch sehr, um die Gedächtnisschw^äche und Zerstreut-
heit der Kranken zu demonstriren, indem dieselben häufig nicht einmal den
einfachsten gelesenen Satz seinem Inhalte nach ausw^endig zu reproduciren
imtande sind.
In den späteren Stadien der progressiven Paralyse kommen mehr
und mehr auch eigentliche aphasische Störungen zur Geltung, die
aber meist wegen der Gleichzeitigkeit, mit der sie alle der Sprache zuge-
hörigen Theilfunctionen betreffen, und wegen der nur allmäligen Zunahme
selten (abgesehen von den paralytischen Anfällen) eine selbstständige Be-
deutung erlangen, sondern meist im Bilde des progredienten Blödsinns
aufgehen.
Noch früher und deutlicher als beim Sprechen macht sich die motorische
Störung in der Schrift geltend; Die Handschrift verändert sich, die Incoor-
dination verräth sich in den unregelmässigen, oft ausfahrenden Zügen, in der
mangelhaften Führung der Zeile; eine dem Silbenstolpern der Piede ganz
analoge Erscheinung ist das Auslassen, die Versetzung, oder Wiederholung
von Buchstaben und Silben. Ausserdem macht sich die Gedächtnisstörung
durch eine Menge von Lapsus in den schriftlichen Mittheilungen der Kranken
bemerkbar. Oft kommt es schon frühe, in einem Stadium, wo die Kranken
noch leidlich sprechen, zu vollständiger Agraphie.
Allmälig leiden ausser der Sprache und der Schrift auch andere feinere
Bew^egungen, der Kranke verliert die Fähigkeit zum Ciavier- oder Violin-
spiel; man vermisst die gewohnte Sicherheit im Billardspiele oder bei irgend
welchen feinen Handarbeiten. Endlich geht auch die Sicherheit bei gröberen
Bewegungen verloren, der Kranke hat Schwierigkeiten beim Au- und Auskleiden,
beim Zu- oder Aufknöpfen, bei der Handhabung des Essbesteckes. Auch der
Gang und die Erhaltung des Gleichgewichtes leidet endlich, der Gang wird
unsicher, mit kleinen schlürfenden oder trippelnden Schritten, oder er be-
kommt den Charakter des ataktischen oder spastischen Ganges, wobei aller-
dings auch die gleich zu erwvähnenden spinalen Complicationen eine Piolle
spielen; häufig tritt Rombergsches Phänomen auf. Schliesslich verlieren die
Kranken vollständig die Fähigkeit zu gehenf sie werden dauernd bett-
lägrig und es treten dann wohl auch starre Beugecontracturen der unteren
Extremitäten ein. In den letzten Stadien leiden nicht nur die von der Rinde
378 DEMENTIA PARALYTICA.
aus innervirten Bewegungen, sondern auch die Reflexbewegungen; practisch
am wichtigsten sind die Schlingbeschwerden vorgeschrittener Paralytiker, da
sie durch die Aspiration von Ingestis oder Speichel häufig den exitus letalis
verursachen.
Die in vorgeschrittenen Fällen selten fehlende Mitbetheiligung des
Rückenmarkes kommt ebenfalls in den motorischen Störungen zum Aus-
drucke. Hat die Rückenmarkserkrankung, wie das häufig der Fall ist, ihren
Sitz in den Hintersträngen, so treten ähnliche Erscheinungen auf, wie
bei der Tabes dorsalis, nur meist in geringerer Intensität, entsprechend der
meist geringeren Ausbildung der Veränderungen im Rückenmarke. Jedenfalls
fehlen in allen derartigen Fällen die Patellarreflexe.
In einzelnen Fällen aber ereignet es sich, dass die Tabes schon jahre-
lang vorausgeht und ihre Symptome zu beträchtlicher Entwicklung gelangen
und dann erst die Erscheinungen der Dementia paralytica hinzutreten. Man
hat diese Fälle als ascendirende Paralyse beschrieben, wobei das Ascen-
diren nicht in dem Sinne zu verstehen ist, als v^ürde ein directes, continu-
irliches Aufsteigen des anatomischen Processes vom Rückenmarke in das
Gehirn stattfinden ; es soll damit nur die zeitliche Aufeinanderfolge in dem
Auftreten von spinalen und cerebralen Symptomen ausgedrückt werden..
In anderen Fällen betriff't die Rückenmarkserkrankung die Seiten-
stränge, welcher Process wohl als secundäre Degeneration in Folge Unter-
gangs nervöser Elemente in den motorischen Rinden-Centren aufzufassen ist.
In solchen Fällen finden wir die Patellarreflexe gesteigert, seltener ist
auch Fussphänomen nachzuweisen ; dagegen sind die Sehnenreflexe auch an
den oberen Extremitäten ausserordentlicli lebhaft ; ferner finden wir Hyper-
tonie der Musculatur mit spastischem Gang, mit Widerstand bei activen und
passiven Bewegungen, endlich auch Contracturen.
In vielen Fällen werden bei Dementia paralytica oculopupilläre
Symptome beobachtet, die mit den bei Tabes vorkommenden identisch sind.
Unter ihnen sind am häufigsten und zugleich wichtigsten wegen ihrer Be-
deutung für die Diagnose die Innervationsstörungen der die Pupillenweite
regulirenden Muskeln. Man findet oft ungleiche Pupillen, ferner abnorme
Enge (spinale Myosis) oder Weite einer oder beider Pupillen und endlich das
am meisten charakteristische Symptom der reflectorischen Pupillen-
starre. Viel seltener als bei Tabes findet sich primäre Opticus- Atrophie;
ebenso treten in seltenen Fällen, dann aber oft schon in frühen Stadien, Augen-
muskellähmungen auf.
Häufig leidet im Laufe der Dementia paralytica die Innervation der
Sphinkteren. Anfangs ist es vorwiegend der Mangel an Aufmerksamkeit
und die Unempfindlichkeit, die den Kranken das auftretende Bedürfnis zur Ent-
leerung übersehen lässt, so dass es dann zur unwillkürlichen Entleerung kommt,
von der, der Kranke häufig ebensowenig Notiz nimmt, sodass er, ohne es zu wissen,
mit beschmutzten Kleidern herumgeht; oder man findet seine Blase bis zum Nabel
ausgedehnt, so dass der Neuling zum Catheter greift, während es oft nur der
eindringlichen Aufforderung an den Kranken bedarf, seine Blase zu entleeren.
In späteren Stadien kommt es aber zu wirklichen Lähmungserscheinungen im
Bereiche der Sphinkteren, wobei die spinale Complication bestimmend auf die
Art der Functionsstörung einwirkt; es kommt dadurch spastische oder atonische
Blasenlähmung zu Stande, im ersteren Falle entweder mit Retention oder mit
Incontinenz durch reflectorische Entleerungen, im letzteren Falle zu Retention
mit Abträufeln des Harns bei ausdrückbarer Blase.
Von körperlichen Functionen ist vor Allem auch der Schlaf meist
gestört, und zwar ist die Schlaflosigkeit häufig eines der ersten, schon in das
Prodromalstadium zurückreichenden Symptome und sie wird während manischer
Exaltationen oder während melancholischer Angstzustände häufig eine absolute.
DEMENTIA PARALYTICA. 379
In den späteren Stadien und in der dementen Form leidet der Schlaf meist
weniger.
Nicht bloss die motorischen Innervationen leiden bei der Dementia
paralytica sondern in späteren Stadien ausnahmslos auch die Sensibilität;
besonders die Schmerzemplindlichkeit erlischt oft vollständig; infolge dessen
können schwere Erkrankungen oder Verletzungen ganz schmerzlos ver-
laufen, so dass solche Kranke sich selbst die ärgsten Verstümmelungen bei-
zubringen im Stande sind oder mit einem fracturirten Oberschenkel noch
herumgehen; auf einen Rippenbruch z. B. wird man überhaupt nur selten
durch den Kranken aufmerksam gemacht.
Intercurrent treten im Verlaufe der Dementia paralytica schwere motorische
Störungen auf, die sogenannten paralytischen Anfälle. Dieselben äussern
sich entweder in Krämpfen oder in Lähmungen mit begleitenden Bewusstseins-
störungen und werden demnach als epileptiforme und apoplectiforme
Anfälle bezeichnet.
Die ersteren, die epilepti formen Anfälle, können ganz das Bild
eines echten epileptischen Insults darbieten: der Kranke fällt plötzlich be-
wusstlos um und bekommt tonische und klonische Convulsionen in allen
Muskelgruppen; meist verrathen die Krämpfe ihren corticalen Charakter
durch ihr ursprünglich halbseitiges Auftreten; oft verlaufen die Convulsionen
sogar, von einer Muskelgruppe ausgehend, ganz wie bei einem Anfalle typischer
corticaler Epilepsie. In manchen Fällen beschränken sich die Convulsionen
auf eine Körperhälfte oder gar nur auf eine Muskelgruppe; in diesen unvoll-
ständigen Anfällen fehlt wohl der Bewusstseinsverlust oder es tritt nur eine
leichte Trübung des Bewusstseins ein. Manchmal weichen die Krämpfe durch
eine längere, über Stunden, ja bei geringer Intensität selbst über Tage sich
erstreckende Dauer von dem Bilde gewöhnlicher epileptischer Anfälle ab.
Diese epileptiformeii Anfälle können gerade so wie die wirklichen epileptischen Anfälle
anch gehäuft auftreten, zu 10—20—30, ja 100 und mehr im Tage, so dass sich ein förm-
licher Status einlepticus herausbildet. Dem Ausbruche dieser Anfälle gehen häufig kürzere
oder längere Zeit Prodrome, vorwiegend Symptome von Gehirn-Congestion voraus. Die
Erholung aus denselben erfolgt meist nicht so rasch, wie nach wirklichen epileptischen
Anfällen.
Bei den ap o ple et i formen Anfällen kann unter dem Bilde eines
apoplectischen Insultes eine halbseitige Lähmung auftreten, so dass sich der
momentane Zustand in nichts unterscheidet von dem nach einer Hämorrhagia
cerebri; auch die Aphasie fehlt nicht bei rechtsseitigen Lähmungen. Diese
Lähmungen unterscheiden sich aber von den nach Blutungen oder Embolien
auftretenden durch die Dauer; selbst eine complete halbseitige Lähmung kann,
wenn durch einen solchen paralytischen Anfall bedingt, im Laufe eines oder
einiger Tage wieder schwinden; dauernde schwere Lähmungserscheinungen
bleiben nach diesen paralytischen Anfällen überhaupt nicht zurück.
Als rudimentäre derartige Anfälle muss man ganz kurz dauernde und
ohne Bewusstseinsverlust aber doch mit nur leichter Bewusstseinstrübung einher-
gehende Lähmungserscheinungen eines Armes, eines Beines, einer Gesichts-
hälfte, der Zunge auffassen, die oft schon in frühen Stadien der Dementia
paralytica auftreten; auch blosse Ohnmachts- oder vertiginöse Anfälle gehören
hieher, ferner die nicht seltenen Anfälle aphasischer Sprachstörung.
Combinationen von apoplectiformen und epileptiformen Anfällen können ebenfalls
vorkommen, indem die von der Lähmung betroffenen Gliedmassen oder manchmal auch die
der andern Seite, Sitz von epileptiformen Krämpfen sein können.
Die Körpertemperatur ist bei diesen paralytischen Anfällen in der
Regel etwas erhöht; bei gehäuften epileptiformen oder bei schweren apoplecti-
formen Anfällen werden sogar hohe Fiebergrade erreicht.
Die paralytischen Anfälle können in jedem Stadium der Krankheit auf-
treten; allerdings verhält es sich meist so, dass die leichteren Anfälle vor-
380 DEMENTIA PARALYTICA.
wiegend den früheren Stadien eigen sind. Doch besteht in ihrem Auftreten
keine Gesetzmässigkeit, sie bleiben bei manchen Paralytikern während der
ganzen Dauer der Erkrankung aus, während sie in einem andern Falle selten,
in einem dritten endlich häufig auftreten, ohne dass eine Ursache für diese
Verschiedenheiten bekannt wäre. Die nächste Veranlassung zum Ausbruch
des Anfalles können Aufregungen, Indigestionen, Koprostasen, intercurrente
fieberhafte Erkrankungen geben, während oft auch eine Gelegenheitsursache
gar nicht eruirbar ist. Für den Verlauf der Paralyse sind die Anfälle inso-
ferne von Bedeutung, als sie häufig von einer merklichen Zunahme der
psychischen Störungen gefolgt sind; oft auch führt ein paralytischer Anfall
oder eine Serie von solchen den Exitus herbei.
Welche Vorgänge im Gehirne den paralytischen Anfällen zu Grunde
liegen, wissen wir nicht; irgendwelche palpable Veränderungen, welche die
während des Lebens beobachteten schweren Krämpfe oder Lähmungen erklären
würden, werden an den Gehirnen von im Anfalle Verstorbenen nicht vor-
gefunden. Die Annahme, dass den Anfällen umschriebene Circulationsstörungen
oder Oedeme im Gehirne zu Grunde liegen, ist nicht mehr als eine plausible
Hypothese. In manchen Fällen allerdings kleidet sich eine pachymeningitische
Blutung mit Compression des Gehirns in das Gewand eines paralytischen
Anfalles.
Das E n d s t a d i u m d er Dementia p a r a 1 y t i c a ist ein Zustand nicht
blos tiefsten geistigen, sondern auch körperlichen Verfalles. Der Kranke
wird immer unbehilllicher und unbeweglicher; er magert, oft bis zum Extrem,
ab; die Gefässinnervation sinkt mehr und mehr und damit tritt eine Neigung
zu Stauungen und Oedemen, zu Catarrhen aUer Schleimhäute auf. Die Nahrungs-
aufnahme wird durch die Schlinglähmung erschwert, der Kranke aspirirt öfters
Ingesta oder auch Speichel und dadurch entstehen purulente Bronchitiden
und lobulare pneumonische Herde. Es treten trophische Störungen in
verschiedenen Geweben auf, die zu Folgeerscheinungen füliren. Dahin ist zu
rechnen das Othaematom^ das, wenn es auch immer traumatischen Ursprungs
ist, doch eine Ernährungsstörung des Ohrknorpels zur Voraussetzung hat.
Dahin ist ferner zu rechnen eine abnorme Gebrechlichkeit der Knochen,
die zu Fracturen bei geringfügigen Gewalteinwirkungen führt, was besonders
an den Kippen häufig beobachtet wird. Hieher gehört ferner die Neigung der
Kranken, auf Druck sehr leicht gangränösen Decubitus zu bekommen, was
durch die Unempfindlichkeit der Kranken einerseits, durch die geringe Gefäss-
spannung andererseits sehr begünstigt wird.
Der endliche Ausgang der Dementia paralytica ist mit einer
Constanz, die kaum eine Ausnahme zulässt, der Tod, Dieser Endeffect kann
durch sehr verschiedene nächste Ursachen bedingt werden. Eine Minderzahl
von Paralytikern endet im Initialstadium durch Selbstmord. Manche gehen
in einem paralytischen Anfalle zu Grunde, viele an intercurrenten Erkran-
kungen, denen sie in Folge der verminderten Widerstandsfähigkeit ilu'es
Organismus und der Unfähigkeit, Schädlichkeiten zu vermeiden, (wobei
auch die Analgesie mitwirkt) sehr ausgesetzt sind. Im Endstadium
sind die häutigste Ursache die durch die Schlinglähmung bedingten lobulär
pneumonischen Herde. Jene Kranken endlich, die allen diesen Gefahren
entgehen, verfallen einem zunehmenden allgemeinen Marasmus, der endlich
durch Herzlähmung zum Tode führt.
Es wird in der Literatur eine Anzahl von Fällen angeführt, in denen
Heilung einer wohl constatirten Dementia paralytica eingetreten
sein soll, Fälle, die allerdings gegenüber der Anzahl letal verlaufender Fälle ver-
schwinden. Doch wird auch ihre Zahl noch vermindert durch die Erkenntnis,
dass es sich häufig niu' um sehr weitgehende und langdauernde Remissionen
handelte, die nur den Schein der Genesung vortäuschten. Es bleibt aber immer
DEMENTIA PARALYTICA. 381
noch eine gewisse Zahl von Fällen übrig, in denen selbst nach jahrelanger
Beobachtung eine Wiederkehr der Erkrankung nicht eintrat. Es resultirt also
hieraus die tröstende Gewissheit, dass die Heilung der Dementia paralytica
möglich ist, wenngleich man im Einzelfalle mit diesem Ausgang nur mit dem
Grade von Wahrscheinlichkeit hoffen kann, mit dem man etwa ein Wunder er-
wartet. Immer ist aber bei der Feststellung der Prognose den Angehörigen
gegenüber an die Möglichkeit von Eemissionen zu denken.
Die durchschnittliche Dauer der Dementia paralytica be-
trägt, wenn man vom BeginnemanifesterErscheinungen an rechnet, 1 — 3 Jahre,
eine Zeit, die sich unbestimmbar verlängert, wenn man die schwer abgrenz-
baren Prodromalstadien mit in Rechnung ziehen will. Ausnahmsweise, besonders
bei sorgfältigster Pflege, kann sich die Krankheit wohl auch viel länger, bis
zu 7 — 8 Jahren erstrecken. Ueber den wesentlich rascheren Verlauf gewisser
Fälle {galoppirende Paralyse) wurde schon früher gesprochen.
Die Diagnose der progressiven Paralyse gründet sich auf den Nach-
weis der erworbenen psychischen Schwäche einerseits, auf den
der Charakter istischen motorischen Störungen anderseits; endlich
sind auch die manischen und melancholischen Symptomenbilder dort, wo sie
vorhanden sind, von Werth. Die Diagnose, in den meisten Fällen kein Gegen-
stand des Kopfzerbrechens, kann doch in einzelnen Fällen Schwierigkeiten
machen. Dies gilt besonders von den frühesten Stadien und deren Abgrenzung
von der Neurasthenie. Wichtig ist hiefür der Nachweis der gemüthlichen
und ethischen Abstumpfung, der Nachweis wirklicher Gedächtnisschwäche und
Erinnerungsdefecte, während den betreffenden Klagen der Neurastheniker meist
ein reales Substrat nicht zu Grunde liegt; entscheidend kann werden der Befund
von leichter Sprachstörung, von reflectorischer Pupillenstarre, von Schwinden
der Patellarreflexe oder endlich das Auftreten paralytischer Anfälle.
Die manischen und melancholischen Zustände der Paralytiker
können Schwierigkeiten in der Diagnose bereiten, wenn die characteristischen
Wahnideen noch nicht ausgeprägt sind, die Demenz noch wenig vorgesclnitten
ist und die motorischen Störungen fehlen. Es ist dem gegenüber wichtige
sich an die Thatsache zu halten, dass die meisten Manien und Melancholien
bei Männern zwischen 35 — 55 Jahren der progressiven Paralyse angehören.
Schwierig, wenn auch gerade practisch nicht besonder wichtig, kann
sich die Differentialdiagnose von der Dementia senilis gestalten. Es ist
hiefür von Bedeutung das Alter; ferner haben die Wahnideen der Dementia
senilis mehr den Character des Misstrauens, des Verfolgungswahnes; die Sprach-
störung der Paralyliker hat mehr den Character der Coordinationsstörung, die
der senilen Demenz den Character der Aphasie. Auch in den übrigen moto-
rischen Störungen tritt bei Dementia senilis mehr das Element der Lähmung
hervor. Endlich ist die Progression bei Dementia senilis meist eine weniger
rasche. Aufklärend können auch complicirende Blutungen oder Erweichungs-
processe des Gehirns wirken.
Zur Verwechslung können auch H e r d e r k r a n k u n g e n des Gehirns Anlass
geben. Der Stumpfsinn in Folge raumbeschränkender Hh-ntumoren kann die
einfach demente Form der Paralyse vortäuschen. Der Kopfschmerz tritt aber 1)eim
Tumor viel mehr in den Vordergrund, heftiger Schwindel fehlt bei der pro-
gressiven Paralyse; auch kommt den Tumorkranken ihre geistige Insufticienz
meist zum Bewusstsein, dem Paralytiker nicht. Aufklärend kann der Nachweis
von Stauungspapille oder von Herdsymptomen wirken.
Auch mit der m u 1 1 i p 1 e n S k 1 e r 0 s e kann die Dementia paralytica dm'ch
Intentionstremor, Scandiren, psychische Schwäche eine gewisse Aehnlichkeit
bekommen. Doch ist die multiple Sklerose meist eine Erkrankung eines frü-
heren Lebensalters; ihre Progression ist eine viel langsamere und endlich
382 DEMENTIA PARALYTICA.
werden auch meist irgendwelche positive Merkmale, wie Sehnervenatrophie,
Nystagmus, Lähmungserscheinungen die Diagnose sichern.
Schwierig endlich und zugleich praktisch äusserst wichtig kann die Unter-
scheidung der Dementia paralytica von gewissen Formen der Gehirn-lues
werden. Es kommt dabei weniger die luetische Hirnarterienerkrankung in
Betracht, die durch viel rascheren Verlauf vor Verwechslung genügend ge-
schützt ist, als gewisse diffuse chronisch entzündliche Processe an Gehirn und
Meningen. Vermöge der oft zu constatierenden vorwiegenden Localisation
dieser Processe an der Hirnbasis kann eine Lähmung eines einzelnen Hirn-
nerven aufklärend wirken; auch der Kopfschmerz tritt mehr in den Vorder-
grund, als dies bei der Paralyse der Fall zu sein pflegt. Wo diese Anhalts-
punkte im Stiche lassen, kann sich die Differentialdiagnose zu einer sehr
schwierigen gestalten, wobei allerdings die Aufgabe durch die ungleich grössere
Häufigkeit der Dementia paralytica erleichtert wird.
In differentialdiagnostischer Richtung wäre endlich auch der paralyti-
schen Anfälle zu gedenken. Das Bild eines apoplectiformen Anfalles kann so
vollständig eine Hirnblutung vortäuschen, dass im Insult selbst die Unter-
scheidung kaum möglich ist. Einen allerdings nicht selir zuverlässigen Anhalts-
punkt kann das Verhalten der Körpertemperatur geben, die im paralytischen
Anfall gesteigert, im echten apoplektischen Insult aber herabgesetzt zu sein
pflegt. Es ist ferner zu berücksichtigen das geringere Alter der Paralytiker
im Vergleich zu dem der Apoplektiker und der anamnestisch erhobene Nach-
weis vorangegangener psychischer Störungen. Im zweifelhaften Falle wird beim
paralytischen Anfalle das rasche Schwinden schwerer Lähmungserscheinungen
auf die richtige Fährte führen.
Die wichtigsten anatomischen Befunde bei der Dementia paralytica
/eigen in Bezug auf das Gehirn und seine Hüllen ziemliche Verschiedenheiten,
die sich keineswegs immer bloss durch die Unterschiede im Alter der Erkran-
kung erklären lassen.
Bei längerer Dauer der Erkrankung fehlt nie mehr weniger hochgradige
Atrophie des Gehirns; diese Atrophie betrifft nach Meynert's Wägungen
in erster Linie die Grosshirnhemisphären, in zweiter Linie den Hirn stamm
und am wenigsten das Kleinhirn. Am Grosshirn ist, wie schon der Augenschein
lehrt, der Stirnlappen von der Atrophie am stärksten betroffen, ein Resultat,
das auch durch die Wägung bestätigt wird. Das Gesammtgewicht des Gehirns
kann in extremen Fällen bis auf 900 g sinken (gegenüber einem Normal-
gewicht von 1363 g bei erwachsenen Männern, nach Bischoff.)
Die Windungen werden durch die Atrophie verschmälert; die Furchen klaffen weit;
die Hirnrinde zeigt sich auf dem Durchschnitte reducirt auf einen schmalen Rand, der in
extremen Fällen nur 1 mm breit sein kann, Die atrophische Einde hat meist dunklere
Färbung und vermehrte Consistenz. Aber die Atrophie betrifft in ebenso hohem Grade auch
das Hemisphären-Mark; dasselbe retrahirt sich auf der Schnittfläche, hat meist zähe Con-
sistenz und bietet klaffende, erweiterte Gefässlücken dar.
Die zarten Hirnhäute zeigen sich in vielen Fällen getrübt und
verdickt, oft in einem Grade, dass es leicht gelingt, dieselben von einer
ganzen Hemisphäre als ein dickes, zusammenhängendes Fell abzuziehen. Doch
ist diese Trübung und Verdickung der Meningen kein constanter Befund und
sind besonders in den Fällen, welche in früheren Stadien zur Obduction
kommen, die Meningen manchmal ganz zart, während anderseits auch in
frischen Fällen gelegentlich hochgradige meningeale Veränderungen gefunden
werden.
Die Meningen sind oft mit der Hirnrinde stellenweise ver-
wachsen, besonders an den Windungskuppen, so dass beim Versuche, die
Meningen abzuziehen; an ihnen die oberflächlichen Rindenschichten haften
bleiben und an der Hirnrinde Substanzverluste mit rauhem Grunde sich zeigen.
DEMENTIA PARALYTICA. 383
Die Trübung und Verdickung der Meningen sowie die Verwachsung derselben mit der
Hirnrinde sind über dem Stirn- und Scheitel-Hirn am stärksten ausgeprägt; sie nehmen
gegen den Scheitel- und Hinterhauptslappen zu ab und sind nur ausnahmsweise an den
basalen ßindenparthien in spärlicher Entwicklung zu constatiren.
Zwischen Pia und Araclmoidea findet sich in vielen Fällen eine Flüssig-
keit angesammelt, ein H y d r o c e p h a 1 u s e xt e r n u s, der als ein Hydrocepha-
lus ex vacuo aufzufassen ist, indem Flüssigkeit den Raum in der Schädelhöhle
ausfüllt, den das atrophirende Hirn frei gibt. Wo an umschriebenen Stellen
die Atrophie eine besonders starke ist, gewinnt diese Flüssigkeitsansammlung
das Ansehen von förmlichen Cysten, die sich in die Tiefe der Furchen hinein
erstrecken.
Die Hirnhöhlen sind, wenigstens nach längerem Bestände der Erkran-
kung, meist erweitert und mit klarem Serum erfüllt. Nach constanter, ja
nach meinen Erfahrungen selbst in frischen Fällen fast nie fehlend, findet
sich eine krankhafte Veränderung am Ependym der Ventrikel; es ist ver-
dickt und mit einer Unmasse feinster Wärzchen bedeckt, sogenannten E p e n-
dymgranulationen, so dass es das Aussehen und Anfühlen von Chagrin-
leder bekommt.
An der harten Hirnhaut findet sich als nicht seltene Complication die
Pachymeningitis haemorrhagica interna, die zur Bildung von Pseudo-
membranen und Blutaustritten an der Innenfläche der Dura führt, welche
Blutungen ausnahmsweise halbseitig solchen Umfang erreichen können, dass
sie zu einer erheblichen Compression der betreffenden Hemisphäre führen.
Am knöchernen Schädel kommt es bei längerer Dauer der Erkrankung
und hochgradiger Hirnatrophie manchmal zu einer Hyperostose der Innen-
fläche, die besonders über dem Stirnlappen, dem Sitz der stärksten Atrophie,
die grösste Dicke erreicht und wohl als eine Hyperostosis ex vacuo auf-
zufassen ist.
Die feineren Veränderungen am Gehirn der Paralytiker beziehen sich auf die
nervösen Elemente sowohl, wie auch auf die Bindesubstanz und auf die
Gef ässe.
A.n den Gaaiglienzellen findet sich theils Sklerose mit Verdichtung des Proto-
plasma und ündeutlichwerden des Kernes, theils einfache und pigmentöse Atrophie mit
Schwund der Fortsätze ; das Endresultat ist eine Vermindei^ung der Zahl der Ganglienzellen,
so dass man in vorgeschrittenen Fällen oft in einem Gesichtsfelde eines Eindenschnittes
kaum eine einzige, deutlich erkennbare Ganglienzelle vorfindet. Dagegen zeigt sich die
Rinde ganz durchsetzt von einer Unmasse von Rundzellen und „freien Kernen", theils zer-
streut, theils in gruppenweiser Anhäufung, theils in den Gefässwandungen abgelagert.
Über den Schwundmarkhaltiger Nervenfasern in der Grosshirnrinde haben
wir zuerst durch Tuczek's mit feineren Methoden (Exner'sche und Weigert'sche
Faserfärbung) angestellte Untersuchungen eingehende Aufschlüsse erhalten. Wir erfuhren
dadurch, dass bei der Dementia paralytica die markhaltigen Nervenfasern der Hirnrinde
nach und nach zu Grunde gehen, und zwar zuerst die tangentialen Fasern der äussersten
Rindenschichte, und nach und nach auch die Fasern in tieferen Schichten und endlich
auch die radiären Fasern (Projectionsfasern) der dem Marke benachbarten Rindenschichten,
so dass in vorgeschrittenen Fällen die Rinde markhaltige Nervenfasern fast gar nicht mehr
aufweist. Dieser Faserschwund pflegt entsprechend der stärkeren Atrophie im Stirnlappen
und Scheitellappen am weitesten gediehen zu sein.
Die der Bindesubstanz angehörigen „Saftzellen" gewinnen durch Vermehrung
ihrer Kerne und Quellung des Protoplasma unter gleichzeitiger Vermehrung und An-
schwellung ihrer Fortsätze das Aussehen der sogenannten Spindelzellen, die sich in
den an das Mark angrenzenden, sowie in den äussersten unmittelbar unter den Meningen
liegenden Schichten insbesonders reichlicher Anhäufung vorfinden, ferner durch das ganze
Hemisphärenemark in Masse auftreten. In sehr lang dauernden Fällen kann es endlich zur
Bildung eines faserigen, dem gewöhnlichen Bindegewebe ähnlichen Gewebes kommen.
Die kleinen, in der Hirnsubstanz selbst eingebetteten Gefässe sind in der mannig-
fachsten Weise verändert. Die Gefässwände zeigen Kernvermehrung, die adventitiellen
Räume sind erweitert und erfüllt mit Anhäufungen von Rundzellen, mit Pigmentscholleu ;
ferner findet sich in den Gefässwänden colloide und hyaline Degeneration. Verkalkung
11. s. w.
384 DEMENTIA PARALYTICA.
Bezüglich der Auffassung des der Dementia paralytica zu
Grunde liegenden Processes ist eine Yolle Einigkeit noch nicht erzielt;
es stehen sich hauptsächlich zwei Ansichten gegenüber. Nach der einen
soll die Dementia paralytica ein entzündlicher Process, eine
Periencephalitis oder Meningoencejjhalitis chronica sein, es sollen Veränderungen
an den Gefässen, an den Meningen und der Bindesubstanz das Primäre sein
und die Degeneration der nervösen Elemente secundär; es sollen langdauernde
Hyperämien (fluxionäre durch Hitzewirkung, Alkohol etc. oder functionelle
durch Ueberanstrengung) den Anstoss zum Ausbruche des chronisch entzünd-
lichen Processes geben.
Zur Stütze dieser Anschauung werden experimentelle Ergebnis se herangezogen
indem es Mendel gelungen ist, bei Hunden durch Erzeugung wiederholter intensiver Hirn-,
hyperämien (oftmalige Rotation auf einer Scheibe, mit dem Kopfe zur Peripherie gewendet.)
Krankheitsbilder hervor zurufen, die klinisch und anatomisch mit der Dementia paralytica
der Menschen eine weitgehende Aehnlichkeit darbieten sollen.
Von anderen Seiten wird den Veränderungen an den ner-
vösen Elementen eine grössere Bedeutung beigelegt, dieselben
wenigstens in einem Theil der Fälle für primär, den entzündlichen Ver-
änderungen vorangehend erachtet; es wird zur Stütze dieser Ansicht auch
auf die innigen Beziehungen zu anderen degenerativen Erkrankungen des
Nervensystems, vor Allem zur Tabes dorsalis, auf die gemeinsamen Be-
ziehungen beider zur Syphilis etc. hingewiesen.
Das Piichtige dürfte eine vermittelnde Ansicht treffen, welche den ent-
zündlichen und degenerativen Processen gleiche Dignität zuerkennt und in
dem relativen Ueberwiegen des einen oder des anderen Processes einen Theil
der Verschiedenheiten im Krankheitsbilde und Verlaufe der Dementia para-
lytica begründet sieht. Sehen wir ja doch, dass eine Pteihe von Schädlich-
keiten, wäe Syphilis, verschiedene Gifte, die Bakterienproducte acuter Infec-
tionskrankheiten sowohl degenerative als auch entzündliche Processe hervor-
zurufen geeignet sind.
Nach dem, was über die Ausgänge der progressiven Paralyse gesagt
wurde, kann Erfreuliches in dem Capitel über die Therapie nicht erwartet
werden. Wir stehen der ausgebildeten Krankheit machtlos gegenüber, ja wir
können auch in den frühesten Stadien das kommende Uebel wohl voraussehen
aber nicht abwenden.
Wo immer der Verdacht auf eine beginnende Dementia paralytica besteht,
wird dem Kranken dringend vollständige Ptuhe, Entfernung aus seiner ge-
wohnten Umgebung, Enthaltung von jeder körperlichen und geistigen An-
strengung und sorgfältige Ueberwachung der Lebensweise mit Vermeidung
von Alcohol, Tabak, grösseren Hitzegraden, Nachtwachen etc. anzurathen
sein. Täglich mehrmalige energische Application von Kälte auf den Kopf
entspricht einer rationellen Indication. Tritt unter einem solchen Kegime eine
dauernde Besserung ein, so wird allerdings bei der Schwierigkeit der Unter-
scheidung von initialen Paralysen und schweren cerebralen Neurasthenien der
Verdacht eines diagnostischen Irrthums schwer abzuweisen sein.
Die innige ätiologische Beziehung der Syphilis zur Dementia paralytica
könnten den Versuch gerechtfertigt erscheinen lassen, durch eine antiluetische
Cur dem Weiterschreiten des Uebels Einhalt zu thun. Die Erfahrungen,
welche von vielen Seiten gemacht wurden, muntern zu diesem Versuche nicht
auf. Vereinzelte Kemissionen werden nach dem früher Erwähnten auch er-
klärlich, ohne dass man der antiluetischen Cur das Verdienst daran zuzu-
schreiben braucht, und in ernsthafter Weise ist eigentlich von Niemanden!
ein günstiger Einfiuss energischer antisyphilitischer Curen auf die Dementia
paralytica behauptet worden; dagegen ist von mehreren Seiten der Meinung
Ausdruck gegeben worden, dass derartige Curen ungünstig, den Verlauf be-
DEMENTIA PARALYTICA. 385
schleunigencl auf die Dementia paralytica einwirken. Trotzdem wii'd man
sich vor Augen halten müssen die Schwierigkeit der Diflerentialdiagnose zwischen
Dementia paralytica und gewissen Formen luetischer Hirnerkrankung, und be-
denken, dass man in zweifelhaften Fällen durch Unterlassung mehr Schaden
anrichten kann als durch energisches Handeln.
Mehr noch als bei antiluetischen Curen ist vor allen anderen eingrei-
fenderen Behandlungsmethoden zu warnen; vor Allem vertragen Paralytiker
hydriatische Proceduren nicht und werden solche Kranke häutig genug
durch Ausserachtlassung dieses Umstandes infolge von Kaltwassercm^en vor-
zeitig „anstaltsreif."
Der Irrenanstalt bedürftig sind alle in maniakalischen oder melan-
cholischen Zuständen befindlichen Paralytiker und kann besonders bei Ersteren
die Unterbringung in eine Anstalt nicht frühe genug stattfinden, soll der Kranke
selbst und seine Familie vor den schwersten Folgen seiner Ausschreitungen
rechtzeitig geschützt werden. An einfacher Dementia paralytica leidende
Kranke können, wenn sie lenksam und in günstigen A^erhältnissen sind, in
häuslicher Pflege verbleiben; für die Mehrzahl derartiger Kranker wird auch
die Irrenanstalt wenn schon keine Nothwendigkeit so doch ein Vortheil sein,
besonders in den späteren, die aufmerksamste Pflege erfordernden Stadien.
Die symptomatische Behandlung der Dementia paralytica erfordert
häufig den Gebrauch von Beruhigungs- und Schlafmitteln. Bei hoch-
gradigen Aufregungszuständen erweist sich die Isolirung als ein wirksames
Beruhigungsmittel; von inneren Mitteln leisten Opium und Morphium bei der
Paralyse wenig, wirken sogar manchmal erregend. Bei den furibundesten
Tobsuchtszuständen kann Hyoscinum hydrojodicum, ^2 — 1 Milligr. subcutan
als rasch und sicher, aber nicht ungefährlich wirkendes Mittel am Platze sein.
Von den eigentlichen Schlafmitteln ist Chloralhydrat für längeren Gebrauch
nicht angezeigt, da es die ohnehin vorhandene Neigung zur Vasoparalyse
noch steigert; vorübergehend kann es aber in Anwendung kommen; sonst
passen Paraldehyd, Amylenhydrat, Sulfonal oder Irional. Auch grössere
Quantitäten Bie7- (1 — 2 Liter) Abends gegeben, wirken manchmal günstig
hypnotisch.
In den hilflosen Endstadien erfordern die Kranken die sorgfältigste
Pflege. Die Nahrungsaufnahme muss sorgfältig überwacht werden, nicht nur
damit die Kranken nicht allerlei Ungeniessbares verschlingen, sondern auch,
damit sie sich nicht gierig den Mund vollstopfen ohne zu schlucken, und so
ersticken (was nicht zu selten passirt). Sobald wesentliche Schlingbeschwerden
eintreten, muss sich der Kranke beim Essen sehr viel Zeit lassen, um sich
nicht durch Aspiration von Ingestis zu schaden.
Aufmerksamkeit erfordern die Entleerungen der Kranken. Durch
ein rechtzeitig dargereichtes Abführmittel kann oft einem paralytischen Anfalle
vorgebeugt werden. Ferner gehen die Kranken oft tagelang mit bis zum
Nabel gefüllter Blase herum, ohne etwas zu äussern. Man vermeide es möglichst
lang, zum Katheter zu greifen. Oft bedarf es nur der energischen Aufforderung
an den Kranken, der in seinem Stumpfsinn ganz vergessen hat, seine Blase
zu entleeren. Oder es wird der gewünschte Effect durch ein Abführmittel
Klysma oder durch ein Bad erreicht. Bei Kranken mit erloschenen Patellar-
reflexen lässt sich die Blase meist mechanisch ausdrücken.
Den Decubitus anlangend halte man sich vor Augen, dass die Prophy-
laxe wichtiger ist als die Therapie. Sorgfältige Reinhaltung, Vermeidung an-
haltender Bettlage bei noch geh- oder sitzfähigen Kranken, häufiger Lage-
wechsel bei Bettlägrigen, Anwendung von Luft oder Wasserkissen und recht-
zeitige Behandlung jeder leichten Excoriation werden in der Regel vor dieser
ominösen Complication bewahren.
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. -^O
386 DEMENTIA SENILIS.
In paralytischen Anfällen sorge man für Entleerung des Unter-
leibs, applicire die Eisblase auf den Kopf und unterlasse es, dem nicht schling-
fähigen Krauken irgend etwas per os zu2ufüln'en. Bei gehäuften epileptiformen
Anfällen leistet Chloralhydrat 'per Klysma, 2 Gramm pro dosi, nöthigenfalls
2 — 3mal im Tage wiederholt, gute Dienste.
V. WAGXER.
Dementia senilis (Psychosis senilis, Altersblödsinn), eine nur im Yor-
geschrittenen Lebensalter auftretende psychische Störung, ist gekennzeichnet
durch einen unaufhaltsamen geistigen Verfall, welcher sich sehr häufig unter
einer Eeihe wechselvoller melancholischer und manischer Phasen, welche mit
Wahnbildungen verbunden sein können, vollzieht. Er zeigt zugleich andere
Erscheinungen des senilen Marasmus und nicht selten auch anderweitige ce-
rebrale Störungen.
Genetisch ist diese Erki^ankung zurückzufülu'en auf eine melir oder
w^eniger in- und extensive atheromatöse Entartung der Hirnarterien,
durch welche die cerebral-psychischen Ceutren in ihrer Ernährung gestört
und dadurch zu Abnahme und Schwund gefüllt werden.
Die Lebensperiode ilu'es gewöhnlichen Auftretens liegt jenseits der
60. Lebensjalu'es ; sie tritt aber ausnahmsweise auch schon in etwas jüngerem
Alter (Senium praecox) bei schon m'sprünglich invaliden, oder durch fort-
gesetzte Ueberarbeitung oder aufreibende Affecte geschwächten Individuen auf.
Sie scheint häufiger bei Männern als bei Frauen beobachtet zu werden.
Symptomatologie. Den psychischen Symptomen gehen häufig Zeichen
eines difiusen Hirm-eizzustandes voraus, verschieden je nach Xatm' und Sitz
der durch die Atherose bedingten Circulationsstörungen und verbunden mit den
Erscheinungen allgemeiner Schwäche : Kopfweh, Schwindel, Schlaflosigkeit,
allgemeines Unbehagen, Frost- und Unruhegefühle, zuckender Puls mit den
Zeichen vermehrter arterieller Spannung.
Das erste auffällige psychische Smptom bildet in der Ptegel rasch fort-
schreitende Gedächtnisschwäche. Während aber die Erinnerung an längst
entschwundene Tage noch fest haftet, ja selbst die Eindrücke aus fi-üher Kind-
heit mit erstaunlicher Lebhaftigkeit reproducirt werden, wird das Gedächtnis
für die jüngste A^ergangen hei t zusehends immer lückenhafter. Der Kranke
vergisst nach km-zer Frist, was er gethan und gesagt hat. Er verlangt eine
Stunde nach Tisch von Neuem seine Mahlzeit, weil er nicht mehr weiss, dass
er bereits gegessen hat. Er verlegt seine Habseligkeiten und meint dann,
sie seien ihm gestohlen worden. Er erzählt alte ])ekannte Geschichten immer
wieder. Oft kann er sich auch nicht mehr auf die Xamen seiner Umgebung
erinnern. Bald vermag er sich auch nicht mehr in den Strassen seines
eigenen Wohnorts zurechtzufinden. Statt des thatsächlich Erlebten erzählt er
aber gerne Eingebungen seiner Phantasie und kindische Wahnideen, welche
ohne alle Kritik vorgebracht werden. Piasch sinkt nun die ganze in-
tellectuelle Leistungsfähigkeit in dem Maasse herab, dass der Betrof-
fene vollkommen arbeitsunfähig wird.
Gleiclizeitig, zuweilensogar schon früher, verödet das Gemüthsleben.
Der Ki^anke wh'd stumpf und theilnahmslos gegenüber seinen gewohnten Ge-
fühlsbeziehungen, gegen Wohl und Wehe seiner Familie und seiner Freunde,
w^ährend er nm' auf die Befriedigung seiner persönlichen Interessen bedacht ist.
Unduldsam und verständnislos gegenüber fremden Anschauungen und Wünschen,
wird er durch jeden Widerspruch gereizt und aufln'ausend; er ist aber bald
wieder beruhigt, denn sein Affect sitzt nur oberflächlich.
Auch die ethischen Gefühle gehen rasch verloren, namentlich
der Sinn für jede Scham. Nicht selten ist zugleich der Geschlechtstrieb
in auffälligem Grade gesteigert. So kommt es denn zu obscönen Reden,
DEMENTIA SENILIS. 387
sexuellen Renommagen, Heiratsprojecten, namentlich auch zu unzüchtigen Hand-
lungen besonders mit Kindern, welche oft vor dem Richterstuhle ausgetragen
werden müssen.
Während sich nun die fortschreitende intellectuelle und sittliche Schwäche
als rother Faden durch den ganzen Krankheitsverlauf durchzieht, wechselt
im Uebrigen das Symptomenbild mannigfach. Manche Fälle fülu:en sich
unter dem Bilde einer maasslosen Hypochondrie ein. Die Kranken wähnen,
alle ihre Körpertheile seien innerlich auseinander gerissen, ilu'e Muskeln zusam-
mengesclirumpft, oder sie seien durch und durch syphilitisch und innerlich
verfault und dergeichen mehr.
Andere leiden an aufgeregter Melancholie mit Wahnvorstellungen
und Sinnestäuschungen, oft mit grenzenlosem Misstrauen, wobei der Wahn
„bestohlen zu sein" eine hervorragende, fast typische Rolle spielt. Sie haben
triebartige Angstzustände und Zwangsvorstellungen, die zuweilen bis zu ge-
waltthätigen Raptus und Selbstmordversuchen ansteigen. Sie können deshalb
oft nachts Stunden lang angstvolle Schreie ausstossen und dadurch ungemein
stören.
Wieder andere sind manisch enAufregungszuständen unterworfen.
Sie zeigen eine grosse zweckloses Geschäftigkeit, ein triebartiges Umherlaufen,
auch nächtlicher Weile, mit unvorsichtiger Hantirung des Lichtes und mit Kra-
men in allen Schränken. Sie machen sinnlose Einkäufe, bekunden wohl auch
gelegentlich kleptomanische Triebe. Sie führen beständig verworrene Reden,
in welchen auch ein matter Grössenwahn geäussert werden kann. Die Ess-
gier ist hier in der Regel sehr gesteigert.
So kann der Verlauf der Dementia senilis durch die verschieden-
artigsten Stadien hindurchgehen, auch häufig Remissionen und Exacerbationen
zeigen. Wenn nicht, wie sehr häufig, der Tod zuvor als erlösendes Ende ein-
tritt, so schreitet allmälich der psychische Verfall so weit vorwärts, dass der
Vorstellungsschatz schliesslich bis auf einige wenige völlig stereotype, oft ganz
sinnlose Wendungen, die stets wiederholt werden, verarmt. Es besteht dann
schliesslich ein Zustand von Verwirrtheit mit vollkommener Aufliebung des
Seilest- und Weltbewusstseins, zugleich körperliche Unbehilflichkeit mit Un-
reinlichkeit.
Die Dauer unserer Erkrankung ist sehr verschieden. Sie kann, wenn
auch selten, schon nach melu'eren Wochen, peracut zum Tode führen. Ge-
wöhnlich dauert sie 1 — 4 Jahre lang.
Die die psychische Störung begleitenden somatischen Veränderungen
verdienen noch eine besondere Betrachtung. Wir finden bei allen unseren
lü'anken geschlängelte rigide Ai'terien, sowie einen harten, aljer kleinen und
verlangsamten Puls. Es besteht Schlaflosigkeit oder Schlafsucht, Abma-
gerung trotz häufiger Gefrässigkeit. Es stellen sich Schwindelzustände, epi-
leptiforme Convulsionen und Hemiplegien ein. Nicht ganz selten sind Sprach-
störungen und aphasische Erscheinungen. Zuweilen kann sich auch ein Zustand
allgemeiner Muskelschwäche entwickeln.
Der endliche Exitus tritt in der Regel durch Apoplexie, Decubitus, Cy-
stitis oder Pneumonie ein.
Die Diagnose wird zumeist keine sehr grossen Schwierigkeiten bereiten.
Im Initialstadium kann die Erki'ankung allerdings leicht übersehen werden,
indem man deren erste Erscheinungen auf den physiologischen Rückgang
des Greisenalters bezieht. In späteren Stadien dürfte wohl hauptsächlich in
Fällen mit Sprachstörung und Lähmungserscheinungen die Dift'erentialdiagnose
mit der Dementia paralytica in Betracht kommen können. Gegen letztere
sprechen das höhere Alter des Erkrankten, der glossoplegische nicht ataktische
Charakter einer vorhandenen Sprachstörung, die hemiplegische Form der Läh-
mungszustände, die geringe Productivität der Wahnideen.
25*
3B8 DENGUE-FIEBER.
Die Prognose ist absolut ungünstig zu stellen.
Die pathologische Anatomie ergibt in vorgeschrittenen Fällen aus-
gebildete Atherose der Gehirn-Arterien, Abnahme des Gehirngewichts, Ver-
schmäl erung der Windungen des Grosshtrns, namentlich im A^orderhirn, com-
pensatorische Schädelverdickungen und hydropische Serum-Ansammlungen. Das
Mikroskop zeigt uns Degeneration der Ganglienzellen und Schwund der Faser-
massen. Ausserdem finden sich des Oefteren Erweichungs- und apoplektische
Herde in Rinde und Marklager, auch Pachymeningitis hämorrhagica.
Die Behandlung dieser unheilbaren Erkrankung hat nur symptomatische
Aufgaben zu erfüllen. Bewahrt die senile Demenz einen ruhigen Charakter, so
genügt die fürsorgliche Pflege in der Familie oder in einer gewöhnlichen Pflege-
austalt, verläuft sie aber mit Erregungszuständen, so kann die Irrenanstalt
nicht entbehrt werden. kirn.
{Rheumatismus fehrilis exanthematicus, Daridy-fever,
Pantomime- fever, Broken icijig, fievre de foin, fievre courbaturale, La Padiosa).
Dengue ist ein altarabisclies Wort und bedeutet grosse Abgeschlagenheit
(Vambeey). Das Dengue-Fieber ist eine seit Ende des vorigen Jahr-
hunderts in den Küstenstrichen der südlichen Staaten Nord- und Südamerikas
einerseits, und den Küsten des rothen Meeres andererseits epidemisch auf-
tretende Krankheit, welche dem Schiffsverkehr folgend zu wiederholten Malen
sich sowohl auf die Inseln des Indischen, als auch des Atlantischen Oceans
ausbreitete und sogar Europa einmal in Cadix (1863), ein anderes Mal und
zwar in neuester Zeit (1889) in Athen, Constantinopel, Salonichi, Varna
erreichte.
Fraglich erscheint es, ob die in Rxissland (Odessa, Petersbnrg) im Jahre 1880 beob-
achtete Epidemie mit der Dengue-Infection etwas zu thnn hatte.
Das Dengue-Fieber ist eine eminent contagiöse Krankheit und
zeigt sich diese Disposition zur Ansteckung namentlich in kleineren Kreisen.
Als Incubationszeit werden 4 — 5 Tage angegeben; es werden jedoch Fälle
berichtet, bei denen mit Sicherheit von dem erwiesenen Moment der An-
steckung bis zum Ausbruch der Krankheit nur wenige Stunden vergingen.
Die Krankheit ergreift Männer und Weiber ohne Unterschied des Alters, alle
Eacen unterliegen der Infection, nur die Neger scheinen weniger prädisponirt
zu sein — auch Aerzte und Wärter werden häufig befallen. Die Uebertragung
des Contagiums findet nicht nur durch die Kranken selbst statt, sondern durch
die von ihnen benützten Gegenstände (Kleider, Bettwäsche etc.) Andererseits
ist das Dengue-Fieber eine wahre tropische Krankheit ; die Grenzen seiner
Ausdehnung liegen nach Norden und nach Süden nicht allzuweit vom
Aequator.
Der Infectionsträger des Denguefieber ist nicht bekannt. Zwar gelang es Mc.
Laughlin im Venenbhite mehrerer an Dengue erkrankten Personen Micrococcen nachzu-
weisen, doch bezweifelt E. Klebs schon wegen der ungenauen Angaben über das Morpho-
logische dieser Organismen die Richtigkeit dieses Befundes.
Krankheits verlauf und Symptome. Die Krankheit beginnt
mit rapid ansteigender Temperaturerhöhung, wozu sich als objectiv nach-
weisbare Erscheinungen multiple Gelenkschwellungen einstellen. Das Bild
ist anfänglich ganz das einer Polyarthritis rheumatica. Grosse Prostration,
starke Injection der Augen, Erbrechen und Delirien lenken jedoch sofort
von der letztgenannten Diagnose ab. Am 2. oder 3. Tage der Erkrankung
zeigt sich das sogenannte initiale Exanthem.
Dasselbe bietet entweder eine lebhaft diffuse Röthung, die über die
ganze Körperoberfläche verbreitet ist, oder grosse Flecken, die an einzelnen
Stellen zusammenfliessen. Das initiale Exanthem blasst meist sehr schnell
. DENGüE-FIEBER. 389
ab, während gleichzeitig die früher stark geschwollenen, sowohl spontan, als
auch auf Druck schmerzhaften Gelenke ihre Affection verlieren (3. — 5. Krank-
heitstag). Mit dem Schwinden der Gelenkserkrankung und dem gleichzeitig
unter profusem Schweissausbruch erfolgenden Niedergang der Temperatur ist
die Krankheit jedoch nicht zu Ende. Nach einem kurzen Stadium der
Euphorie, während dessen die Kranken oft schon lebhaft darnach verlangen,
das Bett zu verlassen, tritt aufs Neue Fieber auf und gleichzeitig damit
zeigt sich ein frisches Exanthem auf der Haut. Dieses t e r m i n a 1 e E x a n t h e m,
bietet zum Unterschiede von dem initialen ein sehr polymorphes Aussehen,
indem es bald dem Exanthem der Masern, des Scharlachs, der Urticaria
ähnlich sieht, bald als Liehen oder Roseola-Eruption auftritt, oder gar vesicu-
lösen Charakter zeigt. Wie aber auch immer diese terminalen Eruptionen
ausschauen mögen, sie bestehen nur kurze Zeit, dauern zumeist nur einige
Stunden, ad maximum 2 — 3 Tage. Entsprechend der differenten Gestaltung
dieser terminalen Exanthemformen ist auch die in der Regel auftretende
Desquamation sehr verschieden. Bald werden grosse zusammenhängende
Epidermisstücke abgestossen, bald erfolgt die Abschuppung kleienförmig,
bald geht sie so tief, dass grosse Abschnitte der Cutis ganz entblösst werden
(Rochaed). Während der Eruption des terminalen Exanthems bietet die
Temperaturcurve einen typisch remittirenden Charakter, um während des
Desquamationsstadiums lytisch die Norm zu erreichen.
Von Begleiterscheinungen wurden Angina, Bronchitis, vorüber-
gehende Lymjjhdrüsensehiüellungen, diarrhoische Stuhlentleerungen häufig, jedoch
keineswegs mit constanter Regelmässigkeit gefunden; es verhält sich eben
mit dem Dengue-Fieber ebenso wie mit jeder andern Infections-Krankheit : die
Infectionsursache setzt Veränderungen in den verschiedensten Organen und
variirt so den Symptomencomplex in den einzelnen Fällen sehr mannigfaltig.
Bei der Differentialdiagnose kommt neben Pohjarthritis rheuma-
t)ca nnd Scarlaiina insbesondere Influenza in Betracht, zumal Influenza und
Dengue gleichzeitig in denselben Länderstrichen vorzukommen pflegen. Kar-
TüLis gelangte zu der Ansicht, dass beide Infectionen wesentlich verschieden
seien und dass namentlich der fast stets gutartige Verlauf, das constante
Exanthem, die Seltenheit catarrhalischer Erscheinungen als charakteristische
Symptome gegenüber der Lifluenza hervorzuheben wären.
Die Prognose ist bei Erwachsenen günstig, bei Kindern viel
ernster, indem dieselben in einem grossen Percentantheil der Erkrankung
unter dem typischen Bilde schwerer Hirnreizung (heftige Convulsionen)
binnen kurzer Zeit vom Tode ergriffen werden.
Was die Therapie betrifft, so wurden gegen das Dengue-Fieber alle jenen
Arzneistoffe empfohlen, die als Antipyretica und Specifica gegen andere
Infectionen Verwendung finden: Chinin, Salicgl, Antijjgrin etc. Christie
fand die Belladonna in grossen Dosen gegen die Gelenksaft'ection sehr wirksam.
Im Reconvalescenzstadium, in dem sich die Patienten oft hochgradig geschwächt
zeigen, sollen Tonica {Eisen, Arsen u. a.) verordnet werden.
Diabetes insipiduS (Polgwia neuropatUca persistens). Eine Definition
dieses Krankheitsbegrift's durch eine anatomische Störung, welche mit Be-
stimmtheit auf ein ergriffenes Organ hinweisen würde, eine Zurückführung
der Krankheit auf eine constante und streng umschriebene Functionsstörung
ist bisher ausgeschlossen. Die nosologische Classification knüpft hier noch immer
vorwiegend an äussere Symptome an, wie die gröbste Beobachtung sie lehrt.
Bestimmte Veränderungen des Urins geben den Anhaltspunkt. Und zwar
bestehen die Erscheinungen von Seite des Harns hauptsäclüich in gewissen
quantitativen Abweichungen seiner Zusammensetzung. Seit seiner Er-
390- DIABETES mSIPIDüS.
kenntnis gilt der Diabetes insipidiis als eine Art Urindiarrhoe. Wir haben
uns gewöhnt, unter dieser Bezeichnung den krankhaften Zustand zu verstehen,
welchen eine nicht bloss passager e gesteigerte Absonderung eines
zucker- und eiweissfreien Harnes von relativ niedrigem speci-
fischen Gewicht bei sichergestellter Integrität des Merengewebes kenn-
zeichnet.
Nicht eigentlich also mit einer Krankheit, bloss mit einem Syndrom
haben wir es anscheinend hier zu thun. Ein sorgfältiges Studium dieses
Syndroms in Hinsicht seiner ätiologischen Bedingungen lässt aber wenigstens,
wie wir sehen werden, trotz äusserlich disparaten Ursprungs eine constante
pathogenetische Beziehung zu abweichenden Verrichtungen
verschiedener nervöser Apparate nicht verkennen.-
Nach den classischen Werken über Gehirnkrankheiten (Nothnagel,
Weenicke) zu schliessen, wäre die dauernde Polyurie als cerebrales Herd-
symptom schon seit Längerem klinisch festgestellt. Doch sind es nicht so
sehr eine genügende Zahl von Einzelbeobachtungen aus der menschlichen
Pathologie, die der gebotenen Kritik Stand zu halten geeignet sind, als viel-
mehr bestimmte Ergebnisse der Experimentalpathologie gewesen, worauf sich
diese Lehre stützen konnte.
Cl. Bern ARD ist es bekanntlich geglückt, an Kaninchen und Hunden durch piqüre der
Med. oblongata Polyurie zu erzeugen. Dieselben Eesultate wie bei der piqure erzielte Eckhard
bei Kaninchen auch durch Verletzung des hintersten der Ton oben sichtbaren Lappen des
Kleinhirnwurms (Lobus hydruricus) und ebenso durch Läsion des Lobus posterior cerebelli.
Da diese Polyurien sich aber als ganz vorübergehende irritative Phänomene herausgestellt
haben, so hätte man auf Grund derselben in der menschlichen Pathologie auch höchstens
nur passagere Hyperdiuresen, z. B. die kurzdauernde Polyurie nach Gehirnblutungen, deuten
können, nicht ebenso aber Formen des Diabetes insipidus, welche ein längere Zeit fort-
bestehendes, selbst bleibendes Syndrom darstellen.
Erst Kahler ist es, indem er durch Injection kleinster Mengen von
Silbernitrat ganz umschriebene persistente Störungen setzte, gelungen, dau-
ernde (selbst Wochen anhaltende) Veränderungen der Harnabsonderung bei
Kaninchen hervorzurufen. Die dauernde Polyurie als cerebrales Herdsymptom
kann bei diesen Thieren nicht auf das Kleinhirn (den Wurm) bezogen werden,
sondern auf Läsion der lateralen Theile der Region des Corpus trapezoides
und des anschliessenden Abschnittes des verlängerten Markes. Sie stellt sich
als ein dauerndes Reizungsphänomen dar und es steht a priori zu
erwarten, dass sie häufig als indirectes Herdsymptom erscheinen wird.
Betrachtet man, was ja neuerdings vielfach geschieht, jede Störung einer
wenn auch nicht direct auf dem altern klinisch-anatomischen Wege, so doch
durch das physiologische Experiment localisirbaren Gehirnfunction als Herd-
symptom, und überträgt man, was bei einer einfachen secretorischen Leistung
wohl gestattet sein wird, die am Versuchsthier festgestellten Thatsachen auf
den Menschen, so muss für den letzteren die Facialis-Abducensregion
der Brücke (die lateralen Theile des distalen Ponsabschnittes und die pro-
ximalen Theile der Med. oblongata) als entsprechende Region in Betracht ge-
zogen werden.
Die Fälle von dauernder Polyurie aus der menschlichen Pathologie, bei denen Loca-
lisationsversuche mehr oder weniger bestimmt ausführbar sind, stehen mit den experimen-
tellen Forschungsergebnissen Kahler's in Uebereinstimmung, oder doch wenigstens nicht im
Widerspruch. Der Versuch, ohne Rücksicht auf die Resultate des Thierversuches, durch
rein klinische Analyse im Sinne der GRiESiKGER'schen Definition des Herdsymptomes
die Polyurie zu localisiren, verspricht eine gewisse Aussicht auf Erfolg bei den auch sonst
von cerebralen Symptomen gefolgten Schädeltraumen (die traumatische dauernde
Polyurie) und in den Fällen von dauernder Polyurie bei Gehirnerkran-
kungen.
Mit vollkommener Sicherheit gestatten die Fälle von traumatischer Polyurie,
rein klinisch analysirt, allerdings nicht, aus den n eben d erHype r dl uresebesteh enden
Symptomen eine streng umschriebene cerebrale Läsionsstelle zu erschliessen. Es ist
DIABETES INSIPIDÜS. 391
eben im gegebenen Falle schwer zu beurtheilen, ob nicht eine Fractur der Basis cranii etc.
die Läsionen der verschiedenen betheiligt sich darstellenden Gehirnnerven in deren extern-
cerebralem Verlaufe bedingt. Diese relative Unsicherheit der rein klinischen Schlussfolge-
rungen genügend hoch angeschlagen, würde jedoch der Sitz der traumatischen Polyurie
nach Massgabe der concurrirenden Symptome gerade in die oben genannte Brückenregion
zu verlegen sein : wir begegnen hier also der geforderten Uebereinstimmung.
Hinsichtlich der klinischen Beobachtungen von Hyperdiurese bei Grehirnerk ran-
kungen hat die kritische Sichtung ergeben, dass dauernde Polyurie vornehmlich bei Ge-
schwülsten, welche die in der hinteren Schädelgrube gelagerten Hirntheile oder die graue
Bodencommissur sei es direct sei es durch Compression betheiligen, zu beobachten ist. Auch
Herderkrankungen im engeren Sinne, wenn sie Mittelhirn, Brücke oder verlängertes Mark be-
treffen, sind geeignet, eine solche Polyurie zu verursachen. Dabei fällt auf, dass die nega-
tiven Fälle viel zahlreicher sind, als die positiven. Gerade dieses seltene, gewissermassen
zufällige Auftreten der dauernden Polyurie bei Erkrankungen der letztangeführten Geliirn-
theile stimmt aufs beste zur Auffassung des Symptoms als Reizungsphänomen. Für das
Zustandekommen eines Reizungsphänomens bedarf es eben nicht allein des bestimmten
Sitzes der Erkrankung, sondern auch noch des Zutreffens anderweitiger Bedingungen.
A priori wird man anzunehmen haben, dass Erkrankungen, welche einen irritativen Einfluss
auf die Umgebung üben, also gerade die Tumoren, leichter, beziehungsweise häufiger Polyurie
veranlassen. Die von Kahler unternommene nähere Localisation der experimentellen
Polyurie steht mit den klinischen Thatsachen auch hier nicht im Gegensatz. Darüber, ob
dauernde Polyurie als Herdsymptom bei Erkrankungen der grauen Bodencommissur, des
Mittelhirns, der proximalen Ponsabschnitte, der distalen Antheile der Med. oblongata auf-
treten kann, liegen eben specielle experimentelle Erfahrungen bisher iiicht vor.
Auch nach Durchtrennung der Nn. splanchnici sah Eckhard Steigerung der Harn-
absonderung eintreten. Durchschneidung de? Rückenmarks unterhalb des 12. Brustwirbels hat
gleichfalls öfter leichte dauernde Polyurie zur Folge. Und ebenso ist aus klinischen (beziehungs-
weise pathologisch-anatomischen) Gesichtspunkten darauf hingewies enworden, dass degenerative
Veränderungen im Plexus coeliacus und N. splanchnicus major ursächliche Beziehungen zum
Diabetes insipidus haben (Dickinson, Schapiro). Die beobachteten Veränderungen bestanden in
bindegewebiger Entartung des Plexus, Pigmentablagerung und Extravasaten. Die Gefässe
waren erweitert, die Ganglienzellen geschrumpft, zum Theil kernlos verfettet. Dieselben
Veränderungen setzten sich noch in den N. splanchnicus fort. Lustig und Peiper konnten
bei ihren aseptisch ausgeführten experimentellen Untersuchungen über die Folgen der
Ausrottung des Plexus coeliacus Polyurie allerdings nicht beobachten. Peiper speciell ver-
mochte während längerer höchst sorgfältiger Beobachtung eine Steigerung der Urinmenge
über die vor der Operation constatirte durchschnittliche Quantität nur ausnahmsweise und in
ganz geringem Grade zu sehen. Die Splanchnicuspolyurie und analoge Formen müssten
gegenüber dem Diabetes insipidus cerebralis als L ä h m u n g s p h ä n o m e n e gedeutet werden.
Wenn somit nach dem Bisherigen eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür
bestellt, dass charakteristische Formen dauernder Polyurie durch Lähmung
und noch häufiger durch persistente Erregung gewisser Nervenbahnen, welche
Beziehungen zur Harnabsonderung haben und zum Theil durch bestimmte
Abschnitte des Pons ziehen, zu Stande kommen, so können wir hieliir doch
nicht so distincte nervöse Gebilde wie etwa einen abgegrenzten Faserzug oder
eine sonstige ganz umschriebene Formation verantwortlich machen.
Für einzelne Fälle, in denen man sich bestimmt überzeugt zu haben
glaubte, dass die gesteigerte Urinentleerung dem erhöhten Durste folgte, dass also
Polydipsie das Primäre war, reflectirte man nach allerdings ganz theoretischen
Ueberlegungen (Cl. Bernard's Angabe, dass Durchschneidung des N. vagus an
der Cardia Polyurie bewirke, steht vereinzelt da), auf die Nerven, welche das
Durstgefühl vermitteln. Nothnagel nahm an, dass die verschiedenen dieses
Gemeingefühl vermittelnden nervösen Bahnen einen gemeinsamen Knotenpunkt,
das sog. „Durstcentrum" in der Medulla oblongata besitzen, und hält es für
sicher, dass der Durst hier auch central ausgelöst werden kann. Damit wäre
zugleich eine nicht zu verkennende pathogenetische Verschiedenheit zwischen
den beiden Typen von nervöser Hyperdiurese, der Polyurie als Reizungsphä-
nomen und der Polyurie als Folge von primärer Polydipsie, bezeichnet.
Die vorstehenden Zeilen manifestiren wohl deutlich genug das Be-
streben, das Symptomenbild der dauernden Polyurie als ein nervöses zu
deuten. Die Fälle aus der menschlichen Pathologie, in welcher Heredität,
gewisse Gifte (Alkohol, Blei, Missbrauch der Diuretica), psychische Traumen,
392 DIABETES INSIPIDUS.
Hysterie, Epilepsie, Dementia paralytica, Hydroceplialus, innere Incarceration,
Traumen auf den Baucli, Gravidität ätiologisch discutirt werden müssen, die
grosse Ueberzalil der Fälle, wo der Diabetes insipidus anscheinend ein essen-
tielles, primitives Syndrom darstellt, lassen sich den unzweifelhaft nervösen
Typen ungezwungen anreihen. Bei einem seiner ganzen Geschichte nach so
verschwommenen Krankheitsbilde kann es aber allerdings nicht Wunder nehmen,
wenn wir in einzelnen Fällen pathogenetischen Schwierigkeiten begegnen.
Man hat sich gewöhnt, Analogien mit dem Diabetes mellitus aufzustellen und
ist deshalb der Auffassung der einschlägigen Formen von dauernder Polyurie
als Nervenkrankheit vielleicht allzuängstlich ausgewichen. Die Annahme einer
solchen Analogie war offenbar die Veranlassung, dass man auch einen speciell
constitutionellen Typus des Diabetes insipidus angenommen hat (Formen
der Polyurie, welche mit Diabetes mellitus wechseln, Hyperdiurese bei Gicht,
Steinkrankheit etc.). Aber es ist wohl sicher, dass die ältere Bezeichnung
Diabetes insipidus verschiedene Zustände zusammenfasst, und dass die
Heraushebuug der charakteristischesten nervösen Formen einen Fortschritt be-
deutet. Der sogenannte constitutionelle Typus gehört ebenso wie die öfter
beobachtete infectiöse Form und andere symptomatische Hyperdiuresen we-
nigstens zum Theil in andere Krankheitsgebiete,
1. Die traumatische Polyurie.
Unter dieser Bezeichnung versteht man jene Form der dauernden Polyurie,
welche in Folge eines Schädeltrauma oder einer starken Erschütte-
rung des ganzen Körpers neben eventuellen sonstigen cerebralen Symp-
tomen entstehen. Relativ häufig ist in diesen Fällen Fractur der Schädel-
basis beobachtet, doch ist dieselbe nicht ausschlaggebend für das Zustande-
kommen der Hyperdiurese. Meist handelt es sich um Fälle von ausgespro-
chener Commotio cerebri mit langdauernder Bewusstlosigkeit. In unmittel-
barem Anschluss an die Symptome der Hirnerschütterung fällt dann ent-
weder die Polyurie oder die Polydipsie zuerst auf. Es braucht kaum betont
zu werden, dass wenn auch letzteres der Fall ist, die Polydipsie nicht noth-
wendig die primäre Störung darstellen muss. Bei etwas verspätetem Auf-
treten der Polyurie kann sich das Phänomen gleichzeitig mit sonstigen neuen
cerebralen Symptomen einstellen. In der ersten Zeit nach ihrer Entstehung
erfährt die Hyperdiurese meist noch eine Zunahme, bis nach mehreren Tagen
oder Wochen die Acme erreicht ist. Dann kann die Polyurie jahrelang bestehen
bleiben, oder es tritt nach längerer oder kürzerer Zeit eine zunehmende
Verminderung ein. Die 24-stündige Harnmenge erreicht hier nicht jene
colossale Höhe, wie bei den selbständigen Typen der Polyurie ; doch sind
Tagesmengen von 10 — 20 Litern öfter beobachtet. Das subjective Befinden
der Kranken bleibt meist ein relativ gutes. Die Intensität des traumatischen
Diabetes insipidus steht in keinem directen Verhältnis zur Schwere' des Trauma's
und der Hirnerschütterung. Die cerebralen Herdsymptome, welche neben der
Polyurie beobachtet werden, sind besonders Abducens- und Facialislähmung,
Nystagmus, Zwangsbewegung. Die Möglichkeit, dass Schädeltraumen um-
schriebene Läsionen an der Ursprungsstelle der genannten Hirnnerven ver-
ursachen, ist vor Allem experimentell (durch Duret) ausreichend klargestellt.
Die Schwierigkeit, im einzelnen Fall die extracerebrale Entstehungsweise
der begleitenden Symptome sicher auszuschliessen, ist schon genügend betont
worden.
2. Die Polyurie als dauerndes Symptom cerebraler Erki'aiikungen.
Die verschiedenen Gehirnerkrankungen, welche zu dauernder Polyurie
Veranlassung geben können, sind schon aufgezählt worden. Es gibt übrigens
keine Stelle des Mittelhirns, des Pons, der Med. oblongata und des Cerebellum,
DIABETES INSIPIDUS. 393
bei deren Läsion dieses Symptom nicht auch gefehlt hätte. Die Harnmenge
überschreitet in den einschlägigen Fällen bisweilen den Betrag von 10 Litern
pro die. Eegel ist hier ein grössere Perioden umfassendes, aber auch ein
nicht selten tageweises Schwanken der Harnsecretion.
3. Die essentielle dauernde Polyurie.
Unter dieser Bezeichnung dürfen jene Fälle von Diabetes insipidus zu-
sammengefasst werden, in welchen neben der das Krankheitsbild symptomatisch
beherrschenden Polyurie höchstens vereinzelte Zeichen einer der fi-üher ge-
nannten Neurosen sich finden. Doch werden solche nervöse Erscheinungen
nie ganz vermisst. Dieser Typus, welcher begreiflicherweise das meiste In-
teresse beansprucht, findet sich häufiger bei Kindern und jüngeren Individuen,
als bei älteren Menschen. Das Alter von 10—25 Jahren ist das bevorzugte.
Die Zahl der erkrankten Weiber ist eine relativ bedeutende. Bisweilen ist
der Verlauf ein fast acuter, in der Ptegel ist derselbe chronisch. Intermittenzen
sind nicht selten. Die acute Form hat man beobachtet nach Erkältungen,
nach vorübergehenden Alcoholexcessen u. dgl. Die Polyurie dauert dann
eine bis zwei Wochen. Es ist fraglich, ob alle hierher gerechneten Beobach-
tungen auch wirklich in's Bereich des Diabetes insipidus gehören. Die inter-
mittirende Form findet sich besonders bei den Hysterischen. Es sind dann
oft ganz geringfügige Ursachen, welche die Polyurie hervorrufen. Die Perioden
betragen Stunden, Tage, aber auch viel längere Zeiten. Die Piemissionen
sind von sehr ungleicher Dauer, bald nur kurz, bald sehr lang. In der Regel
wird der anfänglich intermittirende Diabetes insipidus später continuirlich.
Auch die ganz chronische Form zeigt tägliche Modificationen, welche in Be-
ziehung stehen zum Regime des Kranken. Aber ihre Dauer kann eine ausser-
ordentlich lange sein, man sieht die Polyurie Monate, Jahre, ja durch das
ganze Leben der Patienten fortbestehen. Es sind insbesondere die Fälle, wo
die hereditäre neuropathische Disposition eine Rolle spielt, welche die aus-
gesprochenste Chronicität zeigen. Die Polyurie erscheint hier nicht selten
schon in der Kindheit, oder doch nach dem 14. Lebensjahre. Ihr Eintreten
erfolgt ganz spontan, oder nach belanglosen Ursachen. 15, 20, 25 Liter Harn
pro die oder noch grössere Mengen bilden die Regel. Das Gesammtbefiuden
bleibt gleichwohl ein gutes, der Fettpolster erhält sich. Die Therapie kann
die Hyperdiurese herabdrücken, aber den Zustand nicht beseitigen. Es heisst,
dass hier nicht selten schliesslich Tuberculose oder digestive Störungen die
Scene beschliessen. Sicheres ist darüber wenig bekannt. Es handelt sich
doch wohl bloss um accidentelle Krankheiten, um Complicationen. Das rela-
tive Wohlbefinden bei dauernder Polyurie kann sich nach vorliegenden Berichten
20—30 Jahre erhalten. Kinder bleiben im Wachsthum bisweilen evident
zurück; doch werden sie zeugungsfähig, und ihre Intelligenz kann sich normal
entwickeln. Dass speciell in infantilen Fällen des Leidens die Lebensdauer
abgekürzt sei, wie behauptet worden (Roger), erscheint wohl nicht ausreicliend
begründet. — Spontane Heilung ist für manche Fälle angegeben worden.
Dass der Tod dem Diabetes insipidus selbst zuzuschreiben wäre, ist kaum lür
einen Fall ausreichend festgestellt.
Das führende Symptom ist Polyurie; damit parallel geht
Polydipsie.
" Strauss hat zuerst in klarer Weise die Frage aufgeworfen, ob die primäre Störung
in Polj'urie oder in Polydipsie zu suchen ist. Die Frage ist auch rein sj-mptomatologisch
noch nicht abschhessend beantwortet. Doch steht soviel fest, dass gewiss nicht alle
Fälle ursprünglich Polydipsien sind.
Man hat zunächst als Eigenthümlichkeit des Polydiptikers die grössere Ab-
hängigkeit des Modus der Harnausscheidung von der Zufuhr betont. Für den
Polyuriker dagegen wurde eine gewisse Co n stanz der Ausscheidungsgrossen in
d e r Z e i t e i n h e i t angenommen. Der Polyuriker sollte ferner bei entzogener F 1 u s s i g-
keitszufuhr noch längere Zeit hindurch grössere Mengen Harn ausschei-
394 DIABETES INSIPIDÜS.
den; dieses Wasserplus müssen natürlich die Gewebe bestreiten. In einer einschlägigen
Arbeit glaube ich aber ausreichend nachgewiesen zu haben, dass alle diese behaupteten
symptomatischen Unterschiede vor Beobachtung und Kritik nicht Stand halten. Als zweite
wesentliche Differenz zwischen Polydiptiker und Polyuriker wurde erklärt, dass bei ersterem
die Flüssigkeitsabfuhr durch Harn und Schweiss erfolge, dem Polyuriker dagegen wäre
die insensible Perspiration entweder ganz abhanden gekommen, oder die-
selbe sei doch constant sehr herabgesetzt (Strauss). Beobachtungen, welche ich nach
dieser Pachtung an relativ zahlreichen Kranken dieser Art anstellen konnte, haben mir aber
gezeigt, dass die insensible Perspiration bei demselben kranken Individuum auffallenden
Schwankungen unterliegt. Schon deshalb, aber auch noch aus anderen Gründen, kann
sie nicht den Mittelpunkt des polyurischen Symptomencomplexes bilden.
Die genauere symptomatische Ermittelung der Bedingungen der Hyper-
diurese bei Diabetes insipidus, für welche von allen in den vorstehenden Zeilen
angeführten Eigenthümlichkeiten blos eine sicher ist, nämlich die, dass der Dia-
betiker in derselben Zeit mehr Harn secernirt als der gesunde Vieltrinker bei
gleicher Flüssigkeitszufuhr, geschieht nach meinen Erfahrungen am besten in
folgender Weise. Alle drei für die Flüssigkeitsabfuhr aus dem Körper in
Betracht kommenden Factoren, Darmthätigkeit, Sättigung der Gewebe (des Blutes)
mit Flüssigkeit, Nierenfunction, werden durch genügend langes Fasten ent-
sprechend entlastet. Dann werden entweder dadurch, dass man auf einmal
ein relativ sehr bedeutendes Flüssigkeitsquantum trinken lässt, an alle diese
Factoren möglichst hohe Anforderungen gestellt oder man führt dem Versuchs-
kranken fortgesetzt etwas kleinere, unter sich gleich grosse Flüssigkeitsmengen
zu. Bei allen Versuchen wird dem Diabetiker ein arteficieller Polydiptiker
unter identischen Verhältnissen zum Vergleich gegenübergestellt.
Durch solche Vergleichsversuche, die in acht Fällen durchgeführt wurden,
habe ich zwei Typen der Harncurve bei Diabetes insipidus feststellen können.
Dass man unter den dargelegten Versuchsverhältnissen von einer „normalen
Harncurve" sprechen kann, haben die Untersuchungen von Friedel Pick
nachgewiesen. Die Harncurve des ersten Typus des Diabetes insipidus
steigt nun auffallend schneller an und viel schneller ab als beim
Gesunden. Solange sein Organismus mit Flüssigkeit überschwemmt ist,
erscheint der Diabetiker als Schnellharner {Tachyuriker). Haben seine Nieren
die Entwässerung bis zu einem gewissen Grade besorgt, dann lässt er den
gesunden Vieltrinker allmälig nachkommen ; Gewebsflüssigkeit setzt er seinen
Ausscheidungen nicht zu. Die Feststellung dieses ersten Typus ist deshalb
von Bedeutung, weil derselbe einem experimentellen Postulat entspricht. Die
experimentelle Polyurie ist aus Polydipsie allein . nicht erklärlich. Ich habe
bisher nur drei streng hierherzurechnende Fälle gesehen. Der zweite Typus
der Harncurve entfernt sich kaum von derjenigen des gesunden
Vieltrinkers. Ob man auf Grund von Neuschler's sorgfältigen Unter-
suchungen einen dritten Typus aufstellen kann, bei welchem der Krankesein
Wasser langsamer wieder hergibt als der Gesunde, muss ich dahinge-
stellt sein lassen. Ich habe keine ähnliche Beobachtung gemacht. Der Einwand,
dass die Formulirung der Gesetze der Wasserabgabe beim Diabetes insipidus
das Verständnis der Pathogenie auch nicht unmittelbar fördert, mag gelten;
erfolgen musste aber diese Formulirung in Hinsicht auf die Revisionsbedürf-
tigkeit des älteren klinisch-experimentellen Materiales und der geradezu
abenteuerlichen Angaben und Hypothesen, welche der Literatur des Gegen-
standes noch anhalten.
Alle genau beobachteten Kranken nehmen mehr Flüssigkeit auf, als sie
ausscheiden; ein Ueberwiegen der Harnsecretion über die Wasserzufuhr findet
nur anscheinend oder ganz vorübergehend statt. Der Polyuriker kann „er-
zogen" werden und es dann über 30 Liter pro Tag Harn bringen. Viel Pikantes
könnte über den Durst berichtet werden. Nicht niedrig anzuschlagen ist hier
die Rolle der Neurose, welche im gegebenen Falle mitspielt. Der Harn ist
klar, hell, manchmal ins Grünliche spielend, das specifische Gewicht über-
DIABETES INSIPIDUS. 395
schreitet wohl nur selten den Betrag von 1010, liegt in der Regel unter
1006, und sinkt leicht auf 1001. Beim Stehen sedimentirt der untersetzte
Harn kaum. Bei mittleren Harnmengen pro die (6 — 12 Liter) bleibt das
Quantum ausgeschiedenen Stickstoffes normal. In Fällen, wo die Patienten
mehr, 14 — 20 Liter Harn oder noch grössere Mengen absondern, und in noch
ausgesprochenerer Weise, wo die Patienten, was sehr häufig ist, gefrässig sind,
geht die Harnstoffmenge weit über die Norm. Bevor man aber einen speciellen
Typus des Diabetes insipidus als Azoturie aufstellt, müssen doch noch ge-
nauere Krankheitsgeschichten und einwandfreiere Untersuchungen des Stoff-
wechsels vorliegen, als gegenwärtig zur Verwerthung stehen. Inosit im Harn
wurde früher als (diagnostisch) wichtiger Bestandtheil des Harns angesehen:
er ist gewiss nur etwas Zufälliges.
Spuren von Eiweiss findet man nicht so selten, aber immer nur vorüber-
gehend. Es ist aber natürlich keine Frage, dass Albuminurie im Symptomen-
bilde diagnostische Bedenken erregen muss. Alimentäre Glycosurie habe ich
in einem Falle sehr ausgeprägt hervorrufen können, in einem anderen auch
nach Zufuhr reichlichen Zuckers vermisst.
Untersuchung des Blutes mit den modernen Mitteln ist ein dringendes Desiderat.
Die Analysen von Strauss entsprechen nicht allen Anforderungen und sind auch nicht mit
Rücksicht auf die uns meist interessirenden Fragepunkte ausgeführt.
Von sonstigen, mehr inconstanten oder secundären Symptomen sind vor
Allem anzuführen die nervösen Beschwerden: Verschiedene Erscheinungen
von Hysterie, Neurasthenie, neuralgiforme Schmerzen, Kopfschmerzen mit Er-
brechen u. s. w. Ob der oft zu beobachtende Heisshunger, der seltene Speichel-
fluss, die Stuhlverstopfung nervösen Ursprung haben, ist schwer zu beurtheilen.
Dass die Perspiratio insensibilis sehr schwankt, wurde bereits erwähnt. Die
Haut ist oft, aber durchaus nicht immer trocken. Pruritus und Furunculose
wurden öfter gesehen. Die Geschlechtsthätigkeit in den Fällen, die ich beob-
achtet, war ganz normal. Die Körpertemperatur zeigt keine besonderen Ab-
weichungen; doch hält sie sich in der Nähe der unteren physiologischen Grenz-
werthe. Intercurrente fieberhafte Krankheiten führen in der Regel eine Ab-
nahme des Diabetes insipidus herbei.
Die Diagnose muss den Diabetes insipidus von verschiedenen anderen
Formen der Polyurie unterscheiden. Verwechslung mit Diabetes mellitus wird
wohl kaum je stattfinden können. Wichtiger sind in differentialdiagno-
stischer Richtung verschiedene Merenkrankheiten : Ren granulatus, Amyloidose,
Pyelitis, Hydronephrose. Albuminurie als Symptom von differientialdiagnostischer
Bedeutung wurde schon genügend hervorgehoben.
Die Prognose gestaltet sich viel günstiger, als man nach der Intensität
der Störung erwarten sollte. Der Diabetes insipidus liefert ein prägnantes Bei-
spiel für die ausserordentliche Compensationsfähigkeit der organischen Ein-
richtungen.
Therapie. Von der Behandlung der eventuell zu Grunde liegenden
Affection, welche, wenn möglich in Angriff zu nehmen ist, soll hier nicht
speciell die Rede sein. Alle Mittel, welche gegen das Leiden selbst empfohlen
wurden, taugen nichts. Der an sich ganz vernünftige Versuch, durch Haut-
;pflege, Bäder u. s. w. einen Theil der Harnfluth durch die Haut abzulenken,
wird zu allermeist erfolglos unternommen. Auch Pilocarpin hat nach dieser
Richtung höchstens ganz vorübergehende Wirkung.
Empirische Mittel gegen die Krankheit sind der constante Strom auf die
Wirbelsäule und Nierenregion (Külz), die Baldrianivurzel in grossen Dosen
(Teousseau) und Ergotin (gleichfalls in grossen Dosen, Hershey). Wider den
Durst: Hausmittel und Opium. f. kraus.
396 DIABETES MELLITUS.
Diabetes mellitus heisst der patliologische Zustand, bei welchem durch
längere Zeit, ohne dass grosse Mengen von Zucker oder Kohlenhydraten, ja
oft ohne dass überhaupt Kohlenhydrate mit der Nahrung zugeführt werden,
fortgesetzte Zuckerausscheidung mit dem Harn stattfindet.
Theoretisch müssen wir den Diabetes mellitus als eine Störung des
Stoffumsatzes betrachten, bei welcher der Organismus die von
aussen aufgenommenen, beziehungsweise die in ihm entstan-
denen Kohlenhydrate nicht vollständig ausnutzt und zu einem
verschieden grossen Bruchtheil unzersetzt mit den Excreten
eliminirt.
Es handelt sich somit nicht um eine einfache quantitative Veränderung des (com-
bustiven) Gesammtstoffwechsels, nicht nm eine Verringerung der summarischen Oxydations-
kräfte des Organismus, sondern bloss um eine Abweichung einer bestimmten einzelnen
Hauptrichtung der chemischen Stoffbewegung im Körper. Schon die Külz'sche Entdeckung
dass der diabetische Organismus gewisse Kohlenhydrate verbrennt, andere nicht, beweist,
dass die combustive Energie an sich unvermindert ist. Leo hat ferner direct nachge-
wiesen, dass der Sauerstoifverbrauch in den Geweben des Diabetikers sich innerhalb der
auch beim Gesunden unter gleichen Verhältnissen zu beobachtenden Werthe bewegt. Die
gesammte Oxydationsgrösse im Organismus erhält sich also unabhängig von der Grösse des
ausgeschiedenen, krankhafterweise unzersetzten Materiales. Bei sehr starker Zuckeraus-
CO
Scheidung wird nur eventuell der respiratorische Coefficient — ~ besonders niedrig,
eben weil im Körper zu wenig Kohlenhydrate verbrannt werden.
Die Kohlenhydrate sind im Thierkörper nur in relativ geringer Menge vor-
räthig abgelagert. Aber sie sind am Stoff'zerfall im Organismus in bedeutenden Quanti-
täten betheiligt, sie stellen höchst wichtige Uebergangsstufen der Zersetzung, typische
Zwischenglieder des intermediären Stoffwechsels dar.
Die Zucker- (Dextrose-) Bildung im Körper erfolgt aus zwei verschiedenen Gruppen
von Verbindungen, aus den Kohlenhydraten der Nahrung und des Organismus und
aus den Eiweisskörpern. Die öfter bestrittene ZuckeTbil düng aus Eiweiss ist zunächst
durch die klinische Form des sogenannten schweren Diabetes (Fortdauer der Glycosurie
trotz absoluter Eiweissdiät), und ferner durch die experimentellen Thatsachen des Phlori-
dizin- und des Pancreas-Diabetes ausreichend sichergestellt. Damit nun der Zuckergehalt
der Säftemasse (des Blutes) gehörig regulirt bleibe, verfügt der Körper über gewisse in der
Organisation gelegene Einrichtungen. Der Zuckergehalt des Blutes darf nämlich eine be-
stimmte Grenze nicht überschreiten, sonst tritt wegen der besonderen diffusiven Fähigkeit
der Dextrose Glykurie ein und es geht Material ungenützt verloren. Diese Regulirung
bezieht sich auf zwei Acte des Kohlenhydratstoffwechsels, einerseits auf die Geschwindigkeit,
mit welcher der Zucker (verzuckerte Stärke etc.) aus dem Darmtractus der Säftemasse zu-
geführt wird und auf die Leistung bestimmter Gewebe, welchen speciell die Assimilation
trnd Desassimilation der praeformirten und der aus dem N-freien Rest des Eiweissmolecüls
entstandenen Kohlenhydrate obliegt. Auch beim Gesunden ist die Assimilationskraft für
Dextrose keine unbegrenzte, und auch beim Kranken ist der Zuckerverbrauch im Körper
durchaus nicht ganz unmöglich, es ist bloss die Assimilationsgrenze durch dauernde Störung
der Zucker assimilirenden (desassimilirenden) Apparate bleibend herabgesetzt.
Die normalen Einrichtungen, welche den Zuckerumsatz und den Zuckergehalt der
Säftemasse reguliren, sind uns bisher nur theilweise bekannt. Sicher ist, dass der Zucker-
verbrauch im normalen Organismus nicht in einheitlicher Weise von statten geht;
der Zucker wird unter Mitwirkung einer Mehrzahl von Apparaten im Körper um-
gesetzt. Wir kennen experimentell herbeiführbare Störungen der Darmfunction — Hunger,
Unterbindung von Aesten der A. meseraica (Hofmeister Kolisgh) — wobei die Assimilation
des Zuckers mehr als dessen Resorption ins Blut herabgesetzt ist, so dass Glycosurie auf-
tritt. Wir wissen, dass gewisse Zellen des Organismus (Leber) den Zucker in ihrem
Leibe aufspeichern, indem sie ihn durch Polymerisation in Glycogen überführen. Es steht
ferner fest, dass gleich allen vegetativen Functionen auch der Zucker- (Glycogen-) Umsatz
unter dem Einfiuss des Nervensystems (vasomotorische Factoren?) steht (Gl. Bernard).
Der durch Abtragung des Pancreas experimentell hervorrufbare Diabetes (Mi.mkowski)
beweist, dass auch diese Drüse die Aufgabe hat, den Verbrauch der resorbirten und der aus
Eiweiss abgespaltenen Kohlenhydrate zu reguliren. Der Einfiuss des Pancreas scheint
sich insbesondere auf das Blut im Pfortadergebiet zu erstrecken. Ob auch die Schilddrüse
und die Speicheldrüsen eine ähnliche Function besitzen, erscheint noch sehr zweifel-
haft. Endlich ist normaler Verlauf der secretorischen Vorgänge in den Nieren eine un-
erlässliche Vorbedingung für die volle Ausnützung der Kohlenhydrate; die Thatsachen der
Phlordizinvergiftuug scheinen dafür zu sprechen, in wie grossem Umfange Durchlässigkeit
der Nieren eine Ausschwemmung der Kohlenhydrate aus dem Körper bedingen kann.
DIABETES MELLITUS. 397
Aus dem Bisherigen geht klar hervor, dass dauernde Zuckerausscheidung, ohne dass
eine Ueberschwemmung des Organismus mit überreichlich gebildetem Zucker existiren
müsse, auf mehrfachem Wege zu Stande kommen kann. A priori betrachtet,
braucht somit auch der klinische Diabetes mellitus nach dieser Richtun«>
nicht nothwendig eine einheitliche Nutritionsstörung darzustellen.
Die dargelegte theoretische Auffassung vermittelt uns auch ein einfaches Yerstcändnis
schwerer und leichter Formen des iJiabetes mellitus. Eine schwere Form wird es
sein, wenn eine so tiefe Herabsetzung der Assimilationsgrenze besteht, dass nicht bloss der
in den Kohlenhydraten zugeführte Zucker, sondern auch ein Theil des im Organismus selbst
(aus Eiweiss) gebildeten Zuckers der normalen Umsetzung entgeht ;dieAssimilationsgrenze
liegt dann dauernd unter dem Niveau des durch den Stoffwechsel im.
steten Gange erhaltenen Zuckerzuflusses. Mit einer leichten Form haben wir
es zu thun, wenn die Assimilationsgrenze nur insoweit unter die Norm
fällt, dass sie jeweilig bei der durch A myl aceenzufuhr hervorgerufenen
Vermehrung der Dextrose im Blute überschritten wird. (Hofmeister.)
Man sieht leicht, dass in den obigen Zeilen an der alten Vorstellung, nach welcher
der Diabetes mellitus in einer Assimilationsstörung begründet gedacht wird (Sy-
denh am), festgehalten ist. Dass übermässige Bildung in der Oeconomie (Lecorche)
die Schuld trägt, ist gegenüber neueren Thatsachen nur durch sehr künstliche Aufstellungen
plausibel zu machen.
Wenn der Zucker im Körper bei regelmässig fortschreitender Bildung
infolge mangelhafter Leistung bestimmter Gewebe dauernd unvollständig um-
gesetzt wird und die resultirende Hyperglykaemie von anhaltender Glycosurie
gefolgt ist, wird es nothwendig zu Stickstoffverlusten durch chroni-
sche Inanition kommen. Das mit starker Zuckerausscheidung nothwendig
verbundene Caloriendeficit muss dazu führen, dass der Eiweisszerfall sich
entsprechend höher einstellt. Der Diabetiker ist nach dieser Kichtung einem
Gesunden vergleichbar, welchem man denselben Betrag von Kohlenhydi'aten,
welchen der Kranke im Harn verliert, einfach gleich von der Nahrung ab-
streicht. Es handelt sich somit um physiologische Eiweissverluste (vgl. den
Artikel „Cachexie" dieser Bibliothek). Zur Glycosurie gesellt sich also, ent-
sprechend den Beziehungen, welche auch unter normalen Bedingungen zwischen
Eiweiss- und Kohlenhydratz er Setzung im Körper bestehen, die Az o t u r i e. Stei-
gerung der Eiweisszufuhr erhöht natürlich im gegebenen Falle auch die
Zuckerausscheidung im Harn, da mehr Kohlenhydrate im Körper entstehen.
Die Stickstoffverluste durch Inanition erklären die A b m a g e r u n g der Diabetiker
und deren erhöhtes Nahrungsbedürfnis. Da die Kranken infolge dessen
wiederum überhaupt viel, und speciell auch mehr Albuminate zuführen, ist ein
weiterer Grund für die altbekannte Thatsache gegeben, dass die Eiweisszersetzung
im Diabetes mellitus relativ sehr hohe Werthe erreicht. Specifisch das Proto-
plasma der Zellen angreifend und dadurch in streng pathologischem Sinne
den Stickstoffumsatz erhöhende Gifte finden sich im Organismus der Diabetiker
bloss bei bestimmten autotoxischen Zuständen (vgl. den Artikel „ Säureautointo-
xication^^).
Der von den Diabetikern ausgeschiedene Zucker ist die Dextrose; in
seltenen Fällen links drehender Zucker. Die Fähigkeit, Laevulose und Inulin
zu oxydiren, bewahrt sich der diabetische Organismus in einem gewissen
Umfange. Auch Milchzucker wird zersetzt. Muskelarbeit steigert die Zucker-
zerstörung und vermindert dadurch die Glykurie (KtJLz, Zimmer).
Fett erhöht die Zuckerausscheidung nicht. Die Fettbildung aus über-
schüssigen Kohlenhydraten auf synthetischem Wege im normalen Organismus
ist eine feststehende Thatsache. Es ist nun ganz wahrscheinlich, dass diese
Synthese und die Fähigkeit des combustiven Zuckerumsatzes nicht in gleichem
Maasse gestört sein müssen: die Fettbildung aus Kohlenhydraten kann sich
noch regelrecht vollziehen, während die Oxydation des Zuckers eingeschränkt
ist. Haben wir es mit einem derartigen Diabetiker, der seinem erhöhten
Nahrungsbedürfnis folgt, zu thun, so könnte es sogar leicht zu allgemeiner
Obesitas kommen. Da ein solcher Kranker die Kohlenhydrate nicht ganz
verliert und von seinem Fett zehren kann, so wird er auch nicht in gleichem
398 DIABETES MELLITUS.
Umfange von seinem Eiweissbestande zusetzen müssen, also überhaupt besser
daran sein, als ein magerer Diabetiker. Daher die berechtigte günstigere
Prognose des sogenannten lipogenen Diabetes.
Alles, was ans rein klinischen Gesichtspunkten über die Aetiologie des Diabetes
mellitus angegeben wurde, ist recht vag. Man beschuldigt die vegetarische Lebensweise ge-
wisser Völker als Ursache der Häufigkeit des Leidens in den betreffenden Ländern (Indien,
Italien). Die Juden, auch die Schweden sollen (infolge von Raceneigenthümlichkeiten) für
Diabetes mellitus besonders veranlagt sein. Vor Allem aber scheint die Heredität eine Rolle zu
spielen Der Diabetes kann in den Familien mit andern constitutionellen Krankheiten abwechseln
(Glicht, Corpulenz). Der familiäre Diabetes mellitus zeichnet sich oft durch besonders
schweren Verlauf aus. Die ererbte nervöse Disposition (Psychopathien, schwere Neurasthenie,
Epilepsie) hat vielleicht gleichfalls aetiologische Beziehungen zur Entstehung der Krankheit.
Traumen, besonders Schädelverletzungen, gelten als ursächliches Moment von grosser Wich-
tigkeit. Der Excess im Genuss von Amylaceen oder fetthaltigen Nahrungsmitteln ist nicht
selten angeschuldigt worden. In Fällen, wo wahrscheinlich vom Anfang an eine starke
Disposition für Diabetes mellitus bestanden, mögen ganz geringfügige Veranlassungen zum
Manifestwerden des Leidens Veranlassung geben können (psychische Traumen, Erkältung).
Eine gewisse Beachtung verdienen die Fälle von Diabetes mellitus in unmittelbarem oder ent-
fernterem Gefolge bestimmter Infecte (Malaria, Influenza, Syphilis).
Pathologische Anatomie. Einen für Diabetes mellitus ausschlaggeben-
den Sectionsbefund kennen wir nicht. Mit Rücksicht auf die früheren Aus-
führungen verdienen jedoch vorliegende pathologische Befunde am Central-
nervensystem und am P a n c r e a s unzweifelhaft besondere Beachtung. Am
Nervensystem sind insbesondere Geschwülste, Hämorrhagien, Erweichungen,
Entzündungen am Boden der Ptautengrube von Wichtigkeit. Hinsichtlich des
Rückenmarks, des Vagus und Sympathicus liegen nur spärliche verwerthbare
Beobachtungen vor. Mehr als die immerhin seltenen pathologisch-anomatischen
Befunde ist es der Diabetesstich Gl. Bernard's gewesen, welcher die Theorie
eines n europathischen Diabetes mellitus begründet hat. Die heute
vielfach betonte Geringschätzung dieses experimentellen Fundamentes büsst
viel an Gewichtigkeit ein, wenn man sich erinnert, dass es Kahler gelungen
ist, durch Erzeugung eines persistirenden cerebralen Herdes dauernde Polyu-
rie zu erzeugen. Der Schluss auf ein analoges Verhalten durch an ent-
sprechender Stelle des Gehirns erzeugte dauernde Laesionen hervorgerufener
Glykurien erscheint nicht zu gewagt.
Am Pankreas einzelner verstorbener Diabetiker sah man Atrophie,
Fettnekrose, Sclerose, cystöse Degeneration, Abscess, Carcinom (letztere bei-
den mit secundärer Atrophie) u. s. w. Für manche (nicht allzu viele)
Fälle von Diabetes mellitus darf man also Erkrankung des Pancreas als Ur-
sache supponiren. Die Hauptstütze des pancreatogenenDiabetes liefert
jedoch ebenfalls nicht so sehr die pathologische Anatomie, wie das berühmt
gewordene Experiment von Minkowski.
In der grossen Mehrzahl der Fälle von Diabetes mellitus verschafft uns
die Obduction weder hinsichtlich des Gehirns, noch hinsichtlich des Pancreas
greifbare Anhaltspunkte. Insbesondere erscheint das Pancreas der
Diabetikerleichen in der Mehrzahl der Fälle nach Maassgabe
unserer besten mikroskopischen Untersuchungsmethoden
intact. Alle Versuche, die sogenannte Einheitlichkeit des Diabetes, für welche
in den Bedingungen der zu'^Grunde liegenden Stoftwechselanomalie ausreichende
Beweise durchaus nicht vorliegen, noch dahin zuzuspitzen, dass gerade eine
Schädigung des Pancreas die wesentliche oder gar einzige Veranlassung der
Krankheit sei, muss vorläufig von der Hand gewiesen werden.
Dass beim Menschen ein enterogener Diabetes existire, dafür
liefern höchstens die Experimente Hofmeisters über den Himgerdiabetes
eine Andeutung.
Ebensowenig ist es für den Menschen wirklich nachgewiesen, dass
eine Störung der regulatorischen Thätigkeit, welche der Leber hinsichtlich
DIABETES MELLITUS. 399
des Kohlenliydratumsatzes zukommt, einen dauernden Diabetes erzeugt. Frerichs
fand allerdings in den Leberzellen zweier lebender Diabetiker trotz Amylaceen-
zufuhr wenig oder kein Glycogen. Seegens einschlägige Behauptungen wur-
den vielfach angegriffen.
Die Symptome des Diabetes mellitus sollten aufgezählt werden nach
den einzelnen befallenen Organen des Körpers und nach der Reihenfolge, in
welcher dieselben im Verlauf der Krankheit erscheinen. Letzteres ist jedoch
eine schwierige Aufgabe, weil nichts so variabel ist als die Ordnung, in
welcher bei Entwicklung des Leidens die Symptome sich folgen. Es sind be-
sonders die ersten Anfänge der Krankheit, die nicht genau charakterisirt
werden können. Gar nicht selten entdecken die Specialisten das Leiden:
Der Oculist, der wegen einer Cataract oder wegen einer Amblyopie consultirt
wird; der Dermatologe, welchen man wegen Pruritus, Balanoposthitis, wegen
Eccems, Furunculose befragt; der Zahnarzt, dessen Hilfe wegen rasch fort-
schreitender Zahncaries, Gingivitis in Anspruch genommen wird; der Neurologe,
welcher wegen Neuralgien (Quintus, Ischias), wegen Neurasthenie (Verlust der
intellectuellen Activität, ungerechtfertigte Ideen des persönlichen Ruins,
leichte Ermüdung der Muskeln, Impotenz) consultirt wird. In seltenen Fällen
wird auch erst bei eingetretener Gangränescenz peripherer Körpertheile der
Harn auf Zucker untersucht. Zum Internisten führt den Kranken die Wahr-
nehmung, dass er abmagert trotz guter, beziehungsweise gesteigerter Esslust,
intercurrente Magendarmkatarrhe, das viele Trinken und Harnlassen u. s. w.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass in der Regel, wenn der Arzt zu Rathe ge-
zogen wird, die Glycurie schon längere Zeit besteht. Nur wenige Fälle
gibt es, wo man, da gewisse Anzeichen vorliegen, gewissermassen darauf wartet,
dass ein Individuum ein Diabetiker wird.
Im vollentwickelten Krankheitsbild finden sich neben dem führenden
Symptom, der Glycurie, vor Allem Polyurie, Polyphagie, Aiitophagie.
D er Harn. 5 — 6 Liter sind die durchschnittliche Tagesmenge, doch können
leicht über 10 Liter ausgeschieden werden. Anfangs besteht öfter Pollakisurie,
besonders Nachts. Wassermenge und Zuckergehalt gehen meist proportional. Wo
dieses Gesetz eine Ausnahme erleidet, spricht man vom Diabetes decipiens.
Nach starkem Trinken setzt beim Gesunden die Harnflut früher ein, hört
aber auch früher auf als beim Diabetiker, der unter gleichen Verhältnissen
steht (Friedel Pick). Die Maxima der Polyurie fallen mit den Verdauungs-
perioden zusammen. Es braucht wohl kaum betont zu werden, dass das aus-
geschiedene Flüssigkeitsquantum kleiner oder höchstens gleich ist der Summe
des zugeführten Getränkes. Das specifische Gewicht des Harn liegt
zwischen 1025—1040 und mehr. Immer ist es sehr hoch gegenüber
der Polyurie; es geht meist mit dem Zuckergehalt parallel.
Die absolute Grösse der Dextroseausscheidung hängt mit
der Intensität des Einzelfalles und mit der Diät des Kranken zusammen. Die
Grenzen sind: ganz kleine Mengen und mehrere 100 Gramm pro die. Her-
vorzuheben ist, dass die Glycurie meist Intensitätsschwankungen zeigt, und
zwar auch noch bei absoluter Eiweissdiät. In leichteren Fällen der Krankheit
(Initialstadium) ist die Glycurie bisweilen intermittirend. Der äusserst seltene
Befund anderer Kohlenhydrate im Harn (statt oder ausser der Dextrose), ver-
dient keine specielle Berücksichtigung. (Nachgewiesen sind: Dextrin, Glycogen,
Maltose, Laevulose, Laiose; Inosit — letzterer überhaupt gar kein Kohleu-
hydrat).
Die Erhöhung des Gesammt stickst off es im diabetischen Harn
(Azoturie) wurde schon angeführt und erklärt. Vorwaltend ist die Stickstoif-
ausscheidung vom Harnstoff beherrscht, wie in der Norm. Eine gewisse per-
centische Verschiebung zu Ungunsten des Harnstoff-N erfolgt, wenn bei
Säureautointoxication der Diabetiker viel Ammoniak ausgeschieden wird. Die
400 DIABETES MELLITUS.
Ammonexcretion ist bei den Diabetikern insbesondere bei Eiweissdiät über-
haupt Ton allem Anfang an relativ hoch; während der Säiu-evergiftung' hat
man jedoch bis 6, ja sogar 1'2 g pro die beol)achtet. Die Harnsäure ist ab-
solut nicht vermindert. Es gibt Fälle von Diabetes, bei welchen besonders im
Initialstadium vermehrte Harnsäurexcretion stattfindet, oder harnsaure Diathese
und Zuckerausscheidung abwechseln {sogenannter constitutioneller Diabetes).
Gichtiker werden bisweilen diabetisch. Nur in seltenen Fällen des
Leidens wird abnorm reichlich oxalsaurer Kalk ausgeschieden; bemerkeuswerth
ist es, dass dann l^isweilen die Oxalurie zunimmt, wenn die Glycurie nachlässt.
Ungefähr die Hälfte der Diabetiker scheidet (insbesonders in den Spät-
stadien der Krankheit) Albumin aus. Oft bleibt die Albuminurie nur gering-
fügig. Hochgradige Albuminurie findet sich in der Mehrzahl der schweren Fälle
von Coma diabeticorum. Tritt zum Diabetes, was nicht so selten geschieht
Morbus Brightii hinzu, kann die Glycurie geringer werden: die Ursache,
ist nicht sicher bekannt.
Die Aschenbestandtheile des Harns sind vermehrt. Dies erklärt sich zum
Theil aus der gesteigerten Nahrungsaufnahme. Es scheint ül)rigens im Dia-
betes das Knochengewebe ganz speciell zu zerfallen (v. NooedenJ.
Von sonstigen Bestandtheilen des Harns verdienen die specielle Be-
achtung des Arztes das Aceton, die A c e t y 1 e s s i g- und die ß-0 xy-
butt er säure. Insbesonders der Nachweis der letzteren beiden Verbindungen
ist prognostisch wichtig: das Vorhandensein der beiden Körper spricht für
Säureautointoxication.
Hinsichtlich der nothwendigen harnanalytischen Details vgl. den Ai'-
tikel ^.Harnuntersuchung'-'' dieser ..Bibliothek.'-^
Die Polydipsie ist kein ganz coustantes Symptom; sie folgt übrigens
den Intensitätsschwankungen der Polyurie. Noch weniger absolut coustant,
aber in typischen Fällen des Diabetes mellitus oft sehr in den Vordergrund
tretend, ist die Polyphagie. Der Intensität nach bewegt sich die letztere
zwischen einfach gesteigerter Esslust und Graden der Bulimie, welche die
Kranken gebieterisch nöthigen, bis gegen 10 Kilo Fleisch pro die zu verzehren.
Polydipsie und Polyphagie brauchen nicht parallel zu gehen. Es wurde schon
ausgefülu't, dass die erhöhte Appetenz nichts ist als das Correlat des Ge-
Avebehungers, welch letzterer wiederum nur eine unmittelbare Folge der
speciellen diabetischen Nutritionsstörung darstellt. In allen schweren Fällen
deckt der Ersatz den Bedarf auch entfernt nicht und es resultirt mit uner-
bittlicher Consequenz die Autophagie (diabetische Cachexie, vgl. den
aii'tikel „ Cachexie " ).
Die Körpertemperatur der Diabetiker ist gewöhnlich niecMg; man
misst oft 36" C. und beobachtet zum Schlüsse gelegentlich unter 35° C! Inter-
currente febrile Infecte vermögen bisweilen die Temperatur nicht in demselben
Maasse zu steigern, wie es bei Gesunden der Fall wäre. Man sieht z. B. aus-
gedehnte Pneumonien mit 38" C. ablaufen.
Das Blut der Diabetiker ist nicht regelmässig in toto eingedickt. Die
Blutmasse wii'd, wie immer bei chronischer Inanition, eine absolute Abnahme
erfahren. Wichtig ist, dass auch in vorgeschrittenen Fällen von schwerem
Diabetes mit sonst ausgeprägtem Marasmus eigentliche Anämie (Vermin-
derung des Haemoglobingehaltes) fehlen kann. NatiMich gibt es aber doch
auch viele anämische Diabetiker. Das höchste beobachtete spec. Gewicht betrug
1064, das mindeste 1057 (also ungefähr normale Werthe). Die Blutalkalescenz
ist oft vermindert, besonders dann, wenn auch der Harn Acetylessig- und
Oxybuttersäure enthält (Säureautointoxication). Bei paroxysmaler Säurever-
giftung konnten die genannten Säm-en auch im Blute nachgewiesen werden.
Der Dextrosegehalt des Blutes ist wohl meist erhöht, bis fast 5 pro Mille.
Wenn jedoch neuerdings immer wieder betont wird, dass die Hyperglycaemie
DIABETES MELLITUS. 401
eine absolute Voraussetzung der Glycosurie ist, müssen dem gegenüber sichere
Beobachtungen angeführt werden, wo Diabetiker bei Kohlenhydratzufuhr reichlich
mehr Zucker ausscheiden, während der Blutzucker nicht ersichtlich zunimmt.
Gabeitschewsky hat Glycogen in den Leucocyten der Diabetiker nach-
gewiesen. Das Blutplasma ist in den schweren Fällen auffallend „fett "reich.
Das wohl mit Unrecht berühmt gewordene glycoly tische Ferment im Blute erfährt
durchaus nicht eine regelmässige Abnahme.
Die mehr secun dar en Symptome, grösstentheils eigentlich schon Com-
plicationen des Diabetes mellitus sind, aufgezählt nach den befallenen Organen,
folgende :
Nervensystem: 1 . Intellectuelle Störungen: Gedächtnisschwäche, pseudo-
paralytische Demenz, Hypochondrie, Lypemanie, schreckhafte Hallucinationen
etc. 2. Allgemeine Neurosen: Neurasthenie, Epilepsie, asthmaähnliche Dyspnoe,
Pseudoangina pectoris, Morbus Basedow, Schlafattaquen, Impotenz. 3. Sinnes-
organe: Cataract, Ptetinitiden, Amblyopien, Sehnervenatrophie, Glaskörperblutung,
Synchysis scintillans, Accommodationslähmung, (Lähmung der äusseren Augen-
muskeln); Otalgie, Otitis diabeticorum, Eiterungen, Taubheit; Anosmie; Ageusie.
4. Neuralgien (Worms). Dieselben haben das Charakteristische, dass sie relativ
oft symmetrisch sind. Medicamente sind erfolglos, Eiweissdiät bessert sie
manchmal, nicht immer. Befallen sind mit Vorliebe der N. ischiadicus (oft
auch in seinen terminalen Zweigen), trigeminus, occipitalis, cruralis, nn. inter-
costales. Wahrscheinlich gehören hierher manche Formen von Kopfschmerzen,
Nackenschmerz, Mastodynie, Schmerz am Daumenballen etc. 5. Neuritis:
Schon manche der vorhergenannten nervösen Störungen sind streng genommen
hier einzubeziehen. Speciell sind hier jedoch bestimmte Lähmungen an-
zuführen. Diese letzteren sind unvollständig, ganz umschrieben (eine Extremi-
tät, wenige Muskeln, z. B. des Auges, ein Stimmband etc. betreffend) und passager.
Das Fehlen des Patellarphänomens ist gleichfalls im Sinne einer Neuritis
im Cruralisgebiet zu deuten. Bouchard fand, dass das Kniephänomen in
etwa einem Drittel der Fälle fehlt, Niviere in 40 von 100. Bisweilen
sind — wie auch sonst bei Neuritiden — die Sehnenphänomene gesteigert.
Gleichfalls in's Bereich der Neuritis gehört das Fehlen des Muskelsinnes,
der atactische Gang, lancinirende Schmerzen, gastrische Krisen, Dysaesthesien
(Charcot): das bekannte Syndrom der sogenannten Pseudotabes. Die neu-
ritische diabetische Paraplegie ist vielfach ähnlich der Alcoholneuritis. Dass
auch echte Tabes und Sclerose en plaques, wenn sie den 4. Ventrikel in
Mitleidenschaft ziehen, ebenso Diabetes hervorufen, ist casuistisch festgestellt
und kann nach den früheren Ausführungen nicht überraschen. Endlich müssen
noch partielle Anaesthesien, Paraesthesien, Ueberempfindlichkeit, Pruritus
cutanus mit hierherbezogen werden. Vielleicht gehören auch gewisse trophische
Symptome, z. B. mal perforant, Verlust der Nägel, localisirte Schweisse, um-
schriebene Hautatrophie, Muskelatrophien zu den neuritischen Symptomen.
6. Cerebrale, spinale Symptome und Syndrome. Cerebrale Herdaffectionen,
welche Ursache des Diabetes selbst sind, wurden schon oben genannt. Hier
seien weiter angeführt als in einzelnen Fällen beobachtet: xipoplectiforme
und comatöse Attaquen, die nicht auf Säurevergiftung beruhen, Hemiplegie,
Schwindelanfälle, Ohnmächten; centrale Facialislähmung. Von Seite des
Ptückenmarks sind cervicale und crurale Paraplegien constatirt.
Circulationsapparat : Atherose, Insufficientia cordis mit Dilatation,
Fett-Degeneration des Herzens. Oedenie stellen sich theils infolge der Herz-
schwäche, theils auch infolge der hydraemischen Cachexie ein. Nach Lecorche
wäre die Endocarditis eine nicht seltene Complication.
Bronchopulmonaler Apparat: Fibrinöse Lobärpneumonie ist häutig.
Sie bietet nichts Besonderes als einen schweren, manchmal foudroyanten Ver-
lauf. Häufig hat die Pneumonie eine Tendenz zum Ausgang in Suppuration oder
Bibl. med. W^issenscliaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. &0
402 DIABETES MELLITUS.
in Gangrän. Doch ist die Prognose niclit in jedem Fall verzweifelt. Riegel
hat eine specielle fibröse Pneumonie bei Diabetikern beschrieben, mit Bronche-
ctasie und eitriger Seretion. Die Sclerose folgt nach. Die Lungengangrän
kann auf eine Pneumonie folgen, oder auf eine Bronchopneumonie, selbst auf
eine einfache Bronchitis. Das Hauptmoment von Seite der Lungen ist jedoch
die Häutigkeit der bacillären Phthise. Etwa ein Drittel der Diabetiker stirbt
an Tuberculose. Fieber, Schweisse, Haemoptoe sind relativ wenig häufig im
Verlauf dieser Tuljerculose, der meist nach insidiösem Beginn ein relativ rascher
ist. Manchmal erscheint die Tuberculose als vorwiegend infiltrirte (Lob. Pneumo-
nie), häufiger aber als typisch ulceröse mit Cavernenbildung u. s. w.
Verdauungsapparat: Die Mucosa oris ist meist trocken, in der
Mundhöhle wenig Speichel. Manchmal besteht wieder (wenigstens anfangs)
Ptyalismus. Die Reaction des gemischten Mundspeichels ist sauer, wahi'-
scheinlich ohne dass bacteritische Zersetzung die Ursache ist. Die Zunge ist
trocken, meist gross, kirschroth, das Epithel nicht selten theilweise defect,
so dass die geschwollenen Papillen frei liegen. Die Zähne werden (oft in
grosser Zahl) cariös, die Gingiva entzündet. Pilze in der Mundhöhle lassen
sich massenhaft nachweisen. In den typischen Fällen der Krankheit stellt
sich der Magen lange Zeit sehr leistungsfähig dar. Die Motilität, der ja
natürlich viel zugemuthet wird, ist eine ausreichende. Bei den Polyphagen
entwickelt sich aber schliesslich doch häufig Megastrie. Die Absonderung der
Salzsäure zeigt kein streng gesetzmässiges Verhalten. Dyspepsien sind häufig.
Nicht so selten sind Cardialgien. Die Resorptionsthätigkeit des Dünndarms
dürfte nach vorliegenden Erfahrungen bei der Mehrzahl der Kranken in den
Grenzen der Norm sich bewegen : dies gilt für Eiweiss, Fett und Kohlen-
hydrate. Doch gibt es Ausnahmen (Hirschfeld). Die aromatischen Producte
der Darmfäulnis sind im Harn öfter vermehrt. Der Koth enthält wie der
Harn nicht selten Aceton. Obstipation ist häufig, Neigung zur Diarrhoen besonders
im Beginn der Krankheit nicht gar zu selten. In den diarrhoischen Stühlen hat
man bisweilen viel Fett gefunden. Die Leber ist nur selten vergrössert.
Girrhose derselben kommt unzweifelhaft bisweilen neben Diabetes vor. Milz-
vergrösserungen sind bei Diabetikern mehrfach beobachtet — vielleicht sind
diese Fälle jedoch bloss zufällig complicirte.
Geschlechtsapparat: Hoden und Ovarien atrophiren, Sterilität ist
häufig. Bisweilen zeigt sich im Beginn des Leidens erhöhte Libido, später in
der Regel Frigidität. Die Impotenz wird ebenso oft gleichmüthig ertragen,
wie sie zu Störungen der Psyche verschiederer Intensität führt. Ich habe die
Schwangerschaft bei Diabetikerinnen normal ablaufen gesehen ; doch sind mehr-
fach Aborte beobachtet.
Haut : Herabsetzung der Perspiratio insensibilis ist für manche Fälle fest-
gestellt, Trockenheit der Haut die Regel. Im Initial Stadium sind jedoch all-
gemeine und locale Schweisse nicht selten. Sonst sind anzuführen : Pruritus,
Eczem, Liehen, Zoster, Xanthom, Carbunkel, Furunkel, Phlegmone; Gangrän
(meist an den Zehen) im Anschluss an Entzündungen und leichte Verletzungen
oder primär. (Als seltenes Frühsymptom ist die Gangrän schon erwähnt
worden.) Die vordere Oeffnung der Urethra wird oft der Sitz von Pilz-
wucherung, und es kommt dann zu Vulvitis, Balanoposthitis, zu Eczemen,
welche das Praeputium, die Vulva und die Scheide in Mitleidenschaft ziehen.
Von hier aus kommt es dann auch nicht selten zu Cystitis. Die Glans penis
oder der Penis in toto kann gangränös werden.
Diagnose : Selbst die wiederholt bei demselben Kranken constatirte Gly-
curie ist an sich noch kein sicherer Beweis für das Bestehen des Diabetes
mellitus. Es gibt Fälle von persistirender gesteigerter alimentärer
Glycosurie (vergl. y,Harn: allgem. und specielle Pathologie"), welche nie-
mals zu wirklichem Diabetes sich ausgestalten und doch diagnostisch leicht
DIABETES MELLITUS. 403
irre führen. Doch darf man wohl den Satz aussprechen, dass ein
Individuum, welches bei Zufuhr relativ geringer Mengen von
Stärkemehl- (nicht zucker!-) haltiger Nahrung (unter 50 Gramm)
leicht nachweisbare Mengen von Zucker (über 1 — 3 Zehntelprocent)
im Harn ausscheidet, wirklich diabetisch ist. Kach den früheren
Darlegungen über die Art, wie der Diabetes sich meist insidiös entwickelt,
begreift es sich, dass man oft die Krankheit übersehen muss, wenn man
sich nicht dazu bequemt, den Harn jedes Kranken auf , Zucker zu unter-
suchen. Dies gilt besonders für die Fälle ohne Polyurie, weil dann die Pa-
tienten auch weniger Durst und Hunger haben. Die Fälle mit intermittirender
Glycosurie verursachen noch ganz specielle Schwierigkeiten.
Das Organ, welches im gegebenen Falle in letzter Linie die Schuld an der
Krankheit trägt, ist vorläufig, von den seltenen cerebralen Formen abgesehen,
Ijisher durchaus kein Object diagnostischer Erwägungen. Der Diabetes mellitus
muss bisher als abstracte Nutritionsstörung hingenommen werden.
Von einer gewissen Bedeutung ist die Entscheidung, ob die sogenannte
schwere oder leichte Form des Diabetes mellitus (Traube, SeegexJ im
gegebenen Falle vorliegt. Wie schon oben ausgeführt, sind leichte Fälle solche,
wo der Harn nur Zucker enthält, wenn in der Nahrung Kohlenhydrate zu-
geführt werden. Hierher gehören auch die ganz leichten Fälle, in denen selbst
eine verschieden grosse Toleranz für Kohlenhydrate nachw^eislich ist. Bei den
schweren Fällen dauert die Glycosurie auch bei absoluter Eiweissdiät an. Eine
principielle Scheidung der beiclen Formen, welche auch die Prognose ausschlag-
gebend influenziren würde, scheint jedoch nicht angezeigt, da es erstlich
Uebergangsformen gibt, so dass z. B. die Eiweissglycogenie beim sonst leicht-
kranken Diabetiker, welcher für Kohlenhydrate eine allerdings begrenzte, aber
doch nicht unbeträchtliche Toleranz zeigt, trotzdem die Eiweissglycogenie
vom Anfang an sich nicht mehr ganz normal verhält, und da andererseits
w^enigstens im weiteren Verlauf fast jedes Einzelfalles von Diabetes das Ver-
hältnis zwischen Zuckervorrath im Körper und der Möglichkeit, den Zucker
auszunützen, immer mehr im Sinne der schweren Form sich verschiebt, die
Assimilationsgrenze also progressiv sinkt.
Ebensowenig sicher es berechtigt ist, die sogenannte leichte Form als
„hepatische" zu denken (Seegen), ebensowenig durchführbar ist vorläufig die
von Lanceraux versuchte symptomatische Abtrennung einer speciellen pan-
creatischen Form des Diabetes (magerer Diabetes). Die von Lanceranx
für diese letztere Form angeführten Merkmale (Ptelativ plötzliches Einsetzen,
rascher Decursus mit starker Deconstitution, Azoturie, Fettstühle, grosse Leber,
Tod durch Phthise) passen in der Ueberzahl auf schwere Diabetesformen über-
liaupt. Noch weniger nothwendig und erspriesslich ist die Aufstellung einer
constitutione llen Form (Obesitas, Gicht u. s. w.) Warum der sogenannte
„lipogene" Diabetes (diabete gras) prognostisch günstiger sich darstellt,
wurde oben ausgeführt.
Von besonderer Wichtigkeit dagegen ist, nachdem ein schwerer Dialietes fest-
gestellt, der fernere Nachw^eis, ob toxogener Eiweisszerfall Platz gegritfen
liat und ob (meist gehen diese beiden Symptome nebeneinander) Säure-
autointoxication eingetreten ist. Ersteres lehrt der lege artis angestellte
Stoffwechselversuch. Letzteres geht aus dem Auftreten grosser Acetonmengen
und dem Erscheinen der Acetylessig- und der ß-Oxybuttersäure im Harn, sowie
aus der nachweisbaren Veränderung der Blutalkalescenz hervor. Erfahrungs-
gemäss ist die Säurevergiftung seltener, wenn der Diabetiker einer progredirten
Phthise verfallen ist.
Verlauf iind Ausgänge. Die Dauer eines Diabetes, auch wenn er
durch die digestive Hygieine nicht mehr beeintiussl)ar, lässt sich selbt an-
nähernd nicht abschätzen. Es wurden Fälle beobachtet, welche in weniger
26*
404 DIABETES MELLITUS.
als zwei Monaten mit dem Tode des Kranken endeten. Andererseits steht
fest, dass Diabetiker sich mehr als 20 Jahre leidlichen subjectiven Wohl-
befindens erfreuen können. Der sehr variable Verlauf ist beeinflusst durch das
Alter des kranken Individuums, durch die Pflege, die es sich angedeihen lassen
kann, durch die specielle Form der Krankheit, durch die Complicationen. Be-
sonders rapid pflegt der Decursus bei Kindern zu sein. Auch der familiäre
Diabetes erweist sich meist besonders schwer. Der Greisendiabetes ist viel
günstiger zu beurth eilen ; er ist oft intermittirend und bleibt rudimentär. Von
einem Schwangerschafts- und einem klimakterischen Diabetes sollte man lieber
gar nicht sprechen. Ueber die specielle Prognostik der einzelnen „Formen"
des Diabetes wurde das Nöthige schon angeführt. Hier sei noch hinsichtlich des
traumatischen Diabetes, welcher aus forensischen Gesichtspunkten eine
gewisse besondere Bedeutung beansprucht, erwähnt, dass er unmittelbar nach
dem Trauma, aber auch erst Monate und Jahre nach demselben einsetzen kann.
Wenn der traumatische Diabetes gleich nach der Verletzung beginnt {Diabetes
traumaticus praecox) pflegt er in einem Vierteljahr abzulaufen. Wenn er
erst lange nach dem Trauma beginnt, ist sein Verlauf ein langsamer, die Pro-
gnose schwer (Diabetes traumaticus tardivus).
Der Ausgang kann Heilung sein (in den schweren Fällen gewiss selten!).
Uebergang in eine anderweitige Constitutionserkrankung wurde gelegentlich
beobachtet. In der grossen Ueberzahl der Fälle gelingt es aber durch ent-
sprechendes Regime wenigstens den Decursus zu verlängern und die Intensität
der Symptome zu vermindern. Typisch ist ein kürzeres oder längeres Stadium
relativen Wohlbefindens und ein durch die progressive constitutionelle Hypo-
trophie sowie durch die Complicationen beherrschtes terminales Stadium. Der
Tod erfolgt durch Phthise, Gangrän (Haut, Lungen), intercurrente Pneumonie,
Typhus etc., Hirnblutung, Säureintoxication, durch einfachen Marasmus^selten),
Herzlähmung.
Therapie: Man ist einig, dass die Behandlung des Diabetes mellitus
fast ausschliesslich auf diätetischen Vorschriften beruhen muss. Die
Ernährungslehre gibt uns vorläufig noch kein in allen Fällen ausreichendes
rationelles Programm für die digestive Hygieine des Diabetikers. Doch sind
einige Gesichtspunkte genügend festgestellt, welche alle praktischen Versuche
beherrschen sollten. Als wichtigste Aufgabe stellt sich uns nach den Grund-
sätzen der Ernährungslehre die Erhaltung des Körperbestandes (vor allem des
Eiweissbestandes) dar.
Mit der absoluten Eiweissdiät (500 — 1000 Gramm Eiweiss pro die)
wird bei der sog. leichten Form des Diabetes mellitus erzielt, dass der Harn
zuckerfrei wird, und dass in Fällen der schweren Form die Polyurie und das
täglich ausgeschiedene Zuckerquantum sehr bedeutend (bis unter 50 Gramm)
absinkt. Dabei werden natürlich die Zucker assimilirenden Apparate geschont
und die Hyperglykaemie vermieden. Wenn diese Thatsachen den Versuch recht-
fertigen, im Beginn des Leidens und später immer wieder in gewissen Perioden
(solange noch nicht toxogener Eiweisszerfall und Säurevergiftung vorliegt), die
strenge Fleischdiät durchzuführen, so ist doch zu erwägen, dass bei einer
solchen Ernährung (insbesondere magerer Individuen) in der Folge Fleisch-
und Fettverluste kaum zu vermeiden sind, weil selbst durch sehr grosse Fleisch-
gaben der Calorienbedarf nicht ausreichend gedeckt wird.
Die Ernährungslehre verweist, um den Eiweissbestand des Kranken zu
beschirmen, vor Allem auf die Fette, v. Meeing hat gezeigt, dass sich eine
Nahrung zusammensetzen lä»sst, die genügend viel Eiweiss und Fett enthält,
um allen Ausgaben des Diabetikers vollständig zu entsprechen. Stickstoff
braucht nicht abgegeben zu werden, die Zuckerausscheidung hält sich massig,
das subjective Befinden bleibt ein leidliches. Ein Ideal ist diese Fett-Eiweissdiät
auch nicht, weil unter den obwaltenden Bedingungen die Fettzufuhr eine sehr
DIABETES MELLITUS. 405
grosse sein muss, was insbesondere die äussere Form der Ernährung sehr
schwierig macht.
Berücksichtigt man die dargelegten Thatsachen und den Umstand, dass
der ärztliche Praktiker doch immer auch mit dem Gaumen und der Psyche
seiner Patienten zu rechnen hat, so sieht man leicht ein, eine wie wichtige
praktische Aufgabe es ist, im gegebenen Fall zu ermitteln, wie viel Kohlen-
hydrate der Organismus des Kranken auszunützen vermag. Einen exacten
Massstab hiefür kann aber nur der lege artis angestellte Stoffwechselversuch
verschaffen. Aufgabe der Ernährungstherapie ist es, solche Kohlenhydrate
(Inulin, Laevulose, Pentaglycosen etc.) ausfindig zu machen und genau zu stu-
diren, welche auch im diabetischen Organismus in grösserem Umfange ver-
werthet werden. Bei vorhandenem toxogenen Eiweisszerfall ist die gemischte
Ernährung ein Postulat, über das nicht weiter discutirt zu werden braucht ; hier
kann die Eiweissdiät geradezu vergiftend wirken.
In den vorstehenden Ausführungen ist die Rücksicht auf den überreich-
lichen Zuckergehalt der Säftemasse (Hyperglykaemie), welchem man von jeher
als Ursache einer bestimmten Zahl von Symptomen (Durst, Polyurie, nervöse
Störungen, Vulnerabilität der Gewebe, necrotisirende Entzündungen) angesehen
hat, etwas vernachlässigt worden. Die Rechtfertigung liegt darin, dass wir
nicht wissen, in welchem Umfang thatsächlich die angeführten Symptome,
von den beiden erstgenannten abgesehen, auf Rechnung der Hyperglykaemie
kommen. Jedenfalls werden diese Symptome auch durch absolute Eiweissdiät
nichts weniger als regelmässig beseitigt.
Für die Praxis schlagen wir das von Naunyn vorgeschlagene Regime mit
geringen Abweichungen vor.
Bei Behandlung der schweren Fälle beginne man immerhin mit stricter Eiweissdiät,
500 g Fleisch pro Tag. Sehr rasch überzeugte sich jedoch Ref. bei den meisten Versuchen,
die er nach dieser Richtung unternommen, dass mit Rücksicht auf den Eiweissbestand und
auf das subjective Befinden diese Diät auf die Dauer undurchführbar war. Deshalb gebe
man schon nach 14 Tagen zunehmend Milch (bis 1 Liter) und Yor Allem auch Brot (50 bis
100 g). Auch die Gemüse (siehe unten) sind bald heranzuziehen und "Wein (1 Flasche) zu
gestatten. Die Fleischration kann bei diesen Zuthaten den Betrag von 500 g beibehalten
oder bis 1 hg. steigen. Das Fleisch sowohl, als auch das gestattete Brot und die Gemüse
sind, soviel als die Küche vermag und der Darm der Kranken verträgt, als Fettträger zu
verwerthen !
Naunyn hat eine „Mittelform" des Diabetes mellitus aufgestellt. Dieselbe umfasst Fälle
mit ausgesprochener Deconstitution, bis 6 Litern Harn, 500 — 600 g Zucker pro die. Aber der
Zuckergehalt des Harns sinkt bei eingeleiteter Fleischdiät schon nach wenigen Tagen unter
2%. In 8 — 14 Tagen ist der Harn zuckerfrei, das subjective Befinden bessert sich, nach-
dem es vielleicht zu Anfang der Cur eher schlechter geworden, gleichfalls. Solche Fälle
sind jedenfalls selten. Meist stellt sich, wie schon erwähnt, bei fortgesetzter absoluter Ei-
weisskost Muskelschwäche, Eisenchloridreaction ein Nach Naunyn soll diese Reaction in
Fällen der Mittelform, auch wenn sie aufgetreten, bald wieder ganz schwinden. Ref. hat
selbst in Fällen, wo die Eiweissdiät eine, zwei Wochen ganz leidlich vertragen wurde, wo
mit der Entzuckerung des Harns Durst und Polyurie sistirten, die Kräfte sich erhielten, schon
in der 3. Woche oder später mit einer gewissen Regelmässigkeit gelinde oder ausgesprochene
Digestionsstörungen beobachtet, welche allerdings oft schon durch ganz geringe Zugeständ-
nisse beseitigt werden konnten. Naunyn empfiehlt, die Fälle der sogenannten Mittelform
mindestens 3—4 Wochen bei stricter Fleischkost zu halten. Nach 5 Wochen Zulage von
Eiern, Milch, Brot, Erhöhung der Fleischration auf 600^. Tritt darnach über l7o 'be-
tragende, steigende Zuckerausscheidung ein, werde zur Eiweissdiät zurückgekehrt. Nach
dieser Zeit abermals die genannten Zulagen. Wird die letztere gleich oder erst jetzt ver-
tragen, geht man weiter. Ref. hat in seinen meisten (klinisch beobachteten) Fällen nicht mehr
erreichen können, als dass bei ähnlicher Zugabe, wie die angeführte, die Zuckerausfuhr im
Harn pro Tag um etwa 50^ schwankte. Die leichten Diabetiker erhalten (nachdem
die entsprechenden Versuche mit absoluter Eiweissdiät durchgeführt sind) später 700 g
Fleisch pro Tag, oder statt dessen Eier (1 Ei=40(/ Fleisch, Eigelb etwa Ib g Fleisch).
Fett in jeder Form, 100 f/ Brot per Tag, Gemüse, Obst (Salze!), Milch (^4 Liter täglich).
Als diätetisches Mittel dürfen auch die kohlensauren Alkalien
gelten. Da in einer sehr grossen Zahl von Fällen des Diabetes mellitus die
Blutalkalescenz herabgesetzt ist, besteht sogar eine gewisse theoretische Unter-
406 DIABETES MELLITUS.
läge für die Kothwendigkeit des Gebrauclis der Alkalien. Der Nutzen einer
Carlshader Cur ist erfahrungsgeniäss nicht zu bestreiten ; er resultirt übrigens
aus mehrfachen hygieinischen Einflüssen. Unter ähnlichen Badeorten ver-
dient Karlsbad weitaus den Vorzug. Antidiabetisch wirkt natürlich das
Karlshader Wasser nicht!
Massage, Muskelbewegung (nicht übertrieben !), Anregung der Haut-
thätigkeit (Baden, Douchen, Abreibungen) werden überall empfohlen.
Die pharmaceutische Behandlung hat versucht : Opium und seine Derivate,
Bttychnin, Atropin, (salinische) Laxantien, die Valerianapräparate, Arsenik, Gly-
cerin^ Jod, Quecksilber, Kupfer, Natrium salicylicum, Phospliorsäure, Salpeter-
säure, Phenol, Chloral^ Cocain, die Adstringentia, Sauerstoffinhalationen, Chinin,
Bromkalium, Ergotin. ■ — Xeuestens sind mehrfach genannt worden Anüpyrin,
Sidfonal, Syzygium jamholamim (pro die 20 • — 40 g. dieser Drogue). Alle
diese Mittel, auch die drei letztgenannten, sind leider unwirksam, sofern
man nicht etwa in vorübergehender Verminderung der Glycurie, deren Ursache
nicht immer ermittelbar, schon Erfolge sieht. Die Empfehlung des Benzosol
ist rasch widerrufen worden.
Im Verlaufe eines gegebenen Falles von Diabetes mellitus ergeben sich
natürlich zahlreiche specielle Indicationen, welchen man zum Theil auch mit
Medicamenten gerecht werden kann.
An Diabetikern dürfen Operationen ausgeführt werden. Dies gilt ins-
besondere auch für die Cataract. Haut- und Zahnpflege seien vom Anfang an.
besonders berücksichtigt.
Anhang.
(Excerpte aus berühmt gewordenen Diätvorschriften (Bouchaedat, Pavt, Seegen,.
Cantani, Dickinson, Ebstein, Naunyn).
Den Diabetiker nicht dürsten lassen ! (Eisstückchen, langsames Kauen von.
Kaflfeehohnen). — Besser zwei Mahlzeiten im Tag (eine um 10, eine um 4 Uhr),
statt drei oder vier !
Genossen werden kann Schlacht fleisch aller Art (Leber ausgenommen (?),
Rauchfleisch, Schinl^en, Zunge, Speck, Knochenmark, Merenfett (Kalb), Geflügel,
Wild, eingesalzene und eingemachte Fische, Austern, Muscheln, Krebse, Hummern. Vor-
zuziehen fettes Fleisch! Thierische Suppen ohne Zusätze, Beeftea, Fleischbrühe,
Eier, Leberthran, Olivenöl. Mit Vorsicht: Butter, Rahm, Milch. Grünes Gemüse:
Spinat, Radieschen, Sellerie, (nicht süsser); Senf, Kresse, Kochsalat, Endiviensalat,.
Gurken, grüner Spargel, Sauerampfer, Artischoken, Pilze. Mit grösserer Vor-
sicht: Blumenliohl, weisse Rübe, Kraut, grüne Bohnen; Erd-, Johannis-, Himbeeren,
Orangen, Mandeln. — Gel^e (nicht gesüsst), Eierrahm ohne Zucker, Nüsse (mit
Vorsicht). — Mandelkleie oder Kleber für Brotherrichtung. — Thee, Kaffee, Cacao von
den Schalen. Getränke: Sherry und Bordeauweine; mit Vorsicht: alle nicht
zu alcoholr eichen, nicht süssen Weine, (besonders Moselweine), Brantwein und andere
ungesüsste Spirituosen; Sodawasser, Mineralwässer; Cognac, Whisky, Rum, Claret,
ungesüsste Mandelmilch, zuckerfreie Limonade.
Auf den Index ge-setzt wurden: Zucker, Syrup, Honig, Mehl (Brot im
Excess), Maccaroni, Nudeln, Maismehl, Arrowroot, Sago, Tapioka, Hafergrütze,
Gerstenmehl, Kartoffeln; rothe Rüben, Pastinak, Carotten, (Rüben, Zwiebeln und
Wurzeln), Erbsen, Bohnen, Kastanien, süsse und conservirte Früchte, Milch (im Ex-
cess), Chocolade, Bier, Most, Champagner, Schaumweine, süsse Weine und Liqueure.
Kleb erbrot: Zuerst von Bouchaedat empfohlen, von Seegen verpönt.
Konnte in der Praxis wegen schlechten Geschmackes nicht festen Fuss fassen.
Ebstein ist neuerdings für das sogenannte Aleuronatbrot eingetreten. Dr.
Hundhausen in Hamm i. W. fabricirt nämlich ein Kleberpräparat, das Aleuronat,
DIABETES MELLITUS. 407
welches voll ausuutzbar und iu seiner übrigens fast constanten Zusammensetzung (SÜ^/q
Eiweiss) auch haltbar ist. Mit Hilfe dieses Präparates und mit irgend einem Stärkemehl
lässt sich nnn ein geniessbares Brot herstellen, welches in maximo 50 "/o Pflanzen-
eiweiss enthält. Der en-gros-Preis des Aleuronats beträgt das 5-fache des jeweiligen
Weizenpreises; gegenüber Schlachtfleisch ist es ein billiges Nahrungsmittel. Man
erhält auch Aleuronatzwieback und Cakes. (Lieferanten G. Scheele, Braunschweig,
Bahthel, Mühlhausen i. E., E,. G-eeicke, Potsdam, Ceon & Lanz, Göttingen).
(Schwächeres) Aleuronotbrot kann man natürlich auch zu Hause backen! Auch alle
Saucen, die Ragout und Fricassesaucen, die Braten und Wildsaucen können ohne
Mehl mit Aleuronat hergestellt werden. Das Inulinmehl, das man aus den Knollen
von Topinambur leicht verfertigen kann, wäre dazu gleichfalls brauchbar. Die To-
pinamburknollen (in deren Saft neben Inulin noch andere Zuckerarten sich
finden) schmecken etwas fad. Die Stach ysknollen kennt Pief. nicht.
Das Mandelbrot ist für die Praxis kaum zu empfehlen; höchstens als ge-
legentliches Genussmittel. Brot aus Sojabohnenmehl (C. H. Knoee, Stuttgart) hat an-
fangs von sich reden gemacht, ist jedoch wieder vergessen (Oelgeschmack!) Leid-
lichen Geschmack hat auch das sog. Teplitzer Brot (Conditor Pokoeny),
solange das darin reichlich enthaltene Fett nicht ranzig ist.
Vom Saccharin, dessen Harmlosigkeit wohl sichergestellt ist, kommt ein leicht
lösliches Salz zur Verwendung, das in Tablettenform von der bekannten Fabrik Fahl-
beck, List & Co., hergestellt wird. Die Verwerthbarkeit der Lae vulose und der
Pentaglycosen als Zuckerersatz bei Diabetes mellitus ist noch zu erwägen.
Auf die diätetischen Yorschrifteu von Düring, welche sehr lax sind in Hin-
sicht der Kohlenhydrate, und auf das vegetarische Regime von Lahmann, welch'
letzteres eigentlich eine Inanitionsdiät ist, wurde in den vorstehenden Zeilen keine
Rücksicht genommen. fe. keaus.
Diarrhoe (Abweichen, Durchßuss, Durchfall, Dünnschiss) ist für uns
jede mehr oder minder dünnflüssige Stulilentleerung. Man pflegt zwar mit
dem Begriöe „Diarrhoe" auch eine Vermehrung der Zahl der Ausleerungen
zu verbinden, wie sie bei ihr thatsächlich meistens vorkommt, — jedoch mit
Unrecht, denn ein einziger dünnflüssiger Stuhl ist nicht minder eine Diarrhoe,
wenn auch innerhalb der nächsten 24 Stunden kein zweiter gleicher oder
ähnlicher Stuhl ihm gefolgt ist. Dagegen sind mehrere kotlireiche, melu'
oder minder harte /Stulilentleerungen am selben Tage noch keine Diarrhoe.
Für viele Autoren gehört auch eine Beschleunigung der Entleerung zum Begrifi"
Diarrhoe, die freilich für die weitaus meisten Fälle zutrifft, aber doch nicht
allgemein giltig ist.
Eine andere Eigenthümlichkeit der Diarrhoe, die anderswo nicht immer
gebührend erwähnt wird, ist ihr oft plötzliches stürmisches, überraschendes,
geradezu unberechenbares Einsetzen, was mit der Beschleunigung keineswegs
identisch ist, für die davon Betroffenen gar manchmal üble Folgen hat und
ihnen das Leben recht sauer machen kann.
Wollten wir die obige Definition der Diarrhoe nach dem eben Gesagten
erweitern, so müssten wir sagen: Diarrhoe ist eine Unregelmässigkeit der
Defäcation, bei der die Entleerungen dünnflüssiger, meist auch zahlreicher
und beschleunigter als beim normalen gewohnten Stuhlgange sind und gar oft
unerwartet und plötzlich sich einstellen.
Diese Detinition stimmt für alle Fälle von Diarrhoe, die nicht nur ^^ei
verschiedenen Krankheitsprocessen eine mehr oder minder dominirende, ja oft
geradezu pathognomonische Rolle spielt, sondern auch zuweilen keinem aus-
gesprochenen Krankheitsbilde angehört, gewissermaassen eine Störung sui
generis darstellt; schon aus diesem Grunde verdient die Diarrhoe allein und
408 DIAREHOE.
füi' sich l3esproclien zu werden. Die Bedeutung der als Symptome der ver-
schiedenartigsten Krankheiten auftretenden Diarrhoe wh'd in den betreffenden
Artikeln {„Brech-Durchfall der Säuglinge/' „Colitis", „Di/senterie''% ..Einheimische
und Indische Cholera.,^' ,, Enteritis,''^ „Gastritis^'' ^^Intestinale Äutointoxication"
„Typhus'' etc.) eingehende Würdigung finden. Doch haben alle Diarrhoeen,
S}anptomatische, wie selbständige in ihrem Wesen und Verlaufe, sowie in
Ursache und Behandlung, soviel Eigenartiges, Zusammengehöriges und Mar-
kantes, dass sie einer umfassenden Besprechung ungezwungen unterzogen
werden können.
Die Diarrhoe, als ein in seiner Consistenz veränderter, dünnerer Stuhl-
gang aufgefasst, bringt uns zunächst zur Betrachtung der entleerten Massen
und ilirer Beschaffenheit. Sie sind bald breiig, bald dünner, bald wasser-
dünn (Diarrhoea serosa), allein oder mit festen Massen untermischt {Diarrhoea
sterxoralis) und können diese Unterschiede der Consistenz, je nach Um-
ständen und Lidividualität variii'en. Bei der weiteren Charakterisirung der
Beschafienheit der diarrhoischen Entleerungen imponirt die Mannigfaltigkeit
ihrer Farbe, welche je nach den Ingestis (Speisen, Getränken., Ahfuhr-
mitteln etc.") oder normalen, pathologischen, manchmal zufälligen oder ver-
mehrten Beimischungen, (Galle., Schleim, Epithelien, Blut, Eiter etc.) oft in
charakteristischer Weise wechselt und der zu Grunde liegenden Erkrankung
das Gepräge geben kann. So sind die sogenannten Pteiswasserstühle bei der
Cholera, die erbsenpüreeartigen beim Typhus, die grünen nach Calomel
(Schwefelquecksilber) und bei Cholera Infant. (Pilze), die blutigen, eitrigen
bei bestimmten Zuständen (Piuhr etc) sehr bekannt und bedeutungsvoll ge-
worden. Alle Nuancen der Färbung, von der beinahe wasserhellen, unge-
färl^ten, bis zur braunen und pechschwarzen können bei der Diarrhoe dm'ch
die mannigfachsten Umstände in den verschiedenartigsten Combinationen und
Variationen vorkommen. Der Geruch der diarrhoischen Entleerungen wech-
selt vom einfach fäcalen bis zum scharf sauren, aashaften, stinkenden, jauchigen,
wie er namentlich durch gewisse Zersetzungsvorgänge und Bildung von be-
gleitenden Gasen (Kohlenwasserstoff, Schwefelwasserstofi etc.) bedingt wkd.
Es kommen aber auch diarrhoische Stühle zu Stande, welche so gut wie
geruchlos sind.
Je nach der Beimischung von Dünndarmsecreten und der Schnelligkeit
der Ausleerung, mit oder ohne Zersetzung ist die Reaction der diarrhoischen
Stühle eine alkalische oder saure, und findet man bei ihrer chemischen
Untersuchung ausser den mannigfachsten bereits erwähnten normalen und
abnormen Substanzen namentlich noch Fermente, salpetrige Säure, Peptone,
Kochsalz, Xalu'ungsbestandtheile, Leukomaine und Ptomaine etc. in wech-
selnder Menge. Ein besonderes Interesse erregen die vorwiegend mit ver-
schiedenen Mengen von Fett einhergehenden Diarrhoeen, Erscheinungen, die
mit einer mangelhaften Absonderung von Pancreassaft und Galle, beziehungs-
weise schlechter Fettverdauung verbunden sind, namentlich bei gleiclizeitig mehr
oder minder fettreicher Xalu-ung (Diarrhoea adiposa). Es gilt dabei als fest-
stehend, dass um so mehr unverdaute Massen sich finden, je höher oben
im Darme die beschleunigte Darmbewegung begonnen und das etwa zu Grunde
liegende Uebel seinen Sitz hat und je schneller die Beförderung des Darm-
inhaltes und seine Ausscheidung stattfindet.
Das Mikroskop erweist in all' diesen Fällen, was mehr, was weniger
verdaut und ausgenutzt worden ist und ob und wieviele normale und patho-
logische Beimengungen und welche enthalten sind. So werden wir durch
dasselbe namentlich auf Epithelien, weisse und rothe Blutkörperchen, Eiter,
Fettsäurenadeln, Tyrosin, Krystalle (phosphorsaure Ammoniakmagnesia,
Oxalate etc.) Leucin, auf die verschiedensten thierischen und pflanzlichen
Parasiten, Eier von Wüi'mern, Schleim, Gewebsfetzen, brandige Massen u. s. w.
DIARRHOE. 409
aufmerksam gemacht, Dinge, die hier wohl iiiclit alle des Näheren erwähnt zu
werden brauchen, da sie in ihrer offenkundigen, semiotischen und sonstigen
Bedeutung an anderen Stellen eingehender gewürdigt werden müssen. (Yergl.
,,Faeces und Faecesimtersmhung.^^
Die Zahl der Stühle bei der Diarrhoe ist ebenso wie ihre Be-
schaffenheit, von den mannigfachsten Factoren abhängig, jedoch nicht immer
maassgebend für die Schwere des Verlaufes. Art, Menge, Zeit und Mischung
der Ingesta, nicht bloss bestimmter für die Diarrhoe direct verantwort-
licher Dinge, spielen darin eine Rolle, wie die zu verschiedenen Zeiten und
Umständen wechselnde Verdauungs-, Absorptjons- und Contractionsfähigkeit und
Thätigkeit jedes einzelnen Abschnittes des Intestinaltractus, sowie endlich die
Reizbarkeit und Gereiztheit des nervösen Apparates, das Allgemeini) efinden
des Individuums, die allgemeine und locale Ernährung, Circulation u. dgl. So
kann die Zahl der diarrhoischen Stühle innerhalb 24 Stunden variiren von
1 — 5, 10, 20 und mehr, wobei statt des normalen Stuhldranges eine oft
sehr schmerzhafte Empfindung am After Platz greift, der sogenannte Stuhl-
zwang oder Tenesmus. Er stellt sich dar als ein ewiger Drang, meist ohne
Erfolg, dann wieder eine plötzliche Erleichterung und der Gedanke, es könnte
eine Ausleerung erfolgen, dann nach langem Hasten und Harren ein kürzerer
schmerzhafter Stuhl, dünn und heiss spritzend, sich oft nach langem Warten
plötzlich ergiessend. Zu unterscheiden vom Tenesmus ist das brennende,
juckende, oft sein' schmerzhafte Gefühl am After, wie es namentlich nach
wiederholten diarrhoischen Stühlen sich hier einstellt und von Wundsein, Ery-
them, ja gar häufig von Ekzem herrühren kann. Bei acuten Diarrhoeen ist die
Zahl und Häufigkeit der Stühle im Durchschnitt entschieden grösser als bei
chronischen, wenigstens innerhalb einer bestimmten Zeit.
Unter den Begleiterscheinungen der Diarrhoe spielt der
Schmerz im Bauche eine wichtige Rolle. Er ist nicht immer gegeben, aber
in seinen verschiedenen Nuancen oft um so stärker, je acuter die Diarrhoe
einsetzt, je krampfhafter und wehenartiger die Zusammenziehung und
Spannung der Darmmusculatur, je lebhafter die Peristaltik und damit der
stärkere oder häufig wiederkehrende Druck auf die sensiblen Nervenfasern.
deren Zerrung und Dehnung ist. Bei dieser Schmerzäusserung spielen ja
mechanische Verhältnisse (Druck durch den Darminhalt, Kothballen und
Gase etc.) eine hervorragende Rolle, um so grösser, je stärker und hart-
näckiger der Widerstand für die Fortbewegung und Entleerung ist und wächst,
und demnach die Anstrengung der oberhalb gelegenen Partien sich geltend
macht. Wie weit freilich dann mit der Zeit oder durch noch sonst gegebene
Verhältnisse eine Abstumpfung der Reizbarkeit und Empfindlichkeit des
Darmes und seiner Nerven möglich ist und wie ihr Bewusstwerden zurück-
gehen kann, sehen wir bei länger dauernden, beziehungsweise habituellen
Diarrhoeen, beim Untersichgehenlassen etc., wobei die Empfindungslosigkeit nicht
nur im übrigen Darmabschnitt, sondern auch am sonst so empfindlichen
Anus sich geltend macht. Abgesehen ist bei diesen Erwägungen von den
centralen Störungen, wie sie durch Fieber, Coma, Bewusstlosigkeit, Lypo-
thimie etc. bedingt werden können. Der Charakter der Schmerzen wechselt
vom einfach dumpfen, diffusen, unbehaglichen Gefühl, bis zum Kneifen,
Schneiden und Grimmen, ja bis zu den heftigsten kolikartigen Attaquen, wobei
der Schmerz sich bald continuirlich, gleichmässig oder exacerbirend, bald
intermittirend, wehenartig äussert. Begreiflich sind neben diesen Schmerz-
empfindungen dann noch die auf andere Nervengebiete ausstralilenden Schmerzen
und sonstige Erscheinungen, wie sie sich durch Ziehen in den Beinen, Waden-
krämpfe, allgemeines Unbehagen, Frösteln, Blässe, Schweissausbruch, Er-
brechen, Herzklopfen etc., bis zur Bewusstlosigkeit und Syncope einstellen.
Unter die Begleiterscheinungen gehören auch die localen oder allgemeinen
410 DIARRHOE.
Auftreibimgen (Tymjjanitis), das Kollern und Poltern im Leibe (BorhorygmQ
das Plätschern und Quatsclien, Erscheinungen, welche eintreten, wenn ver-
mehrte Gase und Flüssigkeitsmengen bei gesteigerter Darmbewegung irgendwo
anlaufen, den Darm ungieichmässig füllen, andrerseits seine Wandung auch
wieder erschlafien und so ein wichtiges Merkmal, namentlich bei dünnen
Bauchdecken für die Localisation der Darmaffection abgeben können. In diesen
Fällen sind ki'ampfhaft gewölbte Darmschlingen oft durch die Bauchdecken zu
sehen und zu fühlen.
Die Piückwirkung der Diarrhoe auf den Gesammtorganismus
zeigt sich bald im Appetit, der vermehrt oder vermindert sein kann, noch
mehr im Durst, der entsprechend dem Verluste an Flüssigkeit, meistens sehi'
vermeint, aber auch in der Temperatur, die normal, subnormal, oder gesteigert
sein kann. Wichtig ist auch die Beschaffenheit des Urins, der um so dunkler,
concentrii'ter, harnsäure- und farbstoffi'eicher (Salze Indigo, Indol) erscheint, je
mein' Flüssigkeit entzogen worden ist. der aber auch unter Umständen Eiweiss,
Blut, Galle etc. zeigen kann. Durch Heftigkeit oder lange Dauer der Diarrhoe
werden dem Organismus oft plötzlich oder allmälig so viele Xahrungsstoffe
und Yerdauungssäfte entzogen, dass bald filiher, bald später, je nach der
Individualität, Intensität, Schnelligkeit, Häufigkeit etc. eine Ernährungsstörung
mit Anaemie, Abmagerung, Schwäche, Hinfälligkeit, Heruntergekommenheit,
sowie mit charakteristischem Gesichtsausckuck (Facies hyppocratica), Hy-
pochondrie, psychische Depression, etc. selten ausbleibt.
Wenn wii' nun zu den verschiedenen Ursachen der Diarrhoe über-
gehen, so hat dabei praktisch ganz gewiss, wohl aber auch theoretisch die
Natiu" der Ingesta und des jeweiligen Darminhaltes die erste und weittragendste
Wichtigkeit und Bedeutung, Eine plötzliche cjualitative Veränderung der ge-
wohnten Diät (Nahrung und Getränke) kann eine Diarrhoe zu Folge haben
(Acclimatisations-Diarrhoe ), ebenso wie eine übertriebene Menge der In-
gesta oder der reichliche Genuss von Sachen, die schon normaler Weise
und b esonders b ei gewissen Individuen den Stuhlgang weicher gestalten
und fördern (Obst, Compot, Honig. Fruchtsaft etc.). Auch gewisse Gifte,
infickende Organismen und andere Stoffe, die zufällig (um-eifes Obst, ver-
dorbenes Fleisch, Cholera-, Typhuserreger, Kothanhäufungen etc.) oder ab-
sichtlich (Medicamente, Abführmittel etc.) eingeführt werden, spielen eine
grosse Piolle bei Diarrhoeen. In allen diesen Fällen ist die Diarrhoe durch die
Ingesta bedingt, wenn auch der Mechanismus, der sie auslöst, ein sehr ver-
schiedener sein kann. Einmal ist sie die Folge von einer abnorm starken
mechanischen Eeizung der normalen Darmschleimhaut durch die ein-
gefülirten zu grossen Mengen, ein anderesmal von der sogenannten ünver-
daulichkeit oder Unverdautheit der Ingesta, ein chittesmal von ihi'er endo-
exosmotischen, wasserentziehenden Eigenschaft etc. In allen diesen Fällen
kommt es zu einer Vermehrung des Darminhaltes und das führt allein
leicht zu Diarrhoeen, Hierher gehören auch die Diarrhoeen durch Entozoen,
Wüi'mer, angestaute Kotlimassen, (Scybala) und die Diarrhoeen nach habitueller,
starker Verstopfung. Ein anderes Mal aber wü'd der Eeiz auf die Schleimhaut
durch die chemische Zusammensetzung der Ingesta, beziehungsweise
des Danninhaltes l)edingt, ohne dass die Menge vermelut zu sein braucht. In
den meisten Fällen jedoch, wo die Diarrhoe direct auf die Ingesta zurückgefülu-t
werden muss, sind sowohl die Qualität, sowie die Quantität der letzteren im
Spiel, wobei zu berücksichtigen ist, dass auch kleine Mengen Ingesta durch
ihren qualitativen Pieiz auf die Schleimhaut eine ungewöhnliche Vermehi'ung
des Darminhaltes zur Folge haben und zur Diarrhoe führen können. So sehen
wir die mechanischen und die chemischen Pieize ineinander übergehen und
dadurch oft auch eine Addition ihrer Wirkungen veranlassen. Dazu kommen oft
Eigeuthümlichkeiten der Darm wand, wie sie durch die verschiedensten
DIARRHOE. 411
Momente, von der abnormen Erregbarkeit und Erregung des Darmnervensystems
(peripher oder central), bis zu den verschiedensten pathologisch-anatomischen
Veränderungen des Darmes und seiner Adnexe gegeben sind und die namentlich
auch Störungen der Ernährung, Blutbewegung und Yertheilung im Darm ver-
anlassen. Endlich gibt es Einwirkungen und Zustände allgemeiner
Art, welche Diarrhoeen zur Folge haben können, gar oft wohl durch func-
tionelle (Schrecken, Angst, Freude, Examen- und Lampenfieber, sogenannte
Erkältung etc. etc.) oder noch nicht näher erforschte anatomische Störungen
veranlasst. (Dentition, Cachexien aller Art, bestimmte Infectionskrankheiten,
verschiedene Degenerationszustände etc. etc.)
Es bleiljt aber zu betonen, dass der Magen-, beziehungsweise Darminhalt
immer das Ausschlaggebende ist, schon weil ohne ihn weder eine normale,
noch pathologische Stuhlentleerung stattfinden kann. Al)er auch l)ei Diar-
rhoeen, wo eine functionelle oder gar organische Veränderung der Darmwand
nachzuweisen ist oder sonst eine locale oder allgemeine Ernährungs- oder
Cii'culationsstörung vorliegt, kommt dem Darminhalt die hervorragendste Rolle
zu, insoferne durch seine Menge, Beschaffenheit, Zeit des Durchganges etc.
eine Steigerung, Verminderung, ja vollständige Neutralisirung und Lähmung
der Darmbewegung bedingt werden kann. LTnd da gerade die Veränderung
des Darminhaltes, namentlich so weit sie von den eingeführten Speisen und
Getränken herrührt, in unserer Macht als Menschen und Aerzte steht, so
lassen ■ sich daraus die wichtigsten Anhaltspunkte für die Behandlung der
Diarrhoekranken geben, was wir bei der Besprechung der Therapie weiter
unten näher auszuführen haben. Nach dieser kurzen Uebersicht der Ur-
sachen der Diarrhoe wollen wir doch noch die Frage stellen : Was ist eigentlich
das Wesen der Diarrhoe? Bei der Feststellung des Wesens der Diarrhoe
müssen wir uns erinnern, wie die normale Darmentleerung sich vollzieht. Die
in den Magen eingeführten Ingesta werden, nachdem sie denselben passiert
haben (in wenigen Stunden), durch Duodenum, Jejunum und Ileum, durch
letzteres meist normal schon etwas schneller, in circa 3 Stunden hindurch-
geführt. Bis dahin mehr oder minder dünnflüssig, beginnt dann im Coecum
und Colon (ascend., transv. und descend.) eine allmälig zunehmende Ein-
dickung, zuletzt noch im S-Romanum, bis der Darminhalt im Rectum nach
circa 9 Stunden festsitzt, um nach längerem Verweilen und weiterer
Eindickung in der Norm und bei den meisten Erwachsenen alle 24 Stunden
einmal, oft zur selben Zeit, wie mit dem Glockenschlage dmxh einen bekannten
Mechanismus entleert zu werden. Dieser wohl allgemein bestrittene Vorgang
kann bei jeder Beschleunigung der Vorwärtsbewegung des Darminhaltes eine
mangelhafte Eindickung desselben zur Folge haben und so leicht zu Diarrhoe
führen. Denn wenn es z. B., infolge irgend einer der oben erläuterten Ur-
sachen, zu einer gesteigerten Darmbewegung kommt, so tritt eine beschleunigte
Fortbewegung des Darminhalts ein. Es mangelt den Verdauungssäften an Zeit,
gebührend auf denselben einzuwirken, mithin ist an eine normale Verdauung
nicht zu denken. Die hastigen Ausscheidungen und die rapide Beförderung
des Darminhaltes verhindern ferner die Absorption der etwa schon verarbeiteten
Verdauungsproducte durch die Lymphgefässe und die Pfortader und so werden
endlich durch die Darmbewegungen, die keinen Unterschied zwischen den ver-
schiedenen Darmflüssigkeiten machen, gleichzeitig die Verdauungssäfte selbst
weiter geführt und entleert, so dass dem Körper eine Menge Xahrungsstoffe
und Flüssigkeiten entzogen werden, weshalb auch bei heftigen Diarrhoeen bald
nel)en mehr oder minder grosser Schwäche der bereits erwähnte intensive Durst
sich einstellt.
Man hat die Diarrhoe auf eine erhöhte peristaltische Bewegung des
Darms zurückgeführt, allein mit Unrecht oder doch mit Ungenauigkeit. schon
weil ausser der peristaltischen Bewegung Ijekanntlich auch sog. pendelnde und
412 DIARRHOE.
gerade bei der Diarrhoe gewiss auch vermehrt und wirksamer sog. rollende
Bewegungen in Betracht kommen. Andererseits kann die erhöhte Darm-
bewegung zwar von jeder Stelle des Darmrohres ausgehen, aber auch an jeder
Stelle wieder enden, während eine Diarrhoe nur dann auftreten wird, wenn
die irgendwo begonnene erhöhte Darmbewegung ihren Inhalt bis über das
Eectum hinaus befördert. Schon hieraus ist ersichtlich, dass wenn zum Zu-
standekommen von Diarrhoeen eine gesteigerte Darmbewegung namentlich
der unteren Darmabschnitte nothwendig ist, beim vorherrschenden Ergriffensein
der oberen Darmpartien es nicht zum Ausbruch einer Diarrhoe zu kommen
braucht. Es kommt jedoch dabei in erster Linie auf den Darminhalt an und
wir müssen, gewiss nicht aus Ueberfluss oder Wortklauberei, sondern weil es
den Thatsachen entspricht, und gar oft als Richtschnur unseres therapeutischen
Handelns dienen wird, den Satz wiederholt betonen: „Keine Diarrhoe ohne
Darminhalt!""") Aus dem Gesagten geht somit hervor, dass das Wesen der
Diarrhoe — wie der normalen Stuhlentleerung — in einer Wechsel-
wirkung zwischen Darminhalt und Darmbewegungen zu suchen
ist, wobei die Ausscheidung des Darminhaltes in beschleunigter und weil
beschleunigt, vermehrter und dünnerer Weise erfolgt.
Bei dem Zustandekommen der vermehrten, sind wie bei der normalen
Darmbewegung bekanntlich Nerveneinflüsse thätig; wir wollen hier nur die
Rolle des Vagus als Darmbewegung fördernd und des Splanchnicus als
hemmend erwähnen, Nerven, die peripher und central durch die mannig-
fachsten Ursachen (mechanisch, chemisch, thermisch, bakteriell, psychisch)
gereizt ihi^en Einfluss entwickeln und die Bewegung zu Stande bringen, sie
vermehren, vermindern oder lahmlegen. Aber auch hier, bei diesen Be-
wegungen der Darmwand lässt sich die Rolle des Darminhaltes (incl. der
Darmgase) nicht verkennen, denn der ganz leere Darm bew^egt sich wohl nicht.
Die i) a u e r, sowohl wie die P r o g n o s e d e r D i a r r h o e ist direct, ausser
von dem betreffenden Individuum, von der Natur und Dauer ihrer Ursache,
beziehungsweise des ihr zu Grunde liegenden Uebels abhängig (siehe Typhus,
Cholera etc.). Gerade die Dauer der Diarrhoe hat zu der Eintheilung in
chronische und acute Diarrhoeen geführt. Eine acute Diarrhoe
dauert selten über 8 Tage, während welcher Zeit, soweit der Tod nicht eintritt,
nach einem ziemlich plötzlichen und stürmischen Einsetzen der Stuhlentleerungen
die Dejectionen nach immer grösseren Intervallen erfolgen, bis die Darmbe-
wegungen sich völlig beruhigen, wobei dann auch meistens mehr oder minder
Verstopfung folgt. Die Zahl der Dejectionen steht an und für sich in keinem
directen Verhältnis zu der Bedenklichkeit der Erkrankung und gewinnt nur
dann eine prognostisch ungünstige Bedeutung, wenn die zahlreichen Entlee-
rungen nicht bald wieder aufliören, also durch die Dauer.
Bei den chronischen Diarrhoeen, die durch continuirliche Diätfehler,
beziehungsweise unzweckmässige Einführung von Speisen und Getränken
unterhalten werden, kann noch eine ziemlich rasche Heilung eintreten, wenn
die Nahrungszufuhr entsprechend geregelt wii'd. Chronische Diarrhoeen, die
mit schweren organischen Veränderungen der Darmwand oder ihrer Adnexe
(Tuberculose, amyloide Degeneration, Geschwüre aller Art etc. etc.) einher-
gehen, sind hartnäckiger, ja manchmal unstillbar, doch lässt sich auch hier
durch zweckmässige therapeutische Maassnahmen noch viel erreichen und die
*) Anmerkung. Dabei wollen wir jedoch gleich betonen, dass nnter Darminhalt
nicht allein die eingeführten, durch die verschiedenen Verdauungsacte mehr oder minder
modificirten Ingesta bez. ihre unverdauten Reste verstanden werden sollen, sondern auch
normale und pathologische Absonderungen und Ausschwitzungen des Darmes, die ohne
jede Zufuhr vom Munde aus, in gewissen Fällen in beträchtlichen Mengen im Darme
vorhanden sein können (Cholera etc!).
DIARRHOE. 413
Prognose, so weit sie die Diarrhoe selbst betrifft, ist lange nicht so ungünstig
wie das vielfach angenommen wii'd.
Dass die Diarrhoe bei geschwächten, heruntergekommenen Individuen
(Scrophulösen, Tuberculosen, Rhachitischen, Syphilitischen), eine grössere Be-
deutung gewinnt und prognostisch schlechter ist, versteht sich ohne Weiteres,
wenn man bedenkt, was für eine Störung der Gesammternährung und Circu-
lation, was für einen Säfteverlust die Diarrhoe mit sich bringt. Bei derartigen
Individuen ist die Diarrhoe oft der verhängnisvolle Schluss des ganzen Dramas.
Auch bei Kindern, zumal bei Säuglingen, ist eine nicht leicht weichende Diar-
rhoe eine mehr oder minder bedenkliche Erscheinung, es treten bei ihnen leicht
Erschöpfung und Convulsionen etc. ein und bis zum Tode ist dann oft nur
noch ein Schritt. Anaemische, Reconvalescenten und Greise sind, wie die Kinder,
labiler und leiden durch eine Diarrhoe unter Umständen sehr in ihrer Ernäh-
rung, weshalb die Prognose dabei immer reservirt sein muss.
Eine acute Diarrhoe wird, ausser durch häufiges Ptecidiv, selten chronisch.
Im Gefolge von einer acuten Diarrhoe ist eigentlich ausser der obenerwähnten
Verstopfung, dem Durst, der leichten Abmagerung, der körperlichen und psychi-
schen Depression und dem schlechten Aussehen nichts Besonderes zu consta-
tiren : einige Tage genügen oft, um den Verlust auszugleichen.
Bei clu-onischen Diarrhoeen dagegen ist der Körper mehr oder minder
dauernd geschwächt, und wenn die Dauer sich lange hinzieht, so kommen
ausser der Abmagerung und Abschwächung Oedeme, Schwellung der Mesente-
rialdrüsen, Entartung der Herzmusculatur und andere Erscheinungen der Ina-
nition, bis zum Exitus letalis.
Nach dem, was im Vorstehenden über die Diarrhoe gesagt ist, muss ein-
leuchten, dass es eine Therapie derselben als solcher eigentlich nicht gibt. Es
kann sich in erster Linie immer nur darum handeln, den mit Diarrhoe be-
hafteten Menschen, beziehungsweise Kranken zweckmässig zu ernähren und
nach Maassgabe der vorliegenden Verhältnisse zu behandeln. Wie einfach unter
Umständen, aber auch wie complicirt in gar vielen Fällen die Verhältnisse
liegen, wird die genaue Betrachtung des Einzelfalles jedesmal lehren und
gleichzeitig zeigen, wie mannigfaltig die Angriffspunkte zur nothwendigen,
zweckmässigen oder nur nützlichen Behandlung sind. Für alle Fälle muss es
sich darum handeln, dass die Diarrhoe nicht nur in der denkbai* kürzesten
Zeit sich verliert, sondern auch nicht wiederkommt und dass dies ohne Nach-
theil für die Gesundheit oder das Wohlbefinden des Kranken bewirkt werden
kann. Wer kritiklos — um nur ein häufig gegebenes Beispiel zu erwähnen — jede
Diarrhoe einfach stopfen wollte, durch Verminderung oder Verlangsamung der
den Durchfall auslösenden Darmbewegung, und dabei einfach Opium (als
Pillen, Pulver, Tinctur ohne oder gleichzeitig mit den beliebten Adstringentien
Tanin, Alaun etc. per os oder per anum gibt) kann einen verhängnisvollen Irr-
thum mit bedenklichen Folgen begehen. Mau darf nicht vergessen, dass auch die
Diarrhoe ein oft werthvoller Versuch der Natur zur Selbstheilung ist, dem wir
nicht immer und unter allen Umständen entgegentreten, sondern den wir selbst
gegebenen Falles kräftig unterstützen, jedenfalls aber in sorgfältig erwogene
Bahnen lenken müssen und wobei wir auch ein oder das andere Mal Abführ- und
selbst Brechmittel noch anwenden. Aber auch hier muss man sofort bedenken,
dass jedes nicht in den gewöhnlichen Haushalt passende Mittel niu' als noth-
wendiges Uebel betrachtet und als solches gehandhabt werden darf. Da gilt
es vor Allem natürlich wieder unter genügender Berücksichtigung und Erwä-
gung aller einschlägigen Momente, dass ein solches Mittel, besonders wenn
medicamentös, mit Vorsicht gebraucht und beschränkt werden muss, nament-
lich in Bezug auf Häufigkeit, Dauer, Menge, Form und Mischung der An-
wendung. Ueberhaupt zeigt sich auch hier wie überall in der Beschränkung
der Meister, der Mässigung, Kunst und Urtheil, Kenntnisse und Erfahrungen
414 DIARRHOE.
recht vollwertliig zur Entfaltung bringen kann. Die Beförderung der Abführun-
gen, namentlich wenn Zahl und Maass der Entleerungen nicht unmittel-
bare Gefahr bringen, begünstigt die Entfernung reizender Substanzen aus
Magen und Darm, und kann so unter Umständen am leichtesten und
schnellsten dem Uebel steuern, und zwar nicht nur bei örtlich beschränkten
den Magen und Darm (Nahrung, Getränke, Gifte etc.) wesentlich oder allein
treffenden Substanzen, sondern auch bei, durch die Anwesenheit solcher be-
dingten, schweren Zuständen (Typhus, Sejjsis, Cholera, Vergiftung jeder Art etc.).
In all' diesen Fällen sind als Abführmittel, erst milde, rasch wii'kende: Ricinus
bis zu 30^, Mittelsalze (20 — 30^ Natr. sulf.), Calomel allein oder mit Aloe
sehr wohl am Platze. Doch muss man sich bei Calomel daran erinnern, dass
es leicht Brechen erregt und Quecksilbervergiftung bewirken kann. Sind
Brechmittel wegen Ueberfüllung, Vergiftung, Brechreiz etc. am Platze, so
empfiehlt sich Brechweinstein, Ipecacuanha innerlich, Äpomorphin subcutan etc.
Sobald von vornherein oder im weiteren Verlauf, durch bedrohliche Er-
scheinungen, Verfall der Kräfte, Blutungen u. s. w.. Verlangsamung der
Darmbewegung, möglichst nach genügender Entleerung alles Schädlichen ge-
boten ist, treten die Adstringentien. ferner Morphium, besonders aber das
Opium unter Umständen in seine E,echte. Es hemmt die Peristaltik und
stellt den Darm mehr oder minder ruhig. Beliebt ist das codeinhaltige Extr.
Opii. Da Entleerungen nicht stattfinden, wenn der Dickdarm sich nicht
an der Peristaltik betheiligt, so genügen oft Supposiforien mit Extr. Op. O'OÖ
nach der Stuhlentleerung ^ 2 — 3 mal täglich^ oder Klysmen mit Althaeadecoct und
20 — 40 Tropfen Tlnct. Opii, innerlich, namentlich wenn der Magen intact,
10 — 40 Tropfen Tinct. Opii. Man muss besonders bei innerlicher Gabe an die
verlangsamte Resorption und deshalb oft nutzlose Darreichung denken. Auch
gibt man oft Bittermittel in alkoholischer Lösung (Choleratropfen); Adstrin-
gentien dazu sind meist überflüssig und machen oft das Opium schwerer löslich
und so unwirksam. Auch an die Darreichung von heissem Pfeffermünz-
und Chamillenthee, sowie von Glühwein, Cognac, Haferschleim etc. wird man
oft denken müssen, Getränke, die meistens günstig einwirken, dazu noch
den Vortheil haben, dass sie sich an die Genussmittel anlehnen, im Gegen-
satz zu den wirklichen Medicamenten und somit auch längere Zeit gebraucht
werden können. Wir wollen die kurze Erwähnung der bei der Behandlung
der Diarrhoekranken etwa in Frage kommenden Arzneimittel, abführende wie
stopfende, nicht verlassen, ohne namentlich noch einmal auf die Gefahren auf-
merksam gemacht zu haben, welche diese Mittel unter Umständen an sich,
aber auch durch die eventuell bewirkten oft gar nicht gewollten Effecte her-
vorrufen.
Da weder ein System, noch ein Schema, noch ein allgemein giltiges,
souveraines, specifisches Mittel oder Verfahren, Cur etc. für die Behandlung
des Diarrhoekranken sich aufstellen lässt, so wollen wir hier noch die
Gesichtspunkte erwähnen, die uns bei der Behandlung der Diarrhoekranken
leiten, wir meinen bei der nicht medicamentösen Behandlung, die in den
weitaus meisten Fällen allein genügt und zum gewünschten Ziele führt.
Im Allgemeinen haben wir es bei Jedem, also auch beim Diarrhoeki'anken
mit der Beeinflussung seiner gesammten Lebenshaltung zu thun. Wer eine
genaue Anamnese aufnimmt und mit Rücksicht auf den allgemein giltigen
Satz, dass der Mensch immer das Product seiner Gesammteinflüsse
ist, das anders wird, selbst wenn nur ein Factor und gar einer der wichtigsten
ausfällt oder geändert wird, — seine Verordnungen gibt, der hat schon sehr
Erspriessliches und mannigfaltig Nutzbringendes zu thun.
Am Allerwichtigsten erscheint bei weitaus allen Diarrhoekranken die
Frage der Zuführung von Nahrung im weitesten Sinne. Aus dem oben bei der
Besprechung der Ursachen und des Wesens der Diarrhoe Gesagten geht hervor,
DIARRHOE. 415
dass eine Yerminderung der Menge der Ingesta günstig gegen .die
Diarrhoe einwirken kann, und in der That wird diese Verminderung oft erfolg-
reich bethätigt. Sie kann bis zur absoluten Enthaltung von jeder Nah-
rungsaufnahme (Abstinentia prima medicina) gebracht werden, was bei
vielen acuten Diarrhoeen beschränkte Zeit hindurch auch oft sehr rathsam
ist. Doch kann man gegen die Zufuhr von Suijstanzen, die keine oder uner-
heldiche Fäcalmassen zurücklassen, Wasser, Schleimsuppen, Thee, Wein, Milch.
Cacao etc.) gar oft nichts einwenden, ebenso zeitweise die absolute Milch-
diät zulassen, ohne aber zu vergessen, dass sie grosse Xachtheile in sich birgt.
In den meisten Fällen wird man sich veranlasst fühlen, etwas mehr zu ge-
statten und die Sachen, die hier in Frage kommen, sind in erster Linie die
thierischen, als Fleisch, Fische, Eier, Käse. Gerade den perhorrescirten Käse
haben wir erwähnt, um dem Wahne zu begegnen, als wäre er ein ganz be-
sonders schlechtes oder schwier verdauliches, ungeeignetes Nährmittel. Warum
dagegen Fleischbrühe und Gelee sehr berühmt und immer und allgemein
empfohlen werden, bleibt uns um so unverständlicher, als der Nährwerth der
in ihrer Zusammensetzung dem Urin so ähnlichen Fleischlu'ühe, und concen-
trirt entfettet, minimal und durch die Wirkung ihrer Salze (z. B. auf das Herz)
nicht unbedenklich ist. Dauert die Diarrhoe freilich nur kurze Zeit, so kommt
man auch wohl damit aus. Anders ist es bei länger dauernden, bzw. cliro-
nischen Diarrhoeen. Hier wird schon aus subjectiven Gründen, d. h. aus dem
Verlangen des Patienten nach einer variirten Nahrung, aber auch aus objectiven
Gründen nothwenclig zu einer anderen weniger monotonen Ernährungsweise
überzugehen sein. Einem Diarrhoekranken kann man ja auch gar oft, ohne jedes
Bedenken Alles gestatten, was auch ein gesunder Mensch geniesst, denn nicht
nur das Was, sondern das Wie und zur Zeit Wieoft und Wieviel ist
bei der allgemeinen Diätetik, wie bei der Diätetik des Diarrhoe-
kranken m a a s s g e b e n d. Die üblichen Haupt- und Nebenmahlzeiten müssen
natürlich zunächst als unzweckmässig verschwinden und die Verordnung l)ei der
Nahrungsaufnahme wird heissen: jeweilig wenig, dafür lieber öfters
und jede Sache für sich allein geniessen. Es ist einleuchtend, dass
ganz kleine Portionen viel rascher und vollkommener verdaut und absorbii't
werden als grössere; geniesst man ausserdem jede Sache für sich allein und
zwar im strengsten Sinne des Wortes (nicht jedes Gericht für sich, das gar
gerne aus verschiedenen Sachen ])esteht), so ist auch aus diesem Grunde der
ganze Verdauungs- und Absorptionsact erleichtert und begünstigt, in der Zeit-
einheit verküi'zt, und wird eine derartige Ernährungsweise den verhältnis-
mässig denkbar kleinsten, unschuldigsten Kothrückstand aufweisen und
bei dem Diarrhoekranken von der besten Wirkung sein. Um grosse
Schwankungen in der Ausdehnung von Magen und Darm, sowie in der Cir-
culation (Stauungen und Anschoppungen im Abdomen) möglichst zu vermeiden,
die durch seltene grosse Mahlzeiten hervorgerufen, die Darndiewegungen direct
und reflectorisch leicht steigern, ist es auch rathsam, die empfohlenen
kleinen, häufigen Mahlzeiten von je nur einer Sache, zur Zeit
auch möglichst gleich gross zu gestalten. Die Pausen zwischen zwei
derartigen Mahlzeiten können dann je nach den vorliegenden Umständen,
ebenso wie die jeweiligen Mengen grösser oder kleiner sein, und es lässt sich
im Allgemeinen der Satz aufstellen, dass die einzelnen Mengen nie zu
klein, dagegen leicht zu gross werden, und dass bei sehr kleineu
Mengen auch iiui entsprechend kleine Zwischenpausen innegehalten werden
müssen. Diese Art der Nahrungszufulu' ist meist derartig von Erfolg, dass
ohne jede medicamentöse Hilfe und in sehr kurzer Zeit, oft in ein paar
Tagen, selbst jahrelang dauernde Diarrhoeen beseitigt werden und zwar nicht
allein solche, die vielleicht momentanen oder häutig wiederkehrenden, flagranten
Diätfehlern ihi'en Ursprung verdanken, sondern auch Diarrhoeen bei materiellen
416 DIARRHOE.
Veränderungen in der Darmwand (Entzündungen, speckiger und anderer Ent-
artung etc.); ja die antidiarrhoisclie Wirkung dieser Ernährungsweise ist eine
so intensive, dass sie leiclit in verstopfende ausarten kann, eine Schattenseite,
der jedoch dadurch leicht zu begegnen ist, dass man dann etwa die Mengen,
bzw. die Pausen allmälig vergrössert, zwei und später drei und mehr Sachen
auf einmal gemessen lässt und so den Uebergang zur üblichen Ernährungsweise
des gesunden Menschen leitet, wobei man der individuellen und momentanen
Leistungsfähigkeit der Verdauungsorgane des Patienten stets gerecht werden
muss. Ein anderes Bedenken gegen unsere antidiarrhoische Ernährungsweise, —
eine gewisse durch die anhaltende Magendarmthätigkeit zu befürchtende Er-
müdung dieser Organe — ist mehr theoretischer Natur und kommt in praxi
so gut wie nie vor und wenn doch, so müsste man die Pausen vergrössern, die
einzelnen Mengen dagegen nicht. Man kann sich auch fragen, ob bei dieser
Ernährungsweise des Diarrhoekranken empfehlenswerth ist, Sachen, die er-
fahrungsgemäss den Stuhl befördern (Obst, Compot etc.) oder andere, die be-
rechtigt oder unberechtigt als „schwer verdaulich" gelten {Hülsenfrüchte, Sauer-
kraut, Gurkensalat) Speck, Klösse etc.) auszuschalten oder nicht? Oft, zumal
bei acuten Diarrhoeen und stärkeren Veränderungen der Darmwand etc., wird
man aus Zweckmässigkeits- und anderen Gründen bejahend antworten. Auch
bei chronischen Diarrhoeen wird man je nach der Individualität und vorliegenden
Umständen, das eine oder das andere Mal diese oder jene oder melirere
Sachen zeitweise verbieten.
Im Grossen und Ganzen aber braucht man das nicht zu thun
und war man doch dazu genöthigt gewesen, so muss unser Streben sein, dem
Patienten die verbotenen Sachen nach und nach wieder zuzuführen. Denn er
ist nur halb geheilt, wenn er nur solange keine Diarrhoe bekommt, als er
jene Sachen vermeidet. Er ist gründlich geheilt, wenn er auf all' das, was ein
Durchschnittsmensch in seinem Alter, Klima etc. ohne Verdauungsstörung
geniesst, keine Störung der Verdauung bekommt. Und wenn der Genuss von
Obst, Compot, Honig etc. etwa eine Diarrhoe zur Folge hat, so müssen wir
versuchen, dafür zu sorgen, dass das nicht mehr der Fall ist und das kön-
nen wir nicht auf dem Wege des dauernden Vermeidens, wohl
aber des zweckmässig angeordneten Geniessens. Erst recht müssen
diese Sachen genossen werden, um zu lernen, sie zu vertragen, was auch in
den weitaus meisten Fällen gelingt und zwar durch Aenderung der Quantität,
Zeit, Temperatur, Zubereitung, Mischung, Zuthaten, Verbindung etc. der zuzu-
führenden Sachen. Eine absolute Unverträglichkeit existirt nicht
und wenn ein Patient sagt: „die und die Sache vertrage ich nicht," „die und
die Sache bekommt mir schlecht" etc., so ist das gar oft mindestens ein Irr-
thum, denn die Verträglichkeit ist nicht nur eine quantitative,
viel seltener eine qualitative dagegen, und wenn beispielsweise eine
Tasse, ja ein Esslöffel voll Milch Diarrhoe zur Folge hat, so wird das bei
einem Theelöffel voll vielleicht noch, bei einem Tropfen jedenfalls nicht mehr
der Fall sein. Es lässt sich auch in allen diesen Fällen die Menge „unbe-
kömmlicher" Sachen leicht feststellen, die gut bekommen und ertragen werden.
Das Accommodationsvermögen des menschlichen Körpers, beziehungsweise
Magens und Darmes wird es dann weiter ermöglichen, durch allmäliges Stei-
gen mit der Quantität, Aenderung der Zufuhrart, Zeit, Mischung etc. die Un-
verträglichkeit und Unbekömmlichkeit für gewisse Sachen ganz zu überwin-
den, wenigstens bis zu einem gewissen Grade und Grenze. Eine Verordnung,
die dem Diarrhoekranken immer mitgegeben werden muss, ist ferner die, die
Nahrung langsam und gut zu zerkauen und ordentlich einzu-
speicheln, nicht zu schlingen, wie das leider als Beigabe unserer hastigen
Zeit so häufig bethätigt wird.
DIAERHOE. 417
Die Temperatur der Speisen und Getränke spielt bei den ganz
kleinen Portionen keine wesentliche Rolle. Erfahrungsgeniäss sind lieisse oder
doch warme Getränke vorzuziehen, kalte wirken ja, wie wir gesehen haben,
unter Umständen leichter Peristaltik erregend. Die kleinen häufigen, langsam
gekauten und gut eingespeichelten Mengen, fordern nicht nur von den Yer-
dauungsorganen eine viel geringere Arbeitsleistung, sondern gewähren auch
die möglichst grösste Ausnutzung und Ernährung des Organismus. Eine der-
artige Ernährungsweise bringt auch mit sich, dass der Diarrhoekranke ebenso
wie der gesunde Mensch viel weniger zu essen und zu trinken braucht, um das
Leben und die Leistungsfähigkeit zu erhalten. Gerade hier sieht man, mit wie
wenig man auskommen, dabei gesund und leistungsfähig, ja kräftiger werden
kann, und die Bedeutung dieses Ergebnisses unserer langjährigen Erfahrungen
und Untersuchungen in mannigfacher Hinsicht müsste in allen Schichten der
Bevölkerung Eingang und Berücksichtigung finden.
Neben der Diät spielt die Frage nach der Bettruhe auch bei der
Diarrhoe eine Rolle, die sich von kurzer Hand nicht im Allgemeinen ent-
scheiden lässt und eine sorgfältige Beurtheilung des Einzelfalles erheischt,
der von Moment zu Moment variirende Verordnungen bedingen kann. A e u ss e r e
Applicationen, wie warme oder heisse Umschläge der verschiedensten Art,
kalte Anwendungen, namentlich auf den Leib, in verschiedener Form, Dauer
und Ausdehnung sind, richtig gewählt, oft von der wirksamsten Beeinflussung,
Gegensätze in dieser Beziehung, wie man sie in heissen und kalten Bädern
und sonstigen Anwendungen an verschiedenen Stellen (Armen, Beinen, Kopf,
Leib, Sitzgegend etc.) findet, schliessen dabei einander durchaus nicht aus
und finden ihre berechtigte, oft sehr nutzbringende, abwechselungsweise statt-
findende Anwendung, namentlich bei Kranken, die durch sogenannte psychische,
nervöse, reflectorische (Erkältung etc.) Einflüsse von Diarrhoe heimgesucht wer-
den. Dasselbe gilt von allgemeinen und localen, activen und passiven Uebungen,
Massage, Einreibungen (mit Salben, Oelen, Spiritus) der Bauchdecken oder
anderer Körpertheile. Die der Diarrhoe sonst zu Grunde liegenden Processe
und Veränderungen werden bei der oben genannten Behandlung, ihren natur-
gemässen Verlauf, womöglich bis zur Heilung nehmen, soweit dies möglich ist.
Die Verfechter der Lehre, dass die „Erkältung," wie für so viele
Krankheiten, so auch für die Diarrhoe häufig die Ursache abgibt, hüllen ihre
Patienten in verschiedener Weise in Wolle ein. Glücklich ist der Diarrhoekranke,
der nur mit einer einfachen wollenen Leibbinde von ihnen abkommt, was für die
Dauer doch immer sehr verwerflich ist. Wir haben bei den Ursachen der Diarrhoe
erkannt, dass unter Umständen äussere, mechanische, chemische, thermische,
bakterielle, psychische Einwirkungen, darunter auch die Kälte oder besser eine
plötzliche Abkühlung, namentlich eines überhitzten Theiles (denn das ist wohl
das Wesen der sog. Erkältung, wo sie nicht Infection etc. ist) unter Umständen
Diarrhoe zur Folge haben kann. Ein derartiger Diarrhoekranker muss aber
rationell so behandelt werden, dass er lernt, Kälteeinwirkungen, beziehungs-
weise Abkühlungen so weit wie möglich zu vertragen, d. h. so wie sie der
Durchschnittsmensch auch verträgt, und wie sie im menschlichen Leben und
Verkehr überall vorkommen können. Und das kann in verschiedener Weise
inscenirt werden, z. B. durch erst warm, allmälig kühler werdende, trockene
oder feuchte Umschläge auf den Bauch, später durch unmittelbar, hinterein-
ander folgende, erst sehr heisse, dann sehr kalte Applicationen (nasse Schwämme,
Uebergiessungen, locale Bäder) um so durch Schaffung der schroffsten
Gegensätze eine Abhärtung gegen die „Erkältung" hervorzurufen.
Ein derartiger Mensch „erkältet" sich dann nicht mehr, oder wenigstens hat
die Abkühlung bei ihm keine Diarrhoe mehr zur Folge. Derjenige aber, der
ewig eine Leibbinde oder dergleichen trägt, wird, abgesehen von den schäd-
lichen Wirkungen solcher und ähnlicher Bandagen auf die locale und all-
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. " '
418 DIARRHOE.
gemeine Ernährung und Circulation, immer empfindlicher, verweichlichter und
geeigneter, sich zu „erkälten" und trotz seiner Yorsicht kommt er gar oft, ja
leichter und öfter dazu, Diarrhoe zu bekommen. In gewissen Fällen von
habituellen, zahlreichen, zu weichen und diarrhoeartigen Stühlen empfiehlt
sich dem Patienten aufzutragen, dem Stuhldrange möglichst zu widerstehen und
ihm seltener, möglichst nur einmal täglich uaclizukommen und das lässt sich
oft durch Uebung erreichen, Bade-, Trink-, Luft-Curen bei Diarrhoekranken,
so werthvoll sie im gegebenen Falle sein können, genügen ja meist nur einer
palliativen Indication und sind bei Berücksichtigung des ol3eu Gesagten fast
immer zu umgehen, jedenfalls aber nie ohne geeignet präcishte und stetig
controllirte Beeinflussung der gesammten Lebensweise des Kranken zu ver-
ordnen. Auch die verschiedensten Diarrhoeen im Kindesalter, beziehungsweise
bei Säuglingen, die ja ein besonderes Capitel näher beleuchtet, werden nach
den genannten Gesichtspunkten meist zu bewältigen sein.
Immer und immer ist es geboten, mit Maass und Ziel, mit Umsicht und
Yorsicht vorzugehen und als Ziel im Auge zu behalten, den Diarrhoekranken
so gesund als möglich zu machen und wieder in den thunlichst grössten Grad
von Yerdauungs- und Leistungsfähigkeit zurückzubringen. Bei dem Fort-
sclu^eiten vom Einfachsten zum Complicirteren wii'd sich bald die Grenze der
Leistungsfähigkeit und des Erreichbaren ergeben, beziehungsweise wie weit
der Mensch zu seiner und der für andere Menschen seines Alters, Geschlechtes,
Klimas etc. normalen und üblichen Lebensweise, Yertragsfähigkeit, Ernähi'uug
zurückzufüluTn ist. Und das wird in der besprochenen, in diesem Artikel
freilich nur lückenhaft skizzirten Weise sich machen lassen, unter Cotrolle
der Stuhl- und LTrinentleerungen, von Maass, Gewicht, Temperatur und allen
wichtigen Funktionen und Erscheinungen, sowie deren Berücksichtigung von
Fall zu Fall, von Stunde zu Stunde. schwexixger-büzzi.
DiphthorlB. (Diphtheritis, Angina maligna^ Synanche contagiosa).
Historisclies. Bretokneau bezeichnete in seinem berühmten, 1821 der Akademie
iibergebenen Memoire als Diphterite eine von ihm in Tours beobachtete epidemische Krank-
heit, welche durch Bildung häutiger Membranen auf den Schleimhäuten des Rachens und
der Luftwege charakterisirt war und in der Regel durch Erstickung den Tod herbei-
führte. Es handelte sich hier um dieselbe Erkrankung, die schon Aretaeus mit dem Namen
der Ulcera syriaca belegt und deren Epidemien im 17. und 18. Jahrhundert von Cakne-
VALE 1618, Ghisi 1747, Basd 1771, Grakvilliers 1768 beschrieben worden waren. Je nach-
dem die Erkrankung des Rachens oder die der Luftwege mehr in den Vordergrund trat,
war dieselbe bald als Angina maligna, gangraenosa, scorbutica, bald als Croup, Morbus
suffocatorius, Grarotillo benannt worden. Erst Bretonseau erkannte die Zusammengehörig-
keit dieser verschiedenen Kraiikheitsbilder und als das Gemeinsame derselben die Anwesen-
heit von Membranen auf den Schleimhäuten, die durch eine specifische und durch Con-
tagion sich verbreitende Entzündung hervorgerufen werden. Sein grosser Schüler Trousseau
vervollständigte das klinische Bild, und fügte die Beschreibung der Di])hterite maligne {QTii-
sprechend der septischen Form der heutigen Autoren) hinzu. Gerade das Studium der letz-
teren veranlasste ihn. die Diphtherie als eine Allgemeinerkrankung nach Art der acuten Exan-
theme aufzufassen mit dem Unterschiede jedoch, dass bei jener den örtlichen Veränderungen
auf der Obeiüäche eine sehr viel grössere Bedeutung beizumessen ist als bei diesen. Um
diesen Standpunkt auch in dem "Worte auszudrücken, liess er die auf die örtliche Entzün-
dung hinweisende Endung aus der Bn^TONNEAu'schen Bezeichnung weg. Obgleich die moderne
Forschung zu Gunsten der löcalistischen Anschauung Bretonkeau's entschieden hat, so
ist doch der von Trousseau gewählte Name Diphtherie der heute allgemein gebrauchte.
Während die Krankheit noch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts
vorodegend in geschlossenen Epidemien auftrat, die durch freie Intervalle
getrennt waren und vorwiegend Frankreich, Italien und England heimsuchten,
nahm sie in der zweiten Hälfte einen geradezu pandemischen Charakter an und
bildete insbesondere in den grösseren Städten Herde, in denen sie niemals er-
löscht, sondern nur ziemlich regelmässige Jahresschwankungen aufweist
(Gerhardt). Doch kommen insbesondere auf dem Lande auch gut abgegrenzte
DIPHTHERIE, 419
Epidemien und an bestimmte Oertliclikeiten gebundene Infectionen vor. Auch
der Charakter und die Localisationen der Diphtherie scheinen gewissen Aen-
derungen zu unterliegen. So berichtet Trousseau auffallend häufig von der
jetzt nur mehr selten zu beobachtenden Diphtherie der äusseren Haut, Bartels
und Minnich kamen in der der eigentlichen Invasion der Diphtherie unmittelbar
vorausgehenden Zeit eine auffallend grosse Zahl von Croupfällen, d. h. pri-
mären Larvnxdiphtherien zur Beobachtung, während diese heute zu den Selten-
heiten gehören und die erste Localisation der Diphtherie sich in der weitaus
grössten Zahl der Fälle im Rachen nachweisen lässt. Aus den Schilderungen
der älteren Autoren gewinnt man den Eindruck, als ob damals Erwachsene
häufiger und schwerer an Diphtherie erkrankten und die Ansteckung leichter
zu verfolgen wäre als heute. Im Ganzen ist aber allen hygienischen Ver-
besserungen und Fortschritten ungeachtet eine fortwährende Ausbreitung der
Seuche, eine Zunahme der Zahl ihrer Opfer unverkennbar.
Die Diphtherie kommt in allen Klimaten vor, doch sind die nördlichen
kalten Gegenden entschieden stärker betroffen. Auch da, wo sie endemisch
vorkommt, bevorzugt sie die kälteren Jahreszeiten. Für Deutschland haben
Brühl und Jahr nachgewiesen, dass die Sterblichkeit an Diphtherie von Ost
nach West und Süd abnimmt, und um so geringer wird, je höher die mitt-
lere Temperatur ist. Sie schwankt zwischen 0-1—60 auf 10.000 Lebende.
Dieselbe vertheilt sich sehr ungleich auf die verschiedenen Lebensalter. Schon
das erste Lebensjahr ist stark betheiligt, doch betrifft dies vorwiegend die
letzten Monate. Im ersten Halbjahre ist Diphtherie eine seltene Erki'ankung.
Das weitaus grösste Contingent stellt das Alter zwischen 2 — 5 Jahren und
in manchen Bezirken wird fast die Hälfte der gesammten Sterbefälle in diesen
Lebensaltern durch Diphtherie und Croup hervorgerufen. Im schulpflichtigen
Alter wird die Sterblichkeit an Diphtherie sehr viel geringer und sinkt dann
noch weiter auf ein Minimum im erwachsenen Alter. Das männliche Ge-
schlecht ist daran überall stärker betheiligt. Zwischen Stadt und ländlichen
Districten finden sich keinerlei erhebliche Unterschiede.
Unsere Kenntnisse über Diphtherie gingen durch lange Zeit nicht wesentlich über das
hinaus, was die beiden genialen- französischen Forscher in ihren Werken niedergelegt hatten
lind der Versuch Virghow's einen principiellen Gregensatz zwischen den der Schleimhaut
aufgelagerten und den derselben eingelagerten Membranen zu construiren, hat nur zur Ver-
wirrung und Verwischung des einheitlichen Krankheitsbegriffes geführt. Eine neue und
fruchtbare Pachtung erhielten die Studien erst, als man begann, in den Membranen, die, wie
man wusste, die Affection übertragen konnten, nach dem Infectionsstoffe zu suchen. Oertel
und Trendelenbürg wiesen darin zuerst bestimmte Mikroorganismen nach und betrachteten
dieselben als Ursache der Erkrankung. Jedoch erst mittelst der von R. Koch begründeten
Methodik gelang es, aus der Unzahl der in den Membranen enthaltenen Bakterien die
wirklichen Erreger der Krankheit zu isoliren. In einer durch strenge Selbstkritik ausge-
zeichneten Arbeit beschrieb Löffler (Mittheilungen aus dem deutschen Reichsgesundheits-
amte Bd. IL 1884) einen Bacillus, den er aus 8 Fällen frischer Diphtherie gezüchtet und mittels
dessen er bei Thieren diphtherieähnliche Erkrankungen hervorgebracht hatte. Dieselben
Bacillen waren schon ein Jahr vorher von Klees in den Membranen gesehen und als Er-
reger der Diphtherie bezeichnet worden. Nach ihren Entdeckern werden sie gewöhnlich
KLEBS-LöFFLER'sche oder kurzweg Diphtherie-Bacillen genannt.
Die Befunde Löffler's wurden nach einigem Zögern von zahlreichen Forschern be-
stätigt und die classischen Arbeiten von R,oux und Yersin zerstreuten die letzten Zweifel
an der ätiologischen Bedeutung der Bacillen, indem es gelang, das von ihnen producirte
Gift zu isoliren und mittelst desselben die wichtigsten klinischen Symptome der Diphtherie,
insbesondere die diphtherischen Lähmungen, zu erzeugen.
Wir sind demnach berechtigt an Stelle des klinischen, den sehr viel
schärferen ätiologischen Begriff zu setzen und als Diphtherie nur jene
Erkrankung zu bezeichnen, welche ganz oder doch zum grösseren Theile
durch die Anwesenheit des Löffler' schen Bacillus, resp. der von ihm
produchlen Toxine hervorgerufen ist.
Das Verständnis für die Pathogenese und die Vorgänge bei der Heilung wurde
wesentlich gefördert durch die Untersuchungen Behring's und seiner Schüler über die Immu-
27*
420 DIPHTHERIE.
nität, für welche gerade die experimentelle Diphtherie ein günstiges Studienobject darbot.
So haben die von bakteriologischer Seite ausgehenden Forschungen nach vielen Pachtungen
hin das Dunkel gelichtet, das trotz der Bemühungen der scharfsinnigsten Beobachter
noch über dieser vielgestaltigen Krankheit lagerte, und wir können heute sagen, dass die
Diphtherie dadurch eine der am besten gekannten Infectionskrankheiten des Menschen ge-
worden ist. Indem wir in der Darstellung denselben Weg einschlagen, sollen hier zu-
erst die an der Entstehung der Diphtherie betheiligten Mikroorganismen, die Wirkungen
derselben auf den Organismus und dann das dadurch hervorgebrachte Krankheitsbild
der Pieihe nach geschildert werden.
Der von Löfflee zuerst aus den Membranen gezüclitete Diplitlierie-
Bacillus stellt sicli in frischen Culturen auf Blutserum, Agar oder Bouillon
als ein kurzes plumpes Stäbchen von der Länge des Tuberkelbacillus, aber
etwa doppelt so breit mit abgerundeten Ecken dar, dessen eines Ende etwas
dicker erscheint als das andere. Sehr viel deutlicher wird diese Keulenform
bei etwas längerem Wachsthum und schliesslich zeigen alle oder doch die
meisten Bacillen Degenerationsformen, welche die 6 — 8-fache Länge der Stäb-
chen erreichen, sich krümmen, an einem oder beiden Enden kolbig anschwel-
len, so dass ungemein mannigfaltige birn-, hantel-, bisquitähnliche, manchmal
sogar an Mycelbildung erinnernde Formen entstehen. Während die jungen
Wuchsformen sich mit allen Anilinfarben in wässeriger oder schwach alka-
lischer Lösung leicht und in toto färben, nehmen bei den Degenerations-
formen nur einzelne Stücke oder Körner im Bacillenleibe die Farbe an. Ln
hängenden Tropfen sind sie unbeweglich. Das Wachsthum ist an schwach
alkalische Eeaction des Nährbodens und an die Anwesenheit von Sauerstoff
gebunden. Es geht am besten vor sich zwischen 32 und 37*'; unter 20" bleibt
die Entwicklung aus.
Als Nährmedien werden deshalb vorwiegend Bouillon, Agar und Blutserum,
benutzt. Auf letzteren gedeihen sie besonders üppig und bilden schon nach 18 Stunden
kleiiTe weisse, mit dem freien Auge erkennbare Knöpfchen. Auf Glycerinagar wachsen sie
spärlicher und vorwdegend im Stichcanal. Bouillon wird in 24 Stunden leicht getrübt,
am Boden liegt ein an dem Glase haftender kleinflockiger oder wolkiger Bodensatz, seltener
trifft man grobe Flocken bei klarer Flüssigkeit. Die Eeaction der Bouillon wird erst sauer,
dann (oft erst nach Wochen) wieder alkalisch. Gelatine wird nicht verflüssigt, Milch nicht
verändert. Auf Kartoffel bilden sie spärliche, kaum erkennbare Colonien.
Ihre Widerstandsfähigkeit gegen schädigende Einflüsse ist, da sie keine
Sporen bilden, gering. Schon die halbstündige Erhitzung auf 60" tödtet sie
sicher. Nach Löffler genügt eine kurz dauernde Berührung der ausgesäten
Keime mit Sublimat 1 : 10000, Höllenstein 1 : 1000, Carbolsäure 3— 4"/o, ab-
solutem Alkohol, um dieselben entwicklungsunfähig zu machen. Dagegen
widerstehen sie der Eintrocknung auffallend lange und aus Membranen und
Culturen, die unter Abschluss des Lichtes durch 5 Monate in getrocknetem
Zustande aufljewahrt waren, können unter Umständen noch lebensfähige Ba-
cillen gezüchtet werden.
Bei den Thieren imd speciell deu Hausthieren werden zwar nicht selten
diphtherieälinhche Erkrankungen der Schleimhäute beobachtet, dieselben sind jedoch
durch andere Mikroorganismen hervorgerufen. Bis jetzt wenigstens ist das spontane
Vorkommen einer durch den Löffler' sehen Baccillus hervorgerufenen Erkranlvung bei
Thieren noch nicht erwiesen. Nur durch sehr energische Eim-eibung der Culturen
auf der Yaginalschleimhaut des Meerschw^einchens, der Conjunctival- oder Tracheal-
schleimhaut des Kaninchens, der Rachenschleimhaut der Taube gelingt es eine diph-
therieähnliche pseudomembranöse Entzündung auf der verletzten Stelle hervorzurufen.
Dieselbe läuft in wenigen Tagen ab; einzelne der geheüten Thiere zeigen alsdann
ebenso wie bei der menschlichen Diphtherie Lähmungserscheiuimgen oder gehen an
schleichender Cachexie zu Grunde; andere erliegen noch während des Bestandes der
Entzündung der diphtherischen Intoxication. Während die Schleimhäute nur eine
DIPHTHERIE. 421
geringe Empfänglichkeit für die diphtherische Infection zeigen, genügen schon
geringe Mengen des diphtherischen Giftes, die in den Thierkörper seihst eingehracht
werden, um den Tod unter charakteristischen Erscheinungen herbeizuführen. Ins-
Isesondere gilt dies für junge Thiere, nur Ratten und Mäuse zeigen eine fast völlige
TJnempfindlichkeit. Mau benutzt dieses Verhalten mit Vorliebe zur Identificirung
der Culturen und bedient sich dazu meist der Meerschweinchen, die unter allen
Thieren für das diphtherische Gift am empfänglichsten sind. Schon geringe Mengen
der Culturen intraperitoneal oder subcutan applicirt, genügen, um innerhalb 2 — 4
Tagen den Tod der Thiere herbeizuführen. Man findet an der Impfstelle eine fibri-
nöse Exsudation, umgeben von ausgedehntem hämorrhagischem Oedem; die benachbarten
Lymphdrüsen sind vergrössert und hj'perämisch, die Nebennieren dunkel geröthet,
der Anfang des Dünndarms deutlich injicirt; in den Pleuren bisweilen auch im
Peritoneum ein seröser Erguss. Kaninchen zeigen ausserdem noch Diarrhoeen und
Fettleber. Manche Thiere überleben die Impfung um Wochen und Monate. Bei der
Section findet man alsdann enorme Abmagerung, Nekrose an der Impfstelle, ver-
dichtete Herde in den Lungen. Die oben geschilderten Veränderungen fehlen. Bei
den an acuter Diphtherie gestorbenen Thieren finden sich ebenso wie bei den auf
die Schleimhäute geimpften die Bacillen nur oder fast nur an der Stelle der
Inoculation; die inneren Organe sind keimfrei. Der Tod tritt also ein nicht durch Ver-
"breitung der Bacillen im Körper, sondern durch die Resorption der an der Impf-
stelle von den Bacillen gebildeten Giftstoffe. Schon Löffleb hatte diese Vermuthung
ausgesprochen-, sie wurde erwiesen durch die Untersuchungen von Roux und Yer-
siN, denen es gelang, die Giftstoffe in der durch Filtration von den Bacillen befreiten
Culturflüssigkeit nachzuweisen. Durch Einspritzung derselben gelingt es, die
Thiere unter den gleichen Erscheinungen zu tödten, als ob sie mit lebenden BaciEen
geimpft wären. Der einzige Unterschied ist, dass an der Injectionsstelle die fibrinöse
Exsudation fehlt. Die Bildung derselben scheint demnach an die Lebensthätigkeit
der Bacillen selbst gebunden zu sein. Im Uebrigen finden wir eine besonders ausge-
sprochene Wirkung des Giftes auf die Gefässe, die dilatirt und durchlässig werden,
auf das Herz, Leber, das Nervensystem und die Niere , welche eiweisshaltigen
Harn producirt. Die motorischen Lähmungserscheiuungen treten wie bei der mensch-
lichen Diphtherie meist erst nach Ablauf der acuten Intoxication in Erscheinung.
Dieselben Autoren versuchten auch den toxischen Körper aus den Bouillonculturen zu
isoliren und es gelang ihnen, denselben in dem Alkoholniederschlage sowie in der
durch Phosphatzusatz erzeugten Fällung in concentrirter Form, jedoch nicht
rein zu erhalten. Bei Erwärmen auf 70*^ verliert er seine toxische Kraft. Roux
l)ezeichnete ihn auf Grund dieser Eigenschaften als Diastase. Fraenkel und
Bkieger , die ihn mittels Ammoniumsulfat fällten, fanden Eiweissreactionen und
erklärten ihn daher für ein Toxcdbumin; doch war das Eiweiss wohl mechanisch
beigemengt. Gamalaia erklärt ihn auf Grund allgemeiner Ueberlegungen für ein
dem Bakterienleibe selbst entstammendes Nudeoalhumin. Nach letzterem findet es
sich anfangs nur im Leibe der Bakterien und wird von diesen synthetisch auch auf
eiweissfreien Nährmedien (Harn) gebildet, erst bei längerem Stehen der Cultur geht
es in die Flüssigkeit über.
Die Wirkung der Bacillen gegenüber den Versuchsthieren beruht auf der Fähigkeit
diese Toxine zu erzeugen. In dieser Beziehung findet man grosse Unterschiede zwischen
den aus verschiedenen und selbst den aus einem und demselben Falle gezüchteten Bacillen.
-Zur Messung derselben empfiehlt es sich in jedem Falle diejenige kleinste Menge der 24stün-
digen Bouilloncultur zu ermitteln, welche genügt, ein Meerschweinchen innerhalb längstens
4 Tagen mit Sicherheit zu tödten. Dieselbe in Procenten des Körpergewichtes des Versuchs-
thieres ausgedrückt, gibt ein bequemes Mass für die Virulenz der betreffenden Cultur.
Die Zahl schwankt zwischen 0'02-0-5 und mehr Procent. Sie kann auch für ein und die-
selbe Cultur sich ändern; sie kann durch ungünstige Vegetationsbedingungen erhöht, d. h.
<lie Cultur abgeschwächt oder durch Verimpfung von Thier zu Thier vermindert werden.
Nach Roux soll die Virulenz der Diphtherie-Bacillen auch durch Symbiose mit Streptococcen
«rhöht werden.
Durch die experimentell feststehende Thatsaclie der Abschwächung der Diphtherie-
Culturen bis zur völligen Unwirksamkeit gegenüber dem Thierkörper entfällt allerduigs ein
422 DIPHTHERIE.
wich-tiges Merkmal für die Charakteristik des LÖFFLER'schen Bacillus. Allein es ist gewiss
zu weit gegangen, wenn man daraufliin alle morphologisch ähnlichen Bacillen der Mund-
höhle wie den yon Hofmann beschriebenen Pseudodiphtheriebacillus schlankweg als nicht
virulente Diphtheriebacillen bezeichnet. Abgesehen davon, dass der exacte Nachweis nur
durch die Wiederherstellung der verloren gegangenen Virulenz zu erbringen wäre, unter-
scheidet er sich auch durch das culturelle Verhalten (üppigeres Wachsthum auf Agar,
Mangel der Säurebildung auf Bouillon etc.) von jenem, so dass er zunächst wenigstens
als eine besondere Art anzuerkennen ist.
Da wo die diphtherische Intoxication nicht zum acuten oder chronischen Tod
des Thieres führt, bleibt eine erhöhte Widerstandsfähigkeit des Organis-
mus gegenüber dem diphtherischen Gifte zurück: das Thier ist immunisirt. Die
Erklärung dieses auch von den anderen Infectionskrankheiten her bekannten Zustan-
des ist durch die epochemachende Entdeckung Beheing's gegeben, dass in dem
Blutserum dieser Thiere ein Stoff enthalten ist, welcher in vitro wie im lebenden
Organismus die von den Diphtlieriebacülen producirten Gifte zerstört oder wenig-
stens unschädlich macht. Dabei kann der Diphtheriebacillus auf der Oberfläche
solcher „giftfesten" Thiere noch vegetiren und sich vermehren, aber sie sind nicht
im Stande, irgend welche schädigende Wirkung auszuüben. Von Immunität im eigent-
lichen Sinn des Wortes spricht man erst, wenn die kranliheitserregenden Organis-
men sich überhaupt nicht mehr auf dem Körper vermehren können. Es ist wahr-
scheinlich, dass Immunität und Giftfestigkeit nui' graduell verschiedene Zustände sind.
Die Bildung dieser antitoxischen Stoffe im Thierkörper ist gebunden
an das Ueberstehen des diphtherischen Krankheitsprocesses und kann, yne Ehuizch
gezeigt, in infinitum vermehrt werden, wenn dm"ch Injection immer steigender Cul-
turmengen nochmals die gleichen Processe hervorgerufen werden. Ueber den Ort
der Bildung Liegt nur die Yermuthung vor, dass sie in den lymphbereitenden Or-
ganen und der Milz vor sich gehe. Ihre Xatur ist noch völlig in Dunkel gehüllt.
Durch üebertraguug derselben auf den Körper empfänglicher Thiere werden auch
diese für die Zeit, in welcher sie als solche erhalten bleiben, gegen eine diphthe-
rische Infection geschützt, ja es gelingt sogar, ein schon erkranktes Thier dm-ch
Einführung grösserer Mengen Blutserums von einem gegen Diphtherie hochimmuni-
sirten Thiere stammend vor dem sicheren Tode zu bewahren. Gerade diese letztere
Thatsache, auf welcher sich die von Beheixg begründete Blutserumtherapie aufbaut,
legt den Gedanken nahe, dass auch der natürliche Heüungsvorgang auf ähnliche
Weise zu Stande kommt. Diu'ch die Einfühi'ung des diphtherischen Virus in den
Thierkörper wöi'd zugleich mit den Krankheitserscheinungen gleichsam als Selbst-
hilfe desselben die Thätigkeit der die Antikörper bildenden Organe angeregt. Erliegt
der Organismus nicht der acuten Vergiftung, so 'wird das im Blute kreisende Toxin
von den sich allmälig und in steigender Menge bildenden Antikörpern gleich-
sam abgefangen und unter gleichzeitigem Verschwinden der Antilvörper selbst in eine
für den Organismus unschädliche Verbindung verwandelt. Dieser Heüungsvorgang
währt so lange, bis der Organismus entgiftet und schliesslich immunisii't ist. Allein
auch wenn dies geschehen, dauert die Büdung der Antikörper noch fort, sie werden
im Blute nachweisbar und bedingen so die nach Ablauf der Erkrankung zm'ück-
bleibende Immunität.
Da die Spontanheilung bei der experimentellen Diphtherie ein seltenes und zufälliges Er-
eignis ist, so hat man, um immunisirte Thiere zu gewinnen, nach Methoden gesucht, die
geeignet sind den Krankheitsprocess so abzuschwächen, dass eine grössere Anzahl derselben
am Leben bleibt, Es gelang dies' zuerst C. Fraenkel durch Erhitzung alter Bouilloncultur-
filtrate auf 70". Später theilte Behring eine ganze Reihe von Methoden mit, von denen
die der Injection vorausgehende Abschwächung der Culturen mittelst Jodtrichloiid die
wichtigste ist. Obgleich noch keine ganz befriedigende Immunisirungsmethode gegen
Diphtherie bekannt ist, so ist es doch Behning und neuerdings auch Aronson gelungen,
so hohe Immunitätsgrade zu erreichen, dass 1 cm^ Blutserum des immunisirten Thieres
(Hammel, Hund) 2 Millionen Gramm Meerschweinchen gegen die sicher tödthche Dosis des
Diphtherotoxins zu schützen vermag.
Neben dem bis jetzt beschriebenen Diphterotoxin findet sich in den Culturen des
Diphteriebacillus noch ein zweiter Giftstoff, der an die Bakterienleiber gebunden, vielleicht
mit ihnen identisch, erst nach Tödtung der Bacillen ausgezogen werden kann. Da er der
DIPHTHERIE. 423
Erhitzung auf 100'' widersteht, so kann er leicht von dem zersetzlichen primären Gift
getrennt werden. Gamalaia meint, dass es durch Zersetzung aus dem ersteren entsteht
und bezeichnet es daher als poison modifie oder artificiel. Buchner, dem wir die Kenntnis
der Bakterienproteine verdanken, fand, dass dieselben in den Thierkörper eingeführt, eine
die Leukocyten anlockende Wirkung (positive Chemotaxis) besitzen. In die Blutbahn ein-
geführt, rufen sie allgemeine Leukocytose und Fieber hervor, nach Schweighofer auch eine
Schwellung der lymphoiden Organe und parenchymatöse Degeneration der Niere, Leber
und des Herzmuskels.
Verbreitung des Diphtheriebacillus. Die geringe Widerstands-
fälligkeit und die früher erwähnten Wachsthumsbedingungen bringen es mit
sich, dass der Diphtheriebacillus ähnlich wie der Erreger der Tuberculose im
Wesentlichen auf den menschlichen Körper als Brutstätte angewiesen ist.
Er findet sich constant und in grosser Menge auf den Schleimhäuten
und in den Membranen der Diphtheriekranken und bleibt für gewöhnlich
ebenso wie im Thierversuche auf die erkrankte Oberfläche beschränkt. Er
kann jedoch auf dem Blut- und auch auf dem Lymphwege (Abbott) in
die inneren Organe gelangen, woselbst er aber rasch zu Grunde geht. Ich
selbst habe ihn aus den unmittelbar nach dem Tode herausgenommenen Nieren
zweier an Diphtherie verstorbener Kinder gezüchtet und neuerdings hat
Frosch denselben in 10 unter 15 untersuchten Fällen in Milz, Mere, Herzblut,
Pericardial- und Pleuraflüssigkeit, Gehirn und Leber nachgewiesen. Mit
dem Sekret der Schleimhäute und den Membranen gelangt der Bacillus in
die Aussenwelt und kann dann direct zu einer Neuinfection führen, wenn
er durch Küssen, durch ausgehustete Membranen etc. auf die Schleimhaut
eines dafür empfänglichen Menschen gelangt, oder indirect, indem er an
Kleidern, Trinkgeschirren, Löffeln, Taschentüchern, Wänden, Möbeln u. A. m.
haften bleibt und eintrocknet. Da er in diesem Zustande sehr lange (unter
günstigen Bedingungen jedenfalls Monate, vielleicht Jahre lang) lebensfähig
bleibt, so kann auf diese Weise eine sehr ausgiebige und schwer controllirbare
Verbreitung des Diphtherie-Bacillus erfolgen. So erklärt sich das gehäufte
Auftreten von Infectionen an Orten, wo Diphtheriekranke sich längere Zeit
aufgehalten, die sprungweise Verbreitung in Kinder spitälern. Jedenfalls
spielt die directe Contagion daneben nur eine geringe Rolle und dürfte vor-
zugsweise bei der innigen Berührung, wie sie innerhalb der Familie statt-
findet, in Betracht kommen. In dieser Beziehung ist die Thatsache von
Wichtigkeit, dass, wie ich zuerst gezeigt, virulente Diphtherie-Bacillen nicht
nur während des Bestandes der Krankheit, sondern auch nach Ablauf der-
selben noch durch Tage und Wochen in der Mundhöhle enthalten sein können,
so wie dass dies in vereinzelten Fällen sogar bei gesunden oder doch an-
scheinend gesunden Personen der Fall sein kann.
Trotz vielfacher Bemühungen ist es bisher noch nicht gelungen, eine Vermehrung
des Diphtheriebacillus ausserhalb des menschlichen Körpers und seiner Effluvien
zu constatiren. Die namentlich in England (Klein) angenommene üebertragung durch die
Milch oder durch Hausthiere ist noch ebensowenig erwiesen, als der Einfluss der Misthaufen,
in denen TeissieR eine Brutstätte der Bacillen sieht. Um die in ihrer Entstehung oft ganz
räthselhaften sporadischen Erkrankungen an Diphtherie zu erklären, hat Roux die Hj^po-
these aufgestellt, dass eine abgeschwächte, der Virulenz beraubte Art von Diphthei-ie-
Bacillen sehr häufig in dem Munde der Kinder vorkomme (bei 59 Schülern einer Erziehungs-
anstalt fand er denselben 26mal) und unter dem Einflüsse besonderer Verhältnisse wie
der Symbiose mit Streptococcen seine pathogenen Eigenschaften ■^\aedergewinnen und echte
Diphtherie erzeugen könne. Nachdem jedoch Roux die Unterscheidung von dem gleich-
falls im Munde vorkommenden Pseudodiphtheriebaccillus verabsäumt und es ihm auch
nicht gelungen, diese Bacillen auf experimentellem Wege wieder virulent zu machen,
scheint mir diese Annahme noch nicht erwiesen. C. Fraenkel, der sich derselben ange-
schlossen, macht darauf aufmerksam, dass derartige nicht virulente Diphtherie-Bacillen
nicht selten als harmlose Parasiten auf der Conjunctivalschleimhaiit angetroffen werden.
424 DIPHTHERIE.
Da die diplitlierisclie Erkrankung des Menschen sich stets auf Schleim-
häuten localisirt, die der Luft ausgesetzt und auf denen schon unter nor-
malen Verhältnissen Bakterien vorhanden sind, so können sich neben den
Diphtherie-Bacillen stets und oft in grosser Zahl andere an dem betreffenden
Orte gelegentlich vorkommende Arten vorfinden, ohne dass denselben eine
Bedeutung für den Krankheitsverlauf zukommt. Anders liegt die Sache
wenn es sich um pathogene Arten wie Streptococcen, Staphylococcen pyo-
genes u. a. m. handelt. Dieselben können zwar in beschränkter Zahl in der
Mundhöhle im gesunden wie im kranken Zustande gefunden werden, ohne
dass sie krankhafte Erscheinungen hervorrufen, allein in manchen Diphtherie-
fällen sind sie in so grosser Menge und auch im Innern des erkrankten
Körpers vorhanden, dass kein Zweifel über ihre selbständige pathogene Be-
deutung bestehen kann. Insbesondere gilt dies von den Streptococcen,
die als nahezu constante Begleiter der Rachendiphtherie gelten müssen. Ihre
morphologischen und culturellen Eigenschaften setze ich als bekannt voraus.
Bezüglich der Frage, ob sie einer einzigen, ob sie mehreren Arten angehören,
ob sie mit dem Streptococcus pyogenes identisch sind oder nicht, ist eine volle
Einigung noch nicht erzielt. Für Thiere (Mäuse, Hasen zeigen sie eine Virulenz
mittleren Grades. Ihr Verhalten im Körper charakterisirt sie als ausge-
sprochene Gewebsparasiten. Zwar finden sie sich zunächst ebenso wie die
Diphtherie-Bacillen auf der Oberfläche der Rachen-Schleimhaut und breiten
sich auf derselben, wenngleich in sehr viel beschränkterem Maasse, aus.
Sobald jedoch durch irgend welchen begünstigenden Umstand die Wider-
standsfähigkeit des Organismus sinkt, dringen sie in die Tiefe des Gewebes
ein, wandern in dichten Schwärmen längs der Lymphbahnen, durchbrechen
die Blutgefässwandungen und gelangen so in sämmtliche inneren Organe
des Körpers. Es entsteht das wohlbekannte Bild der Sepsis mit hohem, re-
mittirendem Fieber, Blässe, Benommenheit und sinkender Herzkraft. Die
Tonsillen, an welchen die Coccen eingedrungen, sind intensiv geröthet und
geschwellt, ja die Oberfläche kann nekrotisiren und sich mit einem dünnen
fibrinösen Belage bedecken, so dass ein der echten Diphtherie nicht un-
ähnliches Bild entsteht. In den inneren Organen entstehen da, wo die mit
dem Blutstrom verschleppten Coccen hingelangen, nekrobiotische Herde, in
den Lungen lobulär-pneumonische Verdichtungen, auf den serösen Häuten
seröse und eitrige Entzündungen. Besonders charakteristisch sind die in den
subniaxillaren Lymphdrüsen hervorgerufenen Veränderungen. Dieselben
schwellen mächtig an und die Entzündung greift auf das periglanduläre Ge-
webe über, so dass eine diffuse harte Anschwellung der Seitentheile des
Halses entsteht. Im späteren Verlaufe kann es zur Abscessbildung kommen.
In dem Eiter sind die Trümmer der nekrotisirten Drüse und zahllose Strepto-
coccen enthalten.
Die Beziehungen der Streptococcen zu den Diphtherie-Bacillen sind sehr mannigfaltige
und noch nicht völlig klargestellt. Zunächst scheint es, als ob eine leichte, durch Streptococcen
hervorgerufenene Reizung der Schleimhaut die Ansiedlung der Diphtherie-Bacillen begünstigt,
wenigstens ist dies bei den Thierversuchen der Fall. Die durch die diphtheritische Erkran-
kung gesetzten localen Veränderungen scheinen ihrerseits wieder das Wachsthum und die
Vermehrung der Streptococcen zu begünstigen. Welche besonderen Umstände es sind, die
ihnen dann in gewissen Fälleir das Eindringen in die Gewebe gestatteten, ist noch nicht
klargestellt. NeuMANN hat in einer interessanten Arbeit zur Lehre von der Sepsis gezeigt,
dass Durchtränkung des Körpers mit Stoffwechselproducten von Bakterien, Avie es bei
Infectionskrankheiten und schon bei Stuhlretention eintreten kann, ferner die Aufspei-
cherung von Stoffwechselproducten des Körpers selbst, die in ausgesprochenster Weise
bei Störung der Nierenfunction zu Stande kommt, die Widerstandsfähigkeit des mensch-
lichen Körpers gegen Streptococceninvasion herabsetzen. An ähnliche Momente, sowie an die
bekannte Neigung des kindlichen Organismus zur Streptococcensepsis im Allgemeinen
(Babes), wäre wohl auch hier zu denken. Ist es im Verlauf der Diphtherie zu einer Strepto-
coccensepsis gekommen, so laufen die beiden Erkrankungen nicht einfach neben einander ab,
sondern es entsteht das eigenartige Bild der sogenannten septischen Diphtherie. Ein besou-
DIPHTHERIE. 425
ders charakteristischer Zug in demselben ist das rasche und unauflialtsame Sinken der
Herzkraft, das zumeist in wenigen Tagen und oft unter subnormalen Temperaturen zum
Tode führt. Man wird darin wohl eine besondere Verbindung der dem Diphtherie-Bacillus
tind den Streptococcen eigenthümlichen Giftwirkungen erkennen können und in der That hat
Sieber im Nenckischen Laboratorium gezeigt, dass die aus Mischculturen der genannten Bak-
terien erhaltenen Toxine sich wirksamer erweisen, als die Mischung der aus den Eeinculturen
erhaltenen. Dagegen scheint das mit Streptococcen durchsetzte Gewebe der Weiterverbreitung
ja selbst dem Fortbestande der Diphtherie-Bacillen alsdann eher ungünstige Verhältnisse zu
bieten. Wenigstens sieht man häufig mit dem Eintritt der Allgemeinsepsis das Fortschreiten
der Membranen sistiren, die Bacillen treten an Zahl mehr und mehr zurück, um schliesslich
den Streptococcen ganz das Feld zu überlassen.
Viel weniger ist über die Bedeutung der pyogenen Staphylococcen bekannt, obgleich
auch diese insbesondere der albus in einer nicht geringen Zahl von Fällen und in reich-
licher Menge angetroffen werden. Am häufigsten allerdings in den Tracheal-, seltener und
oft erst gegen Ende der Erkrankung in den Rachenmembranen. Ein Eindringen desselben
in die Blutbahn und in die inneren Organe mit Ausnahme der Lungen, wohin er durch
Aspiration gelangt, ist jedenfalls sehr selten. Der klinische Verlauf scheint durch die
Anwesenheit der Staphylococcen eher im günstigen Sinne beeinflusst zu werden. Ein hem-
mender Einfluss auf die Ausbreitung der Membranen ist jedoch nicht zu bemerken.
Der Vollständigkeit halber seien hier noch zwei Bakterienarten erwähnt, die mir nicht
ohne Einfluss auf das Krankheitsbild zu sein schienen: ein dem Bakterium coli ähnliches
Xurzstäbchen, das ich wiederholt in schweren, mit ulcerösen Zerstörungen einhergehenden
Fällen sowohl in den Membranen als in den inneren Organen insbesondere in den Lungen-
herden gefunden und ein dem FRAENKEL-WEiciiSELBAUM'schen nahestehender Kapselcoccus.
Der letztere fand sich sowohl in Rachen- als Bronchialmembranen, die durch ihre beson-
dere Dicke und feuchten Glanz ausgezeichnet waren.
Versuchen wir nimmehr auf Grundlage dieser experimentellen Erfahrungen
die Pathogenese der menschlichen Diphtherie darzulegen, so müssen wir hier
wie bei allen Infectionskrankheiten drei Perioden: das Stadium incubationis,
eruptionis und decrementi unterscheiden. Dass zur Entstehung der Diphtherie
die Anwesenheit des Diphtherie-Bacillus und zwar des virulenten Bacillus noth-
wendig ist, bedarf keiner weiteren Beweisführung. Nicht minder wichtig ist
dazu aber die Empfänglichkeit, die Disposition des betreffenden
Individuums für die diphtherische Infection. Dieselbe ist, wie die
sprungweise Ausbreitung der Epidemien beweist, keinesweg keine so allgemeine
wie bei Masern oder Scharlach. Insbesondere scheint dieselbe mit dem zu-
nehmenden Alter schon vom 5. Lebensjahre an rapid zu sinken. Es geht dies un-
zweifelhaft aus der geringen Zahl der von Diphtherie befallenen Erwachsenen
hervor,obgleich sich dieselben gewiss nicht weniger als Kinder der Gelegenheit
zur diphtherischen Infection aussetzen. Die geringe individuelle Disposition kann
einmal dadurch bedingt sein, dass durch lokale Verhältnisse, festere Fügimg des
Schleimhautepithels, saure Reaction der Mundhöhle (bei Säuglingen), durch
mechanische oder chemische Mittel die Ansied hing der Bakterien verhindert
wird; oder es handelt sich um eine natürliche oder erworbene Giftfestigkeit
oder Immunität. Die Erfahrung, dass junge Thiere eine sehr viel grössere
Empfänglichkeit für das diphtherische Gift aufweisen, als ältere derselben
Gattung, spricht dafür, dass es sich um eine dem verlangsamten Stoffwechsel
Erwachsener als solchem zukommende Eigenschaft handelt. Es wäre aber
auch nicht ausgeschlossen, dass eine durch latent verlaufene Diphtherien oder
durch andere Erkrankungen (siehe später) erworbene Immunität im Spiele ist.
Die Infection erfolgt in der weitaus grössten Zahl der Fälle in der
Eachenhöhle, sei es, dass der Bacillus direkt mit dem Speichel eines Erkrankten
oder als Staub mit der eingeathmeten Luft an diese Stelle gelangt. Die den
Luftstrom brechenden Tonsillen mit ihren zahlreichen Einbuchtungen bilden
die geeignetste Stätte für die Ablagerung und ungestörte Vermehrung der
Keime. Schon l)estehende katarrhalische Entzündungen scheinen die Infection
zu begünstigen, doch bedarf es keineswegs einer Läsion der Epitheldccke.
Dieses Incubationsstadium beträgt nach klinischen Erfahrungen durchschnittlich
2 — 7 Tage, kann sich jedoch sicherlich noch sehr viel länger hinausziehen.
Die ersten sichtbaren örtlichen Erscheinungen sind Eöthung und leichtes
426 DIPHTHERIE.
Oedein der Sclileimliaut, aucli wohl ein leichter reifähnlicher Anflug aus
desquamirten Epithelien und Bakterienhaufen bestehend; dann folgt die Bildung
der fibrinösen Membran.
Ueber die Entstell imgsweise und die Zusammensetzung der diphtherischen
Membran ist viel discutirt und bis heute noch keine Einigung erzielt worden. Man hielt sie
anfangs für einen oberflächlichen Brandschorf, später für ein aus den Drüsen stammendes
Secret. Seitdem man das Fibrin als den wesentlichen Bestandtheil derselben erkannt, kann kein
Zweifel sein, dass die aus den Gefässen transsudirenden Serumbestandtheile die Quelle ihrer
Entstehung bilden. Dieser abnorm reichliche Durchtritt der fibiinoplastischen Substanzen
ist eine der specifischen Wirkungen der Diphtheriebacillen, die unter Necrotisirung der
obersten Schichten in das Epithel eingedrungen sind. Auf der Rachenschleimhaut beginnt
die Bildung des Exsudates, wie Heubner in einer vortrefi'lichen Studie klargelegt hat, un-
ter den obersten, der Mundhöhle zunächst gelegenen Schichten. Mit der Fortdauer und
der Intensität der Exsudation werden auch die tieferen Schichten emporgehoben, so dass
die Membranen eine Dicke von mehreren Millimetern erreichen können. Sie bestehen
dann aus geschichteten Fibrinmassen, zwischen denen das zum Theil hyalin degenerirte zum
Theil noch erhaltene Epithel, sowie namentlich in den vorgeschrittenen Stadien zahlreiche
Rundzellen eingeschlossen sind. In ähnlicher ^\"eise schildern Goldmanij und MmDELDORPF
die Entstehung der Membranen auf der Tracheaischleimhaut. Die Membran ist nach
aussen hin scharf begrenzt durch die Basalmembran, und setzt sich in Drüsenausführungs-
gänge und Lymphspalten hinein fort. Auch in dem angrenzenden Bindegewebe sowie den
benachbarten Lymphdrüsen finden sich Fibringerinnungen. Nekrotische Vorgänge sind im
Wesentlichen auf das Epithel beschränkt, und vereinzelt werden sie im Bindegewebe
gefunden. Im Gegensatz zu den genannten Autoren nimmt Oertel an. dass die Mehrzahl
der Menibranen direct aus dem Inhalt von submucös im Bindegewebe gelegenen nekro-
biotischen Herden hervorgehe, die das Epithel emporheben, sprengen und sich auf die
Oberfläche der Schleimhaut ergiessen (secundäre Membranen). Die Schilderung der kli-
nischen Verhältnisse und der Mangel genauer bacteriologischer Angaben lässt es nicht un-
wahrscheinlich erscheinen, dass Oertel's treffliche Darstellung auf die Entstehungsweise der
bei septischer, mit Streptococceninvasion comphcirter Diphtherie sich bildenden Membranen
passt und die tiefliegenden nekrobiotischen Herde nicht so sehr der diphtherischen All-
gemeinintoxication als dem Eindringen der Streptococcen ihre Entstehung verdanken.
Die Oberfläche der Membranen, insbesondere der im Rachen befindlichen, ist mit den
verschiedenartigsten Bakterien insbesondere mit Coccen besetzt. In älteren Membranen
findet man die obersten Schichten davon durchwachsen. Unter diesen, näher der Schleim-
haut trifft man auf die charakteristischen Stäbchen, die in Haufen gruppirt oder pallisaden-
artig angeordnet sind. Die der Schleimhaut zunächst Hegende Schicht ist frei von Bakte-
rien. Nur da wo neben den Bacillen die kettenförndgen Coccen vorhanden sind, sieht
man diese noch weiter in das Gewebe und insbesondere in die Lymphspalten eindringen.
Das Stadium eruptionis beginnt mit dem Erscheinen der Membran, die
sich theils durch Weiterschieben der Ränder, theils durch Confluiren mit den
in der Umgebung entstandenen Membranen zu einem den ganzen Eachen
auskleidenden Belage ausbreiten kann. Stets geht, wie Klebs gezeigt, der
Entstehung der Membran die Ansiedlung freiliegender Bacillen auf der Schleim-
hautoberfläche vorher. Entsprechend dem Sauerstoöbedürfnis und der Vor-
liebe der Bacillen für das Cylinderepithel schreitet der Belag von dem Rachen
nach den Luftwegen fort, wo er erst an den Alveolen der Lunge Halt macht.
In der Regel, schwere Fälle ausgenommen, bleibt der Bacillus auf die
Oberfläche dieser Schleimhäute beschi^änkt und der übrige Organismus wiixl
nur durch die Resorption der von ihnen producirten Toxine in Mitleidenschaft
gezogen. Dabei scheinen die fi'ei der Schleimhaut aufliegenden Bacillen von
grösserer Bedeutung zu ^ein, als die in die gefässlosen Membranen ein-
geschlossenen. Die Schwere der toxischen Erscheinungen hängt ab
1. von der Menge der Bacillen, respective der Ausdehnung der von
ihnen ergriffenen Schleimhautoberfläche;
2. von dem Virulenzgrade, d, h. der Fähigkeit der Bacillen, Toxin zu
produciren. Man kann sagen, dass bei schwer verlaufenden Fällen meist
hochvirulente Bacillen gefunden werden, doch nicht umgekehrt;
3. von den Resorptionsverhältnissen, welche sich an der gerade er-
griffenen Schleimhaut voi'finden;
DIPHTHERIE. 427
4. von der individuellen Widerstandsfähigkeit gegenüber den Toxinen.
Dieselbe ist wie oben auseinandergesetzt, bei Kindern in der Kegel gering,
bei Erwachsenen dagegen nicht selten so gross, dass trotz zahlreicher auf der
Schleimhautoberfläche vorhandenen virulenten Diphtheriebacillen die diphthe-
rischen Intoxicationserscheinungen völlig ausbleiben können. Da wo sie in
Erscheinung treten, kommt es ähnlich wie bei den Thierversuchen zu Albu-
minurie, Unregelmässigkeit der Herzthätigkeit und nach Ablauf der Er-
krankung zu multipler peripherer Neuritis. Ob das die Diphtherie meist
begleitende Fieber und die Leucocytose auf die Resorption der Proteine oder
auf die Wirkung der gleichzeitig vorhandenen Streptococcen zurückzuführen
ist, bleibt noch unentschieden. Dagegen ist eine dritte Reihe von Symptomen :
die suppurativen Lymphdrüsenentzündungen, Pneumonien, Otitis, Gelenker-
güsse etc. mit Sicherheit auf die Misch- und Secundärinfection mit den
pyogenen Coccen zu beziehen.
Geht die Erkrankung in Heilung aus, so schwinden die Symptome
in anderer Reihenfolge. Am frühesten erlischt das Fieber und die damit zu-
sammenhängenden Erscheinungen, soweit es nicht durch Complicationen unter-
halten wird. Zu welchem Zeitpunkt die Wirkung der Toxine erlischt, ist
schwer zu bestimmen, da die durch sie gesetzten Veränderungen mit ihren
Folgezuständen sich noch weit in die Reconvalescenz hineinerstrecken können.
Als letztes der eigentlich diphtherischen Symptome schwinden die örtlichen
Veränderungen, die Membranen, die oft noch zu einer Zeit bestehen können,
in welcher jede Spur von Allgemeinerscheinungen fehlt. Die durch Secundär-
infection veranlassten Complicationen laufen unabhängig von diesen Vorgängen
nebenher. Den Schlüssel für das Verständnis dieses Heilungsmechanismus
liefert die früher erwähnte Fähigkeit des empfänglichen Körpers, unter dem
Einfluss des Krankheitsprocesses gewisse antitoxisch wirkende Stoffe zu bilden.
In dem Maasse, in dem diese Fähigkeit mit der Dauer der Krankheit erstarkt,
werden die angesammelten und die neugebildeten Giftmengen vernichtet, nur
ein kleiner Theil derselben wird durch den Urin ausgeschieden. Die örtlichen
Vorgänge werden erst später von diesem Immunisirungs-Vorgange berührt.
Der Einfluss desselben äussert sich zumeist darin, dass die weitere Aus-
breitung der Membranen sistirt, ohne dass zunächst wenigstens die Vege-
tationsfähigkeit der Bacillen auf der Schleimhaut beeinträchtigt erscheint.
Das Letztere würde erst später bei Entwickelung des immunen Zustandes
eintreten, allein schon ehe dieser erreicht wird, laufen in den Membranen
selbst Vorgänge ab, die einen rascheren Zerfall und ein allmäliges Ver-
schwinden der Bacillen herbeiführen. In dem Maasse, in welchem der Austritt
flbrinogener Substanz aus den Gefässen sistirt, zeigen die Membra^en gewisse
Alterserscheinungen. Von der Oberfläche her wandern zahlreiche Sapro-
phyten, insbesondere Staphylococcen in dichten Schwärmen ein, zwischen
denen die Diphtherie-Bacillen nahezu verschwinden und es erscheinen viel-
leicht angelockt durch die aus den absterbenden Bakterien frei werdenden
Proteine zahlreiche Leukocyten mit wohl erhaltenen Kernen. Dadurch wird
die Consistenz und der Zusammenhang der Membranen gelockert, die zierlichen
Fibrinnetze und Bälkchen des Faserstoö'gerüstes verschwinden und die ganze
Membran wird schliesslich in eine breiige, gelbliche Masse umgewandelt, die
durch Schlingbewegungen leicht entfernt werden kann und unter welcher die
epithelentblösste Schleimhaut zu Tage tritt.
Klinischer Verlauf der Diphtherie: Bei der Schilderung des klini-
schen Bildes der Diphtherie ist zu beachten, dass die am meisten hervortre-
tenden örtlichen Symptome und bis zu einem gewissen Grade auch die Inten-
sität der toxischen Erscheinungen durchaus abhängig sind von der Localisation
der Erkrankung und daher eigentlich für jede Körperregion verschieden sind.
Eine weitere Reihe von Complicationen erleidet dasselbe durch das Hinzutreten
428 DIPHTHERIE.
anderer pathogener Bakterienarten, insbesondere der Streptococcen, denen
wiederum eine geradezu unabsehbare Mannigfaltigkeit der im Organismus
bewirkten Störungen zukommt. Angesichts der Unmöglichkeit einer erschöpfen-
den Darstellung derselben beschränke ich mich auf die Schilderung derjenigen
Form, in welcher die Diphtherie weitaus am häufigsten und verschiedenartig-
sten auftritt: der Rachendiphtherie mit ihren Folgezuständen und verweise
betreffs der anderen auf den Abschnitt, der von den selteneren Localisationen
der Diphtherie handelt.
Man unterscheidet zunächst primäre und sekundäre Diphtherie d. h.
solche, die im Anschluss an andere Erkrankungen entstanden sind. Unter
den primären uncomplicirten Rachendiphtherien ist es zweckmässig nach der
grösseren oder geringeren Ausbreitung der Membranen eine localisirte und
eine progrediente Form der Diphtherie zu trennen. Die Intensität der
toxischen Erscheinungen geht zumeist parallel mit der örtlichen Ausdehnung
der Affection. In den seltenen Fällen, wo sie bei verhältnismässig unbedeu-
tender Membranbildung in den Vordergrund der klinischen Bilder tritt, kann
man von einer hypertoxischen Form der Diphtherie sprechen. Diese
Gruppe von Fällen, bei welchen es sich im Wesentlichen um Störungen han-
delt, die durch die Lebensthätigkeit des Löftler'schen Bacillus allein hervor-
gebracht sind (die Angine diphtherique pure Grancher's) stehen diejenigen
gegenüber, in welchen neben dem Diphtherie-Bacillus noch andere pathogene
Mikroorganismen bestimmenden Einfluss auf den Krankheitsverlauf haben;
unter diesen als wichtigste die durch Mischinfection mit Streptococcen veran-
lasste septicaemische Diphtherie. Eine strenge Trennung der einzelnen
Formen lässt sich übrigens nicht durchführen und gerade bei der Rachen-
diphtherie fehlen septische Erscheinungen fast in keinem Falle.
Die im Rachen localisirte Diphtherie ist diejenige Form, an wel-
cher vorzugsweise ältere Kinder und Erwachsene, kurz die wenigen disponirten
Individuen erkranken. Vor dem 5. Lebensjahre Avird sie ungleich seltener
beobachtet. Ihr Beginn ist manchmal unbemerkt, meist aber durch eine deut-
liche fieberhafte Erhebung gekennzeichnet. Dieselbe ist von Mattigkeit, Un-
lustgefühl auch wohl Kopfschmerz begleitet. Schlingbeschwerden sind meist,
doch nicht immer vorhanden. Untersucht man den Rachen ganz im Beginn,
so trifft man denselben deutlich gerötliet, die Schleimliaut feucht glänzend,
leicht ödematös, die Tonsillen massig geschwellt. Die Bildung der Mem-
branen beginnt meist auf einer Tonsille, indem sich ein oder mehrere weisse
Plaques_ auf der Höhe der Schleimhautwülste erheben. Seltener bilden sie sich
zuerst in den Lakunen und zeigen dann meist zarte reifartige Höfe um die
Ränder. Durch Vorschieben derselben fliessen sie schliesslich zu gebuchteten
Figuren oder zu einer die ganze Tonsille bedeckenden Membran zusammen.
Sehr frühzeitig greift die Erkrankung auf die andere Tonsille zumeist auf die
prominenteste Stelle derselben über ; auch die entsprechende Stelle der Seiten-
wand des Zäpfchens und die Spitze des Gaumenbogens bedeckt sich mit den
gleichen Belägen. Dieselben zeigen im Vergleich zu den gleich zu erwäh-
nenden eine mehr morsche Consistenz, lassen sich nur in kleinen Fetzen und
unter Verletzung der Schleimhaut abziehen. Die submaxillaren Lymphdrüsen
sind geschwellt und etwas auf Druck empfindlich. Die sämmtlichen Verän-
derungen können sich in Zeit von 2 — 4 Tagen entwickeln; dann sinkt das
Fieber, die weitere Ausdehnung der Membranen sistirt, sie lösen sich ab oder
gehen die früher erwähnten Veränderungen ein. Appetit und Wohlbefinden
der Kranken kehren wieder und in w'eiteren 3 — 5 Tagen ist der Kranke l)is
auf eine stärkere Röthung der Rachenorgane wieder genesen. Neben dieser
leichtesten Form werden aber auch alle Ueliergänge zu den septischen mit
hohem Fieber, Albuminurie und Drüsenschwellungen, sowie solche mit Aus-
breitung der Membranen auf die hintere Rachenwand, vorübergehender
DIPHTHERIE. 429
Schweratlimigkeit und nachfolgenden Lähmungen beobachtet. Auch die Dauer
kann eine abnorm lange sein, indem bei sonst ungestörtem Allgemeinbefinden
einzelne diphtherische Plaques durch 40 und mehr Tage unverändert bestehen
bleiben. (Cadet de Gassicourt.)
Die progrediente Form der Diphtherie kommt im Gegensatz
zu den vorigen mehr in den früheren Lebensjahren vor und sie ist es, welche
die enorme Sterblichkeit an Diphtherie in dieser Lebensperiode veranlasst.
Sie beginnt womöglich noch unauffälliger als die vorige ; insbesondere werden
Schlingbeschwerden nicht oder erst spät von den Kindern angegeben. Häufig
gibt erst die Mattigkeit, Blässe und Stille des kleinen Patienten oder eine leichte
Temperatursteigerung Veranlassung zur Untersuchung des Ptachens, der dann
oft schon grossentheils mit Membranen ausgekleidet ist. Daneben erscheint
die Rachenschleimhaut nur wenig geröthet und geschwellt. Auch hier ist der
Beginn in der Piegel einseitig, von ein oder zwei fibrinösen Plaques aus-
gehend; eine multiple disseminirte Bildung derselben wie in der vorigen Form
wird kaum beobachtet.
Die Membranen sind deutlich über die Schleimhaut erhaben, scharf-
randig, von zäh elastischer Consistenz und lassen sich in grösseren Fetzen von
der Schleimhaut abziehen. Sie breiten sich ungemein rasch in die Fläche
aus, springen auf die andere Tonsille über, überziehen diese und die Uvula
mit zusammenhängenden Belägen. Auch die anstossenden Partien der Gaumen-
bögen und die hintere Rachenwand werden damit bedeckt. Behinderte Nasen-
athmung und seröser Ausfluss deuten darauf hin, dass auch die hinteren
Partien der Nase ergriffen sind, jedoch nur in seltenen Fällen reichen die
Membranen so weit nach vorne, dass die Membranen in den Nasenlöchern
sichtbar werden. Am meisten gefürchtet ist das Uebergreifen der Membranen
auf den Larynx. Es geschieht dies oft sprungweise, ohne dass die hintere
oder seitliche Rachenwand angegriffen zu sein braucht und in schweren Fällen
schon am zweiten, dritten Krankheitstage. Heiserkeit, rauher bellender Husten,
Aphonie sind die Vorläufer. Alsdann kommt es zu dem schon früher ge-
schilderten Bilde der Laryngostenose und des absteigenden Croup. Die be-
gleitenden Erscheinungen können äusserst stürmische sein von Anfang an
hohes, kaum remittirendes Fieber mit hochgradiger Mattigkeit, Blässe, Be-
nommenheit, starke Schwellung der submaxillaren Lymphdrüsen und Album-
inurie. In anderen Fällen besteht nur geringes, unregelmässiges Fieber und
geringe Störung des Allgemeinbefindens solange die Erkrankung die Trachea
nicht erreicht hat und steigt erst nach vorgenommener Tracheotomie. Der
Process kann übrigens an jeder beliebiger Stelle Halt machen und in Heilung
übergehen. Die mittlere Dauer dieser Fälle beträgt 8 — 14 Tage.
Nicht immer ist Rachen und Trachea so gleichmässig ergriffen. Die
Rachenaffection kann unbedeutend, localisirt auftreten ; sie kann
schon abgelaufen sein, wenn ganz plötzlich und unerwartet die Larynxdiphtherie
einsetzt. Andere Male besitzt die Aff'ection eine ganz auffällige Tendenz, nach
Mund und Nase fortzuschreiten. Alsdann bedecken sich der harte Gaumen,
Kiefer, Lippen, Nasenlöcher mit diphtherischen Membranen, während der
Larynx verschont wird. Da wo nicht durch das unautlialtsame Fortschreiten
der Membranen der suffocatorische Tod herbeigeführt wird, sieht man die eine
oder andere der toxischen Erscheinungen das Bild beherrschen. So kann ein
plötzliches Sinken des Blutdrucks, eine fahle Blässe, kleiner, unregelmässiger,
verlangsamter, zuletzt unzählbarer Puls, Verbreiterung der Herzdämpfung auf-
treten und zum Tod im Collaps führen. Oder nach Rückbildung der ül)rigen
Erscheinungen bleibt hochgradige Albuminurie, Anämie, Anorexie, Schwäche
des Kindes bestehen. Es kommt zu leichten Oedemen und schliesslich zum
Exitus unter urämischen oder hydropischen Erscheinungen.
430 DIPHTHERIE.
Verminderte Beweglichkeit am weichen Gaumen, ungleiche Höhe der
Gaumenbögen werden nicht selten noch auf der Höhe und unmittelbar im
Anschluss an besonders heftige örtliche Entzündungserscheinungen beobachtet
und sind wahrscheinlich als eine durch Oedem oder Degeneration der Muskel-
fasern bedingte Functionsstörung aufzufassen. Terschieden davon sind die
Lähmungen, welche erst, nachdem die Rachenerkrankung bereits ihre Ahme
Überschlitten oder in voller Eeconvalescenz 1 — 2 Wochen nach Schwund der
Membranen bisweilen auch noch später sich einstellen. Sie werden als posV
diphtherische Lähmungen bezeichnet. Sie entsprechen im anatomischen
wie im klinischen Bilde einer peripheren, multiplen, degenerativen Neuritis,
von der sie sich jedoch durch die gesetzmässige Entwicklung, den fieberlosen
Verlauf und das Fehlen der Schmerzen und Parästhesien unterscheiden. Als
Vorbote derselben schwindet häufig, doch nicht immer das Kniephänomen, um
oft erst nach Monaten wieder zu erscheinen. Den Beginn macht die Gaumen-
lähmung : die Sprache wii'd näselnd, Getränke regurgitiren durch die Xase
und die Untersuchung ergibt alsdann eine totale Uubeweglichkeit des weichen
Gaumens, die nach 4 — 6 Wochen wiederum verschwindet. Dabei kann die
Sache ihr Bewenden haben oder es schliesst sich eine Accommodationsparese
an ; die Kinder können nicht mehr in der Xähe lesen. Andere Augenmuskel-
störungen, Lähmung des Abducens oder totale Ophthalmoplegie werden nur in
den schwersten Fällen beobachtet. Nächst Gaumen und Ciliarmuskel wird die
Musculatur des Stammes und der Extremitäten, insbesondere der unteren, mit
Vorliebe befallen. Der Kranke ermüdet rasch, der Gang wird unsicher, schwan-
kend; die Bewegungen der Beine zeigen deutliche Ataxie. Auch der Hände-
druck wird schwächer : feinere , Bewegungen können nicht mehr ausgeführt
werden. Schliesslich nimmt die Schwäche so zu, dass die Glieder nicht melu'
von der Unterlage erhoben werden können, die Sehnem'eflexe sind erloschen,
während die Hautreflexe erhalten bleiben ; die Muskeln magern rapid ab und
zeigen Schwund der faradischen und deutliche Entartungsreaktion. Sensibilität
und vor allem der Piaumsinn ist herabgesetzt, so dass die Form der Gegen-
stände nicht mehr durch das Gefühl erkannt wird. Auch die Muskeln des
Stammes sowie das Zwerchfell werden ergrifi'en und es können dadurch direct
das Leben bedi'ohende Erscheinungen hervorgerufen werden. Husten und lautes
Sprechen werden unmöglich, die Athmung wii'd sehr frequent, rein thorakal, das
Abdomen inspii-atorisch eingezogen. Der Patient geht, wenn die Störung andauert,
in einem Anfall von Dyspnoe zu Grunde. Eine andere der Diphtherie eigenthümliche
Lähmungsform ist die sensil)le Kehlkopfs- oder Schlundlähmung. Es besteht Anä-
sthesie und Ai'eflexie der Schleimhaut des Piachens und des Kehlkopfeinganges,
häufig auch leichte Motilitätsstörung im Larynx. Bei jedem Versuch zu schlingen
gelangen Speisetheile in die Luftröhre und erregen anhaltende Hustenparo-
xysmen und Erbrechen. Am bedrohlichsten ist die Lage, wenn sich noch Er-
scheinungen von Seiten des Herzens hinzugesellen, die alsdann wahrscheinlich
auf einer Erkrankung der die Herzactionen regulirenden Xerven beruhen und
meist mit dem Tode des Patienten enden. Falls jedoch der Ivi-anke nicht den
durch die Lähmungen bedingten Functionsstörungen erliegt, kann selbst in
den hochgradigsten Fällen noch Heilung und volle Wiederherstellung eintreten,
freilich oft erst nach Monaten und Ziemssex hat in einem Falle noch nach
Ablauf eines Jahres Abweichungen der Xerven von dem normalen elektrischen
Verhalten constatirt.
Die während und nach Ablauf der Diphtherie auftretenden Störungen
der Function des Herzens sind gerade in letzter Zeit Gegenstand ein-
gehender Untersuchungen geworden ( Veeoxese, Heubxer). In fast allen schwe-
reren Fällen von Diphtherie wird meist schon in der ersten Krankheitswoche
ein beträchtliches Sinken des Blutdruckes constatirt. Schon in dieser Zeit kann
unter den oben geschilderten Erscheinungen der acute Herztod eintreten,
DIPHTHERIE. 431
wobei dann vorwiegend degenerative Erscheinungen, Wirkungen des im Blute
kreisenden Dipliteriekeims an den Muskeln vielleicht auch an den Ganglien des
Herzens gefunden werden. Insbesondere ist dies bei den septischen Formen
der Diphtherie der Fall. Verschieden davon ist die als Myocarditis diphtherica
von Leyden und Uneuh geschilderte Erkrankung. Dieselbe entwickelt sich nie-
mals vor Ablauf der ersten Krankheitswoche. Der Puls wird klein, unregelmässig,
leicht unterdrückbar, die Herztöne sind dumpf, häufig verdoppelt, die Herz-
dämpfung nach links, namentlich aber nach rechts hin verbreitert. Die Kinder
scheuen instinctiv jede stärkere Bewegung, haben aber sonst weder subjective
noch objective auf die Herzerkrankung hinweisende Störungen. Dauer 3 — 4
Wochen, Ausgang meist in Genesung. Die spärlichen pathologisch-anatomi-
schen Befunde zeigen das Bild einer interstitiellen Myocarditis, deren Anfänge
l)ereits im acuten Stadium der Diphtherie zu erkennen sind. Derartige Zu-
stände werden übrigens auch nach anderen Infectionskrankheiten häufig beob-
achtet, so dass sie nicht als für Diphtherie charakteristisch betrachtet werden
können.
Der bekannteste und am meisten gefürchtete Zufall ist die am Ende der
örtlichen Erkrankung oder inmitten der Reconvalescenz eintretende acute
Herzlähmung. Sie kommt ausschliesslich bei etwas älteren Kindern und
nach schwereren Erkrankungen vor. Obgleich keinerlei ernsteren Krankheits-
symptome mehr bestehen, so zeigen die Kinder doch eine aufiallende Schwäche,
Blässe, Schlaflosigkeit, Unlust zum Spielen und zur Nahrungsaufnahme. Den
eigentlichen Anfall pflegen Brechreiz, heftige Schmerzanfälle im Epigastrium,
auch wohl Diarrhoeen anzukündigen. Der Puls wird klein, unregelmässig, sinkt
vorübergehend auf 60 — 40 Schläge. Die Leber schwillt an, es erscheint
Eiweiss im Harn und unter fortdauernder Vergrösserung der Herzdämpfung
tritt in Coma der Exitus letalis ein. Manchmal zieht sich der Zustand länger
hin, es kommt zu wiederholten Synkopeanfällen und bei einer zufälligen, stär-
keren Bewegung, Aufsetzen, Husten, sinkt der Kranke leblos zurück. Indess
kommt auch Genesung nach einer langedauernden Pteconvalescenz vor. Eine
einheitliche Erklärung dieser Zufälle steht noch aus. Der Umstand, dass sie
zeitlich mit dem Eintritt der neuritischen Veränderungen in den peripheren
Nerven zusammenfallen, während in dem Herzen selbst häufig keine entspre-
chenden Läsionen gefunden wurden, dass ferner für einzelne Fälle directe
Degenerationsprocesse an Nervus vagus und am Sympathicus (Plexus coeliacus)
constatirt worden, macht es wahrscheinlich, dass diese wenigstens in einem
Theil der Fälle die Ursache der Herzlähmung und dass diese selbst sonach
Theilerscheinung der oben erwähnten multiplen Neuritis, sei.
Vielfach wird der Verlauf auch durch das Hinzutreten anderweitiger
bakterieller Erkrankungen complicirt. Die wichtigste und häufigste derselben
ist die Pneumonie und die Bronchitis. Dieselben stellen sich meist im
Anschluss an Tracheal- und Bronchialdiphtherie ein. Die letztere bleibt häufig
nach Abstossung der Membranen zurück ; besonders gefährlich ist sie bei
kleinen Kindern, deren Expektorationskraft eine so geringe ist. Fast regel-
mässig findet man bei diesen die letzten Verzweigungen der Bronchien mit
eitrigem Secrete erfüllt. Kleine lobuläre pneumonische Herde düi'ften
bei einigermassen ausgedehnter Erkrankung des Bronchialbaumes kaum
jemals vermisst werden und an der Entstehung des den absteigenden
Croup begleitenden Fiebers betheiligt sein. Physikalisch nachweisbar werden
sie erst, wenn sie eine beträchtlichere Grösse erreicht haben. Sie finden sich
meist in den hinteren und unteren Partien der Lunge. Ihr Verhalten ent-
spricht dem der gewöhnlichen lobulären Pneumonien. In Verbindung mit dem
absteigenden Croup bilden sie eine der häufigsten Todesursachen. Ist die
Diphtherie abgelaufen, so ist der günstige Ausgang die Ptegel. Die nur selten
432 DIPHTHERIE.
beobacliteten Schluckpneimiomen geben zu Lmigenabscess, Gangrän und eitrigem
Erguss in die Pleura Veranlassung.
Auch eigentlich septische, durch Invasion von Streptococcen veranlasste
Complicationen können vorkommen, so die gleich zu erwähnende suppurative
Entzündung der submaxillaren Lymphdrüsen, Otitis media, Ulcerationen in
Eachen und Nase, Exantheme und Haemorrhagien auf der Haut etc., ohne den
Charakter im Allgemeinen zu ändern, doch bilden diese Fälle den Uebergang
zu den folgenden Gruppen der septicae mischen Diphtherie. Dieselbe
kommt in allen Lebensaltern vor; sie ist es, die gerade bei älteren Kindern
und Erwachsenen die bösartig verlaufenden Fälle ausmacht. Li den schlimmsten
Fällen lässt schon der Anblick des Kranken die Gefahr erkennen. Er liegt
kraftlos, apathisch, oder in leicht benommenem Zustande zu Bett. Das Gesicht
ist blass, wie gedunsen, der Teint bleifarben. Die Seitentheile des Halses
sind stark geschwellt; doch fühlt man die beträchtlich vergrösserten Drüsen
nur undeutlich inmitten des diffusen Oedems der umgebenden Weichtheile. Die
Augen sind glanzlos, die Nase scharf vorspringend, leicht cyanotisch verfärbt;
Nasenlöcher und Oberlippe von dem serös-jauchigen Nasensecret excoriirt.
Der Mund steht offen und lässt gleichfalls eine dünne bräunlich gefärbte
Flüssigkeit ausfliessen. Es besteht Fötor ex ore. Die Lispection ergibt die
Weichtheile des Rachens, Tonsillen, Gaumenbögen und Zäpfchen stark ge-
röthet und so geschwellt, dass der Durchtritt der Luft erschwert ist; auf
denselben ein grauweisses, schmieriges Exsudat, das auch die hintere
Eachenwand und den Nasenrachenraum bedeckt. Dagegen bleiben die Luft-
wege oft auffälliger Weise frei und selbst, wenn es zur Bildung von Mem-
branen im Kehlkopf kommt, erreicht die Athemnoth selten so hohe Grade, dass
die Tracheotomie nothwendig wird. Dabei besteht Anorexie meist auch Un-
fähigkeit zu schlingen; sehr frequenter, leicht unterdrückbarer Puls. Die Leber
ist vergrössert, die Milz palpabel, der Urin spärlich, stark eiweisshaltig; die
Extremitäten kühl, livid verfärbt. Der Beginn und Verlauf dieser schwersten
Fälle ist meist ein acuter, sie führen in wenigen Tagen zum Tode. Die
Temperatur ist von Anfang an oder im Verlaufe normal, eher subnormal. In
anderen derartigen Fällen trifft man auch enorm dicke, knorpelharte Mem-
branen, deren Unterfläche bereits in stinkende Fäulnis übergegangen; oder
es kommt zu ausgedehnterem Gangrän und Zerfall der Schleimhaut, der dann
in der Regel vor dem Kehlkopf oder der Trachea Halt macht. Da wo die Mem-
branbildung auf die Trachea fortschreitet, unterscheidet sie sich typisch von
den festen leicht ablösbaren Ausgüssen der vorigen Form. Man findet hier
zarte, dünne, schwer ablösbare Beläge, durch welche man die stark geröthete
und mit Hämorrhagien besetzte Schleimhaut durchschimmern sieht. Wenn die
Erkrankung weniger stürmisch auftritt, ist sie von hohem Fieber begleitet und
weist eine Menge weiterer Complicationen auf. Die geschwellten sub-
maxillaren Lymphdrüsen schmelzen sammt dem umgebenden Gewebe zu mächtigen
Eiterhöhlen ein, in deren Grund die grossen Halsgefässe blossliegen. Auf dem
Wege der Tuben gelangt septisches Material in die Paukenhöhle und ruft dort
eine eitrige Mittelohrentzündung hervor. Doch wird diese Complication sehr
viel seltener beobachtet als nach Scharlach. Noch seltener erfolgt eine Aus-
breitung der Entzündung von der Nase auf die Conjunctiva. Auf der Haut
erscheinen scharlachähnliche Exantheme und Haemorrhagien. Pneumonie, Nephri-
tis, ausgedehnte Phlegmonen und selbst ausgesprochen pyämische Erschei-
nungen decimiren noch die geringe Zahl derjenigen, welche die erste Attaque
der Krankheit überstanden.
Die liier gescliilderte Form der Diphtherie wurde von Teousseau seiner Zeit als
die toxische bezeichnet tind der forme infectieuse (unserer progressiven) gegenübergestellt.
In der That ist, wenn man von der multiplen Localisation der Streptococcen absieht, die
schwere, die Herzaktion lähmende Wirkung des combinirten Streptoccocen- und Diplithe-
DIPHTHERIE. 433
rietoxins die weitaus hervorstechendste und wichtigste Eigenthümlichkeit derselben. Wenn
ich in der Eintheilung der Fälle noch einer besonderen hypertoxischen Form Erwähnung
gethan habe, so verstehe ich darunter Fälle, in denen die Membranbildung eine noch
geringfügigere, die toxische Erscheinung eine noch vehementere, dagegen die sonst septi-
sche Fälle auszeichnenden Merkmale (Lymphdrüsenschwellung etc.) fehlen. Es sind dies
die Fälle, welche in Zeit von Stunden, manchmal sogar noch ehe es zur Bildung von Mem-
branen gekommen, der Intoxication erliegen. Sie gaben Veranlassung zu der auch von
Buhl vertretenen Ansicht, dass die Membran nur die Folgeerscheinung der diphtherischen
Allgemeinintoxication sei. Nachdem es Morel und mir gelungen, auf der dunkelgerötheten
Piachenschleimhaut solcher Fälle virulente Diphtheriebacillen in grosser Zahl nachzuweisen,
kann kein Zweifel darüber bestehen, dass es sich hier zunächst um eine örtliche Affection
handelt. Ob die schwere Intoxication der ungewöhnlichen Zahl und Wirkung der atif der
Schleimhaut befindlichen Diphtherie-Bacillen allein oder einer foudroyant verlaufenden
septischen Diphtherie, bei der es in Anbetracht der kurzen Zeit noch nicht zu den typischen
Localisationen der Streptococcen gekommen, zuzuschreiben sei, müssen erst weitere Unter-
suchungen entscheiden.
Es erübrigt noch, die selteneren Localisationen und Er-
scheinungsweisen der Diphtherie in Kürze zu erwähnen. Nächst dem
Eachen wird am häufigsten die Nasenhöhle von primärer Diphtherie be-
fallen; ja sie erscheint bei Säuglingen der ersten Monate geradezu der be-
vorzugte Sitz derselben; freilich breitet sie sich bei diesen von dort rasch
nach unten zu aus. Sekundär wird sie meist vom Rachen aus und fast regel-
mässig bei den septischen Formen der Diphtherie befallen. Die klinischen
Symptome derselben sind Behinderung der Athmung, Ausschnauben oder Sicht-
barwerden der Membranen, seröser ätzender Ausfluss, Schwellung der am Mund-
höhlenboden gelegenen Lymphdrüsen. Sie kann die Rachenaffection über-
dauern und kann nach Tobiesen den Bacillen auch nach Ablauf der Er-
krankung noch durch lange Zeit als Aufenthaltsort dienen. Durch die Unter-
suchungen Baginsky's wissen wir, dass die als Rhinitis membranacea bekannte
gutartige Erkrankung diphtherischer Natur sein kann. Die gleiche Erfahrung
machte ich in einen Falle vom Pharyngitis crouposa, einer chronischen fieber-
losen pseudomembranösen Entzündung der hinteren Rachenwand.
Die primäre Infection der Luftwege ist gegenwärtig anscheinend seltener
geworden; doch behauptet Maetin neuerdings auf Grund bakteriologischer Be-
funde, dass die Lunge viel öfter als man annehme, der Ausgangspunkt der Diphthe-
rie sei. Meist handelt es sich um ein primäres Befallenwerden des Kehlkopfes
seltener des Bronchialbaumes; katarrhalische Erkrankungen begünstigen die In-
fection. Dieselbe kann dann nach oben (Croup ascendant) nach dem Rachen zu oder
nach unten fortschreiten und suffbcatorisch den Tod herbeiführen. Im Ganzen
ist jedoch die Erkrankung entschieden gutartiger und hat eine bessere Prognose
als der vom Rachen absteigende secundäre diphtherische Croup. Das häufigere
Vorkommen einer durch den Diphtherie-Bacillus veranlassten Entzündung
der Conjunctiva ist erst in jüngster Zeit bakteriologisch erwiesen worden.
Die zwei von mir beobachteten Fälle verliefen unter Fieber, aber ohne aus-
gesprochene Membranbildung günstig in wenigen Tagen. Die relative Gut-
artigkeit dieser Localisationen gegenüber denen, die primär im Rachen auf-
treten oder denselben passiren, ist in die Augen springend und dürite wohl
auf den Ausfall bösartiger Secundärinfectionen zu beziehen sein, während in
dem entzündeten Rachen jederzeit Streptococcen und andere pathogene Bakterien
in Menge vorhanden sind, welche den diphtherischen Process compliciren
können. Von geringerer klinischer Bedeutung ist die Diphtherie der äusseren
Haut und der Wunden (Brunner), da sie stets mit anderen pathogenen Bak-
terien combinirt ist und sich auf von vornherein lädirte und unsauber ge-
haltene Stellen beschränkt. Sie kann durch einfache antiseptische Behandlung
und Reinlichkeit hintangehalten werden. Doch kommen ausnahmsweise Läh-
mungen nach derselben vor (Roser). Das gleiche gilt von der Diphtherie der
Vulva, wovon Baginsky einen Fall in seinem Lehrbuch beschrieben hat.
Bibl. med. Wissenschaften I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. ^ö
434 DIPHTHERIE.
Die typische Erscheinungsweise der diphtherischen Localaffection ist die
Membran, die wie schon früher beschrieben, je nach der Art des Epithels, auf dem sie auf-
sitzt und den ausserdem noch Yorhaudenen Bakterien beträchtliche Verschiedenheiten auf-
weist. Indes kommen Fälle vor, in Avelchen die Anwesenheit der DiphtheriebaciUen ledig-
lich entzündliche oder katarrhalische, bisweilen von Fieber begleitete Zustände auf der
Schleimliaut hervorruft, ohne dass es jemals zur Bildung fibrinöser Exsudate kommt. Es
sind dies die von Trousseau, Gterhardt, Jacoby beschriebenen diphtherischen Anginen, Diph-
therien sine ot'-pDcpa, bei denen ich zuerst den bakteriologischen Kachweis der Diphtherie-
baciUen erbracht. Häufiger scheint dies auf anderen Schleimhäuten, so der Conjunctiva
und der Laryuxschleimhaut vorzukommen. Die Erkrankungen sind stets leichter Katur
und verlaufen auch bei längerer Dauer ohne toxische Begleiterscheinungen.
SeciUKläre Diphtherien. Es gehört zum Begriffe der secundären Dipli-
therien, dass die vorausgegangene (primäre) Erkranlvuug in einer gewissen ursäch-
lichen Beziehung zu der nachfolgenden Diphtherie steht. Es kann dies, wie sclion
früher auseinandergesetzt, in einem doppelten Siime der Fall sein, einmal durch die
Schaffung localer Zustände, welche die Ansiedlung der Bacillen begünstigen, zwei-
tens dui'ch Terininderung des vorher bestehenden Grades der Giftfestigkeit des Or-
ganismus. Das Erstere ist der Fall beispielsweise durch die entzündlichen Vorgänge,
die sich bei Masern in den Luftwegen, bei Scharlach im Bachen abspielen, und
welche, wie die Erfahrung lehrt, für die Localisation der nachfolgenden Diphtherien
von Bedeutung sind. Von weit grösserem Interesse ist der zweite Punkt, über den
wir bis jetzt allerdings noch wenig wissen. Indes spricht das gleich zu erwäh-
nende verschiedene Verhalten der secundären Diphtherien nach Masern und Schar-
lach entschieden in dem Siime, dass durch die genannten, vielleicht auch durch
andere Erkranlvungen eine Verminderung, aber auch eine Erhöhung der individu-
ellen Giftfestigkeit gegen Diphtherie hervorgerufen werden kann.
In diesem Sinne bieten die Masern das schlagendste Beispiel. Vielleicht
schon während, jedenfalls aber nach Ablauf derselben ist die Empfänglichkeit, für
Diphtherie eine wesentlich gesteigerte. Sie pflegt sich, je nachdem mehr die obere
oder die untere Partie der Luftwege von dem Masernkatarrh betroffen war, in der
Nase, Bachen, auch Conjunctiva, oder aber im Kehlkopf und Trachea zu localisii-en.
In dem letzteren weitaus gefährlicheren Falle bildet häufig die nach Masern
so oft zurückbleibende Heiserkeit den Uebergang zu den laryngostenotischen Erschei-
nungen der KehUvopfdiphtherie. Dieselbe schreitet dann meist imter stürmischen
Erscheinungen und hohem Fieber nach der Lunge vor und tödtet innerhalb weniger
Tage durch SuÖocation. Nach Moeel sollen jedoch auch sehr gutartige Formen
vorkommen und manche auffallend lang sich hinziehende Heiserkeit nach Masern
auf diphtherischer Infection beruhen. Am gutartigsten scheint die Affection der
Nase zu sein, die nach Ai't der Ehinitis membranacea verlaufen kann. Die im
Bachen beginnenden Fälle sind dubiös, sie haben im Allgemeinen die Tendenz, sich
nach abwärts auszubreiten. Die Häufigkeit der secundären Diphtherie nach Masern
weist übrigens grosse örtliche Verschiedenheiten auf: besonders verheerend tritt sie
in den mit ungenügenden IsoliiTäumen versehenen Kinderspitälern auf. Es spricht
dieser Umstand für eine dii'ecte Infection mit diphtherischem Virus. Auf der an-
deren Seite ist es auffallend, dass der nicht vii"ulente Pseudodiphtheriebacillus
gerade wähi'end der Masernei'krankuug im Munde der Kinder besonders häufig an-
getroffen wird.
In einem gewissen Gegensatz hierzu steht das Verhalten der Diphtherie
nach Scharlach. Es kann heute keinem Zweifel mehr unterliegen, dass die so-
genannten Scharlachdiphtherien (Hexoch's PharjTigitis necroticans) trotz der
grossen Aelmlichkeit des Krankheitsbildes nichts mit der echten Diphtherie
zu thun haben. Ja man kann sagen, dass die Krauken in dieser Periode des Scharlachs
eher eine verminderte Disposition für Diphtherie besitzen, indem Complicatiouen mit
echter Diphtherie trotz der zu aller Zeit gleichmässig vorhandenen Infectionsmöglichlveit
DIPHTHERIE. 435
erst in der Reconvalescenz in der zweiten oder dritten Woche nach Beginn der
Erkrankung aufzutreten pflegen. Dieselben sind im Rachen localisirt, sie können
wie in den von mir beobachteten Fällen darauf beschränkt bleiben oder aber durch
Absteigen in die Luftwege den Patienten tödten. Immerhin ist ihr Vorkommen
ein seltenes und mehr noch als bei den Masern auf die Spitäler beschränkt. Für
andere Infectionskrankheiten sind derartige Beziehungen zur Diphtherie nicht
bekannt. Drei Fälle von Diphtherie, die ich im Yerlaufe des Keuchhustens auf-^
treten sah , endeten , obgleich die Tracheotomie vorgenommen werden musste,
günstig.
Entsprechend dem wechselnden klinischen Bilde ist noch der pathologisch-
anatomische Befund in den Leichen der an Diphtherie Verstorbenen ein
sehr mannigfaltiger. Allen gemeinsam ist das Vorhandensein der Membranen,
deren Zusammensetzung bereits früher besprochen wird und die parenchymatöse
Degeneration der inneren Organe. Oertel hat weiterhin nekrobiotische Herde,
die er in und unter dem Epithel der Schleimhäute des Respirationstraktes und
des Rachens, in den benachbarten Lymphdrüsen und der Milz aufgefunden,
als charakteristische Aeusserungen des diphtherischen Alrus beschrieben.
Sie dürften jedoch eher den Streptococcen zur Last zu legen sein.
Bei den an der typischen progressiven Form Gestorbenen findet man
den Bronchialbaum bis zu den kleinsten Verzweigungen mit Membranen aus-
gegossen; in den Lungen die unteren Partien blutreich, atelektatisch die
oberen blass, mit Emphysemblasen durchsetzt. In länger dauernden Fällen
findet man lobulär pneumonische Herde, in den Unterlappen confluirend. Die
bakteriologische Untersuchung derselben ergibt neben Diphtherie-Bacillen
Pneumococcen oder Streptococcen. Der Verdauungstrakt ist wenig verändert.
Bei ausgedehnter Membranbildung trifft man an der Cardia und im Fundus
des Magens auf diphtherische Membranen; einmal sah ich sie auch am Anus.
Plaques und Mesenterialdrüsen sind geschwellt. Die Milz ist meist vergrössert,
die Follikel geschwellt; Leber grösser, blutreich, stellenweise verfettet. Oertel
beschreibt in der Leber wie in den Nieren Anhäufungen von Rundzellen im inter-
stitiellen Gewebe. Die Nieren zeigen makroskopisch ausser Blutreichthum keine
Veränderung. Auf Schnitten bemerkt man stark erweiterte Gefässe und degenera-
tive Vorgänge namentlich an den Endothelien der Glomerulicapillaren, schwächer
an den Epithelien der Harnkanälchen. Die Lymphdrüsen sind vergrössert, blut-
reich; die dem diphtherischen Herde nahe liegenden zeigen die oben erwähnten
nekrotischen Herde und Fibringerinnungen. Das Flerz ist gross, schlaff; die
Herzhöhlen erweitert, die Papillarmuskeln abgeplattet. Das Muskelfleisch ist
gelblich gesprenkelt, brüchig. DiemikroskopischeUntersuchung älterer
Fälle zeigt das Bild einer acuten interstitiellen Myocarditis mit herdförmigen
Kernwucherungen zwischen den Muskelfasern; daneben bald mehr, bald we-
niger ausgesprochene Veränderungen der Muskelfasern, die theils fettig, theils
wachsartig degenerirt sind; letzteres insbesondere bei den im akuten Stadium
erlegenen Fällen.
Von Welch ist vor Kurzem ein Fall mitgetheilt, in welchem in den frischen endo-
carditischen Veränderungen ein nicht virulenter Löfflerbacillns nachgewiesen wurde.
Oertel hat im Centralnervensystem bei acuten Erkrankungen Hyperämie und Blutungen
gesehen. Von D^j^rine und Stadthagen sind im. Rückenmark entzündliche, in Skle-
rose übergehende Herde beschrieben worden.
Die wichtigsten Veränderungen und insbesondere diejenigen, welche das
Bild der postdiphtherischen Lähmungen hervorrufen, spielen sich erst nach
Ablauf der akuten Erkrankung in dem peripheren Nervensystem ab. Ent-
sprechend dem klinischen Bilde einer Polyneuritis infectiosa findet man in den
die gelähmten Partien versorgenden Nerven, ausgesprochene Degeneration der
28*
436 DIPHTHERIE.
Fasern neben interstitiellen Wucherungsprocessen. Von Leydex und Hochhaus
sind auch degenerative Zustände in den Muskeln beobachtet.
Diagnose. So leicht die Diphtherie zu erkennen ist, wenn es sich um
zusammenhängende, dicke, den Rachen und Kehlkopf auskleidende Beläge,
verbunden mit den früher beschiiebenen Allgemeinerscheinungen handelt, so
schwierig kann dies bei der auf die Tonsillen localisirten oder der septischen
Form sich gestalten; ja es wird zur Unmöglichkeit, wenn sie sich in der Form
der diphtherischen Angina ohne Spur von Membranbildung darbietet. Immerhin
bietet die zäh-elastische Consistenz der echten diphtherischen Membranen,
die sich zwischen Objectträgern nur schwer und unvollkommen zerquetschen
lassen, die Confluenz und die Ausbreitung werthvoller Unterscheidungsmerkmale
gegenüber den breiartigen Belägen gewisser lacunärer Anginen der Scharlach-
Diphtherie und ähnlicher Erkrankungen. Allein auch wenn feste, zusammen-
hängende, nicht auf die Tonsillen beschränkte Membranen vorhanden sind,
ist eine Täuschung nicht ausgeschlossen, da es diphtheroide, durch Coccen
veranlasste Anginen gibt, welche alle diese Merkmale besitzen, ja sogar auf
den Kehlkopf fortschreiten und stenotische Erscheinungen hervorrufen können.
Ein Punkt, auf welchen ich bei der Differentialdiagnose grossen Werth zu
legen pflege, ist die Albuminurie, wenigstens in dem Sinne, dass das Vor-
handensein derselben entschieden zu Gunsten der Annahme einer diphtheri-
schen Erkrankung spricht. Allein alle diese Anhaltspunkte sind unsicher und
überall da, wo ein Zweifel über die Diagnose möglich, sollte man das ver-
hängnisvolle Wort Diphtherie nicht aussprechen, bevor man nicht versucht
hat, durch eine mikroskopische oder besser noch durch eine bakterio-
logische Untersuchung über den Fall ins Klare zu kommen. In Ueber-
einstimmung mit Heubner kann ich auf Grund mehrjähriger Erfahrungen
bestätigen, dass es in vielen, vielleicht den meisten Fällen gelingt, die Diagnose
schon mikroskopisch durch den Befund der charakteristischen Stäbchen zu
bestätigen oder dieselbe, was noch leichter ist, durch den Nachweis zahlloser
Coccen oder Bacteriengemenge zurückzuweisen.
Von grossem Nutzen erwies sich mir dabei die Verwendung der AVEiGERT'schen
Fibrinfärbungsmethode, welche in Bakteriengemengen die Stäbchen deutlich hervor-
treten lässt und noch den weiteren Vortheil bietet, die Anwesenheit und Anordnung des
Fibrins in den Membranen in schönster AVeise vorzuführen. Da wo in einem deutlichen,
dicken Belag Fibrin fehlt, x^flege ich von vornherein Diphtherie auszuschliessen. Umge-
kehrt, findet sich Fibrin in reichlicher Menge und gut gefärbten zierlichen Netzen, so
würde ich auch, wenn es mikroskopisch nicht gelingt, Bacillen zu finden, den Fall für
dubiös erklären.
Zur Erkennung der Bacillen trägt nicht nur ihre Keulenform und
ihr besonderes Verhalten gegenüber den Farbstoffen, sondern auch ihre La-
gerung bei. Sie sind meist in kleinen Häufchen gruppirt oder vereinzelt,
paarweise gekreuzt zu finden. Ihre Zahl ist gerade in den acutesten Fällen,
in welchen sich die Membranen rasch erneuern und ausbreiten, eine nicht
sehr grosse; deshalb werden sie wohl auch in den Trachealmembranen viel
spärlicher gefunden als in den Ptachenbelägen. Dafür sind sie aber alsdann
fast in Reincultur vorhanden, während sie in älteren Membranen der Mund-
höhle neben zahllosen anderen Bakterien liegen. Es ist dies, insofern man
darin eine langsamere Neubildung erblicken kann, eher ein prognostisch gün-
stiges Zeichen; freilich kann auch ein noch schwerer septischer Process an
Stelle des diphtherischen treten. Freilich gibt es Fälle, in welchen die
mikroskopische Diagnose im Zweifel lässt; alsdann bleibt nur die bakteriologische
Untersuchung mittelst des Culturverfahrens. Da dasselbe doch nur in Spi-
tälern mit gut eingerichteten Laboratorien durchgefülirt werden kann, verzichte
ich hier auf die Schilderung desselben (vgl. Bd. ^.Baderiologie und Hygiene^'}
Es ist der Vorschlag gemacht worden, in grösseren Städten besondere Sta-
tionen zu errichten, die sich mit der Durchfülirung dieser Untersuchungen
DIPHTHERIE. 437
befassen. Einstweilen wird aber sicherlicli die allgemeine Einführung und
Uebung der mikroskopischen Untersuchung der Membranen die Zahl der Fehl-
diagnosen und der zweifelhaften Fälle um ein Wesentliches verringern.
Prognose. Der Verlauf der Diphtherie ist nach Alter, Constitution der Kinder,
nach dem Charakter der Epidemie sehr verschieden. Weitaus am höchsten
ist die Sterblichkeit in den ersten 5 Lebensjahren und sinkt dann rasch mit
dem zunehmenden Alter. Der Grund dieses Verhältnisses liegt darin, dass
die Diphtherie in diesem am meisten disponirten Alter auch am häufigsten
die rasch tödtende progressive Form annimmt, während die weniger disponirten
höheren Lebensalter häufiger an der gutartigen localisii'ten Form erkranken.
Es geht dies aus der Häufigkeit hervor, mit welcher gerade in diesem Lebens-
alter die Tracheotomie ausgeführt werden muss. Die ungünstigen Heilungs-
percente der Tracheotomie im frühen Lebensalter sind schon fi'üher (siehe
Croup) besprochen. Nimmt man die Mittelzahl der geheilten Tracheotomien
zu 27^0 an und rechnet hiezu ca 10% Fälle, in welchen die Genesung ohne
Tracheotomie eintritt, so erhält man für die progressive Form eine Mortalität
von ca. 63 7o- Noch ungünstiger gestaltet sich die Prognose der Fälle mit
toxischem oder ausgesprochen septischem Charakter, sie düi'fte hier nahezu
907o erreichen. Die Mortalität der Diphtherie im Allgemeinen wurde bisher
z\\ischen 20 — 40% angegeben, die neueren Statistiken, in denen die Diagnose
dui'ch den Bacillenbefund controliit wurde, weisen mit unheimlicher Constanz
eine Mortalitätszifi'er zwischen 45 — 50% auf, ein Beweis, dass früher unter
der Zahl der Diphtherien manche nicht hierher gehörige Erkrankung geführt
wurde.
Im einzelnen Falle hängt der Ausgang der Diphtheritis noch wesentlich
von dem Kräftezustande des Patienten ab. Es bedarf keines Beweises,
dass schlecht genährte, durch vorausgegangene Erkrankungen geschwächte
Kinder der diphtherischen Intoxication und den Complicatiouen leichter er-
liegen als vorher gesunde und gut genälu'te. Endlich ist noch der Charakter
der Epidemie in Betracht zu ziehen. Derselbe wird bestimmt durch die
Art der Erkrankung, die vorherrschend dabei beobachtet wird, sowie durch
Schwankungen in der Art und der Intensität der pathogenen
Wirkung der Bacillen. So werden in manchen Epidemien auffallend häufig
Lähmungen beobachtet, während sie in anderen ein seltenes Vorkommnis sind.
Der Einfluss der Therapie macht sich in unzweideutiger Weise bei
den durch Tracheotomie, resp. Intubation Geretteten bemerkbar, die sonst
sicher der Suffbeation erlegen wären. Die Bedeutung der coupirenden ört-
lichen Behandlung ist leider durch die geringe Zahl der für ihre Anwendung
geeigneten Fälle beschränkt. Auch wenn die örtliche Erkrankung vorüber
ist, hat man immer noch an die Möglichkeit des acuten Herztodes oder
schwerer Paralysen zu denken und achte deshalb auf die dieselben ankün-
digenden Zeichen.
Prophylaxe imd Therapie: Erst die Entdeckung des Bacillus hat ^u
einer rationellen Prophylaxe und Therapie der Diphtheritis geführt. Die
ausschliessliche Quelle des Contagiums sind die Membranen und der Aus-
w^urf der Kranken. Sobald die Krankheit erkannt oder auch nur vermuthet
wird, ist der Patient zu isoliren; etwa noch in der Familie befindliche Kinder
sofort aus dem Hause zu entfernen und bis auf Weiteres ärztlich zu beobachten.
Alle Gegenstände, die mit dem Kranken in Berührung kommen, Wäsche,
Essgeschirre, Spielzeug, Bücher etc. sind nach dem Gebrauche entweder zu
vernichten oder zu desinficiren, vrozu schon halbstündiges energisches Aus-
kochen genügt. Ueberflüssige Möbel, Vorhänge u. ä. sind aus dem Zimmer
zu entfernen. Die pflegenden Personen sollen womöglich mit einem beson-
deren waschbaren Rock bekleidet, beim Verlassen des Zimmers und vor den
Mahlzeiten, die stets in einem anderen Räume einzunehmen sind, die Hände
438 DIPHTHERIE.
•waschen und desinficiren, den Mund mehrmals des Tages mit antiseptischen
Lösungen ausgurgeln. Es ist zu beachten, dass der Kranke auch nach Schwund
der Membranen noch anstecken kann und insbesondere, dass die Zimmer, in
denen er sich aufgehalten, erst nach einer ausgiebigen Desinfection und
Lüftung und womöglich nicht vor 1 — 2 Monaten wieder bezogen werden
dürfen. Leider sieht man trotzdem nicht selten weitere Erkrankungen in
denselben Räumen nachfolgen.
Die Behandlung der Diphtheritis zerfällt ebenso wie die Symptomatologie
in eine örtliche und eine allgemeine. Die örtlicheist, insoferne sie auf
die Vernichtung der Bacillen gerichtet ist, zugleich die causale und stellt,
wenn sie ihren Zweck erreicht, eine Coupirung des Krankheitsprocesses dar.
Die Untersuchungen, welche Löfflee über die Wirkung der einzelnen Anti-
septika auf die Aussaat und die Culturen des Diphtheritis-Bacillus angestellt
hat, haben endlich Klarheit und Methode in die Auswahl der Mittel
gebracht. Obgleich die Diphtheritis-Bacillen zu den wenig widerstands-
fähigen Bacterien gehören, so ist doch die Concentration derjenigen Des-
inficientien, welche die Bacillen schon bei kurz dauernder Berührung tödten,
eine so hohe, dass nur kleine Mengen davon in Verwendung kommen können.
Es empfiehlt sich daher neben dieser starken antiseptischen Lösung noch eine
schwächere zu verwenden, welche ohne Gefahr der Intoxication in grossen
Mengen angewandt werden kann und zur mechanischen Reinigung der Mund-
höhle, zum Loslösen und Wegschwemmen der gelockerten Membranen und
zur Auslaugung der darin enthaltenen Toxine dient. Dieselbe kann bei älteren
Kindern (jenseits des 3. oder 4. Lebensjahres) als Gurgelwasser verordnet
werden, bei jüngeren Kindern müssen Ausspritzungen des Mundes mittels
Spritze oder Gummiballon vorgenommen werden. Will man grössere Flüssig-
keitsmengen (1 — 2 Liter pro Sitzung) durchspülen, so benützt man am
besten einen über dem Bett hängenden Irrigator. Die Wahl des Zusatz-
mittels zur Flüssigkeit ist hier von untergeordneter Bedeutung. Als Gurgel-
wasser kann Carhol (ein Kinderlöffel einer 5^0 Lösung auf ein Trinkglas
Wasser), Creolin oder Lysol tropfenweise in ein Glas mit gekochtem Wasser,
Kalkwasser zu gleichen Theilen mit Wasser gemischt u. A. m. benutzt
werden. Zu den Berieselungen kann man bei kleinen Kindern einfach gekochtes
Wasser, bei älteren Ihymol oder Salicylsäure 1 : 1.000, Borsäure 1 — 1^1 ^ ver-
wenden. Auf Henoch's Empfeblung hin können auch Säuren, Essigsäure,
Milchsäure, Salzsäure zugemischt werden, nachdem saure Reaction dem Wachs-
thum und der Giftbildung der Diphtheritis-Bacillen schädlich ist.
Zur eigentlichen Desinfection dienen Sublimat oder das weniger unan-
genehm schmeckende Hydrargyrum cyanatum 1 — 2 : 1000, Liquor ferri sesqui-
chloraü mit 1 oder 2 Theilen Wasser verdünnt, Höllenstein Va — l7o- Die
schonendste und zweckmässigste Art der Application geschieht mittels
des Spray, der am besten aus Glas besteht und durch ein Metallgehäuse ge-
schützt wird.
Eine diesen Zwecken speciell angepasste Form habe ich in der „Wiener klinischen
Wochenschrift 1893, Nr. 7 n. ff." beschrieben. Bei Verwendung desselben wird die ganze
erkrankte Schleimhautpartie mit einer gieichmässig dünnen Schicht des Antisepticums
bedeckt. Dieselbe ist, wie ich durch Culturversuche erwiesen, im Stande, die freiliegenden
Bacillen sofort zu tödten und dadurch günstigen Falles das Fortschreiten der Membranen
zu hindern.
Die Concentration der angewandten Flüssigkeiten genügt aber, wie auch
LöFFLER gefunden, nicht, um die in den Membranen enthaltenen Bacillen zu
tödten, und damit den Herd der Krankheit auch thatsächlich zu zerstören. Dies
gelingt erst durch die gewaltsame Ablösung der Membranen und
Desinfection der entblössten Schleimhaut. Man benützt dazu meist Pinsel
oder Wattebauschen, die an der Spitze eines Holzstäbchens aufgedreht und
DIPHTHERIE. 439
in die betreffende Flüssigkeit getaucht werden. Mir hat sich ein schon von
Bretonneau angewandtes Verfahren am besten bewährt: kleine, nach der
Form und dem Umfang des Rachens zugeschnittene Schwämme werden an
einem gut fassenden Schwammhalter befestigt und in die Flüssigkeit ein-
getaucht. Der Schwamm wird mit oder auch ohne Führung des Auges in
den Rachen eingeführt, gegen die erkrankte Stelle angepresst und leicht ge-
dreht. Durch die Drehung werden erstlich die Membranen in relativ scho-
nender Weise entfernt und gleichzeitig eine frische mit dem Desinficiens ge-
tränkte Stelle des Schwammes auf die nunmehr entblösste Schleimhaut ge-
bracht. Ich pflege bei einer Sitzung ca. 5 Schwämme zu benützen, die Aus-
wischung aber nicht öfters als ein-, höchstens zweimal des Tages und nur an
den ersten zwei Krankheitstagen vorzunehmen.
In allen Fällen aber, wo bedrohliche Erscheinungen von Seiten des Herzens drohen,
wird man von dieser energischen Art der Localbehandlung abstehen müssen. Eine weitere
Contraindication liefern die mit septischen Erscheinungen complicirten Fälle, da die Desin-
fection gegenüber den im Gewebe sitzenden Streptococcen unwirksam und bei diesen wirk-
lich jede Läsion neue Eintrittspforten in die Blut- und Lymphbahnen schafft. Contrain-
dicirt — wenigstens als coupirende Methode — ist diese Behandlung ferner da, wo man
nicht mehr hoffen kann, den ganzen Herd zu zerstören, sobald also die Diphtherie über
ihre ursprüngliche Localisation auf den Tonsillen und deren Umgebung hinausgewandert
ist. Die beginnenden frischen Fälle sind die eigentliche Domäne der energischen Local-
behandlung.
Andere Methoden der localen Desinfection sind: Inhalation
antiseptischer Lösungen mittelst des SiEOLE'schen Dampfzerstäubers, Ein-
athmung von Gasen und Dämpfen (Terpentin, Theer), Einblasung von Pulvern :
Alaun, Calomel, Schwefel, Jodoform, Zucker, Kochsalz. Von Taube-Heubner
und Seibert sind besondere Spritzen zur submucösen Injection einer 2^0
Carbollösung in die Tonsillen empfohlen worden. In die Gruppe der örtlich
wirkenden Mittel gehören auch die auf die Aussenseite des Halses applicirten.
Weitaus am häufigsten gebraucht sind feuchtwarme, sog. PRiESSNiTz'sche U m-
schläge, die 2 — Sstündlich gewechselt werden. Ihre Anwendung geschieht
wohl in der von Oertel ausgesprochenen Idee, die entzündliche Reaction der
Schleimhaut und dadurch die Abstossung der Membranen zu fördern. Die
Eisbehandlung hat neuerdings in Mayer wiederum einen begeisterten Für-
sprecher gefunden. Er lässt continuirlich Eiscravatte tragen und Eisstückchen,
resp. Eiswasser schlucken. Eine besondere Indication dafür scheinen mir nur
die mit Schlingbeschwerden und starken entzündlichen Reizerscheinungen ein-
hergehende Fälle zu bieten. Bei derartigen, gewöhnlich ausgesprochen sep-
tischen Fällen ist auch jede verletzende örtliche Behandlung zu meiden. Man
muss sich hier auf ausgiebige Gurgelungen, Ausspülungen mit den schwächer
desinficirenden Lösungen, Einblasen von Jodoform, Kali chloricum beschränken
und das Hauptgewicht auf die Allgemeinbehandlung legen.
Die gleichen Grundsätze gelten für die Behandlung der Diphtherie auf anderen
Schleimhäuten. Die Nasendiphtherie wird, wo sie überhaupt eine besondere Therapie
verlangt, gewöhnlich mit Durchspülen oder Eingiessen (Rigauer) antiseptischer Lösung [Sali-
cylsäure,^ Borsäure, Carholsäure) behandelt. Jedoch besteht namentlich bei Anwendung von
Druck die Gefahr einer Infection des Mittelohrs. Ich beschränke daher die Spülungen auf
die nothwendigste Reinigung und bringe auch hier den Sublimatspray abwechselnd mit
dem Einblasen desinficirender Pulver {Arg. nitric, Jodol, Aristol etc.) in Anwendung. Bei
Diphtherie des Mundes, der Conjunctiva, der äusseren Haut bringt die Sub-
limaibeltandlung in Form von Umschlägen angewandt fast momentanen Erfolg. Die gegen
das Fortschreiten der Membranen nach dem Kehlkopf anzuwendenden Mittel, sowie die Be-
handlung der Laryngostenose und des absteigenden Croup sind bei dem letzt-
genannten Capitel erwähnt. {Vergl ds. Bd. p. 275.)
Auch bei den innerlich gereichten Mitteln denkt man vielfach an eine
local desinficirende Wirkung auf die Rachenorgane, die naturgemäss sehr viel
schwächer und unsicherer ist als die der obengenannten Methoden. Zwar ent-
behrt, wie die neueren Untersuchungen ergeben haben, das altehrwürdige Ka-
lium chloricum in der gewöhnlich angewandten 1 — 3% Lösung jedes tödtenden
Einflusses auf die Diphtherie-Bacillen. Trotzdem bleibt es wegen der anti-
440 DIPHTHERIE.
katarrhalischen Wirkung auf die Mundschleimhaut ein bei Diphtheritis ge-
schätztes Mittel. Insbesondere ist es da, wo gleichzeitig eine energische Subli-
matbehandlung geübt wird, als Prophylacticum gegen eine mercurielle Stoma-
titis am Platze. Ausgesprochen desinficirende Wirkungen kommen dagegen dem
Sublimat (Jacoby) oder dem Hydrargyi-um ajanatum (0"01 — 0"1 : 100) (Schulz-
Strübing), dem Liquor ferri sesquichlorati (1 : 100), Natrium henzoicum (3 : 100)
etc. zu. Da, wo aus irgend welchen Gründen die directe Localbehandlung
nicht möglich, ist, wird man sich zweckmässig dieser Mittel bedienen. Als To-
nicum wird Liquor ferri Bestuscheffi, Chinin und Decoctum Chinae (10 : 100)
gereicht.
Die gegen die toxischen Erscheinungen gerichtete Allgemeinbehand-
lung ist vorläufig noch einerein symptomatische: Sorge für frische Luft, am
besten durch abw^echselndes Belegen zweier Zimmer (Ranke) erreichbar; reich-
liche Zufuhr nahrhafter flüssiger Speisen (Milch mit Eidotter oder Cognac,
Chaicd d'eau, starker Wein, Thee, Bouillon, Fleischpepton, Beaftea etc.,) Schonung
der Kräfte und wo die Gefahr der Herzschwäche droht, Vermeidung jeder Auf-
regung oder Bewegung. Bei drohendem Collaps sind die stärksten Reizmittel:
Campher, Aether, Coffein innerlich und subcutan ungesäumt in Anwendung
zu ziehen. Die begleitendeNephritis erfordert während der Erkrankung
keine besondere Berücksichtigung; das Fieber nur da, wo es ausserge wohnlich
hohe Grade erreicht. Die hauptsächlichste Aufgabe ist, die Kräfte des Körpers
zu erhalten, um ihm Zeit zu geben, seine Schutzvorrichtungen gegen die im
Blute kreisenden Toxine in Thätigkeit zu setzen.
Erst in allerjüngster Zeit besitzen wir in dem Blutserum der gegen Diph-
therie immunisirten Thiere ein Mittel, das dem Organismus in diesem Kampfe
wirksame Hilfe leisten kann.
Es ist S. 422 auseinander gesetzt, dass es im TJiierkörper, wenn mit steigenden
Dosen von Diphtheriegift injicirt wird, zu einer Anhäufung der unter dem Einflüsse des
Krankheitsprocesses gebildeten antitoxischen Stoffe im Blute kommt. Diese Stoffe besitzen
eine auffallende Widerstandsfähigkeit und Haltbarkeit. Entnimmt man einem solchen
Thiere Blut, so sind sie in dem zellfreien Serum enthalten und injicirt man dieses anderen
empfänglichen Thieren, so theilen sie dem neuen Organismus denselben, resp. den geän-
derten Mengenverhältnissen entsprechend geringeren Schutz gegen Diphtherie mit, den der
Blutspender besessen. Nachdem der Heilungsprocess der Diphtherie überhaupt auf der
Bildung dieser antitoxisch wirkenden Stoffe im Körper des Erkrankten beruht, und ein
Unterschied zwischen den im menschlichen und den im Thierkörper gebildeten Stoffen
nicht besteht, so stellt die Einführung des diesen Körper enthaltenden Blutserums vom
Thiere nichts anderes als den natürlichen Heilungsvorgang dar (vergl. S. 422) mit dem Unter-
schiede, dass hier die Antikörper nicht vom Organismus gebildet, sondern künstlich ein-
geführt worden sind: passive Immunität. Die Dauer derselben ist nicht genau bekannt,
jedenfalls eine begrenzte, da ja die eingeführten Stoffe wieder ausgeschieden werden. Man
nimmt an, dass sie bei Injection kleiner Mengen durch 2—4 Wochen bestehen bleibt.
Es ist oft von grösster Wichtigkeit die Menge der in einer gegebenen
Menge Serum vorhandenen Antikörper zu messen, da es darauf ankommt,
dem erkrankten Organismus die zur Neutralisirung des Giftes genau aus-
reichende Quantität zuzuführen. Die Messung geschieht jetzt mittels der
sogenannten Mischmethode von Ehelich, indem man wechselnde Serummengen
mit einem Diphtheriegift von bestimmter Concentraction, deren sogenannte
Normalgiftlösung, von welcher 0-4 cm^ ein Kilo Meerschweinchen in längstens
drei Tagen tödtet, in Reagensgläsern mischt und die Mischung Meerschwein-
chen injicirt. Jenes Serum, welches gerade die lOfache Menge Toxin, somit
in der Menge von 0*1 einen Cubikcentimeter Normalgift unschädlich zu
machen im Stande ist, wird als Normalserum (Normalantitoxinlösung) bezeich-
net. Die in 1 Cubikcentimeter dieses Normalserums enthaltene Antitoxin-
menge nennt Behring eine Lnmunisirungseinheit (L E). Die von der Höchster
Fabrik in den Handel gebrachten Serumsorten sind 60-, 100- und 140faches
Normalserum. Sie werden in Fläschchen mit grüner (Nr. I), weisser (II) und
rother (III) Etiquette abgegeben, deren jedes circa 10^ Flüssigkeit enthält
DIPHTHERIE. 440 a
Es sind demnach in Nr. I 10 X 60 = 600, in Nr. II 1000, in Nr. IH
1400 I. E. vorhanden.
Leider fehlt uns noch der Schlüssel, nach welchem wir beim Menschen die in jedem
einzelnen Falle benöthigte Menge von Antitoxin berechnen können. Im Allgemeinen lässt
sich sagen, dass es nur geringer Quantitäten bedarf, um ein disponirtes, noch nicht inficir-
tes Individuum vor der Erkrankung zu schützen. Nach der früheren Angabe von Behring
genügte dafür 1 cm^ der Lösung Nr. I, also 60 I. E.; später hat man diese Dose auf '/j Flasche
Nr. I, erhöht. Jetzt werden besondere Immunisirungsdosen, die 150 I. E. in 2 cm'^ Serum
enthalten, ausgegeben. Durch die Injection wird die vielleicht vorhandene Disposition zur
Diphtherie beseitigt, das Individuum gegen Diphtherie immunisirt. Sehr viel grösserer
Mengen bedürfen wir, wenn die Infection schon eingetreten, das Gift bereits in den Körper
eingedrungen ist. In dem Maasse, in welchem die Erkrankung, resp. die Intoxication fort-
geschritten ist, werden rasch steigende Mengen zur Unschädlichmachung des Giftes benöthigt
und noch rascher sinkt die Wahrscheinlichkeit des Heilerfolges, da in diesen Fällen die
zur Degeneration führenden Veränderungen der Nerven bereits gesetzt sind, die natürlich
durch die Beseitigung des Giftes aus dem Körper nicht mehr gut gemacht werden können.
Aus diesem Grunde ist auch von der Behandlung der postdiphterischen Lähmungen mit
Antitoxin kaum ein Erfolg zu erwarten.
Als geringste Dosis gegenüber der ausgebrochenen Erkrankung ist die volle Dosis
Nr. I zu verwenden. Dauert die Erkrankung schon einige Tage, ist die Localaffection aus-
gedehnter oder sind überhaupt schwerere Krankheitserscheinungen vorhanden, so greife
man zu Nr. II, bei schweren, weit vorgeschrittenen Fällen, sowie bei Erwachsenen ist Nr. III
zu verwenden. Man mache die Injection, insbesondere wenn Anzeichen von Gefahr vor-
handen, sobald als möglich und verschiebe event. die genauere Diagnosenstellung auf
später. Jede Stunde, die man versäumt, verschlimmert die Prognose. Zumeist genügt eine
einmalige Injection. Wo die drohenden Erscheinungen fortbestehen, insbesondere die Mem-
branenbildung fortschreitet, lasse man an den folgenden Tagen eine zweite, event. auch eine
dritte Einspritzung folgen.
Die Technik der Injection ist eine äusserst einfache, vorausgesetzt, dass man eine
gut schliessende 10 g haltende Spritze besitzt. Man macht dieselbe nach vorgängiger Desinfec-
tion der Haut in die Infraclaviculargrube oder in die Seitentheile von Brust oder Bauch
oder in den Oberschenkel. Nachdem die Nadel zurückgezogen, wird die Einstichöffnung
mit Heftpflaster bedeckt. Massage ist unnöthig. An unangenehmen Folgeerscheinungen
sind bisher einige Male Urticaria und fieberhafte Erytheme mit Gelenkschmerzen beobachtet
worden. Ueber die Dauer der Haltbarkeit der Antitoxinlösungen liegen keine bestimmten
Angaben vor, doch dürften sie mindestens mehrere Monate betragen. Sie sollen bei mög-
lichst kühler Temperatur und bei Lichtabschluss aufbewahrt werden. Das Serum ist durch
Zusatz von Carbol O-ö^/q vor Zersetzung geschützt, kann also event. selbst einige Zeit nach
Eröffnung der Flasche noch verwendet werden.
Ausser dem im Vorstehenden besprochenen Präparate der Farbwerke vorm. Meister, '
Lucius & Brüning in Höchst a. Main, das unter Controle der Prof. Behring und Ehrlich
steht, wird das Heilserum noch von H. Aronson in Berlin (zu beziehen durch die ScHERiNG'sche
Fabrik, Berlin N. Müllerstrasse 170, Telegrammadresse: Satrap, Berlin), sowie von E. Roux
am Institut Pasteur in Paris, in Bälde wohl auch an anderen Orten hergestellt. Betreffs des
ARONSON'schen Serums kann ich nach experimenteller Prüfung, sowie auf Grund meiner
klinischen Erfahrungen bestätigen, dass die Wirksamkeit der mir übermittelten Serum-
probe nicht hinter dem BEHRiNG'schen zurückblieb.
Die Wirkung der Seruminjection äussert sich ausschliesslich in
der Besserung, resp. dem Schwinden der Krankheitssymptome; in erster Linie
möchte ich die Besserung des Allgemeinbefindens, Sinken des Fiebers, Wieder-
kehr des Appetites, der Kräfte, frischeres Aussehen und kräftigeren Pulsschlag
hervorheben. Im Uebrigen verhält der Patient sich eben wie ein solcher, bei
dem der natürliche Heilungsprocess sich einleitet; wir haben aber hervorgehoben,
dass es sich hier nicht nur um eine äussere Aehnlichkeit handelt. Die weitere
Ausbreitung der Membramen sistirt, die vorhandenen begrenzen sich und
stossen sich im Laufe der nächsten Tage ab (nach Roux in 72 Stunden).
Das Fieber fällt nicht selten in kritischen oder in lytischen Curven ab, ganz
wie wir dies auch sonst bei günstig ausgehenden Diphtherien sehen. Am
wenigsten beeinflusst wurden die Veränderungen im Nervensystem und Niere,
da es sich hierbei wahrscheinlich um schon abgeschlossene Processe handelt.
Auf den Ablauf der die Diphtherie complicirenden Erkrankungen: Pneumonie,
Schwellung und Vereiterung der Lymphdrüsen, allgemeine Sepsis etc. ist die
Injection selbstverständlich ohne Wirkung. Der nicht geringe Percentsatz
440 b DIPHTHERIE.
der Erkrankten, welcher diesen Folgeerscheinungen der Diphtherie erliegt,
wird sich auch bei der Serumbehandlung niemals vermeiden lassen.
Nehmen wir die klinischen Formen der Diphtherie im Einzelnen vor, so
wäre bei den gutartigen, localisirten Formen vielleicht eine Serumbehandlung
unnöthig, wenn nicht die Dauer der Erkrankung dadurch abgekürzt und die
Gefahr einer weiteren Ausbreitung des Processes damit vermieden würde.
Das dankbarste Object bilden die progredienten Fälle mit starker, rasch fort-
schreitender Membranbildung und geringen toxischen Symptomen. Wird hier
die Injection zeitig genug ausgeführt, so gelingt es meist der weiteren Aus-
breitung der Membramen Einhalt zu thun und die drohende Operation zu ver-
meiden. Wo dennoch die Laryngostenose zu einem operativen Eingriff zwingt,
kommt man meist mit der Intubation aus, da wenigstens die tieferen Theile
des Bronchialbaumes verschont bleiben.
Weniger günstig liegen jene Fälle, bei denen von Anfang an die toxi-
schen Erscheinungen, Apathie, Herzschwäche, Albuminurie mehr hervortreten,
am ungünstigsten die sogenannten septischen und gangränösen Diphtherien.
Hier traten neben den mannigfachen Localisationen der Streptococcen die
Vergiftungssymptome von Seiten des Herzens und Centralnervensystems in
solcher Schwere und Heftigkeit in Erscheinung, dass das Loos des Patienten
manchmal schon am zweiten oder dritten Krankheitstage entschieden wird. In
diesen Fällen ist auch das stärkste Serum machtlos.
Gleichwohl hat die Erfahrung gelehrt, dass manchmal auch bei septischen
Erkrankungen durch frühzeitige und ausgiebige Injection von Serum (Nr. III) eine
unerwartete, günstige Wendung dieser sonst absolut tödtlichen Fälle herbeigeführt wird.
Noch mehr als bei den anderen Fällen kommt hier darauf an, die Injection möglichst bald
nach Beginn der Erkrankung vorzunehmen. Die eminente Bedeutung dieses Factors geht
aus der Zusammenstellung Ehrlich's hervor: (Deutsche med. Wochenschrift 94, Nr. 16.)
Krankheitstag Behandelt Geheilt Gestorben Heilung in %
I 6 6 0 100
II 66 (9) 64 (7; 2 (2) 97
III 29 (8) 25 (7) 4 (1) 86
IV 39 (14) 30 (10) 9 (4) 77
V 23 (10) 13 (4) 10 (6) 56-0
163
(Die in Klammern eingeschlossenen Zahlen geben die in der Gesammtzahl ein-
geschlossenen Diphtherien an.)
In den Berliner Krankenhäusern wurden bei 220 so behandelten Kindern geheilt
168 = 76-4''/o, darunter von 67 Tracheotomirten 55-1%. (Vergl. die Durchschnittszahlen auf
S. 437.) Im Hospital des enfants malades in Paris ist in Folge der Serumbehandlung die
Mortalität von bl-ll°Jo auf 24-33"/o gesunken. Den günstigen Einfluss gerade auf die
Fälle mit progredientem Charakter zeigt die Statistik der Tracheotomirten von Körte,
welche statt 20— 26"/o seit der Serumbehandlung 45% Heilungen aufweist.
Meine eigenen Erfahrungen bestätigen diese günstigen Resultate. Seit Beginn der
antitoxischen Behandlung im April 1894 wurden bis 1. December 72 Fälle aufgenom-
men, darunter 44 mit Serum injicirt. Die Mortalität dieser Periode beträgt 5, d. i. 7%
gegen 44''/o der früheren Jahre. Besonders günstig beeinflusst wurde die progrediente Form,
die in 21 Fällen vorhanden war und in 16 Fällen zu einem operativen Eingriff nöthigte
(Intubation). Darunter ein tödtlich verlaufender Fall. Fast ohne Einfluss waren die In-
jectionen auf die 4 septischen Fälle, die ausschliesslich bei älteren Kindern vorkamen. So
kam es, dass die sonst so gefährdeten jungen Altersclassen eine geringere Mortalität auf-
wiesen als die höheren. Die diphtherische Erkrankung des Larynx war stets schon beim
Eintritte ins Spital vorhanden; niemals wurden wir bei einem schon in Behandlung stehen-
den Patienten zur nachträglichen Ausführung der Operation genöthigt. Sämmtliche Pa-
tienten, die innerhalb der ersten 3 Krankheitstage eingeliefert wurden, sind genesen. Ich
will übrigens nicht verschweigen, dass ein gut Theil dieser glänzenden Heilerfolge, wohl
auch dem sehr milden Charakter der zur Zeit dieser Behandlung herrschenden Diphthe-
rieepidemie zuzuschreiben ist.
Gegen die nach Ablauf der acuten Erkrankung zurückbleibende S eh wach e
und Anämie kommen Chinin, Eisen mit Arsen (Levico, Guberquelle), Land-
aufenthalt in Anwendung.
DüODENALSTENOSE. 441
Die Therapie der Lähmungen ist naturgemäss sehr verschieden.
Die leichten Formen bedürfen keiner besonderen Behandlung. Da. wo sie
hartnäckig sind, ver^Y endet man den constanten Strom und auch auf Hexochs Em-
pfehlung subcutan Stryclinininjectionen O'OOl pro dosi. Sobald Verschlucken
in Folge von Kehlkopilähmung vorhanden, muss Sondenernälu-ung durchge-
führt werden ; bei Zwerchfelllähmung können künstliche Respiration, elek-
trische Eeizung des Phrenicus, Sauerstofiinhalationen angewandt werden.
Jedes Anzeichen von Herzschwäche ist sorgfältig zu beachten und sofort
strengste körperliche Ruhe zu verordnen.
Gegen drohenden Herzcollaps sind die oben angeführten Reizmittel, vor
allem Campher in grossen Dosen (Camphorae 1,0, Ol. amygdal. dulc. 5,0; 4 — 6
Spritzen Ziemssex), sowie auch Galvanisation des Herzens (Erb) zu versuchen.
ESCHERICH.
DuodenalstenOSe. Das Duodenum kann entweder an einzelnen Stellen
oder in seiner ganzen Ausdehnung verengert sein, es kann ferner der Sitz
der Verengerung sich auf die Innenfläche des Zwölffingerdarmes erstrecken,
oder es kann die Stenose durch Compression von Aussen bedingt sein. In
erster Hinsicht bilden Duodenalgeschwüre von dem Charakter des Ulcus
rotundum, sowie maligne Neubildungen die häufigste Veranlassung zu Stenose-
erscheinungen, von äusseren Einwirkungen sind besonders Neoplasmen der
Kachbarschaft des Pancreas, der Leber, der Gallenblase, des Dickdarms, der
Mesenterialdrüsen, sowie adhäsive Verklebungen aus anderen Intestinal-
abschnitten, ferner Abknickungen, Verlagerungen u. s. w. zu nennen.
Symptomatologie: Man kann hohe und tiefe Duodenalstenose unter-
scheiden, je nachdem der oberhalb des Diverticulum Vateri gelegene Theil
des Duodenum — die pars horizontalis superior — oder der unterhalb der
Mündungsstelle des vereinigten Gallen- und Bauchspeicheldrüsenganges gelegene
Abschnitt — die pars descendens und horizontalis inferior — Sitz der Ver-
engerung bilden.
Die hohe Duodenalstenose unterscheidet sich in Nichts von den Ver-
engerungen der Pylorusstenose, man wird daher nur ausnahmsweise in der
Lage sein, beide klinisch auseinanderzuhalten. Es bildet sich im Anschluss
an die hohe Duodenalstenose eine mehr oder weniger ausgeprägte Magendi-
latation aus, wobei in der Regel der Pylorusring infolge der zurückstauenden
Massen vollständig verstreicht. Auch die übrigen Erscheinungen : Erbrechen
grosser Massen, Obstipation, Oligurie, starke Abmagerung theilt die hohe
Duodenalstenose mit der Pylorusstenose.
Weit charakteristischer dagegen ist die tiefe Duodenalstenose: die Ana-
mnese ergibt in der Mehrzahl der Fälle das Vorhandensein constant galligen
Erbrechens ; des Weiteren ergibt die Untersuchung des Mageninhaltes per-
manente Anwesenheit von Galle, bezw. Pancreassaft im Magen (Boas). Der
Magen selbst wird durch die permanente Anwesenheit von Flüssigkeit all-
mälig gedehnt und tritt tiefer. Von der Pylorusstenose, bei der Galle, wenn
auch selten in den Magen zurücktritt, unterscheidet sich die tiefe Duo-
denalstenose durch das Fehlen von Gährungsprocessen und die Abwesenheit
von Hefe und Sarcine. Je nach der zu Grunde liegenden Ursache geht die
tiefe Stenose des Duodenum mit mehr oder weniger starkem Kräfteveiiust
einher. Häufig findet sich nach meinen Untersuchungen in Fällen tiefer
Duodenalstenose ein hoher Gehalt an Indican, sowie Acetessigsäure und Aceton.
Wegen des behinderten Galleabflusses sind die Stühle mehr oder weniger
stark thonfarben.
Die Diagnose ergibt sich aus dem genannten Symptomencomplex ; in
ausgesprochenen Fällen kann man ausser der Stenose des Duodenum auch die
Ursache der letzteren z. B. ein Neoplasma oder ein Ulcus constatiren.
442 - DYSARTHRIE.
Die Prognose hängt einmal von der zu Grunde liegenden Ursache, sodann
von dem Grade der Verengerung ab. Nur in einem von Homgmaisw mit-
getheilten, unter ileusartigen Erscheinungen verlaufenen Falle ist bisher
Heilung beobachtet, in den anderen konnten im günstigsten Falle Besserungen
erzielt werden.
Die Therapie müsste vor Allem die der Stenose zu Grunde liegende
Ursache zu beseitigen anstreben : dies ist unter besonders günstigen Um-
ständen durch innere Mittel oder durch Magenauswaschungen zu erzielen ; in
den meisten Fällen ist nur durch ein geeignetes operatives Eingreifen (Exstir-
pation der stenosirenden Geschwulst, Lösung von Adhäsionen, ev. Gastro-
jejunostomie) der Causalindication zu genügen. Wo die Operation aus irgend
welchem Grunde unausführbar ist, muss man sich begnügen, durch häufige
Magenausspülungen das Organ von den zurückstauenden Massen zu befreien
und hierdurch die Magenverdauung aufzubessern, boas.
Dysarthriß bedeutet Störung der Articulationsbewegungen speciell bei
der Lautbildung. Die Abgrenzung dieser Zustände gegen die ap ha-
sischen Störungen (cfr. „ÄpJtasie'^) muss bei der Untersuchung von Sprach-
kranken vor allem im Auge behalten werden. Am nächsten aus dem Gebiet
der aphasischen Störungen steht den hier vorliegenden, die sogenannte sub-
corticale motorische Aphasie, welche als völlige Anarthrie nur graduell
von der cerebral bedingten Dysarthrie verschieden ist. In der That können
auch, wenn man von den anatomischen Zuständen ausgeht, durch „subcor-
ticale" Herde sowohl völlige Anarthrie als verschiedene Grade von Dysar-
thrie hervorgebracht werden.
Bei der Untersuchung von Sprachkranken, bei welchen Aphasie im
engeren Sinne ausgeschlossen ist, sind zwei Hauptgesichtspunkte festzuhalten :
1. ob die Dysarthrie alle Arten von Lautbildung gleichmässig betrifit
oder ob isoliert nur einzelne Lautbildungen fehlen. Im letzteren Fall handelt
es sich eigentlich nicht um Dysarthrien, sondern um partielle Anarthrien,
2. ob die Dysarthrie peripherisch oder central bedingt ist. Die central
bedingten Störungen der Articulation bilden die Dysarthrie im engsten und
eigentlichsten Sinne, welcher den eigentlichen pathologischen Gegensatz zu den
Aphasien ausmacht.
Das Fehlen von einzelnen Buchstabenlauten bei dem Versuch der
Articulation ist als Stammeln besonders im Gegensatz zum Stottern, zu
kennzeichnen. Beim Stottern handelt es sich um krampfliafte, plötzlich
auftretende Muskelcontractionen, welche die verschiedensten Sprachbildungs-
apparate {Facialisgebiet, Hypoglossusgehiet, Coordination von Stimmhandinner-
vation und Exspiration etc.) betreffen können.
Beim Stammeln liegen dauernde gleichbleibende Defecte vor, beim
Stottern wechselnde functionelle Störungen, welche ohne Beziehung zu be-
stimmten Lautbildungen in der Keihe der Laut- und Wortproduction auf-
treten können.
Peripherisch können Dysarthrien bedingt sein durch Verstopfung
der Nase, Gaumendefecte, Lähmung des Gaumensegels etc. Praktisch ist es
nothwendig, bei einer Sprachprüfung alle Laute des Alphabets durchzupro-
biren und für das eventuelle Fehlen einzelner zunächst nach peripherischen
Ursachen zu suchen. Erst nach Ausschluss dieser kann die Diagnose auf
nur cerebral bedingte partielle Anarthrie, bezw. Dysarthrie gestellt werden.
Von den central bedingten Dysarthrien, welche nicht bloss einzelne
Lautbildungen betreffen, ist das Stottern schon genannt worden. Ferner
gehört hierher die sk an dir ende Sprache der multiplen Sklerose, in
DYSENTERIE. 443
welchem Fall natürlich klinisch das einzelne S5anptom vor der Gnmdkrankheit
ganz zurücktreten niuss. Die einzelnen Silben werden dabei scharf accen-
tuirt und durch kleine Pausen getrennt. Ferner gehört hierher die Articu-
lationsstörung der Bulbär-Paralyse. Sodann ist die undeutliche ver-
waschene Sprache zu nennen. Diese kann entweder durch organische
Hirnerkrankung (Pons bis Stabkranz) bedingt sein oder durch psychische Zu-
stände. Es ist wichtig zu wissen, dass diese Art von Sprache bei Idiotie
ohne jede organische Hirnerkrankung vorkommen kann. Dasselbe gilt zum
Theil für die verlangsamte Sprache, welche auf Grund von psychischen
Schwächezuständen auftreten kann. Diese verlangsamte Sprache kommt jedoch
auch bei organischen Hirnkrankheiten vor {Paralysis 'progressiva, Tumor cerebri).
In allen diesen Fällen steht jedoch die Grundkrankheit so im Vordergrund,
dass eine Diagnose sich stets auf diese, nicht aber auf das blosse Symptom
der Dysarthrie beziehen muss. sommee.
Dysenterie (Ruhr) ist eine theils endemisch oder epidemisch und zwar
in den Tropen und den südlichen Ländern Europas (Spanien, Türkei, Griechen-
land) theils — wie in unseren Breiten — sporadisch vorkommende Infections-
krankheit. Als Infectionserreger ist mit Wahrscheinlichkeit eine von
Kart Ulis in den Dejectionen-, sowie in der Leber entdeckten Amöbenart an-
zusehen, die sich ausnahmslos bei Dysenterie vorfindet, obwohl sichere Ueber-
tragungsversuche noch ausstehen. Von anderen Seiten (Chantemesse und
YiDAL, Babes, Maggioea, Couxcilmaxn, Ogata) sind Mikroorganismen als
Krankheitserreger bezeichnet v>'orden, doch sind über die Specificität derselben
die Ansichten noch getheilt. (vergl. Ämoebenenteritis ds. Bd. p. 42.)
Die Krankheit ist im Allgemeinen miasmatischen Ursprungs und wird
in den meisten Fällen durch den Genuss unreinen, verseuchten Trinkwassers
oder indirect durch Berührung mit Dejectionen, Gebrauchsgegenständen Ruhr-
kranker hervorgerufen. Dabei spielen aber andere Einflüsse, grosse Hitze, der
Genuss verdorbener Nahrungsmittel, namentlich unreifen Obstes eine gewisse
unterstützende Rolle. Wie bei anderen Infectionskrankheiten wird die Auf-
nahmefähigkeit des Organismus für das Virus durch schwächende Einflüsse
oder andere constitutionelle Krankheiten (Tuberculose, Morbus Brightii, Dia-
betes u. A.) erhöht. Besonders soll die Malaria zur Entwicklung von Dysen-
terie disponiren.
Obwohl in der Hauptsache sporadisch, kann Dysenterie auch in unseren
Zonen eine mehr oder weniger stark extensive und intensive Ausbreitung an-
nehmen, sobald insalubre Verhältnisse, schlechte, dumpfe Wohnungen, unhy-
gienisch angelegte Abtritte, vor Allem aber schlechtes, ungesundes Trinkwasser
Veranlassung bieten. Wiederholt sind Hausepidemien und besonders Epide-
mien in Gefängnissen und Irrenanstalten, auch wohl sonst in Krankenhäusern,
die die genannten ungünstigen Verhältnisse aufweisen, beobachtet. Alles in
Allem aber zeigen auch diese Epidemien einen ausgesprochen localen Charakter.
Vielfach sind • — zuletzt noch in dem deutsch-französischen Kriege — Ruhr-
epidemien im Feldzuge mit starker Mortalität beobachtet.
Pathologisch -anatomisch kann mau dreierlei Formen von Ruhr
unterscheiden: die katarrhalische, die folliculäre (noduläre, Orth) und die
diphtherische. Diese Formen stellen aber keineswegs streng abgeschlossene
I{Tankheitsbilder dar, sondern gehen häufig an verschiedenen Stellen des Darmes
nebeneinander her. Die katarrhalische Form stellt nach Orth für die Mehr-
zahl der Fälle den Beginn des Processes dar. Die Krankheit erstreckt sich
fast ausschliesslich auf den Dickdarm und nur in sehr seltenen Fällen greift
der Process über die Bauhin'sche Klappe auf das Ileum über.
444 DYSEXTEEIE.
Die katarrlialisclie Form ist cliarakterisirt cTurcli starke Hyperämie
und beträchtliche Schwellung der Submucosa mit Faltenbildung. Häufig werden
circumscripte punktförmige sub epitheliale Hämorrhagien Ijeobachtet. Die Darm-
follikel zeigen ein stark injicirtes Blutgefässnetz, wodurch dieselben wie von
einem rothen Hof umkleidet sind. Die Mucosa, namentlich aber die Submucosa
ist geschwollen und tritt buckel- oder zottenartig hervor.
Bei der f oll iculären Form der Dysenterie schwellen die Follikel
zuerst stark au, ulceriren dann, wodurch scharf abgeschnittene, kraterförmige,
bis in die Submucosa, zuweilen noch tiefer greifende Geschwiü'e gesetzt werden.
Solange die Umgebung der Follikel noch nicht in den Process einbezogen
ist, bleiben die Geschwüre isolirt, später greifen sie ineinander und nehmen
weite Strecken des Dickdarmes ein.
Die diphtherische Form der Enteritis unterscheidet sich anatomisch
in Xichts von anderen diphtherischen Krankheitsprocessen des Dickdarmes, wie
sie bei Typhus. Scharlach, Septicämie, Puerperalfieber, Piachen-Diphtherie, Sub-
limatintoxication vorkommen.
Hierbei bildet sich zuerst ein punktförmiger, graugelblicher, uuregelmässig
vertheilter Belag, welcher dem Darm das Aussehen gibt, „als wenn Kleie
über die Obeiüäche gestreut wäre." Diese kleienförmigen Auflagerungen
können in nischen Fällen noch ohne Substanzverlust abgeschal3t werden. In
vorgeschritteneren dagegen nehmen die Flecken an Grösse zu, coufluiren mit
einander, lassen sich immer weniger von der Darmschleimhaut trennen. In-
zwischen nimmt die Schwellung der Mucosa und Submucosa immer zu, die
gelblichen Massen wandeln sich in graugrüne, schliesslich in schmutziggraue
Partien um. Hierbei nimmt — und dies ist charakteristisch füi' die diphthe-
rischen A^ränderungen — der nekrotisirende Zerfallsprocess besonders die Yor-
sprünge der Falten, sowie die Haustra coli ein. Eine besondere Prädilections-
stelle zeigen, offenbar bedingt durch die hier in Betracht kommenden mechani-
schen Verhältnisse (Kothstauung Yirchow) die Flexuren des Dickdarmes. In
den weniger schweren Fällen findet der Process an der Muscularis ihre Grenze,
doch sind auch die äusseren Häute mehr oder weniger hämorrhagisch infiltrirt,
in schwersten Fällen kann der Process bis zum Peritoneum vordringen und zu
Peritonitis führen oder es kann selbst zu Perforationsperitonitis kommen.
Die Heilung des Processes findet in der AYeise statt, dass die nekrotischen
Partien sich abstossen und die Geschwüre vernarben, zuweilen geschieht dies
unter Retraction des umliegenden Gewebes, wodurch es leicht zur Stenose-
bildung kommen kann.
Der Darm ist je nach der Art und dem Stadium des Processes mit schlei-
migen oder schleimigeitrigen oder mit blutigen Massen gefüllt. Bei der diphthe-
rischen Form sieht man graugelbe, fetzige, putrid riechende Massen, zuweilen
zeigt der Darm schwärzliche mit Schleimhautfetzen untermischte Partikel
(gangränescirende Formj.
Ausser dem Darm selbst kann der Process durch Thrombenbildung in
den Yenen zu Leberabscessen fühi-en, wie sie besonders in den Tropen als
Complicationen der Diphtherie beobachtet werden. Yon sonstigen Complica-
tionen sind zu erwähnen: Nierenhyperämie, Hämorrhagien, multiple Abscess-
bildungen, Piückenmarkerweichung u. A.
Symptomatologie. Die Symptome der Dysenterie beziehen
sich im Wesentlichen auf die gestörte Dickdarmfunction und
kennzeichnen sich durch die Art und das Aussehen der Stühle,
den Stuhldrang und die locale Druckempfindlichkeit im Ver-
laufe des Dickdarmes, namentlich in der Gegend der Flexura
sigmoidea.
DYSENTERIE. 445
Die Stühle sind im katarrhalischen Stadium dünn, wässerig, mit mehr
oder weniger viel Schleim oder Eiter vermischt; zuweilen sieht man auch kleine
distincte Blutbeimengungen, wodurch die Stühle ein fleischwasserfarbenes
Aussehen gewinnen. Lässt man die Stühle sedimentiren, so sieht man kleinere
oder grössere, häufig gleichfalls blutig tingirte Schleimfetzchen. Auch triöt
man kleine, sago- oder froschlaichähnliche Schleimklümpchen an. In der
mehr diphtherischen Form überwiegt der Blutgehalt der Stühle, welche ähnlich
wie bei der Pneumonie ein rostfarbenes Aussehen annehmen. Bei der gangränes-
cirenden Form endlich werden schwarze, brandige, höchst übel riechende Massen
abgestossen. Im Uebrigen verlieren die Stühle bei reichlicher Entleerung sehr
bald den fäculenten Charakter und bekommen einen faden, spermaähnlichen
Geruch.
Mikroskopisch zeichnen sich die Stühle abgesehen von den bereits oben
erwähnten Amöben durch grossen Eeichthum an Eiterkörperchen und rothen
Blutkörperchen aus, denen verschonte Darmepithelien, Fettsäurenadeln, unver-
daute Speisereste etc. beigemengt sind.
Das Charakteristische der dysenterischen Durchfälle, wodurch sie sich von
blutig-serösen Durchfällen bei anderen Krankheiten (Lues, Carcinom, Hämor-
rhoiden) unterscheiden, sind die schmerzhaften Tenesmen, der Stuhlzwang.
Die Patienten fühlen in schweren Fällen in kürzesten Zwischenräumen alle
5 — 10 Minuten Drang zum Stuhle, ohne dass es zu einer irgendwie bemer-
kenswerthen Defäcation kommt. Mit dem Stuhlzwang kann zuweilen auch
schmerzhafter Harnzwang vorhanden sein.
Die objective Untersuchung ergibt zuweilen, eine distincte Schmerz-
haftigkeit in der Gegend der Flexura sigmoidea, woselbst man auch häufig
bei leichtem Anschlagen mit den Fingern Gargouillement beobachtet.
Durch die Untersuchungen Uffelmann's ist uns bekannt, dass die
specifischen Körpersecrete an Leistungsfähigkeit einbüssen, der Speichel an amy-
lolytischer Kraft, der Magensaft an peptischer Wirksamkeit verliert. Auf die
Mitbetheiligung des Magens weisen ferner das gelegentlich, namentlich im Be-
ginne der Krankheit vorkommende Erbrechen, die belegte Zunge, die Appetit-
losigkeit, der Foetor ex ore hin.
Die Temperatur ist nur in äusserst seltenen Fällen erhöht und zeigt dann
den Charakter einer unregelmässigen Ptemittens, der Puls dagegen ist häufig
beschleunigt und weich. Der Urin zeigt sehr selten Eiweissgehalt, ist aber
hochgestellt und reich an Uraten.
Der Verlauf der Krankheit kann sich auf nur wenige Tage oder
mehrere Wochen erstrecken: in unseren Breiten nimmt die Dysenterie über-
wiegend häufig einen günstigen Verlauf, der sich durch das Seltenerwerden der
Stühle, das Sistiren der Tenesmen, die Ptückkehr des Appetites, des Schlafes
ankündigt. In weniger günstigen Fällen können sich Complicationen verschie-
dener Art dem Krankheitsbilde zugesellen: Perforationsperitonitis, Leberab-
scesse, Conjunctivitis (Kräuter), Gelenkerkrankungen, Pyämie u. A.
Als Nacherkrankungen der Dysenterie sind zu nennen: Lähmungen
(Neuritis ascendens, Leyden), Darmstricturen, Mastdarmfisteln, chronische En-
teritis.
Die Diagnose der Dysenterie macht bei ausgeprägten Formen keine
Schwierigkeiten: der acute Beginn, das Aussehen der Stühle, der Tenesmus,
die Schmerzhaftigkeit der Flexura sigmoidea sind him-eichend charakteristische
Symptome. Vor Verwechselungen mit Localerkrankungeu des Mastdarmes,
die gelegentlich zu ähnlichen Symptomen führen können, schützt die nie zu
unterlassende sorgfältige Rectaluntersuchung.
446 DYSENTERIE. DYSGRAPHIE.
Die Prognose der Dysenterie ist in unseren Breiten im Ganzen gün-
stig, die Mortalität beträgt im Durchschnitt 7 — 10 7oi doch werden aus den
Tropenländern erheblich grössere Mortalitätsziffern berichtet. Aber auch bei
der bei uns herrschenden leichteren Form der Euhr kann die Prognose durch
die bereits erwähnten complicirenden Ereignisse arg getrübt werden. Auch
durch etwaige Nachkrankheiten, die zunächst nicht vorauszusehen sind, erleidet
die im Ganzen gute Prognose eine für die Praxis nicht unwichtige Beschränkung.
Therapie: Die Therapie der Dysenterie ist im Ganzen exspectativ-
symptomatisch. Man beginnt die Behandlung am besten mit einem Laxans,
wie Ol. Bicini oder noch besser Calomel (0,3 davon 2 Dosen in Sstündlichen
Intervall) und stellt dann den Darm durch innerliche oder rectale Anwendung
eines Opiates ruhig, wodurch auch besonders die Tenesmen günstig beeinflusst
werden. Mit dieser Therapie und der entsprechenden Diät, auf welche das Haupt-
gewicht der Behandlung zu legen ist, reicht man in uncomplicirten Fällen
völlig aus.
Die Diät muss vor Allem substanzarm und schleimig sein, damit
nicht durch dicke Kothmassen und etwa unverdaute Nahrungsreste die erkrankte
Darmschleimhaut insultirt wird. Man reiche also Brühsuppen, Hafermehlsuppen
mit Ei oder Fleischextract, Mondamin-, Tapioca-, Gries-, Keissuppen. Auch
Milch eignet sich theils allein, theils mit Mehlzusätzen oder mit Cacao für
die^ Ernährung. Zweckmässig ist als Stimulans Eothwein und Weinsuppen.
Erst wenn die Tenesmen aufhören, die Stühle fäculent und seltener werden,
kann man wieder festere Substanzen (Zwieback, Fleisch, Kartoffelbrei) gestatten.
In complicirten Fällen muss eine Localbehandlung des Darmes ein-
treten. Hierzu eignen sich am meisten Eingiessungen von Tannin oder Alumen
( 5 gr auf 1 / Wasser) mittels Hegar'schen Trichters, die zweimal täglich appli-
cirt werden. Sehr zweckmässig fügt man auch diesen Eingiessungen einige
Tropfen Laudanum hinzu oder man schickt den Einlaufen ein Opiumsuppo-
sitorium voraus. Ausser mit Tannin sind noch eine Reihe anderer Substanzen
warm empfohlen worden, die hier nur kurz erwähnt werden mögen: Argentum
nitricum, Chinin, Creolin, Sublimat. Das letztere ist jedenfalls wegen der
Gefahr der Intoxication nur mit grösster Vorsicht zu verwenden, dagegen ist
das Chinin (1 : 1000 — 5000) ein Mittel, das sich in vielen Fällen bewährt hat.
Gegen die Tropendysenterie sind von englischen Aerzten grosse Dosen Ipe-
cacuanha (0,1 — 0,3) als Specificum empfohlen worden. Sonst sind im Allge-
meinen kleinere Dosen von Ipecacuanha in Verbindung mit Opium als Dower'-
sches Pulver (0,2 — 0,4 pro dosi) zu empfehlen.
In Fällen von chronischer Ruhr leisten grosse Dosen Bismuth, besonders
das Bismuth. salicyl. (1,0 — 3,0 pro dosi) oder Salol (2,0 4,0 pro dosi) gute
Dienste.
Die Complicationen der Dysenterie sind nach den hierfür geltenden
Regeln zu behandeln. boas.
Dysgraphie. Bei dem Wort Dysgraphie hat man klinisch nur an die
erworbenen Störungen der Schrift zu denken, bei welchen sich das Vor-
handensein von Agraphie (siehe ,, Aphasie, Agraphie, Alexie'') ausschliessen
lässt. Wenn ein Mensch nie in seinem Leben ordentlich schreiben gelernt
hat, kann man klinisch nicht von Dysgraphie reden. Praktisch ist die Ent-
scheidung der Frage, ob jemand schon seit seiner Schulzeit ganz ungenügend
geschrieben hat, oder ob er eine entsprechende Schreibstörung bekommen hat,
oft sehr wichtig. Hier wird meist nur das Beibringen von früheren Schrift-
proben zur Entscheidung helfen.
Nachdem eine Schreibstörung einerseits gegen die Zustände mangelhafter
Bildung, andererseits gegen die agraphischen Störungen abgegrenzt ist, kommen
wie bei der Dysarthrie hauptsächlich zwei Fragen in Betracht :
DYSGRAPHIE. DYSLEXIE. 447
1. ob es sich um isolierte Ausfallsersclieinungen in Bezug auf bestimmte
Schriftzüge (wozu auch Zahlen gehören) handelt nach Analogie des Stam-
me 1 n s oder um gleichmässige Erschwerung alles Schreibens. Der erste Fall
ist sehr selten, kommt aber unzweifelhaft auch ohne agraphische Störungen
im früher entwickelten Sinne rein als Störung der Schreib-Articulation vor;
2. ob die Störung peripher oder central bedingt ist. Bei den ver-
schiedenen Arten des Tremors, welche Schreibstörungen bedingen (tremor
alkoholicuS; senilis, mercurialis etc.), wird diese Entscheidung oft nicht zu treffen
sein, weil die Entstehung des Tremors selbst noch unklar ist. Immerhin muss
dieser Gedanke als Leitmotiv der Untersuchung festgehalten werden. Im
einzelnen kommen für die Art der Schrift dieselben Gesichtspunkte in Betracht
wie bei der Beurtheilung anderer Innervationsstörungen. Eine Schrift, bei
welcher es an der nothwendigen Zusammenordnung der einzelnen Schrift-
züge mangelt, wird man entsprechend der Bezeichnungsweise bei anderen
Bewegungsstörungen ataktisch nennen. Als besondere Neurose ist der
Sclireibkrampf zu erwähnen (cfr. Beschäftigung sneiirosen).
E. s.
Dyslexie. Die Dyslexie hat mit den nach gleicher Art gebildeten
Worten Dysarthrie, Dysgraphie u. s. f. inhaltlich nichts gemeinsam, sondern
ist eine Störung für sich.
Das von Beelin scharf hervorgehobene Symptom bestand darin, dass
gewisse Menschen (cfr. Berlin, Eine besondere Art der Wortblindheit pag. 30)
nur eine geringe Anzahl von Worten hintereinander laut oder leise lesen
können, während die sorgfältigste augenärztliche Untersuchung die Abwesenheit
aller jener bekannten Ursachen verminderter Ausdauer nachweist.
Es lag in der Natur dieser Störung, welche lebhaft an die Hebetudo
Visus erinnerte, dass die Abwesenheit peripherischer Ursachen und die Ab-
grenzung der cerebral bedingten von der peripherisch bedingten Störung des
Lesens zuerst ins Auge gefasst wurden. Von diesem Gesichtspunkt ist der
ganze erste Theil der BEELiN'schen Abhandlung (pag. 1 — 34) beherrscht.
Die weiteren Erörterungen, welche Berlix an die Thatsache der cerebralen
Natur der Störung angeknüpft hatte, enthielten nun mehrere Elemente, welche
in der weiteren Entwickelung dieser Lehre der Reihenfolge nach in den
Vordergrund gerückt worden sind. In Verbindung mit den Erörterungen über
die Asthenopie hatte Berlin den Begriff der verminderten Ausdauer und der
Ermüdung in Erwägung gezogen. Zunächst wurde nun hieran von Niedex
in seiner 1888 veröffentlichten Abhandlung angeknüpft, welcher das subjective
Ermüdungsgefühl bei der Unfähigkeit weiter zu lesen, betonte.
Ein zweites Element, welches bei Berlin nur eine gleichwerthige Com-
ponente neben einer Reihe von anderen Gesichtspunkten bildet, ist der Be-
griff des Zusammenfassens von Schriftzeichen. Eigentlich hatte Berlin diesen
Begriff' nur betont, um das Wort Dyslexie, dessen verbaler Bestandtheil
Xsveiv zwar im Speciellen reden, aber doch im Allgemeinen „sammeln" oder
„zusammenlegen" bedeutet, annehmbar zu machen im Hinblick auf die That-
sache, dass die Erscheinung auch beim wortlosen Lesen auftritt. Dieses
Element ist nun in dem Aufsatz von Weissenbeeg (Aus der medicinischen
Klinik in Heidelberg, Ärch. f Psych. XXII. 414 bis 463) ausgebildet und
zur Grundlage einer Theorie zur Erklärung dieser Erscheinung gemacht
werden. Weissenbeeg postulirte auf Grund der Beobachtung, dass ein
Kranker nach einigen richtig gelesenen Worten die Buchstaben d, e, r noch
lesen, aber nicht mehr das Wort „der" zusammenbringen konnte, ein Buch-
stabenfügungscentrum und wollte durch die Annahme der Zerstörung dieses
Centrums das Phänomen erklären. Aus Zerstörung dieses hypothetischen
448 DYSLEXIE.
Centriims könnte jedoch nur ein dauernder Verlust der Combinationsfäliigkeit
für riclitig erkannte Buchstaben, niemals aber das Phänomen der Dyslexie,
entspringen. Die Dyslexie, bei ^-elcher eine Aufeinanderfolge von Func-
tionsfähigkeit und Functionsunfähigkeit vorliegt, ist ein Typus der func-
tionellen Störungen, welche die anatomische Intaktheit der in Frage kom-
menden Gehirnpartien voraussetzt. Damit steht die Thatsache in einem
"Widerspruch, dass Berlix dieses Phänomen meist bei Herderki'ankungen
der linken Hemisphäre in der Xähe des gyi'us marginalis angetroffen hat.
Aber der Widerspruch ist nur scheinbar, weil von einem bestehenden
Hirnherd aus FernT\irkungen auf benachbarte Theile ausgeübt Tverden können.
— Auf diesem Wege zur Hervorhebung des Phänomens als eines specifisch
„functionellen" ist Pick vorT\-ärts gegangen, wenn er die Dyslexie mit dem
intermittirenden Hinken verglich.
Ich habe nun 2 Fälle beobachtet, welche den theoretischen Uebergang
von der Dyslexie einerseits zur Alexie, d. h. völligen Leseunfähigkeit, andrer-
seits zur normalen Lesefähigkeit bilden. Im ersten Fall, wo nach einem
Schlaganfall zuerst sicher Dyslexie vorhanden war, die später sich wieder der
Grenze normaler Ausdauer beim Lesen näherte, fanden sich bei der Section
zwei Herde, der eine am Fuss der zweiten Front alwindung, der andere am
G}TUS marginalis nach oben bis über den sulc. interparietalis c. Va C7n hin-
aufreichend.
Im anderen Fall, der eine progressive Paralyse betrifft, Hessen sich
periodische Schwankungen der Lesefähigkeit bei langen ohne
Piuhepausen unternommenen L^ntersuchungsreihen nachweisen.
Ferner zeigten sich auch beim Benennen von Zahlen periodische Schwan-
kungen der Leistungsfähigkeit, derart, dass in den Stadien der I^nfähigkeit
selbst die einfachsten Zahlen nicht erkannt, später wieder mehi^stellige Zahlen
erkannt wurden. Es gibt also eine Zahlen dyslexie wie es eine Buch-
stabendyslexie gibt und in beiden Beziehungen ist die Dyslexie nur Anfangs-
glied einer Kette von periodischen Schwankungen. Auf Grund dieser Beobach-
tungen lassen sich folgende Sätze aufstellen, (cfr. So.adiee, Die Dyslexie als
functionelle Störung, Sitzungsberichte der Würzhurger xjhysiJcal.-medimi. Ge-
sellschaft vom 28. Jan. 1893 und ArcJiiv für Psychiatrie 1893.).
1. Die Dyslexie ist gehh'nphysiologisch als Anfangsglied eines perio-
dischen Wechsels von Fun"^ctionsfäh igkeit und Functionsun-
fähigkeit aufzufassen. L^nd zwar tritt die Leistungsfähigkeit auch ohne
„Ausruhen" wieder auf.
2. Der periodische Wechsel von Leistungsfähigkeit und Leistungsunfä-
higkeit lässt sich nicht bloss in Bezug auf die Fähigkeit des Wort- und
Buchstabenlesens, sondern auch in Bezug auf andere isolierte gei-
stige Functionen beobachten.
3. Die Voraussetzung zum Zustandekommen der Dyslexie ist die ana-
tomische Intaktheit derjenigen Gehirntheile, welche füi- die Function
des Lesens in Betracht kommen. Daher ist es principiell verfehlt, dieses
..Lesecentrum" in denjenigen Gehirnpartien zu suchen, welche nach einer
klinisch beobachteten Dyslexie zerstört gefunden wurden.
4. In den Fällen, wo die Dyslexie bei Herderkrankungen des Ge-
hirns beobachtet wird, ist dieselbe als Fernwii'kung und functionelle Schä-
digung benachbarter Gehirntheile aufzufassen.
R. SOMMER.
DYSTROPHIA MüSCüLORÜM PROGRESSIVA. 449
Dystrophia muSCUlorum progressiva. Dystrophia musculorum
progressiva nennt Erb eine hauptsächlich im Kindes- und Jünglingsalter
auftretende Muskelerkrankung, welche auf einer angeborenen, häufig bei
mehreren Mitgliedern derselben Familie vorkommenden fehlerhaften Ent-
wickeluugstendenz beruht. Sie ist charakterisirt durch progressive Kraft-
verminderung und Yolumveränderung vieler Muskeln. Unter Volumveränderung
ist sowohl primäre Muskelatrophie wie -hypertrophie zu verstehen, deren
letztere entweder auf thatsächliche Zunahme und abnormes Wachsthum der
Muskeln {echte Hyiiertrophie), oder aber auf Entwickelung des interstitiellen
Fettgewebes (Pseudohypertrophie) zurückzuführen ist.
Aetiologie. Unsere Einsicht in die ä t i o 1 o g i s c h e n Y e r h ä 1 1 n i s s e
dieser Krankheit ist noch eine sehr beschränkte. Die Bedingungen, unter
welchen die von den Erzeugern ausgehenden Schädlichkeiten zu Tage treten,
sind eigentlich ganz unbekannt. Alkoholismus, Syphilis, Traumata und Ueber-
anstrengung werden häufig in der Aetiologie erwähnt, spielen jedoch bei der
Entstehung der Dystrophie so gut wie gar keine Rolle. Nahe Blutsverwandt-
schaft der Eltern scheinen im Allgemeinen nicht ganz ohne Bedeutung zu sein,
dagegen sind von hervorragender Wichtigkeit die hereditär-familiären Ein-
flüsse. Kach Erb ist Heredität in 56% aller Fälle nachweisbar. Die congenital-
erbliche Tendenz spricht sich in dem Auftreten der Erkrankung bei mehi-eren
Gliedern derselben Familie und in mehreren Generationen sehr deutlich aus.
Es kann in einer Familie die Anlage dazu auf ein Geschlecht beschränkt sein,
während das andere keine derartige Disposition zeigt ; in manchen Fällen tritt
die Krankheit bei mehreren Gliedern derselben Generation ohne Antecedentien
auf, in anderen Fällen wird eine Generation ganz ausgelassen und die folgende
von der Dystrophie betroffen. Häufig wird das Leiden von den Frauen fort-
gepflanzt, welche selbst ihm nicht unterliegen. Es beruht, wie Gowers meint,
die congenitale Anlage (bei der Pseudohypertrophie) ausschliesslich auf dem
mütterlichen Elemente im Embryo. Die überraschend vielen Fälle, wo der
Einfluss der Heredität nicht nachzuweisen ist, vertheilen sich hauptsächlich
auf die im Jünglingsalter entstehenden Formen (sog. juvenile Form).
In einigen Fällen, wo der Ausbruch des Leidens nach krankhaften Processen er-
folgte — nach Infectionskrankheiten, Chlorose — zeigte sich, dass bei anderen Personen
derselben Familie die Krankheit sich ohne das Vorhergehen solcher schwächenden Schäd-
lichkeiten entwickelt hatte, dass somit auch diesen Momenten keine Rolle in der Aetiologie
zukommt.
Das Alter, in dem das Leiden zuerst beobachtet wird, _ ist sehr ver-
schieden. Man unterscheidet eine Dystrophia iiifantum, iiivenimi und
adultorum. Sehr selten beginnt die Krankheit nach dem 50. Jahre sich
zu entwickeln. Bezüglich des Alters ist interessant die Erfahrung, dass
die mit vorwiegenden Hypertrophien, resp. mit primärer Gesichtsbetheiligung
verlaufenden Formen gewöhnlich infantil sind, so dass etwa in ^j^ dieser
Fälle der Ausbruch des Leidens in den ersten Lebensjahren — jedenfalls
vor dem 10. Jahi'e — erfolgt. In der Mehrzahl der juvenilen Fälle zeigt sich
die Krankheit zwischen dem 15. und 35. Jahr, mitten in der letzten Periode
des Wachsthums und des ersten des Mannesalters. Von der hypertrophischen
Form wird auffallender Weise das männliche Geschlecht fünfmal häutiger be-
fallen als das weibliche. Die Krankheit tritt ausserdem bei den Weibern
weniger intensiv und etwas später auf. Die juvenile Form zeigt keine
nennenswerthen Differenzen bezüglich der Geschlechter.
Klinische Krauklieitsbilder. Man unterscheidet bei der Erb'schen
Dystrophie, von Charcot „Myopathie procjressive primitive" genannt, klinisch
mehrere Typen, die sowohl bezüglich des gesammten Krankheitsbildes wie des
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. 29
450. DYSTROPHIA MüSCüLORUM PROGRESSIVA.
Verhaltens einzelner Symptome bestimmte Merkmale aufzuweisen pflegen.
Die wiclitigsten Abarten sind : die sog. juvenile (Eeb), die Pseudohypertrophia
infantilis (Geiesinger, Duchenne), die hereditäre (Leyden), und die faciale s.
facio-humero-scapulare (Duchenne, Landouzy-Dejeeine) ^). Das Einthei-
lungsprincip der Typen ist, wie leicht zu merken, nicht einheitlich und
aus diesem Grunde schon ä priori kaum haltbar. Die nähere Betrachtung
der einzelnen Typen wird die Unbrauchbarkeit der landläufigen Classification
ä posteriori demonstriren.
1. Die sog. juvenile Form entwickelt sich in früher Jugend, seltener
im mittleren Lebensalter, sehr häufig als Familienkrankheit auftretend. Sie
äussert sich in chronischer progressiver Atrophie und Schwäche zahlreicher
quergestreifter Muskeln, speciell des Schulter- und des Beckengürtels, des Ober-
arms und des Oberschenkels. Fibrilläres Zucken in den erkrankten Muskeln fehlt
hier vollständig, wie man denn auch keine qualitativen Aenderungen in der
elektrischen Erregbarkeit zu bemerken Gelegenheit hat, mit Ausnahme natürlich
der durch Schwund der Muskelfasern an sich bedingten herabgesetzten Irrita-
bilität. Vereinzelt ' stehen die Befunde von fibrillären Zuckungen und Ent-
artungsreaction in den afficirten Muskeln. Die Sehnenreflexe verschwinden
mit dem Fortschreiten des Muskelleidens. Störungen der Sensibilität, der
Sphincteren, der Hirnnerven und der trophischen Verhältnisse der Haut fehlen
durchaus.
Von den Muskeln werden zuerst ergriffen der untere Theil der Pedorales
und des Latissimus dorsi, doch merken die Kranken wegen der relativen
Unwichtigkeit dieser Muskeln davon oft wenig. Von den Armmuskeln
werden Biceps und Triceps und mit ihnen der Supinator longus afficirt.
Der letztere Muskel ist in der Regel der einzige der Vorderarmniuskeln,
der einer intensiven Atrophie verfällt. Atrophie des Thenar^ der Lumhricales
und der Interossei gehört zu den seltenen Ausnahmen, dagegen werden der
Supraspinatus, In/raspinatus, Suhscapularis und Serratus magnus in der Mehr-
zahl der Fälle vom Krankheitsprocesse betroffen. Bei längerer Dauer des
Leidens wird auch die untere Körperhälfte in weniger ausgesprochenem Maasse
befallen. An derselben leiden vor Allem der Sacrolumhalis und Longissimus
dorsi, ein Theil der Bauchmuskeln, die Glidaei, grosse Theile der Oberschenkel-
musculatur, endlich auch die Wade und theilweise das Peroneusgebiet. Ge-
legentlich werden auch die mimischen Gesichtsmuskeln afficirt. Im Verlauf
des Leidens stellen sich früher oder später Retractionen einzelner Muskeln,
ein, besonders im Biceps hrachii, in den Unterschenkelbeugern und der Wade.
Fast regelmässig findet man bei der juvenilen Form sehr ausgesprochene Hy-,
pertrophie in manchen, bei der Besprechung des „pseudohypertrophischen"
Typus näher zu erwähnenden Muskeln.
2. Etwas eigenthümlich verhalten sich diejenigen, relativ seltenen Formen
von Dystrophie, bei denen die Muskeln des Gesichts vor dem Eintreten ander-
weitiger Krankheitserscheinungen befallen werden. Es sind das die zum
facialen Typus gehörenden Formen. Sie treten gewöhnlicli im Kindes-
alter auf, werden daher mit Rechtim Gegensatz zu den juvenilen infantile
Dystrophien genannt. Von der Atrophie wird fast ausschliesslich die mimi-
sche Musculatur befallen. (Mm. zygomatici, Levator labii superioris, Orbicularis
oris, Levator angiüi oris, Frontalis, Orhicularis palpehrae). Die Miene des Kin-
des wird schläfrig, gleichgiltig, ausdruckslos, die Wange eingesunken, die Stirn
^) Von manchen Autoren wird noch ein tibio-femoraler und peronealer Typus der
Dystrophie unterschieden. Dieselben gehören aber anatomisch-pathologisch einer ganz diffe-
renten Krankheitsgruppe an und sollen daher an einer anderen Stelle näher besprochen
werden, (vergl. Musculorum atrophia prociv. neuralis.)
DYSTROPHIA MÜSCÜLORÜM PROGRESSIVA.
451
glatt, die Nasenlippenfurche
schwindet, die Bewegungen des
Mundes werden mangelhaft, das
Pfeifen unmöglich, der Lippen-
schluss unvollkommen, das Lä-
cheln erscheint verändert. Der
Kranke ist auch bei grösster
Anstrengung nicht im Stande,
die Augen zu schliessen. Die
Diagnose der in Frage stehen-
den Dystrophie wird durch die
,, Facies myopathica" derart er-
leichtert, dass man sie auf den
ersten Blick zu stellen vermag.
Bulbärsymptome werden nie
beobachtet.
Der weitere Verlauf der
facialen Form zeigt eine weit-
gehende Uebereinstimmung des
Symptomenbildes mit dem der
oben geschilderten juvenilen
Form, indem dann später die
Musculatur der oberen Extre-
mitäten und des Rumpfes in
der bekannten Weise dem
Krankheitsprocesse unterliegen
(Type facio - humero - scapulare)
und endlich die Beine progres-
siv atrophiren. Hypertro-
phien begegnet man bei der
facialen Form bedeutend sel-
tener als bei der juvenilen und,
wo sie vorkommen, localisiren
sie sich ebenfalls in den bei
dem „hypertrophischen" Typus
zu erwähnenden Muskeln.
3. Die in der grossen
Gruppe der Dystrophien die
Mehrzahl bildende pseudo-
hypertrophische Form beginnt in frühester Jugend, meist zwischen
dem 4. und 10. Jahre und ist auch prognostisch ungünstiger als die meisten
übrigen Formen zu beurtheilen. In der Regel stellt sich etwa im 5. Jahre
eine unnatürliche, deutlich wahrzunehmende Volumszunahme bestimmter
Muskeln ein, welche besonders im Gegensatze zu anderen schlecht entwickelten
Muskeln auffällig sind. Die Kinder fangen an spät und ungeschickt zu laufen,
fallen bald hin und richten sich nur mit Mühe auf, beim Treppensteigen
müssen sie sich am Geländer festhalten und in die Höhe ziehen. Diese auf
Verminderung der Muskelkraft beruhenden Anomalien richten in der Regel
die Aufmerksamkeit auf sich, bevor in dem Umfang der Muskeln eine Ver-
änderung bemerkt wird. Am häufigsten und frühesten werden die Waden-
muskeln, am häufigsten und stärksten der Infraspinatus von der Hypertrophie
befallen. Oft sind alle Extensoren am Oberschenkel vergrössert, zuweilen
nur der Rectus oder Vastus internus. Die Glutaei und Lendenmuskeln werden
regelmässig hypervoluminös. An der oberen Körperhälfte werden neben dem
Infraspinatus von der Hypertrophie befallen der Siqwaspinatus und Deltoideus,
29*
Kg. 1.
PsRudoliypertrophia musculorum.
(Nach einer Originalphotographie der II. medic. Klinik
zu Wien.)
452 DYSTROPHIA MüSCüLORUM PROGRESSIVA.
zuweilen auch der Triceps. Die Yorclerarmmuskeln leiden nur in der Mino-
rität der Fälle und die Muskeln der Hand bleiben gewöhnlich ganz frei.
Atrophisch werden bei der pseudohypertrophischen Form gefunden:
die Pectot^ales, CitcuUares, Latissimi, Bhomhoidei^ Biceps, Brachialis internus,
Supinator longus u. s. w., kurz, die bei dem juvenilen Typus genannten
Muskeln. In manchen Muskeln sieht man deutlich die Hypertrophie der
Atrophie vorausgehen.
Die ungeheure Volumszunahme der Waden, Podex, des Oberarmes, ge-
wöhnlich auf pathologischer VeränderuLg des interstitiellen Fettgewebes be-
ruhend, verleihen dem Individuum etwas Riesenhaftes. Die colossalen Massen
fühlen sich ziemlich weich und schwammig an, ihre elektrische Erregbarkeit
und grobe Kraft ist infolge der Abnahme der Muskelfasern in nicht geringerem
Maasse herabgesetzt, als in den primär atrophischen Gebieten. Nur äusserst
selten ist die Volumzunahme der Muskeln, als Ausdruck wirklicher Hyper-
trophie mit compensatorischer Functionssteigerung aufzufassen.
4. Die sogenannte hereditäre Muskelatrophie ist zum ersten Mal von
Leyden unter diesem Namen als specieller Typus beschrieben worden. Die
von ihm gegebene Definition dieser Form lässt sich dahin zusammenfassen:
„hereditäres oder wenigstens familiäres Auftreten — Ueberwiegen des männ-
lichen Geschlechts — Beginn im späten Kindesalter (8. — 10. Lebensjahr) oder
um die Zeit der Pubertät — Beginn stets mit Schv\^äche im Kreuz und den
Beinen — häufig Neigung zu Lipomatose der Muskeln — Schultern und Arme
erst nach Jahren mit einfacher Atrophie begrifi'en." Es bietet somit die „here-
ditäre" Form in allen wesentlichen klinischen Merkmalen eine so weite Ueber-
einstimmung mit der ,. juvenilen" und der ihr nahestehenden „pseudohyper-
trophischen" Form, dass sie kaum auf eine specielle Besprechung Anspruch zu
erheben vermag.
Manche Anomalien in der Haltung, Form und Bewegung des
Körpers sind mit Um^echt für einzelne Typen der Dystrophie als charakte-
ristisch beschrieben worden. Die Anomalien sind keineswegs einzig und allein
für diese oder jene Form pathognostisch, sie sind in gleichem Maasse allen
Typen eigenthümlich und werden ausschliesslich durch die Localisation der
Atrophie an bestimmten Muskelgruppen verursacht. Als charakteristisch für die
Dystrophie werden betrachtet: die sogenannte Facies myopathica, die
stark herabgesunkenen Schultern, die abstehenden Schulter-
blätter, das Hervortreten der Schulterecke, die sogenannten
losen Schultern, die ab norme Beweglichkeit des Schulterblattes,
der watschelnd unbeholfene Gang, das Emporklettern an sich
selbst beim Aufstehen vom Bodensitzen, die Lendenlordose,
die Verbreiterung der unteren Partien des Rippenkorbes, die
Ptetraction verschiedener Muskeln mit consecutiven Distor-
sionen.
Sehen wir uns näher die Pathologie der einzelnen Anomalien an. Die
^Facies myopathica" und ihre Abhängigkeit von der Atrophie der Gesichts-
musculatur wurde beim facialen Typus genauer besprochen. Unter „losen
Schultern" versteht Erb die Haltlosigkeit der Schultern, wenn man die Kran-
ken unter den Armen fasst und sie in die Höhe heben will; sofort steigen die
Schultern bis zu den Ohren empor. Das Ganze beruht, ebenso wie das
„weite Abstehen der Schulterblätter", auf der mangelhaften Fixation
der Schultern wegen der Lähmung der Latissimi dorsi, der unteren Abschnitte
der Pedorales und Cucidlares. Das „Hervortreten der Schult er ecke",
richtiger des inneren oberen Schulterblattwinkels ist ebenfalls Folge der man-
gelhaften Fixation der Scapula durch den atrophischen Cucidlaris und der über-
wiegenden Wirkung der erhaltenen Rhomhoidei und des Levator anguli. Die
antagonistische Wirkung der Teretes und Infraspinati bei relativer Schwäche
DYSTROPHIA MüSCüLORUM PROGRESSIVA.
453
der Cucullares nndi Bhomboidei bedingt die „abnorme Beweglichkeit des
Schulterblattes", das starke Nachaussenrticken der Scapularspitze, wenn
man den horizontal erhobenen Arm gegen ki'äftigen Widerstand herab-
drücken lässt.
Der „watschelnd unbeholfene Gang", die Schwierigkeit beim Treppen-
steigen beruhen hauptsächlich auf der Schwäche der Strecker von Knie und
Hüfte. Der Glutaeus maximus, der das Bein gegenüber dem Becken zu strecken,
und der Psoas, der es zu heben hat, leiden gewöhnlich am frühesten bei der
Pseudohypertrophie. Die grösste Anomalie zeigt sich jedoch beim Aufstehen
vom Boden, wenn es überhaupt noch möglich ist, und keine Gegenstände in
der Nähe sind, mit deren Hilfe der Kranke sich aufrichten kann. Das Kind
stützt sich mit den Händen auf dem Boden auf, streckt die Beine nach hinten
weit aus, und während so das Hauptgewicht des Piumpfes auf den Händen
ruht, werden die Zehen fest gegen den Boden gedrückt und der Körper so
weit nach hinten gelagert, bis die Last desselben gleichmässig auf Händen
und Füssen ruht; diese sind so weit als möglich von einander entfernt. Die
Hände werden alternirend auf
dem Boden zurückgesetzt, so
dass ein grösserer Theil der Last
von den Füssen getragen wdrd.
Dann wird eine Hand auf das
entsprechende Knie aufgesetzt
und indem sich der Patient
mit dieser und der noch auf
dem Boden befindlichen Hand
abstösst, werden die Extensoren
der Hüfte befähigt, den Rumpf
aufzurichten. Das „Empor-
klettern an sich selbst'-
beruht somit ebenfalls auf der
Schwäche der Extensoren des
Knies.
Die charakteristische „Aus-
wärtskrümmung der unte-
ren Rippen" wird durch die
Schwäche des Obliquus und
Transversus abdominis erzeugt.
Eine andere sehr auffallende
Difformität, welche hauptsäch-
lich durch Muskelschwäche her-
vorgebracht wird, ist die „lor-
do tische Verkrümmung
der Wirbelsäule." Sie beruht
nicht, wie gewöhnlich behaup-
tet wird, auf der Schwäche der
Rumpfmusculatur, sondern der
Extensoren der Hüfte, infolge
deren das Becken nach vorne
geneigt ist und mit ihm die
unteren Lendenwirbel und das
Abdomen. Der Oberkörper muss
stark hintenüber geneigt wer-
den, um den Schwerpunkt rich-
tig über die Füsse zu bringen.
Die Lordose schwindet des-
Fig. 2
Lordotische Verkrümmung der Wirbelsäulo durch Di/stynpkia
musculorum progressiva. (Nach einer Original-Photographie der
II. medic, Klinik zu Wien).
454 DYSTROPHIA MUSCULORÜM PROGRESSIVA.
halb beim Sitzen, wenn das Becken auf den Tubera iscliii gestützt wird. Atro-
phiren die Rückenstrecker, so entstehen „Kyphosen" und „Scoliosen",
die die Lordose zum Schwinden bringen.
„Distorsionen" gehören ebenfalls zu den nicht seltenen Erscheinungen
der Dystrophie und werden durch die Verkürzung und Contractur mancher
Muskeln bedingt, speciell des Biceps hrachii, der Unterschenkelbeuger und
der Wade. Die Eetractionen beruhen theils auf denselben Vorgängen, wie
die auch sonst zu beobachtenden paralytischen Contracturen, theils mag auch
die Wucherung und nachfolgende Retraktion des interstitiellen Bindegewebes
bei ihrer Entstehung eine Rolle spielen. Die Deformität im Fussgelenke
(Pes equinus) wird zuweilen so gross, dass der Fussrücken und die Vorderseite
des Unterschenkels fast eine Linie bilden. Ist eine Luxation des Fussgelenkes
beim Pes equinus zustande gekommen, so kann der Tihialis anticus nicht
länger als Flexor functioniren.
Pathologische Anatomie. Der pathologisch-anatomische Befund ist bei
den verschiedenen Typen der Dystrophie ziemlich übereinstimmend. Folgendes Bild ist den
von der Leiche entnommenen Präparaten, sowohl wie den am Lebenden excidirten Muskel-
stückchen gemeinsam: Hypertrophie und Atrophie der Muskelfasern, Kernwucherung und
Vacuolisirung, Spaltbildungen und Theilungen derselben, Hyperplasie und Kernvermehrung
des Bindegewebes, Verdickung und Kernwucherung an den Gefässwandungen, zunehmende
Einlagerung von Fettzellen bis zu den höchsten Graden der Lipomatose. Der Grad dieser
einzelnen Veränderungen ist allerdings in den einzelnen Fällen ein sehr verschiedener;
allein es handelt sich dabei lediglich um quantitative Unterschiede. Circumscripte perimuscu-
läre Lipomatose wird ausnahmsweise beobachtet. In seltenen Fällen von Dystrophie findet
man die grauen Vorderhörner des Rückenmarkes aificirt (Heubner, Strümpell, Kahler), in
der Regel ist der Befund am centralen und peripheren Nervensystem durchaus negativ.
Rückblick. Die genauere vergleichende Durchsicht der einzelnen Abarten
der Dystrophie zeigt in eindringlicher Weise, dass alle die 4 Formen unterein-
ander in den wesentlichen ätiologischen und klinischen Merkmalen und dem patho-
logisch-anatomischen Verhalten eine so weitgehende Uebereinstimmung aufwei-
sen, dass ihre Grenzen sich verwischen und eine scharfe Trennung derselben nicht
gut möglich ist. Es zeigen die einzelnen Typen untereinander jedenfalls nicht
mehr Differenzen, als sie auch sonst unter den unzweifelhaft zu einer Gruppe
gehörigen Fällen vorkommen. Es erscheint aus diesem Grunde gerechtfertigt,
sie zu einer nosologisch zusammengehörigen Krankheitsgruppe zu vereinigen
und als klinische Einheit aufzufassen. In der That handelt es sich überall
um eine weitverbreitete Atrophie vieler Muskeln, wie sie bei der juvenilen und
facialen Form geschildert wurde. Die atrophischen Muskeln zeigen in Bezug
auf ihr objectives Verhalten, mechanische und elektrische Erregbarkeit, fibril-
läre Zuckungen u. s. w. bei allen Typen eine absolute Uebereinstimmung.
Dasselbe gilt von den constant an bestimmten Muskelgruppen sich localisirenden
Hypertrophien. Bei langem Bestehen des Leidens verbreitet sich bei jeder
Form der Dystrophie die Affection fast über den ganzen Körper. Die charak-
teristischen Störungen in der Haltung, Form und Bewegungen des Körpers
sind in den letzten Stadien des Leidens bei allen Formen identisch, und sind
deshalb die Fälle nicht selten, in denen alle 4 Typen in gleichem Masse ver-
treten sind. Der Unterschied zwischen den einzelnen Hauptformen besteht
mithin nur darin, dass hier zuerst das Gesicht (faciale), dort die oberen Ex-
tremitäten (juvenile), resp: die unteren (hereditäre) zuerst befallen werden, hier
die Hypertrophie vorausgeht und im Vordergrunde steht (pseudohypertrophische),
dort sie fast ganz zurücktritt (faciale), hier juvenil, dort infantil sich ent-
wickelt etc. „Ob ein paar Muskeln mehr oder weniger im Gesicht oder an der
Hand oder am Bein ergriien sind, das ist gewiss für die nosologische Stellung
nicht entscheidend bei einer Krankheit, die nach und nach fast das ganze
Muskelsystem befallen kann." (Erb).
Uebrigens verlieren die geringen Differenzen im Beginn und der Loca-
lisation bedeutend an Gewicht bei genauerer Berücksichtigung der sog. un-
DYSTROPHIA MüSCüLORUM PROGRESSIVA. 455
bestimmten und Uebergangsformen. In den letzteren finden wir bei
dem einen Typus die Kriterien des anderen sehr ausgesprochen, z. B. bei der
sog. Leyden'schen hereditären Form die Eigenthümlichkeiten der infantilen
oder pseudohypertrophischen und das Fehlen der Heredität. Es gibt ferner Fälle,
welche zu verschiedenen Zeiten ihres Verlaufes den Typus verschiedener For-
men darbieten, endlich solche, die nicht sicher zu classificiren sind und
über deren Angehörigkeit zur Dystrophie doch nicht der mindeste Zweifel
bestehen kann. Für die EßB'sche Ansicht von der Identität der verschiedenen
Typen spricht schliesslich noch die Thatsache, dass in einer und der-
selben Familie sich mehrere Formen zugleich vertreten finden. Da die
Identität aller Typen heutzutage wohl als feststehend gelten darf, so wäre
die besondere Bezeichnung derselben, die nur Verwirrung in die Diagnosen-
stellung bringt, gänzlich zu vermeiden.
Pathogenese. Haben wir es bei der Dystrophie mit einer primären und
localen Erkrankung des Muskelgewebes, oder mit einer primären Störung
im Nervensystem, etwa mit einer Affection der trophischen Centren oder
Leitungsbahnen zu thun? Die meisten Autoren (Chaecot, Schultze, Licht-
heim, Landouzy, Dejerine) entscheiden die Frage in dem Sinne, dass eine
primäre Myopathie vorliege.
Für die myopatliische Natur sclieineu folgende Thatsachen zu sprechen:
1. Das fast regelmässige Fehlen anatomisch-pathologischer Veränderungen im Rücken
marke und den peripheren Nerven. 2. Die Verschiedenheit der an den Muskeln festzustel-
lenden Veränderungen von denjenigen, welche man bei echten ..neurotischen" Atrophien, bei
traumatischen Nervenläsionen, bei Poliomyelitiden u. s. w. zu finden gewohnt ist. 3. Die
von manchen Autoren (Schäffer) gemachte Beobachtung, dass bei unzweifelhaft örtlichen
Einwirkungen (Sarcom, Carcinom) aut die Muskelsubstanz ganz ähnliche histologische Ver-
änderungen auftreten, wie bei der Dystrophie : Kernwucherung, Atrophie, Vacuolen- und
Spaltbildung, dichotomische Theilung. 4. Manche bei der Muskelregeneration nach Wunden,
Verbrennung beobachteten Vorgänge, die an die dystrophischen erinnern.
Die myelopathische Theorie besitzt ebenfalls ihre Anhänger (Knüll, Moebius,
Liebermeister, Erb). Erb betrachtet die Dystrophie als eine Trophoneurose der Muskeln,
abhängig von functionellen, mikroskopisch nicht nachweisbaren Störungen der trophischen
Rückenmarkscentren. Folgende Thatsachen vermögen theilweise der neuropathischen
Theorie ihre Berechtigung zu wahren : 1. Das gleichzeitige Vorkommen sonstiger nervöser
Störungen und Degenerationszeichen bei den Dystrophikern selbst oder in ihren Familien
(Schwachsinn, Idiotie, Epilepsie, Albinismus, Eclampsie, Diabetes, Migräne, Chorea, Hysterie,
Psychosen). 2. Das Vorkommen von spinalen, resp. peripheren, saturninen Amyotrophien und
der DuCHENNE-ARAN'schen progressiven spinalen Muskelatrophie mit gelegentlicher pri-
märer Localisation am Schultergürtel und am Rumpfe, wie es nur bei der Dystrophie
der Fall zu sein pflegt. 3, Die Localisation der Dystrophie in bestimmten Muskeln und
Nerv-Muskelgebieten, theils in solchen, die einer bestimmten gemeinsamen Function die-
nen, was doch auf ein gemeinsames Innervationscentrum schliessen lässt, theils in solchen,
die zu bestimmten, in den Plexus oder peripheren Nerven nachgewiesenen Innervations-
gebieten gehören. Es erinnert somit an die spinale Kinderlähmung, an gewisse Plexusläh-
mungen, an die Bleilähmungen, an die sog. ERß'sche Supraclavicular lähmung. 4. Das Vor-
kommen dystrophischer Muskelveränderungen bei unzweifelhaft spinalen Erkrankungen. Es
werden hypervoluminöse Fasern bei spinaler Kinderlähmung, bei Syringomyelie, Polio-
myelitis ant. chron.. bei spinaler progressiver Muskelatrophie beobachtet. 5. Endlich
sind von besonderem Interesse die pathologisch-anatomischen Befunde, welche man in ein-
zelnen Fällen von Dystrophie am Rückenmark erhoben hat, nämlich weitverbreitete Affec-
tion der grauen Vordersäulen (Strümpell).
Die seltenen positiven Befunde am Rückenmarke, das gelegentliche Auftreten von
Entartungsreaction und von fibrillären Zuckungen machen es wahrscheinlich, dass eine gewisse
Verwandtschaft zwischen der EnB'schen Dystrophie und derDucHENNE-ARAN'schen spinalen
Amyotrophie besteht. Uebergangsformen und Combinationen beider Gruppen werden klinisch
äusserst selten beobachtet. In welchen Beziehungen die an den Muskelfasern ablaufenden
Vorgänge zu den Vorgängen am Bindegewebe stehen, ob die Hyperplasie des Bindegewebes
Folge der gleichen Schädlichkeit, ob sie der Ausdruck des gleichen allgemeinen patho-
logischen Vorganges, also der Muskelveränderung coordinirt ist, oder ob sie
erst die Folge dieser Muskelveränderung, ihr subordinirt ist, durch die mit der Muskel-
veränderung einhergehenden Reize oder durch den Schwund der Fasern an sich etwa ausgelöst
wird, lässt sich nicht mit Bestimmtheit entscheiden. So viel scheint festzustehen, dass die
456 DYSTROPHIA MüSCüLORUM PROGRESSIVA.
Hypertrophie und Lipomatose der Atrophie zeitlich vorausgehen, wenngleich keineswegs jede
atrophische Muskelfaser ein hypertrophisches resp. lipomatöses Stadium durchmachen muss.
Das Endergebnis ist überall : gänzlicher Schwund des Muskelgewebes und an Stelle desselben
entweder eine atrophische und sklerotische oder eine luehr hypertropische
Lipomatose.
Die Diagnose der Dystrophie macht selten irgend welche nennens-
werthen Schwierigkeiten. Das Alter der Patienten, die familiär hereditären
Momente, die frühzeitige Localisatiou der Atrophie (Latissimus und Pectorales)
und Hypertrophie (Infraspinatus und Gastrocnemius), das Freibleiben der kleinen
Handmuskeln, das Verhalten der Muskeln mechanischen und elektrischen
Reizen gegenüber, die Anomalien der Haltung, Bewegung und Form des
Körpers, das stets normale Verhalten der Sensibilität, die patologisch-anato-
mischen Veränderungen an den excidirten Muskelstücken charakterisiren
genügend das Bild.
Differentialdiagnostisch kommen nur wenige Krankheiten in
Betracht.
Bei der spinalen progressiven Muskelatrophie findet man
hauptsächlich Aö'ection des Thenars und Hypothenars, Fortschreiten der Atro-
phie im Allgemeinen von der Peripherie nach der Wurzel des Gliedes, fibrilläre
Zuckungen und Entartungsreaction ; bei der amyotrophischen Lateral-
sclerose — bedeutende Steigerung der Sehnenreflexe und rascheren Krank-
heitsverlauf. Beide Leiden sind übrigens ziemlich selten und treten ausnahms-
weise familiär und im Kindes- und Jünglingsalter auf. (Hoffmann). Das früh-
zeitige Befallensein der Mm. zygomatici und Or'bicularis oris (Facies myo-
pathica) und das Fehlen von Störungen seitens der Larynx, Pharynx und
Zunge unterscheidet genügend die faciale Dystrophie von Bulbärparalysen.
Die Unterscheidung von der sog. progressiven neurotischen Muskel-
atrophie mit ihrem ganzen charakteristischen Habitus, mit ihrem Beginn
an der unteren Extremität, E a R und fibrillären Zuckungen, mit der aus-
schliesslichen Atrophie und häufigen vasomotorischen und Sensibilitätsstörungen
ist relativ leicht.
Die Poliomyelitis ant. chron., die congenitale spastische Pa-
ralyse, die Friedreich'sche hereditäre Ataxie, die angeborenen
Hüftgelenkluxationen und die doppelseitige Entbindungsläh-
mung kommen ebenfalls bei der Differentialdiagnose zuweilen in Betracht ;
geübten und sorgfältigen Beobachtern bereiten dieselben jedoch keine grossen
Schwierigkeiten.
Die Prognose ist ziemlich zweifelhaft, besonders ungünstig ist sie bei
der pseudohypertrophischen Form. Heilung der einmal aufgetretenen Atrophie
wird leider nie beobachtet. Zuweilen bleibt zwar die Krankheit auf ihr erstes
Ausbruchsgebiet beschränkt, zuweilen zeigt sie langdauernde Remissionen. Selbst
bei der infantil begonnenen Dystrophie können die Kranken ein hohes Alter
erreichen. Es gehört aber jedenfalls zu den Ausnahmen. Die Dauer des
Lebens schwankt zwischen 10 und 50 Jahren. Der Tod erfolgt niemals als
directe Ursache der Erkrankung, gewöhnlich infolge intercurrenter Krank-
heiten oder durch eine acute Pneumonie oder Bronchitis. In anderen Fällen,
wo die Wirbelsäuleverkrümmung und die Lähmung der Bauchpresse intensiv
sind, entwickeln sich chronische Lungen-Erkrankungen, die dem hilflosen
Patienten den Tod herbeiführen. Der Krankheits verlauf der Pseudo-
hypertrophie ist im Allgemeinen bei Mädchen ein langsamerer als bei Knaben.
Von einer wirklichen Therapie kann hier kaum die Rede sein. Von
den verschiedensten zur Anwendung gekommenen Medicamenten hat sich kein
einziges wirksam erwiesen. Phosphor, Arsen, Strychnin werden am meisten
gebraucht. Die elektrische Behandlung ist ebenfalls nutzlos. Wirksamer erweist
sich systematische Massage, mit passiven Bewegungen combinirt und gym-
nastische Uebung der hilfsbedürftigen Muskeln. Die Tendenz zu Muskelcon-
DYSTROPHIA MüSCULORUM PROGRESSIVA. 457
tracturen und anderen Diiformitäten wird dadurch vermindert. Die Fälligkeit
zu gehen und zu stehen geht in der Regel durch die Contractur der Waden-
muskeln verloren, bevor die Schwäche der Beine den Kranken ans Bett fesselt.
In solchen Fällen kann dieTenotomie das Gehen noch Jahre lang ermög-
lichen. . Beim Recidiviren der Contractur ist eine abermalige Operation indicirt.
Während des letzten Krankheitsstadiums ist grosse Sorgfalt nöthig, um den
Patienten vor intercurrenten Leiden zu bewahren.
Anhang. Mit der progr. Muskeldystrophie gemeinsam pflegt gewöhnlich
ein Leiden besprochen zu werden, das sowohl seines klinischen wie patho-
logisch-anatomischen Verhaltens wegen auf eine specielle Besprechung Anspruch
nehmen dürfte, nämlich die
Dystrophia niusciüaris hyperplastica. Von diesem Leiden sind nur
ziemlich wenige Fälle, gewöhnlich unter dem Titel „wahre Muskelhyper-
trophie", bekannt, Es handelt sich bei demselben um eine mit bedeutender
Abnahme der motorischen Kraft verlaufende Zunahme des Volumens und der
Consistenz der willkürlichen Muskeln, ohne gleichzeitige interstitielle Wu-
cherung von Fett oder Bindegewebe. Da eine „wahre" Muskelhypertrophie
nur dann angenommen werden darf, wenn neben einer Vermehrung der Muskel-
substanz auch die maximale Kraftentwickelung zugenommen hat, so ist die
Bezeichnung Talma's „hyperplastische Dystrophie" wohl passender.
Die am häufigsten erkrankten Muskeln sind die der Schulter und des
Oberarmes, oder die des Oberschenkels und der Wade auf einer, resp. auf
beiden Seiten. Man hat auch die Trapezii, Glutaei und langen Rückenmuskeln
afficirt gefunden. Der Umfang der Wade beträgt zuweilen über 40 cm und
der von allgemeiner Muskelhypertrophie befallene Patient kann als Modell
eines Herculesbildes dienen. Unglaublich gering ist jedoch die Kraft der
dicken, hart eventuell normal weich sich anfühlenden Muskeln. Mit vornüber-
gebeugtem Rumpfe schleppt Patient beim Gehen seine Füsse über den Boden
fort und muss nach jeder Bewegung wenige Minuten ausruhen, gequält von
einem Gefühle grösster Ermüdung. Die Krankheit wird zuweilen von spon-
tanen Schmerzen und Paraesthesien eingeleitet. Das Hautgefülil leidet dabei
sehr intensiv, die elektrische Erregbarkeit der Muskeln und Nerven nimmt
bedeutend ab, die mechanische und reflectorische Erregbarkeit bleiben in der
Regel normal.
Das ohne bestimmte Aetiologie einbrechende Leiden nimmt selten
einen progressiven Verlauf, bleibt gewöhnlich auf einer bestimmten Ent-
wicklungshöhe stationär, ohne von therapeutischen Eingriffen in irgend
welcher Weise beeinflusst zu werden. Differentialdiagnostisch lässt
sich die hyperplastische Muskeldystrophie ohne nennenswerthe Schwierig-
keiten von analog verlaufenden Muskel- und Nervenleiden unterscheiden.
Das pathologis ch -anatomische Bild unterscheidet sich bedeutend
von dem der wahren und der Pseudohypertrophie. Es fehlt vollkommen die
Wucherung des Bindegewebes oder des Fettes. Die Zahl der marklosen
Nervenfasern und der Kerne unterhalb des Neurilemmas ist viel grösser als in
der Norm. Die Sarkolemmata sind fast überall verschwunden oder wenigstens
unkennbar geworden. Die Grenzen der Primitivbündel sind demzufolge
nirgends scharf, zwischen denselben sind viele Kerne zu sehen. Der aÖ'icirte
Muskel besteht somit nicht mehr aus den alten, von Sarkolemmata begrenzten
Primitivbündeln, sondern aus anscheinend neugebildeten. Die Zahl derselben
ist dabei vermehrt und ihre Kerne nehmen ebenfalls an Zahl bedeutend zu.
Bei Weitem der grösste Theil des Muskelgewebes zeigt einen Verlust der
Querstreifung. Da nur diejenigen Primitivbündel sich mit normaler Kraft
contrahiren, die die normale Querstreifung behalten, so ist also der anato-
mische Grund der Kraftabnahme trotz der Hypertrophie leicht zu ersehen.
458 ECLAMPSIA INFANTUM.
Bezüglich der Pathogenese lässt sich nichts Bestimmtes aussagen.
Die anatomischen Veränderungen an den Nerven, die Paraesthesien und spontane
Schmerzen, die objectiven Sensil}ilitätsstörungen, die geringe Empfindlichkeit
der Muskeln für den elektrischen Strom machen den neurotischen Ursprung
des Leidens ziemlich wahrscheinlich. Die Frage, ob das Nervenleiden primär,
central oder peripher anfängt, kann zur Zeit nicht definitiv gelöst werden.
H. HIGIER.
Eclampsia infantum. (Convulsionen, Fraisen.) Sie ist eine der häufigen
Kinderkrankheiten; sie wäre noch bei weitem häufiger, wenn alles das, was
mit dem Namen „Fraisen" zum Arzte gebracht wird, auch thatsächlich Eclampsie
wäre. Nicht immer ist dfer Arzt, zumal der Praktiker, ausserhalb des Spi-
tales im Stande, den Anfall zu sehen, besonders dann nicht, wenn es sich bloss
um einen, oder um wenige rasch vorübergehende handelt. Es ist daher sehr
zweckmässig, sich stets bei der Behauptung, das Kind hätte Fraisen gehabt,
beschreiben zu lassen, was eigentlich an ihm beobachtet worden war. Aus
der Art der Beschreibung, der Beantwortung einiger Zwischenfragen, wird
man rasch orientirt sein, ob es sich thatsächlich um einen eclamptischen
Anfall gehandelt hat. In der Ptegel werden die Symptome der Kolik der
Kinder von den Pflegerinnen derselben für eclamptische Anfälle gehalten.
Es unterliegt gar keinem Zweifel, dass der kindliche Organismus sehr
leicht zu Convulsionen disponirt, und dass dieselben bei Kindern durch die
verschiedensten Ursachen sehr leicht hervorgerufen werden. Der Behauptung
SOLTMANXS, dass das kindliche Nervensystem sich von dem der Erwachsenen
dadurch unterscheidet, dass in der ersten Lebensperiode die Entwicklung der
Hemmungscentren rückständig ist, während gleichzeitig die Erregbarkeit der
Peripherie einen hohen Grad erreicht hat, kann im Allgemeinen beigepflichtet
werden. Vorwiegend sind es die ersten Lebensjahre, während welcher eclamp-
tische Anfälle gesehen werden.
Unter eclamptischen Anfällen versteht man klonische Zuckungen, even-
tuell abwechselnd mit mehr minder rasch vorübergehenden tonischen Contrak-
turen, welche meist die gesammte Körpermuskulatur befallen, und die wohl
immer einhergehen mit völliger Bewusstlosigkeit oder mit sehr schwerer Be-
wusstseinstörung. Am ausgeprägtesten sind die klonischen Zuckungen zu sehen
in der Muskulatur des Gesichtes und an den Extremitäten. Der Blick ist meist
starr, doch nimmt in der Piegel auch die Muskulatur des Auges und die Lid-
muskulatur an den klonischen Zuckungen Antheil. Das Verhalten der Pupillen
ist durchaus ungleichartig, bald sind sie contrahirt, bald erweitert. Meist
sind sie völlig reactionslos, und ist die Pieflexerregbarkeit des Bulbus erloschen.
Oft sind die Kiefer aufeinandergepresst, Schaum vor dem Munde. Verletzungen
der Zunge bei grösseren Kindern kommen selu- oft vor. Ebenso kann es vor-
kommen, dass die nach hinten geschlagene Zunge gewissermassen geschluckt
wird und ein Hindernis für die Athmung bildet. Es ist daher zweckmässig,
sich von ihrer Lage zu überzeugen und dieselbe zu corrigieren, d. h. die fest-
gekeilte Zunge wieder mit dem Finger nach vorne umzuschlagen. Die Ke-
spiration ist in der Kegel verlangsamt, stertorös, mitunter treten beängstigend
lange Athempausen ein.
Wenn man in solchen Fällen während eines Anfalles mit dem Finger
in den Larynxeingang eingeht, findet man oftmals, nicht immer, die Epiglottis
nach abwärts gebogen und gegen den Larynxeingang geschlagen.
Es gelingt ohne Schwierigkeiten, dieselbe gerade zu richten, und man
kann öfter die Freude erleben, dass sich in demselben Momente die Respiration,
die sistiert hatte, mit einigen tiefen Inspirationen wieder herstellt, die Cyanose,
ECLAMPSIA INFANTUM. 459
die bei solchen Gelegenheiten stets vorhanden ist, schwindet, ja dass mit den
ersten tiefen Athemzügen der eclamptische Anfall für jetzt ein Ende hat.
Natürlich kann sich rasch ein neuerlicher einstellen.
Viel seltener sind während der eclamptischen Anfälle die Kinder blass.
Der Anfall beginnt meist unmerklich, hie und da mit einer langgezogenen,
lauten Inspiration, eventuell Aufschreien. Ebenso werden gegen Ende die
Zuckungen seltener und seltener, weniger intensiv. Puls und Respiration kehren
zur Norm zurück. Unwillkürlicher Abgang von Stuhl und Urin während der
Anfälle ist die Regel. Die Sensibilität ist auf der Höhe des Anfalles erloschen.
Nach demselben sind die Kinder in der Regel sehr erschlafft und liegen re-
gungslos da.
Die Dauer des einzelnen Anfalles ist sehr verschieden. In der Regel
dauert er bloss einige Minuten. Doch auch 10 — 15 Minuten lange Anfälle
und solche von noch längerer Dauer wurden gesehen. Ein einzelner Anfall
ist etwas sehr seltenes. Je nach der Ursache folgen die Recidiven mehr
minder rasch nach einander.
Die Aetiologie der eclamptischen Anfälle ist eine sehr verschiedene.
Es ist unmöglich, es einem eclamptischen Anfalle anzusehen, ob er dieser
oder jener Ursache seine Entstehung verdankt. Sie gleichen einer dem an-
dern. Es ist weiter unmöglich, mit Sicherheit einen eclamptischen Anfall
von einem epileptischen zu trennen. Mögen nun die Anfälle dieser oder
jener Ursache ihre Entstehung verdanken, stets müssen wir sie betrachten als
Ausdruck einer Reizung der motorischen Gehirncentren. Diese Reizung kann
veranlasst sein durch materielle, anatomisch palpable Veränderungen, wie
z. B. bei einer grossen Reihe von Gehirn- und Rückenmarkskrankheiten:
Meningitis, Encephalitis, Tumoren des Gehirnes, Hydrocephalus, Poliomyelitis,
Sinusthrombose, Embolie, Blutungen, Anaemie, Hyperaemie des Gehirnes etc.
Stets gehen den eventuellen Lähmungen, die bei vielen dieser Erkrankungen
eintreten können und eintreten, Reizerscheinungen, eclamptische Anfälle, voraus.
Die eclamptischen Anfälle werden allgemein sein und die gesammte
Körpermuskulatur betreffen, sobald es sich um Processe handelt, welche das
ganze Gehirn gleichmässig aöiciren. Sie werden eine bestimmte Reihen-
folge im Auftreten, eventuell eine bestimmte Localisation einhalten bei circum-
scripten, localen Erkrankungen. Diese Art der eclamptischen Anfälle ist im All-
gemeinen bei Kindern die seltenere.
Man findet öfter bei Kindern eclamptische Anfälle, für die scheinbar
kein Grund auffindbar ist, und die doch anatomischen Veränderungen im Ge-
hirne ihren Ursprung verdanken. So sah ich z. B. einmal ein Kind, welches
im Laufe einiger Jahre zeitweise an eclamptischen Anfällen litt, die stets ein
bis zwei Tage dauerten, dann spurlos schwanden. Das Kind starb später an
Pneumothorax. Im Gehirn fanden sich mehrere kleine, chronische tuber-
culöse Herde, die keine Herdsymptome veranlasst hatten, aber wohl hinreichende
Erklärung für das Auftreten der Anfälle boten.
Häufiger sind diejenigen Eclampsien, welche im Gefolge der verschieden-
artigsten Organerkrankungen des kindlichen Organismus zeitweise auftreten.
Man könnte sie reflectorische Eclampsien nennen. Es soll jedoch be-
merkt werden, dass es wohl gewisse Krankheiten gibt, mit denen sie gerne
und öfter vergesellschaftet vorkommen, aber keine, deren regelmässiger Be-
gleiter sie sind, wie bei den schon oben genannten Gehirnkrankheiten. Ob
nun die solche Krankheiten begleitende Anaemie oder Hyperaemie des Ge-
hirnes, ob die in vielen Fällen im Beginn hohe Temperatur, mit der viele
dieser Krankheiten einsetzen, ob bei Infectionskrankheiten vielleicht die In-
toxication des Blutes, in manchen Fällen vielleicht die Ueberladung desselben
460 ECLAMPSIA INFANTUM.
mit Kohlensäure, die Ursache der Anfälle ist, das zu entscheiden, ist vor-
läufig ein Ding der Unmöglichkeit, darüber kann man sich theoretischen
Erwägungen hingeben. Jedenfalls scheint es, dass manchen Individuen eine
gewisse Labilität und Eignung des Nervensystemes für eclamptische Anfälle
zukommt. Dafür sprechen die Berichte über das regelmässige Vorkommen
eclamptischer Anfälle bei Kindern einer und derselben Familie, ferner über
das gleiche bei deren Kindern wiederum.
Mit Unrecht hat man wohl die Dentition und die Helminthen als
Ursache eklamptischer Anfälle beschuldigt. Bezüglich der letzteren wird
wohl jeder Praktiker über einen oder den anderen Fall verfügen, wo nach
erfolgreichem Abgange grösserer Mengen von Ascariden oder anderer Darm-
parasiten eclamptische Anfälle, die früher öfter aufgetreten waren, für immer
geschwunden sind. Auch ich erinnere mich eines solchen Falles. Doch was
will das gegenüber dem Heer von Kindern bedeuten, die mit Helminthen be-
haftet sind. So leicht dürfen wir unser Causalitätsbedürfnis nicht befriedigen.
Darum ist es in solchen sporadischen Fällen besser, an ein zufälliges Zu-
sammentrefien, als an einen Zusammenhang zu denken.
Häufig zusammen kommen eklamptische Anfälle mit denjenigen Krank-
heiten vor, die acut beginnend, mit hohem Fieber einsetzen. Vorerst ge-
hören hieher eine Reihe von Krankheiten des Ptespirationstraktes (Pneu-
monie, Pleuritis, Angina) sowie eine grosse Zahl von Infectionskrank-
heiten (Variola, Scarlatina, Sepsis, Morbilli). Auch bei Intermittens, Typhus,
Otitis media wurden sie beobachtet.
Bei Pertussis, sowie bei Laryngospasmus und Tetanie sieht man mit-
unter eklamptische Anfälle, wenn es sich um einen tonischen Krampf der
Glottismuskulatur handelt, die Respiration für längere Zeit stille steht, die
Kinder cyanotisch werden. Möglicherweise handelt es sich hier um eine
rasch eintretende Kohlensäureintoxication des Blutes. Bei Pertussis kommen
auch eventuelle Haemorrhagien in den Gehirnhäuten in Betracht, die in den
so häufigen Conjunctivalblutungen bei dieser Krankheit ein Analogon finden.
Relativ am häufigsten findet man eklamptische Anfälle bei Störungen
des Digestionstraktes, hier zum Theile veranlasst durch mechanische
Momente, Ueberladung des Magens mit schwer verdaulichen und nicht zu
bewältigenden Speisemassen oder durch die in Folge der Einführung schäd-
licher und zersetzter Ingesta entstandene Erkrankung des Magendarmkanals.
Ob die dabei sich im Organismus regelmässig bildenden Aceton und Acet-
essigsäure mit den Anfällen in irgend einem Nexus stehen, ist erstens un-
entschieden, zweitens sehr unwahrscheinlich. Denn die Zahl der Erkrankungen
des kindlichen Organismus, die mit der Bildung dieser Körper einhergehen,
ist eine sehr grosse, und es gibt nur sehr wenige febrile Processe, wo sie
fehlen.
Nicht vergessen dürfen wir die eklamptischen Anfälle im Verlaufe der
Nephritis, die urämischen Anfälle. Sie unterscheiden sich von den
eklamptischen höchstens durch ihre lange, oft 12 Stunden lange Dauer. In
einigen Fällen mag es sich^ hiebei um Retention von Abfallstoffen handeln,
sicher ist mitunter Oedema cerebri vorhanden, constatirbar durch das gleich-
zeitig vorhandene Oedem der Retina, dieses Vorpostens des Gehirnes.
Auch periphere Reize, z. B. Phimosen, Rectumpolypen, Harnsteine,
Verletzungen sollen des öfteren von eklamptischen Anfällen begleitet sein.
Weiter müssen wir noch der terminalen Krämpfe gedenken, die bei manchen
Erkrankungen des Respiration- und Circulationsapparates versus finem ein-
treten, gewöhnlich gepaart mit starker Cyanose. Auch Vergiftungen mit ge-
wissen Alkaloiden, mit Alkohol, gehen mit eklamptischen Anfällen einher, be-
ECLAMPSIA INFANTUM. 461
sonders bei Säuglingen. Hier ist es auch möglich, dass diese Stoffe durch
die Milch von Mutter auf Kind übergehen.
Wir wollen nicht behaupten, dass wir hiemit alle Krankheiten aufgezählt
haben, bei denen eklamptische Anfälle vorkommen und vorkommen können.
Dies ist auch nicht unsere Absicht. Jedenfalls darf der Arzt sich mit der
Diagnose Edampsie nicht begnügen, muss sie als Symptom eventuell Com-
plication betrachten, welche ihn zu sorgfältiger Untersuchung der Kranken,
zum Nachforschen nach dem Grunde der Anfälle auffordert.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass mitunter ein eklamptischer Anfall
eigentlich ein epileptischer ist. Es kann vorkommen, dass ein Kind in
den ersten Zeiten seines Lebens bei dieser oder jener Gelegenheit eklamp-
tische Anfälle bekommt, dann eine längere freie Pause eintritt, schliesslich
sich bei dem Individuum typische epileptische Anfälle einstellen. Es ist dies
jedoch nur selten der Fall. Viele Kinder haben nur einmal im Leben einen
oder mehrere eklamptische Anfälle und dann nicht wieder.
Die Prognose der eklamptischen Anfälle ist im Allgemeinen keine gute.
Sie ist absolut ungünstig, dort, wo es sich um materielle Veränderungen im
Gehirne handelt. Sie bilden eine schwere Complication aller Erkrankungen,
bei denen sie vorkommen. Tod während der Anfälle besonders, wo es sich
um heftige, lange dauernde handelt, ist nicht sehr selten. Offenbar handelt
es sich hier um Erschöpfung, schliessliche Lähmung der Muskulatur des Zwerch-
felles und des Herzens.
Folgen der eclamptischen Anfälle kommen in der Ptegel keine vor.
Manche geben Geistesschwäche und Blödsinn als Folge an. Doch ist es in
diesen Fällen wahrscheinlicher, dass es sich um destructive Processe im Ge-
hirne handelt, die die Anfälle in ihrem Gefolge haben. Bei letal endenden
Fällen findet man Blutungen in den serösen Häuten, Blutungen in den Menin-
gen; viele dürften wahrscheinlich durch die Anfälle veranlasst sein. Auch
Fracturen der Knochen, entstanden durch die Heftigkeit der Bewegungen
während des Anfalls wurden beschrieben. Es ist dies übrigens bei der Knochen-
brüchigkeit mancher Bhachitiker durchaus nicht wunderbar oder unwahr-
scheinlich. Mitunter ist Lungenödem Folge der eklamptischen Anfälle.
Die pathologischen Veränderungen, die man bei Kindern findet, die
einem eklamptischen Anfalle erliegen, richten sich nach der Grundkrankheit
und sind in Folge dessen sehr mannigfaltige. Stets findet man in den Menin-
gen Hyperaemie, dilatirte Gefässe, nicht gar zu selten mehr weniger reiche
kleinste Blutungen. Bei kleinen Kindern wird man ausserdem oft von dem
Vorhandensein einer in vivo nicht diagnosticirten mehr weniger ausgedehnten
lobären oder lobulären Pneumonie überrascht. Eingehendere Untersuchungen
des Centralnervensystemes solcher Fälle wären übrigens sehr erwünscht.
Therapie: Wir sind heute im Stande, jeden eklamptischen Anfall
sofort zu coupiren. Damit haben wir gewiss schon viel gethan, da der Aufall
als solcher, abgesehen von seiner Aetiologie, an und für sich, besonders bei
langer Dauer, tödtlich enden kann. Das souveräne, nie versagende Mittel
in diesem Falle ist das Chloroform. Selbstverständlich soll der Arzt selbst
Chloroformiren und zwar so lange bis die Zuckungen aufgehört haben. Irgend
einen Nachtheil von der Narkose haben wir bei Kindern bisher nicht ge-
sehen, wenn sie unter entsprechenden Cautelen, mit sorgsamer Controle des
Pulses und der Respiration vorgenommen wurde. Es ist erstaunlich, wie leicht
Kinder die Narkose vertragen, und wie geringe Unannehmlichkeiten sie ihnen
nach dem Erwachen bereitet. Man heilt mit der Narkose keine Eclampsie,
aber man beseitigt immer den Anfall in raschester Weise. Besonders bei
uraemischen Anfällen ist sie am Platze. Dass man sich von dem Verhalten
der Zunge und des Kehldeckels stets überzeugen solle, haben wir bereits
oben erwähnt.
462 ECLAMPSIA INFANTUM.
Stets befreie man das Kind von allen beengenden Kleidungsstücken,
sorge füi Zuführung frischer Luft, frottire Brust und Abdomen, eventuell
das Gesicht mit einem nassen Tuch. — Ist Fieber vorhanden, dann setze
man in jedem Falle die Temperatur herab. Eascher und sicherer als durch
jedes Antipyreticum, dessen Beibringung während des Anfalles oft recht
schwierig ist, erreicht man bei Kindern die Herabsetzung der Temperatur durch
kalte Einpackungen, Eiskompressen, auf Stirne und Kopf applicirt, eventuell
einen Eisbeutel, mit dem Thermometer muss man stets den Effect der Pro-
ceduren controlliren, und man fahre mit der Wärmeentziehung bis zur Er-
reichung des erwünschten Zieles fort.
Bei urämischen Anfällen vergesse man nicht zur Anregung der Diurese
der warmen Bäder und der kühlen Uebergiessungen des Kopfes in denselben,
sowie des Zuführens lauwarmen Thees.
Ist die erste Attaque vorüber, untersuche man das Kind sorgfältig zur
Constatirung der eventuellen Ursache des Anfalles und versuche es, derselben,
falls dies überhaupt möglich ist, beizukommen. Hier bestimmte Vorschriften
weiter zu geben ist nicht möglich, da wir fast das gesammte Gebiet der The-
rapie durchwandern müssten. In jedem Falle jedoch sorge man für Entleerung
des Magens und Darmes. Bei dem ersteren ziehen wir eine regelrechte Magen-
spülung jedem Brechmittel vor. Unter den Abführmitteln ist uns für das
Kindesalter speciell in solchen Fällen das Calomel in Dosen ä 0"01 — 0*05,
je nach dem Alter, stündlich bis zweistündlich bis zur gewünschten Wirkung,
das am meisten sympathische. Nur bei Nephritis ist dasselbe absolut
contraindicirt. Hier wende man lieber ein Klysma mit oder ohne arz-
neiliche Zusätze oder eine Darmeingiessung an. Selbstverständlich kann statt
Calomel ein anderes Laxans (Inf. fol. Sennae praep., Ol. Pdcin. etc.) angewendet
werden.
Wenn man will, kann man einen bis mehrere Blutegel am Kopfe an-
setzen lassen, eventuell durch Senfpapier Hautreize auszuüben versuchen. Dem
ersten Grundsatze jedes therapeutischen Handelns „nil nocere" trägt man
damit jedenfalls Rechnung. Dass man Helminthen, dass man verschiedene
periphere Leiden, falls man Grund hat, sie für die Veranlassung der Eclampsie
zu halten, in entsprechender Weise beseitigt, bedarf kaum der Erwähnung.
Das Zahnfleisch zu scarificiren, um dem durchbrechenden Zahne den
Weg leichter zu machen, halten wir für ein Nonsens.
Von den Medicamenten, die man verabreicht, um die Wiederkehr der
Anfälle zu verhüten und das erregte Nervensystem zu beruhigen, nennen wir
das Zincum sulfuric. et valericmum, die Äsafoetida, das Kai. oder Natr. hromat.,
das Chlor alhydrat. Die beiden letztgenannten besitzen die gewünschte Wir-
kung in zweifellosestem Maasse. Man gibt Na. oder K. brom. in Dosen von
0-30— 1-0 3mal pro die, Chloralhydrat l'O— 2*0 : lOO'O 2 stündlich bis zur
Ruhe oder in Dosen von 0*20 — 0-50 als Klysma mit Mucil. gumm. Auch
Morph muriat. ist eventuell mit Vorsicht zu verwenden. Soltmann verwendet
bei manchen Formen der Eclampsie mit Vorliebe Moschus und gibt ihn in
folgender Form:
^Ö''
Rp. Mosch. 0-30 oder Moschi 0-18
Mixt. gumm. 60' 0 Camph. 012
I). 8. stündlich 1 Theelöfel, Sach. 0-20
Amm. carbonic 6'0
M/p. d. i. d. VI.
Stets bleibe es die wichtigste Regel: den einen Anfall zu beseitigen,
und womöglich seine Ursache zu finden. loos.
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN. 463
Eingeweidewürmer des Wlensciien. im Daimcanai sowie in ver-
scliiedenen parenchymatösen Organen des Menschen und der Thiere leben
zahlreiche Arten von Würmern, welche man schlechthin als Eingeweidewürmer
oder Helminthen bezeichnet und in früheren Zeiten als einer einheitlichen
systematischen Abtheilung zugehörig beurtheilte. Diese irrthümliche Ansicht
war offenbar von der bis in die ersten Decennien dieses Jahrhunderts weit
verbreiteten Vorstellung beeinflusst, nach welcher die Eingeweidewürmer unter
gegebenen Bedingungen aus krankhaften Säften und Substanztheilen ihrer
Träger am Orte ihres Aufenthaltes durch sog. Urzeugung entstünden (Ru-
DOLPHi, Naturphilosophie, Lehre von der Lebenskraft), eine Irrlehre, welche
sich vornehmlich auf die in Cysten eingeschlossenen geschlechtslosen Würmer
und insbesondere die blasenförmigen der Geschlechtsorgane entbehrenden und
bis in die neuere Zeit für selbständige Arten gehaltenen Finnen stützte und von
diesen auf die Eingeweidewürmer überhaupt so lange übertragen werden konnte,
als die Lebensgeschichte derselben, die Art ihrer Uebertragung durch active
und passive Wanderung unbekannt war. Erst gegen Mitte dieses Jahrhun-
derts begann sich das Dunkel zu lichten mit dem Nachweis, dass die ency-
stirten Würmer keine selbständigen Lebensformen, sondern unreife Jugend-
stadien darstellen, welche an ihrem derzeitigen Wohnorte die Geschlechtsreife
nicht erlangen, vielmehr auf einen anderen günstigen Boden in den Organis-
mus eines zweiten Trägers übergeführt werden müssen, um sich zu dem
Geschlechtsthiere entwickeln und fortpflanzen zu können. Mit dieser Erkennt-
nis verknüpfte sich alsbald die Vorstellung, welche für eine Reihe von Fällen
experimentell als zutreffend erwiesen werden konnte, dass die in schein-
bar abgeschlossenen Organen encystirt auftretenden Jugendstadien, welche mit
dem Fleische ihres Wohnthieres passiv in den Darmapparat eines zweiten
Thieres überwandern, und hier zu Geschlechtsthieren werden, aus den geschlecht-
lich erzeugten Keimen dieser und deren frei gewordenen Embryonen, be-
ziehungsweise Larven hervorgehen, welche auf activem Wege in die Organe
des ersten Trägers einwandern und in demselben unter mannigfachen Ver-
änderungen bis zu einer bestimmten Grösse und Organisationsstufe gelangen.
Wie es die Finnen, die Blasenwurm-Stadien der Bandwürmer, waren,
welche der irrigen Lehre von der Urzeugung so lange Zeit zur vornehm-
lichen Stütze dienten, so sind es auch die Finnen gewesen, von denen der erste
Einblick in die merkwürdigen Vorgänge der Metamorphose und Biologie der
Helminthen gewonnen wurde, welcher allmälig zu einer befriedigenden Auf-
klärung der Lebensgeschichte zahlreicher Eingeweidewürmer des Menschen
und der höheren Wirbelthiere führte.
Der Beginn dieser neuen Aera für der Helminthologie und damit
auch das an die natiu"ge schichtlichen Vorgänge anknüpfende Verständnis der
Helminthen-Krankheiten und deren Behandlung datirt seit dem bekannten
Experimente Küchenmeisters, welcher aus der einem Delinquenten ein-
gegebenen Schweinefinne {Cysticercus cellulosae) im Darm desselben den
Bandwurm {Taenia solium) zog und hiermit zur Einführung des Experi-
mentes Anlass gab, mittelst dessen es bald gelang, eine Reihe verschiedener
Finnen durch Verfütterung an bestimmte Thiere in Bandwürmer zu verwandeln
und wiederum aus den in den Proglottiden dieser enthaltenen Embryonen
in entsprechenden Versuchsthieren die zugehörigen Finnen zu erziehen. Das
Experiment war nun in die Wissenschaft der Helminthologie eingeführt, die
mittelst dieser Untersuchungsmethode einen ungeahnten Aufschwung nahm und
schon in verhältnismässig kurzer Zeit den allgemein giltigen Satz begründen
konnte, dass sich die Lebensgeschichte fast sämmtlicher Eingeweidewürmer
auf zwei Träger vertheilt. Von diesen beherbergt der eine, meist im Darm-
canale oder in einem adnexen Organ desselben den geschlechtsreifen Wurm,
464 EINGEWEIDEWÜKMER DES MENSCHEN.
der andere gewissermassen als Zwischenwirth in diesem oder jenem Organ
die meist encystirte Jugendform des Gesclileclitsthieres, dessen Brut nicht in
demselben Wohnorte ihre weitere Entwicklung durchläuft, sondern diesen
frühzeitig als Larve verlässt, nun mit dem Inhalt des Organes oder auch durch
selbständige Auswanderung in das Freie gelangt und von hier aus durch
die Wechselbeziehungen des Thierlebens unterstützt in einen neuen Träger
activ überwandert. Es war in erster Linie ß. Leukaet, der Altmeister der
jetzt lebenden Zoologen, welcher durch umfassende auf alle Ordnungen von
Eingeweidewürmern ausgedehnte Untersuchungen dieser Erkenntnis eine eben-
so feste als breite Grundlage gab.
Aber nicht nur die Herkunft der Eingeweidewürmer des Menschen wurde
für die Mehrzahl derselben festgestellt und damit die sichere Basis zu einer
Prophylaxis der Wurmkrankheiten gewonnen, nicht nur die Erscheinungen
der Ontogenese, die mannigfachen und oft wunderbar erscheinenden Vor-
gänge der Metamorphose, welche diese Parasiten nach ihren theils passiven
theils activen Wanderungen durchlaufen, fanden befriedigende Aufklärung.
Die durch Darwin neu begründete Lehre der Descendenz zeigte uns auch den
Weg, um phylogenetisch die Herkunft der Eingeweidewürmer als Parasiten
verstehen und erklären zu können. Im Gegensatz zur Schöpfungs-
hypothese kann zur Zeit keine Meinungsverschiedenheit darüber bestehen, dass
sich die Eingeweidewürmer aus freilebenden Formen entwickelt und den gün-
stigen Lebens- und Ernährungsbedingungen als Parasiten zweckentsprechend
in Organisation und Entwicklungsweise secundär angepasst haben. Unter
den Fadenwürmern {Nematoden) gibt es noch zahlreiche theils im Humus,
theils im süssen und salzigen Wasser lebende Arten von geringer Körper-
grösse mit einer der freien Bewegung und Ernährung entsprechend modilicirten
Gestaltung (Anguilluliden, Khabditiden etc.) Dieselben müssen umso
zuversichtlicher als der Mutterboden, aus welchem die parasitischen Nema-
toden, die Spulwürmer und Verwandten, entsprungen sind, in Anspruch ge-
nommen werden, als nicht nur die gleiche Form und Lebensweise in den
Jugendzuständen einer Keihe von iVewatotiew, welche im geschlechtsreifen Zustand
als Parasiten leben {Strongyliden), wiederkehrt, sondern auch im heterogenen
Lebenscyclus ein und derselben Art freilebende Geschlechtsgenerationen mit para-
sitischen, von diesen verschieden gestalteten Generationen regelmässig alte-
niren (Bhabdonema nigrovenosum ^ strongyloides^ Leptodera appendiculaia etc.)
Und in gleicher Weise lässt sich aus der grossen Uebereinstimmung, welche
die Saugwürmer oder Trematoden in ihrer Körperform und Organisation mit den
freilebenden Strudelwürmer verbindet, als in hohem Grade wahrscheinlich dar-
thun, dass dieselben ihrem Ursprünge nach auf parasitisch gewordene Strudel-
würmer (Turbeüaria) zurückzuführen sind und ihrerseits wieder unter Ver-
einfachung ihrer inneren Organe, insbesondere Rückbildung des Darmcanales
und Quergliederung des in der Längsachse enorm ausgedehnten Leibes zur
Entstehung der Bandwürmer oder Cestoden geführt haben.
Gewisse Eingeweidewürmer haben eine sehr weite Verbreitung, einige
scheinen Kosmopoliten zu sein, einzelne dieser sind in bestimmten Ge-
genden, deren klimatische Bedingungen und Lebensverhältnisse ihrer Ent-
wicklung besonders günstig sind, ausserordentlich häutig und eine wahre Plage
der Bevölkerung. Andere Arten beschränken sich in ihrem Vorkommen auf
gewisse Klimate und Ländergebiete, von denen aus sie sich über benachbarte
Gegenden ausgebreitet haben oder auch nur gelegentlich in diese verschleppt
wurden. Vornehmlich sind es die Tropenländer, die von einer grosser Zahl
gefährlicher, ihrer Lebensgeschichte nach leider noch ungenügend erforschter
Eingeweidewürmer heimgesucht werden. Zuerst wurde Egypten durch die
Entdeckung mehrerer diesem Lande eigenthümlichen (Bilharzia haematobia,
laenia nana, Dochmius duoäenalis) Helminthen und der durch diese verursachten
EINGEWEIDEWÜKMER DES MENSCHEN.
465
(Kg. 1).
Jugendliches Distomum nach La Va-
lette. 0 Mund mit Mundsaugnapf,
P Pharynx, D Darm, 6' Saugnapf in
der Mitte der Bauchfläehe, Ex Längs-
stämme des Wassergefässystems, Ep
Excretionsporus.
endemischen Krankheiten (Haematurie, egyptische Chlorose) berüchtigt. Auch
Ostindien, Japan und China bergen mehrere eigenthümliche Wurmarten. Ausser
einzelnen grossen Distomeen des Darmcanales (Di-
stomum crassum)^ der Leber (D. spathulatum) und
Lunge (J). pulmonale) sind es besonders Filariden,
welche, unter der Haut und im Jugendstadium im
Blute lebend, in den Tropenländern zu lästigen und
oft schmerzhaften Erkrankungen mit lethalem Aus-
gange Anlass geben.
Die Eingeweidewürmer des Menschen vertheileu
sich auf zwei Classen und innerhalb derselben auf je
zwei Ordnungen, welche bereits zu einer Zeit, wo
die Helminthen als besondere Wurmclasse galten, als
Ordnungen derselben unterschieden wurden. Es sind in
der Classe der Plattwürmer (PlathelmintJies) die
Ordnungen der Saugwürmer oder Trematoden und
Bandwürmer oder Cestoden, in der Classe der
Rundwürmer (Nemathelminihes), die Ordnungen der
Fadenwürmer oder Nematoden und Kratzer-
würmer oder Acanthocephalen.
I. Trematoden, Saugwürmer. Unter den durch
einen blattförmigen Leib und den Besitz eines gabelig
gespaltenen afterlosen Darmes charakterisirten Saug-
würmern kommt ausschliesslich diejenige Gruppe von
Formen in Betracht, welche sich mittels Generations-
wechsels (Heterogonie) entwickeln und höchstens mit zwei Sauggruben, einer mund-
ständigen und einer ventralen, bewaffnet sind, die Unter-
ordnung der Distomeen. Dieselben sind wie die meisten Tre-
matoden Hermaphroditen, deren beiderlei Geschlechtsorgane
nicht weit vom vorderen durch die Lage des Mundes und
dessen Sauggrube bezeichneten Körperende an der Bauch-
seite dicht neben oder hinter einander ausmünden. In gleicher
Weise wie der mit muskulösem Schlünde (Pharynx) beginnende
Darmcanal und die beiden am hintern Körperende nach aus-
sen führenden Excretionscanäle (sog. Wassergefässe) liegen
auch die Geschlechtsorgane in einem bindegewebigen Paren-
chym eingebettet, welches den Saugwürmern, sowie über-
haupt den Plathelminthen eigenthümlich ist und dieselben
als parenchymatöse Würmer ohne Leibeshöhle charak-
terisirt. Dieses meist grosszellige Grundgewebe des Leibes
wird von einem Netze feiner mit Wimperkölbchen (Excre-
tionszellen) beginnender Röhrchen durchsetzt, welche das dem
Harne höherer Thiere vergleichbare Excretionsproduct, eine
wasserhelle, hier und da körnige Concretionen enthaltende
Flüssigkeit, in die beiden seitlichen Längscanäle des sog.
Wassergefässsystems überleiten (Fig. 1 ^). Die Körperbeklei-
dung besteht aus einer Cuticula und subcuticulären vielleicht
als Matrix zu betrachtenden Zellenlage. Dazu kommen tiefer
liegende Hautdrüsen, welche im Larvenleben oft zur Ausschei-
dung einer erhärtenden Cyste (encystirte Jugendformen) Nervensystem" von Discomam
dienen. Der kräftig entwickelte Hautmuskelsclilauch, welcher ^'""^ Bau^nel^ten.'^^sr's^euTn-
neben den Saugmuskeln die Locomotion ermöghcht, lässt ''^^^^'^'^^^^^^^f^Zpf^^^'''
eine äussere Ringfaser schiebt, eine mittlere Lage von Längs-
1) Im Einverständnisse mit dem Autor dieses Artikels (Hofr. Prof. Claus) sind die
beigegebenen Abbildungen zum Theil aus dessen „Lebrbuche der Zoologie" (Elvert sehe
Yerlagsbuchbandlung, Marburg 1891) entlehnt.
BibL med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. <J^
466
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
muskelu und eine tiefere Lage mehr diagonal ver-
laufender Ringmuskeln unterscheiden, zu denen noch
dorsoventral verlaufende Parenchymmuskeln hinzu-
kommen. Das Nervensystem ist ein dem Schlünde
aufliegendes Doppelganglion, von welchem ausser
mehreren kleineren Nerven zwei nach hinten ver-
laufende grössere ventrale Stämme austreten. Diese
stehen durch Anastomosen mit zwei viel schwä-
clieren dorsalen und ebenso vielen seitlichen Längs-
nerven in Verbindung. (Fig. 2). Augenflecken treten
lediglich im jugendlichen Leben im Körper auf der
Wanderung begriffener Larven auf. Die Geschlechts-
organe nehmen vornehmlich die mittlere und hintere
Körperhälfte ein, die erst mit Ausbildung der schon
im Jugendzustande vorhandenen Anlage zu ansehn-
licher Grösse gelangen. Zwei bohnenförmige, gelappte
oder verästelte Hoden entsenden ebensoviele Samen-
leiter, welche sich zur Bildung eines uupaaren Ab-
schnittes vereinigen, dessen Endstück von einem mus-
culösen Sacke, dem Cirrusbeutel umschlossen als
Girr US aus der männlichen Geschlechtsöffnung vor-
gestülpt werden kann. Die Eier bereitenden Drüsen
bestehen aus einem Ovarium (Keimstock) und zwei
sog. Dotterstöcken. Das erstere liegt in der Regel
als länglich rundücher Körper vor dem Hoden und
erzeugt die primären Eizellen, die Dotterstöcke
breiten sich dagegen als vielfach ramificirte Schläuche
in den Seitentheilen des Körpers aus und secerniren
Ballen von Nahrungsdotter (Fig. 3.) Die Ausführungs-
gänge des Dotterstockes treffen mit dem des Ova-
riums in dem median gelegenen Ootyp, dem erwei-
terten Anfangsabschnitte des Eileiters zusammen.
In diesem Ootyp, dessen drüsenreiche Wandung das zur
Bildung der Eischalen dienende Secret absondert, begegnen
sich Dotterballen und Eikeime oder primäre Eizellen.
Jede Eizelle wird von mehreren Dotterballen umlagert,
um nach der Befruchtung von dem durch die Schalen-
drüsen gelieferten zur Eischale erhärtenden Secret umhüllt
zu werden. In das Ootyp führt aber noch ein besonderer,
am Rücken nach aussen mündender (Laurer' scher) Canal,
den man häufig als Begattungsgang oder Scheide betrach-
tet hat. Im weiteren Yerlaufe des vielfach geschlän-
gelten, als Fruchtbehälter fungirenden Eileiters häufen
sich die fertig gestellten Eier oft in grosser Menge an
und durchlaufen dann nicht selten die Furchung bereits
im mütterlichen Körper, um in verschieden vorgeschrit-
tenen Stadien der Embryonal entwicklung abgesetzt zu
werden.
Die aus der dicken meist mittelst Deckel verschlosse-
nen Eischale ausgeschlüpften Embryonen durchlaufen bei den
Distomeen einen complicirten mit Metamorphose verbundenen Generationswechsel,
der in neuerer Zeit als Heterogenie gedeutet wird. Die überaus contractilen oft
mit einem x-förmigen Augenfleck versehenen, meist bewimperten Embryonen
(Fig. 4 a, b.) suchen auf dem Wege selbständiger Wanderung in ein neues Wohn-
thier zu gelangen. In der Regel ist es eine Wasserschnecke, in deren Inneres sie
Kg. 3
Distomum hepaticum unter starker Lupen-
vergrösserung 0 Mund, D Darm, <S Bauch-
sangnapf, T Hoden, Do Dotterstöcke,
Ov Oviduct, Dr Ovarium,
b
P4-^k
7?
\
Fig 4
a Embryo von Amphistomum,
Z) Darm, Ex Wassergefässsystem.
b Embryo von Monostomum mu-
tabile. p Augenflecken, R die
Eedie im Innern.
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
476
C—
Fig. 5.
a Der aus dem Distomum-Embryo hervorgegangene Keimschlauch
(Sporocyste) mit Cercarienbrut (c) gefüllt ; B Bohrstachel einer
Cercarie. b Kedie, 0 Mund, Ph Pharynx, D Darm, Ex Excre-
tionsorgan. c Cercarie, S Saugnapf, D Darm,
Ex Excretionsorgan.
«indringen, um nach Verlust der
Bewimperung und des Augenflecks
zu einfachen oder verästelten
Keimschläuchen, Sporocysten
(ohne Mund und Darm), Redien
(mit Mund und Darm) — auszu-
wachseu (Fig. 5 a b), Dieselben
erzeugen durch sog. Keimkörner,
welche wahrscheinlich Eikeimen
■der Ovarialanlage entsprechen,
•eine neue Generation, die Cer-
carien oder auch eine Tochter-
larut von Keimschläuchen, welche
dann erst die Cercarien her-
vorbringen (Fig. 6). Diese Cer-
carien sind die Distomeenlarven,
welche oft erst nach einer zwei-
mahgen activen und passiven Wan-
derung an den definitiven Auf-
enthaltsort der Geschlechtsthiere
gelangen. Mit überaus bewegli-
chem Schwanzanhang, häutig auch
mit Mundstachel, seltener mit
Augen ausgestattet, zeigen sie in
ihrer Organisation bis auf den
Mangel der Geschlechtsorgane
l)ereits grosse Uebereinstimmung mit
den ausgebildeten Distomeen. In sol-
cher Form verlassen die jugendlichen
Cercarien selbständig den Leib ihres
Trägers und bewegen sich theils krie-
chend, theils schwimmend im Wasser
umher. Die meisten gehen wohl in
kurzer Zeit zu Grunde, einzelne aber
treffen mit einem grösseres Wasser
bewohnenden Thiere (Schnecke,
Wurm, Insectenlarve, Krebs, Fisch,
Batrachier) zusammen, in das sie
unter Bohrbewegungen des vorderen
Körperendes, unterstützt durch den
kräftig schwingenden Schwanzanhang
eindringen, um nach Verlust des letz-
teren und sonstiger Larvenorgane zu
encystiren. (Fig. 7) Die im Innern
der Schnecke von den Keimschläu-
cheu aufgesammelte Cercarienbrut zerstreut sich somit auf
eine grössere Zahl von Trägern und gestaltet sich in diesen
2u jungen geschlechtslos bleibenden Distomeen, von denen
wiederum einzelne mit dem Fleische ihres Trägers in den
Magen des definitiven Wirthes und von ihrer Cyste befreit
in den Darm, die Leber, Lunge, Harnblase etc. gelangen,
in welchem sie zu geschlechtsreifen Thieren werden. Es
kommen somit in der Regel drei verschiedene Thiere als Trä-
ger von ebenso vielen zu einer Distomumspecies gehörigen
Entwicklungsphasen (des Cercarien erzeugenden Keimschlauchs,
Fig. 6.
Cercarien von Dlstomum hepaticum in verschiedenen
Contractionszuständen .
Fig. 7.
Encystirte Jugendform von
Distomum hepaticum.
30*
468
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
der kleinen encystirten Jugendform und des ausgewachsenen gesclilechtsreifen
Distomum) in Betracht. Die Uebergänge von der einen zur andern werden theils
durch selbständige Wanderungen (Embryonen, Cercarien), theils durch passive
Uebertragung (encystirtes Distomum) vermittelt. Indessen können von diesem wohl
für die Mehrzahl der Distomeen giltigen Entwicklungsgang mannigfache
Abweichungen eintreten. Complicirter wird die Entwicklung für die erste
Phase sein, wenn sich wie bei Distomum hepaticum die in Schnecken (Lymnaeus
minutus) eingewanderten Embryonen zu Sporocysten ausbilden und Redien erzeugen,
in welchen erst die Cercarienbrut entsteht. Dagegen ergibt sich in demselben Falle
durch den Ausfall des zweiten Zwischenträgers eine Veremfachung, indem die aus
den Sumpfschnecken auswandernden Cercarien an Pflanzen encystü-en und zugleich
mit diesen von dem Träger des späteren Geschlechtsthieres aufgenommen werden.
Eine ähnliche Vereinfachung kann auch dadurch veranlasst werden, dass die aus-
schlüpfende Cercarie sogleich durch selbständige Einwanderung {Cercaria makrocerca
— Distomum cygnoides der Frösche) oder passiv durch die als Nahrung aufgenom-
menen Schnecken an den Wohnort des Geschlechtsthieres gelangen. Im letzteren
Falle kann auch die Büdung des Cercarienschwanzes ganz in Wegfall kommen (Leuco-
cJiloridium aus der Bernsteinschnecke — Distomum holostomum der Singvögel).
1. Leberegel.
In den europäischen Ländergebieten gibt es nur wenige Distomeen
welche im Körper des Menschen leben. Ueberdies finden sich dieselben
im Ganzen selten und dann meist nur als in wenigen Exemplaren vorkommende
Gäste, während sie in pflanzenfressenden Hausthieren sehr häufig und in grosser
Zahl angetroffen werden und die sog. Leberfäule veranlassen.
Fig. 8.
Leberegel in natürlicher
Grösse.
Fig. 9.
Embryo von Distomum
hepaticum.
Fig. 10.
Entwicklungszustände von Distomum hepaticum, a Sporocyste,.
C Cercarie, & Redien (ö Darm, R Redie, c Cercarie
K sog. Keimkörner.
Der grosse Leberegel, Distomum hepaticum L. (Fig. 3 und 8) mit breitem,
blattförmigem, nahezu 3 cm langem Leibe, dessen überaus bewegliches Yorderende
kegelförmig hervortritt, ist ausgezeichnet durch den Besitz kleiner, cuticularer
Stachelschuppen, welche in dichter Anordnung die Oberfläche der Haut bekleiden
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
469
und bei der Bewegung im Lumen enger Canäle (Gallengänge) einen Reiz auf die
Wand derselben ausüben. Saugnäpfe verhältnismässig schwach, der hintere grössere
dem vordem bedeutend genähert. Darmschenkel mit Seitenzweigen besetzt, schwärz-
lich gefärbt, Hoden vielfach verästelt, das Mittelfeld des Leibes durchsetzend (Fig. 3).
Die Entwicklungsgeschichte wurde neuerer Zeit durch die Untersuchungen von
E. Leuckart und sodann auch von A. P. Thobias ziemlich vollständig aufgeklärt. Die
Eier gelangen mit dem Inhalt der Gallengänge in den Darm und von da nach aussen,
;um an sumpfigen Oertlichkeiten im Wasser im Laufe einiger Wochen die Embryonal-
«entwicklung zu durchlaufen. Der langgestreckte, continuirlich bewimperte mit Kopf-
zapfen und x-förmigem Augenfleck versehene Embryo (Fig. 9) dringt in gewisse
.Sumpfschnecken {Lijmnaeus minutns und trimcatulus) ein und gestaltet sich hier zu
■einer Redien erzeugenden Sporocyste (Fig. 10 a). In den Redien
(Fig. 10 b) entstehen wiederum Redien oder sogleich Cercarien
(Fig. 10 c), welche nach ihrem Auswandern in der Schnecke und
Abwerfen des Schwanzes aus besonderen Hautdrüsen eine Sub-
stanz ausscheiden, mittelst deren sie an fremden Gegenständen,
besonders an kleineren Pflanzentheilen encystiren. Wahrscheinlich
werden diese eingekapselten Jugendformen (Fig. 7), ohne in einen
3ieuen Zwischenträger zu gelangen, mit der Pflanzenkost direct in
den Träger des Gescldechtsthieres aufgenommen, aus dessen Darm
sie aus der Cyste freigeworden in den Gallengang überwandern.
In derselben Weise dürfte die Infection (vielleicht durch den
■Genuss der Brunnenkresse) auch beim Menschen erfolgen, in wel-
chem der grosse Leberegel nicht nur in den europäischen Län-
dern, sondern auch in Egypten, Indien, Australien und Amerika
I)eobachtet wurde. Indessen ist das Vorkommen desselben im
Menschen ein relativ seltenes; auch wurden in der Mehrzahl
der sicher constatirten Fälle immer nur wenige Exemplare beob-
achtet und die durch dieselben veranlassten pathologischen Yer-
änderungen dann meist nur geringfügig befunden. In einzelnen Fällen
sind jedoch auch tiefer greifende Störungen nachgewiesen worden,
vrelche den durch den Leberegel veranlassten Krankheitserschei-
nungen der Hausthiere entsprechen, und es kann wohl keinem
JZweifel unterliegen, dass bei einer grösseren Zahl dieser Parasiten
•ein der Leberfäule ähnlicher Symptomencomplex auftreten würde.
DieDiagnose erscheint erst durch den Nachweis der
Eier des Leberegels bei mikroskopischer Unter-
suchung der Fäces gesichert.
Der kleine Leberegel (Distomum lanceolatum Mehlis),
■von lanzetförmiger, vorn stärker verschmälerter Körperform, 8 bis
9 mm lang mit einfachen unverästelten Darmschenkeln und glatter
Körperoberfläche (Fig. 11), bewohnt, mit D. hepaticum oft vergesell-
schaftet, die grösseren Gallengänge und die Gallenblase derselben
Thiere. Die Entwicklungsgeschichte ist bislang nicht vollständig
bekannt geworden. Man weiss nur, dass sich die Embryonen schon
im Innern des ungewöhnlich langen Fruchtbehälters entwickeln, in
■den abgelegten nach aussen gelangten Eiern im Wasser frei
werden und hinter einem bestachelten Kopfzapfen an der vor-
•deren Körperhälfte sehr lange Wimpern tragen (Fig. 12 ab),
•dagegen des x-förmigen Augenfleckes entbehren. Ueber die wei-
teren Schicksale derselben konnte ebenso wenig, wie über die
Natur des Zwischenwirthes, in welchem die Cercarienbrut erzeugt
wird, etwas Bestimmtes ermittelt werden. Vom Vorkommen des
.kleinen Leberegels im menschlichen Körper sind bislang nur wenige
IFälle bekannt geworden.
Fig. 11.
Distomum lanceolatum
(Eückenlage.)
\z a.
Ausgeschlüpftes Em-
bryo von Distomum
lanceolatum mit zu-
.rückgezogenem
Kopfstachel .
Eig
Derselbe mit vor-
gestossenem Kopf-
Btachel.
470
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
Von weit grösserer medicinischer Bedeutung sind die-
in Ostindien, China und Japan verbreiteten Leberegel, welche
von CoBEOLD als Distomum sinense, von K. Leuckaet alS'
Distomum spathulahim bezeichnet worden sind. Dieser Saug-
wurm ist dem kleinen Leberegel ähnlichgestaltet, jedoch
grösser und ausgewachsen bis 13 mm lang. Charakteristisch
ist die bedeutendere Stärke des Mundsaugnapfes, die Länge
der beiden Darmschenkel, das breitlappige Ovarium und die:
Lage der verästelten Hodenschläuche im hinteren Viertel des.
Leibes. Cirrus und Cirrusbeutel fehlen (Fig. 13). lieber
die Entwicklung ist lediglich bekannt, dass der mit Wimpern:
besetzte Embrj^o nicht im Freien die Eihüllen verlässt, son-
dern erst im Darm eines Zwischenträgers, wahrscheinlich einer
Schnecke (vielleicht eine Melauia-Art) ausschlüpft. Am mei-
sten verbreitet ist das durch diesen Parasiten bedingte Leber-
leiden, welches mit der sogen. Leberfäule unseres Horn-
viehes grosse Aehnlichkeit hat, in den Küstendistricten
Mitteljapans, besonders unter den Bewohnern Okyoamu's, von
denen mehr als 10 Procent an der oft lethal endenden Krank-
heit leiden. Eine ähnliche etwas kleinere Art, welche mit,
Distomum conjunctum Cobb. aus der Leber des amerikanischen:
Fuchses identisch sein soll, lebt in der Leber der ostindi-
schen Strassenhunde und wurde in Calcutta gelegentlich auch,
bei Obductionen in der Leber des Menschen (von Lewis.
und Cünnigham) aufgefunden.
Distomum Rathouisi Poir Distomum crassum Busk. Mit,
breitem, länglich ovalem Körper von 25 mm Länge. Haut.
glatt, unbestachelt , Darmschenkel unverzweigt. Beiderlei
Geschlechtsorgane denen von D. hepaticum ähnlich gestaltet.
Mehrmals von leberkranken Chinesen in grösserer Zahl ei-brochen oder im Stuhlgang;
entleert, daher wahrscheinlich Parasit der Leber.
Distomum heterophyes von Sieb. Der länglich ovale, hinten gerundete Körper-
ist an der vordem Hälfte mit Spitzen besetzt und erreicht kaum eine Länge von
1^/2 mm. Der hintere ovale Saugnapf liegt ziemlich in der Mitte des Körpers, vor
demselben spaltet sich der lange Oesophagus in die beiden einfachen, hinten blasen-
artig erweiterten Darmschenkel. Das Ovarium sowie die Hoden von kugliger Form^
die Geschlechtsöflfnungen liegen von einem musculösen Kingwulste umgeben, hinter
dem grossen Bauchsaugnapf. Entwicklung und Lebensweise des Wurmes, der bis-
lang nur einmal von Bilharz im Darm einer Knabenleiche in Kairo massenhaft ange-
troffen wurde, zur Zeit noch unbekannt. Obwohl dieser Wurm bislang ebensowenig wie
D.cras.mm der Chinesen in der Leber nachgewiesen wurde, bleibt doch zur Zeit
die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass beide Distomeen nicht Bewohner des Darmes^
sondern der Leber sind, aus der sie in den Darm gelangen.
'Fig. 13
Distomum sinense
(spathulatum).
2. Lungenegel.
Distomum pulmonale Bäiz {Distomum Westermanni Kerb.) Körper dick und breit,,
gedrungen eiförmig, bräunlichroth gefärbt, 8- — 10 mm lang, mit Stachelschuppen.
bekleidet, beide Saugnäpfe klein, auch der vordere liegt etwas baucliständig, der-
hintere etwas grössere nahe der Körpermitte. Hinter demselben münden die bei-
derlei Geschlechtsorgane in gemeinschaftlicher Oeffnung aus. Darmschenkel mit
schwachen Ausbuchtungen und unregelmässig welligem Verlaufe, Ovarium und Hoden
von gelappter Form. Cirrus und Cirrusbeutel fehlen (Fig. 14). Ueber die Entwick-
lung ist bislang festgestellt, dass sich der bewimperte Embryo erst nach dem Ab-
legen des Eies entwickelt und eine Zeitlang frei im Wasser schwimmt. Das weitere:;
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
471
Fig 14
Distomum pulmonale
(Von der Ventralseite gesehen )
Schicksal derselben ist ebenso wenig bekannt,
als die Art, wie die Art, in welcher die Ein-
wanderung der Keime in die Lungen erfolgt.
Lebt in cavernenartigen Hohlräumen, die an
der Peripherie der Lungen sitzen und eine
röthliche aus zerfallenden Gewebstheilen, aus
Blutkörperchen und Distomeeneiern beste-
hende Masse enthalten. Die Eier gelangen aus
den Cavernen in die Bronchien und werden
in dem mit Blut untermengten Sputum aus-
geworfen. Das als Wur m-Haemoptoe zu
bezeichnende Leiden ist über ganz Japan,
besonders in der Provinz Okoayama (Mittel-
japan) verbreitet. Wahrscheinlich ist das
in den Lungen des Tigers lebende Distomum
Westennanni Kerb, mit dem Lungenwurm
des Menschen identisch.
3. Im Blute lebende Saugwürmer.
Büharzia haematohia v. Sieb. {Distomum
haematohium v. Sieb). Körper langgestreckt,
Nematodenähnlich mit vorgelegenem und mit
bauchständigem, dicht hinter jenem folgenden
Saugnapfe, getrennt geschlechtlich. Das männ-
liche Thier mit viel kräftigeren Saugnäpfen
und rinnenförmig nach der Bauchseite umge-
schlagenen Seitenflächen, welche einen „Canalis
gynaecophorus" zur Aufnahme des schmäch-
tigen cylindrischen Weibchens bilden. Darm-
canal mit Schlund und zwei Darmschenkeln, welche sich hinter
dem Ovarium, beziehungsweise den Hodenblasen zu einem un-
paaren Schlauche wieder vereinigen (Fig. 15). Leben paarweise
vereint in der Pfortader, den Darm- und Blaseuvenen des
Menschen in Abyssinien und setzen ihre Eier in die Schleim-
hautgefässe der Harnleiter, Harnblase und des Dickdarmes
ab. Hiedurch werden Stauungen des Blutabflusses, Entzündun-
gen und Geschwüre der Schleimhaut erzeugt, welche die in
Egypten endemische Haematurie zur Folge haben. Die be-
wimperten Embryonen dürften bei Blutungen nach aussen gelan-
gen und unter günstigen Bedingungen in einen Zwischenwirth
übergeführt werden, über dessen Natur ebensowenig wie über
die weiteren Schicksale der Jugendzustände und die Art der
Einwanderung derselben in den menschlichen Körper bislang
Näheres ermittelt werden konnte.
Das ein einzigesmal in der Linsenkapsel des Kindes
beobachtete Distomum opJitalmobium Dies, bezieht sich ebenso
wie das nur einmal gefundene Monostomum lentis v. Nordm.
auf den unreifen Jugendzustand einer nicht weiter bestimm-
baren Distomumart.
IL Cestoden, Bandwürmer. Die Bandwürmer sind
langgestreckte, meist quergegliederte Plattwürmer, ohne Mund
und Darmcanal, mit Haftorganen an dem als Kopf unterschiedenen Yorderende.
Nachdem die Vorstellung der Alten widerlegt worden war, nach welcher diese Wür-
mer durch Verkettung der isolirten Glieder oder Proglottiden entstanden seien, wurden
dieselben bis in das vierte Decennium dieses Jahrhunderts fast allgemein für Einzel-
thiere mit sich abtrennenden Theilstücken gehalten. Erst 'seit Steenstkup's Abhand-
Fig. 15.
Büharzia liaematobia v.
Sieb Männchen mit dem
Weibchen im Canalis
gynaecophorus
jS Bauchsaugnapf.
472
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
Fig 16.
Kopfeade voa Taenia solium.
Pig. 17.
Taenia media canellata (saginata).
lung über den Generationswechsel kam die Auffassung zur
Geltung, welche in dem Bandwurm eine Kette von Einzel-
thieren, einen Thierstock, dagegen in dem einen selbstän-
digen Geschlechtsapparat enthaltenden Bandwurmgliede, der
Proglottis, das Individuum zu erkennen glaubte. Nun
gibt es aber zahlreiche Bandwürmer, deren Glieder überhaupt
nicht zur Trennung gelangen; und man lernte einzehie Arten
kennen, welche derselben überhaupt entbehren und einen
relativ kurzen, den Saugwürmern ähnlichen Leib mit nur
einem einzigen Geschlechtsapparat besitzen (Cartjophi)llaeiis).
Xach diesen Befunden wurde die letztere Anschauung un-
haltbar. Zum Verständnis des gegliederten Bandwurmes mit
in den Proglottiden sich wiederholenden Geschlechtsapparaten,
wird man von der einfachen, dem Saugwurm ähnlichen Form
auszugehen haben und diese als den ursprünglichen, aus dem
reducirten, des Darmapparates verlustig gegangenen Tre-
matodenleib abzuleitenden Formzustand betrachten müssen,
aus welchem sich jener im Zusammenhang mit der einfachsten
Organisation und den günstigen Ernährungsbedingungen im
Darm der Wirbelthiere durch Wachsthum in der Längs-
achse mit nachfolgender Quergliederung und dieser
entsprechender Wiederholung des Geschlechtsappa-
rates erst secundär entwickelt hat. Man wird dem
gemäss zu der älteren Auffassung zurückkehren
müssen und die Individualität des gesammten Band-
wurmleibes aufrecht zu erhalten haben, zugleich
aber innerhalb derselben die morphologisch unter-
geordnete Individualitätsstufe der Proglottis aner-
kennen müssen.
Der vordere verschmälerte Körpertheil des
Bandwurmes vermag sich mit seinem knopfartig
angeschwollenen Ende, dem Bandwurmkopf, anzu-
heften und ist an demselben mit Haftorganen
bewaffnet. (Fig. 16.) Häufig endet der Kopf mit
einem Zapfen (Rostellum), welchem ein doppelter
Kranz von Haken aufsitzt, während vier Saug-
gruben die Seitenflächen einnehmen. Oder es sind
lediglich die letzteren Haftapparate vorhanden. Wäh-
rend diese Bewaffnung für die Taenia den charak-
teristisch ist, finden sich bei den Bo thrioce-
phaliden nur zwei schwache Gruben vor. Der
auf den Kopf folgende, oft als Hals bezeichnete
Abschnitt zeigt die ersten Spuren beginnender Quer-
gliederung. Die anfangs noch undeutlich abgesetzten
Querringel werden zu kurzen, dann in contiuuir-
licher Folge längeren und breiteren Gliedern, welche
sich mit ihrer Entfernung vom Kopfe bestimmter
abgrenzen und schliesslich am hinteren Körperende
den grössten Umfang erreichen, um sich als Pro-
glottiden zu trennen. (Fig. 17.)
Die innere Organisation entspricht, von dem
Mangel des Darmcanales abgesehen, vollkommen der
des Saugwurmes. Dieselben Schichten der Haut
und Muskulatur, das gleiche bindegewebige Paren-
chym, in welchem die Organe eingelagert sind.
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
473
Auch findet sich das feine Canalsystam des Excretionsapparates mit dem Wimper-
kölbchen (Fig. 18 a, b) im Leibesparenchym wieder, ebenso die Längsstämme des-
selben, welche an den Seiten des Wurmes verlaufen, in den einzelnen Gliedern durch
Fig. 18, b
Wimperkölbchen mit der
flackernden Geissei von
Phyllobothrium.
Fig 18, a.
Jüin Stück des "Wassergefässsystems von Caryophyllaeus mutabilis.
(Nelken wurm) Kr Körperrand, Wh Wimperkölbchen.
Fig. 19.
Kopf einer Taenie mit den Schlingen
[des "Wassergefässsystemes.
<5uerstämme verbunden sind und am Hinterende
genähert mittelst gemeinsamen Porus ausmünden. Im
Kopfe sind dieselben durch Schlingen verbunden.
(Fig. 19.) Das Nervensystem besteht aus zwei
seitlichen, an der äusseren Seite der Wassergefäss-
stämme verlaufenden Seitennerven, deren Vorder-
enden durch eine gangliöse Querbrücke im Kopfe
verbunden sind. (Fig. 20.)
Auch der hermaphroditische Geschlechts-
apparat schliesst sich seinem Baue nachdem der
Trematoden eng an, wiederholt sich aber in den
aufeinander folgenden Quergliedern, den Proglotti-
den, welche daher in gewissem Sinne als die Ge-
neration der Geschlechtsthiere betrachtet werden
konnten. Die beiden Hoden des Saugwurmes finden
wir als Drüsenbäumchen in eine grosse Zahl kugel-
förmiger Hodenbläschen aufgelöst, welche der Dor-
salseite zugekehrt sind und ihren Inhalt durch
baumförmig verzweigte Vasa efferentia in ein gemein-
sames Vas deferens ausführen. Der geschlängelte
Endabschnitt desselben liegt in einem musculösen
Sack (dem Cirrusbeutel) und kann als Cirrus aus
der Geschlechtsöffnung vorgestülpt werden. Die weib-
lichen Geschlechtsorgane bestehen aus dem Ovarium,
Dotterstock (Eiweissdrüse) Oviduct oder Frucht-
behälter, Schalendrüse und Vagina (Begattungscanal nebst Eeceptaculum), welche
letztere in der Regel unterhalb der männlichen Geschlechtsöffnung meist in einem
gemeinsam umwallten Geschlechtsporus nach aussen mündet. Entweder liegt dieser
Fig. 20.
Nervensystem von Taenia perfoliata.
N Nervenstämme. (Längsschnitt durch
den Kopf.)
474
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
Fig. 22.
Proglottis von Taenia
cucumerina.
Kg. 21.
Proglottis von, Taenia mediocanellata im Stadium männlicher und weib-
licher Eeife 0« Ovarium, Ds Dotterstock, Sd Schalendrüse, Ut Uterus,
T Hodenbläschen, Vd Vas deferens, Cb Cirrusbeutel, K Kloake,
Va Vagina (Begattungscanal) Wc Wassergefässstamm, N Nervenstrang
auf der Fläche (Ventralseite) des Gliedes ( Bothriocephaliden) oder am Seiten-
rande und dann alternirend bald rechts bald links {Taenia. Fig. 21.). Indes-
sen soll es auch vorkommen, dass beide Greschlechtsöffnungen im weiten Abstand von
einander getrennt liegen und dass die männliche Oeffnung am Seitenrande, die
weibliche flächenständig mündet. Auch kann sich der Geschlechtsapparat in den
Seitenhälften der Proglottiden paarig wiederholen, in welchem Falle die Oeffnungen
rechts und links am Rande hegen (Taenia cucumerina Fig. 22.). Bei vielen
Bothriocephaliden besitzt auch noch der Fruchtbehälter seine besondere, von
der Oeffnung der Vagina wohl zu unterscheidende Ausmündung, und nur in diesem
Fall gelangen die Eier meist vor Beginn der Embryonalentwicklung aus dem Leibe
der Proglottis nach aussen. Die einzelnen Glieder des Bandwurmleibes stehen keines-
wegs auf gleicher Stufe geschlechtlicher Ausbildung, sondern enthalten alle aufein-
ander folgenden Phasen derselben in continuirhcher Reihenfolge, indem mit der
Grössenzunahme der Glieder, welche mit der Entfernung vom Kopfe allmälig zu-
nehmen, die Entwicklung der Geschlechtsorgane von vorne nach hinten fortschreitet.
Wohl allgemein tritt die männliche Geschlechtsreife etwas früher als die weibliche
ein, dann erfolgt die Begattung und mit ihr die AnfüUung des Receptaculums mit.
Samenfäden und erst nachher die volle Reife der weiblichen Geschlechtsorgane. Im
Laufe dieser Vorgänge werden die Eier befruchtet und in den Uterus übergeführt,,
welcher erst nach voller Füllung mit Eiern seine charakteristische Form und Grösse
erreicht, während sich die Hoden, Ovarien und Dotterstöcke wieder zurückgebildet
haben. Nur die hinteren, zur Trennung reifen Proglottiden haben sämmtliche Phasen
der geschlechthchen Entwicklung durchlaufen, und die im Innern ihres Fruchtbehälters
angehäuften Eier enthalten meist den zum Ausschlüpfen reifen Embryo.
Die Eier sind von drehrunder oder ovaler Form. Ihre Schale ist einfach oder
aus mehreren dünnen Hüllen gebildet oder stellt sich als feste, dicke Kapsel dar,
welche aus dicht neben einander stehenden, durch eine Zwischensubstanz verkitteten
Stäbchen gebildet wird. Im letzteren Falle, der für Cysto taenieu gilt, wird die
Embryonalentwicklung im Fruchtbehälter, im ersteren meist ausserhalb desselben im
Wasser durchlaufen. Mit den Proglottiden gelangen die Eier aus dem Träger des
Bandwurmes auf Düngerhaufen, an Pflanzen oder in das Wasser und von hier aus.
auf passivem Wege mit der Nahrung in den Magen pflanzenfressender oder omni-
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
475
Pig 23^
Entwicklungsgeschichte von Taenia Solium bis zum Cysticercus, a Ei mit
Embryo, 6 frei gewordenes Embryo, c Hohlz.apfen an der "Wand der Blase,
Anlage des Kopfes und d Finne mit eingestülptem Kopfe, e dieselbe mit
ausgestülptem Kopfe, d und e etwa 4mal vergrössert
vorer Thiere. Nachdem
die Eihaut durch die Ein-
wirkung des Magensaftes
verdaut worden ist, bohrt
sich der im Magen oder
Darm frei gewordene
Embryo mittelst sechs
(oder vier) Häkchen,
deren Spitzen über die
Peripherie des kleinen,
kugligen Embryonallei-
bes einander genähert und
wieder entfernt werden
können (Fig. 23 a, b), in
die Magen- oder Darm-
gefässe ein. In diesen wer-
den die Embryonen pas-
siv mit der Blutwelle fortgetrie-
ben und in den Capillaren der
verschiedensten Organe, vor-
nehmlich der Leber, dann der
Lunge, auch der Bindesub-
stanz, Muskeln, Gehirn u. s. w.
abgesetzt und wachsen dann
nach Verlust ihrer Häkchen,
in der Regel von einer binde-
gewebigen Cyste umschlossen,
zu Bläschen mit wandständi-
gem, contractilem Parenchym
und wässerigem Inhalt aus. Die
Blase gestaltet sich allmälig
zum B 1 a s e n w u r m , der F i n-
n e, um, indem von ihrer Wand
in das Innere eine {Cysticercus)
oder zahlreiche (Coenurus),
Hohlknospen einwachsen, welche
im Grunde ihrer Höhlung die
Bewaffnung des Bandwurmes
in Form von vier Saugnäpfen
und doppeltem Hakenkranz ge-
winnen (Fig. 23 c, d, e.).
Stülpt sich die Hohlknospe
nach aussen um, so dass sie
als äusserer Anhang der Blase
erscheint, so zeigt sie die Form
und Bewaffnung des Bandwurmkopfes nebst Hals und bereits sich gliederndem Band-
wurmleib. Es kann aber auch der Fall eintreten, dass die unregelmässig sich gestal-
tende Blase von ihrer Wandung aus in das Innere Tochter- und Enkelblasen
bildet, an denen die Bandwurmköpfchen in besonderen, kleinen, von der Wand jener
erzeugten Brutkapseln ihren Ursprung nehmen (Echinococcus, Fig. 24, a, b, c, d).
Dann ist natürlich die Zahl der von einem Embryo erzeugten Bandwurmköpfe
eine enorm grosse, und die aus demselben hervorgegangene Mutterblase kann einen
sehr beträchtlichen Umfang erreichen, dabei in Folge des in verschiedenen Richtungen
ungleichen Wachsthums eine unregelmässige, verästelte Form gewinnen. Dafür bleibt aber
der zugehörige Bandwurm sehr klein und bildet meist nur eine reife Proglottis (Fig. 25.).
Fig. 24.
Echinococcus, a Brutkapsel in der Bildung begriffenen Köpf-
chen, h Brutkapseln mit fertigem Köpfchen, c Echinococcus
Köpfchen an der V^and der Brutkapsel, das eine ausgestülpt,
Vc Excretionscanäle,
476
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
Im Finnenzustand scheint der Bandwurmkopf, auch wenn er aus der Blase vor-
gestülpt weiter wächst und sich zu gliedern beginnt {Cysticercus fasciolaris
der Maus) niemals zum geschlechtsreifen Bandwurm zu werden. Vielmehr muss derselbe
in den Magen und Darm eines neuen Trägers eintreten, damit der von der Wandung
des verdauten Blasenkörpers getrennte in diesem Zustand als Scolex beschriebene
Bandwurmlfopf sich zum geschlechtsreifen Bandwurm entwickeln kann. Diese üeber-
tragung erfolgt auf passivem Wege durch den Genuss des finnigen Fleisches und
der mit Blasenwürmern behafteten Organe, vermittelt durch die Wechselbeziehun-
gen zwischen den frei in der Natur lebenden Thierarten. Es sind daher vornehm-
t«^«
Kg. 26.
Cystioercoid von Taenia sinuosa
aus Grammarus pulex.
Fig. 27.
Cystioercoid von Taenia cueu-
mtrina, etwa 60mal vergrössert.
Kg. 25.
Taenia.
Echinococcus
lieh Raubthiere, Insectenfresser oder Omnivore, welche mit dem Leibe bestimmter,
zu ihrer Ernährung dienender Thiere die in diesen vorhandenen Blasenwürmer in
sich aufnehmen und die aus denselben entstehenden Bandwürmer beherbergen. Der
vorgestülpte, nach der Verdauung der Blase frei gewordene Scolex tritt in den Darm
ein, heftet sich an der Darmwand fest und wächst unter allmäliger Gliederung zu
dem Bandwurm aus, welcher als Strobila bezeichnet wurde und den Schein einer
Thierkette vortäuscht, in Wahrheit aber nur ein der Proglottis übergeordnetes Indivi-
duum repräsentirt. Die Entwicklung des Bandwurmes ist daher als eine durch Indi-
vidualisirung der Theilstücke desselben charakterisirte Metamorphose zu be-
trachten und kann in denjenigen Fällen als Generationswechsel gedeutet werden,
in welchen die Jugendform {Coenurus, Echinococcus) zahlreiche Bandwurmköpfe erzeugt.
Indessen durchlaufen nicht alle Bandwürmer die grossblasige Cysticercusform. Viel-
mehr ist diese Form lediglich für die Metamorphose der sogenannten Blasen-Bandwürmer
(Cystotaenien) charakteristisch. Bei vielen Taeniaden (Mikrotaenien) wird der
Cysticercus durch das Cys ticer coid vertreten, eine kleine, kuglige, des wässerigen
Inhalts entbehrende Form, an welcher sich meist ein noch die Embryonalhäckchen
tragender, schwanzähnlicher Anhang von dem den eingestülpten Scolex enthaltenden
Körper abhebt. (Fig. 26 und 27.) Cysticercoiden werden vornehmlich in wirbellosen
Thieren, in Gammariden, Cyclops, Insecten (Mehlwurm, Silpha, Ohrwurm, Floh,
Hundelaus), Nacktschnecken und Regenwürmern gefunden. In seltenen Ausnahmsfällen
können dieselben auch im Körper des Bandwurmträgers vorkommen, indem die
Entwicklung ohne Zwischenwirth erfolgen soll. (Taenia murlna im Darm der Ratte mit
dem Cystioercoid in den Darmzotten der Ratte, Grassi). Im Vergleiche zum
Cysticercus dürfte das Cystioercoid einem m^sprünglichen Formzustand
entsprechen, dessen Beziehung zu der Distomeenlarve in dem Cercarien ähnlichen
Schwanzanhang unverkennbar hervortritt, während der Körper des Cysticercoids eine
darmlose Cercarie mit eingestülptem Vorderleib repräsentiran würde.
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
477
Eine wesentliche Vereinfachung nimmt der Entwicklungsgang bei den Bothrio-
cephaliden, indem der Embryo direct unter Ausfall der Blasenbildung zum
Scolex auswächst. Auch die vom Scolex erzeugten Glieder zeigen dann einen gerin-
geren Grad der Individualisirung. Die Proglottiden trennen sich in grösserer Zahl vereint
als zusammenhängende Abschnitte, vom Bandwurmleib ab, ohne als Individuen zu
leben. Noch weiter schreitet die Reduction der Individualisirung bei den Liguliden,
deren Leib zwar noch eine Wiederholung des Geschlechtsapparates aufweist, einer
jeden äusseren Gliederung aber entbehrt. Endlich gibt es Formen wie der Nelken-
wurm {Caryophyllaeus) mit einheitlichem Geschlechtsapparat von Trematoden-
ähnlicher Gestaltung, deren Entwicklung sich als eine an demselben Individuum in
zwei verschiedenen Trägern ablaufende Metamorphose darstellt und deren Larven
in Cercarien-ähnlicher Form mit Schwanzanhang (Archigetes Sieholdii E,. Lkt.)
geschlechtsreif werden können.
dst .
Fig. 29.
Geschlechtsorgane einer reifen Proglottis ,von
Bothriocephalus latvs von der Bauchseite dargestellt
Ov ÖTarium, Ut Uterus, Sd Schalendrüse,
Dst Dotterstöcke, Va Vagina mit Oeffnung,
Cb Cirrusbeutel.
Fig. 28. ■ '^^''~
Bothriocephalus latus. Ov
Fig. 30
Dieselbe von der Rückenseite"^der Proglottis dar-
gestellt, /' Hoden, Vd Vas deferens.
1. Farn. Bothriocephaliden. Mit zwei schwachen, spaltförmigen Gruben an
den Schmalseiten des Kopfes, mit kurzen, sehr breiten Gliedern, auf deren Ventral-
fläche die Geschlechtsöffnungen münden. Blasenwurmstadium in Fischen durch einen
478 EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
eingekapselten Scolex repräsentirt. B. latus Brems. Der grösste menschliche Band-
wurm, mit keulenförmigem Kopfe, von 24 bis 30 Fuss Länge, vornehmlich an grossen
Flüssen und Landseen in der Schweiz, südlichem Frankreich und Russland verbreitet.
(Fig. 28.) Die geschlechtsreifen Glieder sind bei einer Länge von 3 — 5 mm 10 — 12
mm breit. Von den beiden vom Genitalwall umgebenen Oeffnungen führt die obere
grössere in den männlichen Geschlechtsapparat; zunächst in einen musculösen, vom
Cirrusbeutel umschlossenen, als Cirrus ausstülpbaren Eudabschnitt des Samenleiters.
Dieser verläuft mehrfach geschlängelt in der Längsrichtung des Gliedes au der
Rückenfläche (Fig. 30) und spaltet sich in zwei Seiteuäste, welche die Ausführungs-
gänge der zarten, in den Seitenpartien des Mittelfeldes gelegenen Hodensäckchen
aufnehmen. Die unterhalb des Cirrusbeutels befindliche Oeffnung führt in die häufig
mit Samen erfüllte Yagina, welche ziemlich gerade an der Bauchfläche herabläuft
und durch ein enges kurzes Canälchen mit der Schalendrüse in Verbindung steht.
(Fig. 29.) In weitem Abstände von den beiden umwallten Oeffnungen liegt die
Oeifnung des schlauchförmigen Fruchtbehälters, dessen rosettenförmige Faltung in
der Mitte des Gliedes eine eigenthümliche Figur (Wappenlilie, Pallas) erzeugt.
Nahe am Hinterrande des Gliedes münden in den engen, gewundenen Anfangstheil
des Uterus die Ausführungsgänge der in den Seitenfeldern als gelbe Körnerhaufen
ausgebreiteten Dotterstöcke, sowie der unpaare Ausführungsgang der beiden Ovarien
oder Keimstöcke in die Schalendrüse ein. Die aus dem Fruchtbehälter abgesetzten
Eier entwickeln sich im Wasser und springen mittelst eines Deckels am oberen Pole
der Eischale auf. Der ausschlüpfende, mit einem Flimmerepithel bekleidete Embryo
entwickelt sich in Fischen, insbesondere im Hecht und der Quappe zu dem 6 — 8 mm
langen, eingekapselten Scolex. (Fig. 31.) Mit dem Fleische
des Hechtes gelangt der Scolex in den Darm des Men-
schen, wo er in wenigen Wochen (ebenso wie im Darm
der Katze und des Hundes) zum geschlechtsreifen Wurm
auswächst.
B. cordatus R. Lkt. Mit grossem, herzförmigem Kopfe,
circa 1 — 3 Fuss lang, im Darm des Menschen und des
Hundes in Grönland. B. ligaloides Cobb. Jugendform von
20 cm Länge im subperitonealen Bindegewebe des Menschen
Fig. 31. in China und Japan.
Larve aus dem üo.'TtriocepTia- 2. Fam. Taeiiiaden. Kopf mit vier musculösen Saug-
lus latus aus dem Stint. '■ °
näpfen, mit oder ohne Rostellum, welchem dann in der
Regel ein doppelter Hakenkranz aufsitzt. Die Proglottiden mit randständiger Geschlechts-
öffnung und geschlossenem Fruchtbehälter, trennen sich einzeln vom Bandwurm.
Die Jugendformen leben als Cysticercoiden in Wirbellosen oder sind Blasenwürmer
in den Geweben der warmblütigen Wirbelthiere.
a) Mikroiaeniae. Bandwürmer von geringer Grösse ohne Rostellum oder mit
zahlreichen kleinen Häkchen an demselben. Die cysticercoiden Jugendformen meist
in Wirbellosen.
T. cucumerina Rud., circa 20 cm lang mit gurkenähnlichen Proglottiden,
welche einen doppelten, an beiden Rändern mündenden Geschlechtsapparat (Fig. 20)
enthalten, im Darm der Stubenhunde und Katzen {T. elUptica Batsch), gelegent-
lich im menschlichen Darm. Das Cysticercoid lebt (nach R. Leuckaet und Melni-
koff) in der Leibeshöhle der Hundelaus und (nach Geassi) auch des Flohes. (Fig. 27).
Die Infection geschieht dadurch, dass der Hund den ihn belästigenden Parasiten
verschluckt. Auch Kinder sind als Spielgenossen des Stubenhundes der Infection
mit dem Cysticercoid dieses Bandwurmes ausgesetzt.
T. nana. v. Sieb., im menschlichen Darm. AVurde von Bilhaez in Abys-
sinien entdeckt und von Geassi auch in Sicilien gefunden, etwa von Zollange.
Nach Geassi und Rovelli mit T. murin a identisch, deren Cysticercoid ohne Zwi-
schenwirth in den Darmzotten der Ratten sich entwickelt.
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
479
T. ftavopunctata Weinl. von Weinland in Nordamerika entdeckt und später
von Geassi in Italien beobachtet, soll mit T. leptocephala Crepl. aus dem Darm
der Eatte identisch sein.
b) Cystotaeniae^ Blasenbandwürmer. Mit Rostellum und meist doppeltem Haken-
kranze. Die Jugeudformen sind Blasenwürmer, welche in Omnivoren und pflanzen-
fressenden Wirbelthieren leben.
T. soliuin Rud. {T. pellucida Göze.) Yon circa 3 Meter Länge, mit 26 Haken
an dem ansehnlich entwickelten Stirnzapfen. (Fig. 16.) Die reifen Proglottiden sind
etwa 10 mtn lang und halb so breit. Der Fruchtbehälter derselben bildet 7 — 10
dendritische Seitenzweige. (Fig. 32.) Lebt im Darm des Menschen und ist besonders
in solchen Gegenden verbreitet, in welchen man j
auf die Zubereitung der Fleischspeisen keine
grosse Sorgfalt verwendet. Die Jugendform, der
Cysticercus cellulosae der älteren Helmin-
thologen, ist die bekannte Finne und findet sich,
von dem gelegentlichen Vorkommen in den Mus-
keln des Rehes, Hundes und der Katze abge-
sehen, vornehmlich im Unterhautzellgewebe und
in den Muskeln des Schweines, welche von diesen
querovalen Blasen so massenhaft durchsetzt sein
kann, dass dasselbe ein froschlaichartiges Aussehen
gewinnt. Die Uebertragung geschieht durch den
Genuss rohen oder ungenügend gekochten oder
geräucherten Fleisches. Indessen inficirt sich
der Mensch auch durch Einwanderung der Em-
brj^onen, welche sich in seinen Muskeln, Auge,
Gehirn etc. zu Finnen entwickeln. Im Gehirn
■kann die Finne in blasig ausgebuchtete Stränge,
welche keine Kopfzapfen bilden, auswachsen.
Auch die Finne einer im Darm des Hundes lebenden Taenie
{T. marglnata), welche als Cysticercus tenuicollis
. von der Grösse eines Gänseeies in Milz, Lunge und Leber
der Wiederkäuer und Schweine ihren Sitz hat, ist in der
. Leber des Menschen gefunden worden.
T. mediocanellata Kuchenm., der feiste Bandwurm
des Menschen (Fig. 17), mit vier kräftigen Sauggruben,
aber rudimentärem, des Hakenkranzes entbehrenden Rostel-
lum von 4 Meter Länge. Die Proglottiden, circa 18 mm
lang und 7 — 8 mm breit, mit zahlreichen, wohl jederseits
20 bis 30 dichotomisclien Seitenzweigen des Uterus. (Fig.
■33.) Dieser vornehmlich in den wärmeren Klimaten der
alten Welt verbreitete Bandwurm wurde schon von den
älteren Helminthologen und von Göze als Varietät von
T. Solium^ als T. saginata, unterschieden, jedoch als besondere
Art erst in neuerer Zeit erkannt, nachdem man festgestellt
hatte, dass es das Rind ist, mit dessen Fleisch der Mensch
den Keim dieses Bandwurmes aufnimmt. Da der Genuss von rohem, gehackten Rind-
fleisch aus diätetischen Gründen vielfach empfohlen wird, erscheint das häufige,
aber vereinzelte Vorkommen dieses Bandwurmes begreiflich, welches den Namen
als solitärer Bandwurm rechtfertigt. Im menschlichen Körper ist die Rindsfinne
(Fig. 34), die man durch Verfütterung der Proglottiden au Kälber massenhaft
gezogen, unter natürlichen Verhältnissen jedoch nur in spärlicher Zahl und mehr
vereinzelt in den Muskeln des Rindes gefunden hat, bis jetzt nicht beobachtet
worden.
Fig. 32.
Zur Trennung reife
Proglottis von
Taenia Solium.
Wc "Wassergefäss
schwach vergrössert.
Fig. 33.
Eeife Proglottis von
Taenia mediocanel-
lata, schwach ver-
grössert.
Fig. 34.
Cysticercus der Taenia
mediocanellata aus dem Rinde
6 bis 8mal vergrössert
480
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN-
I. (Echinococcifer) echinococcus von Sieb. Bandwurm mit zahlreiclien kleinen
Häkchen am Kopfe, und nur wenigen Gliedern, von denen ausscMiesslich das letzte zur
Trennung reif ist, von 3 — 4 mm Länge, im Darm des Hundes. (Fig. 25.) Der als
Echinococcus bekannte Blasenwurm besitzt eine ausserordentlich dicke Cuticula und
erzeugt eine grosse Zahl von Köpfchen in besonderen Brutkapseln, welche entweder
an der "Wand der Mutterblase (scolicipariens) oder erst an Tochter- und Enkel-
blasen (altricipariens) erzeugt werden. (Fig. 24.) Die erstere Form, früher irrthüm-
Hch als besondere Art betrachtet, ist die kleinere Varietät, etwa von der Grösse einer
wälschen Nuss und ündet sich vornehmlich in der Leber und Lunge der Hausthiere,
daher auch als E. veterinorum bezeichnet. Die zweite Varietät erlangt eine
viel bedeutendere Grösse und gewinnt häufig durch secundäre Aussackungen eine
unregelmässige, verzweigte Gestalt. Diese von der ersten keineswegs scharf abzugren-
zende Varietät kommt vornehmlich m der Leber und der Lunge, seltener in anderen
Organen (Muskeln, Nieren, Milz, Gehirn etc.) des Menschen vor und war deshalb
als E. hominis unterschieden. Ihre Zurückführung
auf die erstere Form erklärt sich aus dem unregel-
mässigen Wachsthum in Verbindung mit nachträgli-
cher Umgestaltung von Brutkapseln zu Tochterblasen,
wie andererseits auch steril bleibende Blasen (ohne
Scolexerzeugung, sog. Acephalocysten) nicht sel-
ten beobachtet werden. Eine dritte Varietät ist der
lange Zeit her als Alveolarcolloid beurtheilte
multiloculäre Echinococcus, welcher durch eine
Gruppe dicht gehäufter, steril bleibender Bläschen
gebildet wird, die durch das bindegewebige Stroma zu
einer geschwulstähnlicheu Blase von Faustgrösse zusam-
mengehalten werden. In manchen Gegenden, in denen
die Viehzucht stark betrieben wird, ist der Echino-
coccus unter den Menschen und Hausthieren sehr
verbreitet, z. B. in Australien und in Island, wo in
früheren Jahren ein guter Theil der Bevölkerung an
der Echinococcuskrankkeit {Hydatidenseuche) zu
Grunde ging. Erst seit der Feststellung der Naturge-
schichte des Wurmes und der durch diese nachgewiesenen
Art der Infection haben sich die prophylaktischen Mass-
nahmen ergeben, durch welche der Procentsatz des
Leidens bedeutend herabgesetzt worden ist.
III. Nematoden, Fadenwürmer, Dieselben sind
kenntlich an ihrem drehruuden schlauch- oder faden-
förmigen Leib und dem Besitz eines Darmcanales, wel-
cher in gerader Richtung die mit Haemolymphe
gefüllte Leibeshöhle durchsetzt. Die am vordem Kör-
perende gelegene Mundöffnung, häufig von drei lippen-
artigen Erhebungen und Papillen umgeben, führt durch
eine enge, in ihrem Verlaufe häufig bulbös (Pharynx)
angeschwollene Speiseröhre in das mit Drüsenzellen
bekleidete Darmrohr, welches' nicht weit vom Hinterende ventralwärts in der After-
öffnung nach aussen mündet. (Fig. 35). Die äussere Körperbedeckung wird durch
eine helle, oft mehrfach geschichtete Cuticula und eine unterliegende feinkörnige
Subcuticularschicht, welche die Matrix Jener sein dürfte, charakterisirt. Auf diese folgt
nach innen der ansehnliche, aus spindelförmigen oder bandförmig ausgezogenen
Längsmuskeln bestehende Hautmuskelschlauch, welcher in zwei seitlichen Längsstrei-
fen, den sog. Seitenlinien, durch die Excretionsorgane unterbrochen ist.
Diese enthalten jederseits einen hellen Canal, welcher in der vordem Körperge-
gend mit dem der andern Seite verbunden, durch einen gemeinsamen medianen
Fig. 35 b.
Männchen der-
selben.
Kg. 35 a.
Weibchen der
Rhabdiies Genera-
tion von Rhab-
donema nigro-
venosum.
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
481
Bn-
Porus ausmündet. Ausserdem unterscheidet man noch als Unterbrechungen
der Musculatur eine Medianlinie. Das Nervenssystem (Fig. 36) besteht aus
einem gangliösen, den Oesophagus umziehenden Ring, welcher nach hinten zwei,
nach vorn sechs Nerven entsendet. Jene verlaufen in den Medianlinien als
Rücken- und Bauchnerv bis zur Schwanzspitze, diese zu den Tastpapillen im ümlcreis
des Mundes. Die Nematoden sind von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, getrennten
Geschlechts. Zu den Ausnahmen gehört die parasitische Generation von Rhabdonema
strongyloides {Angiiillula intestinalis) aus dem Darm des Menschen, sowie die gleiche
Generation von Bhabdonema nigrovenosum aus den Lungen der Kröten und Frösche, in
deren Keimdrüse sich zuerst Zoospermien, später Eier entwickeln. Beiderlei Geschlechts-
organe sind einfache oder paarige Röhren, welche in ihrem obern Abschnitte die
Keimzellen erzeugen und in ihrem untern Theile die Leitungswege und Behälter für
jene darstellen. Die meist paarigen Ovarialröhren enthal-
ten in ihrem Endabschnitte die Eikeime, welche weiter ab-
wärts in der Peripherie eines centralen Dotterstranges
(Rhochis) gelagert, an Umfang zunehmen und schliesslich
als reife Eier von den bei der Begattung aufgenommenen
hutförmigen Samenzellen befruchtet werden. Auf die beson-
ders bei grösseren Formen in mehrfache Abschnitte geglie-
derten Ovarialröhren folgt eine relativ kurze Vagina, welche
ventral meist nicht weit von der Mitte des Körpers, selten
dem hinteren Leibesende genähert ausmündet. Dagegen
erweist sich der Geschlechtsapparat des beträchtlich kleineren
Männchens fast allgemein als unpaarer Schlauch und mündet
nahe dem oft gekrümmten Körperende mit dem Darme aus.
Häufig enthält der gemeinsame Kloakenabschnitt in einer
taschenförmigen Ausbuchtung zwei spitze Chitinstäbe, sog.
Spicula, welche durch einen besonderen Muskelapparat
hervor- und wieder eingezogen werden können und zur
Fixirung bei der Begattung dienen. Die Nematoden legen
meist Eier ab, und nur selten sind lebendig gebärende Ar-
ten. Die Eier besitzen meist eine harte Schale und kön-
nen in verschiedenen Stadien der Embryonalentwicklung
selbst mit fertigem Embryo (ovovivipar) oder auch vor
Beginn derselben abgesetzt werden. Bei lebendig gebären-
den Formen haben die Eier ihre in diesem Falle zarte
EihüUe schon im Fruchtbehälter des Mutterthieres verloren
(T ri c h i n a, F i 1 a r i a). Der fertig entwickelte Embryo liegt
in mehreren Wandungen innerhalb der Eischale eingerollt und
besitzt bereits die Nematodenform, sowie Mund und Darm,
Nervenring und Excretionsorgane, verhält sich jedoch zum
ausgebildeten Thiere durch die besondere Form des Mund-
und Schwanzendes (Bohrzahn, Schwanzfortsatz) fast stets als
Larve. Die postembryonale Entwickelung ist eine Metamor-
phose, die oft dadurch complicirt wird, dass sie nicht an
dem Wohnorte des Mutterthieres zum Ablauf kommt. In der Regel haben die
Jugendzustände einen anderen Aufenthaltsort als die Geschlechtsthiere, indem
verschiedene Organe desselben Thieres (Trichine: in der Musculatur und im
Darm) viel häufiger aber verschiedener Thiere die jugendlichen und die geschlechtsreifen
Nematoden beherbergen. Die ersteren leben meist in parenchymatösen Organen frei oder
encystirt, die letzteren vorwiegend im Darm und in dessen adnexen Organen. Indessen
können die Jugendformen auch frei im schlammigen Wasser oder in der Erde ihren
Aufenthaltsort haben (Strongyliden) und erst als Parasiten die Geschlechtsreife er-
langen. Freilich gibt es Fälle, in denen die freilebenden Formen geschlechtsreif
werden und erst in ihren Nachkommen zu parasitischen Geschlechtsthieren hinführen
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. oL
Fig. 36.
Nervensystem der Ne-
matoden, scheraatisch.
G Seitenganglien am
Nervenring, N vordere
Seitennerven, Sm Sub-
mediannerven, Sl Sub-
lateralnerven, Bn Bauch-
nerv, Rn Eückennerv,
Ag Analganglien,
.4 After.
482
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
so dass zweierlei GescMecMsgenerationen, eine parasitische (Heterogonie), und eine
freilebende regelmässig alterniren. Da nun kleinere den letzteren verwandte IST e m a-
t öden- Arten in grosser Zahl das Wasser und den Humus bewohnen (Anguilluli-
den, Enopliden etc.) so ist es wahrscheinlich, dass diese der ursprünglichen Ge-
staltung und Lebensweise entsprechen, und dass von denselben die in Pflanzen und
Thieren parasitischen Formen erst secundär ihren Ursprung nahmen.
1. Fam, Anguilluliden. Nematoden von sehr geringer Grösse mit doppelter
Pharyngealanschwellung, in schlammigem Wasser und feuchter Erde oder in organischen
Flüssigkeiten (Essigälchen), in Pflanzen (Weizenälchen) und auch in Thieren lebend,
in diesen jedoch nur in einer veränderten Generation, welche mit einer frei lebenden
alternirt (Heterogonie) Rhabdonema. Rh. strongyloides R. Lkt. Die Rhab-
ditisgeneration 1 mm lang, als Rhabditis stercoralis Bavay beschrieben,
alternirt mit der grösseren, 2 wm langen, parasitischen Anguillula intestinalis
Bavay, welche in ungeheurer Menge (durch den Genuss verunreinigten, die Brut
von Rh. stercoralis enthaltenden Trinkwassers eingeführt in den menschlichen Darm
übertreten und dann zu heftigen Diarrhöen und selbst intensiveren Darmaffectionen,
Anaemie etc. Anlass geben kann. Häufig in der Lombardei und in Cochinchina,
auch beim Baue des St. Gotthard-Tunnels beobachtet. {St. Gotthard- Krankheit)
Nicht ohne praktische Bedeutung ist die schwierig zu ent-
scheidende Frage, ob sich die Nachkommen der parasiti-
schen Ä. intestinalis stets ausserhalb des Trägers zu
Rh. stercoralis entwickeln oder nicht auch im Darm des
Trägers direct zur Gestalt des hermaphroditischen Parasiten
entwickeln können, ob mit andern Worten das Alterniren
beider Generationen ein unregelmässiges, blos facultatives
(ähnlich wie bei Leptodera appendicidata der Wegschnecke)
oder ein regelmässig nothwendiges (wie bei Ehahdonema
nigrovenosum aus der Batrachierlunge) ist. Während R.
Leuckaht die letztere Ansicht vertritt, hält Grassi den
erstem Vorgang für den zutreffenden, in welchem Falle zahl-
reiche parasitische Generationen mit Embryonen oder Lar-
ven der frei lebenden Rh. stercoralis entstehen würden und
demgemäss eine einmalige Infection mit einer relativ gerin-
gen Zahl dieser Jugendformen ausreichen würde, Millionen
der A. intestinalis zu erzeugen und die selbst letal
ausgehende Erkrankung, als deren Ursache freilich auch
der gleichzeitig vorhandene Dochmius duodenalis nicht aus-
geschlossen ist, hervorzurufen.
2. Fam. Strongyliden. Charakterisirt durch das
schirmförmig verbreiterte mit randständigen Tastpapillen
besetzte Hinterleibsende des Männchens, die sogen. Bursa,
in deren Grunde die Geschlechtsöffnung nebst den Spicula
liegt. Die Rhabditisähulichen Larven leben im schlammigen
Wasser, aus dem sie in den definitiven Wirth, seltener
zuvor in einen Zwischenträger gelangen. Yiele Strongyliden
sind Blutsauger und besitzen eine erweiterte mit Zähneu
bewaffnete Mundhöhle.
Dochmius {Ancylostomum duodenale) Dub. Ein nur
10 — 18 mm langer Nematod, in dessen Mundkapsel an der Ventralseite sich zwei
Zahnplatten erheben, denen gegenüber an der Rückenwand eine kegelförmige Spitze
schräg nach vorn vorragt. (Fig. 37.) Derselbe lebt im Dünndarm des Menschen
und beisst mit Hilfe seiner starken Bewaffnung in die Blutgefässe der Darmhaut,
so dass Blutungen entstehen, die bei Vorhandensem einer grösseren Anzahl dieser
kleinen Würmer allmälig zu beträchtlichem Blutverlust und anämischen Erscheinun-
gen führen. In Egypten ist dieser Parasit von Bilhaez und Geiesinger als die Ursache
Fig. 37.
Dochiraus duodenalis
B Männchen, 0 Mund,
a Bursa, 6 Weibchen,
o Mund, A After, V Vulva.
EINaEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
483
Mg. 38.
Sclerostomum tetracanthum
eingekapselt .
der ägyptischen- Chlorose erkannt worden.
Auch in andern wärmeren Ländern und zwar nicht
nur der alten Welt, sondern auch der neuen
Welt wird derselbe gefunden. Von Italien aus
wird er gelegentlich auch in unsere Gegenden
verschleppt. Beiläufig mag bemerkt sein, dass
eine ganz ähnliche Dochmius-Art im Darm des
Hundes (D. trigonocephalus) und eine grössere
Art einer verwandten Gattung (Sclerostomum
equinum, armatum, tetracanthum) im Pferde leben
und die Ursache von Aneurysmen der Darmgefässe,
Thrombenbildung und der Kolik bei Pferden
werden (Fig. 38).
Eustrongijlus gigas Rud. Palissadenwurm.
Ein im weiblichen Geschlecht fast meter-, im männlichen nur
fusslanges Strongylid mit 6 warzenförmigen Papillen im Um-
kreis der Mundöffnung und Papillenreihen auf den Seitenlinien,
mit becherförmiger unbewaffneter Mundhöhle und glockenförmig
geschlossener Bursa, in deren Grunde nur ein borstenförmiges
Spiculum hervorragt. (Fig. 39). Durch Balbiani wurde
bekannt, dass die Embryonalentwicklung in feuchter Erde oder
Wasser abläuft und wahrscheinlich gemacht, dass die Embryo-
nen erst im Darme von Zwischenwirthen aus der Eischale frei
werden. Da man encystirte Stronygliden in Fischen gefunden
hat {Filaria piscium Ptud.) und der Palissadenwurm vornehmlich
in dem Nierenbecken fischfressender Carnivoren (Robben, Fisch-
ottern, Nasua, aber auch in Hunden und Wölfen) gefunden wird,
ist wohl anzunehmen, dass es Fische sind, in deren Darm die
Larven frei werden, um in die Gewebe einzudringen und hier
bis zu einem gewissen Stadium der Entwicklung zu gelangen,
in welchem sie mit dem Fleisch des Fisches in den Körper
jener Carnivoren übertreten. Das Yorkommen dieses fuss-
langen nur bis 1 cm dicken Nematoden im Nierenbecken des
Menschen ist jedenfalls ein äusserst seltenes, und nur wenige
Fälle aus älterer Zeit liegen vor, die mit einiger Sicherheit auf
den Palissadenwurm zu beziehen sind (Blasius, Rutsch).
Strongylus longevaginatus Dies. Mit sechs Mundpapillen
und zwei konischen Halspapillen auf den Seitenlinien, im männlichen Geschlecht mit
schirmförmiger und vollkommen geschlossener Bursa, in deren Grunde zwei Spicula
vorstehen. An dem grösseren, 2V2 ^»^ langen Weibchen mündet die Geschlechts-
öffnung nicht weit vom hintern Körperende. Wurde in zahlreichen Exemplaren
nur einmal in der Lunge eines 6jährigen Knaben gefunden. Verwandte Arten wer-
den in den Bronchien der Schafe (St. filaria), der Schweine (St. paradoxus)
häufig angetroffen.
3. Fam. Ascariden. Nematoden von gedrungen walzenförmigem Körper mit
drei papillentragenden Mundlippen und ventral eingekrümmtem Hinterleibsende des
Männchens. Die im Wasser ihre Entwicklung abschliessenden Embryonen scheinen
stets im Innern der Eischale ohne Vermittlung eines Zwischenträgers in den defi-
nitiven Wohnort des Geschlechtsthieres übertragen zu werden.
Oxyuris vermicularis IL, Pfriemenschwanz, Madenwurm, mit kuglig er-
weitertem Pharynx am Ende der Speiseröhre, im weiblichen Geschlecht von etwa
10 mm Körperlänge, mit langem, pfriemenförmig ausgezogenem Schwanzanhang, wel-
chen das kaum halb so lange Männchen entbehrt. Das aufgeblähte Schwanzende des
letzteren ist mit 6 Papillenpaaren besetzt und mit nur einem stabförmigen au der Spitze
31*
Kg. 39.
Männchen von
Eustrongylus gigas in
natürUcher Grösse,
484
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
Fig. 40.
Oxyuris vermieularis der Maden-
wurm. a "Weibchen, 0 Mund,
A After, V G-enitalöffnung.
a Männchen mit gekrümmtem
Hinterende, c Hinterleibsende
stark vergrössert, <Sp Spiculum,
d Ei mit eingeschlossenem
Embryo.
S-förmig gebogenem Spiculum versehen. (Fig. 40.) Der
Madenwurm ist neben dem Spulwurm der häufigste aller
Helminthen und als Kosmopolit über alle Länder verbrei-
tet. Derselbe lebt gesellig meist in grosser Menge im
Dickdarm vornehmlich jugendlicher Individuen und nährt
sich vom Koth. Aus dem Colon gelangt derselbe aber
auch in den Blinddarm und in die untersten Partien des
Dünndarms, sowie viel häufiger in den Mastdarm, aus dem
er gelegentlich durch den After auswandert und in die
Vagina, selbst Uterus eindringt. Meist geschieht diese
Auswanderung in den Abendstunden und veranlasst ein
unter Umständen unerträglich werdendes Kitzeln, zu dem
sich bei reizbaren Individuen Eeflexerscheinungen man-
cher Art hinzugesellen. Die männlichen Thiere treten an
Zahl hinter den Weibchen beträchtlich zurück, sind aber
wegen der geringeren Grösse und weil sie zwischen den
Schleimhautfalten versteckt liegen, auch nicht so leicht
aufzufinden, wie sie denn auch viel später als diese
(Sömbieeing) entdeckt wurden. Obwohl sich die Embryo-
nen schon im Innern des Uterus entwickeln und die ab-
gesetzten Eier fertige Embryonen enthalten, können sie
doch nicht im Dickdarm ausschlüpfen, vielmehr scheint
zur Sprengung der Eischale die Einwirkung des Magen-
saftes erforderlich. Die Infection mit der Brut geschieht
a
Pia—-'
Sp
Eig. 41.
Ascaris lumbricoides. a Hinterleibsende des Männchens mit der Spicula
{Sp), h Vorderende von der Kückseite mit der dorsalen zwei Papillen
tragenden Mundlippe, c dasselbe von der Baiichseite mit den beiden
seitlichen ventralen Mundlippen, P Excretionssporus, d Ei mit der aus
hellen Kügelchen gebildeten AussenhüUe.
demnach nicht direct an Ort und Stelle, sondern erst indirect durch Aufnahme mit
Eiern verunreinigter Nahrungsstoffe. Unreinlichkeit und der Genuss roher Vegeta-
bilien, ungeschälten Obstes etc. sind die vornehmlichen Ursachen der Infection.
Ascaris lumbricoides Cloq. Spulwurm, mit drei starken scharfrandigen Mund-
lippen, von denen die dorsale zwei, die beiden ventralen je eine Papille tragen, ohne
pharyngeale Anschwellung des Oesophagus von 1 bis l^/g Fuss Länge. Das umge-
krümmte Hinterende des kleinern Männchens mit zwei Spicula bewaffnet (Fig. 41).
Der neben dem Madenwurm häufigste, schon im Alterthum bekannte Eingeweide-
wurm des Menschen bewohnt vornehmlich den Dünndarm und zuweilen bei Kindern in
so grosser Menge, dass diese Würmer den Dünndarm ganz erfüllen und unwegsam
machen. Auch kommt derselbe im Rinde und als kleinere Varietät (A. suilla) im
Schweine vor. Die Infection erfolgt direct ohne Zwischenträger (Grassi) durch Auf-
nahme der embryonenhaltigen Eier, welche im Wasser oder in feuchter Erde die
Embryonal-Entwicklung durchlaufen haben, also wohl wie beim Madenwurm mittelst
verunreinigter Speisen, oder mit der Schale genossenen Obstes etc. in den Darm
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
485
kommen. Aus dem Dünndarm gelangen die Würmer in das Colon und von da bei
normaler Auswanderung durch Rectum und After nach aussen. Indessen treten sie
auch nicht selten in den Magen über und werden dann mit dem Mageninhalt erbrochen.
Gelegentlich wandern kleine Exemplare vom Dünndarm aus in den Gallengang und in
die Leber ein, ja es sind einzelne Fälle bekannt geworden, in denen Spulwürmer die
Darijiwand durchbrochen, und in die Leibeshöhle eingedrungen waren. Auch sind in
nicht geringer Zahl Fälle vom Wurmabscessen an der Bauchwand beschrieben worden,
zu denen der Vorfall eines Darmabschnitts mit nachfolgender Perforation Anlass ge-
geben haben mag. Endlich wurde die Entleerung von Spulwürmern aus den Harn-
wegen, in welche dieselben durch Fistelgänge vom Darme aus gelangt waren, mehrfach
beschrieben. Zur sicheren Constatirung des Vorhandenseins von Spulwürmern im Darme
ist der Abgang des Wurmes, beziehungsweise der Nachweis der charakteristisch ge-
stalteten Eier (Fig. 41 d) in den Fäces erforderlich.
4. Farn. Trichoti'acheliden. Merkmale dieser Nematodenfamilie sind der hals-
artig dünne lange Vorderkörper und die eigenthümliche Form des in demselben ver-
laufenden Oesophagus, welcher als enge Eöhre von einem perlschnurähnlichen Zellen-
strange umlagert wird.
TricJiocephalus dispar. Rud., der
Peitschenwurm. Von 4 — 5 cm Länge mit
geisseiförmig ausgezogenem Vorderleib (Fig.
42 a, b, c), auf welchen der walzenförmig
aufgetriebene Darm und die Geschlechtsor-
gane enthaltende Hinterleib, dem Stiele
einer Peitsche vergleichbar, folgt. Im männ-
lichen Geschlecht ist derselbe eingerollt
und mit vorstülpbarem Kloakrohr und
grossem stumpf endenden Spiculum. Die
weibliche Geschlechtsöffnung liegt an der
Grenze zwischen Vorderleib und Hinter-
leib. Die hartschaligen citronenförmigen
Eier (Fig. 42 a) gelangen mit den Fäces in
das Wasser) und bedürfen hier geraumer
Zeit bis zur vollen Entwicklung des Em-
bryos, welcher von der Eischale umgeben
mit dem Wasser oder verunreinigter Speise
in den Darm des Menschen übertragen wird,
in dessen Schleimhaut der Wurm mit dem
fadenförmigen Vorderleibe eingegraben liegt.
(Fig. 42 o). In der ersten Zeit haarförmig
und trichinenähnlich, gewinnt der junge Peitschenwurm erst im Verlaufe der weitern
Entwicklung den Gegensatz von Vorderleib und Hinterleib, Derselbe findet sich meist
nur in wenigen Exemplaren im Darm, ist aber häufig und über alle Welttheile verbreitet.
Trichina spiralis Owen. Körper in ganzer Länge haardümi, Weibchen 3 bis
4 mm lang, mit weit nach vorn gerückter Geschlechtsöffnung, lebendig gebärend.
Männchen nur etwa 2 mm lang, am Hinterleibsende mit 2 konischen Zapfen, zwi-
schen denen die Kloake vorgestülpt wird, ohne Spiculum. (Fig. 43 a, b). Die spi-
ralig gewundene, encystirte Jugendform, welche in den Muskeln lebt, ward bereits
1835 von James Paget entdeckt und von R. Ovten als Trichina spiralis
beschrieben, die aus derselben hervorgehende geschlechtsreife Darmtrichine aber
erst 1860 durch die sich ergänzenden Untersuchungen R. Leückaht's und Virchow's
als solche erkannt und gezüchtet. Gleichzeitig beschrieb Zenker den ersten Fall
von Trichinose. Die Darmtrichine wird schon einige Tage nach der Aufnahme
der Muskeltrichinen mit dem Genüsse trichinösen Fleisches im Darm der Säuge-
thiere und des Menschen geschlechtsreif. Die viviparen Weibchen beginnen etwa
8 Tage nach dem Eintritt in den Darm Embryonen abzusetzen (Fig. 44 a) und
Fig. 42.
TricJiocephalus dispar, Peitschenwurm, a Ei,
b Weibchen, c Männclien mit dem Vorderleib
in die Darmscbleimliaut eingegraben,
Sp Spiculum.
486
EIXGEWEIDEVÜEMER DES MENSCHEN.
Kg. 43.
Trichina spiralis. a ■sveibliche DarmtricMne,
Ov Ovarinm, G Genitalöffnung, E Embryonen
6 Männchen, T Hoden.
Kg. 44.
a Trichinen-liarTe (Embryo), h Derselbe
in eine Muskelfaser eingewandert,
bereits beträchtlich ge'svachsen, c Der-
selbe zur spiralgerollten Muskeltrichine
entwickelt, bereits mit beginnender
Encystirung.
verweilen etwa 6 — 8 Wochen im Darme, -wähi-end die Männclieu bald nach der
Begattung zu Grunde gehen. Die in grosser Zahl erzeugten Embryonen durchsetzen
die Darmwandung und Leibeshöhle des Trägers und gelangen durch selbständige
Bewegungen in den Bindegewebszügen, theilweise wohl auch mit Hilfe der Blutwelle
in die ciuergestreiften Muskeln, in deren Primitivbündeln sie nach Durchbohi'ung des
Sarcolemmas eincMngen. Hier wachsen sie bei allmäliger Degeneration der Muskel-
substanz unter lebhafter Wucherung der Muskelkerne, eine schlauchförmige Auf-
treibung der Muskelfaser erzeugend, (Fig. 44 b, d) innerhalb eines Zeitraumes von
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN. 487
etwa 14 Tagen zu spiralig zusammengerollten Würmchen aus, um welche sich unter
dem Sarcolemm und dessen Bindesubstanzumhüllung aus der degenerirten Muskel-
substanz giashelle Kapseln von citronenähnlicher Form ausscheiden. In dieser anfangs
sehr zarten, bald aber durch neue Schichten verdickten und erhärtenden, mit der
Zeit allmälig verkalkenden Cyste kann sich die spiralgerollte Jugendform Jahre lang
erhalten. Wird dieselbe mit dem Fleische des Trägers in den Darm eines Warm-
blüters übergeführt, so streckt sie, durch die Wirkung des Magensaftes aus der
Cyste befreit, ihren Leib und bringt die bereits ziemlich weit entwickelten Geschlechts-
anlagen rasch zur Reife. Schon 3 — 4 Tage nach der Einfuhr ist die Muskel-
trichine zur geschlechtsreifen Darmtrichine geworden.
Während die meisten Nematoden Eier legen, sind die Trichinenweibchen leben-
dig gebärend. Diese scheinbar geringfügige Abweichung ist aber für die Weiter-
wanderung der Brut im Körper des Trägers, sowie für den sich mit jener ent-
wickelnden Krankheitsprocess von der grössten Bedeutung. Wären die Trichinen,
wie die Ascariden und Verwandten ovipar, so würden die abgelegten Eier aus dem
Darm nach aussen geführt werden, und die in denselben zur Entwicklung gelangten
Embryonen der Einfuhr in den Magen desselben oder eines zweiten Trägers bedürfen,
um durch die Wirkung des Magensaftes von der Schale befreit, den weiteren Ent-
wicklungsgang zu durchlaufen. Dieser Umweg fällt für die Trichinen hinweg, und es
inficiren sich der Mensch und die Thiere mit dem Grenuss trichinösen Fleisches zu-
gleich mit der Brut dieser Parasiten, von deren Wanderung und Fortentwicklung in den
Geweben die als Trichinose bekannte Krankheit veranlasst wird. Es sind vornehm-
lich zwei Organsysteme, welche von den Eingriffen unserer nach Millionen zählender
Parasiten beeinflusst werden und daher den Sitz der Erkrankung bilden, der D ärm-
canal und die quergestreifte Musculatur, jener besonders in der ersten
Woche der Infection, bevor die lebendig geborene Brut in das Fleisch einwandert.
Aber auch die Blutgefässe und nach neueren Untersuchungen auch das Lymphgefäss-
system scheinen mehr oder minder betheiligt, das letztere in Folge der Ueberwan-
derung befruchteter Trichinenweibchen in die Peyerschen Follikel und in die
sogen. Gekrösganglien, in denen sie vielleicht Embryonen absetzen, welche von hier
aus in das Gefässsystem gelangen. (P. Cebfontabste.)
Als vornehmlicher Träger der Trichinen ist die Hausratte hervorzuheben,
welche die Cadaver des eigenen Geschlechtes nicht verschont und die Trichinen-
infection von Geschlecht zu Geschlecht unterhält. Auch Raubthiere (Fuchs, Katze,
Marder etc.) und omnivore Säugethiere werden oft Träger der Trichinen, unter
den letzteren das Schwein, indem es trichinöse Cadaver von Mäusen oder Ratten
frisst. Auf diesem Seitenwege erfolgt auch die Infection mit Trichinen im mensch-
lichen Körper.
5. Farn. Filariadae. Körper fadenförmig verlängert mit mindestens 6 Mund-
papillen und langer, enger Speiseröhre. Hinterende des Männchens eingerollt mit
vorspringenden Seitenfirsten, vier präanalen Papillenpaaren und zwei ungleichen Spi-
cula; meist in serösen Höhlen oder im Bindegewebe lebend.
Filaria (Dracunculus) medinensis L. Guinea. Yon der Form einer etwa
6 mm, dicken Darmseite, 2 — 3 Fuss lang, hinten in eine centralwärts eingekrümmte
Spitze auslaufend, mit Brut gefülltem Uterus, nur in weiblichem Geschlecht bekannt.
Vorn abgerundet, ohne Scheide und Geschlechtsöffnung, in den Tropen der alten
Welt weit verbreitet, bewohnt der Guineawurm vornehmlich das Unterhautbindegewebe
und veranlasst durch das Andrängen an die Haut die Entstehung eines schmerzhaften
Abscesses, der erst nach Extraction des Wurmes geheilt wird. (Fig. 45, 46, 47.)
Die Entwicklung des Guineawurmes ist derzeit nur ganz unvollständig bekannt. Von
Feschensko ist nachgewiesen worden, dass die Embryonen (Fig. 46 c) ins Wasser
gelangen, in Cyclo piden einwandern und im Körper dieser kleinen Süsswasser-
copepoden eine Häutung bestehen, mit welcher der pfriemenähnliche Schwanzanhang
verloren geht, und die Larve eine der Larve von Spiroptera murina ähnliche
Form gewinnt. Ob die Larve später mit dem Leib ihres Trägers durch den Genuss
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
des Wassers in den Kör-
per des Menschen über-
tragen wird oder auf
anderem Wege in den-
selben gelangt, konnte
bislang nicht festgestellt
werden.
Filaria Bankrofti
Cobb. Yon nur 8 — 15
cm Länge, ebenfalls in
den Trojien zu Hause,
in lymphatischen Ge-
schwülsten. Die Brut
derselben gelangt in das
Blut und ist mit der als
Filaria sanguinis homi-
nis Lew. beschriebenen
Form identisch, welche
bei einer Länge von
0"35 mm zu Millionen
das Blut erfüllt, und
durch die Nieren in den
Harn gelangt, der eine
milchige oder blutige
Beschaifenheit erhält. Die
in den Tropen der alten
und neuen Welt verbrei-
tete Haematurie hat somit
nicht nur inBilharzia
haematobia, sondern
auch in dem Yorkom-
meu dieser blutbewoh-
nenden Filarienlarven
ihre Ursache. (Wuche-
rer, Creveaux, Lewis.)
Filaria loa Guyot.
Von circa 3 cm Länge,
unter der Conjunctiva der
Neger am Congo und
Gabon beobachtet, wan-
dert bisweilen unter der
Haut der Nasenwurzel
von einem zum anderen
Auge und erzeugt eine
schmerzhafte Conjuncti-
vitis.
Filaria labialis Paue.
Strongylidenähnlich von
3 cm Länge, mit nur 4
Mundpapillen und weit
nach hinten gelegener
Geschlechtsöffnung. Nur einmal in Neapel gefunden, aus der Oberlippe extrahirt,
von dem lange Zeit vorher von Leidy in Philadelphia als Filaria hominis oris
beschriebenen Nematoden, der ein junger Dracunculus gewesen sein dürfte, wohl zu
unterscheiden. Endlich mögen als zweifelhafte der von Treutler als Hamularia
Fig. 46.
Filaria medinensis, Medinawurm, a Vorderende
von der Mundfläche gesehen, 0 Mund,
P Papillen, b Trächtiges "Weibchen (mehr als um
die Hälfte verkleinert), c Embryonen sehr
stark vergrössert.
Fig. 45.
Dracunculus
(Filaria medinensis).
Querschnitt durch den Körper des Medinawurmes.
Uterus mit Embryonen, rechts Darm und
Ovarium.
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
489
lymphatica beschriebene, von Rudolfi Füaria hroncJüalis
genannte Nematod von 2"5 cm aus den Bronchialdrüsen eines
Phthisikers und die ebenfalls unzureichend bekannte noch
geschlechtsunreife Füaria oculi humanl Nordm. und Füaria
lentis Diesing aus dem menschlichen Auge Erwähnung finden.
Vielleicht ist die letztere mit der im Auge der Rinder und
Pferde nicht selten auftretenden Füaria papulosa identisch.
IV. Acanthocephalen. Kratzer. Schlauchförmige, darmlose
"Würmer , deren vorderer Leibesabschnitt mit Widerhaken
bewaffnet ist und als Rüssel durch Retractoren in eine Scheide
zurückgezogen werden kann. (Fig. 48, 49.) Von den Nema-
toden, denen sie in der äusseren Körperform ähnlich . sehen,
weichen die Echinorhynchen, wie die Acanthocephalen auch
nach der einzigen Gattung Echinorhynchus genannt werden,
im inneren Baue wesentlich ab. Das Nervencentrum liegt
als einfaches, grosse Ganglienzellen enthaltendes Ganglion im
Grunde der Rüsselscheide und entsendet seitliche Nervenstämme
durch die Retractoren nach der musculösen Körperwand. Sinnes-
organe fehlen, ebenso Mund, Darm und After. Die ernährenden
Säfte werden wie bei den Bandwürmern durch die äussere Haut
aufgenommen, welche in ihrer weichen Subcuticularschicht ein
complicirtes System von Körnchen führenden Lacunen ein-
schliesst, die sich in zwei zu den Seiten der Rüsselscheide gelegene
Fortsätze der Körperwand (Lemnisci) einstülpt. Die Geschlechts-
drüse und deren Ausführungsgänge liegen am hinteren Ende der
Rüsselseheide durch ein Ligament in der Leibeshöhle befestigt.
Die kleineren Männchen besitzen zwei Hoden, deren Ausfüh-
rungsgänge in ein gemeinsames, mit 6 Kittdrüsen (sog. Prostata-
Schläuche) behaftetes Vas deferens einmünden. Dieses öffnet
sich am hinteren Körperende auf kegelförmigem Penis im Grunde
einer glockenförmigen, vorstülpbaren Bursa. (Fig. 48 und 49).
Die Weibchen besitzen dementsprechend zwei Ovarien und einen
medianen Eileiter, welcher glockenförmig mit freier Mündung
in der Leibeshöhle beginnt (Uterusglocke) und in verschiedene
Abschnitte gegliedert am Hinterende ausmündet. Mit der fort-
schreitenden Grössenzunahme lösen sich die Ovarien in Eiballen
auf, aus welchen reife Eier im Leibesraum frei werden, welche
nach der Befruchtung von Hüllen bekleidet die Embryonalent-
wicklung durchlaufen und dann durch den Leitungsweg nach
Aussen abgelegt werden. Die mit Stachelkranz bewaffneten
Embryonen (Fig. 50) gelangen in den Darm von Amphipoden,
Isopoden, selten Insecten (Echinorht/nchus gigas in dem Enger-
ling), schlüpfen aus den EihüUen und durchbohren die Darm-
wandung, um in der Leibeshöhle des neuen Trägers nach Ver-
lust der Embryostacheln zu länglich gestreckten Echinorhynchen-
Larven (Fig. 51) zu werden, welche Puppen vergleichbar mit
eingezogenem Rüssel von ihrer äusseren Haut wie von einer
Cyste umschlossen in dem Zwischenträger verharren, bis sie mit
diesem in den Darm von Fischen und Wasservögeln, seltener
Säugethieren gelangen und hier in der Darmwand eingebohrt
zu geschlechtsreifen Thieren auswachsen.
Von zahlreichen Arten der einzelnen Gattung Echino-
rhynchus leben die meisten im Darm der Fische, dessen
Wand sie mittelst des sich vorstülpenden Rüssels zu durchbohren vermögen. Das
Vorkommen von Echinorhynchen im menschlichen Darm ist ein äusserst seltenes.
Fig. 48.
Männchen von Echino-
rhynchus angustatus.
R Rüssel, Bs Eüssel-
scheide, Le Ijemnisoi,
Li Ligament, G Ganglioa
T Hoden, Vd Vas defe-
rens, Pr Prostata-
schläuche, De Ductus
ejaculatorius, P Penis,
B eingestülpte Bursa.
Fig. 49.
Vorderer Körpertheil
eines Echynorhynchus,
stärker vergrössert.
R Rüssel, Rs Küssel-
scheide, (? Ganglion,
L Lemnisci, R Reti-
nacula.
490
EINGEWEIDEWÜRMER DES MENSCHEN.
Fig. 50.
Ei mit dem ein-
geschlossenen Em-
bryo von Echinorhyn-
chus gigas.
Lambl fand im Dünndarm eines an Leukaemie verstorbenen Kindes
einen kleinen, noch niclit geschleclitsreifen Echinorliynclius.
In jüngster Zeit inficirte sich Calandruccio mit den Jugendformen
des E. monüiferus der im Darm des Siebenschläfers, der
Feldmaus und des Hamsters gefunden wird und trieb sich acht
Wochen nach der Aufnahme der Jugendformen 33 Echinorhyn-
chen ab.
Anhang. Zu den Eingeweidewürmern
wurden früher auch die L i n g u a t u 1 i d e n
oder Zungenwürmer gestellt, deren einzige
Gattung Pentastomum lange Zeit als ein den
Polystomeen verwandter Platyhelminth galt.
Trotz der Aehnlichkeit, welche diese Para-
d
Fig 51.
Larven von Echinorhynchus proteus aus Gammarus pulex. a Aus
den EihüUen frei gewordener Embryo, Ek Embryonalkern,
h älteres Stadium mit breitem differenzirten Embryonalkern, c em
iunger weiblicher V^urm, Ov Ovarium, d ein junger männlicher
Wurm, T Hoden.
Fig. 52.
Fentastomum dentieulatum.
Jugendform von P. taenioides.
0 Mund, Hf Die 4 Haken,
D Darm, A After.
siten in der äusseren Körperform und der Entwicklungsweise mit den Helminthen
zeigen, gehören dieselben einer ganz anderen Thierclasse an und sind durch
regressive Metamorphose und Anpassungen parasitischer Lebensweise umgestaltete
Arachnoideen. Der langgestreckte, häufig abgeflachte Leib derselben
ist geringelt und am vorderen Ende in der Umgebung des Mundes mit zwei
Paaren von Klammerhaken bewaffnet, welche auf Chitinstäben gestützt in ebenso-
viel Hauttaschen liegen und aus diesen hervorgestreckt werden. Das Nervensystem
beschränlit sich auf einen Schlundring, mit einfachen subösophagealem Ganglion.
Ein Darmcanal ist vorhanden. Augen, Respirations- und Circulationsorgane fehlen.
Männchen und Weibchen unterscheiden sich durch ihre Grösse und abweichende
Lage der Geschlechtsöffnungen. Die aus den Eiern ausschlüpfenden Larven sind
wie manche Acarinenlarven mit zwei kurzen, Klauen tragenden Fusstummeln
versehen, die mit der weiteren Metamorphose abgeworfen werden. Im geschlechts-
reifen Zustand leben die Zungenwürmer in Lufträumen, Lunge, Trachea von
Carnivoren und Reptilien, im Jugendzustande in der Leber und Leibeshöhle. Am
genauesten ist die Entwicklung von Pentastomum taenioides Rud. und
dessen in der Leber des Hasen, sowie der Ziegen, des Rindes und Pferdes und
auch des Menschen lebenden, als Pentastomum dentieulatum unterschiedenen Jugend-
form durch R. Leuckaet bekannt geworden. (Fig. 52) Das im weiblichen Geschlecht
8 — 9 cm lange Thier findet sich in der Nase und Stirnhöhle des Hundes und
Wolfes und veranlasst einen heftigen Katarrh. Mit dem Schleimauswurf gelangen
EINHEIMISCHE CHOLERA. ' 491
die embiyohaltigen Eier nacli aussen mit Pflanzen und mit diesen in den Magen
der Leporiden und gelegentlich auch des Menschen. Die Embryonen durchsetzen
mit ihrem Bohrapparat und Hakenpaaren die Darmwand und wandern in die Leber
ein, wo sie encystiren und nach mehrfachen Häutungen im Laufe von etwa sechs
Monaten zu der Form des P. denticulatum auswachsen. In dieser circa 1'5 cm
langen Form besitzen sie zahlreiche fein gezähnelte Ringel des Integuments und
vier Muudhaken, sind aber noch nicht geschlechtsreif und wandern nach Durch-
bohrung der Cyste im Körper des Zwischenträgers durch die Leber in die Leibes-
höhle, um hier von neuem eingekapselt zu werden. Bei grösserer Zahl vermögen
sie den Tod des Zwischenträgers zu veranlassen. Gelaugen sie zu dieser Zeit in
die Rachenhöhle der Carnivoren, so dringen sie von da in die benachbarte Nasen-
und Stirnhöhle und werden im Laufe von 2 — 3 Monaten geschlechtsreif. Man hat
in der Leber der Neger die Jugendform einer zweiten als P. constrictum v. Sieb,
bezeichneten Art gefunden, über deren weitere Entwicklung und geschlechtsreife
Form nichts Näheres bekannt ist.*) c. claus.
Einheimische Cholera (Cholera nostras). Die einheimische Cho-
lera führt eine grosse Anzahl Namen, welche zwar vielfach recht alten Ur-
sprungs sind, aber doch auch noch in der Neuzeit in Anwendung stehen; so
findet man in der alten Literatur die einheimische Cholera bezeichnet als
Cholerrhagie, Passio cholerica, weisse Kuhr ; die Neuzeit benutzt mit Vorliebe
im Gegensatz zur Cholera asiatica die Bezeichnung Cholera nostras oder Cho-
lera indigena; auch bezeichnet man sie als Brechruhr, Brechdurchfall, als
Gastroenteritis catarrhalis acutissima, als Cholera sporadica, und mit Rücksicht
auf die Jahreszeit, in welcher sie besonders häufig vorkommt, als Cholera
aestiva, Sommerbrechruhr ; sehr unzweckmässig ist für die Cholera nostras die
Bezeichnung Cholera europaea, die europäische Cholera, weil es den Anschein
erweckt, als ob diese Art der Cholera nur in Europa vorkomme ; thatsächlich
ist dieses nicht der Fall, sondern sie findet sich bei den Bewohnern aller Erd-
theile.
Die Cholera nostras ist so alt, als die medicinische Geschichte überhaupt
zurückreicht; schon im Buche Sirach des alten Testamentes ist sie bemerkt,
die Schriften des Hippocrates erwähnen sie ; Celsus, Aretaeus, Caelius Au-
RELiANüS, Alexander von Tralles nehmen auf sie Bedacht (Rossbach), wie
auch das Mittelalter durch Forestus, Rivierus und viele Andere von ihr spricht.
Man bezeichnet mit Cholera nostras einen in sich abgeschlossenen Symp-
tomencomplex, welcher ausser mehr oder minder schweren allgemeinen Er-
scheinungen wesentlich unter dem Bilde einer acuten, heftigen Erkrankung des
Magendarmcanals aufritt und dadurch der Cholera asiatica so sehr ähnlich wird,
dass man bei der einfachen klinischen Untersuchung die Krankheitsbilder viel-
fach nicht von einander unterscheiden kann. Vor der Entdeckung des Kocn'schen
Kommabacillus ist es keine Seltenheit gewesen, dass die Cholera nostras für ihren
schlimmeren Verwandten, die Cholera asiatica, gehalten wurde, und umgekehrt
die asiatische Form für die einheimische. Man stützte sich wesentlich zur
Diagnose auf Cholera nostras auf die Erfahrung, dass die einheimische Cholera
im Ganzen einen weniger heftigen Verlauf zeigt und vor allem seltener zum
Tode führt, dass sie nicht die Neigung zeigt, sich über grössere Bezirke fort-
zupflanzen, sondern sich auf mehr abgeschlossene Districte abgrenzt ; diese Er-
fahrung, so werthvoll sie auch ist, war und ist gleichwohl nicht im Stande,
vor Irrthümern zu schützen, zumal es vorkommt, dass die Cholera nostras und
asiatica zu gleicher Zeit in demselben Orte auftreten. Die bacteriologische Unter-
*) Bezüglich der durch die Eingeweidewürmer veranlassten Krankheiten, ihrer
Symptome und Therapie vergleiche den Artikel „Helminthiasis".
492 EINHEIMISCHE CHOLERA.
suchung auf die von Koch als Ursache der Cholera asiatica aufgefundenen
Kommabacillen vermag frühzeitig den Entscheid zu liefern. Zweifelsohne aber
wird auch heute noch bei Epidemien der Cholera asiatica, wenn die Seuche
die bacteriologische Untersuchung durch die zahlreichen Erkrankungen un-
möglich macht, mancher Erkrankungsfall mit Unrecht der einen oder der andern
Choleraform zugeschrieben.
Unter dem Namen Cholera nostras versteht man wahrscheinlich eine
Gruppe von Erkrankungen, welche nur das äussere Bild mit einander gemein
haben, sonst aber weit von einander unterschieden sind, vor Allem was das
Wesen der Erkrankung anlangt. Eine strenge Unterscheidung der Cholera
nostras in zwei Hauptgruppen muss dahin zielen, eine Form aufzustellen, welche
auf einer Infection beruht und eine Form, welche nicht auf infectiöser Basis
aufgebaut ist ; diese Unterscheidung muss einmal gemacht werden, wenn auch
zur- Zeit die absolut klare Beantwortung der Frage noch nicht möglich ist.
Das Vorkommen der Cholera nostras hängt zum Wesentlichen ab von
der Jahreszeit; der Spätsommer, zumal die heissen Monate Juli und August
sind vorwiegend die Zeit für diese Erkrankungen bei uns in Europa, es ist
aber auch die Cholera nostras zu anderen Jahreszeiten, ja selbst im Winter
beobachtet worden, jedenfalls aber begünstigt die heisse Sommerzeit ihr Auf-
treten ungemein.
In ursächlichen Zusammenhang mit der Cholera nostras bringt
man frische Verdauungsstörungen, den Genuss von Obst, zumal von unreifem
Obst, den allzu reichlichen Genuss von Bier, das Trinken von kalten Getränken,
von verdorbenem Wasser, gährenden Flüssigkeiten, zersetzter Milch, den Genuss
von verdorbenem Fleisch, Erkältungen, kurz alle aetiologischen Momente, welche
wir überhaupt in der Aetiologie der acuten Magen-Darmkatarrhe aufführen.
Ob nun diese Gelegenheitsursachen die Cholera nostras selbst schaffen oder
ob sie nur den günstigen Boden für eine folgende Infection bereiten, ist schwer
zu entscheiden, solange wir den Namen Cholera nostras nur nach dem Symp-
tomencomplex willkürlich stellen ; jedenfalls gibt es zahlreiche Fälle von Er-
krankungen, welche wir in das Capitel „Cholera nostras" reihen, welche von
vorneherein den Gedanken an eine Infection nahe legen.
Es ist nun von uns und Finkler im Jahre 1888 bei fünf Fällen unter
29, welche an ausgesprochener Cholera nostras litten, und im Jahre 1885 noch
bei sechs Fällen ein echter Kommabacillus gefunden worden, welcher im mikro-
skopischen Bilde allein mit Sicherheit von dem Kommabacillus Koch's nicht
unterschieden werden kann und in seinem biologischen Verhalten dem Kocn'schen
Kommabacillus sehr nahe steht ; er ist wie der Kocn'sche Bacillus, wenn auch
weniger energisch, pathogen. Die Thatsache, dass in Fällen von Cholera nostras
und zwar sowohl in absolut frischen Darmentleerungen, wie älteren Entleerungen
der FiNKLEE-PRiOR'sche Kommabacillus aufgefunden worden ist, steht fest und
seine Bedeutung kann auch nicht herabgesetzt werden, wenn er von Anderen
in Fällen von Cholera nostras nicht gefunden worden ist; denn die Cholera
nostras ist kein aetiologisch einheitlicher Begriff, sie ist nur die
Beschreibung eines bestimmten Krankheitsbildes, welches aetiologisch die ver-
schiedensten Quellen hat ; jedenfalls ist der PRiOR-FiNKLER'sche Vibrio im
Stande, bei Thieren choleraähnliche Erkrankungen zu machen, was auch Koch
und seine näheren Schüler bestätigen, und dass er und seine biologischen Aeusse-
rungen Cholera nostras-Bilder beim Menschen schaffen können, lehrt unsere
Beobachtung in Bonn.
Wenn wir im Folgenden von Cholera nostras sprechen, so haben wir dabei
nur das Symptomenbild im Auge ; dieses befällt beide Geschlechter gleich-
massig, die Männer sind etwas häufiger befallen, weil sie häufiger den Ge-
legenheitsursachen ausgesetzt sind als die Frauen ; die Erkrankung überrascht
EINHEIMISCHE CHOLERA. 493
jedes Lebensalter ; von Kindern werden vor Allem diejenigen ergriffen, welche
künstlich ernährt werden oder schon von der Mutterbrust entwöhnt sind.
Die Cholera nostras leitet sich häutig mit allgemeinem Unbehagen, Mü-
digkeit, Appetitlosigkeit, Leibschmerzen, Kollern in den Därmen, Brechneigung
und leichten Durchfällen ein ; oft aber tritt sie plötzlich ein mit heftigem Er-
brechen und Durchfällen. Das Erbrochene besteht anfangs aus den genossenen
Speisen, dann aber folgen gallige, gelbliche, gräuliche Massen und endlich er-
folgt nur Erbrechen von schleimig-wässeriger Flüssigkeit ; ging anfangs das
Erbrechen ziemlich leicht von Statten, so ist es später sehr mühsam, so dass
der Patient erschöpft zurücksinkt und von lebhaften Schmerzen gequält wird.
Das Erbrechen wiederholt sich rasch, es kann in kurzer Zeit sich 10 Mal und
mehr einstellen, selbst 20 — 30 Mal innerhalb einer Stunde kommt es zu Stande;
nachher können noch häufige Brechbewegungen mühseliger Art folgen, ohne
dass überhaupt noch etwas entleert wird. Mittlerweile nehmen die Leib-
schmerzen zu, heftige Darmkoliken können das Krankheitsbild erweitern und
Durchfälle treten ein. Die Darmentleerung fördert im Beginne Stuhl faecu-
lenter Beschaffenheit zu Tage, welcher dünnbreiig ist, häufig stark riecht und
von vielen Gasen begleitet wird. Die Entleerungen folgen rasch unter leb-
haften Darmschmerzen auf einander, die Entleerung selbst wird immer dünn-
flüssiger, wässeriger, die faeculente Beschaffenheit verschwindet, sie wird ge-
ruchlos und farblos, enthält zahlreiche Flocken und Fetzen von Darmschleim-
hautepithelien, und nimmt schliesslich in prägnanten Fällen die Beschaffenheit
der Keiswasserstühle an. Die Entleerungen sind häufig sehr copiös ; sie folgen
oft so rasch aufeinander und in solcher Häufigkeit, dass der Patient nicht zur
Ruhe kommt ; man beobachtet 10 — 20 Entleerungen innerhalb einer oder we-
niger Stunden. Wenn Darmentleerungen wiederholt stattgefunden haben, so
lässt öfters der heftige Leibschmerz nach, häufig aber folgen auch heftige
Schmerzen kolikartig Schlag auf Schlag. Mittlerweile ist das Allgemeinbefinden
des Befallenen erheblich geschädigt worden. Das Bild hochgradigster Er-
schöpfung prägt sich in dem Gesichtsausdruck aus, die Lippen sind bläulich,
die Wangen eingefallen, die Augen unruhig und matt, die Stimme ist schwach,
höher, klanglos, häufig zur Vox cholerica umgewandelt ; grosses Angstgefühl,
Praecordial- Angst begleitet die Erkrankung, unlöschbarer Durst stellt sich ein,
die Zunge wird trocken und das Schlucken mühsam. Der Kranke wirft sich
ruhelos hin und her und klagt über schmerzhafte Krämpfe in den Muskeln,
welche vorwiegend die Wadenmusculatur befallen, aber auch die Arm- und
Brustmuskeln befallen können. Schreitet die Erkrankung weiter fort, so tritt
das Bild des Collapses deutlich hervor ; das Gesicht illustrirt die Facies Hi])-
pocratica, die Haut wird zumal im Gesicht und an den Extremitäten bläulich
und kühl, der Patient wird theilnahmlos, die Augen stehen halboffen, die
Athmung ist beschleunigt und flach, die Pulse sind vermehrt an Zahl bis 120
und mehr in der Minute, aber die Welle ist sehr klein, die Herztöne sind
sehr leise ; in besonders heftigen Fällen schwindet rasch der Puls an der Ra-
dialis. Der Patient schreit in seinem Collaps bisweilen auf, wenn neue Waden-
krämpfe sich einstellen ; man sieht auch gelegentlich Muskelzuckungen.
Hat im Beginn der Erkrankung Temperatursteigerung bestanden, so
sinkt rasch die Eigenwärme tief unter die Norm, so dass Temperaturen von
-j- 34, 35, 36*^ Celsius nicht selten sind. Die Harnproduction ist sehr vermin-
dert und oft sistirt sie ganz; die Harnblase ist leer. Der entleerte Harn
hat ein hohes specifisches Gewicht und enthält öfters Eiweiss und Cy linder;
gelegentlich auch ist er schwach bluth altig.
Der Ausgang der Erkrankung ist gewöhnlich die Genesung. Das
Erbrechen und die Durchfälle lassen nach 24 — 48 Stunden nach, das All-
gemeinbefinden hebt sich, der Puls wird kräftiger, die Muskelschmerzen ver-
schwinden, die Haut wird wieder warm und feucht, ihr Turgor kehrt zurück
'494 JEINHEIMISCHE CHOLERA.
und reichliche Harnentleerung tritt ein; zunächst ist die Harnraenge noch
spärlich, schwach sauer reagirend und oft noch eiweisshaltig; auch findet man
verfettete Nierenepithelien und Nierencylinder; ich habe gefunden, dass in
solcheiti Harn der Stickstoffgehalt sehr herabgesetzt ist und ebenso der Gehalt
an Kochsalz; rasch aber kehrt der Harn zur normalen Beschaffenheit zurück,
der Eiweissgehalt ist schon in der zweiten Entleerung verschwunden, sehr
häufig ist die Harnmenge über die Norm vermehrt. Der Kranke fühlt sich
zwar sehr matt und angegriffen, hat aber das Gefühl des Wohlbehagens und
der Zufriedenheit; die vollständige Genesung tritt in wenigen Tagen ein;
es kann aber auch die Reconvalescenz sich über eine Woche und länger hin-
ziehen, öfters auch bleibt eine allgemeine Schwäche und grosse nervöse Er-
schöpfung für mehrere Monate zurück. Selbst in den Krankheitsfällen, in
welchen man den Tod fast augenblicklich erwartet, darf man nicht verzweifeln,
weil auch hier noch rasche Besserung möglich ist und thatsächlich auch die
Genesung die Ptegel ist. Wenn aber kein Nachlass der Krankheitssymptome
eintritt, so steigert sich die Kühle der Haut bis zur Kälte, die Herztöne werden
schwächer, kaum hörbar, die Pulsschläge sind nicht mehr zu fühlen, die Durch-
fälle und das Erbrechen hören auf, Singultus, welcher oft schon frühzeitig
besteht und quälend ist, tritt in die Beobachtung, die Kranken werden noch
mehr benommen, schliesslich vollständig apathisch und endlich tritt der Tod
ein, welcher bisweilen von leichten Convulsionen eingeleitet wird. Wenn ein
tödtlicher Ausgang erfolgt, so sind es meistens junge Kinder, altersschwache
Leute oder sonstige schwächliche Personen, welche ihm verfallen.
Die anatomischen Befunde der Cholera nostras sind nicht sehr reich;
man ist fast regelmässig überrascht zu finden, wie gering die Veränderungen
sind; häufig ist der Leichenbefund gänzlich negativ, es handelt sich dann um
Fälle, in denen wohl zu Lebzeiten die Darmschleimhaut injicirt gewesen ist,
in andern Fällen findet man die anatomischen Zeichen eines heftigen Katarrhes,
welcher vorwiegend im Dünndarm seinen Sitz hat; die Solitärdrüsen des
Jejunum und vor allem diejenigen des Ileum, sowie die Peyer'schen Plaques
sind in solchen Fällen geschwellt und treten über die Schleimhautoberfläche
hervor; die Solitärdrüsen, wie die Peyer'schen Drüsen sind bisweilen fest infil-
trirt, oft auch weich, mit Flüssigkeit gefüllt, so dass sie sich beim Anschneiden
entleeren. Der Dickdarm ist meistens unverändert, so dass er sich lebhaft
von dem tief gerötheten Dünndarm abhebt. Der Magen ist fast stets un-
verändert.
Im Darme findet sich gewöhnlich ein dünnflüssiger Inhalt, welcher bald
grauweiss erscheint, bald auch vollkommen farblos; der Inhalt ist sehrcopiös
und enthält nur wenige Flocken der Darmschleimhaut, reicher ist er an ab-
gestossenen Darmschleimhautepithelien und Lymphkörperchen ; nur sehr selten
ist er röthlich gefärbt. Bisweilen findet man nur sehr geringen Darminhalt,
je nach dem Stadium, in welchem der Patient gestorben ist. Von sonstigen
anatomischen Befunden heben wir hervor, dass die Leber fast immer schlaff
und blutleer ist, und die Gallenblase wenig zähe Galle enthält. Die Milz ist
ebenfalls klein und blutleer.
Die Nieren erscheinen meistens ganz unverändert, öfters aber sind sie
venös-hyperaemisch, wenig geschwellt; auf dem Durchschnitte ist die Mark-
substanz dunkelroth; die Epithelien sind körnig trübe und fettig degenerirt;
dieses ist dann der Fall, wenn die Kranken nicht in den ersten Stunden,
sondern erst nach zweitägiger Dauer zu Grunde gingen und die Harnproduction
ganz oder fast ganz versiegt blieb. In dem Nierenbecken und dem Ureter
findet sich dann eine dickliche, trübe Flüssigkeit, welche reich ist an Cylindern
und verfetteten Epithelien. Dieselbe Masse kann man auch aus den Papillen
ausdrücken. Die Blase ist meistens leer oder enthält nur wenig trüben Harn.
EINHEIMISCHE CHOLERA. 495
Die übrigen Organe sind unbetheiligt, nur finden sich überall die Zeichen
der Eindickung und Veränderung des Blutes, gelegentlich auch lobuläre Atelec-
tasen in den Lungen und venöse Hyperaemie mit Oedem der weichen Hirn-
haut. Die äussere Beschaffenheit der Leichen lässt den grossen Blutverlust
öfters schon daran erkennen, dass die Haut gerunzelt erscheint, der Todte
zusammengefallen aussieht, die Augen tief in den Höhlen liegen, die Lippen,
Fingerenden, Zehen stark bläulich aussehen und die Leichenstarre sehr scharf
ausgeprägt ist; die Leichenfäulnis tritt verhältnismässig spät ein.
Die Prognose der Cholera nostras ist als eine gute zu bezeichnen.
Todesfälle bilden die 'Ausnahmen und erstrecken sich fast nie auf sonst gesunde,
kräftige Personen. Nachkrankheiten sind im Ganzen selten; wohl kann sich die
Reconvalescenz länger hinziehen, aber doch ist die vollständige rasche Genesung
die Regel. Als Nachkrankheiten kennen wir, abgesehen von einer zurückbleiben-
den, grossen Empfindlichkeit der Verdauungswege gegen Diätfehler geringer
Art, Störungen im Bereiche des Nervensystems, welche sich in rascher Er-
schöpfung oder grosser Reizbarkeit äussern, oder auch in Lähmungen der einen
oder andern Muskelgruppe der Beine oder Arme, Gedächtnisschwäche; alle
diese Erscheinungen geben aber eine gute Prognose. So selten wie diese
Nachkrankheiten, sind auch Ernährungsstörungen in der Haut, wie Furunkel-
bildungen. Als Nachkrankheit der acuten Attaque hat man auch typhoide
Erkrankung sich entwickeln sehen.
Die Diagnose der Cholera nostras ist im Allgemeinen nicht schwer.
Das häufige, intensive Erbrechen, die zahlreichen copiösen Durchfälle der be-
schriebenen Art, die hervorstechenden Allgemeinerscheinungen sind die Stütz-
punkte. Es hat aber die Ditferentialdiagnose auf andere Erkrankungen Rück-
sicht zu nehmen. Es ist zunächst die Cholera asiatica in Betracht zu ziehen.
Der Symptomencomplex beider ist so nahe verwandt, dass das klinische Bild
einen entscheidenden Unterschied meistens nicht zulässt. Wohl ist der schliess-
liche Ausgang bei der Cholera nostras ein hervorragendes Unterscheidungsmal,
aber der hygienischen Vorsichtsmassregeln willen ist es nothwendig, sobald
wie möglich die Unterscheidung festzusetzen. Findet sich der Kocn'sche
Kommabacillus und erweist die Plattencultur sicher seine Anwesenheit, so ist
der Beweis der Cholera asiatica geliefert. In allen Fällen von Cholera und
Cholera ähnlichen Erkrankungen hat man mit Rücksicht auf den Finkler-Prior'-
schen Kommabacillus vor Allem die Unterschiede in Wachsthum und der
vitalistischen Eigenschaften zu prüfen, jedenfalls soll man sich in keinem Falle
auf das einfache mikroskopische Bild verlassen, sondern Züchtungsversuche
ausführen. Kann man nun die asiatische Cholera durch bacteriologische Unter-
suchung ausschalten, so ist hiermit, wenn der Prior-Finkler' sehe Bacillus fehlt,
die Diagnose auf Cholera nostras noch nicht sicher, weil gleiche oder ähn-
liche Bilder durch Vergiftungen mit Arsenik, Tartarus stibiatus, Sublimat
geschaffen werden können; in verdächtigen Fällen wird man das Erbrochene
oder die Stuhlentleerung chemisch auf diesen Stoff hin untersuchen müssen.
Auch organische, noch unbekannte Gifte, welche in der Wurst, Fischen,
Fleisch, Muscheln gelegentlich enthalten sind, setzen die nämlichen Symptome;
es muss die Anamnese auch auf diese Punkte Rücksicht nehmen.
Die Behandlung der Cholera nostras ist von dem Gesichtspunkte
aus zu leiten, dass wir ein Specificum gegen diese Erkrankung nicht kennen.
Meine Versuche, durch Tannin- oder ÄZo^Einläufe den Verlauf abzukürzen,
sind ohne besondere Resultate geblieben. Man hat daher im Ganzen bei der
Cholera nostras symptomatisch zu verfahren, vor Allem frülizeitig zu ver-
suchen, dem Collaps vorzubeugen und der grossen Blutwasserentziehung
möglichst Einhalt zu thun oder ihre Folge auszugleichen. Man bringt also
den Kranken zu Bette, bedeckt den Leib mit grossen Cataplasmen. Dann
nehme man seine Zuflucht zu dem Opium, welches man als Opium purum
496 EINHEDIISCHE CHOLERA.
0,03, 1 — 2 stell, ein Pulver, Extractum opii 0,05, 4mal täglich verordnen kann,
oder in Tropfenform als Tindura opii simplex, als Tinctura opii crocata, 10
bis 20 Tropfen mehnnals des Tages; einer grossen Beliebtheit erfi^euen sich
die sog. russischen Choleratropfen, von welchen man 1 — 2 stdl. 20 Tropfen
verabreicht: man verordnet Tincturae Valerianae aethereae 10,0; Vini Ipecacu-
anhae 5,0; Tincturae opii crocatae 1,0; Olei menthae piperitae gut. V. Auch
findet man die Verordnung Pulveris Ipecacuanhae opiali 0,3, 2 stdl. ein Pulver,
vielfach im Gebrauch. Man muss im gegebenen Falle, wenn der Magen alles
erbricht, Opiumtropfen per Klysma einzuverleiben suchen. Meistens gelingt
es, durch die Opiumpräparate rasch das Erbrechen und die Dui'chfälle zu
stillen. Das Erbrechen und das quälende Durstgefühl erfordern weiterhin die
Yerabfolgung von Eisstückchen, den Durst suche man auch durch Trinken
von kalten, schleimigen Getränken zu stillen. Grössere Flüssigkeitsmengen,
nach welchen der Patient verlangt, verschulden häufig eine Zunahme des Er-
brechens. Bei heftigem Erbrechen mit starkem Angstgefühl, bewährt sich
öfters eine Morpkiuminjection in die Magengegend als zweckmässig. Stellen
sich die ersten Zeichen von CoUaps ein, so säume man nicht, zu den Ätialeptica zu
greifen. Man flösse dem Kranken kalten Champagner ein. verabreiche schweren
AYein und Cognac. Fängt die Haut an abzukühlen, so hülle man den Patien-
ten in warme Tücher, lege ihm Wärmflaschen an die Seiten und die Füsse
und reibe sanft die Haut. In noch vorgeschritteneren Fällen mache man
Injectionen xoti Kampher, Aether, Moschus, suche starken, warmen Kafi'ee und
Thee zu verabreichen. Gegen die Singultus hat man mit zweifelhaftem Erfolge
Sinapismen empfohlen. Die schmerzhaften AYadenkrämpfe flnden dm'ch Mor-
pjhiumeinspritzungen an der Stelle des Krampfes Erleichterung. Auch von heissen
Bädern bei sinkender KörpeiTsärme. mit und ohne nachfolgende kalte Ueber-
giessung zur Hebung des Collapses macht man Gebrauch, wie man auch der
Hautreize nicht stets entbehi'en kann.
Yon sonstigen inneren Mitteln, von welchen das Bismuthum subnitricum
oder salicglicum, das Argentum nitricum, der Liquor ferri sescpdchlorati, das
Chinin, Salicijlsäure, Kreosot, Thijmol, Creosol, Naphtol und viele Andere em-
pfohlen wurden, hat man nicht viel gesehen, ebenso kommt man meistens zur
Behandlung mit Calomel zu spät. Dagegen lohnt sich der Yersuch, ^ie ich
aus Erfahrung weiss, sich der Hypoderrnoclyse (4,0 grm Chlornatrium, 3 gr Na-
trium auf 1000 gr Wasser, sterilisirt durch Zoc/;^»;) zu bedienen oder noch besser
der intravenösen Injection der sterilisirten Kochsalzlösung (von 0,6 : 100,0.)
"Wenn die bedrohlichen Erscheinungen der Cholera nostras geschwunden
sind, so lässt man baldmöglichst die Opiate weg und legt den Hauptwerth auf
eine zweckmässige Ernährung. Als solche empfehlen sich die Fleischbrühe,
Schleimsuppen, welchen man ein Eidotter beifügen kann: man thut gut, wenn
man in den ersten Tagen noch keine feste Xahrung gibt, sondern erst lang-
sam zu ilu' übergeht. Als Getränk bewährt sich ein leichtes Mineral-
wasser, wie Fachinger, Giesshübler, Pioisdorferwasser, oder säuerliche Limo-
nade; man darf auch vom Weine mit und ohne Yerdünnung Gebrauch machen.
Etwaige Xacherki'ankungen erfordern eine gesonderte Behandlung. Die
Prophylaxis der Cholera^nostras erheischt zumal im Hochsommer die grösste
Yorsicht in der Lebensweise, die Yermeidung jeder Unmässigkeit; die geringste
Yerdauungsstörung lasse man nicht unbeachtet. Tritt alier in einem Hause
ein Fall von Cholera nostras auf, so muss man genau nach der L'^rsache for-
schen. Denn man findet häufig, dass in einer Familie, in einem Gebäude
zahlreiche Fälle rasch hintereinander vorkommen, so dass der Gedanke an
einen gemeinsamen Ursprung nahe liegt. So spielte sich 1885 die von uns
beobachtete Häufung der Cholera nostras in einer gut geleiteten, geschlossenen
Anstalt ab; wir kennen -auch kleinere und grössere Endemien, in welchen eine
ELEKTRODIAGNOSTIK. 497
jauchige Verunreinigung des Trinkwassers wochenlang alltäglich neue Fälle
hervorrief.
Weiterhin halten wir es für dringend nothwendig, dass die grösste Sorg-
falt auf die Desinfection der Stuhlentleerung und des Erbrochenen, der Leib-
wäsche, Bettwäsche, Kleidungsstücke zu legen ist. Zweifellos sind viele Fälle
der Cholera nostras auf infectiösem Boden entstanden. Die Möglichkeit, dass
durch die Stuhlmasse oder die beschmutzte Wäsche der Keim der Cholera
nostras übertragen und weiter verpflanzt werden kann, liegt sehr nahe; für die-
jenigen Fälle, in welchen der Bacillus Finkler-Prior vorkommt, ist wegen
dessen pathogener Eigenschaften und langer Lebensdauer mit erhaltener Infec-
tionsfähigkeit an der Uebertragbarkeit der Erkrankung nicht zu zweifeln.
PRIOR.
ElektrodtagnOStik. inmitten aller andern diagnostischen Methoden,
der Inspection, Palpation, Auscultation, Percussion u. s. w. hat auch die Fest-
stellung der Reaction der Gewebe auf den elektrischen Strom,
die sogen. Elektrodiagnostik, einen gewissen Werth. Wir nehmen an, es handle
sich um einen Fall von Atrophie und Lähmung verschiedener Muskeln beider
Arme; die aetiologischen Momente, der Verlauf der Krankheit, die Ausdehnung
der Atrophie an den einzelnen Muskeln u. s. w. sind bereits festgestellt, ohne
dass der eigentliche Krankheitsherd dieser Atrophieen hat bestimmt werden
können, und es wird die Frage dringend: Welches ist der Ausgangspunkt für
dieses Leiden? Wo sitzt die primäre Störung? Wie ist die Prognose?
In solchem Falle tritt die Elektrodiagnostik helfend ein, denn durch
diese wissen wir, dass Muskeln, welche durch eine Krankheit der nervöseü
Centralorgane oder peripheren Nerven gelähmt worden sind, eine ganz andere
elektrische Reaction haben wie idiopathisch gelähmte und atrophirte Muskeln.
In andern Fällen ist es zweckmässig, den faradischen Strom als Reiz-
sonde für die Empfindungsnerven anzuwenden, die sogen, elektrocutane
Sensibilität an gesunden und kranken Theilen zur vergleichsweisen Prüfung
festzustellen.
Schliesslich dürfte es auch öfters wissenschaftlich und praktisch interessant
sein, den Leitungswiderstand der Haut gegenüber dem elektrischen
Strom kennen zu lernen, um daraus Schlüsse auf die Functionen der Haut
und der darunter liegenden Organe zu ziehen.
1. Elektrodiagiiostische Prüfung von Nerven und Muskeln.
Um die elektrische Reaction kranker Nerven und Muskeln richtig zu
beurtheilen, ist es nothwendig, dass man das Verhalten der gesunden
Nerven und Muskeln des menschlichen Körpers bei verschiedenen Indivi-
duen kennt. Die motorischen Nerven des Menschen haben fast sämmtlich in
ihrem Verlauf eine oder mehrere Stellen, wo sie der Hautoberfläche ausser-
ordentlich nahe liegen und so dem elektrischen Strom leicht zugänglich werden.
An diesen Stellen, welche man motorische Punkte genannt hat, und
welche insbesondere von v. Ziemssen in sehr sorgfältiger Weise studirt und
])ezeichnet worden sind, wird die prüfende Elektrode aufgesetzt. Daher ist es
nothwendig, dass man sich vor Beginn jeder elektrodiagnostischen Prüfung genau
über diese Punkte orientirt. Man findet Abbildungen und genaue Beschrei-
bungen derselben in allen elektrotherapeutischen Lehrbüchern (Pierson-Sperling,
Erb, Lewandowski u. s. w.) Eine Wiedergabe derselben an dieser Stelle würde
über die Aufgabe dieses im Wesentlichen orientir enden Artikels hinausgehen.
Vorausgesetzt also, dass die motorischen Punkte bekannt sind, so hat
man folgendennassen vorzugehen, wenn es sich beispielsweise um die elek-
trodiagnostische Exploration eines Falles von rechtsseitiger Radialis-
Bibl. med. Wissenscbaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. O^
498
ELEKTRODIAGNOSTIK.
parese (vulgo Schlaf lähmimg) handelt: Der Kranke entblösst den Oberkörper
und setzt sich auf einen Stuhl, an dessen Lehne er mit dem Rücken die eine,
die sogen, indifferente Elektrode andrückt. Im Laufe der Untersuchung wech-
selt dieselbe den Platz von den ersten Brustwirbeln bis zum Gefäss abwärts.
Mit der anderen Leitungsschnur wird der Unterbrechungselektrodenhalter
verbunden, welcher eine Elektrodenplatte von 3 cm'^ Fläche (Sti:n'tzing's Normal-
elektrode) trägt. Die Leitungsschnüre kommen von der mit nicht zu dünnem
Draht besponnenen secundären Rolle des Inductionsapparates. Wälzend nun
die Unterbrechungselektrode bei geöffnetem Strom auf den motorischen Punkt
für den gesunden nerv, radialis aufgesetzt wird, wird der Strom durch
Hinaufschieben der secundären Rolle über die primäre allmälig verstärkt und
durch Aufdrücken und Fallenlassen des Hebels an der Elektrode in ziemlich
rascher Reihenfolge bald geöffnet bald geschlossen, bis eine ganz leichte
Zuckung, wie sie für die Function des radialis charakteristisch ist, auf-
tritt, — die Minimalzuckung. Und darum handelt es sich nunmehr immer,
die Minimalzuckung hervorzubringen; der Rollenabstand, welcher zu diesem
Zweck nothwendig war, wird in einer Tabelle notirt, welche schliesslich den
elektrodiagnostischen Gesammtbefund vereinigt. Nachdem die Reaction des
gesunden radialis festgestellt ist, kommt die Prüfung des kranken an die
Reihe, bei welchem wahrscheinlich ein geringerer Rollenabstand, d. h. eine
geringere Reizempfänglichkeit zu notiren sein wird. Dann folgen die vom ra-
dialis versorgten Muskeln, die Extensoren, zuerst die des gesunden, dann die
des kranken Armes; die Punkte, an welchen dieselben am besten dem elek-
trischen Reiz entsprechen, lernt man durch Uebung sehr bald kennen; sie
liegen im Allgemeinen nahe den Ursprungsstellen der Muskeln. Hat man nun
die Rollenabstände, bei welchen die Minimalzuckung eintrat, jedesmal sorg-
fältig notirt, so ist es beim Schluss der Untersuchung eine verhältnismässig
einfache Sache, das Resultat zu ziehen. Wir finden dasselbe durch Vergleichung
der Rollenabstände der gesunden und der kranken Seite für jeden einzelnen
Nerv, bezw. Muskel, und wenn wir die Rollenabstände der gesunden Seite für
die normale Reaction ansehen, so ist jede Abweichung davon — im All-
gemeinen — als eine Folge des Krankheitszustandes zu betrachten. Die ge-
naueren Angaben folgen später. Nach Vollendung der Prüfung mit dem fa-
radischen Strom wird an demselben oder am folgenden Tage die Unter-
suchung mit dem galvanischen Strom angeschlossen. Die Vorbereitungen
dazu sind die beschriebenen. Auch hierbei wird zuerst immer die gesunde Seite
untersucht. Der Strom muss mittelst des Rheostaten eine allmälige Verstärkung
erfahren; das Galvanometer ist eingeschaltet. Während die Kurbel des Rheo-
staten langsam gedreht wird, wird der Strom bald geöffnet, bald geschlossen,
und sobald die Minimalzuckung bemerkt ist, wird halt! gerufen und die Stellung
der Magnetnadel am Galvanometer schnell abgelesen. Nach Ausschaltung
des Stromes folgt die Prüfung des kranken nerv, radialis, dann der Muskeln
u. s. w. Die Resultate werden in dieselbe Tabelle eingetragen.
Tabelle für elektro diagnostische Untersuchung.
Links
galv.
farad.
Rechts
farad.
galv.
2,0 MA.
3,1
2,9
25 RA.
45
40
ne7^v. radialis
ext. digit.
ext. pollic.
15 RA.
30 —
27 —
3,5 MA.
4,2
3,7
ELEKTRODIAGNOSTIK. 499
Sitzt die Krankheit einseitig, so dient die elektrische Reaction des ge-
sunden Gliedes als willkommenes normales Vergleichsobject. Wie aber, wenn
z. B. beide Arme von derselben Affection, z. B. einer Radialislähmung, be-
fallen sind, wie ich es thatsächlich in einem Falle gesehen habe ! Wie con-
struirt man sich dann das Vergleichsobject?
Stintzing hat es dankenswertherweise unternommen, an einer grossen
Anzahl gesunder Menschen die verschiedenen Nerven und Muskeln auf ihre
faradische und galvanische Reaction zu prüfen und hat diese Resultate in
Tabellen für elektrodiagnostische Grenzwerthe niedergelegt, welche
abgesehen von dem Original (Deutsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 39. S. 26 ff.)
auch z. B. in meinem Lehrbuch Pierson-Speeling wiedergegeben sind. Diese
Tabellen geben z. B. an, dass die Minimalzuckung des nerv, medianus einen
Rollenabstand gebraucht, der zwischen 120 und 90 mm schwankt und im Mittel
105 mm beträgt, und dass zwischen beiden Seiten desselben Individuums eine
Maximaldifferenz von 1 5 m^n vorkommt. Freilich muss man, wenn man sich
auf diese STiNTZiNG'schen Werthe als Normalwerthe beziehen will, vorher ermit-
teln, welcher Rollenabstand des eigenen Inductionsapparates ungefähr dem von
Stintzing gebrauchten entsprechen dürfte. In ähnlicher Weise ist auch die
Feststellung für den galvanischen Strom gemacht und gefunden worden, dass
z. B. für den nerv, radialis normalerweise 0-9 — 2'7 MA zur Erregung der
Minimalzuckung nothwendig sind, und dass unter Umständen Extreme nach
unten und oben von 0-7 und o'O vorkommen können. Die relativ geringsten
Stromstärken brauchen galvanisch: der nerv. musc. cutcm., accessorius und
ulnaris, die relativ grössten n. frontalis, radialis, facialis; faradisch: relativ
am wenigsten accessorius, musc. cutan., mentalis, am meisten cruralis, tibialis,
radialis. Nach diesen Tabellen wird man sich in zweifelhaften Fällen unge-
fähr Orientiren können, ob der gefundene Werth normal ist, oder die Norm
nach oben oder unten überschreitet.
Beim galvanischen Strom prüft man immer zuerst mit der Kathode,
weil bereits das PFLüGEü'sche Zuckungsgesetz die Thatsache festgestellt hat,
dass die Kathodenschliessungszuckung in allen Fällen zuerst auftritt. So ist
es bei den blossgelegten Froschnerven sowohl wie bei dem durch die Haut
gereizten Nerven des Menschen.
Indessen erleidet im letzteren Falle das physiologische Zuckungsgesetz
eine Ausnahme, insofern, als die AnOZ hinter der AnSZ auftritt, d. h. grössere
Stromstärken wie diese erfordert. AnOZ wurde von Stintzing, am facialis
unter 31mal nur einmal früher wie AnSZ gefunden, am ulnaris nur in 20°/o,
am peroneus in 2170 und am medianus in 29''/o der diesbezüglichen Prüfungen.
Bei dem beschriebenen Verfahren der elektrodiagnostischen Untersuchung
kommt es darauf an, eine Zuckung in dem betreffenden Nerv oder Muskel hervor-
zubringen. Das Zustandekommen dieser Zuckung ist beim galvanischen
Strom an ganz bestimmte Eigenschaften desselben gebunden: die Stromstärke
muss mit einer gewissen Geschwindigkeit bis zur höchsten Höhe ansteigen,
und es muss der Strom neben der erforderlichen Stromstärke (Zahl der
Milliampere) auch eine Spannung (elektromotorische Kraft) haben, die nicht
unter 7 Volt beträgt (Dubois in Bern). Es ist also nothwendig, zur elektro-
diagnostischen Untersuchung mindestens fünf Elemente einzuschalten, um aus
dieser Elektricitätsquelle die zur Minimalzuckung erforderliche Stromstärke zu
gewinnen, da ein Daniell-Element etwa 1 ^2 Volt hat. Indessen ist es rathsam,
mit höheren Spannungen zu arbeiten und aus einem Vorrath von 15 — 20 Ele-
menten mittels der Widerstands- Ausschaltung durch den Rheostaten das Erfor-
derliche zu entnehmen, schon allein aus dem Grunde, weil das Bedürfnis nach
32*
500 ELEKTRODIAGNOSTIK.
der für die Minimalzuckimg nöthigen Stromstärke durch fünf Elemente eben-
falls nicht für alle Fälle gedeckt wird und es sich empfiehlt, bei allen elek-
trodiagnostischen Prüfungen stets wieder dieselbe Zahl von Elementen einzu-
schalten, damit man heute mit derselben Spannung wie morgen arbeitet und
wenigstens in dieser Beziehung dem Vergleich der einzelnen Eesultate nichts
im Wege steht. Es ist wohl überflüssig, erklärend hinzuzufügen, dass bei
Einschaltung von z. B. 10 Elementen die elektromotorische Kraft die gleiche
bleibt, nämlich etwa 15 Volt, ob ich davon 0*5 oder 15"0 MA entnehme.
Der faradische Strom ändert seine physiologische Leistungsfähigkeit, je
nachdem die secundäre Rolle einen sehr langen, dünnen Draht mit sehr vielen
Windungen enthält, oder ob dieser Draht verhältnismässig kurz und dick ist;
der letztere steht dem Strom der primären Rolle nahe oder gleich.
Schon Duchenne wusste darüber Folgendes:
1. Der Strom der primären Rolle erregt lebhafter die Sensibilität ge-
wisser unter der Haut gelegener Organe, der Nerven, der Muskeln, des Rectum,
des Hodens, der Epididymis, des Samenstranges;
2. der Strom der secundären Rolle wirkt mächtiger auf die Sensibilität
der Haut, auf die Sensibilität der retina und dringt tiefer in die Gewebe ein.
Der Strom der secundären Rolle mit langem, dünnen Draht und vielen
Wickelungen verliert deshalb so sehr an seiner physiologischen Leistungsfähig-
keit gegenüber den tiefer gelegenen Organen, weil er durch die in der Rolle
stattfindende sehr starke Selbstinduction (Bildung von Extracurrenten) an seiner
Quantität sehr geschädigt wird, während er die hohe Spannung beibehält. Die
primäre Rolle bezw. die sekundäre Rolle mit kurzem, dickem Draht bei ver-
hältnismässig wenig Windungen ist, deshalb physiologisch so viel leistungs-
fähiger, weil bei relativ geringerer Spannung doch sehr wenig durch die
Selbstinduction verloren geht und dadurch an Quantität das Meiste beibehalten
wird (DuBOis-Bern).
Zur elektrodiagnostischen Untersuchung der Nerven und Muskeln, wobei
es darauf ankommt, die Haut mit ihrem grossen Widerstand dem elektrischen
Strom gegenüber, möglichst auszuschalten, verwendet man am besten den
hochgespannten Strom der Rolle mit dünnem Draht und vielen Windungen,
lim dagegen auf innere, tiefer gelegene Organe zu wirken, die Rolle mit dickem
Draht und wenig Windungen.
Die eben skizzirten Kenntnisse vorausgesetzt, kann man nunmehr den
Versuch machen, auch schwierigere Fälle elektrodiagnostisch zu prüfen und
das Beobachtete zu deuten. Dabei befolge man durchaus das Gebot, niemals
einem System zu Liebe eine Beobachtung zu modeln, sondern sich streng an
das Beobachtete zu halten und so aufzuzeichnen. Es kommen Fälle vor, in
denen es schwer ist, das wahrgenommene Phänomen richtig zu beschreiben;
gelingt das nicht im ersten Falle, so glückt es vielleicht im zweiten, dritten
und vierten. Passt die Beobachtung schliesslich nicht in das althergebrachte
Dogma und ist die Deutung unmöglich, so ist es schliesslich besser so, als
den Thatsachen Zwang anzuthun. Ein Zwangsverfahren, wie es leider viel-
fach geübt wird, hat der Wissenschaft schon unendlich geschadet.
Bei kranken Nerven und kranken, verletzten, atrophischen Muskeln muss
man häufig stärkere Ströme verwenden, um die Minimalzuckung auszulösen,,
wie in normalen Fällen, sowohl faradisch wie galvanisch. Eine solche Herab-
setzung der elektrischen Erregbarkeit kommt besonders vor bei allen
Inactivitäts-Lähmungen und Atrophieen, wie man sie z. B. nach zu festen
ELEKTRODIAGNOSTIK. 501
Verbänden beobachtet; solche Fälle sind der Typus für diese Veränderung der
elektrischen Reaction.
Viel seltener sieht man eine Erhöhung der elektrischen Erreg-
barkeit. Aber auch dies kommt vor, und zwar im Beginn rheumatischer
Lähmungen, bei der Tetanie, in gewissen Fällen von Myelitis und Tabes;
im Allgemeinen dürfte sie prognostisch als kein besonders günstiges Zeichen
aufgefasst werden.
Die Entartuiigsreactioii. (EaR.)
In den meisten der Fälle, welche man elektrodiagnostisch prüft, wird
man jedoch ausser den genannten (quantitativen) Veränderungen der Reaction
der Nerven und Muskeln gegen den elektrischen Strom auch noch andere
Phänomene zu beobachten haben.
Sehr häufig nämlich kommt es vor, dass die durch den elektrischen Reiz
hervorgebrachte Zuckung den Charakter des Plötzlichen, Blitzartigen, wie es
normalerweise sein sollte, verliert und eine mehr träge, undulirende, mehr
local beschränkte Form annimmt, welche auch sehr treffend mit der trägen
Bewegung eines Wurmes verglichen und deshalb — freilich sehr unglücklich —
als wurmförmig bezeichnet worden ist. Jedenfalls ist der Eindruck einer
solchen trägen Zuckung ein so auffallender und charakteristischer, dass wohl
Niemand sie vergessen dürfte, der sie nur einmal gesehen hat.
Solche „träge" Zuckungen kommen vor bei der Prüfung mit dem fara-
dischen, dem galvanischen, auch mit dem franklinschen Strom, — nicht nm',
wie es früher fälschlich angenommen wurde, allein bei dem galvanischen Strom,
allein bei den Muskeln und allein bei einem elektrodiagnostischen Prüfungs-
bilde, welches von Erb als „Entartungsreaction" (EaR) beschrieben worden ist.
Das Gebäude der EaR, wie es von dem ersten Erbauer aufgerichtet worden,
war leider zu schematisch und musste zu Gunsten der spätem Erkenntnis
fallen, dass die Natur niemals schematisirt, sondern stets individualisirt.
Aus diesem Grunde stellt sich heute die Lehre von der EaR erheblich
anders dar, und auch die aus ihr gezogenen Schlüsse bedürfen einer weit-
gehenden Modification. Den ersten Anstoss zu den Forschungen über die
EaR gab die Beobachtung Baierlacher's, dass gewisse kranke Muskeln in
anderer Weise auf den galvanischen wie auf den faradischen Strom reagiren,
und zwar nach Erb's Untersuchungen so, dass die Reaction des Nerven
gegen beide Ströme und die Reaction des Muskels gegen den fara-
dischen Strom vollkommen aufgehoben ist. Gegen den galvani-
schen Strom reagirt der Muskel hingegen mit der oben beschrie-
benen „trägen" Zuckung und mit erhöhter Erregbarkeit. Dies ist
das Bild der „completen EaR", der Typus der EaR., welcher indes in
tadelloser Reinheit nur selten gefunden wird. Meistens zeigt das Bild der
EaR. einen lebhaften Farbenwechsel, so dass auch vom Nerven aus diirch
den galvanischen Strom träge Zuckungen ausgelöst werden, während faradisch
sowohl Nerv wie Muskel träge reagiren können. So schiebt sich denn die
eine oder andere Variation in jenes Bild ein und macht zuweilen eine Coni-
position, die selbst für den Geübten schwer zu deuten ist. Deshalb hat es
Stintzing unternommen, das Chaos einigermassen zu ordnen, indem er vier
Gruppen der EaR unterscheidet:
I. Gruppe: (höchste Grade) EaR mit totaler Unerregbarkeit des Nerven
(complete EaR.).
IL Gruppe (hohe Grade): EaR mit partieller Erregbarkeit vom Nerven
aus (d. h. der Nerv reagirt auf eine der beiden Stromesarten).
502 ELEKTRODIAGNOSTIK.
III. Gruppe (mittlere Grade): EaE mit erhaltener Erregbarkeit, aber
faradischer Zuckungsträgheit vom Nerven aus.
IV. Gruppe (niedrige Grade): EaK mit prompter Zuckung vom Nerven
aus (partieller EaR.).
In den verschiedenen Stadien eines Falles von peripherer Lähmung z. B.
kann man die elektrische Reaction von Gruppe zu Gruppe wechseln sehen,
und zwar meistens in der Weise, dass im Beginn die niedrigen Grade gefunden
werden, die nun allmälig ansteigen, bis auf der Höhe der Krankheit sich
auch der höchste Grad der EaR, die complete EaR., einstellt. Geht der Fall
nunmehr allmälig in Heilung über, so legt auch die elektrische Reaction
den gleichen Weg rückwärts zurück.
Aus dieser Betrachtung geht bereits hervor, dass es der mehr oder
weniger entwickelte pathologisch-anatomische Process ist, welcher der elek-
trischen Reaction diese oder jene Form gibt, und dass man auch umgekehrt
von der elektrischen Reaction auf die zu Grunde liegende pathologisch-ana-
tomische Störung schliessen darf. Betrachten wir beides vergleichsweise bei-
spielsweise an Nerven, so entspricht das Sinken der faradischen und galvani-
schen Erregbarkeit, welches sich vom 2. bis 3. Tage nach Verletzung eines
peripheren Nerven zeigt, der Degeneration des peripheren Nervenabschnittes.
Die vollendete Degeneration des Nerven mit zerfallenen Markscheiden und
Achsencylindern kündigt sich an durch völlige Unerregbarkeit, welche bereits
in der zweiten Krankheitswoche einzutreten pflegt. Beginnt dann die Rege-
neration des Nerven, so treten allmälig Spuren wiederkehrender Reaction
auf, jedoch so, dass dieselbe noch lange Zeit herabgesetzt bleibt, auch wenn
sich die Function schon wiederhergestellt hat. Dagegen bleibt der Nerv dauernd
völlig unerregbar, wenn sich eine totale Degeneration und bindegewebiger
Ersatz der Nervensubstanz ausgebildet hat.
Aehnliche Verhältnisse bietet der gelähmte Muskel.
Es fragt sich nun, welche Schlüsse man aus der EaR. von Nerv und
Muskel zu ziehen berechtigt ist. Es hat lange Zeit unwidersprochen die Lehre
geherrscht, dass die „träge" Zuckung, das am meisten charakteristische Kenn-
zeichen der EaR., nur die Folge sein kann einer Erkrankung, bezw.
Zerstörung des peripheren Nerven, wobei man zu dem Begriff des
peripheren Nerven auch seine Ursprungsstellen, die grauen Kerne in der me-
dulla, der medulla oblongata und dem cerebrum, sowie andererseits die Ner-
venendplatten zu rechnen hat. Demnach dürfte, abgesehen von den Fällen
rein pheripherer Lähmung im engern Sinne, also Verletzungen, Durchschnei-
dungen des Nerven u. s. w., EaR. noch vorkommen bei Poliomyelitis anterior
acuta und chronica, bei der amyotrophischen Lateralsklerose, bei Bulbärpara-
lyse, gelegentlich bei multipler Sklerose, und allen anderen Processen, welche
die besagten Bahnen geschädigt haben. Nicht zu vergessen sind auch die
toxischen und infectiösen Nervenlähmungen, wie sie durch Blei, Arsenik und
das virus der Diphtherie veranlasst werden.
Die neuere Literatur hat indessen diese Lehren bereits durchbrochen und nachge-
wiesen, dass auch bei primärem Muskelschwund, bei Trichinosis, bei hysterischen Läh-
mungen EaR beobaclitet werden kann, was natürlich der Bedeutung der EaR erheblichen
Abbruch thut.
Ausserdem darf ich es hier nicht unerwähnt lassen, dass, seitdem mir
die Bedeutung der sehr schwachen galvanischen Ströme von 0-5 — 0'2 MA füi-
die Therapie klar geworden, mir zu gleicher Zeit Bedenken aufstiegen, ob nicht
die starken in der Elektrodiagnostik verwandten faradischen und galvanischen
Ströme auf den Krankheitsverlauf einen unheilvollen Einfluss ausübten. Fiü.'
einige Fälle, in welchen wiederholte solche Prüfungen vorgenommen wurden,
. ELEKTRODIAGNOSTIK. 503
möchte ich es mit Bestimmtheit behaupten, doch möchte ich die Frage damit
noch nicht als generell entschieden ansehen. Es sind eben weitere Beobach-
tungen darüber abzuwarten.
2. Elektrodiagnostische Prüfling der Hautsensibilität.
(Elektrocutane Sensibilität.)
Gelegentlich kann dieselbe wohl zweckmässigerweise herangezogen werden,
wenn es gilt, genaue Vergleiche der Hautsensibilität an symmetrischen Körper-
stellen zu machen, oder ihre Verschiedenheit an dem gleichen Körpertheil zu
verschiedenen Zeiten nachzuweisen.
Die elektrodiagnostische Prüfung der Hautsensibilität muss stets mit den
subjectiven Angaben des zu prüfenden Menschen rechnen, steht daher in ihrem
Innern Werth der objectiven Prüfung der elektrischen Reaction der Nerven und
Muskeln erheblich nach.
Ihre Ausführung geschieht in der Weise, dass, nachdem die indifferente
Elektrode demPtücken des Patienten angelegt ist, der Sensibilitätsprüfer nach Erb
mit der zweiten Leitungsschnur des Inductionsapparates verbunden, zuerst den ent-
sprechenden gesunden und dann den zu prüfenden kranken Körpertheilen
aufgesetzt wird. Unter allmäliger Verstärkung des Stromes wird der Patient
ersucht, anzugeben, wann er jedesmal eine erste Empfindung und wann er
eine Schmerzempfindung spürt. Die gewonnenen Zahlen der Piollenab stände
werden mit einander, bezw. mit den zu späteren Zeiten gefundenen verglichen.
Der Sensibilitätsprüfer nach Erb besteht aus einer mit Handgriff ver-
sehenen runden Metallplatte von etwa 1,5 cm im Durchmesser, welche mit
dichten Kreuz- und Quereinkerbungen versehen ist. In die dadurch ent-
stehenden Fugen ist eine isolirende Ebonitmasse eingegossen, so dass eine
grosse Anzahl kleiner Metallquadrate als leitende Fläche übrig bleibt.
3. Elektrodiagiiostische Prüfung des Leitiingswiderstandes der Haut
und der inneren Organe.
Legt man die mit den Leitungsschnüren einer galvanischen Batterie
verbundenen Elektroden an einander und schaltet eine beliebige Stromstärke
ein, so bekommt man — sagen wir einen Nadelausschlag von 7,5 MA. Nunmehr
bringt man zwischen die beiden Elektroden einen Theil des menschlichen
Körpers: dann reducirt sich der Nadelausschlag auf 1,75 MA. Die Erklärung
dieses Vorganges liegt darin, dass die auf einander gepressten Elektroden dem
elektrischen Strom einen sehr geringen Widerstand bieten. Der menschliche
Körper dagegen besitzt vorzugsweise in der Haut ein Organ, welches dem
galvanischen Strom sehr grosse Leitungswiderstände entgegensetzt; daher der
kleine Ausschlag der Galvanometernadel.
Sehr bald ist durch das Experiment festgestellt worden:
1. dass es eben vorzugsweise die Haut ist, von welcher für den Wider-
stand der Löwenantheil geliefert wird,
2. dass dieser Widerstand von physiologischen Verhältnissen abhängig
ist und sich mit dem Eintritt pathologischer Störungen ändert.
Diese Erkenntnis hat dann bald den Versuch wachgerufen, die Be-
stimmung des Leitungswiderstandes elektrodiagnostisch zu verwerthen, d. h.
aus dem mehr oder weniger grossen Widerstand auf die Circulationsverhält-
nisse der von dem Strom bei der Messung desselben durchflossenen Organe
zu schliessen. In wie weit diese Schlüsse berechtigt sind, das werden fernere
Untersuchungen feststellen. Jedenfalls ist darüber heutzutage Folgendes
bekannt :
504 ELEKTRODIAGNOSTIK.
Ä) Der Leitungswiderstand, der Haut gegen den galva-
nischen Strom ist an verschiedenen Körperstellen ungleich, er schwankt
wenig zwischen symmetrischen Stellen beider Körperhälften, er ist grösser bei
Erwachsenen wie bei Kindern, am grössten bei Greisen. Der Leitungswider-
stand vermehrt sich mit der Dicke des Corium und der Epidermis, und scheint
merkwürdigerweise mit der Zahl der Schweissdrüsen abzunehmen. Leute,
die viel baden und schwitzen, haben relativ geringeren Leitungswiderstand.
Vermehrten Leitungswiderstand finden wir bei erhöhter Körpertemperatur,
im Fieber; vermindert wird der Leitungswiderstand durch Antipyretica und
Pilocarpin, ganz gleich, ob sie die Temperatur herabsetzen oder nicht, Schweiss
erregen oder nicht. Keineswegs soll der Leitungswiderstand als Maassstab für
vasomotorische Vorgänge angesehen werden (Silva und Pescarolo).
In pathologischen Fällen hat man eine Erhöhung des Leitungs-
widerstandes an den anästhetischen Stellen Hysterischer und bei nicht sehr
veralteten Paralysen, eine Verminderung bei Morbus Basedowi constatirt
(ViGOUROux), ohne dass man sich über den eigentlichen Grund dieser Ver-
änderungen eine klare Vorstellung zu machen im Stande ist. Am Kopfe wurde
bei anämischen Zuständen Vermehrung, bei hyperämischen Verminderung des
Leitungswiderstandes gefunden (Eulenbueg).
Dabei ist vorausgesetzt, dass sich immer nur diejenigen Widerstands-
messungen mit einander vergleichen lassen, bei welchen die Massanordnung
dieselbe gewesen: gleich grosse und gleichdurchfeuchtete Elektroden, mit der-
selben Kraft dem Körper angedrückt, gleiche Stromstärke, gleichmässige Ab-
lesung u. s. w.
Zu ganz genauen Widerstandsbestimmungen, die allen Anfor-
derungen der Wissenschaft genügen, gehört ein sehr gutes absolutes
Galvanometer, ein tadelloser Rheostat und womöglich der Gärtn er-
sehe Pendelschlüssel, welcher sehr kurze Stromschliessungen ge-
stattet. Alle diese Apparate sind sammt der galvanischen Batterie in Form
der sogen. Wheatstone'schen Brücke angeordnet.
Eine Beschreibung einer solchen Messung findet man u. a. im Deutsch. Arch. f. klin.
Med. 1887, Bd. 40, in einer grösseren Arbeit von Stintzustg und Graeber.
Indessen gestattet schon jede galvanische Batterie mit Galvanometer
und Rheostat die Bestimmung von Widerständen des menschlichen Körpers.
Dies macht man beispielsweise so, dass die beiden Elektroden von 50 cm^
dem Kopf des zu Untersuchenden angelegt werden, worauf man mittels des
Rheostaten 3'0 MA einschaltet, so lange wartet, bis eine Constanz des
Widerstandes erreicht ist, d. h. bis die Nadel bei einer gewissen Einstellung
des Rheostaten genau 3*0 MA anzeigt, die Zahl der eingeschalteten Wider-
stände abliest und dann den Strom ausschaltet. Nehmen wir an, wir
müssten bei dem Rheostat im Hauptschluss zu diesem Zweck 20.000 Ohm
ausschalten. Um dagegen ohne Einschaltung von Widerständen (des mensch-
lichen Körpers) in die Stromleitung die Galvanometernadel auf o"0 MA zu
stellen, brauchen wir nur 15.000 Ohm, d. h. der Körper kommt einem
Widerstand von 5000 Ohm gleich.
Thatsächlich kommt man zu ganz verschiedenen Zahlen, je nachdem man
sich der oben erwähnten exacten Methode bedient oder der letzteren, die den
Vorzug hat, von jedem Besitzer einer galvanischen Batterie ausgeführt werden
zu können. Die erstere hat am menschlichen Körper Widerstände bis zu
600.000 Ohm gegeben, die Zahlen der letzteren gehen kaum über 6000 Ohm
hinaus.
Der Grund für diese auffallende Verschiedenheit der Resultate liegt darin,
dass jene exacte Methode den sogenannten „Anfangswiderstand" bestimmt, d. h.
den Widerstand in dem Momente des Stromschlusses. Nun aber besitzt der
galvanische Strom erfahrungsgemäss die Eigenschaft, durch seine Einwirkung
ELEKTRODIAGNOSTIK. 505
den Hautwiderstand herabzusetzen, und zwar bei Strömen von 0*5 bis 5-0 MA.
derart, dass schon nach wenigen Minuten eine relative Constanz desselben
erreicht wird (Stinzing). Es ist klar, dass nach dem eben Gesagten der Haut-
widerstand in der Phase dieser relativen Constanz erheblich geringer sein
muss, wie der Anfangswiderstand, aber es genügt, besonders für praktische
Zwecke, ebensowohl, sich dieser Bestimmungsmethode zu bedienen.
B) Der Leitungswiderstand der Haut gegenüber dem faradischen
Strom.
Der faradische Strom besitzt eine viel höhere Spannung (grössere elektro-
motorische Kraft) als der galvanische Strom, daher überwindet er den Wider-
stand der Haut im allgemeinen besser als jener, oder mit anderen Worten:
der Widerstand der Haut gegenüber dem faradischen Strom ist so gering,
dass er fast gar nicht in Betracht kommt.
Jedoch muss man sich gegenwärtig halten, dass der Inductionsstrom sich
aus einem fortwährenden Wechsel von zwei Strömen, dem Oeffnungs- und dem
Schliessungs-Inductionsstrom zusammensetzt, und man muss wissen, dass der
grössere Theil der physiologischen Wirkungen dem Oeffnungsstrom zuzuschrei-
ben ist. W^orauf die physiologische Ueberlegenheit des Oeffnungsstromes
eigentlich zurückzuführen ist, das ist noch zweifelhaft, vermutlich liegt sie an
den besonderen Verhältnissen des Ueberganges des Stromes von der Elektrode
zum Körper und einer im allgemeinen grösseren Spannung des Oeffnungs-
stromes.
Jedenfalls ist so viel sicher, dass der Widerstand der Haut um so kleiner
wird, je mehr die Spannung durch Hinüberschieben der secundären über die
primäre Kolle vermehrt wird.
Eine Herabsetzung des Hautwiderstandes durch längere Einwirkung des
Stromes — ähnlich wie beim galvanischen Strom — findet durch denfara-
dischen Strom nicht statt.
4. Die elektrodiagnostische Prüfung- mit dem Franklin'scheii Strom.
Von allen elektrodiagnostischen Methoden am allerwenigsten ausgebildet,
dürfte die Anwendung des FRANKLiN'schen Stromes in der Elektrodiagnostik
ebenso selten sein wie der ärztliche Besitz der dazu gehörigen Apparate —
können sich doch nur wenige Universitätskliniken desselben rühmen.
Vielleicht ist indessen die diagnostische Wichtigkeit des Franklin'schen
Stromes gar nicht gering anzuschlagen; ich habe selber Fälle gesehen, in
denen bei der Prüfung mit allen drei Stromesarten nur der Franklin'sche Strom
eine Abweichung von der normalen Pteaction anzeigte, während faradischer
und galvanischer Strom sich normal verhielten ; und doch war aus vielen An-
zeichen mit Sicherheit der Schluss zu ziehen, dass die betreffenden Nerven und
Muskeln bereits erkrankt waren. (Vgl. meine Mittheilung über einen Fall von
Dystrophia muscularis progressiva im Neurol. Centralbl. 1889, Nr. 3).
Die Untersuchung mit dem Franklin'schen Strom kann sich einer doppelten
Methode bedienen: 1. mit dem Funken ström,
2. mit der „dunklen Entladung".
Bei 1. lässt man die Funken des positiven oder negativen Poles, der
mit einer Knopfelektrode armirt ist, auf die betreffenden motorischen Punkte
der Nerven und Muskeln niederschlagen und beobachtet genau den Effect der
Reizung ; der Isolirschemel, auf welchem der Kranke sitzt, ist mit dem anderen
Pol verbunden.
Im Allgmeinen wird es sich nur darum handeln zu constatiren : Zuckung
oder Nichtzuckung, oder event. stärkere oder schwächere Zuckung nach der
Pieaction des gesunden Organs abzuschätzen. Jedoch sind neuerdings auch
qualitative Veränderungen in Gestalt träger Zuckungen beobachtet worden, so
506 ELEKTRODIAGNOSTIK.
dass man auch berechtigt wäre, von einer Franklin'schen Entartungsreaction zu
sprechen. (Bernhardt).
Bei 2. werden die Franklin'schen Tafeln oder sonstigen Condensatoren
eingeschaltet, und während die Conductorenkugeln auf einander liegen, setzt
man die Knopfelektrode auf den motorischen Punkt des zu prüfenden Nerven
oder Muskels fest auf. Wälirend nun die Maschine in Gang gesetzt wird
(Vgl. den Artikel: Elektromedicinische Apparate), entfernt man ganz allmä-
lig die Conductorenkugeln von einander und beobachtet, bei welchem Abstand
derselben, in mm ausgedrückt, die Minimalzuckung auftritt.
Anhang.
Die elektrodiagnostische Prüfung des Gehörorgans.
Normalerweise kann nur in den seltensten Fällen eine Reaction des Acusti-
cus hervorgerufen werden ; sie tritt erst bei Stromstärken ein, die im übrigen
schädliche Einflüsse auf das benachbarte Gehirn ausüben müssen; die Erreg-
barkeit des Acusticus muss pathologisch gesteigert sein, um auf den elektrischen
Strom mit Gehörssensationen zu antworten. (Gradenigo Arch. f. Ohren-
heilk. XYE.)
Reagirt also ein Acusticus bei 2*0 bis 4*0 MA dmxh KaS. (Kathoden-
schliessung) mit einer Gehörssensation, so spricht man von einer Uebererreg-
barkeit. des YIII, d. h. einem pathologischen Symptom, welches auf schwere
hyperämische oder P^eizzustände (Entzündungs-Processe) des Gehörorgans hin-
deutet. Der Grad der Uebererregbarkeit geht indes nicht vollkommen dem
Grade der Entzündung parallel.
Gradenigo hält es für walirscheinlich, dass der YIII. in seinem Stamm,
nicht in seinen Yerästelungen von dem elektrischen Strom getroffen werde,
denn auch die schwerste Otitis interna kann gute Reaction geben; bei voll-
kommener Intactheit des Gehörorgans kann sich eine Steigerung der Re-
action geltend machen, wenn eine entzündliche endokranielle Erkrankung vor-
liegt; und schliesslich genügt eine Erkrankung des äusseren Ohres bereits, um
Uebererregbarkeit des YIII. hervorzubringen, wenn sie nur von schweren
hyperämischen Zuständen begleitet ist.
Rückblick.
Der Werth der Elektrodiagnostik für die Erkennung und Heilung
der Krankheiten ist besonders in letzterer Zeit vielfach angezweifelt worden, und
sicher nicht ohne Grund. So selir interessant die Lehren derselben auch sein
mögen, — eine ausschlaggebende Bedeutung hat sie sich nicht zu erringen
vermocht. Die Resultate derselben sind unsicher, zweifelhaft, für den Un-
geübten schwer zu deuten, und es dürften für den geübten Diagnostiker wohl
wenig Fälle übrig bleiben, bei denen er ohne elektrodiagnostische Prüfung sich
ein weniger sicheres Urtheil über den Fall zu bilden im Stande wäre.
Jedoch ist bei alledem zu bedenken, dass die Anwendung der Elektricität
in der Medicin, sei es in der Diagnostik oder in der Therapie, kaum den
Kinderschuhen entstiegen ist. Der gewaltigen Entwickelung der Elektrotechnik
gegenüber müssen wir den zurückgebliebenen Standpunkt der elektromedici-
nischen Wissenschaft beklagen. Indessen können wir ahnen, dass auch der
letzteren eine ähnliche Bedeutung zukommen wird. Emsige Forschung thut noth!
ARTHUR SPERLING.
ELEKTROMEDICINISCHE APPARATE. 507
ElektromediciniSChe Apparate. Es ist nicht der Zweck dieses Auf-
satzes, die Apparate, welche die Elektrotherapie gebraucht hat und braucht,
so zu beschreiben, dass kein Stöpsel und keine Scliraube daran fehlt. Diese
Zeilen machen es sich vielmehr zur Aufgabe, den Arzt darüber zu belehren,
wäe die zu elektromedicinischen Zwecken zu verwendenden Apparate beschaffen
sein müssen, um ihm diejenigen Dienste zu leisten, die er von ihnen ver-
langen kann und soll.
1. Die galvanischen Batterien.
Es müsste bei jedem Arzt der Besitz einer galvanischen Batterie voraus-
gesetzt werden. Die verhältnismässig geringen Kosten derselben werden
vollauf aufgewogen durch die trefflichen Dienste, die er damit seinen Kranken
leisten kann.
Eine sogenannte transportable Batterie, wie sie so vielfach im
Gebrauch ist, genügt vollkommen: ein kubischer Holzkasten mit 10, 20, höch-
stens 30 Elementen, enthaltend ausserdem als unentbehrliche Requisiten:
Stromivender, Rheostat und absolutes Galvanometer. Ein Apparat ohne diesen
Inhalt muss als al)solut ungenügend für medicinische Zwecke erklärt werden.
Die Kosten dieser Batterie dürften sich auf höchstens 150 Mark belaufen.
Die Elemente bestehen entweder aus Zink-Kohle mit Chromsäurefüllung
(Add. chrom. 5-0, add. sulf. 10-0, htjdrarg. bisulf. 2-0; aq. commun. 90), oder
es sind sogenannte Trocken-Elemente, bei welchen die Erregungsflüssigkeit in
eine Gelatinemasse umgestaltet ist. Sie haben vor allem den Vorzug der
Sauberkeit, erhalten sich sehr lange wirksam und bedürfen absolut keiner
Pflege. Eine Firma, welche sich schon seit vielen Jahren mit der Fabrication
solcher Trocken-Elemente für transportable galvanische Batterien beschäftigt,
ist Blänsdorf in Frankfurt ajM.
Die Elemente müssen einzeln nacheinander einzuschalten sein nnd zwar so, dass
möglichst alle Combinationen der Einzelelemente verwendet werden können, nm deren
Strom theilweise oder ganz mittels des Rheostaten dem Körper einzuverleiben. Man achte
auf eine sorgfältige Construction der Schiebe- oder Kurbelvorrichtungen; man prüfe auch
den gefächerten Hartgummikasten, der zur Aufnahme der Erregungsflüssigkeit dient, welcher
so hoch sein muss, dass eine Füllung zur Hälfte ausreichend ist, um die Elemente genü-
gend weit eintauchen zu lassen.
Der Stromwender, welcher auch Oeffnung und Schliessung des Stromes
gestatten muss, ist von so einfacher Construction, dass an derselben kaum je
ein Fehler gemacht w^erden kann.
Schwieriger liegt die Sache mit dem Rheostaten. Der Rheostat hat
den Zweck, einen Strom von beliebiger Stärke ohne Stromschwankungen in
den Körper einschleichen zu lassen, d. h. praktisch so viel: hat man etwa 5 Ele-
mente im Stromkreis, während die Elektroden irgend einem Körpertheil an-
liegen, so muss die Galvanometernadel ganz langsam und ohne jegliche
Schwankungen bis zu dem Strich der Scala vorrücken, als man Milliamperes
oder Bruchtheile davon einschalten will.
Jede Construction, welche dieses Ziel erreicht und sich leicht in dem
transportablen Batteriekasten unterbringen lässt, erfüllt ilu-en Zweck.
Als passend haben sich erwiesen die Kurbelrheostaten, bei welchen
die Widerstände entweder durch Neusilberdrähte oder durch Kaolin (Porcellan-
erdej gebildet werden. Erstere sind die theuersten, haben aber den Vortheil,
dass der Draht jeder Widerstandsrolle genau abgemessen und in absolutem
Mass, in Ohm ausgedrückt werden kann, so dass diese Rheostaten für \\ ider-
standsmessungen am menschlichen Körper die einzig brauchbaren sind.
Die Kaolin-Rheostaten (nach Gärtner, Wien) sollen sich in der Praxis gut
bewähren; ich habe leider keine eigene Erfahrung darüber.
Die sogenannten Flüssigkeitsrheostaten, bei welchen die Widerstände
durch Flüssigkeiten irgend welcher Art gebildet werden, haben noch nicht das
508 ELEKTROMEDICINISCHE APPARATE.
Ideal einer Construction erreicht. Am meisten Yersprechend scheint der
neuerdings von Blas ins- Hirschmann construirte zu sein: Ein 10 cm langer
Uförmig gebogener Kautschiikschlauch enthält eine angesäuerte Flüssigkeit,^
in welche an beiden Enden Platindrähte tauchen, welche mit den Batteriepolen
in Verbindung stehen. Der Schlauch wird durch eine Pelotte und Schraube
langsam zusammengedrückt und auf diese Weise der Flüssigkeits-Widerstand
ganz allmälig erhöht, so dass schliesslich, wenn die Wände des Schlau-
ches an einander gedrückt sind und die Flüssigkeit verdrängt ist, gar kein
Strom mehr hindurch gelassen wird. Freilich muss es erst abgewartet werden,
wie sich dieser Rheostat, der sich durch Einfachheit und Billigkeit auszeichnet,
in der Praxis bewähren wird.
Die Strom w a a g e von K o h 1 r a u s c h, l)ekanntlich auf der Erfahrung beru-
hend, dass eine Drahtspirale, durch welche der elektrische Strom hindurch ge-
schickt wird, einen über ihr an einer Spirale hängenden Eisenstab in sich hinein-
zieht, und zwar umso tiefer, je stärker der Strom, hat sich für transportable
Apparate nicht bewährt. Feinere Messungen der Stromstärke von Vio MA und
weniger lassen sich auch mit diesem Instrument nicht ausführen.
Ob der Rheostat in der Batterie, welche man sich anschaffen will, im
Haupt- oder Neb enschluss eingeschaltet ist, das ist bei guter Construction
für die Function des Apparates gleichgiltig: es muss die Möglichkeit vorhan-
den sein, einen Strom von 3, 5 oder 10 Elementen ohne grosse Stromschwankun-
gen (bezw. Schwankungen der Magnetnadel) in den menschlichen Körper ein-
zuschleichen. Für den PJieostaten im Xebenschluss genügen 5 bis 10 Ohm
Widerstände vollkommen; je mehr davon eingeschaltet wird, desto grösser
wird im Körper die Stromstärke, während der ganze Strom durch die ISTeben-
leitung, in welcher sich der Rheostat befindet, hindurchgeht, wenn die Kurbel
auf 0 steht. Der Rheostat im Hauptschluss dagegen vermehrt die Stromstärke
dm-ch Abnahme der Widerstände, zu welchem Zweck 50000 Ohm und mehr
gebraucht werden.
Das dritte, für jede galvanische Batterie unerlässliche Instrument ist
das absolute Galvanometer. Dieses Instrument gestattet, die Strom-
stärke in absoluten, d. h. nicht willkürlich, sondern nach den Einheiten von
Meter, Gramm, Secunde berechnetem Masse (Gauss-Webee) zu messen, welches
für die medicinische Elektrotechnik ein Milliampere d. h. der tausendste Theil
eines Ampere ist.
Wenn der durch den menschlichen Körper gehende Strom 1 oder 2
oder 5 MA beträgt, so bedeutet dies soviel, dass eine ganz bestimmte Stromstärke
in der Secunde den Stromkreis passirt, welche mit einer Geschwindigkeit fort-
bewegt wird, die einerseits von der treibenden Kraft (Spannung, elektromo-
torischen Kraft) und andrerseits von den mehr oder weniger grossen Wider-
ständen des Körpers abhängig ist. Elektromotorische Kraft (E) und Strom-
stärke (J) werden von den Elementen geliefert und stehen mit den Wider-
F
ständen (W) dem OnM'schen Gesetz nach in dem Verhältnis, dass J = — ist ,
d. h. die Stromstärke wächst mit der Zunahme der elektromotorischen Kraft
und mit der Abnahme der ^Widerstände.
Das absolute Galvanometer gestattet unter Einschaltung der gleichen
Zahl von Elementen, bei einer Reihe von Galvanisationen jedesmal einen
Strom von gleicher elektromotorischer Kraft und gleicher Stromstärke anzu-
wenden. Das war früher nicht möglich, ist aljer ebenso wichtig wie die Mög-
lichkeit, einem Kranken heute die gleiche Dosis Morphium wie morgen ver-
ordnen zu können. Die alte Methode richtete sich bei der Anwendung des
galvanischen Stromes nach der Zahl der Elemente oder nach dem Gefühl
des Kranken; beides sollte heutzutage als ein überwundener Standpunkt be-
trachtet Averden.
ELEKTROMEDICINISCHE APPARATE. 509
Ein anderer Yortlieil des absoluten Galvanometers ist der, dass die Be-
handlung der Kranken bei Benützung desselben brauchbare Krankengeschichten
liefert, die, gleichgiltig, wo die Beobachtungen gemacht sein mögen, unter
einander verglichen werden können. Die Art und Weise der galvanischen
Behandlung lässt sich so genau beschreiben, dass A in X genau wissen kann,
wie B in Y es gemacht hat, um Erfolge oder Misserfolge zu erzielen.
Demnach ist wohl die Bitte an die Adresse derjenigen Collegen, welchen
die wissenschaftliche und praktische Förderung der Medicin am Herzen liegt,
berechtigt, die Elektricität als ein für Kranke sehr differentes Heil-
mittel zu betrachten, welches ebenso sorgfältig abgemessen und abgewogen
werden muss wie Digitalis und Morphium. Daher keine galvanische Batterie,
keine Galvanisation ohne absolutes Galvanometer.
Das Galvanometer soll so geaiclit sein, dass Vio ^^^ noch abgelesen werden kann,
und nach der andern Seite soll es Ströme bis etwa 20 MA anzeigen.
Man achte darauf, dass die Nadel beim Einschleichen des Stromes in
den Körper nicht sprungweise, sondern langsam und stetig vorrückt, und dass
es bei plötzlichem Stromschluss, wie er in der Elektrodiagnostik angewandt
wird, nicht zu lange dauert, bis die Nadel sich einstellt; man sagt in einem
solchen Fälle, das Galvanometer hat eine gute oder schlechte Dämpfung.
Ein für eine transportable Batterie bestimmtes Instrument muss auch eine Ein-
richtung besitzen, um die Nadel für die Zeit des Transportes festzustellen {Arrctirung},
Bezüglich der minutiösen Aichung des Einzel-Apparates und der
Ausführung der Magnetnadel, der Suspensions-Vorrichtung, der nöthigen Wider-
standsrollen u. s. w. muss man sich auf die Reeliität und Gediegenheit des
Mechanikers verlassen. Instrumente, welche den eben aufgestellten Anfor-
derungen entsprechen, werden in grösster Vollkommenheit von Edelmann
in München, Hirsch mann in Berlin und andern Firmen geliefert.
Das grosse Horizontal-Galvanometer von Edelmann kann schon zu exac-
testen wissenschaftlichen Untersuchungen dienen, ebenso wie die von Desprez
d'Arsonval und Thompson construirten vortrefflichen Instrumente, die dem-
gemäss auch entsprechend theuer sind. Für die Zwecke des praktischen
Arztes genügen die kleineren Galvanometer von Edelmann, das Horizontal-
galvanometer von Hirschmann („mit schwimmender Magnetnadel, Anker").
und andere im Preise von 100 Mark abwärts vollkommen. Die Beschreibung
der Construction derselben findet man in allen elektrotherapeutischen Lehr-
büchern.
Ein alter galvanischer Apparat, der nur die Einrichtung der Einzel-Einschaltung der
Elemente hat, kann leicht in der Art modernisirt werden, dass sich der Besitzer einen
Rheostaten und ein Galvanometer anschafft ipid mit der Batterie in Verbindung setzt, was
in sehr einfacher Weise geschehen kann. Der Kostenpunkt einer solchen Neueinrichtung
dürfte sich auf etwa 80 Mark stellen.
Für Specialisten, Krankenhäuser und Aerzte, denen die Mittel zur Ver-
fügung stehen, sind die sogenannten stationären Apparate empfehlenswerth, im
Preise von 400 bis 800 Mark und mehr schwankend, besonders auch für die-
jenigen, welche dem Glauben huldigen, dass der Kranke schon hall) geheilt
ist, wenn er nur eines so schönen Apparates ansichtig wird.
Wenn ich auch durchaus der Meinung bin, dass ein verständiger Elektro-
therapeut mit den unscheinbarsten Werkzeugen mehr erreicht wie ein Anderer
mit clen glänzendsten Apparaten, so vertrete ich doch wieder die Auffassung,
dass der Arzt mit den allerbesten Instrumenten arbeiten soll, die ihm von der
Technik zur Verfügung gestellt werden.
Abgesehen davon sind die Bequemlichkeiten, welche die stationären Ap-
parate bieten, nicht zu unterschätzen. Galvanometer, Piheostat u. s. w. sind,
wenn sie gut gearbeitet, unverwüstlich. Was die Elemente anlangt, so be-
dürfen sie fast gar keiner Pflege : alle 3 bis 6 Monate Nachfüllen von Wasser
510 ELECTEOMEDICINISCHE APPARATE.
und von Kupfer-Titriol-Stlickclien bei den Daniell-Siemens Elementen, von
Salmiak bei den Leclanche-Elementen, das ist alles. Füi^ die gewöhnlichen
therapeutischen Anwendungen reichen zehn Elemente vollkommen aus, für dia-
gnostische Zwecke muss man 30 Elemente zui Verfügung haben.
Die stationären Apparate werden heute so gearbeitet, dass sie in einem
Schränkchen die Elemente aufnehmen. Das Schränkchen^ dessen Decke Eheo-
stat, Galvanometer u. s. ^^\ trägt, hat einen nach vorn dm^h einen Deckel
verschliessbaren Aufsatz, welcher seinerseits event. zur Aufnahme der Influenz-
maschine eingerichtet ist. Ein solcher Apparat hat den Preis von ungefähr
1100 Mark.
Leittmgssehnüre und Elektroden
(zugleich für den faradischen Strom).
Die Leitungssclinüre müssen l^/a bis Im lang nnd zum Schutze gegen Staub,
Feuchtigkeit und Verletzungen mit einem Gummiscblaucli überzogen sein; zweckmässig
wählt man den einen Gummischlauch schwarz, den andern roth, um den einen stets mit
dem -f- Pol, den andern stets mit dem — Pol der Batterie in Verbindung zu bringen. Auf
diese AYeise ist man über die Pole der am Körper sitzenden Elektroden nie im Zweifel,
auch wenn die Schnüre verwickelt oder verknotet sein sollten.
Als Elektroden braucht man für den Anfang zwei biegsame Drahtgeflecht- oder
Bleiplatten von 50 cw^ Fläche, welche mit einer Klemmschraube versehen, mit Moos oder
Schwamm gefüttert und mit ungewachster Leinwand bezogen sind. Diese beiden Elektroden
bilden für mich fast das einzige Geräth zur Anwendung des galvanischen Stromes. Ist man
ein Freund des Wechsels, so möge man sich eine Anzahl grösserer und kleinerer solcher
Platten anschaffen und mit denselben je nach der Ansatzstelle variiren. Vielleicht macht
sich später einmal das Bedürfnis nach einer Mastdarm- oder Vaginalelektrode und nach
Zinnbougies zur Einführung in die Urethra geltend.
Zur allgemeinen Faradisation verwendet man am besten eine an ein kleines Brett
geschraubte steife Plattenelektrode, welche von dem Patienten mit dem Piücken gegen die
Stuhllehne angedrückt mrd, und eine an einen bequem in der Hand zu haltenden Kegel-
griff geschraubte Platte von 20 — SOQcj«, mit welcher der Körper bestrichen wird. Für
den letzteren Zweck gebraucht man auch die sogenannte Massirrolle oder eine Drahtbürste.
Zu elektrodiagnostischen Untersuchungen ist, abgesehen von der eben beschriebenen
Eückenelektrode. ein Unterbrechungsgrifi' und eine Elektrodenplatte von 3 cm* Querschnitt
nothwendig.
2. Die Iiidiictions- Apparate.
Die Inductions- Apparate, welche den faradischen Strom liefern funter-
brochener Strom, Wechselstrom), sind ja bezüglich des Princips ihrer Eimich-
tung hinlänglich bekannt ; im üebrigen muss auf den Art. „Elektrophysik" , bezw.
die Beschreibung in den Lehrbüchern der Elektrotherapie, Pieeson-Speelik'G,
Lewaxdov\"Ski u. s. w. verwiesen werden.
Was indes noch nicht in das Bewusstsein der mit dem faradischen Strom
behandelnden Aerzte übergegangen zu sein scheint, ist die Thatsache, dass
derselbe ganz verscliiedene physiologische Wirkungen auslöst, je nachdem der
Strom der primären Eolle verwandt wird, oder der der secundären, oder ob
die letztere mit grobem oder feinem Draht umwickelt ist ; auch macht es einen
Unterschied, ob die Unterbrechungen schnell oder langsam erfolgen.
Ganz in Kürze gesagt, liegt die Sache so :
1. Je dünner der Draht {0'26 mm im Durchmesser und darunter) der
sekundären Piolle, desto mächtiger die Einwirkung auf die Haut ; es tritt sehr
leicht Schmerzempfindung ein ; der Widerstand der Haut wird gut überwunden,
daher eignet sich dieser Strom für elektrodiagnostische Untersuchungen.
2. Der primäre Strom und der Strom aus der secundären Eolle mit
dickem Draht wirken lebhafter auf die unter der Haut liegenden Organe,
Nerven, Muskeln u. s. w.
3. Die Wirkung des Stromes mit dünnem Draht wird verstärkt dmxh
viele Umwickelungen (3000 und mehr, ..grosse TourenzahV^') und schnelle
VnteThiechwigeJi{,,sch7ie]lscMägic/e)' Incluctionsstro?n''), während der dicke Draht
von beiden weniger beansprucht.
ELEKTROMEDICINISCHE APPARATE. 511
Der Inductions- Apparat, welcher nach diesen Erörterungen für alle Zwecke
ausreicht, wird am besten mit zwei secundären Rollen, die eine mit dickem,
die andere mit dünnem Draht geliefert. Die ganz kleinen Apparate im Preise
von 20 Mark und darunter sind deshalb, weil sie auf ihren secundären Rollen
der Raumersparnis halber ungemein dünnen Draht haben, unzweckmässig.
Man achte auch darauf, dass der NEEF'sche Hammer den sogenannten „Meyee'-
schen Kugelunterbrecher" hat, welcher nach Belieben die schnelle und lang-
same Stromunterbrechung gestattet.
Zum Betrieb genügen ein oder zwei Elemente, am besten nach dem
System Leclanche oder Trocken-Elemente. Eine Anlage von 60 bis 70 Mark
dürfte für einen gut ausgestatteten Inductionsapparat erforderlich sein.
3. Die Infliieiizmaschiiie.
Selbst in manchen Lehrbüchern der Elektrotherapie kann man lesen,
dass der faradische, galvanische und Franklin'sche Strom keine verschiedene
therapeutischen Effecte haben ; man könne mit dem einen Strom dasselbe wie
mit dem andern ausrichten. Das ist nicht wahr. Jedermann, dem nur ein
wenig Beobachtungsgabe vergönnt ist, kann sich an seinen Kranken davon
überzeugen, dass der eine Strom da hilft, wo der andere im Stich lässt und
umgekehrt. Daher ist der Besitz einer Influenzmaschine auch eine schöne
Sache, und ich denke, dass es wenig Elektrotherapeuten gibt, die nicht an
der Behandlung mit dem Franklin' sehen Strom Freude erlebt hätten.
Wer also Interesse hat an der Elektrotherapie und ein reichliches Kran-
kenmaterial, den dürfte es nicht gereuen, sich die Kosten für eine Influenz-
maschine auferlegt zu haben.
Ich arbeite seit vielen Jahren mit einer von Hirschmann-Berlin bezogenen
Maschine, und muss sagen, dass ich mit deren Leistungen, Ausstattung u. s. w.
ausserordentlich zufrieden bin, so dass der hohe Preis von ca. 450 Mark, den
ich dafür gezahlt, mich nicht gereut. Billigere Maschinen liefert Blänsdorf
in Frankfurt a./M., noch billigere, nach anderem Princip construirte, Gläser
in Wien und andere Firmen, so dass event. für den Preis von 150 Mark be-
reits eine brauchbare Influenzmaschine zu haben sein kann. In Frankreich
und England sind die Maschinen von Carre und Wims hur st viel im Gebrauch
und bewähren sich gut.
Die Forderungen, welche der Arzt an die praktische Brauchbarkeit einer
Influenzmaschine zu stellen berechtigt ist, sind ungefähr folgende:
1. Die einzelnen Theile, Glasscheiben, Conductoren, Isolatoren u. s. w.
müssen dauerhaft sein und düiien im jahrelangen Gebrauch keinen Schaden
leiden;
2. die Maschine muss selbsterregend sein, d. h. keiner besondern ausser-
halb derselben liegenden Elektricitätsquelle bedürfen, um sie in Gang zu
bringen;
3. sie muss von der Witterung, vorzugsweise von dem Feuchtigkeits-
gehalt der Luft einigermassen unabhängig sein, so dass sie dm'chaus in iln-er
Function nicht gestört wird, wenn das Hygrometer zwischen 60*^ und 70"
anzeigt; insbesondere muss sie in einem Wohnzimmer, das reichlich gelüftet
und auch an feuchten Tagen nicht geheizt wird, jederzeit in Gang zu bringen
sein ;
4. es müssen Eimichtungen vorhanden sein zur bequemen Befestigung
der Leitungskabel und deren Verbindung mit Isolierschemel und Elektroden,
zur beliebigen Verstellung der Conductorenkugeln gegen einander, womöglich
mittelst einer Mikrometerschraube;
5. sehrwünschenswerth ist die Verbindung der Maschine mit einem Wasser-
oder Elektromotor, um dem Arzt das Selbstdrehen der Maschine zu ersparen.
Gasmotoren haben sich nicht bewährt, Elektromotoren bisher auch nur im
Ö12 ELEKTEOTHEKAPIE.
Anschliiss an eine grössere Elektricitätscjuelle. AVassermotoren dagegen sind,
wenn Wasserleitung mit hohem Druck vorhanden, selu' empfelilenswerth;
6. es muss eine Yomchtung A^orhanden sein, um Franklin"sche Tafeln
oder andere Condensatoren in den Stromkreis der Maschine einzuschalten, um
sich besonders zu diagnostischen Zwecken der ..diinklen EnÜadung- bedienen
zu können;
7. die Leitungskabel müssen in dicken Gummischläuchen laufen, welche
fi-eilich immer noch keine tadellose Isolation herbeiführen diü'ften:
8. als Elektrodengiifie dienen lange durchbohrte Glas- oder Ebonitstangen,
an deren einem Ende die Elektrode, am anderen der Leitungskabel fest-
gesteckt wii'd;
9. als Elektroden seilest l)raucht man 1. den Isolirschemel, einen auf
Glasfüssen stehenden Tisch, oder eine Isolier-Gummiplatte mit Metallbeschlag;
beide müssen zu einem Stuhl, auf welchem der Kranke Platz nimmt, Eaum
]ia])en; 2. eine Knopfelektrode zm' Application des Funkenstromes, in Gestalt
eines Metallknopfes von etwa 10 mm im Dmx-hmesser; 3. eine Spitzenelektrode
zui- Anwendung des Btischelstromes: 4. eine ovale Messingplatte von 100 cm^
Flcäche zm- Ableitung des im Köi^ier l)efindlichen Stromes; 5. event. einige
Holzplatten oder Holzkugeln für den gleichen Zweck.
Mit diesen Utensilien dürfte man vollkommen ausreichen, denn sie ge-
nügen, um allen Modificationen der Anwendung des Franklin" sehen Stromes
gerecht zu werden.
Die Batterien, Apparate und. Instrumente, welche für Cla Ivanoka u st ik, Elektro-
therapie der Franenkrankheiten. Elektrolyse und elektrische Beleuchtung
nothwendig sind, werden in den betreffenden Capiteln Beschreibung finden.
AKTHUR SPERLIXG.
Elektrotherapie.
A. Allgemeine Elekti^otherapie.
Einleitung.
..Was Elektricität ist," sagt Kuxdt. der Physiker der Berliner Hoch-
schule, in einer Ptede, „wissen wir so wenig, wie derjenige, der im fernen
Alterthum zufällig ein Stückchen Bernstein rieb und zuerst sah, dass das ge-
riebene Stück leichte Fäserchen anzog. Den letzten Grund der Dinge zu er-
forschen ist nicht Sache der Wissenschaft, deshalb nicht, weil uns dieser
immer unzugänglich bleiben whxl. Die Erscheinungen zu verfolgen wissen,
sie, wie es Kirchhofe in seiner Mechanik ausspricht, möglichst einfach und
präcise zu besclu'eiben, ist das Wesen der Forschung."
■^"ir wissen nicht die Erscheinung, welche wir Elektricität nennen, in ihrem innersten
Wesen zu erklären, und dennoch wendet sie die ärztliche Kunst als Heilmittel an! Eine
seltsame Thatsache, die indess im CTrunde nicht wunderbarer ist, als jene, dass der Techniker,
der ebenfalls mit dieser ungenügenden Erkenntnis zu rechnen hat. sich dadurch nicht
hindern lässt. die Kraft der Kohle, des Wassers, des Windes durch geeignete Maschinen in
Elektricität umzusetzen. An wissenschaftlich nicht vollkommen erforschte und begründete
Thatsachen hat sich ein Culturfortschritt ersten Ranges geknüpft. Die Praxis ist der
Wissenschaft vorausgegangen. So ist es immer gewesen, und so wird es immer
bleiben, in der Technik, in der Industrie — nicht weniger auch in der Medicin.
Öder sollten wir Aerzte uns des Versuches enthalten, die Nervenkranken zu
heilen, sie ihrer Familie, ihrem Beruf wieder zuzuführen, weil uns der intime Vorgang in
den Zellen eines hysterischen, neurasthenischen oder epileptischen Organismus unbekannt
ist? Das wird Niemand ernstlich verlangen. Es ist vielmehr die Aufgabe der Medicin. die
Wirkung der verschiedenen Mittel, die wir empirisch als Heilmittel erkannt haben, zu be-
obachten, den Kreis und Umfang der Wirkung eines Einzelmittels wie der Elektricität an
einer grossen Anzahl von Krauken zu erproben und den untrüglichen Beweis zu liefern,
dass dieses Mittel in einer ganz bestimmt anzugebenden Form für diese und jene Indivi-
dualität von Kranken und von Krankheiten passt. d. h. heilend wirkt. Solche als positive
Thatsachen zusammengestellte Kranken-Beobachtungen mögen dann zur Basis dienen für
Theorien über alles das. was uns bisher unbekannt geblieben ist.
ELEKTROTHERAPIE. 513
Jeder Arbeiter auf diesem Gebiete miiss die Grenzen unseres Wissens
kennen. Für die Elektricität liegen dieselben in der von Faraday und
Maxwell theoretisch construirten und von Hertz in Bonn experimentell
erwiesenen Thatsachen, dass das, was wir elektrischen Strom nennen, eine
Wellenbewegung des Aethers ist, ähnlich wie die des Schalles, des
Lichtes und der Wärme. Die elektrischen, bezw. elektromagnetischen Aether-
wellen pflanzen sich mit derselben Geschwindigkeit fort wie die des Lichtes
(300.000 km in der Secunde), aber die einzelnen Wellen sind erheblich länger.
Die längste Wellenlänge, auf die die Retina unseres Auges in der Weise
reagirt, dass eine Lichtempfindung ausgelöst wird, beträgt Viooo ^^'*: während
die kürzeste bisher erhaltene elektromagnetische Welle etwa Vi ^^^ lang ist.
Im übrigen folgen diese Wellen den Gesetzen der Reflexion, Brechung und
Absorption ebenso wie die Lichtwellen, so dass es z. B. möglich ist, den elek-
trischen Funken eines Liductionsapparates durch geeignete Reflectoren auf der
Strecke zwischen Funken und Reflectoren gleichsam zu reconstruiren.
Aber am wichtigsten für die Auffassung über die Wirkung des elek-
trischen Stromes auf den menschlichen Körper scheint mir die
durch die neuesten Forschungen gewonnene Ueberzeugung, dass wir es
bei den mannigfach vorkommenden Uebertragungen des elektrischen Zustandes
von einem Körper auf den anderen, z. B. bei der Stromübertragung von der
primären zur secundären Rolle des Inductionsapparates, nicht mit einer
Fern Wirkung zu thun haben, wäe man früher annahm, sondern mit einer
unmittelbaren Uebertragung des elektrischen Zustandes von Körper zu Körper
vermittels der Aetherschwingungen. Und der Leitungsdraht, der den Strom
von einem Element zum anderen führt, ist nur gewissermassen als der greif-
bare Mittelpunkt aufzufassen, in welchem sich der veränderte elektrische Zu-
stand des Aethers concentrirt. Wenn wir uns den unter den Einfluss des
elektrischen Stromes gesetzten menschlichen Körper ganz allgemein als eine
Veränderung des Molekular-, bezw. Atomzustandes vorstellen wollen, so müssen
wir nach der neuen Auffassung verstehen, dass sich die Wirkung des beispiels-
weise durch eine Hand geleiteten Stromes nicht allein auf die Hand beschränkt,
sondern sehr weit, auch auf die entferntesten Körpertheile seine Wellen aus-
breitet, wir müssen verstehen, dass der Magnet eine elektrische Atmosphäre,
das sogen, magnetische Feld um sich hat, und dass jeder Theil des mensch-
lichen Organismus, der in dieses magnetische Feld gebracht wird, eine mehr
oder weniger grosse Veränderung seines elektrischen Zustandes erleiden muss.
Wir w^erden uns daran gewöhnen müssen, die Sonne als eine ungeheure elek-
trische Quelle anzusehen und jeden Sonnenstrahl, der den Menschen trifft, als
ein Mittel zur Veränderung des elektrischen Zustandes seiner Moleküle. Die
uns umgebende Luft ändert fortwährend ihren elektrischen Zustand, je nach-
dem sie trocken oder feucht, ruhig oder bewegt ist und mit ihr der Mensch
in seinem subjectiven Wohlbefinden, seiner Lust oder Unlust, seiner Stimmung,
seiner Neigung zu Schmerzanfällen, Schleimhautentzündungen u. s. w., Vor-
gängen, die wir doch in ihrem ersten Beginn als molekulare Veränderungen
inmitten des Organismus aufzufassen haben — eine Theorie, die mit den Er-
fahrungen des praktischen Lebens durchaus im Einklang steht.
Auf viele Menschen üben die genannten Mittel gar keinen Einfluss aus,
d. h. unsere physikalischen und chemischen Reactionen reichen nicht aus, um
einen solchen zu erweisen; auch die subjective Empfindung eines veränderten
Zustandes bleibt aus, und wir sagen, das Mittel wirkt nicht. So geschieht es
sehr häufig bei der Anwendung der Elektricität zu Heilzwecken, dass wir uns
über die Tragweite unseres Eingriffes täuschen, wenn der Kranke von dem
elektrischen Strom wenig gespürt hat und ein so schlechter Beobachter ist,
dass er sich über eine Veränderung oder Nichtveränderung seines Zustandes
keine Rechenschaft zu geben vermag und alle diesbezüglichen Fragen negativ
Bibl. med. WiBsenscliaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. 06
514 ELEKTROTHERAPIE.
beantwortet. Aus der Beobachtung einer Anzahl solcher Fälle mag wohl die
Ansicht mancher Aerzte hervorgegangen sein, dass die Elektricität ein wir-
kungsloses Mittel sei, zum mindesten ein unsicheres und zweifelhaftes, sehr
gut durch bessere ersetzbar. Ich möchte hier die entgegengesetzte Ansicht
verfechten.
Aus der sehr umfangreichen elektrotherapeutischen Literatur geht für
jeden Unbefangenen zur Genüge hervor, dass es eine grosse Anzahl der ver-
schiedenartigsten Erkrankungen gibt, bei welchen die Elektricität ein
vortreffliches, vielleicht durch nichts anderes zu ersetzendes
Heilmittel ist. Wenn neben den Erfolgen auch Misserfolge stehen und
neben den vergnügten Elektrotherapeuten auch missvergnügte, so sind mehrere
Ursachen daran Schuld.
Erstens: Das „Elektrisiren" will gelernt und mit Verstand betrieben
sein. Weder der Student noch der Arzt findet eine genügende Ausbildung
darin. Das auf der Universität in der Elektrotherapie gesammelte Wissen ist
höchst mangelhaft,
Zw^eitens: Auch die Ausbildung des angehenden Arztes in den sogen.
Nervenkrankheiten, bei welchen die Elektrotherapie ihre Triumphe feiert,
ist nicht so wie sie sein sollte. Die Auffassung, das Interesse für diese Art
von Kranken fehlt, was zum Theil daran liegt, dass keine objectiven physika-
lischen und chemischen Hilfsmittel für die Diagnose so grob und klar zu Tage
treten.
Drittens: Man arbeitet im allgemeinen mit zu jämmerlichen Apparaten,
so ist z. B. das absolute Galvanometer noch sehr wenig unter den Aerzten ver-
breitet.
Viertens: Der wissenschaftliche Pessimismus, der sich besonders in den
letzten Jahren der wissenschaftlichen Welt bemächtigt hat, gefällt sich ganz
besonders in der ergiebigen Ausnützung des Wortes „Suggestion." Man sagt,
die Wirkung der Elektricität beruht auf Suggestion, d. h. der Elektricität
kommt keine Eigenwirkung auf den menschlichen Organismus zu, sondern es
wirkt dieselbe psychisch, indem der Kranke durch das mysteriöse Aussehen
der elektrischen Apparate, durch Schmerzempfindung, durch Schreck u. s. w^
in eine psychische Erregung versetzt wird, und diese soll es in den meisten
Fällen sein, welche event. die Heilung herbeiführt.
Die wissenscliaftlicheii Vertreter dieser Richtung riben insofern einen sehr schädlichen
Einfiuss ans, als sie die Aerzte zu dem Glauben veranlassen, dass das wo'? und wie? der
Elektrisation gleichgiltig ist, dass die Hauptsache immer bleibt, dem Kranken Furcht und
Schrecken einzujagen. Man wird dabei an die rohen Mittel der mittelalterlichen Tortur
erinnert und kann nur auf's tiefste bedauern, dass die psychologische Bildung selbst bei
vielen wissenschaftlichen Vertretern der Medicin auf so niedriger Stufe steht. Die Vertreter
der Suggestions-Richtung in der Elektrotherapie zeigen, dass sie entweder sehr schlechte
Elektrotherapeuten oder sehr schlechte Psychologen sind, jedenfalls sind sie miserable
Beobachter.
Fünftens: Die Elektrotherapie beschäftigt sich viel zu wenig mit
frischen Krankheitsfällen, z. B. wenige Tage alten Neuralgien u. a. Schmerz-
zuständen, weil man der Gewohnheit folgt, zuerst alle anderen Mittel durch-
zuprobiren, bevor man Elektricität anwendet. Aber gerade in solchen frischen
Fällen zeigt der elektrische Strom seine grösste Leistungsfähigkeit.
Sechstens: Die wissenschaftliche und praktische Auffassung der so-
genannten Nervenkrankheiten ist bisher eine durchaus verkehrte. Man glaubt
es mit sehr groben Processen dabei zu thun zu haben und heilt nach dem
Princip: „Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil." Diese Ansicht
müssen wir verlassen und zu der Auffassung übergehen, dass eine beginnende
Nervenkrankheit, z. B. eine beginnende Neurasthenie oder Hysterie durch-
aus feine, molekulare Veränderungen der Nervensubstanz zur Basis hat. Es
bedarf nur der kleinsten Anregungen und der minimalsten Eingriffe, um diese
ELEKTROTHERAPIE. 515
Vorgänge zu ändern, bezw. zu heilen. Ein Spinngewebe darf man nicht mit
einer Feuerzange fassen, ein kleiner Windhauch genügt schon, um es zu
zerreissen.
Siebentens: Die Kunst des Individualisirens der Kranken und der
Krankheiten ist zu wenig ausgebildet. Die Grobschmied-Naturen werden
ebenso wie die Sclmeider-Naturen behandelt und umgekehrt. Ein grosser Theil
der letzteren geht dabei zu Grunde. Das Schematisiren hat über das Indivi-
dualisiren die Oberhand gewonnen, ganz besonders auch in der Elektrotherapie;
es ist viel bequemer.
Achtens: Schliesslich kann es nicht genug gerügt werden, dass kein
klinisches Universitäts-Institut in die Lage gesetzt wird, die Elektricität und
deren Wirkung auf den menschlichen Organismus auf breiter Basis zu stu-
diren, um die errungenen Fortschritte dann den nach Wissen und Können
durstigen Aerzten mitzutheilen.
1. Die Eigenschaften der verschiedenen Stromarten.
Die zu medicinischen Zwecken gebrauchte Elektricität wird auf drei-
fache Weise erzeugt: durch chemische Action von Metallen und Flüssigkeiten in
den sogenannten Elementen (galvanischer, constanter Strom), — durch Induction,
d. h. durch die Eigenschaft eines kurzen, galvanischen Stromes, der in einem
geschlossenen Leiter kreist (primäre Rolle), in einem zweiten geschlossenen
Leiter (secundäre Rolle) einen ebenso kurzdauernden Strom hervorzurufen,
welcher in der Summirung der einzelnen Inductionsströme uns als fara-
disclier oder Wechselstrom bekannt ist, — durch Influenz, einen ver-
wickeiteren Vorgang (vgl. „EleUrophysik"), zu welchem Zwecke die Influenz-
maschine dient; dieser Strom wird als franklinscher Strom oder Span-
nungsstrom bezeichnet.
Diese drei Arten der Elektricität haben ganz verschiedene physikalische
und physiologische Eigenschaften. Um von den physikalischen zuerst zu
sprechen, so ist der galvanische Strom ausgezeichnet durch eine relativ
grosse Elektricitätsmenge, die durch eine verhältnismässig geringe elektro-
motorische Kraft (Druck, Spannung) fortbewegt wird. Der galvanische Strom
gleicht einem Wasserstrahl von ziemlich grosser Dicke, welcher langsam, d. h,
unter geringem Druck, aus einer Röhre ausfliesst. Ganz anders sind die
Eigenschaften des franklinschen Stromes; die Elektricitätsmenge des-
selben ist ausserordentlich gering, die Kraft, mit der sie fortbewegt wird, un-
geheuer gross; sie gleicht einem sehr dünnen mit kolossaler Kraft aus einer
Röhre ausgepressten Wasserstrahl. In der Mitte zwischen Beiden steht der
faradische Strom; bezüglich der mitgeführten Elektricitätsmenge nähert
er sich dem galvanischen Strom, w^ährend die Spannung, unter welcher jene
fortbewegt wird, der des franklinschen Stromes ähnlich ist.
Entsprechend diesen physikalischen Verschiedenheiten sind die phy-
siologischen Wirkungen der drei Ströme durchaus verschieden, eine
Thatsache, welche merkwürdigerweise auch in neueren Lehrbüchern der Elektro-
therapie nicht gehörig gewürdigt wird. Der galvanische Strom, ohne
grosse Stromschwankungen und Wendungen, passt vorzugs-
weise für krankhafte Zustände mit dem Charakter der Erre-
gung {Schmerzzustände, Neuralgien^ Ermndungsvorgänge, sogen. Beschäftigungs-
neurosen, nervöse Ilagen- und Darmaffectionen). Dabei soll gleich erwähnt
werden, dass es Erkrankungen gibt mit so hochgradiger Erregung des
Nervensystems, dass auch die Anwendung des galvanischen Stromes dabei ver-
boten werden muss, z. B. alle Formen von epileptischen und hystero-epi-
leptischen Krämpfen. Der franklinsche Strom ist in Gestalt der fran-
klinschen Funken oder der dunklen Entladung das stärkste Reizmittel, welches
33*
516 ELEKTEOTHERAPIE.
die Medicin in ihrem Heilschatz aufzuweisen hat, und vorzüglich geeignet zur
Beseitigung von alten chronischen nach Erkältungen und Neiu-algien zurück-
bleibenden Anästhesien, auch alte torpide Muskelatrophien werden zuweilen
noch unter der Einwirkung dieses mächtigen Reizes gebessert. In der Mitte
zwischen Beiden steht der mit der Bürste applicirte faradische Strom,
ebenfalls bei cutanen Anästhesien, bei torpider schlecht functionirender Haut
verwendbar.
Faradischer, sowie galvanischer Strom können indessen auch in anderer Form ange-
wandt werden, indem man mit der Knopfelektrode Mnskeln nnd Nerven reizt. Hierbei
werden die Wirkungen beider ähnlich. In der Elektrotherapie sollte diese Methode mir
ganz ausnahmsweise angewandt werden. — Die Indicationen für das franklinsche Bad und
den Büschelstrom sollen später noch besprochen werden.
Ueber die physiologischen Wirkungen (im engeren Sinne) der elektrischen
Ströme empfiehlt es sich am besten mit Stillschweigen hinwegzugehen. Trotz
sehr verdienstlicher Arbeit auf diesem Gebiete ist unsere Kenntnis der physio-
logischen Veränderungen, welche sich unter dem Einfluss der Elektricität im
Organismus vollziehen, ganz ausserordentlich mangelhaft. Wir wissen eben
nur das all ergröbste; die feineren Vorgänge sind und bleiben unserem wissen-
schaftlichen Späherauge verborgen.
2. Methoden der Galvanisation.
Die alte Methode der Galvanisation elektrisü'te nach dem Gefühl des
Patienten, d. h. der Strom wurde so lange verstärkt, bis er dem Kranken
mehr oder weniger unangenehm fühlbar wurde. Die einzelnen Sitzungen
wurden bis auf zehn und mehr Minuten ausgedehnt und täglich viele Wochen
hindurch wiederholt. Wenn auch mit dieser Methode in den Händen genialer
Aerzte wie R. Remak, Erb u. a. in manchen Fällen vortreffliches geleistet wurde,
so musste sie in den Händen des rohen Praktikers mehr Schaden wie Nutzen
stiften; und diesen Vorwurf muss sich diese Art roher Elektrotherapie wohl
oder übel gefallen lassen.
Eine Besserung trat ein mit der Erkenntnis, dass der elektrische Strom
kein indifferentes Mittel ist, dass er ebenso gut wie Digitalis und Morphium
in übermässigen Dosen auch schaden kann. Deshalb stellte man die Forderung
auf, — am energischsten that es C. W. Müller in Wiesbaden — dass der
galvanische Strom, der therapeutisch zur Anwendung kommt, genau dosirt
werden müsse. Diesem Zwecke dient das absolute Galvanometer. Ohne
ein solches soll überhaupt keine Galvanisation vorgenommen werden.*)
Das absolute Galvanometer, welches daher seinen Namen hat, dass
es das elektrische Maass in den Normen des absoluten Maasssystems (Meter-
Gramm, Secunde) angibt, (Conferenz der Elektriker in Paris 1871) zeigt die
Stromstärke in Milliamperes (MA) an; d. h. der durch das Galvanometer
hindurch geleitete Strom lenkt eine Magnetnadel, an welcher er vorbeikreist,
derart von ihrer Ruhelage ab, dass aus der Ablenkung auf diejenige Elek-
tricitätsmenge geschlossen werden darf, welche in der Secunde den Schliessungs-
bogen (eventuell den menschlichen Körper) passirt.
Wir bezeichnen eine solche Elektricitätsmenge mit Stromstärke (Inten-
sität, I) und wissen, dass dieselbe einmal von der elektromotorischen Kraft
der Elemente (E) und zweitens von dem durch den menschlichen Körper ge-
botenen Widerstand (W) in dem Verhältnis I — =^ abhängig ist. Bei der
gleichen Anzahl von Elementen müssen wir also verhältnismässig mehr Strom
einschalten, um beispielsweise 0-5 MA zu erhalten, wenn der W des Körpers
*) Das erste Lehrbuch, welches diese Forderung mit aller Consequenz durchführte,
war das 1890 erschienene von Pierson-Sperling (Leipzig, Ambr. Abel).
ELEKTROTHERAPIE. 517
gross ist (z. B. an den Kniegelenken) und weniger, wenn er klein ist
(z. B. am Gesicht). Immerhin wird es beim Gebrauch des absoluten Galvano-
meters möglich; z. B. bei der Galvanisation des nerv, supraorb. heute soviel
MA einzuschalten wie morgen und zu wissen, dass der Nerv von der
gleichen Stromstärke getroffen worden ist. Durch die Angaben in MA
lassen sich auch die Beobachtungen verschiedener Elektrotherapeuten ohne
weiteres mit einander vergleichen. Die Einschaltung der erforderlichen Zahl
von MA geschieht mittels des Rheostaten (vgl. „ Elektro medicin. Apparate").
Indessen ist für die Dosirung des galvanischen Stromes noch ein anderes
Moment in Rechnung zu ziehen. Denkt man sich nämlich den elektrischen
Strom aus einer grossen Anzahl einzelner Stromfäden bestehend, so ergibt eine
einfache Betrachtung, dass es nicht gleichgiltig sein kann für den dem Strome
ausgesetzten Körpertheil, ob er von den auf eine Elektrodenfläche von 10 cm-
zusammengedrängten Stromfäden getroffen wird, oder ob die Stromfäden die
Gelegenheit haben, sich über eine Fläche von 100 und mehr cm^ auszudehnen.
Wir bezeichnen dieses Verhältnis von Stromstärke zur Elektrodengrösse
mit Stromdichte (D), und drücken dasselbe durch die Form eines Bruches
0'5
aus. "Wir wissen also nunmehr, dass, wenn es heisst, es ist mit D = —
50
galvanisirt worden, dies bedeutet, dass Elektroden von 50 cm^ bei einer Strom-
stärke von 0*5 MA verwandt worden sind. Nach unserer heutigen Anschauung ist
der physiologische, bzw. therapeutische Effect von der Stromdichte abhängig; jede
Beschreibung einer elektrotherapeutischen Behandlung muss die Stromdichte
angeben.
C. W. Müllers Methode der Galvanisation besteht darin, dass er durch-
schnittlich eine Stromdichte von ^/^g verwendet; da seine Elektroden in der Grösse von
9 bis etwa 120 cm'^ wechseln, so müssen dabei Stromstärken von 05 bis 7 MA einge-
schaltet werden. , Eine geringere Stromdichte kommt bei der Galvanisation des Gehirns
in Betracht, D =^n — 4^, sowie bei allen frischen, acut entzündlichen, erethischen Fällen,
z. B. Neuritis, frischen Neuralgien, Myelitis und Neurosen mit Reizerscheinungen, während
bei torpiden Processen, alten chronischen Gelenksentzündungen z. B., sowde bei einer ge-
wissen Behandlung der Migräne, welche Müller eingeführt hat, bis auf ,'f , ^'g, ja \ herunter-
gegangen werden kann.
Soll die elektrische Behandlung einen verhältnismässig geringen Reiz ausüben, dann
muss die Behandlung stabil sein, d. h. die Elektroden werden dem Kranken an den ge-
eigneten Stellen aufgesetzt, und dann wird der Strom mittels des Rheostaten eingeschlichen,
d. h. langsam verstärkt, so dass er allmählich in den Körper eindringt. Hierbei mag
bemerkt werden, dass, wenn man z. B. mit 20 Elementen arbeitet und einen mehr oder
w'eniger grossen Bruchtheil derselben in den Körper hineinschicken will, dieser Bruchtheil
immer mit einem Druck, mit einer Spannung von 20 Elementen fiiesst, also von etwa
30 Volt, ganz gleich, ob ich schliesslich die Stromstärke auf 0"5 oder 20 MA gesteigert habe.
Will Müller beispielsweise bei Galvanisation des Rückenmarks mehrere Punkte treffen,
so lässt er eine Elektrode „wandern," d. h. nachdem er sie ^ji Minuten über dem Halsmark
gehalten, schiebt er sie auf den oberen Theil des Brustmarks herunter und nach weiteren
^/4 Minuten auf das Lendenmark, so dass dann die ganze Sitzung die Zeit von 3 x ^U
Minuten in Anspruch nimmt. Diese Methode des „ stationsweise " Elektrisirens ist bei der
Behandlung von Neuralgien, insbesondere der Ischias beliebt und auch wirklich empfehlens-
werth. Als Ansatzpunkte der Elektroden bei der letzteren sucht man sich die Schmerz-
druckpunkte auf.
Nach dem Grundsatze „breve, leve, saepe, semper in loco morbi" wiederholt Müller
die Sitzungen häufig, wohl nicht selten sogar täglich, und zwar unter Umständen viele
Monate hindurch, je nach der Natur, bzw. der Hartnäckigkeit des Leidens.
Eine bedeutende Vereinfachung von Müller's Methode ist
meine eigene, welche ich in meinen „Elektrotherapeutischen Studien"
(Leipzig, Fernau, 1892) beschrieben habe. Derselben liegt die Thatsache zu
Grunde, dass schon Ströme von 0*5 MA und darunter bei einer Stromdichte
0'5
von -— und weniger einen grossen therapeutischen Einfluss auszuüben im
0\J
518 ELEKTROTHERAPIE.
Stande sind. Demnach beriilit die Methode darin, dass die Grösse der Elek-
troden stets dieselbe bleibt, nämlich 50 aw^, und die Sitzungsdauer die gleiche,
nämlich eine Minute, während die Stromstärke von O'ö bis 0*2 oder sogar
O'l MA wechselt. Es hat einige Mühe gekostet, die Collegen davon zu über-
zeugen, dass man mit dieser Methode wirklich prächtige therapeutische Erfolge
erzielt, viel bessere wie mit der alten. Zuerst wurde dieselbe von vielen
Seiten ungeprüft abgewiesen, erst in der letzten Zeit mehren sich die Stim-
men, welche meine Angaben bestätigen. Ich selber bediene mich aus-
schliesslich meiner Methode und bin mit meinen therapeutischen Erfolgen
sehr zufrieden.
Bei einem Ueberblick über die Methoden der Galvanisation frappirt uns
deren Verschiedenheit. Die früheren Elektrotherapeuten benutzten sehr starke
Ströme, so dass die Kranken oft ach und weh schrieen; Müller's Ströme
waren schon kaum fühlbar; 0"5 bis 0°1 MA sind es nur in den seltensten
Fällen, bei sehr empfindlichen Individuen. Und dabei rühmen sich alle
elektrotherapeutischer Erfolge! Wie reimt sich das zusammen? Lügen sie
alle, oder haben sie alle Recht? Sie haben alle Recht!
Soweit ich dieses Gebiet überschaue, hat man es heute in der Elektro-
therapie vorzugsweise mit zwei maassgebendeuFactoren zu thun; dieselben be-
treffen den Kranken, und heissen: Individualität des Kranken und
Individualität der Krankheit. Der beste Elektrotherapeut ist der-
jenige, welcher beide mit Verständnis zu schätzen weiss und danach seine
Maassnahmen einrichtet.
Da die Individualität des Kranken sowohl wie die der Krankheit theo-
retisch als etwas einzelndastehendes angenommen werden muss, welches nicht
seines gleichen findet, so müsste man auch theoretisch zu d^m Schluss be-
rechtigt sein, dass eine jede Individualität eine absolut individuelle Be-
handlung verlangt, d. h. soviel Kranke und Krankheiten, soviel verschiedene
Elektrodengrössen, soviel verschiedene Milliampere u. s. w. Die Theorie ist
sicherlich richtig, aber es ist aus ganz klarliegenden Gründen unmöglich,
dieselbe in die Praxis umzusetzen; wir sind gezwungen, mit einer beschränkten
Zahl von Apparaten zu arbeiten und müssen mit einer Methode zufrieden
sein, welche der grösseren Anzahl der Fälle zu genügen verspricht.
Nehmen wir einmal an, wir hätten eine grössere Anzahl von Kranken
• — sagen wir dreissig vor uns, welche alle an Neuralgie des nerv, supraorbitalis
leiden, und dass alle diese Neuralgien mit dem galvanischen Strom geheilt
werden können. Wenn wir in diesem Falle die Individualität der Krankheit
ausschalten dürfen, so bleibt die Individualität des Kranken zu berücksichtigen,
und es müsste nach der vorhin aufgestellten Theorie für jeden Kranken eine
besondere, eine individuell angepasste Stromstärke, Stromdichte, Sitzungs-
dauer u. s. w. ausfindig gemacht werden, um einem jeden Falle wissen-
schaftlich zu genügen und ihn praktisch so schnell wie möglich zu heilen.
Die Klippe der Unmöglichkeit können wir indess umschiffen, indem wir
uns die Sache vom physiologisch-biologischen Standpunkte aus betrachten.
Jede Galvanisation in diesen 30 Fällen haben wir als einen Reiz des nerv,
supraorbitalis anzusehen, durch welchen der frühere neuralgische Zustand — wir
haben angenommen, dass alle diese Fälle mit dem galvanischen Strom zu heilen
sind — in den Normalzustand verwandelt wird. Für den einen Nerv wird
ein geringerer, für den anderen ein grösserer am zweckmässigsten sein, aber
schliesslich wird die Anpassungsfähigkeit des Organismus den elektrischen Ein-
griffen soweit zu Hilfe kommen, dass auch ein relativ zu starker oder zu
schwacher Reiz mit einer Normalstellung der Moleküle beantwortet wird, in
dem einen Falle früher, in dem anderen später, wie es sich aus meinen Beob-
ELEKTROTHERAPIE. 519
achtungen über die erste und zweite Reaction nacli elektrotherapeutisclien
Eingritfen ergeben hat. Demnach dürfte man nicht fehlgehen, wenn man für
diese 30 Fälle die gleiche Stromstärke, bezw. Stromdichte zur Anwendung für
berechtigt hält. Eine Correctur der in einem Fall zu schwachen, im anderen
Fall zu starken Elektrisation, kann man bei guter Beobachtung der Kranken
dadurch eintreten lassen, dass man die elektrischen Eingriife mehr oder we-
niger häufig auf einander folgen lässt.
Aus diesen Betrachtungen ergibt sich, dass man für eine grössere An-
zahl von Kranken, bezw. von Krankheits-Individualitäten mit dergleichen Strom-
stärke, bezw. Stromdichte auskommt; es fragt sich nur: welches ist diese
Stromstärke? bezw. zwischen welchen Grenzen liegt die für die Elektrothera-
pie verwendbare Stromstärke?
Nach meinen neuesten Erfahrungen muss ich entschieden sagen, dass
eine Stromstärke von 0"5 bis 0-2 MA fiü' die allermeisten Fälle, für welche
überhaupt eine galvanische Behandlung angezeigt ist, genügen wird, denn es
hat sich gezeigt, dass ebensowohl der nerv, supraorbitalis, wie der ischiadicus,
wie die Magennerven auf diesen anscheinend sehr geringen Reiz reagiren.
Dabei ist es durchaus nicht ausgeschlossen, dass für diesen und jenen Fall
eine grössere Stromstärke im Sinne von MtJLLER oder sogar der alten Elektro-
therapeuten durchaus zweckmässig ist und denselben in kürzerer Zeit heilt
wie der schwache Strom. Es gibt eben Grobschmied- und Schneidernaturen;
was die ersteren heilt, bringt den letzteren den Tod. Hierin, glaube ich, liegt
die Erklärung dafür, dass sowohl sehr starke elektrische Eingriffe wie ganz
minimale heilend wirken können.
Im allgemeinen muss ich jedoch nach meiner bisherigen Erfahrung die
Meinung vertreten, dass — ■ mit wenigen Ausnahmen — die sehr geringen
Ströme (0'5 — 0*2 MA) dem menschlichen Organismus, bezw. dem Zustand der
acut oder chronisch krankhaft veränderten Organsubstanz inclusive Nerven,
Muskeln etc. mehr entsprechen wie die starken, in dem Sinne, dass die
Grösse des Reizes der Intensität der Veränderung mehr adäquat ist, und dass
der Organismus, worauf manche Erscheinungen hindeuten, Vorrichtungen be-
sitzt, um die Wirkung grösserer Reize zu paralysiren, ihr Eindringen in den
Organismus zu hindern, durch alarmirende Symptome die Uebergrösse des
Reizes für den Beobachter zu kennzeichnen.
3. Die Behandlung mit dem faradischen Strom.
Die werthvollste Anwendung findet der faradische Strom vorzugsweise in
drei Fällen:
a) Zur localen Reizung von Muskeln, welche aus irgend einem
Grunde atrophisch geworden sind, insbesondere bei Druck- und Inactivitäts-
atrophien, welche nach festen Verbänden zurückzubleiben pflegen. In solchen
Fällen hebt sich Volum- und Functionsfähigkeit des Muskels ausserordentlich
schnell unter dem Einfluss des faradischen Stromes, jedoch beachte man auch
hierbei, dass die kleinen, bezw. mittelstarken Reize die besten sind. Zehn bis höch-
stens fünfzehn Contractionen, die in jedem der gelähmten Muskeln hervorgerufen
werden, mögen genügen, besonders in der ersten Zeit und bei schwächlichen
und älteren Personen. Sehr empfehlenswerth ist diejenige Art der Reizung,
welche unter dem Namen des „schwellenden Stromes" (Feommhold) bekannt
ist: während die Elektroden fest am Körper sitzen, die eine auf einer indif-
ferenten Stelle, z. B. dem abdomen, die andere auf dem zu reizenden Muskel,
wird der anfangs kaum fühlbare Inductionsstrom durch Hinüberschiel )en
der secundären Rolle über die primäre bis zur Maximalcontraction, bezw. bis
zur Steigerung des Schmerzes ins unerträgliche verstärkt, dann wieder allmäh-
lich ausgeschaltet, aufs neue verstärkt und sofort etwa zehnmal hinterein-
ander für jeden Muskel.
520 ELEKTROTHERAPIE.
Die zur Reizung dienende Elektrode sei nicht zu klein, etwa 20 cm'^
und im ersteren Fall an eine Untersuchungselektrode, welche beliebiges Oeffnen
und Schliessen des Stromes gestattet, angeschraubt. Man bringe alle Theile
des Muskels mit dem Strom in Berührung, was auch zweckmässig durch Ueber-
streichen des Muskels mit der Elektrode (labile Behandlung) geschieht.
b) Zur allgemeinen Faradisation. Diese zuerst von Beaed und
Rockwell empfohlene Behandlungsmethode ist ungemein werthvoll in vielen
Fällen von Neurasthenie, besonders solchen, die einen mehr torpiden Cha-
rakter haben und w^eniger Reizerscheinungen als Zeichen von trägem Verlauf
des Stoffwechsels und aller Lebenserscheinungen aufweisen. Unter Umständen
eignen sich dafür Reconvalescenten nach schweren Krankheiten oder solche,
die durch Ernährungsstörungen bei mangelhafter Function der Verdauungs-
organe stark heruntergekommen sind.
In einer etwas vereinfachten Form wende ich die allgemeine Faradisation
so an, dass die indifferente Elektrode von 100 cm^ bald auf den Bauch, bald
auf die Nates gesetzt wird, w^ährend man mit der anderen Elektrode von
20 — 30 cw^, an EEß'schem Kugelgriff festgeschraubt, allmählich einen Körper-
theil nach dem anderen bestreicht. Die Stromstärke muss an den verschie-
denen Körpertheilen wechseln, z. B. am Hals geringer sein wie an den Armen,
am Rücken dürfen relativ die stärksten Ströme angewandt werden. Die vom
Strom getroffenen Muskeln sollen in leichte Zuckungen gerathen und die Zeitdauer
der ersten Sitzung von 5 bis 6 Minuten auf alle Körpertheile gleichmässig ver-
theilt werden. Die Sitzungen mögen in der Woche zwei- bis höchstens drei-
mal stattfinden und die Dauer derselben allmählich auf 10 Minuten und mehr
gesteigert werden.
c) Zur sogen, faradischen Pin seiung bei Haut- Anästhesien, die nach
Neuralgien zurückbleiben, bei Durchnässung und Erkältung der Haut zuweilen
auftreten und sich in ausgedehntem Maasse besonders an den unteren Extre-
mitäten bei der Tabes und verwandten Erkrankungen vorfinden. Wenn ich
auch in solchen Fällen die franklinschen Funken bei weitem vorziehe, so be-
währt sich doch auch die faradische Pinselung häufig so gut, dass Rumpf eine
Methode der Behandlung der Tabes darauf gegründet hat. Danach wird der
ganze Körper, ein Körpertheil nach dem anderen; allmählich der Einwirkung
der faradischen Bürste unterzogen. Der Strom muss so stark sein, dass deut-
liche Empfindung, wenn nicht sogar Schmerzgefühl ausgelöst wird.
Auch zur Behandlung von frischen Neuralgien, z. B. der Ischias, verwen-
det man, zuweilen in recht grausamer Weise, die faradische Bürste.
V. FßANKL-HocHWAET hat ciue Doppelpinsel-Elektrode construirt zur Behand-
lung der Trigeminus-Neuralgien. Der faradische Strom ist besonders im Gesicht
ganz ausserordentlich schmerzhaft; ganz abgesehen davon, gebe ich bei Neu-
ralgien dem galvanischen Strom bei weitem den Vorzug. Die Methode wird
späterhin geschildert werden.
4. Die Behandlung mit dem franklinschen Strom.
Am häufigsten kommen folgende beiden Methoden zur Anwendung:
a) Das frank lins che Bad mit oder ohne Ableitung. Der Kranke nimmt
auf dem Isolirtisch Platz, mit welchem der eine Pol der Influenzmaschine in
Verbindung gesetzt ist und wird nunmehr zwei, drei, fünf Minuten lang mit
Elektricität geladen. Die Entladung vollzieht sich entweder durch die um-
gebende Luft, oder sie wird künstlich bewerkstelligt durch eine Spitzen- oder
Plattenelektrode oder durch die Hand des Arztes, und zwar gewöhnlich an
denjenigen Körperstellen des Kranken, welche der Sitz eines Schmerzes oder
einer Lähmung sind. Ist die ableitende Elektrode mit dem anderen Pol der
Influenzmaschine verbunden, so vollzieht sich der Ausgleich der aus dem Körper
ELEKTROTHERAPIE. 521
des Kranken strömenden Elektricität mit der der Elektrode entströmenden
unter gewissen Licliterscheinungen und man spricht dann von einem Büscliel-,
bezw. einem Funkenstrom. Wird der Büschelstrom auf den Kopf dirigirt,
so hat der Kranke ein Gefühl, welches an eine Luft- oder Winddouche erin-
nert, daher bezeichnet man diese Art der Franklinisation mit dem Namen der
franklinschen Douche.
Den einzelnen Sitzungen wird von den verschiedenen Elektrothera-
peuten eine verschiedene Dauer zugemessen; manche begnügen sich mit fünf
Minuten, andere bringen es auf eine halbe Stunde. Meine eigenen Erfah-
rungen gehen dahin, dass man mit ganz geringen und kurzen Einwirkungen
mit dem franklinschen Strom die besten Erfolge erzielt — ganz analog dem
Verhalten des galvanischen Stromes. Es hat sich mir sogar das Bedürfnis
herausgestellt, die Ladung, welche die Influenzmaschine bei ganz auseinander-
gestellten Conductorkugeln liefert, noch zu verringern, da ich beobachtet habe,
dass diese Ladung auf gewisse feinorganisirte Naturen zu intensiv wirkt. Zu
diesem Zweck stelle ich die Conductorkugeln auf eine Entfernung von 5 mm
von einander, so dass bei functionirender Maschine ein fast ununterbrochener
Funken überspringt. Der grösste Theil der entwickelten Elektricität gleicht
sich so durch die Conductoren wieder aus, und der auf den Kranken über-
gehende Strom ist nur ein kleiner Bruchtheil des Ganzen. Will man ableitend
wirken, so legt man die Hand auf den betreffenden Körpertheil des Kranken,
in welchem Falle ein leises, durch den unterbrochen überspringenden Strom
erzeugtes Vibriren gespürt wird, oder eine grossplattige Elektrode, welche durch
ein langes Kabel mit dem Erdboden in Verbindung steht. Diese Methode,
welche an dieser Stelle meines Wissens zum erstenmal beschrieben worden
ist, und welche ich als abgeschwächte Franklinisation bezeichnen
möchte, hat mir bei allerhand Schmerzzuständen vortreflliche Dienste geleistet.
Auch ein Fall von nervöser Schwerhörigkeit, welcher mit der alten Methode
der Franklinisation lange Zeit behandelt und bedeutend gebessert worden war,
nunmehr aber einen Stillstand erfahren hatte, machte unter der neuen Me-
thode plötzlich wieder erhebliche Fortschritte.
Für die Behandlung mit dem franklinschen Bade und den eben an-
geführten Variationen, welche man auch alle unter dem Namen der „all-
gemeinen Franklinisation" zusammenfassen könnte, eignen sich die meisten
der Neurosen, insbesondere Hysterie und Neurasthenie, und alle mehr oder
weniger von diesen abhängige Schmerzzustände. Einen bisher kräftigen Mann
z. B. der sich geistig überarbeitet hat und an Kopfschmerzen leidet, würde
ich 2 Minuten lang dem franklinschen Bade aussetzen, von welcher Zeit V2
Minute auf die Kopfdouche entfallen dürfte. Eine durch Sorgen aller Art, event.
Blutverluste oder Krankheiten in dem Ernährungszustand stark herabgekom-
mene Frau könnte mit 1 Minute langem franklinschen Bade und während
dieser Zeit auf alle Körpertheile geleiteten Büschelstrom behandelt werden.
Dagegen würde ich bei sehr geschwächten Individuen und alten Neuralgien,
Schmerzzuständen aller Art u. s. w. die abgeschwächte Franklinisation gebrauchen.
Die Sitzungen dürften mit Pausen von 2 bis 3 Tagen wiederholt werden.
h) Die franklinschen Funken. Während den eben beschriebenen
Methoden der Franklinisation sämmtlich die Idee des franklinschen Bades,
d. h. einer allgemeinen Franklinisation des ganzen Körpers zu Grunde liegt,
wobei der gleichfalls verwandte Funken- oder Büschelstrom oder die ableitende
Hand nur Nebenrollen spielen, werden die franklinschen Funken im besondern
dazu verwandt, um entweder in torpiden Muskelatrophien, die durch Druck,
Traumen, Ueberanstrengung u. s. w. entstanden sind, den Lebensprocess an-
zuregen, oder um Haut-Anästhesien, wie sie nach Durchnässungen und Er-
kältungen entstehen, nach Neuralgien zurückbleiben oder im Gefolge von cen-
tralen Nervenleiden auftreten, zu beseitigen.
522 ELEKTROTHERAPIE.
In den genannten Fällen düiite es kaum ein besseres Heilmittel geben,
wie die franklinsclien Funken. Ich habe es in einem Falle von Atrophie und
Lähmung des Adductor pollicis der rechten Hand, die bei einem Schlosser durch
Druck und Ueberanstrengung entstanden war, gesehen, wie durch eine energische
locale Funkenbehandlung, die bis zu 6 und mehr Minuten ausgedehnt wurde,
eine locale Entzündung der Haut und des darunter liegenden Muskels hervor-
gerufen wurde, die sich noch zwei Tage nach der Franklinisation durch Röthe
und so starke Schwellung auszeichnete, dass die den Adductor pollicis früher
einnehmende Grube mehr wie ausgefüllt erschien. Dabei war die Schwellung
wenig schmerzhaft und störte das Allgemeinbefinden nicht. Als sie sich nach
etwa drei Tagen verloren hatte, zeigte sich die Kraft der Hand um mehrere
Grade des Dynamometers erhöht. Durch mehrere solche in langen Zwischen-
räumen erfolgte energische Reizungen gelang es allmählich, die kranke Hand
zwar nicht bis zur normalen Function, aber doch bis zur Arbeitsfähigkeit
zurückzuführen.
5. Wahl der Stromesart und Engelskjön's Methode.
Die Gesetze über die im einzelnen für elektrische Behandlung überhaupt
geeigneten Krankheitsfall anzuwendende Stromesart sind noch so wenig wissen-
schaftlich festgestellt, dass schliesslich ein jeder Elektrotherapeut auf die eigene
Beobachtung und Erfahrung verwiesen werden muss. In welchen Fällen die
Wahl der Stromesart keinem Zweifel unterliegt, das soll noch im nächsten
Abschnitt angegeben werden; aber die Schwierigkeit, in den complicirten chro-
nischen Fällen von Neurasthenie, Hirn- und Rückenmarkskrankheiten das
richtige zu treffen, kann durch diese Zeilen kaum vermindert werden.
Und gesetzt nun, der Locus morbi wäre unzweifelhaft erkannt und
bestimmt, so ergeben sich für die Wahl der Stromesart noch andere Schwierig-
keiten, die durch die Ursache bedingt sind, dass die centralen Theile des
Organismus in ihrer Beziehung zum elektrischen Strom zu den peripheren
Theilen in einem gewissen Gegensatz stehen. Diese Thatsache, welche, soviel
ich weiss, zuerst von Engelskjöx (Christiania) präcisirt worden ist, und die
jeder beolDachtungsfähige Elektrotherapeut wieder constatiren kann, hat von
Seiten der Physiologen noch gar keine Beachtung gefunden, und dennoch ist
sie im höchsten Maasse derselben werth.
Ich habe einen acuten Fall von Schwäche, An- nnd Parästhesien der unteren Ex-
tremitäten gesehen, der durch Erkältung entstanden war nnd sich durch eine einmalige
Galvanisation beider Beine (durch das Kniegelenk, O'ö MA jederseits 1 Minute) in ganz auf-
fallender Weise besserte. Während nunmehr eine abwartende Behandlung das richtige ge-
wesen wäre, event. eine Wiederholung der gleichen Application drei bis vier Tage später,
elektrisirte ich am zweiten Tage danach die Lendengegend mit 0'2 stabil eine Minute,
und die Folge davon war eine fast sofortige Verschlechterung des Zustandes, welche
späterhin nur sehr schwer wieder gut zu machen war. Aehnliche Fälle, bei denen bei an-
scheinend centralem Sitz des Leidens eine periphere Galvanisation erfolgreich war, könnte
ich in grosser Zahl anführen, aber auch das umgekehrte ist der Fall, wie schon die älteren
Elektrotherapeuten, insbesondere Benedikt beobachtet haben.
ExGELSKJöx glaubte, ein ziemlich sicheres Criterium für die richtige
Stromwahl in einer G e s i c h t s f e 1 d p r ü f u n g gefunden zu haben. Der richtige
Strom sollte das Gesichtsfeld verengern, der falsche erweitern. (Ärch. f. Psych.
1884, XV. und XVI.) Ich kann die Angaben Engelskjön's weder bestätigen
noch bestreiten, da ich keine diesbezüglichen Untersuchungen gemacht habe.
Keinesfalls genügen so oberflächliche Nachprüfungen, wie sie die von Ziejissen-
sche Schule für gut befunden hat, um so langjährige Arbeit wie die von
Engelskjön zu vernichten. Die Sache hat so grosse Wichtigkeit, dass eine
erneute Bearbeitung der Mühe werth wäre.
ELEKTROTHERAPIE. 523
B. Specielle Elektrotherapie.
(Elektrotherapie der einzelnen Krankheiten.)
1. Die IVetiralgien.
Es ist von der grössten Wiclitigkeit, die Diagnose der Neuralgie, d. h. einer
nicht auf organischen Processen basirenden Erkrankung sicher zu haben. Man
vergesse ja nicht, dass im Yerlaufe der Tabes Symptome vorkommen, die denen der
genuinen Neuralgien auf ein Haar gleichen. Auch Hirn- und Rückenmarks-Tumoren,
syphilitische Osteophyten, Diabetes u. s. w. können ähnliche Symptome hervorbringen.
Es soll damit nicht gesagt sein, dass man diese symptomatischen Neuralgien nicht
ebenso wie die genuinen in der zu schildernden Weise behandeln kann, aber die
Prognose ist eine schlechtere ; der Gedanke, dass das Grundleiden die Neuralgie
unterhält, muss die Auffassung der Wirkungsbreite des elektrischen Stromes be-
herrschen.
Die für die Elektrotherapie günstigsten Neuralgien sind
diejenigen, welche nach Durchnässungen und Erkältungen ent-
stehen, und welche Personen betreffen, die im allgemeinen nicht
zu den Constitutionell-Kranken (Diabetes, Syphilis, Scrophulose etc.) zu
rechnen sind. Liegen indess constitutionelle Erkrankungen vor, so müssen die
uns zur Verfügung stehenden betreffenden anti-constitutionellen Mittel der Elektri-
cität zur Hilfe kommen.
a) Die Trigeminus-Keuralgie. Der häufigste Sitz derselben ist der nerv,
supraorbitalis oder der nerv, infraorbitalis. Im erstem Falle findet man zur Zeit der
Anfälle oder auch ausserhalb derselben einen typischen Schmerzdruckpunkt an der
Stelle der Incisura supraorbitalis, bei der letztern über dem Foramen infraorbitale,
durch welches der Nerv an die Oberfläche des Gesichtes tritt. Diese beiden Punkte
wählt man zur Application der differenten Elektrode, als welche ich mir bei Neu-
ralgien meist die Anode ausersehe, obwohl auch die Kathode oftmals heilend wirkt.
Beide Elektroden haben die Grösse von 50 cni^ und müssen biegsam und mit weichem
Moos gepolstert sein. Die Kathode wird dem Nacken angelegt, die Anode dem betreffen-
den Theil des Gesichtes angebogen und angedrückt, so dass der betreffende Schmerzpunkt
unter ihr liegt. Alsdann wird bei Einschaltung von 3 bis 6 Elementen die Kurbel
des Rheostaten so lange gedreht, bis das Galvanometer 0'2 MA anzeigt. Die Hand
des Arztes bleibt au der Kurbel, um bei Yerminderung des Widerstandes der Haut
den Rheostaten so zu dirigiren, dass die Stromstärke 0-2 MA nicht überschreitet.
Die Sitzung dauert eine Minute und wird frühestens am zweiten Tage wiederholt.
Bei der Reaction des Organismus auf den elektrischen Strom kommt es vor,
dass eine Steigerung der Beschwerden eintritt und lange Zeit andauert. Wenn diese
Steigerung, welche ich in meinen „Elektrotherapeutischen Studien" als „erste Reac-
tion" bezeichnet habe, länger als etwa 12 Stunden gedauert haben sollte oder sogar
an dem für die zweite Sitzung bestimmten Tage noch bestehen sollte, so thut mau
gut, dieselbe noch einen oder zwei Tage aufzuschieben und dann erst wieder in der
angegebenen Art zu elektrisiren.
Keinesfalls darf in solchen Fällen eine folgende Elektri-
sation früher ausgeführt werden, ehe nicht die erste Reaction der
vorhergehenden Elektrisation seit geraumer Zeit (etwa 24 Stun-
den) abgeklungen ist. Die strenge Befolgung dieser eine genaue Kranit en-
Beobachtung voraussetzenden minutiösen Regel kann nicht dringend genug geratheu
werden. — Die Resultate der Galvanisationen mit stärkeren Strömen als etwa 0*2
(gegen Modificationen zwischen 0'5 und 0*1 MA ist nichts einzuwenden), wie sie die
ältere Methode anwandte, sind bei weitem nicht mit den therapeutischen Erfolgen
dieser minimalen galvanischen Ströme zu vergleichen.
h) Die Ischias. Seltsamerweise reagirt auch die Ischias in den allermeisten
Fällen ebenso vorzüglich auf diese minimalen Ströme von etwa 0"2 MA, am besten
524 ELEKTROTHERAPIE.
in den acuten, aber ganz zufriedenstellend auch in den chronischen Fällen, so dass
ich bereits in der Lage gewesen bin, ganz chronische Fälle, die länger wie ein Jahr
gedauert hatten, in verhältnismässig kurzer Zeit mit dieser Methode zu heilen.
Fast unglaublich klingen diese Angaben, aber es mehi'en sich bereits die Be-
stätigungen meiner Beobachtungen von Seiten anderer Autoren ; wer's nicht glaubt,
enthalte sich lieber aller theoretischen Erwägungen für und wider und schreite zum
Yersuch.
Als Ansatzstelle für die Anode wähle ich mir immer die Schmerzdruckpunkte
aus, welche im Verlauf des Ischiadicus und der Peronei zuweilen in grosser Zahl
gefunden werden. Man mache es sich zur Regel, in jeder Sitzung die Behandlung
nur eines Schmerzpunlvtes, welcher gerade der bedeutendste zu sein scheint, vor-
zunehmen. Der galvanische Strom von 0'5 bis O'l MA Stromstärke und einer Minute
Dauer scheint seltsamerweise gerade hinreichend stark zu sein, um der krankhaft
veränderten Nervensubstanz einen so grossen Anstoss zu geben, dass damit eine
normale Lagerung der Moleküle angebahnt wird. Die erste Modification wird viel-
leicht durch den zweiten elektrischen Eingriff befestigt oder verstärkt; keinesfalls
möge man auf die Idee kommen, im weiteren Verlauf der Behandlung die Strom-
stärke zu erhöhen. Das Gegentheil wäre richtiger.
In ganz ähnlicher Weise behandelt man die weniger häufigen, an Brust, Bauch
und den Ober-Extremitäten vorkommenden Neuralgien: auf den spontan oder
auf Druck am meisten schmerzenden Punkt setzt man die Anode, die Kathode auf irgend
einen indifferenten Körpertheil, schaltet 2 MA ein und lässt den Strom eine Minute lang
wirken.
Der Bereich der Wirksamkeit dieser Methode erstreckt sich auch auf andere schmerz-
hafte Zustände, welche zwar nicht den reinen Charakter der Neuralgie mit den Schmerz-
intervallen u. s. w. tragen, aber bezüglich der Entstehung durch rheumatische Ursachen
oder durch Ueberanstrengung der Theile gewisse Analogien dazu bieten. Dazu gehören z. B.
alle rheumatische Affectionen der Kopfhaut, bezw. der Kopfnerven, derNerven
des Nackens und der Schulter, welche in dem Register der schmerzhaften Krankheiten
eine so grosse Rolle spielen. Wer sich die eben beschriebene Methode und ihre innere Be-
deutung eingeprägt hat, kann bei der Behandlung dieser Zustände kaum einen Fehlgriff
thun. Sollten sich die schwachen galvanischen Ströme einmal nicht bewähren, so gehe man
zum franklinschen Bad über und lasse den Büschelstrom etwa eine Minute auf den schmer-
zenden Theil einwirken.
Die schmerzhaften Affectionen in Nerven, Muskeln, Bändern, welche nach Ueber-
anstrengung in Folge des Hebens zu schwerer Lasten oder durch einseitige Hantirung mit
denselben Instrumenten (Plätteisen, Hammer, Federhalter, Violinbogen) auftreten, also die
sensiblen Formen derjenigen Zustände, welche man als coordinatorische Beschäftigungs-
neurosen bezeichnet, sind gleichfalls dankbare Objecte für die Behandlung mit diesen, sehr
schwachen Strömen. Man hüte sich, die Elektrisationen zu schnell auf einander folgen zu
lassen, und mache lieber Pausen von 1, 2 und mehr Tagen zwischen den einzelnen
Sitzungen.
Es ist bereits erwähnt worden, dass es der Mühe werth ist, auch die sympto-
matischen Neuralgien und neuralgiformen Schmerzen z. B. bei der Tabes der gleichen
Behandlung zu unterziehen. Ich habe in dieser Beziehung prächtige Erfolge zu verzeichnen,
die mir früher unerhört erschienen wären. Sobald es gut geht, setze man für einige
Zeit, etwa acht bis zehn Tage, die Elektrisationen aus und beginne dann vorsichtig von
neuem. Zur Faradisation mit der Bürste, etwa nach der Methode von Frankl-Hochwart, die
man u. a. in meiner Elektroteraphie beschrieben findet, kann ich nur dann rathen, wenn
die Galvanisation und Franklinisation fehlgeschlagen haben sollten ; immerhin hat auch
diese Methode viel für sich. Duchenne leistete mit ihr ausserordentliches.
2. Die peripheren Lähmungen.
Die grössere Leistungsfähigkeit der schwachen galvanischen
Ströme (0"5 — 0'2 MA) bei den peripheren Lähmungen gegenüber den
früher gebrauchten stärkeren Strömen (ro MA und mehr) darf ins-
besondere für die frischen Fälle als erwiesen betrachtet werden;
für die alten torpiden, welche sich selbst überlassen waren, werden
stärkere Ströme zweckmässiger sein, für diejenigen alten Fälle
aber, welche von Anfang an eingreifenden Elektrisations- ■ und
ELEKTROTHERAPIE. 525
Massagecuren unterzogen wurden, wird sich vielleicht die Noth-
wendigkeit der Anwendung noch geringerer Ströme herausstellen.
Bei ganz frischen Fällen, ganz gleich, ob dieselben durch ein Trauma (Radialis-
vulgo Schlaflähmung, Lähmung nach Schulterluxation, durch feste Verbände, Wunden
u. s. w. oder durch rheumatische Einflüsse (rheumatische Facialislähmung) oder
durch Intoxication (Bleilähmung) entstanden sind, kann vor einer rigorosen Behand-
lung, ganz gleich, ob dieselbe mit dem schmerzhafte Zuckungen auslösenden fara-
dischen Strom oder von den rohen Händen eines übereifrigen Masseurs ausgeführt
wird, gar nicht genug gewarnt werden. Ich habe eine Reihe von Lähmungen des
Plexus brachialis nach Schulterluxation und festem Yerband gesehen, welche sofort
nach Beseitigung des Verbandes eine energische Massage erfuhren. Nunmehr ist
Jahr und Tag darüber hingegangen, die betreffenden Glieder sind immer noch ge-
lähmt und werden es wahrscheinlich auch bleiben ; bisher hat mir auch der elek-
trische Strom in solchen künstlich-schwersten Fällen seine Hilfe versagt. Dagegen
sah ich bei einem Officier, der sich durch Sturz mit dem Pferde eine Luxation des
linken Schultergelenks und eine totale Lähmung des linken Armes zugezogen hatte,
imter der nachher zu beschreibenden sehr gelinden galvanischen Behandlung inner-
halb von vier Wochen (fünf Wochen nach dem Sturz) eine derartige Besserung der
Function, dass die linke Hand, die am ersten Tage das Dynamometer nicht zu
bewegen vermocht hatte, 125° drücken konnte.
Etwas ähnliches ist von den rheumatischen Facialisparesen zu sagen.
Hierbei wird gewöhnlich nicht massirt sondern elektrisirt. Der alte, staubige Induc-
tionsapparat wird hervorgeholt, und Arzt und Patient haben ihre Freude daran,
wenn die Muskeln recht energisch zucken. Einer geringen Besserung in den näch-
sten Tagen folgen bald Schmerzen und eine Verschlechterung der Function ; der
Zustand ist schlimmer wie je. Mögen doch diese Zeilen zur Warnung dienen vor
solchen schweren, gar nicht zu verantwortenden Eingriffen. Es darf nicht in Abrede
gestellt werden, dass sich gewisse dieser Fälle auch für die Behandlung mit dem
faradischen Strom eignen, und ein geschickter Elektrotherapeut wird sicherlich auch
damit seine Erfolge haben. Mein Rath geht indessen dahin, den faradischen Strom
bei Facialislähmungen ganz bei Seite zu lassen und sich der folgenden Me-
thode einer stabil-labilen Galvanisation zu bedienen:
Ist die gelähmte Gesichtshälfte deutlich entzündet, oder zeigt sie durch spon-
tane oder Druck-Schmerzhaftigkeit kleinere tieferliegende Entzündungen an, so em-
pfiehlt sich eine stabile Behandlung des Facialis-Stammes unterhalb der Ohrmuschel:
Dort erhält die Anode ihren Platz, die Sitzung dauert bei 0-2 MA eine Minute und
wird nach zwei Tagen wiederholt. Sind alle Reizerscheinungen geschwunden, so
kann man allmählich zu einer labilen Behandlung übergehen, und zwar derart, dass
man die Kathode von 50 cm ^ auf das geschlossene kranke Auge setzt (die Anode ruht
im Nacken), einen Strom von 0'2 MA einschaltet und dann einige langsame, kreis-
förmige Striche über dem Auge und dessen Umgebung, Stirn und Wange ausführt.
Die Sitzung dauert eine Minute und wird mit Pausen von 2 Tagen wiederholt.
Auf diese Weise habe ich viele Facialisparesen in sehr kurzer Zeit heilen gesehen.
Erwähnen muss ich dabei, dass ich es in neuester Zeit absichtlich unterlasse, der Behand-
lung eine elektrodiagnostische Untersuchung vorauszuschicken, weil ich die Erfahrung ge-
macht habe, dass der mit jener verbundene starke Reiz, welcher die kranken Nerven trifft,
auf den Gang der Heilung einen unheilvollen Einfluss ausübt. Vielleicht ist es sogar nicht
unberechtigt, die Frage auf zuwerfen, ob nicht manche jener Fälle von schwersten Formen
der Entartungsreaction ein Kunstproduct zu eifriger elektrodiagnostischer Untersuchungen
sein könnten ; ich habe nach ganz bestimmten Erfahrungen grosse Neigung, diese Frage
mit „ja" zu beantworten.
Die gleiche Methode der stabil -labilen Galvanisation passt für die oben
angeführten Formen der Lähmung an den Extremitäten ; die Anode wird am besten
dem Haupt-Nervenstamm oder dem Theil des Rückenmarks aufgesetzt, zu welchem
das zu behandelnde kranlie Nervengebiet gehört. Gegenüber dieser Methode der
Galvanisation halten andere Methoden der Faradisation und Franklinisation, wie sie
526 ELEKTROTHERAPIE.
bei den peripheren Lälimungen angewandt wurden und werden, bezüglicli der Wirli-
samkeit keinen Vergleich aus. Sollte man sich doch zu deren Anwendung versucht
fühlen, so halte man jedenfalls an dem Princip dieser Methode fest : sehr schwache
und kurze Ströme, seltene Sitzungen.
3. Die koordinatorischen, sogenannten Bescliäftigungsneurosen.
Die Ursachen dieser Neurosen und ihre verschiedenen Erscheinungsformen müssen
als bekannt vorausgesetzt werden. Auch dies darf wohl als bekannt gelten, dass
diese besagten Neurosen als eine Crux medicorum aufgefasst wurden, welche gewöhn-
lich allen Behandlungsmethoden trotzten, und dass eine gewisse Laienkunst sich aus-
gebildet hat, welche durch Gymnastik und Massage respectable Erfolge in diesen
Fällen erzielt.
Der Elektricität konnte man bisher bezüglich ihrer Wirksamkeit bei Beschäf-
tigungsneurosen wie Schreibkrampf u. dgl. wenig rühmliches nachsagen. Umso
grösser ist meine Freude, diesen unscheinbaren, sehr schwachen galvanischen Strömen
auch bei diesen Leiden eine ausserordentliche Leistungsfähigkeit nachrühmen zu
können. Man halte sich ganz an die eben geschilderte Methode, und lasse sich
nicht zu stärkeren Eingriffen verführen. Gerade in den sehr schwachen Reizen liegt
das Geheimnis der Wirkung. Eine Enthaltung von der gewohnten Beschäftigung,
welche die Krankheit hervorgebracht hat, ist dem Patienten jedenfalls zu empfehlen.
4. Gewisse Magenaffectionen.
Die Methode der Behandlung ist die: Anode von 50 cw^ über dem Magen,
Kathode gegenüber auf der unteren Brustwirbelsäule, 0'5 — 0'2 MA, eine Minute,
einen bis zwei Tage Pause zwischen den einzelnen Sitzungen. Die Wirkung dieser
Behandlung bei passenden Fällen ist überraschend. Leider ist es mir bis heute nicht
möglich, ganz bestimmte Bilder von Magenerkrankungen auszumalen, für welche der
galvanische Strom angezeigt ist; dieses ganze Gebiet bedarf sehr der Erforschung;
jeder damit zu behandelnde Fall muss vorher bezüglich des Chemismus und der Ver-
dauungsfälligkeit des Magens untersucht werden, um allmählich eine Uebersicht da-
rüber zu bekommen, in welchen Fällen sich dieser galvanische Strom wirksam erweist
und in w^elchen nicht.
Vor der Hand möchte ich rathen, den galvanischen Strom in der geschilderten
Weise in folgenden Fällen, und zwar vor allen anderen Mitteln anzuwenden:
1. Bei leichten Verdauungsstörungen nervöser Natur, ohne Veränderung des
Chemismus, Magendrücken bei geringster Nahrungsaufnahme, Luftaufstossen, Parästhe-
sien des Magens,
2. bei Neuralgien und neuralgiformen Schmerzen, zu versuchen auch bei den
Crises gastric_[ues der Tabüver,
3. bei allen Atonien der Magen- und Darm-Musculatur bei den verschiedensten
Formen der Magen- und Darm-Ektasien, wie sie bei Viel-Essern und -Trinkern,
nach acuten Magen- und Darrakrankheiten, Typhus, Ruhr u. s. w. vorkommen. —
Die Erfolge, welche ich bei den genannten Erkrankungen mit dem galvanischen
Strom erzielt habe, gehören zu den schönsten, die mir die Elektrotherapie überhaupt
geboten hat. Liegt einer Obstipation eine Darm-Atonie zu Grunde, so kann auch
diese durch die winzigen galvanischen Eingriffe, oft in wenigen Wochen, gehoben
werden.
Es muss hierbei noch bemerkt werden, dass Störungen wie die eben genannten
in dem Gesammtbilde der Neurasthenie vorkommen ; man thut wohl auch nicht Un-
recht, dieselben als neurasthenische Symptome zu bezeichnen. Thatsächlich liegt in-
dessen das Verhältnis nicht selten so, dass in Magen und Darm die auch oft noch
so unscheinbare Primärkrankheit steckt, welche den gewohnten robusten Mitteln, die
gegen solche Leiden gewöhnlich angewandt werden, mit Hartnäckigkeit trotzt, aber
gegen diese feinen galvanischen Ströme vortrefflich reagirt. So habe ich neulich
noch ein Bild der Neurasthenie, welches seit einer vor 4 Jahren durchgemachten
schweren Ruhr bestand, und welches von Seiten der Digestionsorgane leicht ein-
ELEKTROTHERAPIE. 527
tretende Dj'spepsie, Ueberempfindliclikeit gegen gewisse Speisen und Getränke, be-
sonders gegen Alkoholika, zuweilen Magendrücken, Ructus, unregelmässigen Stuhl,
meist Obstipation, öfters mit Diarrhoe abwechselnd, darbot, unter diesen minimalen
Strömen, auf Magen und Darm angewandt, in wenigen Wochen in den Hauptzügen
verschwinden gesehen. Ohne besondere Behandlung schwand gleichzeitig der Kopf-
druck, über den der Kranke geklagt hatte, das lästige Ohrensausen, die Empfindlichkeit
der Augen gegen helles Licht und einige andere Symptome, welche wohl als reflec-
torisch gedeutet werden müssen.
5. Die Neurasthenie und einige Symptome der Neui-asthenie.
Es gibt eine Elektrisationsmethode, welche, ähnlich der Hydrotherapie, die
Neurasthenie als Ganzes auffasst und sie auch als Ganzes behandelt : das ist die
allgemeine Faradisation. Die Art ihrer Anw^endung ist bereits auf p. 520
beschrieben worden. Besonders schlechtgenährte oS^eurastheniker mit schlaffer Haut
und Muskulatur und träger Verdauung passen für die allgemeine Faradisation, bei
welcher ohne Anstrengung des Willens von Seiten des Kranken die Muskeln in
Function gesetzt werden, wodurch eine energische Anregung der Circulation und des
Stoffwechsels veranlasst wird.
Aber auch auf Neurastheniker anderer Constitution mit anscheinend guter
Ernährung wirkt die allgemeine Faradisation zuweilen vortrefflich, so dass bei ihrem
Einfluss auf die Störungen im Centralnervensystem einige Momente mitspielen müssen,
welche unserem forschenden Auge verborgen sind. Vorläufig helfen wir uns damit,
dass wir solche unerklärlichen Wirkungen auf Reflexvorgänge zurückführen, die von
dem elektrischen Strom in den Nervenendigungen der Haut und der Muskeln aus-
gelöst und weiter getragen werden.
Bei allen subjectiven Störungen des Wohlbefindens, welche w'ii' als neura-
sthenische Symptome zu bezeichnen gewohnt sind, müssen wir uns stets die
Frage vorlegen, ob dieselben nicht auf ein Grundleiden zurückgeführt w^erden können.
Es ist dies schon vorhin an einem Beispiel gezeigt worden. Mancher Kopfschmerz
widersteht jeder elektrischen Behandlung, w^eil er ein Reflexsj'^mptom von Seiten des
Magens oder bei Frauen von den Genitalorganen ist. Lassen sich solche Beziehungen
nicht auffmden, hat man es also mit einem wie auch immer gearteten Kopfschmerz
zn thun, der etwa durch Ueberanstrenguug derjenigen Theile entstanden ist, in welche
man den Sitz des Leidens verlegt, so wird eine Galvanisation des Kopfes in der
bekannten Weise — Anode im Nacken, Kathode auf der Stirn, je nach Lage von Schmerz-
punkten event. wechselnd — vortreffliche Dienste thun. Oft genügt dann schon eine
einzige Galvanisation, um das üebel auf lange Zeit zu verscheuchen.
Findet man für die Schlaflosigkeit keine besondere Ursache, so kann
man die „Galvanisation am Halse" versuchen, indem man bei 0'5 — 0"2 MA
die Anode im Nacken, die Kathode (50 cm^) vorn am Halse aufsetzt. Ich habe Fälle
gesehen, wo dieses Mittel vortrefflich wirkte.
Sehr wirksam finde ich auch diese schwache Galvanisation bei jener Erregung
des Herzens, welche als Herzklopfen (nervöses Herzklopfen) dem Krauken un-
geheuer lästig wird. 0^2 MA ist für diesen Fall schon fast zuviel; Die Anode steht
im Nacken, die Kathode über dem Herzen; ja keine zu schnell auf einander folgende
Sitzungen! Jedoch soll hier nochmals darauf aufmerksam gemacht werden, dass die
Herzpalpitationen nicht selten ein Reflexsymptom von Seiten der kranken Digestions-
organe sind.
Was die Impotenz anlangt, so mag man in denjenigen Fällen, wo nach
jahrelanger Masturbation Schlaff'heit von Penis und Scrotum, sowie eine mehr oder
minder ausgeprägte Anästhesie eines Theils dieser Organe vorliegt, die Galvanisation,
die gelinde faradische Bürste, die abgeschwächte P'ranklinisation (vgl.p. 521) gebrauchen.
Das wichtigste indess scheint mir in solchen Fällen die körperliche und geistige
Diätetilv, welche dem Kranken anzuempfehlen ist. Nach jahrelangen Excessen in
venere längere Enthaltsamkeit, vorsichtige Wahl des Gegenstandes der Liebe, der
528 ELEKTROTHERAPIE.
Zeit und des Ortes des Liebesgemisses. Es gibt unendlich viele junge Leute, und
ich rechne dieselben sogar zu den feiner organisirten, denen es unmöglich ist, mit
der ersten besten Prostituirten, die sie auf der Strasse finden, den Coitus zu voll-
führen. Geistig sehr occupirte Leute sind häufig psychisch impotent — man sagt,
Newton wäre es gewesen. Nicht jeder Ort, nicht jede Tageszeit gibt die zur Be-
gattung erforderliche Stimmung. Man suche seine diesbezügliche individuelle Anlage
zu erforschen und handle danach! Der Arzt kann in solchen Fällen mehr durch seinen
Kath als durch seine Mittel wirken, wenngleich ich sagen muss, dass ich einige Fälle
kenne, in denen die Elektrisation den Kranken vortreffüche Dienste geleistet hat.
6. Gehirn- und Rückenniarkskranklieiten.
Nach meinen Erfahrungen ist die Elektricität immerhin noch eines der besten
Mittel, welche wir kenneu, bei diesen Krankheiten. Aber nicht dringend genug
kann ich vor einer übertriebenen Anwendung derselben warnen; besonders die direct
auf Gehirn oder Rückenmark applicirten Ströme, seien sie galvanisch, faradisch oder
franklinisch; sind mit grösster Vorsicht zu gebrauchen. Eine einzige unbedachte zu
starke Elektrisation kann mehr schaden, als eine halbjährige Behandlung nachher
wieder gut zu machen im Stande ist.
Vor einiger Zeit behandelte ich eine Dame mit ausgesprochener Tabes. Sie
litt besonders an sehr starken, lancinirenden Schmerzen in den Beinen und einem
unsicheren, ataktischen Gang. Ich wandte die Galvanisation durch beide Kniee an
und hatte die Freude, dass die Schmerzen bereits nach den ersten Sitzungen auf-
hörten. Obwohl die Patientin in Folge dessen bessere Nächte hatte, so war ihr
Allgemeinbefinden doch nicht so wie ich es wünschte, und ich beschloss, demselben
durch ein franklinsches Bad (vgl. p. 520) zu Hilfe zu kommen. Dasselbe dauerte
einschliesslich einer kurzen Anwendung des Büschelstromes auf den ganzen Körper
zwei Minuten. Wenige Stunden nach dieser unglücklichen Franklinisation stellten
sich die alten Schmerzen, welche bereits gegen vier Wochen ausgeblieben waren, mit
vorher nicht gekannter Heftigkeit wieder ein. Die Patientin musste das Bett hüten,
litt unsäglich und durfte sich erst nach etwa acht Tagen das Zugeständnis machen,
dass sie die Attaque überwunden hätte. Aehnliche Fälle mögen wohl öfters in der
Praxis der Elektrotherapeuten und der praktischen Aerzte vorkommen. Wie viele
der Fälle, die uns als schreckliche Leiden imponiren, mögen durch zu robuste ärzt-
liche Eingriffe künstlich entstanden sein! Also Vorsicht!
Die erwähnte Dame, welche schwächlich und offenbar sehr elektrosensitiv ist,
behandle ich nunmehr mit Galvanisation der Kniee, die etwa alle acht Tage vor-
genommen wird, und schiebe hin und wieder eine abgeschwächte Franklinisation ein.
Auf diese W^eise hebt sich ihr Allgemeinbefinden und Gehfähigkeit von Woche zu Woche
und ich darf wohl schliesslich auf ein relativ befriedigendes Endresultat hoffen.
Diese Galvanisation der Kniee (Anode Kniekehle, Kathode über- oder unter-
halb der Patella, 50 cm^, 1 Min., 0*2 MA) kann ich in den mit lancinirenden Schmerzen
verbundenen Fällen von Rückenmarks-Krankheiten sehr empfehlen. Aber man lasse
es dann bei dieser einen, bezw. zwei Applicationen bew^enden. In Pausen von acht
Tagen kann man dann auch eine centrale Galvanisation einschieben. Für die Be-
handlung von Gehirnkrankheiten wird man sich aus diesen Angaben, welche meinen
augenblicklichen Standpunkt m dieser Frage kennzeichnen, unschwer die Regel ab-
leiten können, wenn man meiner Methode folgen will.
7. Die Hysterie.
Vor mehreren Jahren habe ich einen Fall schwerster Hystero-Epilepsie bei
einem jungen Mädchen durch das frauklinsche Bad in etwa zehn Sitzungen vollkommen
geheilt. Auch in anderen ähnlichen Fällen schien mir, ganz analog den Beobachtungen
von Chaecot und Vigoiiroux, das frauklinsche Bad sehr nützlich zu sein; jedoch
hüte man sich vor zu häufigen AViederholungen! Die vierte imd fünfte Franklinisation
kann den Erfolg der drei ersten umwerfen. Im allgemeinen wird es vorzuziehen
ELEKTROTHERAPIE. 529
sein, sich des Verfahrens der „abgeschwächten Franklinisation" bei der Hysterie zu
bedienen, wenn man dieses oder jenes Symptom, wie den Globus und Clavus und
die Ovarie mit dem frankUnschen Strom behandeln will; was den galvanischen Strom
anlangt, so ist der schwächste Strom noch nicht schwach genug, so dass mit 0"1 und
0'2 MA das beste erreicht werden kann, wenn überhaupt etwas zu erreichen ist.
Die Behandlung der hysterischen Aphonie mit der faradischen Bürste, die dann von
den Vertheidigern dieses Verfahrens so schmerzhaft wie möglich angew-andt wird,
glückt zuweilen, im Ganzen wohl selten. Die Eoheit, welche in dieser Behandlungs-
weise liegt, stimmt so wenig mit meinen therapeutischen Grundsätzen überein, dass
ich dieselbe unmöglich empfehlen kann. Die Behandlung der Hysterie und hyste-
rischer Symptome stellt die allerschwierigsten Anforderungen an den Elektrothera-
peuten, der sich von Fall zu Fall zur Anwendung dieser oder jener Elektricität,
dieser oder jener Form derselben entschliessen muss. Die Behandlung der Hysterie
ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Kunst, die sich nicht in eine jedem Jünger
Aeskulaps einzuprägende wissenschaftliche Schablone hineinpressen lässt.
8. Verschiedene Krankheiten und Symjjtome.
Wiederholentlich sah ich Formen von Gelen kkrankheiten, z. B. von
Arthritis nodosa, von der chronischen Arthritis, die zu Ankylose der Geleulce führt,
der periartikulären Schwellungen u. s. w., auf welche der galvanische Strom einen
unverkennbar günstigen Einfluss ausübt, so dass dessen Anwendung in solchen Fällen,
vielleicht in Verbindung mit Massage und der schwedischen Douche oder anderen
Wasser-Proceduren sehr zu empfehlen sein dürfte. Der Strom wird entweder durch
das kranl\;e Gelenk selber oder oberhalb desselben hindurchgeschickt; so habe ich
z. B. in einem Falle von Arthritis nodosa der Finger die Galvanisation der Hand-
gelenke erfolgreich angewandt.
Bei Morbus Basedowii habe ich bisher wenig mit dem elektrischen Strom
auszurichten vermocht, ebensowenig bei Paralysis agitans. Für diese Krank-
heiten müssen wir noch andere Heilmittel suchen. Auch bei der Chorea muss
man immer vorsichtig sein und die clirecte Elektrisation der nervösen Central-
organe wo möglich ganz vermeiden. Epileptiker und Hystero-Epileptik er
vertragen durchaus keine Galvanisation des Kopfes! Eine allgemeine Faradisation
oder Franlvlinisation mit Ableitung des Stromes an den peripheren Theilen kann unter
Umständen angezeigt sein. In der Augenheilkunde habe ich bisher wenig oder
gar keine Erfolge der Elektrotherapie gesehen. Andere Autoren sind glücklicher
darin. Jedenfalls darf der Versuch, etwas darin zu leisten, nicht aufgegeben werden.
(BoucHEEON, Essai d'Electrotherapie oculaire 1876. Dr. Pannier. L'Electricite
en therapeutique oculaire, Nouveau Montpellier medical, Janvier 1893.) In der
Ohrenheilkunde scheint sich bei nervösen Ohrgeräuschen und nervöser Schwer-
hörigkeit der franklinsche Strom und vorzugsweise in der Form der „abgeschwächten
Franklinisation" am meisten bewähren zu wollen. Jedenfalls gehört derselbe zu den
wenigen Mitteln, die dabei noch des Versuchs der Anwendung werth sind. Die
Gynäkologie hat von der Methode der intrauterinen Galvanokaustik des Dr.
Apostoli in Paris sehr profitirt.^) Die Indicationen dafür bedürfen noch einer exacten
Feststellung, jedoch hat sich die Meinung darüber in den letzten Jahren schon be-
deutend geklärt.
*
Dies in kurzen Zügen ein Bild der Leistungsfähigkeit der Elektrotherapie,
wie sie sich gegenwärtig dem Verfasser darstellt, zusammengefügt in einer
der praktischen Tendenz dieser „Bibliothek" entsprechenden Art. Ein jedes
Jahr bringt Veränderungen und Fortschritte, wodurch die achtunggebie-
tende Stellung der Elektricität in der allgemeinen Therapie sich immer
mehr befestigen wird. Das ist mit Sicherheit zu erwarten.
ARTHUR SPERLING.
^) Vergl. „Gynaekoelektrotherapie" : Bd. Geburtshilfe und Gynaekologie.
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin nnd Kinderkiaukbeiteu. o4:
530 EMBOLIE DER ARTERIEN.
Embolie der Arterien. Unter Embolie (abgeleitet von s;xßaUsiv)
verstellt man im Gegensatz zur Thrombose das Hineingelangen embolischen
Materials (sog. Emboli) in die arteriellen Gefässe, einschliesslich der Pfort-
ader. Das embolische Material kann verschiedenen Ursprungs sein und aus
der verschiedenartigsten organischen Materie bestehen. In den überaus meisten
Fällen handelt es sich um Emboli, welche aus dem linken Herzen
stammen und in die Arterien des grossen Kreislaufs eingeschleppt werden,
wo sie so lange dem Blutstrom folgend weiter wandern; bis sie an einer Stelle
des Gefässes, dessen Durchmesser geringer ist, als der des Embolus, fest ein-
gekeilt haften bleiben. Diejenigen Emboli dagegen, welche in die arteriellen
Gefässe des Lungenkreislaufes gelangen und in den Lungen haften bleiben,
stammen fast ausnahmslos aus den Venen der Hohlvenengebiete,
u. zw. ganz vorzugsweise aus der ve7i. femoraUs beim Vorhandensein einer
Phlegmasia alba dolens oder aus den Venen der breiten Mutterbänder bei
thrombotischen Processen im Puerperium. Nur in seltenen Fällen kommt es
vor, dass bei einer Endocarditis des rechten Herzens, sei es der Vorhofs- oder
der Ventrikularklappen sich Partikel ablösen, in den Lungenkreislauf gelangen
und hier als Emboli wirken.
Die Emboli im grossen Kreislauf verdanken ihre Entstehung fast
immer einer Endocarditis des linken Herzens, sei es, dass es sich um
eine ganz frische entzündliche Auflagerung auf den Klappen handelt, wie sie
so häufig beim acuten Gelenkrheumatismus und vielen anderen acuten und
chronischen Infectionskrankheiten (besonders der Pneumonie, dem Abdominal-
typhus, der Scarlatina, der Chorea u. a.) vorkommt, oder um einen chronischen
Klappenfehler der Mitral- oder Aortenklappen mit und ohne recidivirende
Nachschübe. In anderen Fällen gelangen bei einer bestehenden Atheromatose
der Aorta mit Geschwürsbildung losgelöste Kalkplättchen, welche so häufig
neben der Geschwürsbildung angetroffen werden, in die abgehenden Aeste der
Aorta, wo sie zunächst ihres spröden Materials wegen sich dem Gefässlumen
nicht so weit adaptiren können, um dasselbe völlig zu verschliessen; erst all-
mälig wird der Verschluss durch das aus dem Blut sich ausscheidende und
an den Fremdkörper sich ansetzende Fibrin zu einem vollständigen. Auch
das thrombotische Material, welches sich an die atheromatösen Geschwüre der
Aorta ansetzt, kann Ursache von Embolien in den Aesten der Aorta werden.
Da bekanntlich die atheromatösen Veränderungen der Aorta häufig zu Aneu-
rysmenbildungen führen, und in diesen sich geschichtete Thromben bilden,
so kann es nicht Wunder nehmen, wenn auch hierin eine Quelle embolischen
Materials für die abgehenden Aeste der grossen Pulsader gegeben ist.
Viel häufiger aber und sich in der Häufigkeitsscala der Endocarditis
unmittelbar anschliessend, bilden die Thromben des linken Herzens
Ursachen von Embolien im grossen Kreislauf, u. zw. handelt es sich dabei
um Thromben, welche in allen Abschnitten des linken Herzens vorkommen
und ihre Entstehung derjenigen Blutverlangsamung verdanken, wie sie ent-
weder bei chronischen Muskel- und Klappenerkrankungen des Herzens oder
bei allgemeiner Verlangsamung der Blutströmung in Folge von allen mög-
lichen Erkrankungen, namentlich bei langdauernden Erschöpfungskrankheiten
bettlägeriger Kranken angetroffen wird. Diese Herzthromben oder Polypen,
wie sie auch genannt werden, können sowohl aus dem linken Herzohr, als
auch aus dem linken Vorhof oder Ventrikel, wo sie sich in den tiefgelegenen
Zwischenräumen zwischen dem Gewirr der Kammmuskeln einfilzen, oder von
den Kugelthromben, die gewöhnlich an der Spitze des linken Herzens gefun-
den werden, herstammen. Auch die sich zuweilen an die Chordae tendineae
der Mitralklappensegel ansetzenden Vegetationen können Ursache einer
Embolie werden. Ferner wäre noch das Hineingelangen von C est öden"") in
*) Vörgl. „Eingeweidewürmer des Menschen'^ von Hofr. Prof. C. Claus, ds. Bd. pag.
471 u. ff.
EMBOLIE DER ARTERIEN. 531
die Arterien unter den ätiologischen Ursaclien der Embolien namhaft zu
machen, vor allem die Blasen der Finnen (Cysticerken und Echinococcen).
So habe ich u. a. einen vollständigen Verschluss beider vom Stamm der Art. pul-
monalis abgehender Hauptäste dieser Arterie durch lebende Echinococcen beobachtet; eine
abgestorbene Echinococcenblase fand ich in einem anderen Fall im Anfangstheil der oberen
Grekrösader, dieselbe ebenfalls vollständig verstopfend und dahinter einen hämorrhagischen
Infarct des gesammten Dünndarms.
Schliesslich wären noch die Luft- und Fettembolien zu erwähnen,
welche vorzugsweise ihren Sitz im capillären Theil des Gefässapparates haben,
und von denen die letzteren vorzugsweise bei Knochenbrüchen angetroffen
werden, während die Luftembolien vorzugsweise bei Eröffnung von Yenen zu
Stande kommen, indem die eingetretenen Luftblasen weiter in die Arterien
hineingelangen.
Die Embolien im Lungenarteriensystem verdanken ihren Ur-
sprung hauptsächlich der Endocarditis des rechten Herzens und den
Thromben der Körpervenen, sowie den im rechten Herzen unter den
gleichen Bedingungen, wie links, vorkommenden Blutgerinnungen (sog. Herz-
thromben). Auch Thromben, welche sich auf rauhen, atheromatösen Stellen
der Intima von Pulmonalarterienästen gebildet haben, was bei Klappenfehlern
der Mitralis vorkommt, können in den Blutstrom gelangen und an einer en-
geren Stelle des Lungenarteriensystems stecken bleiben, wo sie als Emboli wirken.
In ganz seltenen, bisher nur von Cohnheim und Litten beobachteten und beschrie-
benen Fällen kommt bei offenem Foramen ovale eine sog. Ueb er Wanderung eines
Embolus aus dem linken in den rechten Vorhof vor, wobei man einem Embolus, event.
einem hämorrhagischen Infarct in der Lunge begegnet, ohne dass in den Körpervenen
Thromben oder im rechten Herzen embolisches Material nachgewiesen werden kann.
An welcher Stelle des Gefässverlaufes der Embolus haften bleibt,
hängt vollständig von der Beschaffenheit des Gefässes und seiner Verästelung
ab. Meistens verlieren die Arterien bei der Abgabe von Aesten oder an
Theilungsstellen so sehr an Weite, dass der Embolus gern an einer solchen
Stelle haften bleibt, u. zw. meistens so, dass er reitend auf dem Sporn der
Arterie, an einer Theilungsstelle aufsitzt, in beide abgehenden Arterienäste
mit dem unteren Theil hineinragend, einem zweiwurzligen Backzahn nicht
unähnlich. Verschliesst der Embolus das Lumen der Arterie nicht vollständig,
so dauert es gewöhnlich nicht lange, bis die sich ausnahmslos ansetzenden
Fibringerinnsel den Verschluss zu einem vollständigen machen. Niemals aber
kommt es vor, dass die aus den beschriebenen Quellen herstammenden Emboli
in Capillären hineingelangen, oder selbst dieselben durchwandern und bis in
die Venen vordringen.
Am häufigsten werden von den Arterien des grossen Kreislaufes
die von der Aorta unmittelbar abgehenden Aeste der Sitz embolischen Ver-
schlusses, der Pieihenfolge nach etwa in folgender Anordnung: am häufigsten
die art. renalis und lienalis, dann die Gehirnarterien (art. fossae St/lm,
corporis callosi, basüaris), die art. meseraiccc sup.^ art. meseraica inf., art.
coeiiaca ; viel seltener werden die peripheren Arterien der Sitz von Embolien,
und hier ist wohl die art. brachialis diejenige, welche relativ am häufigsten
betroffen wird. Häufiger aber als alle genannten Arterien wird die art. pul-
monalis der Sitz dieser Erkrankung, und dies hat seinen Grund in der Häufig-
keit von Thromben der peripheren Venen, sowie von umschriebener Sclerose
der Aeste der Lungenarterie, welche die Folge der grösseren Reibung und
vermehrten Widerstände im Pulmonalarteriensystem bei Stenose und InsuÖicienz
der Mitralklappen ist. Die mit diesen Processen zusammenhängende cir-
cumscripte Atheromatose der Lungenarterie und deren Aeste führt erfah-
rungsgemäss zur Thrombose der letzteren, namentlich bei der Verlang-
samung der Circulation, wie sie mit den Mitralfehlern verbunden ist. Von
diesen thrombotischen Auflagerungen können, falls die Arterie nicht vollständig
34*
532 EMBOLIE DER ARTERIEN.
obliterirt ist, Partikel weiter in die Circiüation gelangen nnd an einer ent-
lernten Stelle des Lungenarteriensystems als Emboli festhaften.
Gelangt nun ein Embolus von der oben beschriebenen Beschaffenheit in
eine Arterie, so sind die weiteren Störungen lediglich von der dadurch
bedingten Circulationsunterbrechung abhängig. Bleibt der Embolus an irgend
einer Stelle im Verlauf des Ai'terienrohres haften, oder bleibt er rittlings an
einer Theilungsstelle der Arterie stecken, so wird der Verschluss, falls er Yon
Anfang an kein vollständiger war, allmälig aber sehr bald durch sich daran
niederschlagende Fibringerinnungen zu einem vollständigen. Sobald dies ge-
schehen ist, kann selbstverständlich kein circulirendes Blut an ihm vorbei in
die peripheren Abschnitte der Arterie gelangen. Damit ist aber keineswegs
ausgesprochen, dass nun überhaupt kein Blut mehr in die peripher von dem
Embolus gelegenen Gefässabschnitte eintreten kann. Vielmehr ist es sehr gut
möglich und kommt oft genug vor, dass arterielle Aeste oberhalb und unter-
halb des Embolus abgehen, welche durch Anastomosen mit einander in Ver-
bindung stehen. Alsdann würde die Circulation mit Umgehung des emboli-
sirten Gefässabschnittes, auf dem Wege der von derselben Arterie abgehenden
Seitenäste, oder auf dem Wege collateraler ^Anastomosen, wobei benachbarte
Arterien unterhalb der verstopften Stelle in die embolisii'te Arterie einmünden
und dieser arterielles Blut in reichlicher Menge zuführen, fortbestehen, und
es würde nur eine Störung in der km^zen Strecke des Hauptrohi's, in welcher
der Embolus haftet, d. h. zwischen den beiden zunächst gelegenen Seitenästen,
zwischen denen der Pfropf festsitzt, eintreten. Dieselbe hat aber erfahrungs-
gemäss in blutreichen Organen, in welchen zahlreiche Anastomosen bestehen,
fast gar keine Bedeutung, wie namentlich in den reich mit arteriellen Gefässen
versehenen Muskeln der Extremitäten, in der Haut, dem Fettgewebe und
Unterhautbindegewebe. Ganz anders und viel verhängnisvoller gestalten sich
die Störungen, wenn es sich um die Verstopfung einer Arterie handelt; welche
in letzter Instanz die alleinige Ernährung und Versorgung des betreffenden
Organs oder Organabschnittes mit arteriellem Blut zu leisten hat.
Solche Arterien, welche mit anderen benachbarten nicht durch collaterale
Aeste, sondern nur durch Capillaren in Verbindung stehen, und von denen
jede dem betreffenden Gewebsabschnitt in letzter Instanz allein arterielles
Blut zuführt, hat Cohxheim als „Endarterien" bezeichnet. Der physio-
logische Werth derselben besteht darin, dass der zu ihnen gehörige Gewebs-
abschnitt nach Ausschaltung derselben nicht mehr genügend ernährt mrd und
abstirbt. Diejenigen Arterienstämme, welche Endarterien darstellen, verästeln
sich auch während ihres ganzen Verlaufes so, dass jeder abgehende Arterien-
ast nun wieder eine Endarterie bildet, also mit den benachbarten nicht durch
arterielle Anastomosen in Verbindung steht. Derartige Endarterien gibt es nach
CoHiSTHEi^i mehrere : die art. centralis retinae, die art. Uenalis, art.jpulmonalis, renalis
und die Gehirnarterien. Streng genommen gehören die art. pulmonalis und
renalis nicht vollständig in diese Gruppe, da die art. pulmonalis sowohl mit
Aesten der Bronchialarterie, als namentlich der pleuralen, ösophagealen und
diaphragmatischen Gefässen anastomosirt, und für die art. renalis gilt das
Gleiche, da die IS^iere naclL Unterbindung der art. und ven. renalis sehr be-
deutend an Grösse und Gewicht zunimmt, was auf die arteriellen Zuflüsse zu
beziehen ist, welche die Mere von der Kapsel und dem Ureter her erhält. —
Da nach embolischer Verstopfung einer der genannten Endarterien das be-
treffende Organ, resp. nach Verstopfung eines Astes derselben der betreffende
Organabschnitt nicht mehr genügend arterielles Blut erhält, um ernährt zu
werden, so wird eine Gewebsnecrose und Verlust der Function die unmittel-
bare Folge sein. Nirgends sieht man die Functionsstörung prägnanter, als bei
einer Embolie einer grossen Hirnarterie oder der art. centralis retinae, während
die Gewebsveränderungen von verschiedenen Umständen abhängig sind, am
EMBOLIE DER ARTERIEN. 533
meisten von der Natur des embolischen Materials. — Die gewöhnlichste
Form, unter welcher wir das Gewebe in Folge embolischen Arterienverschlusses
absterben sehen, ist die Keilform, in welcher sich die embolische Necrose
meistens präsentirt. Die Spitze des Keiles ist nach der verstopften Stelle
der zuführenden Arterie, d. h. nach dem Embolus hin gerichtet, während die
Basis des Keiles nach der Peripherie des Organs hin gerichtet ist. Solchen
embolischen Necrosen oder „Infarcten" begegnet man am häufigsten in der
Milz, den Lungen und den Meren, sehr selten im Herzen und der Leber.
Da sich in der Peripherie des Infarctes in den meisten Fällen eine starke
Blutung findet, und diese häufig umfangreicher ist, als der in der Mitte
sitzende necrotische Herd, welcher sich weiss ausnimmt, so hat man die
Blutung für die primäre, dem embolischen Verschluss zunächst nachfolgende
Veränderung angesehen und den Herd daher als„hämorrhagischenInfarct"
bezeichnet; da man ferner annahm, dass die Blutung allmälig aufgesogen und
an Stelle derselben ein weiss aussehendes necrotisches Gewebe trete, so hat
man ein zweites Stadium der hämorrhagischen Infarcte, das der Entfärbung
unterschieden und solche Herde als „entfärbte" hämorrhagische Herde
bezeichnet. Diese Entstehungsweise ist durchaus unrichtig, wie ich experimen-
tell und anatomisch nachgewiesen habe; vielmehr ist der Zusammenhang so,
dass auf den Verschluss einer als Endarterie anzusehenden Arterie die em-
bolische Necrose unmittelbar folgt, und dass die periphere Blutung nur ein
accidentelles, durch Compression der abführenden Venen in Folge der Gewebs-
schwellung bedingtes Ereignis darstellt. Von einer „Entfärbung" des früher
hämorrhagischen Infarctes kann schon deshalb keine Rede sein, weil 1. der
weisse Herd der Blutung vorangeht, wie man dies u. a. auch im Augenspiegel
am lebenden Menschen und experimentell beim Thier an der Niere beobach-
ten kann, und 2. weil man in dem weissen (sc. entfärbten) Gewebe keine Spuren
von Blutbestandtheilen nachweisen kann. Derartige embolische Necrosen
können, wie ich dies experimentell gezeigt habe, sich in den Nieren schon
24 Stunden nach Embolisirung der betreffenden Arterien bilden, während die
Epithelien der Harncanälchen schon nach kürzester Zeit absterben.
Wirkliche echte hämorrhagische Infarcte, als Folge embolischen
Verschlusses von Arterien, finden sich ganz vorzugsweise in der Milz und
Lunge. Sie bilden keilförmige oder mehr rundliche, stark prominirende Herde,
in welchen das Gewebe mit Blutkörperchen durchweg prall infarcirt ist: eine
Zertrümmerung des Gewebes durch das ergossene Blut, wie sie bei einer
Apoplexie gefunden wird, kommt dabei niemals vor. An der Basis des hämorrha-
gischen Herdes findet sich gewöhnlich eine circumscripte Entzündung der
Serosa (Pleuritis oder Perisplenitis). Diese Herde entfärben sich nach einiger
Zeit, wenn die per diapedesin hindurchgetretenen Blutbestandtheile resorbirt
werden. Bei diesen echten hämorrhagischen Infarcten kann man also mit
voller Berechtigung, im Gegensatz zu jenen primären embolischen Necrosen,
von einem Stadium der Entfärbung sprechen.
Nach den schönen Untersuchungen von Cohnheim sollen diese hämorrha-
gischen Infarcte durch venösen ßückfluss zu Stande kommen, w^elcher
einsetzt, sobald die Circulation von arterieller Seite aufhört. Meiner Meinung
nach kommt dieser venöse Rückfluss bei Warmblütern nicht zu Stande da
der Druck im Venensystem nicht so gross wird, um ein Einströmen von Blut
in das embolisirte Gebiet von venöser Seite her zu gestatten.
Die Diagnose derEmbolie einer grossen Arterie in den inneren
Organen fällt fast mit derjenigen des hämorrhagischen Infarctes zusammen,
da es fast niemals gelingt, das Hineingelangen des embolischen Pfropfes in
die Arterie selbst nachzuweisen, sondern erst die Bildung des embolischen
Herdes zu constatiren. Schmerz, Schüttelfrost, aufgehobene Function, vor
Allem aber die Plötzlichkeit des Eintrittes, sowie der Nachweis des Vorhanden-
534 EMBOLIE DER ARTERIEN.
seins embolischen Materials (meistens durch den Nachweis einer Endocarditis
oder Yenenthrombose) sind die liauptsächliclisten diagnostischen Anhaltspunkte.
In den Extremitäten kommen embolische Infarcte nicht zu Stande, nach
CoHNHEiM, weil die Venenklappen den Rückfluss verhindern. Meist ist die
Embolie einer Extremitätenarterie ein Ereignis von geringer Bedeutung, weil
die Anastomosen und CoUateralen sehr zahlreich sind. Wird jedoch eine
grosse Arterie, wie die art. brachialis oder femoralis vollständig verstopft, so
wird die Extremität kühl, pulslos, cyanotisch, und nicht selten deuten Pete-
chien auf das Vorhandensein des embolischen Verschlusses.
Von grösster Bedeutung für die weiteren Folgen einer Embolie ist
die Natur des Materials, aus w^elchem die Pfropfe bestehen. Wir hatten bis
jetzt bei der Beschreibung ausschliesslich die sogenannten „blanden" Em-
boli im Sinne, welche aus denjenigen Gewebsbestandtheilen bestehen, die
ausschliesslich unter physiologischen Bedingungen im Organismus vorkommen,
dJhV also namentlich aus fibrinösem und bindegewebigem Material. Dem
gegenüber findet sich eine andere Gruppe embolischer Erkrankungen, welche
zurückzuführen sind auf Infection durch phlogogene Stoffe enthaltende Em-
boli oder auf pathogene Microorganismen, welche entweder allein oder zum
grossen Theil den Inhalt der durch Emboli verschleppten Krankheitserreger
bilden. — Der cardinale Unterschied zwischen jenen blanden und diesen in-
fectiösen Emboli besteht darin, dass die ersteren lediglich und ganz aus-
schliesslich an die Arterien gebunden sind, während die letzteren, da sie zum
grossen Theil aus Micrococcen bestehen, die Capillaren durchwandern. Es
kann daher unter diesen Umständen von einer so stricten Trennung zwischen
links- und rechtsseitigen Herzerkrankungen und zwischen Embolien des grossen
und Lungenkreislaufes keine Rede sein. Wenn wir beispielsweise irgendwo im
Körper einen Infectionsherd haben, welcher pathogene Microparasiten enthält,
so kann aus diesem durch die Blutgefässe, namentlich die Venen, infectiöses
Material fortgespült werden; da dasselbe aber die Capillaren durchwandert, lässt
sich vorher auch nicht annähernd bestimmen, in welchen Capillaren dasselbe
stecken bleiben wird. So kann bei einer septischen Pelveoperitonitis die
Infarcirung der Capillaren mit septischen Coccen ebenso gut zu multiplen
septischen Abscessen in den Lungen führen, als auch zu einer sog. metasta-
tischen PanOphthalmitis oder zu multiplen Abscessen in den Nieren, da das
kleinkalibrige, embolische Material ebensowohl die Capillaren der Lungen
passiren und in denen der Chorioidea oder der Nieren haften bleiben kann,
wie es bereits in den Lungen selbst festen Fuss fassen und dort die Infection
hervorrufen kann."")
Welcher Art das embolische Material in dieser letzten Gruppe
von Fällen ist und sein mag, ist principiell gleichgiltig. Staphylo-, Strepto-
Gonococcen, Spirochaeten, Davaine'sche Stäbchen, Aspergilli, Tuherkelhacillen^
Äctinomyces und — wie sonst immer ihr Name ist, ■ — die Hauptsache ist und
bleibt ihre infectiöse Natur, vermöge welcher sie in anderen, vom ur-
sprünglichen Erkrankungsherd z. Th. weit entfernten Organen sog. meta-
statische Herde von der gleichen Beschaffenheit erzeugen, welche durch
die Circulation (Blut- und Lymphgefässe) vermittelt werden. Die durch
diese infectiösen Emboli erzeugten Herde unterscheiden sich von den
blanden Embolien vor Allem durch ihre hohe Infectiosität und die Abscess-
form, wobei sich multiple miliare Abscesse von Hirsekorn- bis Kirschkerngrösse
und darüber bilden, wälirend bei den sogenannten blanden Emboli meist ein ein-
zelner Herd von Keilform gefunden wird. In den ersteren Fällen sind die
betroffenen Organe vollständig durchsetzt mit miliaren Abscessen, welche
*) Ich habe auf diese Verhältnisse sehr ausführlich in meiner Abhandlung über
septische Processe (Zeitschrift für klinische Medicin Bd. IL 1881) Rücksicht genommen.
EMPFINDÜNGSSTÖRUNGEN. 535
mit einem chocoladenfarbenen, ganz dünnen, meist zerfliessenden Inhalt erfüllt
sind. Wenn beispielsweise ein Tripperkranker eine specifische Endocarditis,
ganz; gleich welcher Klappe und welchen Herzabschnittes, acquirirt und davon
Metastasen in den Nieren davonträgt, so findet man in den miliaren Abscessen
der Niere dieselben Gonococcen, welche die Auflagerungen der erkrankten
Herzklappen enthalten und dieselben Coccen, welche das Secret der Urethra ent-
hielten. Nicht anders gestalten sich die Verhältnisse bei Abscessen der Lungen,
welche eine septische Wöchnerin davonträgt. Dieselben Strepto- oder Sta-
phylococcen, welche in den Auflagerungen der septischen Endometritis gefun-
den werden, können von den Auflagerungen des Herzens oder aus den Abscessen
der Lungen dargestellt werden. Dabei ist es durchaus nicht nothwendig, wie
ich 1. c. nachgewiesen habe, dass die Erkrankung der Herzklappen jedesmal das
Mittelglied zwischen der primären Erkrankung und den sogenannten Metastasen
bildet. Die Hauptsache ist der directe Import des Giftes vom ursprünglichen
atrium morbi nach dem Ort der sogenannten Metastasenbildung, und wir können
mit Bezug darauf keine bessere Analogie anführen, als die sogenannten Krebs-
metastasen, welche ebenfalls auf directer Verschleppung des Krebsseminium durch
die Blut- und Lymphgefässe beruhen.
Zum Schluss möchten wir noch die sogenannten „weissen Infarcte" in
der Milz, viel seltener in den Nieren erwähnen, welche in zahlreichen Fällen von
Recurrens und gelegentlich bei der Cholera auftreten und in einer keilförmigen
Necrose des Gewebes bestehen. Den sorgfältigsten Untersuchungen von
PoNFiCK, Weigert und Litten ist es bisher weder gelungen, als Ursache
dieser Infarcte arterielle Emboli, noch Einwanderung specifischer Organismen
in die Capillaren nachzuweisen. Ponfick hält es nicht für unwahrscheinlich,
dass die Venen dabei ursächlich nicht unbetheiligt sind. litten,
Empfindungsstörungen. Wenn wir in irgend einem Empfindungs-
gebiete, sei es an der äusseren Haut oder einem der höheren Sinne, eine Reihe
von verschieden abgestuften Reizen in Anwendung bringen, so machen wir vor
Allem die Beobachtung, dass erst bei einer gewissen Stärke des objectiven
Reizes, welche nach der Individualität der untersuchten Person, nach dem
Orte, an dem wir den Reiz appliciren, endlich nach dem durch verschiedene
wechselnde, meist unbekannte Umstände veranlassten Zustand des Seelen-
organes, den wir mit dem Namen der Reizbarkeit desselben bezeichnen, schwankt,
eine Empfindung zum Bewusstsein kommt. Wir nennen denjenigen objectiven
Reiz, der eben hinreicht eine Empfindung auszulösen, die „Reizschwelle" des
betreffenden Empfindungsgebietes. Steigern wir von der Reizschwelle ange-
fangen die Stärke des angewandten Reizes, so finden wir, dass wiederum eine
Steigerung der jeweilig angewandten Reizstärke um ein gewisses Maass noth-
wendig ist, um eine von der ursprünglich gegebenen Empfindung deutlich unter-
scheidbare neue Empfindung auszulösen. Wir nennen diese kleinste Reiz-
differenz, welche eben hinreicht, um eine Differenz der Empfindungsintensität
erkennbar zu machen, die „Unterschiedsschwelle" des betreffenden Empfin-
dungsgebietes. Dass die Reizschwelle nach der Lage der gereizten Stelle
sehr verschieden ist, zeigt die alltägliche Erfahrung. Eine Fliege, die über
das Gesicht oder gar über die Lippen kriecht, ruft eine sehr lebhafte
Empfindung hervor, während sie an der Haut des Arms oder gar des ent-
blössten Rückens wenig empfunden wird; der schrille Pfiff der fliegenden
Fledermäuse wird von vielen sonst normal hörenden Personen nicht gehört,
und richten wir gar unsere Aufmerksamkeit auf die Thierwelt, so werden
die Differenzen in der Stärke der Reizschwellen ausserordentlich auffallend.
So genügt, wie ich mit Münzer Gelegenheit hatte zu beobachten, die durch einen
feinen über den Erdboden hingleitenden Bindfaden erzeugte Erschütterung
der Luft, welche im feinsthörenden Menschenohr keine Schallempfindung zu
536 EMPFINDUNGSSTÖRUNGEN.
erregen im Stande ist, bei einer geblendeten Katze vollständig nicht nur zu
einer Empfindung überhaupt, sondern zu einer so genau und fein localisirten
Empfindung, dass bei dem Haschen nach dem schallerregenden Object das
Fehlen des Gesichtssinnes nicht die geringste Störung in der Vollkommenheit
und Sicherheit der hiezu nothwendigen Bewegungen mit sich bringt. Aehnliche
Differenzen mögen in der Grösse der Unterschiedsschwelle bestehen. Wenn
auch diesbezüglich keine so eclatanten Thatsachen vorliegen, so macht eine
andere Reihe von Erscheinungen dies sehr wahrscheinlich. Es ist erfahrungs-
mässig festgestellt und ist auch für die klinische Untersuchung von Wichtig-
keit, dass die Empfindlichkeit des Seelenorganes für schwache Reize durch das,
was wir „Uebung" nennen, also in unserem Falle, häufig wiederholte mit Auf-
merksamkeit vorgenommene Untersuchung schwacher Reize, im Stande ist sowohl
die Reizschwelle als die Unterschiedsschwelle wesentlich herabzusetzen. Es
ist dies eine Erscheinung, die sowohl bei systematisch vorgenommenen physio-
logischen Versuchsreihen wahrgenommen wird, als auch bei Individuen zur
Beobachtung kommt, die sich berufsmässig mit einer bestimmten Gruppe von
Empfindungen abgeben müssen. Die grosse Empfindlichkeit der Maler für
Farbennuancen, der Musiker für Tonnuancen, endlich der Thee- und Wein-
koster für unmerklich abgestufte Geruchs- und Geschmacksempfindungen, ist
eine banale Thatsache und ähnliche, wenn auch nicht so grosse Differenzen
mögen auch bezüglich der Unterschiedsschwelle von vorneherein unter den
Organismen bestehen.
Eine genaue Prüfung der Empfindlichkeit am Krankenbette müsste
nun sowohl die Reizschwelle als die Unterschiedsschwelle festzustellen trachten,
es müsste also die Grösse des eben merklichen Reizes, sowie die des eben
merklichen Reizunterschiedes, sowohl in dem normalen als auch in dem Em-
pfindungsgebiet festgestellt werden, in dem eine Störung vorhanden ist oder
vermuthet v^ird. Man hätte dann in den an dem normalen Empfindungsgebiet
gewonnenen Zahlen eine exacte Grundlage zur sicheren numerischen Beur-
theilung der Grösse der untersuchten Empfindungsstörung. Einer solchen
exact- wissenschaftlichen Untersuchung der Empfindungsstörungen stellten
sich indess, wenn auch ihre Durchführbarkeit im einzelnen Falle nicht geleug-
net werden soll, grosse Schwierigkeiten entgegen. Für die gewöhnliche ärzt-
liche Praxis sind die hiebei in Betracht kommenden Proceduren zu kompli-
cirt und langwierig, um überhaupt anwendbar zu sein, aber auch in der
klinischen Praxis kommt man bald zur Ueberzeugung, dass in der Mehr-
zahl der Fälle die rasch ermüdende Aufmerksamkeit, sowie die geringe
Intelligenz der Kranken eine weniger exacte als rasch zur Orientirung
führende Untersuchungsmethode erfordert.
Wir wollen nun in Kürze die bei der Prüfung der Hautempfindlichkeit
üblichen Methoden einer näheren Besprechung unterziehen. Die empfindende
Fläche der Haut mit der Aussenwelt in Berührung gebracht; gibt uns in
mehrfacher Weise Auskunft über dieselbe, wir empfinden die einfache Be-
rührung eines Objectes (wobei der Ausdruck Object nur relativ zu nehmen
ist, da es auch ein Theil des eigenen Körpers sein kann, dessen Berührung
empfunden wird), wir unterscheiden ferner, dass verschiedene Punkte unserer
Hautoberfläche und welche berührt werden, wir haben ferner je nach der
Temperatur des berührenden Körpers die Empfindung der Wärme oder Kälte,
endlich wissen wir, dass wenn der objective Druckreiz oder Temperaturreiz
eine gewisse Höhe" erreicht oder wenn der Druck mit einem Körper ausgeübt
wird, dessen Beschaffenheit auch bei geringer Kraftanwendung genügt, mecha-
nische Trennung des Hautgewebes herbeizuführen (Nadelspitze), eine neue
Empfindungsqualität zum Bewusstsein kommt, die wir Schmerz nennen. Wir
haben also bei der Prüfung der Hautempfindlichkeit die Berührungsempfindung,
EMPFINDUNGSSTÖRUNGEN. 537
den Ortssinn, die Temperaturempfindung und die Schmerzempfindung geson-
dert einer Prüfung zu unterziehen.
1. Die Prüfung der Berührungsempfindung geschieht am ein-
fachsten durch möglichst leise Berührung mit der Fingerkuppe. Wenn auch
der Drucksinn in den verschiedenen Partieen der menschlichen Haut, wie
schon oben erwähnt, regionäre Differenzen in der Grösse der Pteizschwelle
zeigt, so genügt erfahrungsgemäss eine sanfte Berührung mit der Fingerkuppe
beim normalen Menschen doch, um von allen Hautgebieten aus eine eben merk-
liche Empfindung hervorzurufen. Wird eine solche sanfte Fingerberührung, die
der Untersuchende selbst deutlich wahrnimmt, von dem Untersuchten nicht
wahrgenommen, so kann in dem entsprechenden Hautgebiet eine Herabsetzung,
respective, wenn auch bei Steigerung des Druckes (Aufheben einer Hautfalte)
die Empfindung fehlt, eine Aufhebung der Druckempfindung angenommen
werden. Man pflegt auch die Berührungsempfindung durch einfache Berührung
mit einem Pinsel oder Federbart zu prüfen, wobei man indess auf die Controle
durch die eigene Empfindung verzichtet. Das abwechselnde Berühren mit
Nadelspitze oder Kopf ist keine reine Prüfung der Berührungsempfindung, da
sowohl der Raumsinn als die Schmerzempfindung dabei mit in Betracht kom-
men. Der Wunsch, einen numerischen Ausdruck für die Grösse der vorhandenen
Empfindungsstörung zu haben, hat zur Construction von Apparaten geführt, die
eine solche numerische Taxirung des applicirten Reizes oder wenigstens die
Einreihung desselben in eine empirisch festgestellte Reihe gestatten. Der
ersteren Anforderung entspricht das EuLENBUßG'sche Barästhesiometer. Eine
Pelotte, welche mit einer Spiralfeder in Verbindung steht, wird mit verschie-
dener Stärke an die Haut angedrückt. Die Stärke des angewendeten Druckes
kann an einer uhrzifferblattähnlichen Scala direct abgelesen werden, man erhält
also einen absoluten numerischen Ausdruck für die Grösse der etwaigen Empfin-
dungsstörung. Einen besonders für die Finger brauchbaren Apparat zur Prüfung
der Empfindlichkeit des Drucksinnes hat Hering angegeben: Auf 12 cylin-
drischen Stäbchen, von denen eines glatt ist, ist Neusilberdraht von 0"1 bis
VOmm Dicke aufgewickelt, so dass der tastende Finger verschiedene Grade
von Rauhigkeit empfindet. Je nach dem Grade der Empfindungsstörung werden
Stäbchen als glatt empfunden, die der normale Finger noch rauh empfindet,
und es kann also der Grad der Empfindungsstörung empirisch nach der Num-
mer des Stäbchens bezeichnet werden. Es handelt sich bei dieser Methode
indess, wie leicht ersichtlich, nicht um eine reine Prüfung der Druckempfind-
lichkeit, da bei der Beurtheilung der Rauhigkeit eines Objectes jedenfalls die
Ortswahrnehmung mit in Betracht kommt und da bei Beurtheilung der höheren
Stufen der Scala der Finger über das Object hingleiten muss, also wahr-
scheinlich auch Bewegungsgefühle mit in Frage kommen.
2. Die Prüfung des Ortssinnes der Haut (Ortswahrnehmung, Raum-
sinn) geschieht mittelst des SiEWEKiNG'schen Tasterzirkels. An einer mit
Millimeterscala versehenen horizontalen Schiene befindet sich eine fixe und eine
horizontal verschiebliche Zirkelspitze. Man stellt den geringsten Abstand der
Zirkelspitzen fest, der eben noch als zwei räumlich gesonderte Empfindungen
zum Bewusstsein kommt, wobei zu berücksichtigen ist, dass in der Längsrich-
tung der Körperaxen die Zirkelspitzen weiter entfernt sein müssen, als in der
Querrichtung. Da man immer nur aus einer längeren Versuchsreihe, aus der
man das Mittel zieht, Schlüsse ziehen kann, ist die exacte Anwendung der
Methode am Krankenbett schwierig.
Der Ortssinn kann ferner in Bezug auf die richtige Localisation der
angewendeten Reize geprüft werden. Bei geschlossenen Augen des Krauken
wird die Haut desselben berührt. Der normale Mensch ist im Stande, den
berührten Punkt genau mit dem Finger zu bezeichnen. Kranke mit Sensibili-
tätsstörungen begehen einen grösseren oder kleineren Fehler, aus welchem ein
538 EMPFINDÜNGSSTÖRÜNGEN.
Ptückschluss auf die Grösse der vorhandenen Störung statthaft ist. Hering
hat im Anschluss an Versuche C. H. Weber's „Tastbolzen" construiren lassen,
die sich vielleicht zur klinischen Prüfung des Kaumsinnes der Haut gut eignen
dürften. An Metallbolzen sind Ansätze befestigt, welche auf dem Durchschnitt
verschiedene geometrische Figuren, Dreiecke, Quadrate, Kreise darstellen.
Es soll nach dem Aufdrücken des Bolzens bei geschlossenen Augen die Figur
desselben angegeben werden. Da diese Figuren in verschiedenen Durchmessern
angefertigt sind, so könnte auch hier eine empirische Scala gewonnen werden
zur Bestimmung der Grösse der Empfindungsstörung. Ein Theil der Bolzen
ist ferner massiv, ein Theil derselben trägt blos den Contour der zu erkennen-
den Objecte, so dass auch dieser Umstand zur Prüfung herangezogen werden
kann."'^") Es bildet diese Methode den Uebergang zu der Prüfung des soge-
nannten „stereognostischen Vermögens", der Fähigkeit nämlich, körperliche
Objecte durch den Tastsinn richtig zu erkennen. Wir besitzen über diesen
Gegenstand eine äusserst umfangreiche und mühsame Untersuchung von
Hoffmann, welche zeigt, dass es sich da um eine sehr complicirte Function
handelt, welche gestört oder erhalten sein kann bei Erhaltung oder Störung
der übrigen hier in Betracht kommenden Functionen der Hautempfindlichkeit
(Drucksinn, Muskelsinn). Die Prüfung geschieht am besten so, dass man dem
Patienten Objecte von bekannter Gestalt (Ring, Schlüssel) bei geschlossenen
Augen in die Hand legt und dieselbe benennen lässt.
3. Die Prüfung des Temperatursinnes geschieht am einfachsten
durch Aufsetzen von warmen und kalten Objecten (Eprouvetten mit warmem
und kaltem Wasser). Exacte, aber complicirte und zeitraubende Methoden haben
Nothnagel und Eulenbueg angegeben. Nach Nothnagel werden mit ver-
schieden temperirtem Wasser gefüllte Holzkästchen, deren Boden aus dünnem
Kupferblech besteht und welche mit Thermometern versehen sind, nach ein-
ander auf die zu prüfenden Hautpartieen aufgesetzt und auf diese Weise die
eben noch erkennbare Temperaturdifferenz bestimmt. Das EuLENBURG'sche
Thermaesthesiometer besteht aus zwei Thermometern, die an einem Hartgummi-
stativ angebracht sind und von denen das eine verschiebbar ist. Das Quecksilber-
gefäss des stabilen Thermometers ist mit Platindraht umwickelt und kann
durch einen in demselben kreisenden galvanischen Strom erwärmt werden.
Nachdem das verstellbare Thermometer aufgesetzt worden ist und Hauttem-
peratur angenommen hat, wird das zweite durch den galvanischen Strom unter
oder über die abgelesenen Temperaturen erwärmt und constatirt, ob dabei
eine Kälte- oder Wärmeempfindung zum Bewusstsein kommt. Chaecot
benützt ein Thermometer mit flachem Quecksilbergefäss, welches in zwei über-
einander gelegten Metallhülsen befindlich ist. Die äussere kann abgenom-
men werden, die innere ist mit Kupferspänen gefüllt, um wenigstens für kurze
Zeit auf einer gleichmässigen Temperatur erhalten zu werden. Die äussere
Hülle wird an einer Spiritusflamme erwärmt. Endlich hat Goldscheider
eine Methode angegeben, welche von seiner durch grössere Versuchsreihen
gestützten Ansicht ausgeht, dass Kälte- und Wärmeempfindung von ganz ge-
sonderten und bestimmten Punkten der Haut ausgelöst werden. G. hat eine
Reihe von Stellen bestimmt, die sich durch grosse Constanz und Empfindlich-
keit auszeichnen sollen, und prüft nun an diesen die Kälte- resp. die Wärme-
empfindlichkeit durch Aufsetzen von abgekühlten resp. erwärmten Metallbolzen.
Die Kältepunkte sind in 12, die Wärmepunkte in 8 Empfindlichkeitsstufen
getheilt und durch Vergleich mit den entsprechenden Punkten der normalen
Seite kann man etwaige Störungen des Temperatursinnes leicht in eine em-
pirische Scala bringen. Es darf nicht verschwiegen werden, dass die von
Blix und Goldscheider aufgestellte Theorie der specifischen Wärme- und
*) Zu beziehen beim Mechaniker Rothe in Prag.
EMPFINDÜNGSSTÖRÜNGEN. 539
Kältepunkte mit der HERiNG'schen Theorie des Temperatursinnes in Wider-
spruch steht und eine nochmalige Prüfung dieser Frage sehr wünschenswert
erscheint.
4.DiePrüfungder sogenannten„elektrokutanenSensibilität"*)
geschieht entweder nach Letden so, dass die Drähte eines Inductionsapparates
mit den oben isolirten Spitzen eines Zirkels verbunden werden und der
Kollenabstand notirt wird, bei welchem eben das Prickeln des Inductionsstromes
gefühlt wird, oder bequemer mit der ERB'schen Elektrode. In einer Hart-
gummihülseist ein Bündel oben glatt abgeschliffener Kupferdrähte eingeschlossen.
Es wird der Rollenabstand gesucht, bei welchem eben eine merkliche Empfin-
dung auftritt.
5. Prüfung der Schmerzempfindung. Alle bisher untersuchten
Empfindungsqualitäten haben die Eigenthümlichkeit, dass die ihnen zu Grunde
liegenden Reize, bis zu einem gewissen Grade gesteigert, Schmerzempfindung
hervorrufen. Man prüft die letztere gewöhnlich durch leichte Nadelstiche.
Eine exacte Prüfung sollte das BjöRNSON'sche Algesimeter gestatten. Dasselbe
besteht aus zwei zangenartig verbundenen Metallplatten, deren Druck auf
einer gefassten Hautfalte an einer Scala abgelesen werden kann. Besser
eignet sich zu einer quantitativen Prüfung die Untersuchung mit dem Induc-
tionsstrome. Man notirt den Rollenabstand, bei dem der Strom eine deutliche
Schmerzempfindung auslöst. Es kann ferner der Temperaturgrad einer mit
heissem Wasser gefüllten Eprouvette, bei welchem eben eine Schmerzempfindung
zum Bewusstsein kommt, zur Prüfung derselben benützt werden.
6. Die letzt zu besprechende Prüfung, klinisch eine der wichtigsten,
ist die des sogenannten „Muskelsinnes". Wenn auch die viel umstrittene
Frage der sensiblen Muskelnerven in letzter Zeit in positivem Sinne dahin
entschieden zu sein scheint, dass man sensible an der Oberfläche der Muskeln
sich verästelnde Nerven annimmt, so bildet doch, was wir Muskelsinn nennen,
eine ziemlich complicirte Function, welche sich wahrscheinlich aus den von
der Haut, den Fascien, Bändern, Gelenken und Muskeln dem Centralorgane
zugeleiteten sensiblen Erregungen zusammensetzt.
Man prüft ihn erstens durch die Vornahme passiver Bewegungen an den
Gelenken. Das zu untersuchende Gelenk wird mit beiden Händen oberhalb
und unterhalb gut fixirt und es werden demselben ganz leichte Bewegungen
ertheilt, die der Kranke zu erkennen, resp. mit dem entsprechenden Gelenk
der anderen Seite zu wiederholen hat. Goldscheider hat einen Apparat an-
gegeben, welcher durch einen an einem getheilten Sector spielenden Pendel
gestattet, die Grösse der Excursionen direct abzulesen. Man prüft ihn ferner
unter der Form des „Kraftsinnes", indem man verschiedene schwere Gewichte
in ein Tuch gehüllt heben lässt und die Differenz der Gewichte angeben
lässt. Hitzig benützt zu diesem Zwecke eine Reihe äusserlich gleicher Holz-
kugeln, die eine verschieden grosse Bleifüllung haben und entweder mit der
Hand oder mit dem Fuss in einer am Strumpf angestrickten Seitentasche ge-
hoben werden. Störend ist bei diesem Prüfungsmodus der Drucksinn.
Endlich prüft man ihn durch die sogenannten „Lagevorstellungen".
Man gibt einer Extremität des Kranken (bei geschlossenem Auge) oder den
Fingern desselben eine bestimmte Lage. Der Kranke soll dieselbe richtig be-
zeichnen. Dies geschieht am besten durch Wiederholung der einer Extre-
mität passiv ertheilten Lage mit der normalen Extremität. Oder man lässt
mit der normalen Extremität nach bestimmten Punkten (z. B. Daumen)
der erkrankten Extremität, welcher man bei geschlossenen Augen des Kranken
verschiedene Lagen ertheilt, hinweisen. Bei normalen Individuen geschieht dies
*) Vergl. den Artikel „Elelctrodiagnostik" von Dr. A. Sperling, pag. 503 ds. Bd.
540 EMPFINDUNGSSTÖRUNGEN.
mit grösster Präcision, bei vorhandener Empfindungsstörung wird ein grös-
serer oder kleinerer Fehler begangen.
Wenden wir uns zur Betrachtung der Empf in düng s Störungen, wie
sie als Symptome der Erkrankung des Nervensj^stems aufzutreten
pflegen, so können von den durch Application äusserer Reize erkennbaren
objectiven Empfindungsstörungen, die wir gleich näher zu besprechen
haben werden, die subjectiven unterschieden werden, bei denen von den
Kranken in diesem oder jenem Erapfindungsgebiet Sensationen der verschie-
densten Art angegeben werden. Die gewöhnlichste derselben, der Schmerz,
bildet ein so allgemein verbreitetes, bei Krankheiten der verschiedensten
Art beobachtetes Symptom, dass er unter der Rul)rik der Empfindungsstörungen
selten abgehandelt wird. Doch bietet derselbe allein oder mit anderen Stö-
rungen verbunden häufig wichtige diagnostische Anhaltspunkte. Derselbe kann
in bestimmten Nervengebieten localisirt sein oder seinen Ort wechseln, kann
durch Druck gesteigert werden, so bei den sogenannten Schmerzpunkten
der Neuralgieen, bei gewissen Formen des Rückenschmerzes der Neiirasthe-
niker, bei peripherer Neuritis. Er kann ferner ganz bestimmte klinische
Erscheinungsformen annehmen, welche für bestimmte Krankheiten charak-
teristisch sind, so der eigenthümlich localisirte Schmerz der Hemikranie, die
lancinirenden Schmerzeh der Tahes. Besonders im Beginne verschiedener
Nervenerkrankungen sind Empfindungsstörungen häufig, welche sich entweder
durch das nicht durch äussere Reize veranlasste Auftreten von Wärme- oder
Kälteempfindung charakterisiren oder eigenthümliche Tastempfindungen dar-
stellen, wie sie sonst im normalen Leben nur durch complicirte Eingriffe der
Aussenwelt hervorgerufen werden können und die man gewöhnlich mit dem
Namen der Parästhesieen zusammenfasst. Pathologische Kälteempfindungen
kommen oft in den Extremitäten, besonders häufig den unteren bei Tabes
Neurasthenie, mit Hitzegefühl (und Schmerz) abwechselnd bei vasomotorischen
Neurosen vor, im letzteren Fall einhergehend mit entsprechenden Aenderungen
der Hautcirculation (Erythromelalgie). Wärmeempfindung über den ganzen
Körper verbreitet bildet ein höchst peinliches und charakteristisches Symptom
bei Paralysis agitans, in Form von aufsteigender mit Schweissen einhergehender
Wärme bei Morbus Basedow. Die Parästhesieen (sensu strictiori können auch
die abnormenWärme- und Kälteempfindungen als Parästhesieen aufgefasst werden),
treten am häufigsten ebenfalls in den Extremitäten auf. Die bekannteste Form
derselben bildet das sogenannte Ameisenlaufen, dessen gesteigerte Form das
Gefühl von zahllosen Nadelstichen hervorrufen kann (needles and pins der
englischen Autoren), das Gefühl von Würmerkriechen, Kitzel, Jucken, endlich
das Gefühl des Angeschwollenseins, der abnormen Länge und Kürze. Alle
diese abnormen Empfindungen können sowohl durch Erkrankungen des peri-
pheren als des centralen Nervensystems bedingt sein und sind besonders häufig
bei verschiedenen spinalen Erkrankungen. Gewisse Formen von Parästhesien
sind charakteristisch durch ihr Auftreten in ganz bestimmten Gebieten und
sind für manche Erkrankungen beinahe pathognomonisch, so das Gürtelgefühl
bei Tabes, das Gefühl des Clavus bei Hysterie. Gewissermassen den Ueber-
gang zu den objectiven Enipfindungsstörungen bilden diejenigen Formen der
subjectiven, in denen die Kranken in diesem oder jenem Gebiet, meist betrifft es
die Ober- oder Unterextremitäten, eine Herabsetzung der tactilen Empfindung
angeben, ohne dass die objective Prüfung etwas Abnormes entdecken kann.
Es sind dies die Fälle, wo das Gefühl des Taubseins, des Abgestorbenseins
von den Kranken augegeben wird. Sie werden besonders häufig bei Grosshirn-
erkrankimgen in den oberen Extremitäten beobachtet. Besonders bemerkens-
werth ist, dass während bei den erwähnten, die Kranken oft sehr belästigenden
Formen von Parästhesieen die genaueste Untersuchung keinerlei Defect der
Empfindung nachweisen kann, andererseits die hochgradigsten Formen von
EMPFINDUNGSSTÖRUNGEN. 541
objectiver Empfindungsstörung, wie sie z. B. bei Hysterie vorkommen, den
Kranken gar nicht zum Bewusstsein kommen, wenn sie ihnen nicht durch eine
zufällige Verletzung (meist sind es Verbrennungen) oder durch eine ärztliche
Untersuchung bekannt wird, ein Umstand, der mit darauf hinweist, dass es
sich bei den ersteren wohl meistens um centrale Reizzustände handelt, wofür
auch das Auftreten derselben im Beginne, das Verschwinden derselben und
Ersetztwerden durch Anästhesie im weiteren Verlaufe der Erkrankung spricht.
Zur Bezeichnung der objectiven Empfindungsstörungen ge-
braucht man im Allgemeinen die Ausdrücke Anästhesie, Hypästhesie und
Hyperästhesie. Unter Anästhesie versteht man diejenigen Fälle, in denen durch
Application eines äusseren adäquaten Reizes auch in maximaler Stärke keine
Empfindung ausgelöst wird, unter Hypästhesie diejenigen, bei welchen die
„Reizschwelle" eine abnorm hohe ist, zur Erzeugung einer normalen Empfin-
dung also abnorm starke Reize nöthig sind. Hyperästhesie würde eigentlich
den entgegengesetzten Zustand bedeuten, nämlich die Erregung von Empfin-
dungen durch abnorm schwache Reize, also eine Herabsetzung der „Reiz-
schwelle". Gewöhnlich gebraucht man diesen Ausdruck aber promiscue mit
dem der Hyperalgesie, den Zustand bezeichnend, in welchem bereits schwache
Reize Schmerzempfindung hervorrufen, oder man bezeichnet einen abnorm psy-
chischen Zustand damit, in welchem bei schwachen objectiven Reizen, welche
sonst mit keinem ausgesprochenen „Gefühlston" verbunden sind, lebhafte Unlust-
gefühle auftreten. Eine echte pathologische Hyperästhesie im obigen Sinne
des Wortes scheint überhaupt nicht beobachtet worden zu sein, wenn ich eine
Beobachtung Beaids ausnehme, in welcher eine hypnotisirte Patientin durch
mehrere Zimmer hindurch den Geruch verschiedener duftender Substanzen
richtig erkannt haben soll.
Was nun die Anästhesie und die Hypästhesie betrifft, so kann dieselbe
eine totale oder partielle sein. Total nennen wir dieselbe, wenn sämmt-
liche Empfindungsqualitäten, also Drucksinn, Schmerzempfindung, Temperatur-
empfindung, Muskelsinn u. s. f. gleichmässig von der störenden Ursache ge-
litten haben, also eine gleiche Herabsetzung oder gleichmässige Auslöschung
zeigen, partiell wenn bei vollständigem oder theilweisem Erhaltensein der einen
oder anderen Qualität die anderen fehlen. Dieser letzte Typus, die Disso-
ciation der Sensibilität, wie sie von Chaecot genannt wird, ist nicht nur klinisch,
sondern auch theoretisch von grosser Wichtigkeit. Wie es scheint, wurde
man auf die Thatsache, dass die Schmerzempfindung aufgehoben sein könne,
bei erhaltener Tastempfindung zuerst bei der Einführung der Aethernarcose
aufmerksam, ferner wurde dieser Zustand bei der Bleilähmung zuerst, von Kean,
dann von einem schweizerischen Arzt Vieusseux, „der an einer Erkrankung
des Centralnervensystems" litt, an sich selbst beobachtet (Citat nach Schiff,
Lehrbuch der Physiologie). Schiff hat dann durch scharfsinnige Experimente
den Nachweis geliefert, dass Thiere, denen die graue Substanz des Rücken-
markes bei Schonung der weissen Hinterstränge durchschnitten wurde, an ihrem
Hinterkörper Verlust der Schmerzempfindung bei erhaltener Tastempfindung
zeigen. Spätere klinische Untersuchungen, besonders von Schulze und Kahler,
haben eine weitere Form der „Dissociation" kennen gelehrt, welche besonders
für die Syringomyelie charakteristisch ist, und daher von Chaecot geradezu
als Dissociation syringomyelique bezeichnet wurde. Bei dieser Form ist bei
vollständigem Erhaltensein des Tastsinnes, Herabsetzung oder Aufhebung der
Schmerzempfindung und der Temperaturempfindung vorhanden. Besonders
charakteristisch in Verbindung mit anderen Symptomen (Muskelatrophie) füi'
letztgenannte Krankheit ist dieser Typus übrigens auch bei der Hysterie aber
auch bei peripheren Nervenerkrankungen (Neuritis), insbesonders bei Lepra
beobachtet worden. Theoretisch wichtig sind diese Thatsachen, weil sie für
eine anatomische Trennung der Bahnen für Tastsinn, Temperatursinn und
542 EMPFINDUNGSSTÖRÜNGEN.
Schmerzgefühl sprechen. Eigenthümliche Combination von Anästhesie mit Hy-
peralgesie und normaler Empfindlichkeit zeigen die von Leyden als „relative
Hyperästhesie" bezeichneten Fälle, in denen die Kranken gegen schwächere
Keize anästhetisch sind, bei Steigerung der Reizstärke aber von einem ge-
wissen Punkt abnorm intensive Empfindungen haben, ferner die von Berger
beschriebenen von B. Stern als „relative Anästhesie" bezeichneten, wo schwache
Reize normal oder schmerzhaft, excessive gar nicht empfunden werden. Beide
Störungen kommen nicht gar zu häufig bei Tabes vor.
Die Vertlieilimgsweise der Anästhesie, resp. der Hyperästhesie be-
treffend, welche für die richtige Diagnose der zu Grunde liegenden Erkran-
kung natürlich von grösster Wichtigkeit ist, sind in erster Linie diejenigen
Fälle zu nennen, in welchen dieselbe mehr oder weniger genau dem Aus-
breitungsgebiet eines bestimmten Nerven entspricht, wie dies also bei Durch-
schneidung oder neuritischer Erkrankung der betreffenden Nerven vorkommen
kann. Wir sprechen nur von der Möglichkeit dieses Typus, denn sowohl
chirurgische als experimentelle Erfahrungen der neueren Zeit (Arloing und
Tripier) haben gelehrt, dass im Trigeminusgebiet sowohl, als an den Extre-
mitäten, besonders den Spitzen derselben nach einer Nervendurchschneidung
die Anästhesie entweder ganz fehlen oder in relativ kurzer Zeit verschwinden
kann, dass ferner das anästhetische Gebiet häufig durchaus nicht der anatomi-
schen Ausbreitung des durch trennten Nerven entspricht, sondern ein viel kleine-
res Gebiet einnimmt (Collateralinnervation), indem die einzelnen Innervations-
gebiete in einander überzugreifen scheinen. Das letztere gilt nicht für die nach
Durchtrennung einzelner hinterer Wurzeln beobachteten Empfindungsstörungen.
Man hat erst in jüngster Zeit den Anfang gemacht, an der Hand geeigneter
Fälle und Thierversuche die hiebei auftretenden anästhetischen Partieen ge-
nauer zu bestimmen, sie scheinen genau begrenzte, nie in einander übergrei-
fende Hautgebiete darzustellen, für welche das Phänomen der „Collateralinner-
vation" nicht gilt.
Querdurchtrennung des Rückenmarks oder derselben entspre-
chende Erkrankung setzen complete Anästhesie der unterhalb gelegenen Par-
tieen, halbseitige Durchtrennung erzeugt Hemianästhesie der gekreuzten, unter
der Verletzung gelegenen Körperhälfte. Häufig ist auch an der nicht ge-
kreuzten Körperhälfte eine schmale anästhetische Zone nachweisbar, welche sich
in der Form eines Gürtels um den Körper erstreckt und das unterhalb der-
selben gelegene motorisch gelähmte und hyperästhetische Gebiet begrenzt.
Dieselbe erklärt sich durch Verletzung der betreffenden hinteren Wurzel.
Meist erstreckt sich diese Form der Anästhesie bis zur Medianlinie, doch hat
schon Brown Sequard darauf aufmerksam gemacht, dass vorn und hinten
nahe der Medianlinie ein Raum von etwa einem Zoll sich befindet, innerhalb
dessen auf der Seite der Läsion die Hyperästhesie, auf der anderen jeder höhere
Grad von Anästhesie fehlen kann. Diese Erscheinung erklärt sich durch das
Uebergreifen der sensiblen Nerven der beiden Seiten über die Medianlinie.
Gekreuzte Hemianästhesie ist ferner beobachtet worden bei Lä-
sionen in der Gegend der Schleife und der Olivenzwischenschicht der Brücken-
region in Uebereinstimmung mit den neueren Forschungen über den anato-
mischen Verlauf der Bahnen der Hautsensibilität, welche bekanntlich aus den
Hinterstrangkernen in die gekreuzte Schleifenbahn eintreten. Gekreuzte He-
mianästhesie tritt ferner auf nach Läsionen des hinteren Drittels des hinteren
Schenkels der inneren Kapsel, hier zum erstenmale verbunden mit Empfindungs-
störungen im Gebiet der höheren Sinnesnerven. (Sensorische Anästhesie.) Ana-
tomische, physiologische und klinische Beobachtungen drängen nämlich dahin,
ein Durchtreten sämmtlicher Empfindungsbahnen auf ihren Wegen zur Hirn-
rinde durch diese weisse Fasermasse anzunehmen, und in der That sind in den
entsprechenden Fällen mit der gekreuzten Anästhesie der Haut und der Schleim-
EMPFINDUNGSSTÖRÜNGEN. 543
häute, Fehlen des Geruchssinnes (Änosmie) und Gehörssinns (Anahusie) der
gekreuzten Seite und Störungen des Gesichtssinnes (Amhlyopie), angeblich eben-
falls der gekreuzten Seite beobachtet worden. Indess bietet der letztere Punkt
Anlass zu begründetem Zweifel. Es ist nämlich ausser allem Zweifel, dass
Läsionen im Gebiete der Occipitalhirnrinde nicht gekreuzte Amblyopie, sondern
homogene Hemiopie an beiden Augen hervorrufen und es ist eine fast un-
abweisliche Forderung, dass dies auch bei Läsionen des Stabkranzes des Occi-
pitalhirns nach und während seines Durchtrittes durch die innere Kapsel er-
folgen muss. Da die bisherigen Beobachtungen, wie schon erwähnt, nur von
gekreuzter Amblyopie sprechen, so erscheint eine Neuuntersuchung dieser Frage
an geeigneten Fällen im höchsten Grade wünschenswerth.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine ausgedehnte Rindenläsion im Gebiet
der Centralwindungen mit Hemianästhesie der gekreuzten Körperhälfte sich
verbinden würde, doch sind derartige Fälle bisher nicht beobachtet worden, hin-
gegen konnten Teipier und Andere nach Läsionen der Hirnrinde gekreuzte
Sensibilitätsstörung von verschiedener Ausdehnung constatiren. Am häufigsten
erscheint die Hemianästhesie als Begleiterscheinung von functionellen Stö-
rungen des Nervensystems, in erster Linie der Hysterie, für welche sie lange
Zeit geradezu als pathognomonisches Zeichen aufgefasst wurde. In der That
bildet totale Hemianästhesie vorwiegend der linken Körperhälfte sämmtlicher
Hautsinnesqualitäten, verbunden mit Anästhesie der betreffenden Schleimhäute
und mit totalem oder partiellem Verlust des Gehörs, Geruchs, Geschmacks und
Gesichts der erkrankten Seite, eines der stabilsten Symptome der „grossen Neu-
rose". Die Störung des Gesichtssinns bildet dabei entweder complete Amau-
rose oder nur Amblyopie, gewöhnlich mit bedeutender Einengung des Gesichts-
feldes (niemals Hemiopie) mit oder ohne Dyschromatopsie. Die Hemianästhesie
kann total sein, kann aber auch den „dissociirten Typus" annehmen und eine
oder die andere Function des Hautsinns vorwiegend betreffen. Die hysterische
Hemianästhesie kann dauernd sein, durch Monate und Jahre bestehen, oder sie
bildet ein wechselndes Symptom, welches besonders häufig die sogenannten
„Krisen", d. i. die Anfallsgruppen als prämonitorisches Symptom einleitet
und einige Zeit nach dem Aufhören der Anfälle wieder verschwindet. Während
die Hemianästhesie mit Betheiligung der höheren Sinne von der französischen
Schule als ausschliesslich der Hysterie angehörig betrachtet wird, soll dieselbe
nach Untersuchungen deutscher Autoren nicht derselben allein eigenthümlich
sein, sondern auch bei anderen Neurosen, besonders bei der sogenannten Un-
fallsneurose, vorkommen können. Der Streit über diese Frage ist nicht ab-
geschlossen, da die französischen Kliniker die letzteren Fälle ebenfalls zur Hy-
sterie rechnen.
Erstreckung der Anästhesie auf einzelne Körpertheile, insbe-
sonders Extremitäten, wobei die Abgrenzung nicht nach Nervengebieten, sondern
meist durch verticale Linien erfolgt, kommt vor bei Läsionen der Hirnrinde,
Hysterie, aber insbesonders nach den Untersuchungen von Oppenheim und
Thomsen auch bei anderen functionellen Nervenkrankheiten sowie bei organi-
schen Nervenerkrankungen als accessorische functionelle Störung. Bei der Hyste-
rie bildet diese Form der Sensibilitätsstörung jenen eigenthümlichen Ausdeh-
nungsmodus der Anästhesie, welchem von Charcot der sehr bezeichnende Namen
der „Anesthesie par segments geometriques" gegeben wurde. Sie schliesst sich
häufig an hysterische Lähmungen der entsprechenden Extremität an, oft mit
directer Beziehung auf den traumatischen Ursprung der Läsion, so z. B. in
dem Falle, wo die verticale Begrenzungslinie der Anästhesie der Stelle ent-
sprach, wo ein Wagenrad über die Unterextremitäten wegging. Auch diese
nach Körpertheilen begrenzten Anästhesien vereinigen sich oft mit sensorischen
Störungen und kommen ausser bei Hysterie bei anderen functionellen Neu-
rosen vor, regelmässig vereint mit gewissen psychischen Anomalien, Bewusst-
544 EMPFINDUNGSSTÖEUNGEN.
Semstrübungen, Hallucinations-, Traum- und Dämmerzuständen, abnormer Reiz-
barkeit oder Depression und Angstzuständen. Es besteht übrigens auch hier
bezüglich der Auffassung dieser Fälle die oben erwähnte Differenz zwischen
der französischen und deutschen Schule. Im Anschluss an neuere Unter-
suchungen hat ferner Chakcot eine ähnliche Yertheilung der Sensibilitäts-
störung auch bei Syringomyelie beschrieben.
Ein fernerer Vertheilungsmodus der Anästhesie ist das Auftreten der-
selben in isolirten Inseln. Unregelmässig über den ganzen Körper
zerstreut finden sich mehr weniger grosse anästhetische Hautpartieen. Diese
können entweder constant sein oder ihre Ausdehnung und Lage wechseln.
In einem CHARCOT'schen Falle wurde gleichsam der Zerfall einer Hemi-
anästhesie in solche anästhetische Inseln beobachtet. Was das Vorkommen
dieser Form bei anderen Erkrankungen des Nervensystems betrifft, so gilt für
sie das oben von den hysterischen Anästhesien Gesagte.
Endlich gibt es Fälle, in denen sich die Anästhesie über den ganzen
Körper erstreckt, manchmal mit weitgehender Betheiligung der höheren
Sinnesorgane. Während es sich in einzelnen dieser Fälle wohl zweifellos um
eine über den ganzen Körper sich erstreckende hysterische Anästhesie handelt,
bilden die anderen in der Literatur beschriebenen Fälle eine Gruppe für sich.
Einer der älteren derselben, der zur anatomischen Untersuchung gelangte (Fall
Späth), gehört wahrscheinlich in's Gebiet der Syringomyelie. Die anderen
sind meist mit psychischen Störungen verbunden und stellen, wie die anato-
mische Untersuchung einzelner derselben lehrt, functionelle Erkrankungen des
Nervensystems dar, deren Einreihung in bestimmte klinische Rahmen heute
noch nicht möglich ist.
Dass eine echte Hyperästhesie klinisch nicht bekannt ist und die als solche
beschriebenen Fälle wohl meist in das Gebiet der Hyperalgesie gehören,
wurde schon erwähnt. Die Art und Weise des Auftretens kann ganz analog
dem der Anästhesie sein. Von klinisch genauer bestimmten Formen wäre
besonders zu erwähnen die an der derVerletzung gleichnamigen motorisch ge-
lähmten Seite auftretende Hyperalgesie bei der BBOwx-SEQUARD'schen Lähmung,
sowie die Hyperalgesieen bei Hysterie. In sehr seltenen Fällen betrifft
diese die ganze Körperoberfläche und äussert sich ausser in schmerzhafter
Empfindung einfacher Berührungen der Haut in höchst qualvollen subjectiven
Empfindungsstörungen, Kriebeln, Prickeln u. s. f., in anderen ebenso seltenen
Fällen constatirt man eine Hemihyperalgesie. Viel häufiger sind die hyper-
algetischen Hautpartien unregelmässig über den Körper vertheilt oder sie
sind wie die Anästhesieen in „geometrisch begrenzten" Segmenten angeordnet.
Im letzteren Falle scheint die Regel zu gelten, dass die Hyperalgesie ebenso
wie die Anästhesie einer Störung der Function superponirt erscheint.
So wie also die hysterische Anästhesie in geometrischen Segmenten meist einer
Lähmung der unterliegenden Muskeln superponirt ist, so ist die Hyperalgesie
in geometrischen Segmenten meist Contracturen der betreffenden Musculatur
superponirt.
Eine fernere wichtige hieher gehörige Form bildet die Hyperalgesie,
welche bei hysterischen Arthralgieen die über dem erkrankten Gelenke ge-
legene Haut in verschiedener Ausdehnung betrifft und häufig noch nach
Wiederherstellung der Function des Gelenkes fortbesteht. Auf eigenthüm-
liche Formen der Hyperalgesie der Haut hat neuerdings H. Head aufmerk-
sam gemacht. Sie treten bei verschiedenen schmerzhaften Erkrankungen inne-
rer Organe auf und decken sich in ihrem Ausbreitungsgebiet mit dem von
den verschiedenen Formen des Herpes Zoster eingenommenen Hautterritorien.
Schliesslich sind noch die unregelmässig über den Körper verbreiteten hyper-
algetischen Plaques bei der Hysterie zu erwähnen, welche als hysterogene
Zonen bezeichnet werden und die Eigenthümlichkeit zeigen, dass durch deren
EMPHYSEM DER LUNGEN. 545
Berührung oder länger dauernde mechanische Erregung hysterische Anfälle
ausgelöst, aber auch coupii't werden können.
Zum Schlüsse müssen wir noch einiger eigenthümlichen Formen von Em-
pfindungsstörungen gedenken, welche insbesondere dem klinischen Krankheits-
biide der Tabes eigenthümlich sind und theils wahrscheinlich auf Störungen
der Empfindungsleitung beruhen, theils aber bisher einer ausreichenden Er-
klärung nicht zugänglich erscheinen. Hieher gehört vor Allem die einfache
Yerlangsamung der Empfindungsleitung, gewöhnlich 1 — 3 Secunden betragend
und alle Emptindungsqualitäten gleichmässig betreffend. Häufiger findet sich
die Yerlangsamung der Schmerzempfindung gegen die Tastempfindung, wobei
z. B. nach Application eines Nadelstiches zuerst die einfache Berührung und
nach einem deutlichen Intervall erst die Schmerzempfindung wahrgenommen
wird. In ähnlicher Weise kommt eine Incougruenz der Tast- Wärmeempfin-
dung vor.
Als Doppelemp findung wird jene Empfindungsanomalie bezeichnet,
bei welcher auf einen Nadelstich hin zwei Schmerzeindrücke empfunden werden,
welche sich in einem kurzen Zeiträume folgen, am selben Orte localisirt werden
und von denen der zweite gewöhnlich der stärkere ist (Nauxyx). In anderen
Fällen wurde die zweite Empfindung 2 — 3 cm entfernt von dem ursprünglichen
Stiche localisirt. Dieselbe Erscheinung wurde auch auf dem Gebiet des Tast-
sinnes beobachtet und mit dem Xamen der Polyästhesie bezeichnet.
Mit dem Xamen der Allocliirie wurde ein selten beobachtetes und
ausser bei Tabes auch bei Hysterie und multipler Sklerose vorkommendes
Symptom benannt, welches darin besteht, dass ein an eine Extremität des
Kranken applicirter Pieiz an der anderen empfunden wird.
Unter dem Xamen der paradoxen oder perversen Temperatur-
empfindung bezeichnet man die Erscheinung, dass Application eines Kälte-
reizes Wäiineempfindung hervorruft. Alle diese Symptome sind, wie schon
erwähnt wurde, besonders der Tabes eigenthümlich. Bei der Hysterie hat
PiTEES unter dem Xamen der Haphalgesie ein Symptom beschrieben, das
darin besteht, dass nach der Application ganz bestimmter Metalle auf sonst
anästhetische Hautpartien schmerzhafte Empfindungen auftreten, welche selbst
zu Contracturen Veranlassung geben können. Täuschung von Seite der
Kranken soll ausgeschlossen sein.
Auf schneller Ermüdung der Sensibilität beruht endlich die Erscheinung,
dass nach Application eines Reizes ('faradischer Pinsel, Wärme) die Empfin-
dung nach einiger Zeit erlischt, dann schwächer wiederkehrt, um dann defini-
tiv zu erlöschen. sixger.
Emphysem der Lwn^^n (Emphysema pulmonum). Seit Laexxec unter-
scheidet mau ein Emphysema alveolare s. vesiculare und ein Empjhysema
interlolulare s. interstitiale. Da nur das erstere als selbständige Krankheit
auftritt, so ist es dieses, auf das sich die nachfolgenden Ausführungen beziehen.
Das interstitielle Empliysein stellt jene Yeränderimg der Lunge oder einzelner Lungen-
partien dar, bei welcher durch Zerreissung der Alveolarwandungen ein Luftaustritt in das
interlobuläre Bindegewebe stattfindet. -Luftcanäle" trennen die einzelnen Lobuli von einan-
der, die Luft dringt einerseits zur Pleura vor und hebt dieselbe in Fonn von Blasen ab,
andererseits bahnt sich die Luft einen Weg ins mediastinale und Zellgewebe des Halses und
erzeugt daselbst subcutanes Emphysem.
Man findet das interstitielle Lungenemphysem als meist nebensächlichen Leichenbefund
bei verschiedenartigen Veränderungen des Lungengewebes, meist mechanisch dadurch er-
zeugt, dass durch starke Husten- und Pressbewegungen, seltener durch ulcerative Vorgänge
oder durch Traumen auf den Thorax, eine Zerreissung der Alveolarwände und hiedurch
bedingter Luftaustritt zustande kommt. So hat man namentlich bei Croup interstitielles
Lungenemphysem häufig gefunden. Bei Neugeborenen kommt das interstitielle Lungen-
emphysem dadurch zustande, dass man den asphyktisch Geborenen gewaltsam Luft einzu-
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. oO
546 EMPHYSEM DER LUNGEN.
pressen versucht. Dass ein interstitielles Lungenemphysem geringeren G-rades sich voll-
ständig rückbilden kann, ist wohl leicht begreiflich.
Das Empliysema alveolare ist nicht nur pathologisch-anatomisch, sondern
auch klinisch ein selbständiger Krankheitsbegriff. Es besteht in einer Er-
weiterung der Alveolarräume, die mit Schwund und Atrophie der
A 1 V e 0 1 a r w a n d u n g e n einh ergeht .
Die mit den eben genannten Worten gegebene Charakteristik des Lun-
genemphysems passt nicht für alle Grade und Formen desselben. Es existirt
zunächst eine einfache Ausdehnung der Alveolarräume ohne Veränderung ihrer
Wand (Älveolarectasie) und diese Veränderung ist es, die vrii bei allen jenen
Zuständen finden, wo wir von einer a c u t e n L u n g e nb 1 ä h u n g ( Volumen pul-
monum aiidum) zu sprechen pflegen.
Alle jene Vorgänge, welche zur Verengerung der Bronchien und Bron-
chiolen führen, sei es nun, dass Fremdkörper, Neoplasmen, Struma durch Druck
von aussen deren Lumen comprimiren, sei es, dass fibrinöse Exsudationen
oder durch Katarrh bedingte Anhäufungen von Secreten von innen her das
Lumen der Bronchialverästigungen obturiren, führen zu Älveolarectasie und
bei dauernder Stabilität zu jenem Zustande, den wir als chronische
Lungenblähung bezeichnen wollen. Alle jene Bewegungen ferner, bei denen
der intraalveoläre Binnendruck excessiv gesteigert wird, erzeugen, wenn dies
auch nur zeitweilig geschieht, durch die oftmaligen Wiederholungen dieses
Vorganges, ebenfalls chronische Lungenblähung. Es sind zumeist gewisse Be-
schäftigungen, wie das Spielen von Blasinstrumenten, das anhaltende Schreien
und Singen, die Glasbläserei u. a. In demselben Zusammenhange steht nach
der hergebrachten Lehre die Entwicklung der chronischen Lungenblähung
bei Leuten, welche ihrer Beschäftigung nach übermässig Treppen steigen,
schwere Lasten heben, bei Individuen, welche an chronischer Obstipation
leiden u. s. f.
Eine besondere Art der Lungenblähung ist die vicariirende (sog.
compensatorisches Emphysem der Autoren). Wenn der intraalveoläre Druck
in den durch Stenosirung oder vollständige Obliteration einzelner Bronchial-
äste functionsuufähig gemachten Lungenpartien bedeutend sinkt, so steigt er
andererseits wieder in den bisher gesunden Lungentheilen und erzeugt derart
Älveolarectasie. So ist die vicariirende Lungenblähmig eine der häu-
figsten Begleiterscheinungen der Tuberculose. Während die Lungenspitzen in-
filtrirt erscheinen, sind die unteren und hinteren Lungenpartien stark gebläht,
der Schallimt erschied über ersteren und letzteren ist überaus auffällig, Leber-
und Herzdämpfung sind nach abwärts gerückt — alle Erscheinungen des Emphy-
sems sind in diesen Fällen oft so auffällige, dass man bei der ersten flüch-
tigen L'ntersuchung weit leichter der Diagnose eines Emphysems (Empliysema
substantialej, als der einer Lungentuberculose zuneigen wird.
Es wird diese irrthümliche Annahme durch das makroskopische Aussehen
des Sputums in vielen Fällen oft noch bekräftigt, da bei inveterirter Lungenspitzen-
phthise die Expectoration spärlich ist und oft nur eine Folge des das Emphysem in den
unteren Lungenpartien begleitenden nicht bacillären Catarrhs^ bildet Selbst eine mikro-
skopische Untersuchung und eine Färbung des Sputums bietet oft ganz dieselben Zell-
elemente (grobgranulirte. eosinorphile Zellen), wie wir sie bei singulärem Emphysem und bei
Bronchialasthma finden. (.J. ^YEISS. E. Maxdybur.)
Pathogenese mid pathologische Anatomie.
Die Beschäftigung einerseits, das Alter anderseits werden allgemein
als die wichtigsten prädisponirenden Momente des Emphysems angegeben.
Die althergebrachte Lehre, dass gewisse Beschäftigungen das Zustande-
kommen von Emphysem veranlassen, hat namentlich Forlaxixi in einer sehr
interessant gescliriebenen Arbeit zu widerlegen gesucht. Bei Bergbewohnern,
EMPHYSEM DER LUNGEN. 547
Sängern und Bläsern fand Forlaxini nicht nur keine Abnahme der
Athmungsgrösse, sondern geradezu eine Verstärkung der Athmungs-
kraft. Sehr deutlich zeigte sich dies auch bei den Trompetern der Bergtrup-
pen, welche gleichsam Bergbewohner und Bläser in einer Person darstellten.
Die Zunahme der In- und Exspirationskraft l)ei Sängern wurde übrigens
schon früher durch die Untersuchungen von Lagrange und jene von Was-
siLjEw unzweifelhaft bewiesen.
Zur Prüfung dieser Angaben habe ich an 296 Fällen von Emphysema pulmo-
num, die in den Jahren 1887 — 1893 auf der Abtheilung des Herrn Hofrath. Dräsche in
Spitalspfiege gestanden waren, Untersuchungen angestellt. Das Resultat meiner Erhebun-
gen war folgendes:
21 — 30 Jahre alt waren 8 Fälle
. 31—40 .. ., ^ 17 ..
41—50 .. ., „ 64 .,
51—60 ,. „ ., 80 ;,
61—70 „ „ ,. 94 ,
71—80 „ „ '.. 32 '„
81—90 „ „ , _ IFall
296 Fälle.
Die Durchsicht jener Fälle, welche im Alter von 21 — 40 Jahren gestanden (25), ergab die
jedenfalls bemerkenswerthe Thatsache. dass in 9 Fällen obsolete Spitzeninfiltration vorhanden
war, die jedenfalls zur Entwicklung des Emphysems beigetragen hatte. In 2 dieser Fälle
war bedeutende Kyphoscoliose, in 2 anderen chronische Hautausschläge (Eczeme) conco-
mittirend; inwiefern das erste Moment zur Entwicklung von Emphysem Veranlassung
bietet, liegt wohl klar zu .Tage, ob dies auch bezüglich der Hautaifectionen behauptet
werden kann, erscheint zweifelhaft ; immerhin muss auf das combinirte Vorkommen von
Bronchialasthma mit consecutivem Emphysem und Hautausschlägen verwiesen werden.
Unter den 296 Fällen unserer Statistik befanden sich 79 Weiber, ein relativ geringer
Percenttheil, nämüch 26'7°/o.
Was die Beschäftigung der 215 männlichen Personen betriift. so waren hie von:
Tagiöhner 64
Pfründner 28
Schlosser 10
Schneider 10
Diener 10
Tischler 8
Kutscher 6
Schuster 5
Bäcker 4
Beamte 4
Steinmetz 4
Drechsler 3
Hausierer 3
Je zwei Personen entfielen auf die Berufsarten: Dienstmann, Fabriksarbeiter, Maurer,
Pflasterer, Schmied, Strassenkehrer. Wirth.
Je eine Person betraf die Beschäftigung: Agent, Bergmann, Buchbinder, Büchsen-
macher, Commis, Diurnist, Färber, Feuerbursch. Fleischhauer, Fremdenführer. Hausbesorger,
Hausknecht, Heizer, Lederer, MaurerpoUer, Mechaniker, Müller, Musiker, Oblatenerzeuger,
Optiker, Posamentierer, Schimimacher, Schleifer, Schriftgiesser, Schriftsetzer, Seidenzeug-
macher, Sesselflechter, Silberpolier, Strumpfwirker, Taschner, Wagenlackierer, Weber,
Werkmeister.
In Berücksichtigung dieser Verhältnisse ergeben sich ungezwungen fol-
gende Schlüsse: 1. Das Emphysem ist vorwiegend eine Krankheit des Alters,
am häutigsten betrifft es Individuen der Altersdekade 61 — 70, fast ebenso
zahlreich Personen zwischen dem 51. und 60. Jahre; 2. dagegen ist das Em-
physem selten bei Individuen bis zum 41. Jahre und tragen in solchen Fällen
meist besondere Momente zur frühzeitigen Entwicklung des Emphysems bei;
3. das weibliche Geschlecht prädisponirt für die Krankheit in viel ge-
ringerem Maasse, was damit zusammenhängen mag, dass erstens die Arbeit
weil^licher Personen eine viel weniger beschwerliche und dass sie meist unter
anderen Verhältnissen ausgeführt wird (keine staubige, rauchige Atmosphäre
in den Arbeitsräumen, keine Inhalation fester und gasiger Stoffe, welche
Bronchialaffectionen erzeugen); 4. bei einer über Spitalspatienten aufgestellten
35*
548 EMPHYSEM DER LUNGEN.
Statistik zeigt sich kein wesentliclier Einfluss einer speciellen Beschäftigung:
auf die Entwicklung des Emphysems, gehört doch das Krankenmaterial des
Spitales fast durchaus der schwer arbeitenden Classe an; 5. die Ansicht
LiEBEEMEiSTEES, dass das Emphysem vorzugsweise bei Individuen auf-
trete, welche ..sich häufig den Unbilden der Witterung aussetzen und Er-
kältungen erleiden", ist nach unseren Beobachtungen nicht gerechtfertigt.
Die Befunde^ welche die pathologischen Anatomen mittheilen,
lauten seit Rokitansky vollkommen übereinstimmend. PiOkitaxskt hat als
der erste die Earefication des Lungengewebes als Charakteristicum
hervorgehoben. Es bildet das „Wesen des Emphysems." Bei der Er-
öffnung des Thorax cbängen sich die Lungen vor, sind von vergrössertem
A^olum und dabei von auffallend geringem Gewicht. Beim Einschneiden ver-
nimmt man ein starkes Knistern ; schon makroskopisch bemerkt man erbsengi^osse
(und darüber) namentlich an den Ptändern sichtbare Alveolarectasien. Mi-
kroskopisch zeigen sich die Zwischenwände der Lungenalveolen geschwunden
oder es sind nur leistenartige Ueben'este vorhanden.
Beachtenswertli erscheint diesbezüglicli die Meinung von P. Grawitz. wonach der
Vorgang der Emphysembildnng die Piückkehr des Bindegewebes auf den embryo-
nalen Znstand demonstrirt. ,Man 'sieht," sagt Grawitz, ..schon in frühen Stadien (des
Emphysems), dass die Saftspalten sich erweitern, dass ans langen, perlschnurartigen Pigment-
körnciien wieder Spindelzellen werden, dass diese den Saftcanal erfüllen und fortwan-
dern, dass die schwarzen, sternförmigen Pigmentklümpchen, die im ruhenden Lungen-
gewebe wie für die Ewigkeit festgelagert erschienen, wieder erwachen, sich als den Inhalt
einer anfangs spindeligen, dann rundlichen Zelle erkennen lassen und mit dieser Zelle in
die Lymphwege übertreten." Zur Stütze seiner Hypothese weist Grawitz darauf hin, dass
Milz und Leber bei Emphysematikern einen reichlichen Gehalt von Kohlenpigment besitzen
und erklärt dies mit der Annahme: .die mit Kohlenpigment beladenen Zellen, welche die
Lungen in den gesunden Theilen erfüllen, sind auf dem Wege der Lymphbahn aus den
emphysematösen Partien derselben in das Gewebe von Leber und Milz angeschwemmt
worden "
Man spricht von sogenannten Emphysemtheorien, es deutet dies
das Bestreben einen, wie immer in der Natur, durch eine Concurrenz von
Bedingungen entstandenen Zustand mit einem einzigen Syllogismus zu er-
klären. Man hat keine Berechtigung anzunehmen, dass nur ein ein-
ziger Vorgang (forciite In- und Exspirationen, Yerknöcherung der Pdppen-
knorpel, atheromatose Veränderung der Gelasse etc.) ziu- Entwicklung von
Emphvsem him-eiche.
Der pathologische Histolog findet Veränderungen, die er als Schwund
(Atrophie) kennzeichnet. Und nun stellt sich die Frage so: Vermögen jene
Momente, welche in oben gegebener Darstellung zur chronischen Lungen-
blähung (Alveolarectasie) führen, secundär histologische Veränderungen zu
erzeugen, oder sind es nur Hilfsursachen, welche die Disposition zur Earefica-
tion des Lungengewebes (Rückkehr des Bindegewebes zum embryonalen Zu-
stand?) zui' Auslösung bringen, sie gleichsam fördern und begünstigen ? Würde
man zu dem Schlüsse kommen, die ersterwähnte Frage zu verneinen, —
LiEBERMELSTER Sagt ..vielleicht" — so wäre es passend, die Zustände chro-
nischer Lungenblähung vom Emphysem zu trennen.*)
Unzweifelhaft ist es hingegen anderseits, dass primäre anatomische
Veränderungen des Alveolargewebes existiren, welche den Verlust der
normalen Elasticität zu Folge haben. Dass gerade das Alter so hervorragend
an dem Procentsatz der Emphysemki^anken betheiligt ist, spricht wohl sehr für
die Häufigkeit des primären Charakters der Lungenveränderungen, unbeein-
flusst von mechanischen Ursachen.
Eine besondere pathologisch-anatomische Veränderung ist die Lungenatrophie.
Scheinbar ist dieser letztgenannte Zustand, der sich durch Verkleinerung des
Lungenvolums und durch hochgradigen Schwund der Alveolen mit Atelektase
In vorliegender Darstellung bin ich zum Theil diesem Gedanken gefolgt.
EMPHYSEM DER LUNGEN. 549
ihres Lumens kennzeichnet, der Gegensatz zum Emphysem der Lunge. Anderseits stellt
das Emphysem, entstanden durch Schwund der elastischen Elemente innerhalb der
Alveolarwandungen, gleichsam wieder eine besondere Art oder yielleicht ein Vorstadium der
Lungenatrophie vor. Treifend unterscheidet deshalb Orth folgende Arten von alveola-
rem Emphysem: einfaches Emphysem (abnorme Ausdehnung der Alveolen noch in-
nerhalb physiologischer Grenzen), ectatisches Ephysem (mit einer dieselben weit über-
schreitenden Alveolarectasie und Erniedrigung der dem einzelnen Alveolus zugehörigen
Leisten), endlich atrophisches Emphysem (mit Schwund des Parenchyms). Diese Ein-
theilung ist wohl nur schematisch, zumal auch Orth zugibt, dass eine scharfe Trennun»
dieser Emphysemformen nicht existirt.
Symptome.
Die Inspection zeigt uns zunächst Störungen der Athmungsmechanik.
Da der Exspirationsact vornehmlich von der Activität der elastischen Kräfte
abhängig ist, so wird bei dem Verluste der letzteren zuerst die Exspiration
erschwert sein, während die Inspiration noch ganz ungestört von statten geht.
Orthopnoe, Lufthunger und hochgradige Cyanose sind nicht allein
Folge der gestörten Lungenventilation, sondern solche der gleichzeitig
pathologisch gewordenen Blutbewegungen. Abnormaler Wechsel von Expansion
und Retraction übt einen fördernden Einfluss auf die Circulation in den Lungen-
capillaren. Dieser fehlt beim Lungenemphysem und so ist das erste Moment
gegeben, um die Circulation in den Lungengefässen zu verlangsamen. Ein
zweites Moment ist die Steigerung des alveolaren Binnendruckes, womit die
in den Alveolarwänden verlaufenden Capillaren direct comprimirt werden.
Berücksichtigt man ferner, dass die histologischen Veränderungen in den
Alveolarwänden auch einen ihrer Hauptbestandtheile — die Capillaren nämlich —
betreffen, und dass es endlich auch eine Arteriosclerose der Lungengefässe
gibt, welche sehr häufig das Emphysem combinirt, wenn nicht gar ein dis-
ponirendes Moment bildet, so wird man es begreiflich finden, wie hochgradig
die Störungen der Blutcirculation bei Emphysem werden können.
Als äusseres Kennzeichen des Emphysems wird ferner der bekannte
fassförmige Thorax angeführt: Das Sternum ist stark vorgewölbt, die
Rippen markiren sich sehr scharf unter der Haut ab, die Intercostalräume sind
beträchtlich erweitert, die Wirbeisäule ist nach hinten vorgewölbt.
Nach Freund soll eine Veränderung des Thoraxskelettes (Verknöcherung der Rippen-
knorpel) als veranlassendes Moment für Emphysem zu betrachten sein. Ueber den Werth
derartiger Annahmen wurde bereits oben geurtheilt.
Keineswegs ist jedes Emphysem durch fassförmigen Thorax charakterisirt.
Die am häufigsten zu constatirende Difformität ist die Erweiterung der Inter-
costalräume. Der fassförmige Thorax kommt bei Individuen vor, welche an
chronischer Bronchitis leiden und ist dadurch bedingt, dass der Thorax dau-
ernd in Inspirationsstellung verharrt. (A. Fraenkel.)
Die P alpation bietet eine vermehrte Thoraxresistenz, eine Abschwächung
des Stimmfremitus und eine Abschwächung oder Fehlen des normalen Herz-
spitzenstosses. Statt dessen fühlt man, wenn man unterhalb des Processus
xiphoides tastet, den Anprall des bei jeder Systole sich vorwölbenden hyper-
trophischen Ventrikels. An dieser Stelle gewahrt man eine Pulsatio epigastrica,
die fast stets zum klinischen Bilde eines ausgesprochenen Emphysems gehört.
Die Percussion ergibt eine auffällige Lautheit und Tiefe des Schalles
{Schachtelton). Sehr häufig ist jedoch gerade das Gegentheil zu constatiren :
eine Abschwächung des Percussionsschalles und eine Verkürzung seiner Dauer.
Diese Abschwächung ist oft so markant, dass man an eine Infiltration zu den-
ken sich versucht fühlt (Liebermeister). Fraglich erscheint es mir, ob Fälle
mit diesem Percussionsbefund als „Lungenemphysem" aufzufassen wären, oder
ob nicht jener pathologische Zustand vorliegt, den man als „Lungenatrophie"
bezeichnet. Die Leberdämpfung ist nach abwärts gerückt und beginnt statt
am unteren Rand der 6. erst am unteren Rand der 7. oder gar der 8. Rippe.
550 EMPHYSEM DER LUNGEN.
Ist die Leber durcli secundäre Stauimg vergrössert, dann überschreitet der
gedämpfte Schall den freien Rippenrand um 2 — 3 Querlinger. Die Herz-
dämpfung ist verkleinert oder in extremen Fällen nur relativ. Der halb-
mondförmige Raum ist in seinem Höhendurchmesser reducirt. Die Unter-
schiede des Percussionsschalles an den Lungenrändern sind nur undeutlich
oder fehlen völlig.
Handelt es sich um ein yicariirendes Emphysem, dann findet man selbstver-
ständlich die Lautheit und Tiefe des Schalles nur im Bereiche der Yorderen, unteren und
der hinteren Partien, während an anderen Stellen abgeschwächter Percussionsschall zu
constatiren ist. Andererseits ist bei stärkerer Secretanhäufung in den seitlichen und unteren
Lungenpartien daselbst wieder etwas verkürzter Schall aufzufinden.
Die Auscultation ergibt in jenen Fällen, wo der das Emphysem ge-
wöhnlichbegleitende Bronchialkatarrh fehlt, ein unbestimmtes Athmungsgeräusch,
ja oft ist dasselbe kaum wahrnehmbar. Durch die Secretanhäufung in den
Bronchien und durch die starke Schwellung der Bronchialschleimhaut kommen
die verschiedenartigsten Nuancen trockener und feuchter Rasselgeräusche
zu Stande (Giemen, Pfeifen, Schnurren, mittelgrossblasiges, feuchtes Rasseln).
Bei gleichzeitig bestehender Lungenatrophie kommt es durch den Alveolarcollaps,
resp. durch die vom eindringenden Luftstrom bedingte Auseinanderreissung
der Alveolarwände zu sehr charakteristischen knarrenden und knisternden Rassel-
geräuschen. Die Auscultation des Herzens ergibt auffällig leise, dumpfe
Herztöne, deren stärkster der mehr oder minder accentuirte Pulmonalton als
Zeichen der bestehenden Hypertrophie des rechten Ventrikels zu sein pflegt.
Sind irgendwelche Geräusche über dem Herzen hörbar, so kann dies ein
Zeichen einer complicirenden Myocarditis sein, die sich sehr häufig, na-
mentlich unter der Form der Fettdegeneration, zum Emphysem hinzugesellt.
Desgleichen können Geräusche der Ausdruck einer relativen Tricuspidal-
oder Mitral in sufficienz sein, wie dies bei Hypertrophie und Dilatation
des rechten, resp. linken Ventrikels erklärlich ist.
Die Hypertrophie des linken Ventrikels, die sich durch die andauernden
Störungen im Circulationsgebiet langsam ausbildet, ist percutorisch nicht nachweisbar, son-
dern nur aus der übermässigen Spannung des Radialpulses bei auffälliger Weite und Füllung
der Arterien (A. Fraenkel) zu constatiren.
Das Sputum bietet bei primärem Emphysem — wie ich im Gegen-
satze zu anderen Autoren hervorheben möchte — ein ziemlich charak-
teristisches Aussehen. Es ist spärlich, zähe und glasig, der Spuckschale an-
haftend und zeigt schon makroskopisch zahlreiche Pigmentpartikelchen. Die
mikroskopische Untersuchung und die Färbung nach den EHRLicn'schen Prin-
cipien zeigt vorwiegend polymorphkernige Zellen mit grossem, sich homogen
färbenden Protoplasmaleib. Von diesen Zellen heben sich sehr typisch jene
ab, welche deutliche Granula, Eosin intensiv aufnehmend, in der Grundsub-
stanz ihres Zellleibes bergen, (vergl. Fig. 1.) Diese letztgemeinten, eosinophi-
len Zellen sind ein charakteristisches Kennzeichen des Emphysemsputums.
Sie finden sich auch in jenen Fällen, wo das Emphysem vicariirend zu Lun-
genspitzentuberculose hinzutritt.
Anderseits habe ich bei Emphysematikern zuweilen Sputumbilder bekommen, in denen
die mononuclearen Zellen die überwiegenden waren, Zellen, mit zumeist aber nicht durch-
wegs glatten, grossen Zellleibern und scharf contourirtem. rundem, intensiv gefärbtem Kern.
Die schleimige Grundlage, in der sich die Zellen erwähnter Kategorie befanden, erwies
sich als hämatoxylinophil, was an das Verhalten des Zwischenknorpelgewebes bei Tinction
von Tracheaknorpelschnitten erinnert.
Ich vertrete die Ansicht und habe dieselbe bereits wiederholt kundgegeben, dass die
überwiegende Mehrzahl der Sputumelemente nicht aus dem Blute stamme, sondern in
der Bronchialschleimhaxit selbst ihre Ursprungsstätte finde. Hierin habe ich bezüglich
der grobgranulirten eosinophilen Elemente nur theilweise Zustimmung bei Leyden und
Neusser, vollständige bei A. D. Schmidt gefunden.
EMPHYSEM DER LUNGEN. 551;
In jenen Fällen von Emphysem, bei denen reichliche Anhäufung von
Secret in den Bronchien stattfindet, was aber keineswegs die Regel ist, ändert
das charakteristische Sputum sein Bild, indem auch eitrige Bestandtheile den
früher vorwiegend schleimigen sich beigesellen.
Eine häufige Beschwerde der Emphysematiker, die ich oftmals zu con-
statiren Gelegenheit habe, ist die Klage über Druckgefühl im Epigastriura,
Aufgetriebensein der oberen Bauchgegend und unliebsame Sensationen im
1. Hypochondrium, namentlich nach dem Essen. Diese Beschwerden sind es
oft, welche die Emphysematiker zuerst zum Arzte führen, und man lässt sich
da wohl verleiten, nach einem Magen-Darmübel zu fahnden. Objectiv consta-
tirt man trommelartigen Percussionsschall der oberen Bauchgegend bei sicht-
barer Auftreibung dieser ganzen Region. Jedenfalls ist daran wohl nicht allein
der Magen, sondern auch der Darm betheiligt. Die Erklärung suche ich in
der Immobilität des Zwerchfells nach oben, wodurch dasselbe sich nach unten
vorbaucht und die benachbarten Intestina nach vorne drängt; dass gerade in
den Stunden der Verdauung diese Beschwerden stärker werden, ist wohl
begreiflich. Der objective Befund ist meist ziemlich auffallend, weil die Con-
figuration des Bauches eine charakteristische ist, indem die geblähten oberen
Partien gegen die übrigen „treppenartig" abfallen, was durch die starke
Krümmung der Rippenbogen nach auswärts noch deutlicher wird. („Trep-
penbauch.''' )
Die Symptome der secundären Stauung näher zu schildern, kann
wohl als überflüssig betrachtet werden. In manchen Fällen erreichen diesel-
ben in der That einen hohen Grad und man findet dann Leber- und Milz-
tumor, Ascites, Anasarca, hochgestellten Harn mit oft bedeutender Eiweissmenge.
Das Blut von Empliysemkranken ist meines Wissens bisher keines näheren
Studiums gewürdigt worden. Meine eigenen Untersuchungen ergaben, dass
die Zahlenverhältnisse der rothen und weissen Blutkörperchen nicht von den
normalen Schwankungen abweichen. Dagegen unterscheiden sich die histo-
logischen Blutbilder wesentlich von jenen, die wir beim nervösen Bron-
chialasthma finden. Untersucht man das Blut eines Emphysematikers, so findet
man, gleichgiltig, ob dies zur Zeit asthmatischer Anfälle oder zu anderer Zeit
geschieht, eine Leukocytose, in der die polynuclearen Leukocyten mit
homogen sich färbendem Protoplasma überwiegen. Färbt man hin-
gegen das Blut eines mit Asthma bronchiale behafteten Patienten, so findet
man unmittelbar nach den Anfällen ein Vorherrschen der grobgranu-
lirten eosinophilen Zellen im Blutbilde. Jedenfalls muss diese Thatsache
als diagnostisches Merkmal betrachtet werden, ob Volumen pulmonum auctum
und dyspnoischer Anfall bei Asthma nervosum oder asthmatischer Anfall bei
Emphysem vorliege .(Vergl. Fig. 2 a und b.)
Der Harn bietet bei Emphysemkranken keine typischen Abnormitäten.
Er ist häufig ein Stauungsharn: saturirt, stark sauer und von hohem speci-
fischen Gewicht. Die Untersuchung auf Eiweiss fällt in den meisten Fällen
positiv aus, zuweilen erreicht die Albumenmenge eine erstaunliche Höhe —
ich beobachtete bis S%o (vide pag, 553) ^ — ohne dass wir mehr als Stauungs-
niere diagnosticiren können, wenigstens zeigt dies der Verlauf, indem die Eiweiss-
menge wieder vollkommen bis auf kaum nachweisbare Spuren schwindet. Auch
das Vorhandensein von hyalinen Cylindern im Sedimente hat keine schwer-
wiegende Bedeutung.
Während bei Bronchialasthma der Harn, der während nnd nach den asthmatischen
Anfällen gelassen wird (heller Harn von niedrigem specifischen Gewicht) ein auffällig differentes
Verhalten zu dem während der übrigen Tageszeit entleerten (saturirter Harn von bedeutend
höherem specifischen Gewicht) darbietet, konnte ich ein gleiches Verhalten während der
asthmatischen Anfälle von Emphysemkranken niemals beobachten.
Die Haut der Emphysematiker bietet ein gebräuntes Colorit — im
Gegensatz zu der gewöhnlich blendend weissen „durchscheinenden' Haut der
552 EMPHYSEM DER LUNGEN.
Phthisiker und zeigt eine auffällige Neigung zur Acnebildung. Die Haut der
Unterschenkel ist nicht selten der Sitz von chronischen Eczemen, welche nach
ihrer zeitweiligen Heilung Pigmentation zurücklassen; so ist auch der ödema-
tösen Schwellung der Beine im Gegensatz zu den Oedemen der Nephritiker
ein gewisses Charakteristikon aufgeprägt. Die beobachtete Bildung von Haut-
emphysem an den Prädilectionsstellen (Hals und Brusthaut) ist auf eine Ruptur
von ausgedehnten Lungenalveolen zu beziehen.
Diagnose und Prognose.
Nothnagel kennzeichnet die Diagnose Emphysem als eine jener Dia-
gnosen, welche am häufigsten, aber gleichzeitig auch am häufigsten irrthümlich
gestellt werden. Nebst den Ergebnissen der Percussion und Auscultation mag
nochmals der charakteristische Sputumbefund hervorgehoben werden. Häufig
entsteht die Frage, ob ein primäres substantielles Emphysem oder nur ein
vicariirendes vorhanden ist. In solchen Fällen entscheidet der Nachweis einer
Lungenspitzendämpfung, der Befund von Tuberkelbacillen, endlich die Con-
statirung irgendwelcher Ursachen, die zu einer partiellen Atelektase einzelner
Lungenpartien führen. In den gebräuchlichen Handbüchern wird gewöhnlich
von der Differentialdiagnose zwischen Emphysem und Pneumothorax, zwischen
Emphysem und Aneurysma gesprochen. Einem sorgfältigen Diagnostiker
dürfte es aber schwerlich passiren, die metallischen Erscheinungen bei der
Percussion und Auscultation, die für Pneumothorax charakteristisch sind, zu
übersehen. Was das Aortenaneurysma betrifft, so ist es ja bekannt, dass die-
ses Leiden oft ganz latent bleibt; die charakteristischen Symptome fehlen
und so nimmt man nun, namentlich, wenn eine leichte Bronchitis vorhanden
ist, sehr gerne an, dass die Dyspnoe auf ein Emphysem zurückzuführen
ist. Viel häufiger kommt aber der Arzt in die Lage, zu entscheiden, ob nicht
eine primäre Herzveränderung {Myocarditis, Arteriosclerose, Fettherz) und die
Lungen erscheinungen (Bronchitis mit secundärer Lungenblähung) erst als secun-
där zu betrachten sei, oder ob nicht beide Organe coordinirt erkrankt sind.
Der Verlauf des primären substantiellen Emphysems kann, soweit der
Patient die Weisungen des Arztes befolgt, jahrelang ohne besonders schwere
Folgen anhalten. Erst von dem Momente an, wo die Herzveränderungen die
Störungen des Kreislaufes nicht mehr zu compensiren vermögen, treten schwere
Stauungssymptome ein, der Herzmuskel erlahmt endlich völlig und es kommt
schliesslich zum letalen Exitus. Berücksichtigt man aber, dass das Emphy-
sem vorzugsweise ein Leiden des höheren Alters ist, so kann man sagen, dass
die Zeit des letalen Endes dem Alter der durchschnittlichen Sterblichkeit ent-
sprechen dürfte.
Therapie.
Die Prophylaxe wird darauf zu achten haben, dass alle jene Beschäf-
tigungen, die im höheren Alter erfahrungsgemäss Emphysem erzeugen, mit
gewissen Pausen der Ruhe verbunden seien, sofern dies eben nach den äusseren
Verhältnissen möglich ist. Daraus folgt, dass Personen der wohlhabenderen
Stände, die sich leichter eine Schonung gönnen können, viel leichter sich den
Schädlichkeiten zu entziehen vermögen, als Leute der ärmeren Classen.
Unter den Behandlungsmethoden des Emphysems wird die Pneu-
matotherapie viel gerühmt. Die Ausathmung in verdünnte Luft ist nicht
nur theoretisch berechtigt, — die Luft wird gewissermassen aus der Lunge her-
ausgesogen (Liebekmeister) — sondern zeigt, praktisch angewandt, auch wirk-
liche therapeutische Erfolge. Man nimmt an, dass die methodischen Ath-
mungsübungen mit transportablen pneumatischen Apparaten (Biedert, Schnitz-
ler, Waldenburg) und in pneumatischen Cabineten zu einer Stärkung
der Contractilität und Elasticität des Lungengewebes führen.
EMPHYSEM DER LUNGEN. 553
Bekannt ist der Vorschlag Gerhardt's, den Kranken anzuweisen, seinen Thorax während
der Exspiration durch die aufgelegten Hände zu comprimiren. Auf demselben Princip
beruht der Athmungsstuhl von Rossbach.
Die oben erwähnten Untersuchungen Forlaninis haben darauf hinge-
wiesen, dass entgegen der herrschenden Ansicht gerade Individuen, welche ihre
Lungen ziemlich stark anstrengen, eine gestärkte Athmungskraft erwerben.
Bei Neigung oder Gefahr der Emphysementwicklung und in den ersten Stadien
desselben wird man aus diesem Grunde mit Recht kräftige Athmungsübungen
(Lungengymnastik) und Arbeit an Zander'schen Maschinen oder am Ergostat
{Mechanotherapie) zu empfehlen haben; letztere veranlassen indirect kräftige
In- und Exspirationen. Dass derartige Massnahmen, um nicht den entgegen-
gesetzten Effect zu erreichen, mit Vorsicht undMaass betrieben werden
müssen, erscheint wohl selbstverständlich.
Sind Stauungs er scheinungen vorhanden (Leber- und Milzschwellung,
Hydrops etc.) so ist die erste Bedingung absolute Ruhe. Der Patient wird
hochgelagert - — in der Privatpraxis in einem luftigen, lichten Zimmer, wo-
möglich so, dass das Gesicht gegen das Fenster sieht, — als Medicament
erhält er Digitalis (0-5 — 1*0 : 200*0), combinirt mit Diuretin (.3-0 — 5*0) oder
Liquor, kali acetici (lO'O — 30'0). Im Verlaufe der Krankheit variirt man die
tägliche Arznei, man verordnet als Adjuvans einen expectorirenden Stoff (Liqu.
amon. anis.), man gibt als Laxans ein Bittersalz oder Bitterwasser, man
ersetzt das Digitalis-Infus durch Strontium lacticum (2 5*0 : L50"0 Aqu. dest.,
3 Esslöftel täglich), das in solchen Fällen seine diuretische Wirkung zuweilen
prompt äussert. Als Diät bekommt der Kranke anfangs nur Milch ('^ — 1 Liter
pro die) und eine geringe Quantität kräftigen Wein, später leichte Fleisch-
speisen.
Unter dieser Behandlung habe ich erst kürzlich bei einem Fall von Emphysem mit
hochgradigsten Stauungserscheinungen innerhalb drei Wochen die letzteren vollkommen
schwinden gesehen. Der Eiweissgehalt des Harnes fiel von S^/oo Essbach auf
kaum nachweisbare Spuren. Die hyalinen Cylinder, die im Sediment reichlich vor-
handen waren, schwanden völlig.
Mit der Einleitung des diaphoretischen Verfahrens mittelst heisser
Bäder (37 — 39*^ C.) kann man einen Versuch machen, der oft von Erfolg be-
gleitet sein wird, muss aber immer auf den Zustand des Herzens Bedacht haben.
Fehlen Stauungserscheinungen, so ist die Behandlung symptomatisch
wesentlich gegen den Bronchialkatarrh gerichtet. Der Reihe nach
kommen die Expectorantien zur Verordnung. Bezüglich deren Wirk-
samkeit hat sich neuester Zeit von verschiedenen Seiten her ein bedeutender
Widerspruch erhoben. Juegensen nennt die Wirkung des Salmiaks sehr frag-
würdig, Rossbach glaubt nicht an den Nutzen von Ipecacuanha, Nothnagel ver-
pönt Stibium sulfurantiacum und nebst Gerhardt ist es namentlich Hoffmann,
der daran zweifelt, dass mit den üblichen Expectorantien viel ausgerichtet
werden könne. Am meisten Anerkennung findet noch das Apomorpkin und
die Senega mit oder ohne Liquor amonii anisatus.
Ich möchte mir nur die Bemerkung erlauben, dass nach eigenen Beobachtungen ge-
rade das Senega- Infus von manchen Emphysematikern schlecht vertragen wird. Die
Patienten geben mit Bestimmtheit an, diss sie wohl häufig zum Husten gereizt würden,
dass aber der Auswurf selbst sehr spärlich sei, sie verlangen direct „Ipecacuanha" zurück.
Beliebt ist die Verordnung alkalischer Mineralwässer (Selters, Biliner,
Wieshadner, Kissinger, Emser u. a.) am zuträglichsten frühmorgens mit Milch
gemengt. Die Kranken finden in der Frühe am häufigsten Zeit, etwas für
ihre Gesundheit zu thun und gehen mit einer gewissen Selbstberuhigung an
die Tagesarbeit. Auch treten die Beschwerden frühmorgens oft am heftigsten
auf, das Secret hat sich während des Schlafes angesammelt, so dass die Be-
feuchtung des ausgetrockneten Rachens allein schon etwas Erleichterung schafft.
Seltener kommt man in die Lage, Balsamica zu verschreiben, ist ja die Ex-
pectoration viel häufiger stockend, denn reichlich.
554 ENDOCARDITIS.
Der Gebrauch des Inlialationsapparates wäre, obwohl Inhalationen
die erkrankte Bronchialschleimhaut nicht zu beeinflussen vermögen, immerhin
anzurathen, einerseits, weil die Zerstäubung von Wasserdampf die Luft feucht
erhält, anderseits, weil meist complicirende Pharyngitis und Laryngitis mit
den Inhalationen behandelt wird.
Die Medication von Narcotica erfordern hochgradig entwickelte
Dyspnoe, asthmatische Anfälle, anhaltende Schlaflosigkeit, eventuell auch
heftiger Hustenreiz, der bei Anwesenheit von spärlichem Secret in den Bron-
chien den Kranken ungemein belästigt.
Flor. Benzoes mit Campher {äa Ol pro dosi) oder grosse Gaben von
Plumb. aceticum wird man bei drohendem Eintritt von Lungenödem mit
Erfolg verwenden können. Ist die Gefahr momentan, besteht apoplectiformer
Status mit auffälliger Cyanose, so gehe man ohne Zagen an den Aderlass.
An der Behandlung des Emphysems haben aber nicht blos Mechano- und
Pharmakotherapie, sondern auch die Hydrotherapie ihren Antheil. Wenn
die Kranken von dem begleitenden Bronchialkatarrh arg geplagt werden, so
erreicht man oft melu' durch Anwendung hydriatischer Proceduren, als durch
medicamentöse Behandlung. Man applicirt sogenannte „erregende Brustum-
schläge" (WiNTEENiTz) in Form von Kreuzbinden. Die Procedur ist ganz ein-
fach: eine achselbreite, in kaltes Wasser getauchte Binde wird schräg über die
beiden Schulterhöhen und den Brustumfang gelegt und darüber in gleicher
Weise eine trockene Binde laufen gelassen. Ein derartiger Brustumschlag
löst durch seinen thermischen Reiz tiefe Inspirationen aus. Allmälig erwärmen
sich die Binden und der Thorax befindet sich in einem blutwarmen Dunstbade,
welches die Blutgefässe der Haut zur Erweiterung bringt und die Circulation
in denselben beschleunigt. Xach Winternitz wird hiedurch ein Hustenreiz be-
ruhigender, Athembeschwerden mässigender, das Secret verflüssigender und
dadurch die Expectoration erleichternder Einfluss auf die Schleimhaut der Re-
spirationsorgane geübt. JUL. WEISS.
EndOCarditiS {E. verrucosa s. granulosa s. simplexi) Die Endocarditis
verrucosa ist eine Entzündung des Endocards, die in Entwickelung kleiner
Eftlorescenzen in Form von Wärzchen, Körnchen bald, was am häufigsten zu
sein pflegt, auf den Klappen selbst und Scheidewänden, bald auf dem die Höhle
auskleidenden Endocard besteht. Diese Efflorescenzen sind von grauer oder
grauröthlicher Farbe, sind ziemlich hart, etwas elastisch, kaum einige mm
breit und hoch, können hier und da zerstreut oder dicht neben einander stehen.
An den zwei- oder dreizipfligen Klappen treten dieselben hauptsächlich in
einer gewissen Entfernung von den freien Rändern derselben auf an Stellen,
an denen die Klappen während der Herzsystole einander berühren — an den
Semilunarklappen localisiren sich dieselben ebenfalls in der Nähe der freien
Ränder, eine Art von Festonen bildend. So kommt es, dass die Klappen nicht
im Stande sind, dicht zu schliessen, was die Bildung einer Insufficienz zur
Folge hat. Dieselben können in Folge von Fibrinalllagerungen aus dem Blute,
wie ebenfalls des Zusammenfliessens der warzigen Efilorescenzen eine bedeu-
tende Grösse erreichen und verschiedene Formen annehmen (die Form von
Condylomen, Himbeeren, Blumenkohl, Hahnenkämmen u. s. w.) Zuweilen
verlängern sich dieselben und ragen in die Herzhöhlen als Polypen hinein
(End. polyposa), eine Stenose des Ostium herbeiführend.
Am häufigsten entwickelt sich die Endocarditis in der linken Herzhälfte:
an der zweizipfligen und an den Semilunarklappen der Aorta, seltener im
rechten Herzen: an der dreizipfligen, ungemein selten an den Klappen der
Pulmonalis, an den Herzwandungen und an den Papillarmuskeln. Vermittelst
des Blutstromes können Fibrinpartikelchen oder Partikelchen, von den Excres-
cenzen selbst stammend, abgerissen und in näher oder weiter gelegene Gefäss-
ENDOCAEDITIS. 555
districte verschleppt werden, zu Embolien Veranlassung gebend. Am häutig-
sten begegnen wir denselben in den Nieren, der Milz, den Lungen, im Gehirn,
seltener in den Gefässen der Extremitäten. Jedoch besitzen diese Embolien,
im Gegensatz zu denen bei E. septica, keinen infectiösen Charakter, rufen
keine Eiterung hervor und werden nur von mechanischen Störungen gefolgt
(anämische Nekrosen, hämorrhagische Infarcte).
In p a t h 0 1 0 g i s c h - a n a 1 0 m i s c h e r Beziehung dürfen die in Rede ste-
henden Excrescenzen als wahre Auswüchse des Gewebes des Endocardiums selbst
betrachtet werden. Es bildet sich an den dem Krankheitsprocesse anheimgefal-
lenen Stellen zuerst ein Granulationsgewebe, das später mit den gewöhnlichen
Veränderungen des im entzündlichen Zustande sich befindenden Bindegewebes
einhergeht, d. i. immer mehr fibrös, narbig wird, schrumpft, was schliesslich
zu einer Verdickung des freien Klappenrandes führt. Die mikroskopische Unter-
suchung zeigt als erste Veränderung eine Ansammlung von Zellen in den
oberen Schichten des Endocards, die stellenweise eine grössere ist, was Anlass
zur Entstehung kleiner Efflorescenzen gibt. Erst später bildet sich in dem
Maasse, als die Anzahl der angesammelten Zellen eine grössere wird, das oben
erwähnte Granulationsgewebe heraus. Eine genaue Grenze zwischen den warz-
artigen Eölorescenzen und den dieselben bedeckenden Fibrinschichten existirt
nicht. Die Bindegewebszellen fliessen allmälig mit dem Fibrin zusammen.
Bei leichten Graden kann es zur Pvesorption der entzündlichen Producte —
restitutio ad integrum — kommen, gewöhnlich aber geht diese Form in die
sclerotische Form über, die zur Bildung von Klappenfehlern führt.*)
Was den Antheil der Mikroorganismen an dem oben geschilderten Processe
anlangt, so sind noch die Meinungen getheilt. Die Mehrzahl der Autoren rechnet jedoch die
Endoc. verrucosa zu den durch Bacterien hervorgerufenen Krankheiten und betrachtet die-
selbe als eine Infectionskrankheit. nur soll dieselbe milderer Natur sein als die E. septica.
Es ist jedoch nicht in allen Fällen von End. granulosa der Nachweis von Mikrooi'ganismen
gelungen. Klebs, Koester und Ziegler gehörten zu den ersten, welche der Ansicht waren,
dass alle Entzündungen des Endocards. celbst die warzenartigen, auf Entwickelung von
Mikroorganismen beruhen. Hamburger, Orth, Wyssokowitsch, Bramwell, Prudden theilen
diese Ansicht nicht, da sie in den von ihnen untersuchten Fällen von End. verrucosa Mikro-
organismen nachzuweisen nicht im Stande waren.
Dagegen sprechen die letzten Untersuchungen von Weichselbaum, E. Fränkel
und A. Sänger, die nicht blos die entzündlichen Producte des Endocards mikroskopisch
untersuchten, sondern auch Culturen anstellten, sehr für die infectiöse Natur der in Rede
stehenden Krankheit. Am häufigsten fanden dieselben Staphylococcus pyogenes aureus,
seltener Staphylococcus pyogenes albus. Staphylococcus cereus albus Passet Zuweilen
wurden in demselben Falle zwei oder drei Arten von Mikroorganismen gefunden. Einige
Autoren (Heller) haben sogar bei End. verrucosa von an Tuberculose leidenden Individuen
Koch's Bacillen in den oberen Schichten der Efflorescenzen aufgefunden.
Aetiologie. Fälle von idiopathischer in Folge eines Trauma oder einer
Erkältung entstandenen Endocarditis sind äusserst selten. Am häufigsten ist
die Endocarditis ein secundärer Process und tritt dann im Verlaufe eines
Gelenk-, zuweilen, wenn auch seltener, eines Muskelrheumatismus auf. Auf
diese Thatsache wurde zuerst von Bouillond aufmerksam gemacht. Es wurde
auch ein inniger Zusammenhang zwischen diesen beiden Krankheiten aufgesucht
und man glaubte, es circulire im Blute eine Art materia peccans, die, indem
sie sich in die Gelenke ausscheidet, den Rheumatismus und an den serösen
Häuten am Endocard, Pericard, an der Pleura ihnen entsprechende Ent-
zündungen hervorrufe. Als eine solche Materie wurde eine Zeit lang Milch-
säure angesehen. Nach den jetzigen Anschauungen muss angenommen Averden,
dass diese bösartige Substanz die Mikroorganismen sind, die, indem sie sich
in den Gelenken oder an den serösen Häuten einnisten, die Entzündung ver-
anlassen.
Vielleicht spielt bei der Entstehung von Endocarditis die locale Dispo-
sition des Gewebes, d. h. sog. locus minoris resistentiae eine wichtige Rolle,
*) Vergl. ,.Herzkkq)penfehler" von Prim. Doc. Dr. KovÄcs.
556 ENDOCARDITIS.
wofür die scliönen von Orth und Wyssokowitsch an Tliieren angestellten
Yersuclie sprechen. Diese Autoren haben sich überzeugt, dass die ins Blut
hineingebrachten Mikrococcen nur dann ihre deletäre Wirkung auf das Endo-
card ausüben, so bald dieses bereits früher beeinträchtigt wurde. Was die
Häufigkeit der einen Gelenks rheumatismus complicirenden Endocarditis
anlangt, so soll dieselbe nach Bambeeger auf circa -20°Iq, nach Jaccoud
auf 25 — 28% angenommen werden. Xicht immer steht die Intensität des
acuten Rheumatismus in einem geraden Verhältnisse zur Häufigkeit der Er-
krankung des Endocards, zuweilen verläuft ein sehr starker Eheumatismus,
der viele Gelenke befiel, ohne Endocarditis und umgekehit, es kommt vor,
dass eine leichte rheumatische Affection der Gelenke, oder selbst eines einzigen
Gelenkes, durch einen entzündlichen Process am Endocard compliciit wird.
Wir haben selbst mehrmals die Gelegenheit gehabt, festzustellen, dass bei
Kindern, die von Eltern stammen, welche ein Herzleiden haben oder bei rha-
chitischen Kindern auch ein leichter mit sehr geringem Fieber verlaufender
Muskelrheumatismus dmxh eine Endocarditis complicirt wuiile.
Die Endocarditis gesellt sich dem Rheumatismus gewöhnlich am Ende
der ersten oder zweiten Krankheitswoche hinzu.
Es kommen jedoch Fälle vor, in denen die Endocarditis sich latent ohne
jede Mitbetheiligung nicht nur eines Rheumatismus, sondern überhaupt irgend
welcher ernsten, fieberhaften Erkrankung, entwickelt. Wir haben dies mehrmals
bei mit einem Herzfehler behafteten Individuen festgestellt, bei denen eine noch
so genau aufgenommene Anamnese nicht im Stande war, die Quelle dieser Er-
krankung zu ermitteln, besonders war dies bei Frauen mit Stenosis ostii venosi
sin. der Fall. Desgleichen entwickelt sich zuweilen bei Kindern eine Endo-
carditis, ohne dass auch die geringsten weder sul^jectiven noch objectiven
Symptome vorhanden sind.
Die verrucöse Endocarditis tritt zuweilen als Folge entzündlicher Processe
des Pericards und des Herzmuskels hervor — in diesen Fällen greift der ent-
zündliche Process per continuitatem über.
Es kommt auch vor, dass die End. verrucosa sich zu chronischen
Gelenksentzündungen (arthritis), wenn auch selten, hinzugesellt.
Ausserdem tritt die End. verrucosa im Verlaufe von Pyämie, Puer-
peralfieber, überhaupt im Verlaufe infectiöser Krankheiten: Diph-
therie, Scharlach, Masern, Ti/j^hus. Pneumonie, Pleuritis, Erysipel, ja sogar
Tripper (Endocarditis Uenorrhoica) auf. Zuweilen tritt dieselbe zu einer acuten
oder chronischen Nierenentzündung, zu Chorea, Erythema nodosum hinzu.
Obgleich die Endocarditis auch während des foetalen Lebens vorkommen
kann, (die rechte Herzhälfte ist dann Sitz der Afiection,) so kommt dieselbe im
kindlichen und reifen Lebensalter am meisten vor. Dass dieselbe bei Männern
häufiger vorkommt als bei Frauen, scheint von der häufigeren Erkrankung der
ersteren an Rheumatismus abhängig zu sein.
Symptome. Localisirt sich die Entzündung nicht auf den Klappen,
sondern auf dem Höhlenendocard, so kann dieselbe ohne irgendwelche sowohl
percutorische wie auscultatorische Erscheinungen verlaufen. Da Endocarditis
am häufigsten die zweizipflige Klappe befällt ■ — so wird ein leichtes, sanftes
systolisches Geräusch an und für sich oder auch neben dem Ton an der
Herzspitze wahrgenommen. Es rührt das davon her, dass die obgleich noch
schlussfähige Klappe infolge der Veränderungen, mögen dieselben noch so un-
bedeutend sein, (kleinzellige Infiltration, kleine warzenartige Eftlorescenzen) ihre
Elasticität und die Fähigkeit zu normalen Schwingungen bereits eingebüsst hat.
Erst nach einer gewissen Zeit gewinnt die Diagnose der End. an Si-
cherheit, sobald es infolge der entstandenen Insufficienz der Mitralis zu einer
Stauung im linken Vorhof und überhaupt im kleinen Kreislauf kommt. In-
folgedessen wird der 2. Pulmonalton verstärkt und die Herzdämpfung nimmt
ENDOCAEDITIS. 557
in querer Richtung an Extensität zu. Sobald sich eine Insufiicienz heraus-
bildet, wird das systolische Geräusch stärker und erleidet bezüglich seiner
Intensität geringere Schwankungen, als es anfangs der Fall war, oder ver-
schwindet gleich mit den übrigen Erscheinungen, sobald der Krankheitsprocess
einen günstigen Verlauf annimmt. Zuweilen tritt ausser dem systolischen auch
ein diastolisches Geräusch auf, wenn die warzartigen Efflorescenzen infolge von
Fibrinablagerungen gi'össer werden und das atrio-ventriculare Ostium verengen.
Localisirt sich der entzündliche Process auf der Tricuspidalis, so stösst
die Diagnose auf noch gi'össere Schwierigkeiten, als es bei der Mitralis der
Fall zu sein pflegt. Infolge der schwächeren Musculatur der rechten Kammer
sind die von der Klappen-Insufficienz oder Stenose des atrio-ventricularen Os-
tium abhängigen Geräusche (im unteren Abschnitt des Sternum und an dessen
rechtem Rande) im Allgemeinen schwächer, weniger deutlich, ausserdem treten
an der Auscultationsstelle derselben Klappe accidentelle und fortgeleitete Ge-
räusche auf. Schliesslich tritt Endocarditis v. triscuspid. am häufigsten gleich-
zeitig mit End. v. bicuspid. auf, was natürlich die genaue Diagnose schwie-
riger macht. Die Endocarditis, die sich auf den Semilunarklappen der Aorta
oder der Pulmonalis localisirt, macht sich durch ein systolisches, seltener durch
ein diastolisches Geräusch, und dies erst im weiteren Verlaufe des Krankheits-
processes, kund, sobald die destructiven Processe an den Klappen auftreten.
Die Herzthätigkeit wird im Beginn der Krankheit etwas beschleunigt,
der Puls frequenter, zuweilen arythmisch, die Kranken klagen häufig über
Herzklopfen, Beengungsgefühl oder über Kurzathmigkeit, häufig aber fehlen
auch die geringsten subjectiven Symptome. Die zuweilen von den Patienten
wahrgenommenen Schmerzen sind am häufigsten auf die gleichzeitige Pericar-
ditis und Pleuritis zurückzuführen. Die Körpertemperatur' ist erhöht, besitzt
die dem acuten Gelenkrheumatismus eigenthümlichen Charaktere, zeigt keine
grossen Schwankungen, beträgt durchschnittlich ca 38'5 — 39"0°, seltener über-
schreitet dieselbe 39*5° C. Höhere Temperaturgrade und ein intermittirender
Typus weisen auf den bösartigen Charakter der Entzündung hin.
Von den secundären Erscheinungen sollen die Metastasen hervor-
gehoben werden, welche Anlass zu Infarcten in der Milz (heftige Schmerzen,
Vergrösserung derselben) in den Nieren (Hämaturie), in den Lungen geben.
Die Verstopfung der Gehirngefässe führt gewöhnlich zu einer Hemiplegie, die
Verstopfung der grösseren, die Extremitäten versorgenden Stämme zu Gangrän.
Embolien der Haut- und Schleimhautgefässe verursachen Blutextravasate,
erysipelatöse Entzündungen, Fui'unkeln.
Die Diagnose stösst manchmal auf grosse Schwierigkeiten. Xicht jedes
über der Herzspitze im Verlaufe eines Gelenkrheumatismus auftretende Ge-
räusch kann für ein endocardiales sensu strictiori angesehen werden. Häufig
treten nicht nur im Verlaufe eines Rheumatismus, sondern tiberhaupt im Ver-
laufe fieberhafter Krankheiten functionelle auf die beschleunigte Herzaction,
schwache Spannung der Papillarmuskeln, auf die Anämie u. s. w. zurück-
zuführende Geräusche auf, wobei sogar auch eine Herzdilatation bestehen kann,
was als Folge einer Erschlaffung, einer Abschwächung des Herzmuskels, her-
vortritt.
Die Diagnose gewinnt an Sicherheit, sobald neben dem systolischen Ge-
räusche der zweite Pulmonalton accentuirt wird und die Herzdämpfung in querer
Richtung nach rechts an Dimension zunimmt. Fttr die Endocarditis spricht
gewissermaassen das Fortbestehen eines Geräusches, wenn das Fieber bereits
geschwunden ist. Ein wichtiges diagnostisches Merkmal ist das Auftreten von
diastolischen Geräuschen, die bekanntlich selten functioneller Xatui' sind.
Die Diagnose wird zuweilen sehr schwierig, sobald das mit einem acuten
Rheumatismus behaftete Individuum bereits früher an einem Herzfehler gelitten
hat oder wenn auf der Basis alter endocardialer Veränderungen — eine Exa-
558 ENDOCARDITIS.
cerbation des entzündlichen Processes eintritt. In solchen Fällen werden wir
vor uns Zeichen des bereits seit früher existirenden Herzfehlers mit dessen
Folgen haben ( Vergrösserung der Herzdimensioneu, Stauungen in den inneren
Organen), ausserdem werden uns manche Anhaltspunkte von der Anamnese selbst
geliefert, schliesslich spricht der wechselnde Charakter der Intensität der Ge-
räusche und das Auftreten neuer Geräusche mehr für eine acute, als für eine
chronische Form.
Die oben erwähnte Bildung von Embolien erleichtert uns im Allgemeinen
die Diagnose der acuten Fonn.
Gesellt sich einer Endocarditis auch eine Pericarditis hinzu, so kann die
Orientirung anfangs eine schwierige sein, da die endocardialen Geräusche A'on
den pericardialen übertönt werden. Die pericardialen Geräusche fallen mit
dem 1. und 2. Herztone nicht genau zusammen, wodurch sie sich von den endo-
cardialen unterscheiden, ausserdem gewinnen diesell)en, bei einem mit dem
Stethoskop auf die Herzgegend ausgeübten Druck, an Intensität.
Die Prognose ist im Allgemeinen im Bezug auf die Heilung eine schwie-
rige, da die Piesorption der entzündlichen Producte sehr selten zu Stande
kommt, am häufigsten führen dieselben zu Verdickungen, Verwachsungen, kurz
zu Klappenfehlern oder gehen per continuitatem auf den Herzmuskel über.
Zuweilen kann der Zustand einen l)edrohlichen Charakter annehmen, mit Rück-
sicht auf eine Embolie der Hirngefässe.
Therapie. AVir besitzen bis jetzt kein Mittel, das im Stande wäre, die
Entwickelung von Endocarditis im Verlaufe eines Piheumatismus zu verhüten.
Früher wendete man als Prophylacticum die antiphlogistische Methode an (all-
gemeine und locale Blutentziehungen, Calomel, Quecksilbereinreibungen, Dar-
reichung von Kali etXatrium nitricum). Die Erfolge waren jedoch sehr zweifelhaft.
Sehen yäv als Ausgangspunkt der Entzündung Mikroorganismen an, so
haben wir ebenfalls kein Mittel, das dieselben zu tödten oder die Entwicke-
lung derselben zu hemmen im Stande wäre. Es bleibt uns also nichts als
eine symptomatische Behandlung übrig. Vor Allem ist Buhe indicirt; bei
Auftreten von Schmerzen, Beengungsgefühl, Herzklopfen werden kalte und Eis-
umschläge auf der Herzgegend, zuweilen locale Blutentsiehungen in Form von
blutigen Schröpfüöpfen oder Blutegeln. Veskatoria. Brompräparaten, Codein oder
Morphium, Digitalis in Betracht kommen. *) Von Nutzen können auch Abführ-
mittel sein, bei hohem Fieber vorsichtige Chiningaben, Xatr. salicylicum. Bei
abgeschwächter Herzthätigkeit wird man Tonica und Analeptica: CofEein,
Campher, Aether, Wein, schwarzen Kaffee, Thee u. s. w. verordnen, zur Un-
terstützung der Xierenfunction — reichliche Getränke und selbst diuretische
Mittel darreichen.
Die Venaesectio kann zuweilen indicirt sein, nicht so mit Rücksicht
auf den localen Process, als vielmehr auf die das Leben bedrohende Ueber-
füUung des kleinen Kreislaufs.
Um die entzündlichen Producte zur Resorption zu bringen, hat Prof.
Gerhardt Inhalationen von 1 — l'ö^/o Lösung vonXatr. bicarbon. verordnet und
will damit vortrefiliche Erfolge erzielt haben. Andere Autoren konnten dies nicht
bestätigen, auch nicht die Erfolge der von englischen Aerzten gepriesenen Dar-
reichung von Salmiak. Das Gleiche lässt sich über den von Prof. Jaccoud ge-
reichten Brechiceinstein (0-2 — 0'4 : 200' 0 Äqu. destill. 2stündlich 1 Esslöfel,
2—3 Flaschen) behaupten, der, durch seine Brechwirkung und abführenden
Eigenschaften, nach Ansicht des Autors, die Beschränkung des entzündlichen
Processes sehi- günstig beeinflussen soll. Jedoch wird eine solche Behandlung
nicht immer durchzuführen sein mit Rücksicht auf Collaps, der leicht ein-
*) Yergl. die Artikel ..Digitalis^- (v. Oefelei und yCarJiacu" i Pawikski") : Bd. ,.Phar-
macoloffie und Toxicoloaie-.
ENDOCARDITIS SEPTICA. 559
treten kann. In diesem letzten Eall räth Jaccoud den Gebrauch von Alkalien
in grossen Gaben.
Um die constanten in Form von Verdickungen an den Klappen hinter-
bliebenen Veränderungen zu beseitigen, wurde der Gebrauch von Jod, Jodeisen
vorgeschlagen, jedoch ist der Erfolg ein zweifelhafter. j, pawinski.
EndOCardJtiS Septica. (E. idcerosa, s. maligna, s. diphtheroides.) Die
Endocarditis septica ist in engem Sinne eine Infectionskrankheit. Dieselbe
beruht auf Ansiedelung von Mikrokokken auf dem Endocard, die, indem sie
das Gewebe zerstören, Gangrän und Eiterung hervorrufen — daher die Namen
Endocarditis diphtheroides, ulcerosa u. s. w. Diese Pilze gehören vorwiegend
der Gruppe von Schizomyceten an (staphylococcus pyogenes aureus, sirejJtococcus
pjogenes, diplococcus pneumoniae u. s. w.) Dieselben pflegen in das Herz aus
den anderen Organen mit dem Blutstrom zu gelangen; zuweilen ist es jedoch
selir schwierig, die Quelle, woher dieselben im Organismus stammen, zu er-
mitteln. Die oben erwähnten Miki-oorganismen siedeln sich vorwiegend in
der linken Herzhälfte und dies häufiger an der zweizipfligen, als an den
Aortenklappen an; es kommen jedoch Fälle vor, wo auch die rechte Herz-
liälfte den Sitz derselben bildet. Desgleichen, wenn auch seltener als auf den
Klappen, localisiren sich dieselben auf dem Endocardium parietale. Ihre
Lieblingsstelle an den Klappen ist der freie Rand, zuweilen aber ergreifen
sie den mittleren Theil oder die Basis der Klappen.
Pathologische Anatomie und Pathogenese. Im Beginn stellen
sich die krankhaften Veränderungen makroskopisch als kleine gelbliche
Fleckchen (Inseln) mit etwas unebener Oberfläche vor — es sind dies nekro-
tisirte, mit Mikroorganismen durchsetzte und besetzte Partikelchen.
Diese Fleckchen bedecken sich späterhin mit Fibringerinnseln, die Form von
unebenen Efllorescenzen von grauröthlicher Farbe annehmend. Die mikroskopische
Untersuchung weist in den weichen Fibrinablagerungen die Anwesenheit einer
unzählbaren Menge von Schizomyceten nach. Diese Mikroorganismen sammeln
sich anfangs in den oberflächlichen Schichten des Endocardiums in Form von
die Oberfläche der Klappen überragenden Ablagerungen an, dann dringen sie
tiefer, indem sie die normalen Elemente der Membran zerstören, (weshalb es
zu einem Substanz verlust bald in Form von Gangrän oder Ulceration kommt).
Dringt der durch Mikroorganismen hervorgerufene Zerstörungsprocess in die
Tiefe des Gewebes, so kann es zu Perforation der Klappe kommen, geht der
Process langsamer vor sich, so kann sich ein Aneurysma herausbilden, sobald
der übrige, im Zustande einer entzündlichen Infiltration sich befindende Ab-
schnitt der Klappe nachgiebiger wird und dem Blutdrange einen Widerstand
zu leisten nicht im Stande ist. So buchtet sich die genannte Stelle immer
mehr und mehr in einer dem Blutstrome entgegengesetzten Ptichtung aus,
also an den Atrio-ventricularklappen in der Piichtung nach dem Vorhofe zu, an
den Semilunarklappen in der Richtung nach dem Ventrikel zu. Später kann
es zur Perforation des aneurysmatischen Sackes kommen — an den Rändern
der so entstandenen Oeff'nung lagern sich Fibringerinnsel al) und verdecken
dieselbe zuweilen vollständig, so dass man die Perforation erst nach Besei-
tigung der Gerinnsel nachweisen kann. Da der Krankheitsprocess bei E. septica
nicht immer eine so genaue Localisation wie die E. verrucosa in der Nähe
der Klappenränder zeigt, sondern den mittleren Theil oder die Basis der
Klappen oder die chordae tendineae befällt, so kann es leicht zur Abreissung
der Klappe kommen, was eine acute Insufticienz zur Folge hat. Zuweilen
greift der Process von den Semilunarklappen der Aorta auf die benachbarte
zweizipflige Klappe auf mechanischem Wege ülier vermittels der polypenartigen
Excrescenzen, die während der Bewegungen der Klappen die Mitralklappen
560 ENDOCARDITIS SEPTICA.
berühren und so die lieber Siedlung der Mikrokokken von einer Klappe auf
die andere vermitteln.
Dauert der Process länger — was selten zu sein pflegt, da der Tod
schon früher wegen allgemeiner Infection eintritt, dann kann es zu Kalksalzab-
lagerungen in den Fibrinmassen kommen oder es findet ein Regenerationsprocess
statt in Gestalt von Bildung eines Bindegewebes, wie es bei Endocarditis ver-
rucosa der Fall zu sein pflegt. So kommen die gemischten Formen zu
Stande. Die obengenannten Veränderungen können in seltenen Fällen zur rela-
tiven Heilung führen.
Was die Frage anbetrifft, auf welchem Wege die pathogenen Mikro-
organismen vom Blute zu den Klappen hin gelangen, so behaupten die meisten
Pathologo-Anatomen, dass dieselben sich direct aus dem Blute ansetzen und
nicht, wie es Köster behauptet, auf indirectem, embolischen Wege —
durch Hineingelangen in die Coronargefässe.
Warum sich die Mikroorganismen hauptsächlich an den Klappen an-
setzen, obgleich sie sich in stetiger Bewegung befinden, darüber finden wir leicht
Erklärung darin, dass hier bereits früher Unebenheiten, Verdickungen u. s. w\
vorhanden waren und die Klappenränder aneinander stossend das Eindringen
der Mikrokokken aus dem Blute in das Gewebe der Klappen erleichtern. —
Diese Krankheit kommt häufiger bei Frauen, als bei männlichen Individuen
vor, was vielleicht auf die häufigere Erkrankung der Frauen an Puerperalfieber
zurückzuführen ist.
Die Bösartigkeit des Krankheitsprocesses selbst beschränkt sich nicht
auf die localen Veränderungen allein: es können kleine Partikelchen des
mortificirten Gewebes oder durch Mikrokokken durchsetzte Fibrinpartikelchen
mit dem Blutstrom leicht in andere Organe (Gehirn, Milz, Nieren u. s. w.)
verschleppt werden, eine Embolie und dies bösartiger Natur veranlassend.
Am Herzmuskel werden auch derartige mycotische Embolien angetroffen, Sie
stellen theils kleine rundliche, blassgraue Herde vor, w^elche meist von
einem blaurothen Hofe umgeben sind. '')
E. septica ist für gewöhnlich ein secundäres Leiden, gesellt sich am
häufigsten einem Puerperalfieber, einer Parametritis, Pyämie, wie ebenfalls
anderen Infectionskrankheiten: einem acuten Gelenksrheumatismus, einer
Diphtherie, Scharlach, Erysipel, Typhus, einer Lungenentzündung (Endocar-
ditis pneumonica) hinzu — zuweilen geben scheinbar geringfügige Verän-
derungen zu Endocarditis Anlass. Es kommen jedoch Fälle von sog. Endocar-
ditis idiopathica vor, in denen die Quelle, aus der die Mikroorganismen stammen,
nicht zu eruiren ist — es ist dann anzunehmen, dass dieselben an der
Eintrittsstelle in den Organismus — sehr wahrscheinlich ist diese in den
Lungen — keine krankhaften Veränderungen hervorgerufen haben.
Symptomatologie. Die die Krankheit begleitenden Erscheinungen
kann man in drei Gruppen eintheilen: 1. in die das Herz selbst betreffenden,
2. in solche, welche auf die Embolien zurückzuführen sind und 3. in Allgemein-
erscheinungen, welche von der Infection selbst abhängig sind.
Ad 1. Ist die Intensität des Processes eine sehr bedeutende, so kann der
Tod infolge allgemeiner Infection des Organismus eintreten, noch bevor sich
nennenswerthe Veränderungen am Endocardium herausgebildet haben. In einem
solchen Falle können physikalische Veränderungen seitens des Herzens voll-
ständig fehlen. Die Töne können ganz rein und die Dimensionen der Herz-
dämpfung normal sein. Das Gleiche gilt, wenn der Entzündungsprocess sich nicht
auf die Klappen, sondern auf das Endocardium parietale beschränkt. Verläuft
der Process langsamer, so haben wir, je nachdem diese oder jene pathologisch-
anatomische Veränderung vorwiegt, verschiedene physikalische Zeichen.
*) Vergl. „Embolie der Arterien", von Prof. Dr. Litten, eis. Bd. pag. 530 u. ff.
ENDOCARDITIS SEPTICA. 561
Im Allgemeinen kann man behaupten, der Wechsel und das rapide Ein-
treten von Geräuschen ist der septischen Entzündung des Endocards eigen-
thümlich, was sich leicht durch die Natur des Krankheitsprocesses erklären
lässt. So kann unerwartet eine Klappe abreissen, eine Insufficienz
derselben herbeiführend, was sich, je nach der Art der Klappe,
durch das Auftreten eines systolischen oder eines diastolischen
Geräusches geltend macht. Das Gleiche kann durch eine Perforation der
Klappe hervorgerufen werden. Eine Ablagerung von Gerinnseln an den ver-
änderten Klappen ruft häufig eine plötzliche Verengerung des Ostiums hervor.
Selbstverständlich werden die diastolischen Geräusche in diagnostischer
Beziehung mehr zu verwerthen sein, als die systolischen, die bei gesteigerter
Herzaction und bei Fieber functioneller Natur sein können.
Die Dimensionen der Herzdämpfung anlangend, so können dieselben
besonders im Anfange trotz vorhandener Veränderungen an den Klappen keine
Abweichungen darbieten — es ist nämlich wohl bekannt, dass das Herz sich
leicht anpasst und mittelst seiner Keservekraft die Circulationshindernisse über-
windet. Erst nach einem gewissen Zeitablauf bildet sich eine Hypertrophie
oder Dilatation mancher Herzabschnitte heraus je nach der Art des entstan-
denen Herzfehlers, also in querer Richtung bei Affection der Mitralklappe und
des linken Atrio-ventricularostium oder in Längsrichtung bei Affection der
Klappen und des Ostiums der Aorta.
Besitzt der Herzmuskel im Allgemeinen wenig Lebenskraft, oder greift
der Krankheitsprocess vom Endocardium auf die Muskelschicht über, so können
leicht die Erscheinungen einer acuten Herzdilatation auftreten.
Der Puls zeigt nichts Charakteristisches; derselbe pflegt, je nach der
Körpertemperatur und der Bösartigkeit der Infection, mehr oder weniger be-
schleunigt, zuweilen unregelmässig zu sein. Sobald der destructive Process
eine Insufficienz der Semilunarklappen zu Stande kommen lässt, wird der Puls
frequent und hüpfend.
Die zweite Gruppe von Erscheinungen ist auf Embolien zurückzufüh-
ren, welche die Diagnose bestätigen, manchmal sogar bringen uns dieselben allein
bei Mangel von Erscheinungen der ersten Gruppe auf den Gedanken, dass
es sich um eine septische Entzündung des Endocards handle. Gelangt ein Em-
bolus in die Hirngefässe, so hat derselbe des häufigsten eine Hemiplegie oder
Aphasie zur Folge, eine Embolie der art. lienalis wird sich durch Empfindlich-
keit und Anschwellung der Milz kundgeben, eine Embolie der art. renalis wird
Hämaturie herbeiführen. Auf einen Lungeninfarct weist die circumscripte
Dämpfung des Percussionsschalls und die Hämoptoe hin. Die Netzliaut ist
ebenfalls Sitz von Extravasaten embolischer Natur (Litten). Auf der Haut
und den Schleimhäuten entstehen ebenfalls Extravasate derselben embolischen
Natur. Gelangt der Embolus in einen der grösseren Arterienstämme der Ex-
tremitäten, so kann derselbe Gangrän der unterhalb des Embolus sich befin-
denden Abschnitte veranlassen. Im Allgemeinen zeigen diese Embolieen einen
bösartigen Charakter und rufen, wie bereits erwähnt, Eiterung und Gangrän
hervor.
Zur dritten Gruppe gehören die Allgemeiner scheinungen, welche jeder
fieberhaften Infectionskrankheit eigenthümlich sind und an und für sich nichts
Charakteristisches haben. Aus diesem Grunde zeigen manche Fälle von Endo-
carditis septica eine grosse Aehnlichkeit mit dem Typhus, besonders bei
Mangel von Erscheinungen seitens des Herzens. Die Benommenheit des Sen-
soriums, die Milzvergrösserung, welche jedem infectiösen Process eigenthümlich
sind, scheinen in solchen Fällen für den Typhus zu sprechen, um so mehr,
als zuweilen bei E. septica Erscheinungen seitens des Verdauungskanals, wie
Meteorismus, Diarrhoe u. s. w., manchmal sogar mit einer Ptoseola verbunden
auftreten.
Bibl. med. Wissenscbafteu. I. Interne Mediciu uud Kinderkrankheiten. oo
562 ENTERITIS ACUTA ET CHRONICA.
In anderen Fällen treten wiederum im Verlauf der Krankheit pyä-
mische Erscheinungen auf, also Schüttelfröste mit nachfolgendem heftigen
Fieber und Schwitzen, was zuweilen zur Annahme einer Malaria Veranlassung
geben kann, besonders wenn die Temperaturremissionen bedeutend sind.
Die Diagnose bietet häufig grosse Schwierigkeiten. Für E. septica
spricht der Wechsel der auscultatorischen Erscheinungen, die hohe Intensität
des Fiebers — hauptsächlich die embolischen Processe, besonders Netzhaut-
blutungen, die mittelst des Augenspiegels zu constatiren sind.
Die Prognose ist eine schlechte, der Tod tritt im Laufe einiger
Tage oder erst nach Ablauf einiger Wochen ein. Es kommen jedoch chro-
nische, etwas weniger bösartig scheinende Fälle vor, welche erst nach Ablauf
vieler Monate zum Tode führen. In diesen Fällen erreicht das Fieber nicht
eine so hohe Intensität, wie es bei E. septica acuta stricte der Fall zu
sein pflegt, kann jedoch mit kleinen Remissionen selbst 6 — 7 Monate an-
halten, bis der Tod unter den Erscheinungen eines nicht compensirten Herz-
fehlers eintritt.
Die Therapie ist gewöhnlich ohnmächtig, da wirkeine Mittel besitzen,
die direct auf das Krankheitswesen, d. i. auf die Zerstörung der pathogenen
Mikroorganismen einzuwirken im Stande wären. Wir müssen uns auf die Er-
haltung der Kräfte des Patienten, also auf die Verstärkung seiner Resistenz-
fähigkeit im Kampfe mit den Mikroorganismen und auf eine symptomatische
Behandlung beschränken. Wir füllen die erste Aufgabe aus, indem wir dem
Patienten eine geeignete Nahrung (Milch, Eier, Bouillon, Wein, Alcohol) reichen.
Die zweite Indication bezieht sich auf die Beseitigung drohender oder
unangenehmer Symptome, es werden also bei lioher Körpertemperatur Chinin,
Natr. salicyUcum, bei Beengungsgefühl: Digitalis allein oder mit Brom, kalte
Umschläge, Eisblase, trockene und sogar blutige Schröpfköpfe, Abführmittel,
selbst subcutane Morphiuminjection angewendet. Excitantia, wieÄether, Coffein^
Valeriana, Campher, Moschus sind bei abnehmender Herzthätigkeit indicirt.
J. PAWINSKI.
Enteritis acuta et chronica- (Acuter und chronischer Darmkatarrh.)
Im Folgenden soll nur die Enteritis der Erwachsenen besprochen werden,
während die Enteritis der Kinder an anderer Stelle abgehandelt wird.
I. Enteritis acuta. Aetiologie. Eine grosse Reihe innerer und
äusserer Noxen können zu acuter Enteritis führen; von jenen steht in erster
Reihe Aufnahme unzweckmässiger Nahrungsmittel (besonders unreifen Obstes)
oder verdorbenen an Bacterien oder organischen Substanzen reichen Trink-
wassers oder Milch, wovon Gaffky neuerdings ein instructives Beispiel mit-
getheilt hat, ferner der Gebrauch oder vielmehr Missbrauch gewisser Arznei-
mittel, besonders Drastica, oder toxischer Substanzen, wie Mercur, Arsen,
Brechwein u. A. Von äusseren Mitteln werden Erkältungen häufig angeschul-
digt, ob mit Recht mag dahingestellt bleiben. Häufig, besonders in den heissen
Monaten, werden Fälle infectiöser Enteritis beobachtet, wobei ganze Familien,
Insassen von Kasernen, Gefängnissen erkranken. Offenbar handelt es sich
auch hier um bisher noch unbekannte Infectionserreger, die entweder mit
dem Trinkwasser oder den Nahrungsmitteln dem Körper einverleibt werden.
Schliesslich kommt acute Enteritis als Theilerscheinung anderer Krankheiten,
des Typhus, der Cholera im prämonitorischen Stadium, der Dysenterie u. A.
vor. Dieselben finden ihre Berücksichtigung bei den Krankheiten, die sie
einleiten oder compliciren.
Das anatomische Bild der acuten Enteritis zeigt die üblichen Er-
scheinungen aller acuten Katarrhe: Röthung und Schwellung der Darmschleim-
haut, besonders an den Zotten und Falten, abnorme Secretion, ferner
Schwellung der von einem hyperämischen Hof umgebenen Lymphfollikel,
ENTERITIS ACüTx\ ET CHRONICA. 563
endlich Intumescenz der Mesenterialdrüsen. Nur in besonders acuten Fällen
kommt es zur Bildung mehr oder weniger oberflächlicher Erosionen, die theils
auf ulcerirte Darmfollikel, theils auf Schleimhautgeschwüre zurückzuführen
sind. Nur in sehr seltenen Fällen greift der Process über die Mucosa und
Submucosa hinaus.
Die Symptomatologie der acuten Enteritis wird fast ausschliesslich
durch die Folgezustände der Darmentzündung und deren Wirkungen auf das
Allgemeinbefinden beherrscht. Es kommt plötzlich zum Ausbruch mehr oder
weniger häufiger Durchfälle, denen die üblichen Erscheinungen im Darmcanal,
Kollern und Poltern im Leibe, kolikartige Schmerzen, Tenesmus vorausgehen.
Im Anfang sind die Stühle noch leidlich gebunden, verlieren aber, je mehr sie
sich häufen an Consistenz. Auch die Farbe und der Geruch ändert sich all-
mälig mit der Zahl der Stühle. Anfangs noch braun, bezw. gelbgrün gefärbt,
werden sie mit der Zahl der Stühle immer heller, schliesslich wasserhell und
erhalten dabei ein reiswasserähnliches Aussehen, ähnlich dem bei der asia-
tischen Cholera. Hiermit nimmt pari passu die Putrescenz der Stühle ab, die
einen faden, spermaähnlichen Geruch annehmen. Die Reiswasser-Stühle zeich-
nen sich in Folge der reichlichen Transsudatbildung durch hohen Eiweiss-
gehalt aus. In anderen Fällen, namentlich den mit starkem Tenesmus einher-
gehenden, ist den Stühlen nicht selten Blut beigemischt, so dass sie das Aus-
sehen von Ruhrstühlen annehmen können.
Die mikroskopisclie Untersuchung der Fäces*) ist im Ganzen ohne wesentliches Inter-
esse, man findet im Allgemeinen keine für die acute Enteritis charakteristischen Bilder;
dass jedoch in einzelnen Fällen bestimmte mit der Nahrung oder dem Trinkwasser auf-
genommene Mikroorganismen mit grosser Wahrscheinlichkeit eine aetiologische Rolle spie-
len, zeigt die interessante Beobachtung Gaffky's, der in zwei durch Milchgenuss her-
vorgerufenen Fällen acuter Enteritis sowohl in den Dejectionen der Erkrankten, als auch
denen der Kuh, von der die Milch stamnrte, einen für Mäuse hochgradig pathogenen kurzen,
lebhaft beweglichen Bacillus entdeckte.
Mit dem Ausbruch der Durchfälle parallel steigert sich die Darmunruhe,
um sich erst mit dem Beginn der Convalescenz zu verlieren. Dabei ist der
Appetit reducirt, der Durst dagegen in den ausgesprochenen Fällen lebhaft
gesteigert. Umgekehrt ist die Diurese ausserordentlich geringfügig, und der
spärliche Urin ist dunkel, reich an Uraten und enthält gelegentlich selbst
kleine Eiweissmengen (Fischl).
In Fällen von Enteritis infectiösen Ursprunges kann sich zu diesem
Symptomencomplex mehr oder weniger hohes Fieber (bis 39'^ und darüber)
gesellen und einige Tage anhalten; es hat in der Regel einen remittirenden
Charakter. Gelegentlich kann auch Milztumor (Fischl, Stiller) vorhan-
den sein.
Das Allgemeinbefinden ist in leichteren Fällen nur wenig beein-
trächtigt, in schwereren Formen oder bei Individuen mit zarter Disposition
oder im vorgerückten Alter kann es zu bedrohlichen Symptomen, selbst zum
Exitus kommen. Die Krankheitsdauer erstreckt sich auf nur wenige Tage, doch
kann die Reconvalescenz bei stark erschöpften Organismen längere Zeit in
Anspruch nehmen.
Die Diagnose der acuten Enteritis ist gewöhnlich nicht schwierig; doch
kann im Anfang die Unterscheidung zwischen Enteritis acuta und Abdominal-
typhus, bezw. Cholera asiatica, bei Herrschen einer Epidemie Schwierigkeiten
machen. Abdominaltyphus kann in der Regel wegen des Fehlens der staffei-
förmigen Temperaturcurve, des Mangels an Milztumor, Roseola, dem Fehlen
von Prodromalerscheinungen ausgeschlossen werden. Schwieriger ist die
Unterscheidung von heftiger Enteritis und Cholera asiatica. Gelegentlich der
letzten Choleraepidemie in Deutschland hat es sich gezeigt, dass einmal Fälle
*) Vergl. „Faeces und Faecesuntersuchung" (R. Stern), ds. Bd. der „Bibliothek".
36*
564 ENTERITIS ACUTA ET CHRONICA.
heftiger Enteritis ohne Kommabacillen gefunden werden (Fürbringek), dass
auf der anderen Seite Cholera asiatica-Fälle ganz unter dem Bilde einer ein-
fachen Diarrhoe verlaufen können (P. Guttmanx). Nur die Untersuchung^
auf Cholerabacillen schützt hier in zweifelhaften Fällen vor Täuschungen.
Die acute Enteritis diagnostisch auf gewisse Darmabschnitte zu localisiren
hat unseres Dafürhaltens nach weder ein praktisches noch ein theoretisches
Interesse, zumal auch niemals der Process sich scharf auf einen bestimmten
Darmabschnitt beschränkt.
Die Prognose ist im Allgemeinen als gut zu bezeichnen, jedoch kann
ein acuter Darmkatarrh von chronischer Enteritis gefolgt sein. In sehr sel-
tenen Fällen — wohl immer auf toxischer oder infectiöser Basis — kann der
Ausgang ein letaler sein.
Die Therapie hat in erster Linie gewisse prophylaktische Massregeln
zu beachten: im Sommer ist der Genuss unreifen Obstes, ungekochter oder in
milchsaurer Gährung begriifener Milch zu verbieten, desgleichen muss man
bei starker Hitze den Genuss eiskalter Getränke und Genussmittel untersagen.
Im Uebrigen ist die Therapie in den leichteren Fällen eine rein exspectative.
Man reicht bei Vorliegen eines Diätfehlers ein schnell und sicher wirksames
Laxans: Ol. Piicini oder Calomel (1 Gabe ä 0*o) und setzt den Patienten auf
Abstinenzdiät, d. h. nährt ihn mit Gerstenschleimsuppen, Cacao, verdünntem
Rothwein, kühlem Thee mit Saccharin, Milch passt im Allgemeinen nicht,
da es die Durchfälle zu vermehren pflegt. Wo es sich um sehr schwächliche
Kranke handelt, kann man einen Versuch mit Milch-Mondaminsuppen machen,
wobei man am besten sterilisirte Milch wählt.
Sehr zweckmässig sind gleichmässige Bettwärme und heisse Umschläge
um den Leib, die calmirend wirken. Ich pflege seit längerer Zeit hierzu den
Filzschwamm zu verwenden.
Bei dem grossen Durst müssen wir dem Verlangen des Patienten nach
Getränken entgegenkommen. Zu gestatten sind: Cognac mit Wasser, Eier-
eiweisswasser, Haferschleim mit Bouillon, Salepabkochungen u. A. Saure
Limonaden sind zu verbieten, desgleichen im Allgemeinen Milch (s. o.).
Sobald der Darm ruhig ist, die Stühle sistiren, der Appetit wiederkehrt,
kann man vorsichtig zu consistenterer Kost übergehen.
In hartnäckigen Fällen sind Stopfmittel nicht zu umgehen: hier empfiehlt
sich eine einmalige kräftige Opiumdosis am meisten: Pip. Extr. Opii 0'03 —
O'o, Sacch. 0'5. M. f. pulv. d. dos. X. Ds. 3-stündl. 1 Pulver. Sehr zweckmässig-
ist eine Verbindung von Opium mit Wismuthsalicylat. Ep. Extr. Opii CfOS,
Bism. salicylic. 0'5, Sacch. 0'3. M. f. pulv. d. t. dos. XV. Ds. 3-stündl. 1
Pulver .j oder Ccdcar. carhon. Calcar. phosphor. ää 25' 0, Bism. salicylic. 3'0,.
Extr. Opü O'l. M. f. pulv. d. in scat. I). S. 3-stündl. 1 Theelößel.
Bei Persistiren der Durchfälle oder Reconvalescenz eignet sich besonders
die letztgenannte Vorschrift für längeren Gebrauch.
Bei heftigem Tenesmus empfehlen sich Suppositorien aus Opiumextract
(0"5) und Extr. Belladonnae (0"02 — 0-03), davon 3-stündl. ein Suppositorium
zu appliciren. Statt Opium kann man auch Codein (0'05 — O'OS pro suppositorio)
in Anwendung ziehen.
IL Enteritis chronica. (Chronischer Darmkatarrh.) Aetiologisch kann
man primäre und secundäre Enteritis unterscheiden. Die erstere kann im
Anschluss an eine acute Enteritis entstehen, dann aber auch die Folge einer
chronischen Gastritis darstellen. Auch durch Darmparasiten verschiedener
Art kann ein chronischer Darmkatarrh verursacht oder unterhalten werden.
Secundär kann ein chronischer Darmkatarrh durch Stauungszustände im Pfort-
aderkreislauf, also durch Krankheiten der Leber und der Galle unterhalten
werden. Aber auch bei Stauungszuständen in Folge von Lungen-, Herz-, Nieren-
krankheiten können Darmkatarrhe die Folge sein.
ENTERITIS ACUTA ET CHRONICA. 565-
Man unterscheidet passend Dünn- und Dickdarmkatarrhe. Innerhalb
dieser Darmabschnitte noch gewisse Strecken symptomatologisch zu fixiren, ist
schon deshalb ohne jeden praktischen Werth, weil schon die blosse Fest-
stellung; ob Dünn- oder Dickdarm Sitz des Uebels sind, der Diagnose nicht
unbeträchtliche Schwierigkeiten bereitet.
Da der chronische Dickdarmkatarrh bereits unter Colitis behandelt
ist, so beschränken wir uns im Folgenden auf die Erörterung des Dünndarm-
katarrhes.
Anatomisch prägt sich der Dünndarmkatarrh je nach dem Stadium,
in welchem er sich befindet, verschieden aus: im Anfang prävaliren Hyper-
ämie, Schwellung der Mucosa und der solitären Lymphfollikel, der Mesenterial-
drüsen und der Peyer'schen Plaques. Bei länger bestehendem Katarrh findet man
— als zweites Stadium — zunächst oberflächliche, dann allmälig tiefer gehende
Schleimhauterosionen, die schliesslich zu wirklichen Darmgeschwüren führen.
Diese Geschwüre können unter günstigen Verhältnissen unter Narbenbildung
heilen, in anderen persistiren und durch Confluenz grösser werden. In ein-
zelnen, weit vorgeschrittenen Fällen — drittes Stadium — kommt es zu Atrophie
der Drüsenschleimhaut, so dass die charakteristischen Elemente der Schleim-
hautstructur auf ganze Strecken hinaus ausfallen.
Symptomatologisch bilden das hervorragendste Zeichen des Dünn-
darmkatarrhs die Stuhlveränderungen. Nach den Erfahrungen von Nothnagel
besteht bei ausschliesslicher Betheiligung des Dünndarmes Stuhlträgheit, kommt
aber zu dem Dünn- ein Dickdarmkatarrh hinzu, so kann anhaltender Durch-
fall bestehen. Die übrigen subjectiven Symptome: Flatulenz, kolikartige
Schmerzen, Borborygmi etc., theilt der Dünndarmkatarrh mit der Enteritis
überhaupt. Auch können diese Symptome gelegentlich fehlen.
Die wesentlichste, wenn allerdings auch nur zum Theil sichere Stütze
gewährt die mikroskopische Untersuchung der Fäces. In dieser Beziehung
sprechen nach Nothnagel für Dünndarmkatarrh: durch Zellenpigment
gefärbte sogen. Schleimkörner; allerdings kommen letztere auch bei
Katarrh des Dünn- und Dickdarmes, niemals aber kommen sie bei isolirtem
Dickdarmkatarrh vor.
Desgleichen weisen galliggefärbte Schleimfetzen, sowie die in jenen ein-
gebetteten Epithelien auf einen Dünndarmkatarrh hin. Hierbei ist aber Vor-
aussetzung, dass die Fortbewegung im Dickdarm eine abnorm schnelle ist,
d. h. es muss sich um dünne Entleerungen handeln. Das Vorkommen von
grösseren Fettmengen im Stuhl hat nur dann eine gewisse Bedeutung, wenn
der Kranke nicht grössere, das normale Mittel überschreitende Quantitäten
genossen hat und wenn die Function der Leber und des Pancreas als normal
vorausgesetzt werden darf (Nothnagel). Das Vorkommen von Muskelfasern
in den Stühlen ist nur unter ganz umschriebenen Umständen (Fehlen von
Fieber, Schleim im Stuhl) und einer gewissen Wahrscheinlichkeit für die Dia-
gnose Dünndarmkatarrh zu verwerthen.
Die Diagnose des Dünndarmkatarrhes ergibt sich aus den genannten
Zeichen, denen wir aus eigener Erfahrung das folgende beizählen möchten:
Bei Dickdarmkatarrh zeigen sich bei sorgfältiger Durchspülung des Darmes
nach der Entleerung stets mehr oder weniger grosse Mengen von Schleim-
fetzen; dieses Symptom würde darauf hinweisen, dass mindestens auch der
Dickdarm Sitz der Erkrankung ist, während das negative Ergebnis für die
Localisirung des Processes im Dünndarm sprechen würde.
Bei der Therapie ist zunächst festzustellen, ob eine primäre Grund-
lage des Darmkatarrhes (Lungen-, Leber-, Herz-, Nierenleiden) zu eruiren ist.
In diesem Falle hat man zunächst letztere zu berücksichtigen, bezw. sobald
dies nicht angängig, symptomatisch zu verfahren. Bei primärem Dünndarm-
katarrh kommt, da es sich in den allermeisten Fällen um Obstipationszustände
566 ENTERITIS MEMBRANACEA.
handelt, darauf an, den Stuhl zu regeln. Soweit sich dies nicht durch eine
geeignete Diät ermöglichen lässt — was immer zu versuchen ist, — muss man
zu Purgativmitteln greifen. Man vermeide hierbei thunlichst die drastisch
wirkenden, wie Coloquinthen, Gummi-Gutti, Scammonium und beschränke
sich auf den Gebrauch von Rheum, Podophyllin, Tamarinden, Pulvis Liqidr.
composit., die Frangidarinde, die Cascara sagrada.
Zu vorübergehendem Gebrauch eignet sich das Karlshader Salz (Morgens
1 Theelöffel auf V4 Liter warmes Wasser) und die Bitterwässer {Hunyadi Jänos,
Saidschütz, FriedricJishaller, u. A.); von letzteren lasse man Morgens nüchtern
1 — 2 Weinglas voll gebrauchen. Von vielen Seiten werden Trinkcuren
gegen Dünndarmkatarrh gerühmt: in Betracht kommen bei sehr hartnäckiger
Obstipation die Glaubersalzquellen von Marienbad, Elster, Tarasp,
Rohitscli, Franzenshad ; bei Neigung zu Diarrhoeen dagegen kommen entweder
die Kochsalz quellen von Kissingen oder Homburg oder Wiesbaden oder
noch besser die Thermalquellen von Ems oder Karlsbad (besonders ge-
rühmt der Sprudel) zur Verwendung. Bei Darmkatarrh auf anämischer Grund-
lage würden Badecuren in den Stahl b ädern von Sckwalbach, Pyrmont,
Franzensbad, Elster, Driburg, Spaa, Bocktet, Rheinerz zu empfehlen sein.
Ausser den genannten Brunnen hat man in einzelnen Fällen vorzügliche
Erfolge N0B.lli2iVih^nQ.ViY%\im Meran, Dürckheim, Wiesbaden, Gries, Montreux
beobachtet.
Schliesslich hat man wie bei allen Formen der Obstipation auch bei dem
mit Stuhlverstopfung einhergehenden Dünndarmkatarrh Massage angewendet
und in einzelnen Fällen gute Resultate erzielt. Desgleichen wü-d von manchen
Seiten die Faradisirung der Bauchdecken (starke Ströme, breite Elektroden)
oder die intrarectale Faradisation als erfolgreich gerühmt.
BOAS.
Enteritis membranaceä. (Synon. Colitis memhranacea, Colica mucosa
(N0THNAC4EL), Enteritis crouposa s. fihrinosa (Leyden), mucous disease (White-
head). Das Krankheitsbild der Enteritis membranacea ist charakterisirt durch die
zeitweilige Entleerung eigenthümlicher, membranöser oder cylindrischer, fester
und festweicher Gebilde, die gewöhnlich unter lebhaften Schmerzen, und zwar
isolirt, die Fäces nicht umhüllend, ausgestossen werden. Die Krankheit kommt
besonders häufig beim weiblichen Geschlechte vor, doch finden sich in der
Literatur auch Beobachtungen von Enteritis membranacea bei Männern und
selbst bei Kindern (Loxguet, Löv^^eisStein). Meist handelt es sich um nervöse,
hysterische Personen; doch spielt zweifellos in diesen Fällen die habituelle
Obstipation, mit welcher die Enteritis membranacea aufiallend häufig verknüpft
ist, eine mehr als accidentelle Piolle. Bei einer grossen Zahl von Patienten
halDe ich Dislocationen der Baucheingeweide (Enteroptose) nachweisen können,
ein Moment, das für das Zustandekommen der eigenthümlichen Krankheitsform
nicht unberücksichtigt bleiben darf.
Symptomatologie: Die Anfälle treten in Intervallen von Wochen und
Monaten auf. Die classischen Anfälle zeigen das Bild exquisiter Darmkoliken;
oft wird von den Kranken^ selbst das Colon, namentlich das Colon descendens
als Sitz der Krankheit bezeichnet. Im Verfolg der schmerzhaften Darmcon-
tractionen werden dann die oben erwähnten membranösen Massen entleert.
Darauf tritt eine mehr oder weniger lang anhaltende Euphorie ein. Von diesem
Typus kommen aber verschiedene Variationen vor: einmal können, wie dies
Krysinski, Jaqües Meyer, Löwenstein angeben und ich bestätigen kann,
kolikartige Schmerzen ganz fehlen; ferner kann der paroxystische Charakter
des Leidens verwischt sein durch den fast ununterbrochenen Abgang theils
lamellöser, theils mucinöser Massen. Endlich sind Fälle beobachtet, wo der
Abgang der in Frage stehenden Membranen sich überhaupt symptomlos voll-
ENTERITIS MEMBRANACEA. 567
zieht; doch gehört dies zu den Ausnahmen. Desgleichen ist Fieber, wie es in
einem Falle von Löwenstein bei einem dreijährigen Kinde beobachtet ist,
zweifellos den seltenen Complicationen zuzurechnen.
Das makroskopische Aussehen der entleerten Membranen ist kein ganz
einheitliches: es handelt sich meist um bandartige, röhrige, häutige oder fetzige
Gebilde von verschiedener Länge und Dicke. Kitagava unterscheidet
2 Grundformen: eine membranöse, der Croupmembran ähnelnde und eine
solide, cylindrische, dem fibrinösen Bronchialgerinsel vergleichbare. Beide
Formen können unter Umständen gleichzeitig auftreten; mit ihnen zugleich
auch glasige, sagoähnliche Schleimmassen. Die Farbe der Membranen ist
gleichfalls verschieden, bald w^eiss wie Croupmembranen, sehen sie in anderen
Fällen tiefbraun, etwa tabakbraun aus, offenbar bedingt durch Durchtränkung
mit verändertem Gallenfarbstoff. In einem Falle meiner Beobachtung waren
die Membranen exquisit grün, wie die chemische Prüfung ergab, durch Bei-
mengung frischer Galle. Nach Nothnagel können die Membranen durch
Blut röthlich gefärbt sein. Im Ganzen sind die Membranen leicht zerreissbar.
Die chemische Beschaffenheit der Gebilde ist noch nicht
völlig klargestellt. Man nahm früher, irregeleitet durch die Aehnlichkeit der
Membranen mit Croupausgüssen an, dass die wesentliche Substanz Fibrin sei.
Allein genauere Untersuchungen, namentlich die mit dem WEiGERT'schen
Fibrinreagens haben ergeben, dass Fibrin so gut wie vollkommen fehlt. Im
Ganzen dürfte die Hauptmasse der Membranen nach den jüngsten Forschungs-
ergebnissen (Nothnagel, Krysinski, Kitagava, Kossel) aus Nudeoalhumin
und Mucin bestehen. Im Uebrigen scheint es, als ob eine ganze Pteihe ver-
schiedenartiger Eiweisskörper an dem Aufbau der Membranen participirt und
zwar bei den verschiedenen Gebilden, wie es scheint in ungleich vertheiltem
Maasse. Hierüber, müssen weitere Untersuchungen Klarheit bringen.
Das mikroskopische Verhalten der Membranen ist gleichfalls in manchen
Punkten noch controvers. Am eingehendsten studiert ist es von Nothnagel, Krysinski und
Kitagava. Der erstgegenannte Forscher weist darauf hin, dass man nicht immer das
gleiche Bild bei der mikroskopischen Untersuchung findet. In einem Falle, wo es sich um
derbe, solide, baumförmige, grauweisse Gerinsel handelte, zeigte sich unter dem Mikroskop
eine streifige Grundsubstanz, in dieser nur spärliche, kleine, rundliche, schwer zu definirende
körnige Gebilde eingebettet. Daneben ganz vereinzelt ein paar Cholestearinkrystalle. Cylinder-
epithelien, bezw. Trümmer von diesen fehlen fast ganz, nur in einigen Präparaten sind die-
selben ziemlich dicht gedrängt zu beobachten. In einem zweiten Falle, wo die Massen mehr
lamelHrt waren, fand Nothnagel in einer schwach streifigen Grundsubstanz ungemein zahl-
reiche Cylinderepithelien, meist verschollt m.it kaum sichtbarem Kern, daneben wieder
einige Cholestearinplatten, aber keine zweifellosen Rundzellen. In einem dritten Falle,
wo gleichfalls lamellenartige Gebilde vorlagen, „fanden sich geradezu unglaubliche Massen"
meist verschonter Cylinderepithelien, so dass unter diesen die streifige Grundsubstanz ganz
verschwand. Die Epithelien sind oft noch reihenförmig angeordnet, in ihrer Mehrzahl wohl
erhalten, andere stark gebläht, mit riesigen Vacuolen, wieder andere Gruppen geschrumpft
und verschollt. Rundzellen und Cholestearinplatten wurden hier vermisst. Im vierten
Falle bestanden die Gebilde theils aus Gerinseln, theils aus Fetzen. Neben Tripelphosphat-
krystallen ergab die mikroskopische Untersuchung auch hier ausserordentlich zahlreiche
Epithelien, theils sonst normal, theils in den verschiedensten Formveränderungen ; daneben
auch zahlreiche Rundzelien, bald einzeln, bald in grösseren Gruppen zusammenliegend.
Mit diesen Befunden Nothnagel's stimmen im Ganzen die von Krysinski und Kita-
gava überein. Nur in einigen Details weicht der letztgenannte Autor von den beiden an-
deren ab: Er unterscheidet 3 Gruppen: Erstens: lamellöse Massen, deren Grundsubstanz
durch Essigsäure etwas getrübt und streifiger wurde, zweitens: lamellöse Massen, deren
Grundsubstanz durch Essigsäure sich eher aufhellte, •drittens: solide, strangartige, netzför-
mig communicirende, oft mit gewöhnlichem Schleim zusammen auftretende Massen, deren
Grundsubstanz durch Essigsäure streifiger und undurchsichtiger wurde. In den beiden
erstgenannten Gruppen bestanden die Massen vorwiegend aus zelligen Elementen und spär-
licher Grundsubstanz, während in der dritten Gruppe bedeutend weniger Epithelien gegen-
über einem erheblicheren Ueberwiegen der Grundsubstanz zu beobachten waren.
Eine wesentliche Klärung der Aetiologie der Enteritis membranacea verdanken wir
M. Rothmann, welcher in einem Falle von multipler Hirnnervenlähmuug in Folge von Car-
cinom der Schädelbasis als Nebenbefund den Abgang von Membranen beobachtete. Bei der
Section fanden sich im Colon transversum und descendens zwischen den Falten der stark
568 ENTEROPTOSE.
injicirten SchleimliaTit weissliche. theils membranartige, theils strangförmige Ausgüsse. Ein
Theil der Membranen wurde frisch, untersucht. Die Membranen bestanden aus einer leicht
streifigen Grundsubstanz, in der ganz vereinzelt weisse Blutkörperchen zu finden waren; da-
gegen keine Darmepithelien. keine Krystalle. In Uebereinstimmung mit Kitagava fand auch
EoTHM.^^'5; als Hauptbestandteil der Membranen Mucin. Eothmanx hat Stücke vom Colon trans-
versum in Alkohol absol. gehärtet, in Celloidin gebettet, geschnitten und mit Thionin gefärbt.
Hierbei zeigten sich die Drüsenschläuche, wenigstens zum Theil stark erweitert. Auf der Darm-
oberfläche lagen an mehreren Stellen ziemlich derbfaserige Massen, die den Epithelüberzug
anscheinend völlig verdrängt hatten. Dieselben dringen nach abwärts in die erweiterten Drüsen-
lumina hinein und erstrecken sich bis zum Funclus derselben, dabei nach den Seiten feine
Ausläufer aussendend, die in die Drüseuzellen einzudringen scheinen. Dazwischen Zell-
vermehrung und Verbreiterung der Mucosa. Die beschriebenen Massen erwiesen sich auf
Grund der genannten Thioninfärbung als Schleim.
Diagnose: Die Diagnose Enteritis membranacea ist. wenn man die
eigenartigen Gebilde einmal gesehen hat, nicht sch-wer: doch hat man sich zu
hüten die Membranen mit ähnlichen, in den Dejecten vorkommenden Producten
(Apfelsinenschläuchen, Spargelstengeln, Wursthaut, Speckhäuten) zu verwechseln.
In zweifelhaften Fällen genügt wohl die chemische Untersucliung mit Kalilauge
und nachträglichem Zusatz von Essigsäure, wobei sich eine deutliche Trübung
von Mucin bildet, die bei einem Alkalizusatz sich wieder löst. Auch die mi-
ki'oskopische Untersuchung erzielt ziemlich sichere Anhaltspunkte füi' die
Diagnose.
Therapie: Die Ansichten über die Therapie der Enteritis membranacea
sind je nach der Auffassung des Ki^ankheitsbildes sehi' verschieden: Nimmt man
als Krankheitsursache eine Secretiousnem'ose an, wie die meisten Beobachter
wollen, so gibt man von vornherein jeden ernsthaften Versuch einer reellen Thera-
pie auf. In der That hat man von diesem Gesichtspunkte das grosse Heer der
Xervina mit sehi' ungleichem, meist negativem Erfolg ins Treffen geführt. Auch
die Yerquickung der Enteritis membranacea mit Hysterie und Hypochondrie
hindert a priori eine ernsthafte therapeutische Initiative. Xach meinem Ermessen
liegt der Schwerpunkt des Krankheitsbildes in der, zu einem eigenartigen KataiTh
führenden habituellen Obstipation. Hier muss der Hebel angesetzt
werden. Der Stuhlgang ist theils durch geeignete Diät, theils durch Massage
und Faradisirung der Bauchdecken, theils endlich durch milde, pflanzliche
Aperientien (falls obige Maassnahmen nicht zum Ziele führen) zu re-
guliren. Wo sich ein Tiefstand des Magens und Dickdarms findet, ist durch
eine passende Bandage füi' x\ufrichtung der Baucheingeweide Sorge zu tragen,
event. muss durch Vornahme einer Mast cur versucht werden, den gesunkenen
Tonus der Unteiieibsmusculatur zu verbessern. Die locale Behandlung mittelst
adstringirender oder schleimlösender Mittel hat schon deshalb keinen Werth.
weil dadurch nicht die Ursache, sondern die Producte der Krankheit getroffen
werden. boas.
EnteroptOSe, Descensus, Ptosis, Prolapsus viscerum, Eingeweidevorfall.
Der Xame Enteroptose stammt von Glexabd her, der zuerst im Jahre
1885 das eigenthümliche Krankheitsbild erörterte und es als „entite morbide"
klinisch begründete. Die Thatsache, dass Lageveränderungen der Eingeweide
vorkommen, war allerdings bereits den älteren Aerzten, z. B. Euysch, dp: Haex,
Peter Fraxck u. A., bekannt gewesen. Virchow hat ferner schon vor 40 Jahi-en
(1853) auf die Lageanomalien der Eingeweide hingewiesen und als Ursache
hierfüi' local-peritonitische Processe angeschuldigt. Endlich hat Kussmaul im
Jahre 1880 in seinem Vortrage ..I'eber die peristaltische Unruhe des Magens"
auf das Vorkommen von Magentiefstand und die Möglichkeit letzteren von der
eigentlichen Magenerweiterung zu unterscheiden, deutlich hingewiesen. Trotz-
dem ist das eigenartige Krankheitsbild der Enteroptose erst dm'ch Glexard
geschaffen und entwickelt.
Pathologische Anatomie: Geringe Lageveränderungen im Bereich
der Bauchhöhle sind so häutige Vorkommnisse, dass sie gewöhnlich kaum be-
ENTEROPTOSE. 569
achtet werden, häufig treten dieselben auch an der Leiche — das gilt z. B. von
den Nieren — hinter denen intra vitam zurück. Trotzdem findet man auch bei
Autopsien nicht selten ausgesprochene Lageveränderungen.
So wurde von Krez in einem ausgesprochenen, bereits intra vitam constatirten Fall
von Enteroptose doppelseitige Wanderniere, Tiefstand des Magens, Herabgesunkensein des
Colon transversum constatirt. Die von Glenard als Corde colique transverse bezeichnete
Resistenz erwies sich als das normale Pancreas.
Aetiologie: Ueber die Aetiologie der Enteroptose sind die Ansichten
vielfach getheilt, nur soviel ist sicher, dass die allerverschiedensten ursäch-
lichen Momente in Betracht kommen. In einzelnen, wenn auch zweifellos sel-
tenen Fällen ist die Dislocation congenitaler Natur ; unter den Ursachen der
erworbenen Lageveränderungen spielt die Erschlaffung der Bauchdecken nach
häufigen Geburten (Landau, Senator, Litten) eine wichtige Rolle. Damit stimmt
tiberein, dass das Leiden in ausgeprägter Form fast nur bei Frauen vor-
kommt. Von sonstigen Ursachen, die in dem einzelnen Falle mehr oder we-
niger scharf hervortreten, erwähnen wir die folgenden: Schwund des Fettes
durch depotenzirende Krankheiten oder durch acute Entfettung, starkes
Schnüren, Lockerung der Bauchpresse bei Hängebauch, Traumen, Missbrauch
von Abführmitteln u. A. Zu diesen Ursachen muss aber noch eine gewisse,
in der Schwäche der Ligamente und Mesenterien zu suchende Prädisposition
hinzukommen.
Symptomatologie: Bei unbedeutenden Dislocationen können charak-
teristische Symptome ganz fehlen ; ja selbst ausgesprochene Enteroptose habe
ich mehrfach symptomlos verlaufen sehen. Li den meisten Fällen führt aber
die Enteroptose zu mehr oder weniger ausgesprochenen Krankheitssymptomen.
Die Symptome charakterisiren sich einmal in Störungen der Magen-Darm-
sphäre, welche so stark ausgeprägt sein können, dass hierdurch der Gesammt-
ernährungszustand mehr oder weniger ungünstig beeinflusst sein kann, ferner
in solchen des Nervensystems.
Was die Verdauungsanomalien betrifft, so bestehen sie zunächst in Alte-
rationen des Appetites verschiedenen Grades : die Esslust kann quantitativ re-
ducirt sein, oder sie kann auf besondere Nahrungsmittel gerichtet sein; es
können ferner Zeiten guten mit solchen verminderten Appetites wechseln. Die
Speisezufuhr selbst ist in der Regel mit Beschwerden verbunden ; es besteht
Druck, Völle, Aufgetriebensein des Magens, häufiges Luftaufstossen, das zu-
weilen auch einen säuerlichen Beigeschmack haben kann. Die Digestions-
beschwerden stellen sich entweder bald oder erst einige Zeit nach der Lige-
stion ein.
Der Stuhlgang ist in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle angehalten,
doch kann auch normale Stuhlentleerung bestehen; gelegentlich kann Obsti-
pation und Diarrhoe alterniren. Als Begleiterscheinung der Darmstörungen
beobachtet man häufig Flatulenz. In einem grossen Procentsatz von Ente-
roptose konnte ich das Vorhandensein von Enteritis membranacea feststellen
(s. d. Artikel!). Als Ursache derselben müssen wahrscheinlich die durch die
abnormen Knickungen und Flexuren bedingten partiellen Kothstagnationen an-
gesehen werden. Aus den genannten Verdauungsstörungen resultiren allmälich
Beeinträchtigungen des Ernährungszustandes: das Körpergewicht sinkt, die
vitale Kraft des Organismus verringert sich, die Kranken fühlen sich matt und
elend, so dass man an das Bestehen einer consumptiven Krankheit zu denken
geneigt ist.
Die nervösen Svmptome haben eine ausserordentliche Aehnlich-
keit mit denen der Neurasthenie und Hysterie. Die Stimmung der Kranken
ist bald gedrückt, bald gehoben, der Schlaf ist häufig unregelmässig, unter-
brochen, Kopfdruck kommt bald vorübergehend, bald constant, vor. Auf die
Magen-Darmsphäre weisen das Gefühl von Schwere im Unterleib, die leichte
570 ENTEROPTOSE.
Ermüdung beim Gehen, die zeitweilig auftretenden Magen- und Kreuzschmerzen,
die Pulsation der Aorta abdominalis hin. Die Gesichtsfarbe der Patienten ist
häufigem Wechsel unterworfen. Es alterniren Perioden guten, mit solchen
ungünstigen Befindens.
Der Verlauf der Krankheit ist ein chronischer: Ruhe, günstige äussere
Verhältnisse üben einen salutären Einfluss auf die Krankheitserscheinungen
aus, während umgekehrt starke körperliche Anstrengungen, unzweckmässige
Lebensweise das Leiden steigern. Bei Dislocation der rechten Niere oder
beider können Störungen der Diurese beobachtet werden. In seltenen Fällen
bietet eine dislocirte Niere Gelegenheit zur Entwicklung intermittirender Hy-
dronephrose (L. Landau).
Die objectiven Zeichen der Enteroptose. Das Charakteristische
ist der Nachweis der Dislocation von Darmabschnitten oder anderen in der
Bauchhöhle gelegenen Organen : in erster Reihe der Nieren, der Leber, der
Milz; häufig verbindet sich mit einem Prolaps der Eingeweide auch ein solcher
des Uterus.
Am häufigsten und frühesten tritt ein Prolaps der rechten Niere ein und
zwar in verschiedenem Grade. Im ersten Stadium kann man nur etwa ^/g der
Niere fühlen, die Niere ist respiratorisch beweglich und lässt sich mit den
Händen verschieben (1, Grad). Im 2. Stadium ist die Niere in ihrem vollen
Umfange palpabel, ist leicht verschieblich und liegt der vorderen Bauchwand
an oder lässt sich ihr nähern (2. Grad), 3. Die Niere liegt in der Bauchhöhle
ist verschoben und fixirt (3. Grad).
Man hat früher die letztgenannte Nierendislocation als Wanderniere bezeichnet nnd
in demselben Sinne auch von Wanderleber nnd Wandermilz gesprochen. Da es sich aber
nicht um active Locomotionsveränderungen, sondern um passive Senkungszustände handelt,
so ist die frühere Nomenclatur, als den Thatsachen nicht entsprechend, nunmehr aufzugeben.
Glexard hat nun die Theorie aufgestellt, dass der Descensus ren. dextri
nothwendigerweise mit dem Descensus der übrigen Baucheingeweide in Zu-
sammenhang steht. Das ist indessen unhaltbar, da zweifellos Fälle von
Enteroptose ohne Dislocation der Nieren vorkommen, obgleich dies zu den selte-
nen Erscheinungen gehört. Nach Glenaed soll nun der Werdegang des Visceral-
descensus folgender sein: Es kommt zuerst zu einem Prolaps des Quercolons
und zwar in der Gegend der Flexura colico-hepatica; das an sich schon schwache
Ligamentum colico-hepaticum lockert sich, die Uebergangsstelle zwischen Colon
ascendens und descendens verliert an Halt und damit ist die erste Lage-
veränderung eingeleitet; es folgt eine Lockerung der übrigen Ligamente, bezw.
Mesenterien und damit eine Ptose der an letzteren fixirten Eingeweide, des
Magens, der Leber, der Niere, der Milz: schliesslich zu einer vollkommenen
Splanchnoptose. In Folge der Verlagerung des Quercolons soll es nach Gle-
naed zu localen Abknickungen und demzufolge consecutiven Kothstauungen
kommen: in ausgesprochenen Fällen dieser Art soll das Quercolon als solider
Strang (Corde colique transverse) zu fühlen sein. Diese Erklärung ist un-
richtig; ist doch die vermeintliche Corde colique transverse nichts anderes als
die bei sehlafien Bauchdecken durchzufühlende Bauchspeicheldrüse; auch
sonst steht die Glenaed 'sehe Vorstellung von der Entwicklung der Visceral-
ptose nicht auf dem Boden der Thatsachen. Die Frage nach dem Ausgangs-
punkte der Krankheit bleibt also zunächst noch offen.
Falls der Prolaps des Magens und der Därme insbesondere des Dick-
darmes längere Zeit besteht, wird der Tonus derselben herabgesetzt, sie werden
insufficient; daher die häufige Atonie des Magens und Dickdarmes; bei starken
Winkelbildungen des letzteren kann es auch zu einem echten Dickdarm-
catarrh kommen.
Verlauf und Ausgang: Im Beginn des Leidens pflegen charakteristische
Symptome zu fehlen; die Kranken haben ein unbehagliches Gefühl des Druckes
ENTEROPTOSE. 571
und der Schwere im Leib, das sich besonders bei starken, körperlichen An-
strengungen kundgibt, bei Euhe aber wieder schwindet. Zuweilen können
Jahrelang bestehende Nieren-, Magen- undLeberdislocationen symptomlos bleiben.
Im Uebrigen ist der Verlauf ein exquisit schleichender; es wechseln gute und
schlechte Tage oder Wochen. Einen grossen Einfluss hierauf hat die Art
der Thätigkeit. Müssen Frauen mit Enteroptose schwer arbeiten, viel gehen
oder stehen, heben oder tragen, so wachsen die Beschwerden ausserordentlich,
während solche, die sich den Luxus der Bequemlichkeit und Schonung zu
gönnen in der Lage sind, von leichten Beschwerden abgesehen, sich erheblich
wohler fühlen. Sehr bemerkenswerth ist der — wenn auch vorübergehende
Einfluss der Gravidität, während deren aus leicht begreiflichen Gründen die
Belästigungen fast völlig sistiren, um nach der Entbindung von Neuem wie-
der einzusetzen.
Diagnose und Differentialdiagnose. Die Diagnose kann häufig
schon auf Grund einer sorgfältig erhobenen Anamnese gestellt werden: die
Art der Störungen, die ungünstige Beeinflussung körperlicher Anstrengungen,
das Schwankende in dem Symptomencomplex, die nervös-dyspeptischen Er-
scheinungen geben dem Erfahrenen ein recht charakteristisches Bild. Immer-
hin ist das Wesentliche die objective Analyse. Man palpirt in der be-
kannten Weise bimanuell beide Nieren, die Leber und Milz. Die Lage des
Magens kann man bei einiger Uebung und schlafien Bauchdecken schon durch
Inspection erkennen; falls dies nicht der Fall, muss man die Lage des Magens
durch Percussion, COg-, oder Luftaufblähung feststellen. Für die Praxis sehr
empfehlenswerth ist nach meiner Erfahrung das folgende Verfahren: Man lässt
den Patienten bei möglichst leerem Magen etwa 200^ Wasser nehmen und
beobachtet, ob und an welcher Stelle Plätschergeräusche entstehen, nachdem
man festgestellt hat, dass letztere vor der Wasseraufnahme fehlten. Man
verfolgt nun durch leises Tapotement die Grenzen dieses Plätscherbezirkes,
das natürlich nur dem Magen angehören kann, nach oben und unten. Nun
perkutirt man den gefundenen Bezirk und überzeugt sich, ob innerhalb des
Plätscherbezirkes gedämpft tympanitischer Schall herrscht. Findet man
auf diese Weise, dass der Plätscherbezirk in der Mitte oder unterhalb der
Mitte der Lin. xipho-umbilicalis beginnt und mehrere Finger unterhalb der
Nabelhorizontalen endigt, so ist die Diagnose Descensus ventriculi gesichert.
Zugleich kann man durch diese Methode auch den Nachweis einer etwa vor-
handenen Atonie führen. Ist der Magen descendirt, so folgt daraus schon,
dass auch das Quercolon nach unten verschoben sein muss. Man kann den
Nachweis des Quercolons, sowie der übrigen Colonabschnitte entw^eder gleich-
falls durch Luft-Einblasung in den Mastdarm mit Hilfe einer in denselben
eingeführten und mit Doppelballon versehenen Nelaton - Sonde führen oder
man kann sich eines ähnlichen Verfahrens wie für den Nachweis der
Magenatonie bedienen, indem man mittelst Hegar'schen Trichters bestimmte
Mengen Wasser in den Dickdarm bringt. Wenn man nämlich bei nor-
maler Lage des Quercolons 5 — 600 ccm Wasser in den Darm laufen lässt, so
erhält man eine schmale Plätscherzone, etwa 2 — 3 Querfinger breit oberhalb
des Nabels, desgleichen bei Lagewechsel schwaches oder gänzlich fehlendes
Succussionsgeräusch. Bei Tiefstand des Colons erhält man eine ähnliche
Plätscherzone mehr oder weniger tief unterhalb des Nabels; ist hiermit auch
Atonie des Dickdarmes vorhanden, so genügen schon 2 — 300 ccm, um Plätschern
hervorzurufen, auch hat der Plätscherbezirk in diesem Falle eine räumlich
erheblich grössere Ausdehnung. In derselben Weise kann man auch Lage-
veränderungen des ab- und aufsteigenden Colons nachweisen. Von einer gewissen
diagnostischen Bedeutung sind auch die häufig zu beobachtenden epigastralen
und dorsalen Druckpunkte. Die ersteren, in der Kegel zwischen proc. ensi-
formis und Nabel gelegen, sind besonders auf tiefen Eindi'uck äusserst em-
572 ENTEROPTOSE.
pfindlich; es handelt sich hierbei um die sympathischen Geflechte. Am Rücken
findet man unregelmässig angeordnete schmerzhafte Punkte, häufig schon hoch
oben am 1. oder 2. Brustwirbel, zuweilen tiefer, in anderen Fällen erst an
den Lendenwirbeln gelegen. Uebrigens correspondiren die Druckpunkte auf
beiden Seiten nicht mit einander.
Die Differentialdiagnose wird sich besonders nach der Richtung
bewegen, ob eine nervöse Dyspepsie auf der Basis allgemeiner Neurasthenie
oder Hysterie vorliegt oder ob die nervösen Symptome Folgezustände der
Splanclmo'ptose sind. Thatsächlich dominiren die nervösen Erscheinungen in
dem Symptomencomplex so ausserordentlich, dass es nicht leicht ist, das Vor-
liegen einer functionellen Neurose auszuschliessen. Thatsächlich werden diese
Zustände auch von einzelnen Forschern z. B. Ewald, der nervösen Dyspepsie
subsumirt. Dafür würde auch der Umstand angeführt werden können, dass,
wie bereits oben bemerkt, der Descensus der Eingeweide als solcher häufig
symptomlos bleiben kann. Indessen ist es bei der innigen Verbindung, in
welcher die Visceralorgane mit dem Sympathicussystem stehen nicht von
der Hand zu weisen, dass die Senkungen mit gewissen Zerrungen an letzte-
rem einhergehen, die allerlei nervöse Störungen hervorrufen. Bis auf Wei-
teres wird man also hier von einer organischen Grundlage des Leidens kaum
absehen können.
Therapie. Prophylaktisch kann man bei Frauen nach der Ent-
bindung durch passende Leibbinden ein Hinabsinken der Visceralorgane ver-
hüten; desgleichen gelingt es in einzelnen Fällen, bei leichtem Descensus der
Organe durch passende Bandagen (s. u.), sowie mechanische Kräftigung der
Bauchmuskulatur, das weitere Herabsinken zu verhindern. Wichtig ist ferner
eine Regelung des Stuhlganges.
Bei ausgeprägtem Descensus intestinorum werden durch passende Ban-
dagen in vielen Fällen palliative Erfolge erzielt. Namentlich vermindert sich
die Schwere im Leibe, die Kranken können besser laufen, die Kreuzschmerzen
sind geringer etc. Die Zahl der angegebenen Bandagen ist sehr mannigfaltig:
von vielen Seiten erprobt ist der Landcm'sche herzförmig gestaltete Gürtel, die
TeuffeVsche Binde, das Bardenheuer' sehe Unterleib scorset. Auch andere ähnliche
Apparate mögen ihrem Zweck, die Eingeweide zu iramobilisiren, mehr oder
w^eniger nahe kommen.
Der zweite therapeutische Gesichtspunkt betrifft die Kräftigung der
schlaffen Bauchdecken durch mechanische Mittel, in erster Reihe Massage
und Elektricität, in zweiter durch hydrotherapeutische Maassnahmen. Die
Elektricität wird in Form starker faradischer Ströme gebraucht, die Hydro-
therapie wird in Gestalt kräftiger Frottirungen, Strahlendouchen, kalter Ein-
wicklungen angewendet, bei der Massage endlich sind die Effleurage und die
Petrissage die am meisten erprobten Methoden.
Daneben handelt es sich, wo eine gleichzeitige Gastroptose und Colo-
ptose besteht, um eine zweckentsprechende Diät. Da letzterein den meisten
Fällen mit Atonie des Magendarmcanals einhergeht, so muss die Ernährung
so geregelt werden, dass häufige, kleine, möglichst wasserarme Mahlzeiten
gereicht werden. Was im Einzelnen zuträglich ist, kann man auf Grund einer
oder mehrerer Mageninhaltsuntersuchungen leicht bestimmen; liegen solche
nicht vor, so wird man nicht umhin können, methodisch zu probiren. Für
eine regelmässige Stuhlentleerung ist durch Compots, Obstweine, Milch-
zucker in grossen Dosen (1 Esslöffel in Thee, Milch, Wein), Kefir (2-tägig),
Buttermilch u. A. zu sorgen. Abführmittel sind, wenn irgend möglich, zu
meiden. Ueber die Behandlung der Enteritis memhranacea s. diesen Artikel.
In sehr hartnäckigen, mit starker Prononcirung hysterischer Symptome
einhergehenden Fällen, hat sich uns die „Mastkur" (Weir Mitchell Cur^
Playfair Cur) als ein wichtiges Heilmittel erwiesen. Allerdings lässt sich
ENTEEOSTENOSE. 573
der Erfolg im Einzelfalle schwer voraussehen, zweifellos verdient das Verfahren
in Fällen von Enteroptose mit Beimischung stark nervöser Symptome den
wichtigsten Platz in der Therapie.
Gegenüber diesen mechanischen und diätetischen Heilpoteuzen tritt die me-
dikamentöse Behandlung in den Hintergrund. Höchstens wird man symptoma-
tisch von den Nervinis, besonders den Bromalkalien, dem Morphium, Codein,
Belladonna u. A. einen discreten Gebrauch machen können.
Bei ausgesprochener Atonie des Magen-Darmcanals mit Flatulenz und
Gährungsprocessen haben sich uns das Besorcin in Verbindung mit Extr.
Strychni und das Wismuthsalicylat häufig bewährt. (Rp. Besorcin. resublim.
0'3. Extr. Strychni O'Ol — O'Oo f. pulv. d. t. d. XX. 3-stl. 1 Pulver n. d.
Essen. Rp. Bism. salicyl. 0'3, Extr. Strychni 0'03—0'05 f. pulv. d. t. d. XX
3-stl. 1 Pulver nach den Mahlzeiten). Auch das ^-Ncqjhfol, Benzonaphtol, die
Salicylsäure sind als antifermentative Mittel eines Versuches v/erth.
In sehr obstinaten Fällen von Nephroptose hat man auf die Initiative
Hahn's die Fixation des dislocirten Organes empfohlen (Nephrorhaphie)
und in einzelnen Fällen (nach Sulzer in ca. 56%) Heilung der Beschwerden
erzielt. Die Mortalität beläuft sich auf ca. 27o- Ini Allgemeinen wird man die
Merenfixation nur dann mit Aussicht auf Erfolg unternehmen, falls nach-
weislich kein anderes Organ dislocirt ist und falls die Beschwerden als aus-
schliesslich von der Nierendislocation herstammend aufgefasst werden müssen.
Wo gleichzeitig Descensus anderer Visceralorgane vorliegt, wird man von der
Nierenfixation, als hinsichtlich des Endeffectes unsicher, Abstand nehmen
müssen. Die von Keppler empfohlene Nephrectomie als Heilmittel einer
dislocirten Niere ist wohl als endgiltig aufgegeben anzusehen. boas.
EntsrOStenOSe. Unter dieser Bezeichnung fassen wir hier die Ver-
engerungen und VerSchliessungen des Darmlumens zusammen. Es ist zwar
gewiss nicht ganz gleichgiltig, ob die A^erlegung eine partielle oder complete
ist; doch lässt sich eine vollständige Trennung dieser beiden Formen nicht
in jedem Falle mit Sicherheit durchführen und erscheint daher die gemein-
schaftliche Behandlung derselben geboten. Ebenso ist dies auch deshalb zweck-
mässig, weil das klinische Bild trotz der Verschiedenartigkeit des ätiologischen
Momentes, doch meist ein ähnliches ist.
xletiologie. Die Verengerung des Darmlumens kann angeboren und
erworben sein. Von den angeborenen Verschliessungen kommen nur die
des Rectum und Anus in Betracht, weil sie einer operativen Reparatur zu-
gänglich sind, während die Individuen mit angeborenen Verschliessungen des
Dünndarms und Colons bisher nicht erhalten werden konnten.
Die erworbenen Verlegungen des Darmlumens können in dreifacher
Weise entstehen: 1. durch Obturation, 2. durch Compression, 3. durch Strictu-
rirung in Folge Erkrankung der Darmwand.
1. Die Obturation kann eintreten:
a) Durch den Darminhalt. Sie kann zustande kommen zunächst durch
einfache Kothstauung, deren Sitz am häufigsten der Dickdarm u. zw.
speciell der Blinddarm ist. Sie kann ferner erfolgen durch abnormen Darm-
inhalt: Gallen- oder Darmsteine, Fremdkörper (Obstkerne, Fruchthülsen u. dgl.
oder per os eingeführte unverdauliche Objecto), endlich seltener durch Con-
glomerate von Darmparasiten. Zur Entwicklung der Verschliessungserschei-
nungen ist es weder erforderlich, dass das Lumen vollständig ausgefüllt, noch
dass die Darmwand ad maximum gespannt sei. Es ist kaum zu bezweifeln, dass
es sich in diesen Fällen um eine Insufficienz {Atonie) der Darmpartie an der
engagirten Stelle handelt, deren Folgen durch die rasch hinzutretende Koth-
stauung gesteigert werden.
574 ENTEROSTENOSE.
Der in den Darm gelangte Fremdkörper verursacht, mitunter erst mittelbar den
Eintritt der Enterostenose, indem er zunächst zu Ulcerationen event. zu circumscripter
Peritonitis führt. Die Stenose ist dann die Folge letzterer Veränderungen.
h) Durch den Darm seihst und zwar 1. durch die Einstülpung eines Darm-
stückes in das nächst untere: Invagination ; 2. durch Tumoren.
1. Die Invagination entwickelt sich meist ohne sicherstellbare Veranlassung, in
manchen Fällen wird sie durch in das Darmlumen hineinragende Polypen herbeigeführt.
Sie kommt bei Erwachsenen seltener vor als bei Kindern*) und ist bei ersteren ein häufiges
Vorkommnis in der Agonie und da belanglos.
2. Tumoren führen am häiifigsten in der Gestalt von Polypen gelegentlich zur Ob-
turation des Darmes. Es sind dies Fibrome, Myome, Adenome. Hier wären weiters noch
hochsitzende Hämorrhoidalknoten als Occlusionsursache zu nennen.
2. Die Compression eines Darmstückes kann eintreten: a) hei normaler
Lagerung des Darmes durch Tumoren (Cysten, Neoplasmen, Exsudate u. dgl.),
dm'ch Adhäsionen und Ligamente, dm'ch normale, jedoch dislocirte Organe
(Wanderniere, Wandermilz, Uterus u. dgl.)
h) Durch Dislocation des Darmes selbst. Zu diesen gehört 1. die Ein-
klemmung des Darmes dui'ch Bruchbildung (Incarceration); 2. die Achsen-
drehung und Yerschlingung des Darmes (Volvidus).
1. Incarceration kann durch innere imd äussere Hernien herbeigeführt werden, in
angeborenen Falten und Spalten des Peritoneums oder aber in erworbenen, durch ent-
zündliche Processe entstandenen Bindegewebsträngen, Fixationen, Spalten.
Von den inneren Hernien erwähnen wir z. B. die Hernie des Foramen WinsJoivii
(H. hiirsae omentalis), der Plica duodenojejuncdis (Treüz'sclie Hernie), die Hernia retroperi-
tonealis in der Flexura sigmoidea. die H. diapliragmatica. Die äusseren Hernien finden sich
in den bekannten Bruchpforten, mitunter auch in anderen erworbenen.
2. Die Aclisendrehung und "S'erschlingung ist eine durchaus nicht seltene Form des
Darmverschlusses, dessen Zustandekommen durch ein langes Mesenterium besonders begün-
stigt wird. Die Drehung erfolgt in der PiCgel um die Mesenterialaxe des Darmstückes, wie
dies z. B. bei dem Volvulus der Flexura sigmoidea beobachtet wird, wenn deren Mesenterium
lang, die Basis desselben jedoch sehr schmal ist. Seltener erfolgt die Drehung um die eigene
Axe. In manchen Fällen tritt der Verschluss dadurch ein. dass eine Darmschlinge sich um
ein anderes Darmstück dreht und dadurch das letztere abklemmt. Mitunter führt ein Di-
vertikel, das sich um eine Darmschlinge legt, einen solchen Zustand herbei.
3. Die Stricturirung des Darmlumens. Diese wird Yerursacht:
a) durch Darmgeschiüüre, b) durch jS'eoplasmen, c) dm^h Peritonitis.
a) Von Darmgesclnvlü'en kommen vor allen die dysenterischen in Betracht. Sie
sitzen im Dickdarm und bilden entweder circumscripte oder diffuse, einfache oder multiple
Verengerungen des Darmkmiens. Viel seltener als diese sind Stenosirungen durch syphi-
litische (im Rectum), tuberculöse (im Ileum. auch Coecum), katarrhalische Geschwüre (im
Colon), am seltensten solche nach Typhus. Gelegentlich führen Traumen zu Stenosirungen
des Dai-mes. Auch können Stricturen nach Brucheinklemmung sich au den eingeklemmten
Stellen durch Ulceration mit nachfolgender Narbenbildung einstellen. Im Rectum speciell
kommen neben den erwähnten syphilitischen Geschwüren auch noch Stricturen nach Ver-
eiterung von Hämorrhoidalknoten wie nach periproctischen Entzündungsprocessen vor.
Dem Sitze nach befinden sich Stricturen des Dünndarmes am häufigsten im Ileum. u. zw.
in der unteren Hälfte desselben, im Colon, etwa 50%. in der Flexura sigmoidea. Der
Häufigkeit nach folgen die des Colon descendens und der linken Flexur und werden nach
oben hin seltener.
Die Dünndarmstricturen sind meist sohtäre, die im Dickdarm nicht selten multiple.
1)) Von dem Neoplasmen der Dai'nuvand ist das häufigste das CarL-inom, u. zw.
das primäre, welches zu Stenosirungen des Darmes führt. Der Sitz desselben ist meist das
S Romanum und das Rectum. Der Form nach ist es gewöhnlich ringförmig und führt in
Folge dessen rasch zu VerengeTung und Kothstauung. Nur das Adenocarcinom macht
eine Ausnahme, insoferne es zwar ringförmig wächst, jedoch zu einer Erweiterung des
Lumens führt. Von anderweitigen Geschwülsten kommt in Betracht das Sarcom und der
Polyp. Der letztere führt gelegentlich, wie erwähnt, auch zur Obturation oder zur Invagina-
tion (s. oben), kann aber auch durch Abreissung am Stiele spontan eliminirt werden.
c) Peritoneale Erki-ankimgen können durch Verlötungen und Verwachsungen zu
Knickung des Darmes und Verengerung des Lumens führen. Hieher gehören auch die schon
hervorgehobenen Veränderungen des Peritoneums, welche sich an der Einklemmungsstelle
nach der Behebung der Incarceration in manchen Fällen einstellen.
*) Vergl. „Invagination" (.J. Loos). ds. Bd. der „Bibliothel-".
ENTEROSTENOSE. 575
Die Entstehung der Verschliessungssymptome ist entweder
auf einen absoluten Verschluss des Darmes, d. h. rein mechanischer Natur,
oder nur auf eine Insufficienz der Triebkräfte zurückzuführen. Das
letztere Moment kommt hauptsächlich bei den Verengerungen in Betracht und
bei den einfachen Kothstauungen welche zu Ileus führen. Den höchsten
Orad dieser Insufficienz repräsentirt die Lähmung, die nicht selten durch
Obstipation oder durch Geschwürsprocesse, am häufigsten aber durch circum-
scripte oder diffuse peritoneale Veränderungen (Peritonitis) herbeigeführt wird.
{Ileus paralyticus).
Es kann eine Stenosirung daher längere Zeit fortbestehen ohne wesent-
liche Molimina zu bereiten, wenn der Darm sufficient bleibt oder gar eine
compensatorische Hypertrophie der nächstoberen Darmpartie sich einstellt.
Der Häufigkeit nach, insofern sich hierüber überhaupt etwas bestimmtes
sagen lässt, sind Männer häufiger in der Statistik der Enterostenose ver-
treten als Weiber, u. zw. sollen die der arbeitenden Classe obenan stehen.
Symptome. Die Erscheinungen, welche die Enterostenose macht,
sind zunächst davon abhängig, ob die Verschliessungserscheinungen allmälig
oder plötzlich einsetzen.
a) Die chronische Enterostenose. Diese entwickelt sich zuerst unter dem
Bilde einer Stuhlverstopfung, welche gelegentlich von Diarrhoeen (Pteizungs-
zustände) unterbrochen wird. Dabei stellt sich hartnäckige Blähung ein-
zelner Darmschlingen neben Appetitlosigkeit und häufigem Aufstossen ein. Die
geblähten Darmtheile zeigen lebhafte Peristaltik, welche der Patient sehr
schmerzhaft empfindet (Kolik) und die sich oftmals mit lautem hörbarem Kollern
vollzieht. Gleichzeitig können auch spontane Schmerzen bestehen, welche von
der Stenose selbst ausgehen. Nebenbei wird auch Erbrechen beobachtet.
Dieses ist jedoch, insofern es sich nicht um ein Anfall von Ileus handelt,
hier nur als ein refiectorisches zu erklären.
Sitzt die Stenose tief (Colon descendens oder Eectum), so kann man durch
die Form des Kothes auf den Darmzustand aufmerksam werden. Statt normal
geformter Stühle kommen spindelförmige, plattgedrückte Fäces oder nur kleine
Bröckel (wie Ziegenkoth) zum Vorscheine. Mit der Deutung dieses letzteren
Befundes muss man jedoch sehr vorsichtig sein, da man solche Stühle nicht
selten bei dem atonisch-contrahirten Dickdarm beobachten kann. Selbstver-
ständlich schliesst normale Stuhlform nicht die Anwesenheit einer Stenose aus.
Bezüglich des Aussehens der Fäces ") ist noch auf Beimengungen, wie
Schleim, Blut, Eiter, stinkende nekrotische Gewebsfetzen zu achten, von denen
namentlich die letzteren auf jauchigen Zerfall von Ulcerationsflächen und so-
mit z. B. den Verdacht auf ein Ptectumcarcinom leiten können.
Der Inspectionsbefund des Abdomens zeigt den angedeuteten Me-
teorismus, an dem man meist sofort erkennt, dass er durch geblähte Darm-
schlingen herbeigeführt wird, deren Peristaltik durch die Bauchdecken hin-
durch sichtbar ist. In manchen Fällen nur gelingt es auch aus dem Aussehen
der Schlinge und der Art der peristaltischen Bewegung, durch die Bauchdecken
hindurch, zu bestimmen, ob es sich um Dickdarm oder Dünndarm handelt.
Die Weite des betreffenden Darmstückes ist jedoch hiebei nicht entscheidend,
da durch die Blähungen der Dünndarm ebenso breit werden kann wie der
Dickdarm.
Durch Palpation kann man mitunter die Ursache der Verengerung
herausfinden, z. B. wenn es sich um einen Tumor oder Exsudat handelt. Am
wichtigsten ist aber die Untersuchung per rectum, bei der Frau auch die
Untersuchung per vaginam, durch welche man nicht selten und ganz uner-
*) Vergl. „Fäces wid Fäcesuntersuchung" (R. Stern), ds. Bd. der „Bibliothek."
576 ENTEROSTENOSE.
wartete Aufschlüsse über die Ursache der Stenose erhalten kann. In erster
Linie werden tiefsitzende Stenosen des Rectum oder an dem S romanum aufge-
deckt werden können.
Zur weiteren Erforschung des Sitzes des Hindernisses werden auch noch
Aufblähung des Colon mitLuft oder Wassereingiessung empfohlen.
Bezüglich der Wassereingiessungen wäre hervorzuheben, dass man auf Eectal-
stenosen oftmals dadurch aufmerksam wird, dass die Patienten finden, sie könnten,
keine Mastdarmeingiessung mehr vornehmen, da bereits nach einem Einlauf
von 3 — öOO ccm das Wasser zurückfliesst.
Die Percussion ergibt über den geblähten Schlingen vollen tympani-
tischen Schall. Entsprechend dem Meteorismus besteht Hochstand des Zwerch-
fells. Ist ein Tumor oder Exsudat vorhanden, so geben die betreffenden Stellen
natürlich auch Dämpfung.
Die Auscultation kommt bis auf die des Kollerns (Borborygmi)
kaum in Betracht.
Der Harn enthält in der Piegel reichlich Indican.
Piücksichtlich der Complicationen ist Peritonitis, insbesondere
perforative, Abscesse, bei längerem Bestände Marasmus, Decubitus, Sepsis zu
befürchten.
Die chronische Stenose kann lange bestehen und nur gelegentlich zu
Occlusionserscheinungen lühreU; welche durch die Einleitung entsprechender
Maassnahmen wieder behoben werden können, bis sich der Anfall wiederholt und
nicht mehr löst. Tritt nun bei einer älteren Strictur oder aus irgend einem
der anderen Gründe absoluter Verschluss ein, so entwickelt sich das Krankheits-
bild, welches wir als Ileus (Passio iliaca; von dlim verschliessen oder zihjuy
winden) oder Miserere (von miserere, erbarmen) bezeichnen.
b) Der acute Darmverschluss.
Das Bild des acuten Darmverschlusses zeigt in vieler Beziehung Aehnlich-
keit zum chronischen, nur dass sich die Erscheinungen beim acuten rascher
entwickeln und ebenso zum Abschluss gelangen können.
Der Moment des Yerschlusses ist in der Piegel durch den Eintritt eines
heftigen Schmerzes markirt, dessen Sitz die Einklemmungsstelle ist. Alsbald
stellen sich krampfartige Schmerzen ein, welche in der Xabelgegend localisirt
werden und welche meist nur anfallsweise, in Intervallen sich steigern (Kolik).
Die nächsten Symptome sind Uebelkeit, Erbrechen und stetig zunehmender
Meteorismus.
Je höher die Incarcerationsstelle umso rascher folgen nun die schweren
Symptome, während sie bei tiefsitzendem Verschluss, etwa im S romanum selbst.
Tage brauchen, um den Höhepunkt zu erreichen.
Das Erbrochene besteht vorerst aus Mageninhalt, später folgt Galle.
Diese letztere fehlt nur dann, wenn die Stenosirung oberhalb der Mündung des
Gallenganges erfolgt, also bei hoher Duodenalstenoser) Das gallige Erbrechen
bringt den ganzen regurgitirten Duodenalinhalt, von dessen Anwesenheit man sich
auch durch den Nachweis der tryptischen Wirkung desselben überzeugen kann.
Das später Erbrochene riecht immer mehr und mehr fäculent. Der fäculente
Geruch des Erbrochenen (Skatol) kann aber bei hochsitzenden Stenosen ebensa
vorhanden sein, wie bei den tiefen, da er nur die Folge der Stagnation und
Zersetzung des Darminhaltes ist.
In Fällen von tiefem Dickdarmverschluss, kommt es, wenn auch sehr
selten, zu wirklichem Erbrechen von Fäces. Das Erbrechen wird theils reflec-
torisch, theils durch die lebhafte Peristaltik unterhalten. Ob die Rückbeför-
derung des Darminhaltes auch durch Antiperistaltik erfolgt, wird bestritten.
*) Vergl. Artikel .-Vuodenalstenose-' (J. Boas) pag. 441 ds. Bd.
ENTEROSTENOSE. 577
Gleichzeitig mit dem Eintritt des Erbrechens tritt Stuhlverhaltung ein,
wenn eine solche nicht von vornherein bestanden hat, und sistirt der Abgang
von Gasen, in gleicher Weise wie bei der clironischen Stenose. Doch kann in
den ersten Stunden nach dem Eintritt der Incarceration sowohl Abgang von
Stuhl als auch von Winden stattfinden, namentlich, wenn die Verschlusstelle
hochsitzt und lange Darmstrecken sich noch ihres Inhaltes entleeren können.
In manchen Fällen erfolgen sogar diese Entleerungen in Form von flüssigen
Stühlen (Gefässparese und gesteigerte Peristaltik), so dass sogar das Gesammt-
bild einen Brechdurchfall vortäuschen kann. Nicht selten besteht Tenesmus.
Der Meteorismus ist zu Beginn des Anfalls oft nur ein localer, auf die
abgeschnürte Schlinge beschränkt, wenn es sich z. B. um einen Volvulus
handelt. Später folgt die Blähung der oberen Darmpartien. Sitzt der Ver-
schluss im Colon, so kann die erste Etappe nur zu einer Blähung dieses
Darmabschnittes bis zur Cöcalklappe führen. Die nächst höheren Abschnitte
werden erst geliläht, wenn diese insufficient wird. Je mehr nun der Meteoris-
mus zunimmt, umso grösser wird das Abdomen und die Spannung desselben
und gleichzeitig die subjectiven Beschwerden des Kranken.
Das Aussehen des Patienten trägt sehr bald das Gepräge der schweren
Affection. Er wird blass (Parese der Abdominalgefässe), die Augen sind halo-
nirt, die sichtbaren Schleimhäute sind livid, auffallend trocken, die Hände und
Füsse kühl und mit kaltem, klebrigem Schweiss bedeckt, Singultus tritt auf, die
Pulsfrequenz steigt, die Pulswelle und die Spannung im Gefässsystem sinkt
herab. Durch die Zunahme des Meteorismus steigert sich das Oppressions-
gefühl. In diesem Stadium, dessen Erscheinungsreihe von manchen als das
Product einer Autointoxication und des Wasserverlustes in Folge des reich-
lichen Erbrechens hingestellt wird, begegnen wir noch Fieber und Albuminurie.
Die Harnsecretion erfolgt nur spärlich, kann auch nur auf wenige Tropfen
reducirt sein. Der Harn ist dunkel, enthält namentlich bei hohem Sitz der
Stenose reichlich Indican. Der Tod tritt entweder im Collaps, shockartig
sofort nach Eintritt der Incarceration ein oder was häufiger der Fall ist unter
stetem Kräfteverfall und nicht selten bei ungetrübtem Bewusstsein.
Besteht die Incarceration längere Zeit, d. h. mehrere Tage, so bleibt das
Krankheitsbild kein ungetrübtes. Es treten Complicationen auf, welche
die Diagnose sehr erschweren: zunächst Peritonitis, welche mitunter direct
durch eine am Krankheitsherde eingetretene Perforation herbeigeführt wird.
Die in Folge dessen sich entwickelnde Spannung des Peritonealraumes verwischt
das Bild vollends. Die geblähten Schlingen und deren Peristaltik, Zeichen,
welche als Fingerzeig zur Diagnose führten, verschwinden, und es bleiben
nur zweifelhafte Symptome, wie besondere Empfindlichkeit einer einzelnen
Bauchpartie oder circumscripte Dämpfung, kurz Symptome, welche sich nicht
mit Sicherheit aus dem Krankheitsbild der Peritonitis herausheben lassen.
Von den weiteren Complicationen müssen wir noch der Pneumonie
( ScJiluckpneummiie) und der Septicopyaemie gedenken, welche als unmittel-
bare Todesursache nicht selten in den Rahmen treten.
Tritt Lösung, d. h. Permeabilität des Darmes ein, so kündigt sich diese
gewöhnlich durch den Abgang von Gasen an, welchen bald Stuhl und rasche
Erholung der Kräfte folgt. Sind zur Lösung der Incarceration Eingiessungen
gemacht worden, so kommt es vor, dass Luft in den Darm eingetrieben wird,
deren Abgang den von Darmgasen vortäuschen kann.
Diagnose. Die richtige Beurtheilung einer Enterostenose lässt es
namentlich bei acutem innerem Darmverschluss als sehr wünschenswerth er-
scheinen, den Kranken so früh als möglich nach Eintritt der Erscheinungen
zu beobachten. Je mehr wir uns von diesem Zeitpunkte entfernen, umso
grösser können die Schwierigkeiten für die richtige Beurtlieilung des Falles
werden.
Bibl. med. Wissenscliaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. Ol
578 ENTEROSTENOSE.
Differentialdiagnostiscli kommen in Betracht beim acuten Ver-
schluss: in erster Linie acute Peritonitis, dann Gallen- und Nierensteinkoliken,
einfache Darmkoliken (bes. bei Kindern). Einklemmungserscheinungen können
noch durch Einklemmung irgend eines normalen Unterleibsorganes (Uterus,
Wanderniere; Ovarium, Hoden) oder durch Stieldrehung von Tumoren (Ova-
rialcysten), ferner durch Traumen des Abdomens (Darmparalyse V) herbeigeführt
werden. Ton anderweitiger Erkrankung können mit innerer Einklemmung
verwechselt werden: Brechdurchfälle, Cholerine, Cholera, acute Vergiftungen,
Meningitis.
Von den erwähnten Affectionen wollen wir hier nur die Differentialdiagnose
der Peritonitis besprechen, indem wir bezüglich der anderen Krankheiten
auf die entsprechenden Artikel verweisen. Es handelt sich hier auch nur um
die acute Peritonitis, die sowohl als diffuse Erkrankung durch allgemeine
Darmlähmung, als auch in der Form der circumscripten Erkrankung einzelner
Darmstücke zu Ileuserscheinungen führen kann. Als Beispiel der letzteren
gilt namentlich die Perityphlitis. Man darf jedoch niemals ausser Acht lassen,
dass eine bestehende Peritonitis eine Complication eines Ileus sein kann.
Differentialdiagnostisch von Bedeutung erscheint das Verhalten des Meteorismus
und die Emptindlichkeit des Abdomens auf Druck.
Bei allgemeiner Peritonitis finden wir nämlich einen gleichmässig gespannten
Bauch, dessen Decke sich auf die leiseste Berührung ausserordentlich empfindlich
erweist. Bei der Incarceration hingegen erscheint der Meteorismus nur durch
die Blähung einzelner Darmpartien herbeigeführt. Die Spannung ist, trotzdem
sie dabei sehr bedeutend sein kann, doch eine ungleichraässige; überdies ist
der Bauch auf allmälig ansteigenden massigen Druck wenig empfindlich; hin-
gegen für rasch ausgeführte Eindrücke (daher oft auch bei der Percussion)
sehr empfindlich. Diese letztere Erscheinung dürfte durch die excessive Span-
nung der Darmwand zu erklären sein.
Der Nachweis eines Exsudates sichert die Diagnose der Peritonitis, ebenso
Temperatursteigerungen, welche bei der uncomplicirten Incarceration gewöhn-
lich fehlen (Collaps). Desgleichen spricht auch das Ausbleiben von fäculentem
Erbrechen mit grosser Wahrscheinlichkeit für Peritonitis. Grösser sind die
Schwierigkeiten bei der diagnostischen Trennung der circumscripten Peritonitis,
Z.B.Perityphlitis, insofern nämlich durch die Blinddarmentzündung sich
auch thatsächliche Occlusion einstellen kann. In diesen Fällen kann die
Localisation des Schmerzes, wenn sie präcise in die Ileocoecalgegend ver-
legt wird, die örtliche Empfindlichkeit, Oedem, event. bei anhaltendem Er-
brechen, wie später erwähnt werden soll, eine Magenausspülung die Situation
klären.
Eücksichtlich der chronisclien Enterostenose kommen differentialdiagnostisch
in Betracht die chronisch katarrhalischen Affectionen des Darmes, sowie die
Atonie des Colon (habituelle Obstipation) und dann functionelle neurotische
Störungen des Darmes (Hysterie). Hier wird die Aufnahme einer sorgfältigen
Anamnese meist zum Ziele führen.
Nach der Feststellung der principiellen Diagnose „Darmverschluss" muss
nach dem Sitz der Occlusion gesucht werden. Zu diesem Behufe dient die
Palpation des Abdomens, die Untersuchung per rectum, event. per vaginam
(bimanuell), dann die rectale Eingiessung von Wasser in das Colon, event. die
Eintreibung von Luft mit Hilfe des PacHARDSox'schen Gebläses behufs Auf-
blähung des Colon. Dieser müssen sich anschliessen die Stuhl-, Harnunter-
suchung und des Erbrochenen. Zur Orientirung kann unter Umständen nament-
lich in dieser Richtung die frühzeitige Beobachtung der geblähten Darraschlingen
von Belang sein, namentlich in Fällen von Volvulus, dann zur Differenzirung
von Dick- und Dünndarmocclusionen.
ENTEROSTENOSE. 579
Im Allgemeinen kann man wohl sagen: je tiefer der Sitz der Stenose, umso
später erreichen die Krankheitserscheinungen ihren Culminationspunkt. Am
deutlichsten kann man dies bei den nicht so seltenen Rectalstenosen sehen,
bei welchen die Diagnose unter Mithilfe der Digitaluntersuchung, Prüfung der
Stuhlbeschaffenheit sich überdies meist sehr einfach gestaltet. Je höher der
Dickdarmverschluss aber ist, umso schwieriger die Diagnose und kann die
Trennung von tiefem Dünndarmverschluss, wenn nicht zufällig die Aufblähung
des Colon Klarheit bringt, ganz unmöglich werden.
Bei Dünndarmverschluss können wir den hochsitzenden des Duodenums
so ziemlich von dem tiefen des Jejunums trennen (vergl. „Duodenalstenose").
Der Meteorismus betrifft bei hochsitzender Dünndarmstenose häufig nur die
Oberbauchgegend. Verlässlich ist jedoch dieses Symptom nicht, da auch die
Hernia bursae omentalis ein ähnliches Bild bietet. Bei ganz oben sitzenden
Stenosirungen ist nach Eintritt der Insufficienz des Pylorus nach jedesmaligem
Erbrechen eine Entspannung zu constatiren. Das Kennzeichen der Dünndarm-
stenose ist der stürmische Verlauf, der rasch eintretende Collaps.
Am allerschwierigsten ist es aber in der Regel, den Process festzustellen,
der den Verschluss herbeigeführt hat, namentlich, wenn es sich um einen
acuten handelt. Gerade hier ist unser positives Können kein ausreichendes.
Vor allem ist es dringend geboten, eine sorgfältige Anamnese aufzu-
nehmen und vor jeder anderen Untersuchung die usuellen Bruch-
pforten sorgfältig zu prüfen. Es ist bereits wiederholt vorgekommen, dass
gewöhnliche Brucheinklemmungen übersehen und diese erst bei der Laparatomie
entdeckt wurden!
Am einfachsten liegen die Verhältnisse, wenn festgestelltermassen ein
Fremdkörper in den Darmcanal gelangt war. In ähnlicher Weise wäre die
Diagnose naheliegend bei Einklemmungserscheinungen nach vorangegangenen
schweren Gallensteinkoliken. Darmsteine, wenn deren Fragmente nicht abge-
gangen oder sie nicht palpabel sind, können schwer erkannt werden.
Die Erkennung eines Jleus durch Compression erfordert die Constatirung
eines Tumors, einer Hernie oder eines Volvulus. Die Trennung einer inneren
Hernie von einem Volvulus ist häufig undurchführbar. Für den letzteren
sprechen die schon hervorgehobene Erscheinung der Blähung einer einzelnen
Schlinge, wie das beim Volvulus der Flexura sigmoidea beobachtet wird. Gleich-
zeitig besteht in diesem Falle gewöhnlich Tenesmus (in Folge der Peristaltik),
mitunter Diarrhoeen. Die Füllung des Colon descendens per rectum gelingt
hier ebenso wenig wie bei der Ptectalstenose. Für die Compression durch
Ligamente ist eine vorangegangene Peritonitis von Belang. Alle weiteren
Merkmale sind inconstant.
Rücksichtlich der chronischen Enterostenose sind nur die anamnestischen
Momente die wichtigsten Stützen bei der Feststellung der Ursache der Ver-
engerung (z. B. Dysenterie). So werden wir bei älteren Individuen, welche
Zeichen einer allmälig sich steigernden Stenose bieten, bei auffallender Cachexie
ein Carcinom annehmen. Die Beschaffenheit des Stuhles, Beimengungen von
blutigem Schleim u. dgl. werden die Diagnose bestätigen, wenn kein Tumor
tastbar. Doch muss nachdrücklichst bemerkt werden, dass jede Stenose mit
Kräfteverfall einhergehen kann. Sitzt die Strictur im Dickdarm, so kann die
Palpation die wechselnde Füllung des nächstoberen Darmstückes die Localisation
ermöglichen, ebenso wie die Form der Stühle diese unterstützen. Man darf
nicht vergessen, dass auch Obstipation die Erscheinung einer chronischen Darm-
verengerung machen kann, ebenso eine chronische Invagination.
Pathologische Anatomie. Im Allgemeinen wollen wir hier nur erwähnen, dass
man bei der Obduction den oberhalb der Stenose gelegenen Darmabschnitt aufgetrieben, den
unterhalb gelegenen collabirt und leer findet. War die Verengerung eine chronische, so
findet man die Muscularis des nächst oberen Darmabschnittes hypertrophirt. Meist findet
37*
580 ENTEROSTENOSE.
sich durch die Kothstauung die Schleimhaut arrodirt und stellenweise in ulcerösem Zerfall.
Gelegentlich erfolgt an einer solchen Stelle eine Perforation oder ausgedehnte Abscedirung
(Kothabscess).
Die stenosirte Stelle ist gewöhnlich cyanotisch, häufig zeigt sie Ecchymosen, mit-
unter findet man sie gangränös, brüchig, wenn es sich um Verschluss durch Compression
handelt. Diese Gangrän kann in den Fällen, in welchen ganze Schlingen abgeschnürt
werden, sich auf die ganze abgeschnürte Darmpartie erstrecken. Das Peritoneum ist matt,
injicirt und mehr oder minder mit Exsudatelementen bedeckt. Die übrigen Organe zeigen
meist auffallende Trockenheit in Folge des Wasserverlustes. In den Lungen findet sich häufig
Schlnckpneumonie.
Verlauf und Prognose. Der Verlauf der Enterostenosen ist ein sehr un-
gleicher. Chronische Enterostenosen können Jahre bestehen, während acute
innerhalb einer Woche zum Tode führen können, manche Fälle sogar innerhalb
weniger Stunden (Shock) zu Grunde gehen. In etwa einem Drittel der Fälle ist
bisher Ausgang in Heilung beobachtet, d. h. durch Zurückgehen der Erschei-
nungen theils spontan, theils unter Einfluss entsprechender therapeutischer
Maassnahmen. Der Verlauf hängt von der Grundkrankheit ab, schon deshalb,
weil in gewissen Fällen diese allein zum Tode, in anderen anfangs zu Recidiven,
schliesslich durch Cachexie etc. zum gleichen Ziele führt.
Die Prognose ist unter allen Umständen eine ernste. Für die Beurtheilung
des jeweiligen Zustandes des Patienten ist sein Aussehen, die Beschaffenheit
des Abdomens und des Pulses massgebend.
Therapie. Die sicherste Grundlage eines zielbewussten Vorgehens
wäre eine präcise Diagnose. Es ist diese heute umso dringender erwünscht,
als eine erfolgreiche chirurgische Behandlung ein möglichst frühzeitiges, be-
ziehungsweise rechtzeitiges Eingreifen erfordert. Leider ist es aber nicht
immer, oder richtiger nur selten möglich, eine unzweifelhafte Diagnose zu
stellen und kann die chirurgische Behandlung erst dann eingeleitet werden,
wenn die Aussicht auf eine Heilung durch die sog. interne Behandlung wegfällt.
Die interne Behandlung erfordert 1. absolute Vermeidung von Ab-
führmitteln; 2. Beruhigung des Darmes durch Opium. Die Wirkung
des letzteren auf das subjective Befinden sowohl, als das objective Bild hat sich
meist vorzüglich bewährt. Es wird, was am wichtigsten ist, die peinliche
Peristaltik sistirt. Die Darreichung kann, insofern Erbrechen nicht besteht, per
OS erfolgen, sonst in Form von Suppositorien oder Klysmen; eventuell Morphin
subcutan.
Abführmittel sind im Allgemeinen zu verwerfen, nur wenn unz weif el-
h aft Koprostase vorliegt, nicht. Hier kann ein Infusum Sennae, Spec. laxant.
St. Gertnain in Combination mit Bittersalz, Ricinusöl in Anwendung gezogen
werden. Wir geben auch in diesen Fällen der Behandlung per rectum den
Vorzug. Seit jeher wird zur Behandlung dieser specifischen Formen des Ileus
(durch Koprostase) auch die Darreichung des regulinischen Quecksilbers in
Dosen von 200—500, selbst bis 1000 gr vielfach gelobt. Der Effect wird nicht
so sehr der mechanischen Wirkung, als einer Durchdringung der obturirenden
Kothmassen zugeschrieben.
Die Behandlung des Ileus wird mit der Application von reichlichen
Eingiessungen (2 — 3 Liter) mittelst Irrigator oder Trichter, welche sich nament-
lich bei tiefsitzender Occlusion, bei Kothstauungen, wiederholt ausgezeichnet
bewährt haben, eingeleitet. Man führt zu diesem Zwecke in den Mastdarm
einen elastischen Schlauch (Jacques Patent etwa Nr. 22) ein, den man, wäh-
rend das Wasser einfliesst und somit die untersten Abschnitte ausdehnt, all-
mälig vorschiebt. Die Temperatur des Wassers soll (mit Ausnahme in Fällen
von Invagination) möglichst kühl gewählt werden, etwa von Zimmertemperatur.
Von manchen Autoren wird Eiswasser empfohlen, doch wird dies oft schlecht
vertragen. Als irritirende Zusätze ist Kochsalz, (1 Esslöffel jjro Liter Wasser),
Seife, Glycerin, Terpentinöl, Inf. Sennae (ev. Äqu. laxativa) u. dgl. zu empfehlen.
ENTEßOSTENOSE. 581
Der Druck soll ein allmälig ansteigender sein und kann der Irrigator bis auf
1-5 — 2 m über das Niveau des Rectum gehoben werden.
Wünschenswerth ist, dass der Patient die Flüssigkeit, welche sich im
Darm nach aufwärts bewegt, möglichst lange bei sich behält. Doch er-
tragen die Patienten dieselbe schlecht wegen des ohnehin bedeutenden intra-
abdominellen Druckes. Die Patienten collabiren leicht während der Eingiessung.
Je länger die Occlusion besteht, umso vorsichtiger sind die Eingiessungen
zu machen, da an der Occlusionsstelle auch Perforation entstehen kann.
Weniger empfehlenswerth als die Wassereingiessung ist Eintreibung von
Luft mit dem Bichardson' sehen Gehläse. Der mechanische Effect ist ein
gleicher schliesslich wie bei der Eingiessung. Die Luft soll durch den liegen
bleibenden Mastdarmschlauch wieder abgehen. Sehr häufig ist aber das eben
nicht der Fall und die Beschwerden des Patienten sind in Folge der Auf-
blähung noch gesteigerte. Von der gleichfalls vielfach angewendeten Methode
der Eingiessung von Brausepulvermischung oder Sodmvasser hat die Luftein-
blasung insofern Vortheile, als die Drucksteigerung bei der Kohlensäure-
Blähung unberechenbar ist.
Ist Erbrechen eingetreten, so ist die Durchführung einer Magenaus-
ivaschung symptomatisch von dem besten Erfolg begleitet. Sie wirkt auf
den Kranken, wenn auch im Momente der Application unangenehm, nachher
jedoch sehr beruhigend, und fühlt sich der Patient schon durch die Entfernung
des zersetzten stinkenden Mageninhaltes wesentlich erleichtert. Am besten
wird zu diesem Zwecke die Ausheberung in der Piückenlage gemacht. Zur
Ausspülung benützt man Wasser von Zimmertemperatur. Es wird angegeben,
dass in einzelnen Fällen in Folge von reichlichen Wassereingiessungen sich
auch der Darmverschluss gelöst haben soll. Wir haben in manchen Fällen
gesehen, dass nach der Magenausspülung die Erscheinungen soweit gemildert
waren, dass eine gründliche Untersuchung und auch eine exacte Diagnose ge-
stellt werden konnte, was früher unmöglich war. Von einzelnen Autoren wird
die Vornahme der Ausspülung sogar vor Eintritt des Erbrechens wärmstens
empfohlen. Die Darreichung von Eispillen, Menthol oder Cocain zur Stillung
des Erbrechens erweist sich in den in Rede stehenden Fällen fast nutzlos.
Der Collaps ist nach den bekannten Principien zu bekämpfen.
Von weiteren Behandlungsmethoden erwähnen wir Bauchmassage, Elek-
tricität und Function des Darmes. Die Bauchmassage halten wir für viel zu
gefährlich und könnte nur bei Feststellung der Obturation durch Kothmassen,
Steine u. dgl. in Anwendung gezogen werden. Sie ist von französischen Au-
toren empfohlen. Hingegen kann elektrische, namentlich intensive faradische
Behandlung bei Insufticienz des Darmes (Ileus paralyticus) und auch bei Ein-
klemmungen von Nutzen sein. Zu diesem Behufe wird einerseits eine Mast-
darmelektrode eingeführt, andererseits eine breite Elektrode auf das Abdomen,
bzw. die geblähte Darmschlinge aufgesetzt. Die Faradisation soll mit starken
Strömen (allmälig ansteigend) und durch längere Zeit, 15 — 20 Minuten, durch-
geführt werden. Auch der Galvanisation mit 10 — 15 Milliampere (Kathode
auf der Bauchdecke) werden Erfolge zugeschrieben. Im äussersten Falle bei
excessivem Meteorismus empfiehlt es sich die Function des Darmes mit
PßAVAz'schen Nadeln vorzunehmen. Diese werden zu diesem Zwecke senk-
recht auf die geblähte Schlinge eingestossen und bleiben liegen. Man kann
die Function an mehreren Stellen machen. Die Nadeln sollen weiter nicht
berührt werden, um Einrisse zu vermeiden. Soweit bekannt, ist dieses Ver-
fahren nicht besonders gefährlich, der Erfolg in manchen Fällen ein über-
raschend guter und wird sogar über Heilungen berichtet.
Ist eine bestimmte Diagnose gemacht worden und die Aussichtslosigkeit
einer weiteren internen Behandlung festgestellt, hingegen von einer chirur-
gischen ein Erfolg zu erwarten, so tritt diese in ihre Rechte. Ebenso dann,
582 ENTWÖHNUNG.
wenn die interne Beliandlimg resultatlos geblieben. Den Eingriff, der vorzu-
nehmen ist, hat der Chirurg zu bestimmen.
Die Behandlung der chronischen Entero Stenose. Im Allgemeinen
wird ein zweckentsprechendes Regime eingehalten werden müssen, um die
vollständige Verlegung der Stenose zu verhüten. Man wird trachten, eine
möglichst nahrhafte eiweiss- und fettreiche Kost neben entsprechenden Mengen
von Kohlehydraten einzuführen. Nur müssen unverdauliche Bestandtheile
(Fruchtschalen, Kerne u. dgl.), ebenso wie cellulosereiche Kost ausgeschieden
werden.
In entsprechender Weise muss auf normalen Stuhlgang gesehen und
derselbe eventuell künstlich erhalten werden, doch empfehlen sich zu diesem
Zwecke weniger Abführmittel (von diesen: Rheum, Cascara sagrada, Ol. ricini,
Tamarinden), als hohe Eingiessungen. Namentlich Diarrhoeen erheischen be-
sondere Sorgfalt, zumal hinter diesen sich beginnende Kothstauung bergen kann.
Auch zur Behandlung dieser empfiehlt sich die Application von Eingiessungen.
Die Herabsetzung der Peristaltik bewirkt am besten die Wärme (Wärm-
flaschen, Flanellbinden). Zur Milderung der Schmerzen kann auch Codein,
event. Opium gegeben werden. Zur Beförderung der Entleerungen leisten hier
Massage und Elektricität vorzügliche Dienste.
Steigern sich die Erscheinungen, so tritt die Nothwendigkeit eines chirur-
gischen Eingriffes ein. In gewissen Fällen, wie z. B. bei Mastdarmstricturen,
soll dieser möglichst bald eingeleitet werden. pal.
Entwöhnung.'") Ein gesundes kräftiges Kind von 8 — 9 Monaten, von der
Mutter oder einer entsprechenden Amme zu entwöhnen, ist, wenn das Kind
noch an keine andere Nahrung gewohnt war, immerhin mit einigen Schwie-
rigkeiten, unter Umständen sogar mit gewissen Gefahren verbunden. Die
plötzliche Absetzung von der Brust vorzunehmen, ist man leider wegen Er-
krankung der Mutter (fieberhafte Erkrankung, Pneumonie, Pleuritis, Typhus,
Influenza etc., profuse Blutungen, neuerliche Gravidität) und aus socialen
Gründen oft genug gezwungen. In den heissen Sommermonaten erkranken
Säuglinge in Folge der ungewohnten und leicht sich zersetzenden Kuhmilch
vielfach an mehr oder minder acuten Magen- und Darmkatarrhen (Äblactations-
diarrhoe), die erfahrungsgemäss gerne einen colliquativen Charakter annehmen
und deshalb für das weitere Gedeihen und auch für das Leben des Kindes
von grosser Bedeutung sind. Durch die jetzt im Gebrauche stehenden Steri-
lisirungsapparate, namentlich jenen von Soxhlet, sind die Gefahren der Ent-
wöhnung, sowie die der künstlichen Ernährung überhaupt wesentlich vermindert
worden, doch muss man immerhin noch manche Vorsichtsmassregel anwenden,
um einen sicheren Erfolg zu erzielen.
Soll ein !■ — 9 Monate altes Kind plötzlich entwöhnt werden, so ist es
zunächst nothwendig, dass die Nahrung überhaupt etwas eingeschränkt werde
und die Kuhmilch dem Kinde gehörig sterilisirt und dem Alter entsprechend
verdünnt gegeben werde. Weiter ist es als ein Grundsatz zu betrachten, dass
mindestens durch 3 — 4 Wochen an der einmal dargereichten Nahrung nichts
geändert werde. Die Einschränkung der Nahrung und die Gleichmässigkeit der
einzelnen Bestandtheile der Kost haben den Zweck, eine Ueberfüllung des
Magens, sowie Verdauungsstörungen möglichst zu vermeiden, da beide wäh-
rend der Ablactationsperiode von eminenter Bedeutung für das Kind sind.
— Da man jetzt den Kindern als Ersatz für die Mutter-, resp. Ammenmilch
nur Vollmilch gibt, so muss dieselbe dem Alter entsprechend verdünnt werden.
Neugebornen gibt man 1 Theil Milch und 2, ja auch 3 Iheile Wasser, Kin-
*) Vergl. „AmmemvahV- (Pott) und „Ernährung der Säuglinge^ (Biedert), ds. Bd.
der „Bibliothek'^.
ENURESIS. 583
dern von 3 — 4 Monaten Milch und Wasser zu gleichen Theilen, von 4 — 6 Mo-
naten 2 Theile Milch und 1 Theil Wasser und erst von diesem Alter ab kann
man allmälig zur Vollmilch übergehen. Auch wenn ältere Kinder plötzlich
abgesetzt werden müssen, beginne man ebenfalls mit zu gleichen Theilen
Wasser verdünnter Milch aus den oben angegebenen Gründen.
Sicherer und fast ganz ohne Gefahr für das Kind ist gegenüber der plötz-
lichen die all mal ige Entwöhnung, welche Inder grössten Mehrzahl der Fälle
stattfindet.
Wenn man einen 7 — 8 Monate alten Säugling entwöhnen soll, so be-
ginnt man damit, dass dem Kinde durch eine Woche statt der Brust einmal
des Tages Kuhmilch in entsprechender Verdünnung gegeben werde. Ob nun
das Kind dieselbe nimmt oder nicht, die Brust darf dem Kinde erst nach der
abgelaufenen Zeit wieder gegeben werden. In der zweiten Woche gibt man
zweimal statt der Brust die Kuhmilch und kann in der dritten Woche,
vorausgesetzt, dass der Stuhl nicht verändert wird, ganz gut schon 4 — 5mal
des Tages das Fläschchen geben. Von der vierten Woche angefangen sind
die Kinder als halbabgesetzt zu betrachten, und bleibt der Stuhl während dieser
Zeit normal, so kann man ein so vorbereitetes Kind jederzeit absetzen. Nach
dem Absetzen darf, wie erwähnt, an der Nahrung durch längere Zeit nichts
geändert werden, und es soll dem Kinde nur etwas weniger zugeführt
werden.
In ähnlicher Weise geht man vor, wenn man Kinder von 2 — 3 Mo-
naten von der Mutterbrust wegen zu geringer Milchabsonderung absetzen
soll. Es gelingt leicht bei gehörig sterilisirter Milch auch Kinder in diesem
Alter an die künstliche Nahrung zu gewöhnen. Seit einer längeren Keihe von
Jahren lasse ich Kindern, die an einer milchreichen Amme trinken, vom dritten
bis vierten Monate an täglich einmal 15 — 20 Kaffeelöjfel etwas gesalzener Rind-
suppe geben und lasse erst nach einer Stunde wieder die Brust reichen. Vom
4. — 5. Monate an kann in die Suppe (ohne sog. Grünzeug) etwas Tapiolm oder
Gries eingekocht werden. Die Kinder vertragen ausnahmslos diese Beigabe,
werden an eine andere Nahrung schon frühzeitig gewöhnt und es wird das
Absetzen wesentlich erleichtert.
Es ist gleichgiltig, in welchem Vehikel die Kuhmilch gegeben wird, ob
im Fläschchen, Schiffchen oder mit dem Löffel. Letztere Art wäre die
zweckmässigste, erfordert aber viel Zeit und Geduld. Für alle - Arten gilt
gleich die grösste Reinlichkeit; bei dem auch für minder bemittelte
Familien leicht verschaftbaren SoxHLET-Apparat ist die Pteinlichkeit ohnedies
eine Vorbedingung für seinen Gebrauch überhaupt.
Tritt bei der Entwöhnung irgend eine Störung ein, sei es Erbrechen
oder dyspeptische oder gar enteritische Stühle, so unterschätze man solche
Erscheinungen ja nicht, da sie sehr gefährlich werden können. Man ist leider
oft gezwungen die Entwöhnung zu unterbrechen oder aber nach derselben bei
Beginnen der Collapserscheinungen wieder eine Amme zu nehmen, welche
aber unter Umständen von dem Kinde refüsirt wird. Man hat es dann meist
mit hartnäckigen und im Hochsommer gefährlichen Darmerkrankungen zu thun.
V. HtJTTENBRENNER,
Enuresis (ivoupr^ai?) das Einpissen. Unter Enuresis im Allgemeinen
oder Incontinentia urinae versteht man das Abfliessen von Harn wider Willen
oder ohne Wissen des Kranken.
Die Ursachen der Incontinenz des Harnes sind mannigfaltig; dieselbe kann
bedingt sein durch alle jene Momente, welche die Pieservoirfunction der Blase
beeinträchtigen, und man unterscheidet dann:
1. Enuresis mechanica; der Verschluss der Harnblase ist aus mechanischen
Ursachen (durch eingekeilte Fremdkörper oder Steine) unmöglich. Weiter
584 ENURESIS.
kann der Sphincter vesicae durch übermässige Dehnung — • forcirte Dila-
tation, durch Narbenbildungen nach operativen Eingriffen — Seitenstein-
schnitt, durch entzündliche und ulcerative Processe, durch Tuberculose,
durch Neubildungen, zerstört werden. In gleicher Weise werden Vesico-vaginal-
fisteln, sowie abnorme Einmündung des Ureters in die Harnröhre oder in
der Nähe des Meatus (bei Weibern) Ursache der Incontinenz.
2. Enuresis spastica. Durch spastische Contraction des M. detrusor wird
der Blaseninhalt so rasch entleert, dass der Kranke nicht im Stande ist den
Abfluss zu hindern.
3. Enuresis 'paralytica. Wenn der Verschluss der Blase ein mangelhafter
ist, durch Atonie oder Lähmung des Sphincters; wohl ist es auch denkbar, dass
Detrusorenkrampf sich mit Atonie des Sphincters combinirt.
Die Harnincontinenz ist theils eine symptomatische, durch Erkrankun-
gen des Harnapparates bedingte und diese findet bei den betreffenden Erkran-
kungen ihre ausführliche Schilderung und theils eine idiopatische oder essen-
tielle und dieser wollen wir nun unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Unter
essentieller Incontinenz oder der Enuresis im Besonderen versteht
man den unwillkürlichen Abgang von Harn bei sonst normalem Harnapparat.
Diese Form kommt dem Kindesalter zu. Die Symptomatologie ist gleichmässig fol-
gende. Die sonst gesunden Kinder legen sich, nachdem dieselben urinirt haben
zu Bett; nach kurzer Zeit entleert sich die Blase während des Schlafes unwill-
kürlich. Manchmal wiederholt sich dies zum zweitenmal gegen Morgen.
Häufig ist dieses Bettnässen allnächtig — zuweilen treten aber Pausen von
mehreren Tagen ein, besonders während des Sommers — , bei ungünstiger
Jahreszeit, aber auch bei ungünstigen Wohnungsverhältnissen (feuchte, kalte
Zimmer) kehrt das Bettnässen alle Nächte wieder (Enuresis nocturna). Nicht
immer bleibt es beim nächtlichen Bettnässen allein, sondern es tritt auch
erschwertes Halten des Harnes bei Tag auf. Die Kinder leiden jetzt auch an
dem unangenehmeren ..Schidpissen]'-' dieselben fühlen das Bedürfnis zu uri-
niren und, wenn sie dasselbe nicht sofort befriedigen können, lauft unter
Strampfen mit den Beinen der Urin in die Beinkleider. Das Kind ist eben
unfähig den Harn zurückzuhalten, anderen passirt es auch während des
Laufens und Springens oder auch beim Lachen und Niessen, dass der Harn
theilweise abÜiesst und die Wäsche durchnässt. Der Verlauf der Enuresis
nocturna ist ein chronischer ; der Beginn ist nicht immer festzustellen, weil
dieselbe zumeist seit der frühesten Kindheit fortbesteht. Seltener tritt die
Enuresis erst später auf, im 5. — 7. Lebensjahre. In der Regel verschwindet
das Leiden in der Pubertätszeit, manchmal erst gegen das 20. Lebensjahr.
Die Enuresis kommt gleich häufig bei beiden Geschlechtern vor.
Die Erklärung der Enuresis von Seiten der verschiedenen Autoren
ist eine verschiedene. Ultzmaisin's Ansicht, der sich an Trousseau und
QuERSANT anschliesst, ist folgende: Im frühesten Kindesalter gehen die Harn-
und Stuhlentleerungen unwillkürlich vor sich. Die leisesten Contractionen
der Blase und des Darmes genügen, um den Harn oder Kotli zu Tage zu
fördern. Die Schliessmuskeln der Blase und des Darmes sind um diese Zeit
noch nicht in voller Thätigkelt. Erst nach dem ersten Lebensjahr wird zu-
nächst der Koth, später erst der Harn willkürlich zurückgehalten. Wenn
aber Kinder nach abgelaufenem 2. Lebensjahre nicht im Stande sind den Harn
zurückzuhalten und sonst gesund sind (d. h. einen gesunden Harnapparat
haben), dann leiden dieselben an Enuresis. Ultzmann nimmt an, dass es sich
bei dieser Form von Enuresis um eine Neurose handle, — dass der Schliess-
apparat der Blase viel zu wenig inervirt sei, dass die Enuresis gleichsam ein
Fortbestehen des infantilen Zustandes bedeute. In einzelnen Fällen kann
es sich wohl auch um eine angeborene Schwäche des Schliessmuskels — nach
QuERSANT — handeln.
ENURESIS. 585
Allein nicht alle Fälle lassen sich einfach auf diese Art erklären und es
gibt ganz bestimmt Formen, die auf eine Hypertonicität des Detrusors beruhen.
(TßOussEAU.) Diese spastische Form der Enuresis wird häufig durch abnorme
Mischungsverhältnisse des Harnes hervorgerufen, Uricacidurie, Phosphaturie,
Oxalurie, Diabetes mellitus. Fernerhin wird dieselbe durch Reflexaction bei
verschiedenen Abnormitäten der Genitalien und der Umgebung hervorgerufen,
so z. B. durch Phimose, durch abnorme Enge des Meatus, durch Smegma-
anhäufung und Verwachsungen der Glans mit dem Präputium, ferner Entozoen
im Darme, Polypen und Fisteln im Ptectum, Eczema ad anum; bei Mädchen:
Vulvitis, Carunkeln der Urethra etc. Interessant ist auch die Beobachtung
der Coincidenz der Enuresis nocturna mit Affectionen des Nasenrachenraumes,
die mit Mundathmen einhergehen, und wo nach operativer Entfernung der
Adenoidvegetationen die Enuresis sistirte.
Nicht zu vergessen ist, dass zuweilen Bettnässen beobachtet wird als
erstes und einziges Symptom der Epilepsie, weiters bei Night terrors und
endlich bei Chorea der Blase. (Keyes.) Selbstverständlich kann die Enuresis
ein Symptom einer Reihe von Affectionen des Centralnervensystems sein, auf
welche wir hier aber nicht eingehen können.
Die Prognose ist bei Enuresis nocturna essentialis im Allgemeinen eine
günstige, sie hängt aber hauptsächlich von den ursächlichen Momenten ab.
Es ist demnach für den praktischen Arzt von allergrösster Wichtigkeit,
die differentielle Diagnose zu stellen, ob die Enuresis nocturna eine
spastische oder atonische, ob dieselbe fernerhin eine centrale, cerebrale, spinale
oder periphere - reflectorische ist. Die Beantwortung dieser Fragen geschieht
durch die eingehendste Untersuchung des Harnes und durch die Untersuchung
des Kranken selbst. Findet man einen Harn, trübe, eiterhaltig, so ist von
vornherein die Diagnose Enuresis fallen zu lassen, es liegt dann bestimmt eine
materielle Veränderung des Harnapparates vor. {Pyelitis^ Lithiasis etc.) Allein
auch ein anscheinend normal aussehender Harn muss genauer chemisch und
mikroskopisch untersucht werden. Nach vollbrachter Harnanalyse schreitet man
zur Untersuchung des Kranken, u. zw. zunächst des Unterbauches und der
Genitalien, insbesondere inspicire man die Harnröhrenmündung und bei Mäd-
chen das Vestibulum. Ergibt nun die Untersuchung des Harnes und des Kranken
normale Verhältnisse, dann kann man eine Neurose annehmen im Sinne Ultz-
mann's. Es ist nun die weitere Frage, haben wir es mit einer spastischen oder
atonischen oder gemischten Form zu thun? Bei der Untersuchung mit einem
Instrumente, besonders aber mit einer Bougie ä boule, hat man in der Gegend
des Blasenhalses, in der Pars membranacea, das Gefühl des Festgehaltenseins,
das einer gewissen Kraftanwendung weicht. Dieses Festhalten ist auch mit
einer schmerzhaften Sensation verbunden. Bei der essentiellen Enuresis, die
durch Atonie der Schliessmuskeln bedingt ist, findet man dieses Gefühl des
Festhaltens nicht, die Bougie gleitet gleichmässig vorwärts bis in die Blase,
ebenso ist das Schmerzgefühl ein geringes und kann auch ganz fehlen. Ferner
ist bei der Enuresis noch die Entleerung des Harnes zu beobachten; der Harn-
strahl ist bei der spastischen Form ein kräftiger Bogen, während, wenn es
sich um die atonische Form handelt, der Bogen gering ist — der Harnstrahl
fällt wie von der Dachrinne herab und dauert die Harnentleerung auch län-
gere Zeit.
In allerjüngster Zeit wurde von Freud in Wien auf ein Symptom
hingewiesen, welches etwa in der Hälfte der Fälle von Enuresis zur Beobach-
tung kommt ; es ist dies die Steigerung des Muskeltonus der unteren
Extremitäten. — Man lässt das entkleidete Kind auf einen Tisch mit ausge-
streckten Beinen setzen, fasst die Füsse und trachtet nun die Beine so
weit als möglich von einander zu entfernen : bei dieser Gelegenheit stellt sich
ein im Beginne starker Widerstand ein, der allmälig abnimmt. Dieser Wider-
586 ENURESIS.
stand ist durch die Contraction der Abductoren bedingt. Lässt man mit dem
Abductionsversuch plötzlicli nach, dann nähern sich die Beine wieder krampf-
artig, so dass die Fersen mit einem oft hörbaren Schall zusammenschlagen.
Auch der Quadriceps zeigt gesteigerte Tonus und Feeud nimmt an, dass in diesen
Fällen auch der Tonus der Blasenmuskulatur ein gesteigerter ist. Demnach
ist das FREUD'sche Symptom für die spastische Form ebenso charakteristisch
wie das Nichtfestgehaltensein der Bougie ä boule für die atonische Form.
Die Enuresis ist nicht zu verwechseln mit dem sogenannten Nachträufeln
von Harn nach stattgehabter Harnentleerung ; dieser Zustand ist bedingt durch
Störungen der Function der vorderen Harnröhre, insbesondere des Pars bulbosa,
u. z. nach Brik durch Herabsetzung des Tonus der M. bulbocavernosus und
der glatten, ringförmigen als auch der Längsmuskelfasern der Harnröhre.
Die Behandlung der Enuresis nocturna ist eine allgemeine, hygienisch-
medicinische und eine locale. Günstige Lebensbedingungen, gute trockene
Wohnung, Landaufenthalt, Fluss- und Seebäder sind wo möglich zu empfehlen.
Bei anämischen Kindern Eisencuren. Für zweckmässige Ernährung, Vermeidung
von Obstipation ist Sorge zu tragen. Häufig wird harte Matratze sehr em-
pfohlen. Vor Kurzem wurde eine besondere Lage, und zwar die Beine höher
als der Kopf, zu dem Zwecke wieder empfohlen, damit der Harn mehr gegen den
Scheitel der Blase als gegen den Blasenhals sich ansammle und den empfind-
lichsten und reizbarsten Theil der Blase nicht treffe; früher schon wurde
aus gleichem Anlass die Bauchlage als Präservativ gegen Enuresis angerathen.
Hyrtl hat darüber Kritik geübt, ein vernünftiger Grund für diesen Ptath lasse
sich gar nicht auffinden.
Die medicinische Behandlung besteht in der Anwendung der Bella-
donna Seeale cornutum, der Nux vomica, der Rhus aromatica, des Chlorais
und des Lycopodiums. Am meisten hat sich die Belladonna bewährt; sie wurde
zuerst von Trousseau empfohlen, u. z. vor dem Schlafengehen in der Dosis
von 0-01 Extr. Belladonnae aufsteigend, bis Erweiterung der Pupille nach-
weisbar ist. Trousseau hat, wie bereits erwähnt, angenommen, dass die
Enuresis durch Hypertonicität des Detrusors bedingt ist und suchte die Reiz-
barkeit der Blasenschleimhaut (die Sensibilität derselben) herabzusetzen und
hiedurch die Heilung zuwege zu bringen. Diese Anschauung hat gewiss ihre Berech-
tigung, wenn man aber die "Wirkung der Belladonna von einem anderen
Gesichtspunkte betrachtet, so findet man noch eine weitere Erklärung der
günstigen Wirkung derselben.
Es ist eine bekannte Thatsache, dass bei Intoxicationen sowohl, als auch
bei medicinischer Anwendung der Belladonna, spastische Harnretention nicht
selten zur Beobachtung kommt; Ultzmann hat direct vor der Anwendung der
Belladonna bei mit Harndrang einhergehenden AÖectionen aus diesem Grunde
gewarnt. Ferner ist die Belladonna als ein sehr gutes Mittel, um die Peri-
staltik des Darmes anzuregen, bekannt, wurde von Trousseau zu diesen
Zwecken empfohlen und wird auch heute in diesem Sinne mit Erfolg gebraucht.
Wir halten die Belladonna für ein ausgezeichnetes Tonicum für die mit glatten
Muskelfasern versehenen Apparate. Zuweilen ist es auch zweckmässiger, die
Belladonna in Form von Suppositorien in Anwendung zu bringen.
Mit dieser Auffassung der Wirkung der Belladonna ist es auch im Ein-
klang, dass die verschiedensten Formen der Enuresis durch Belladonnapräparate
der Heilung zugeführt werden. Man kann ferner das Ergotin subcutan oder
auch im Supporitorium geben. Die Anwendung von Strychnin und Seeale
cornutum haben weniger Erfolg und Beliebtheit gezeigt. Das von Thompson
warm empfohlene Chloralhydrat ist nur in spastischen Formen von Erfolg. Das
Lycopodiiim ist ein empirisches Mittel und scheint die Reizbarkeit des Blasen-
halses herabzustimmen. Es wird in Pulver oder als Tinctm-, wie sie die Homöo-
pathen verwenden, gebraucht zu 20 Tropfen mehrmals täglich.
ENURESIS. 587
Bei den atonisclien Formen der essentiellen Enuresis ist die therapeu-
tische Aufgabe Steigerung des Schliessmuskelreflexes, beziehungsweise Kräf-
tigung des Muskels. Diesen Zweck erreicht man am besten durch die so-
genannten physikalischen Heilmethoden, und zwar durch ihre locale Applica-
tion, zunächst durch die Elektricität. Dieselbe wurde auch von verschiedenen
Autoren wiederholt in Anwendung gebracht, die locale Application wurde
aber erst von Ultzmann indirect, direct von Guyon benützt. Guyon verwendet
elastische B o u g i e s, die mit einem Metallmandrin armirt sind, auf welchem
anschraubbare Metalloliven von verschiedener Grösse befestigt werden können.
Die so construirte flexible Elektrode wird in die Harnröhre in den Schliess-
muskel vorgebracht, während die zweite Elektrode auf den Schenkel aufgesetzt
wird. Immer soll der faradische Strom benutzt werden, weil der constante
Strom nur zu häufig zu Folge seiner chemischen Wirkung zu einer Urethritis
oder tieferen Aetzung Veranlassung geben kann.
Ultzmann hat, gestützt auf chirurgische Erfahrungen den Synergismus
der Blasen und Afterschliessmuskulatur betreffend, die indirecte Reizung des
Sphincter in Verwendung gebracht. U. bediente sich eines bleistiftdicken,
7 cm langen Metallzapfens; dieser wird in den Mastdarm eingeführt. Während
die Schwamm elektrode auf der Raphe der Perineums bei Knaben, in der Becken-
falte bei Mädchen liegt lässt man einen anfangs schwachen Strom durch 5
Minuten einwirken. Später steigert man die Intensität des Stromes bis zum
Erträglichen. Jede Sitzung dauert 5—10 Minuten, kann täglich vorgenommen
werden und wird durch 4 — 6 Wochen lang fortgesetzt.
Der Erfolg der faradischen Behandlung tritt manchmal schon nach der
ersten Sitzung auf, und ist dies ein Beweis, dass es sich in diesem Falle um
eine mangelhafte Inervation der Schliessapparate der Blase gehandelt hat. Selir
einfach ist die Methode von Seeligmüllee; derselbe führt eine 1 cm lange
Messingzwinge in die Harnröhre, verbindet dieselbe mit der Kathode des secun-
dären faradischen Stromes und applicirt die Anode als Schwammelektrode
über der Symphyse. Erb verwendet auch den galvanischen Strom, u. zw. Anode
auf das Lendenmark, die kleinere Kathode über der Symphyse, dann an das Peri-
neum, ziemlich starker Strom durch 2 Minuten; zum Schluss faradisirt Erb mit der
Drahtelektrode durch 1—2 Minuten. Die locale Application der Elektricität ist
von selir gutem Erfolge, wo es sich um reine essentielle Incontinenz, und zwar
um die atonische Form handelt. Manchmal treten nach der elektrischen,
sowie nach jeder anderen Behandlung auch Recidiven auf, dann muss in
grösseren Zwischenpausen, etwa alle 2 — 3 Tage, die Faradisation wieder vor-
genommen werden.
Aehnlich wie die Elektricität wirken auch andere mechanische oder
thermische Eingriffe, die direct den Schliessapparat der Blase treffen und
die eine gesteigerte Action desselben hervorrufen. Hier ist in erster Reihe das
Einlegen von Metallkathetern oder auch Bougies in die Harnröhre zu erwähnen.
Es ist eine wiederholt beobachtete Thatsache, dass eine lange andauernde
Enuresis durch den Explorativ-Katheterismus geheilt wurde. Baudelocque und
MoNDiERE haben sich nicht begnügt mit dem einfachen Katheterisiren, sondern
dieselben machten leichte Bewegungen mit dem Katheter, um den Blasenhals
zu reizen.
Diese Methode bildet den Uebergang zur M a s s a ge b e h a n d 1 u n g , die
in neuester Zeit nach Teure Brandt ausgebildet wurde. Die Resultate sind
auch bei dieser Form ganz ausgezeichnete, es galt hier dieselbe Beschränkung,
wie bei der elektrischen Behandlung der Erwachsenen. Der Arzt fühi't den
Finger in's Rectum, palpirt die Urethra und verfolgt dieselbe bis zum
Blasenhalse. Die andere Hand liegt am Unterleib und trachtet den im
Rectum befindlichen Finger zu tasten. In diesem Momente führt der
588 EPHEMERA.
im Rectum befindliche Finger mehrere Zitterdrückungen. Ausserdem sind
noch andere Proceduren empfohlen: Widerstandsbewegungen bei adducirten und
abducirten Knien, Csillag empfiehlt nebenbei, bei grösseren Kindern und Er-
wachsenen, Contractionen des Analsphincters vornehmen zu lassen, wobei durch
den bekannten Synergismus der Blasen- und Mastdarmmuskulatur eine Contrac-
tion, d. h. Gymnastik des Schliessmuskels resultirt. Bei der spastischen Form
wird eine causale Behandlung anzustreben sein, also bei Phosphaturie: Säuren,
be Uricacidurie : alkalische Therapie, Urocedin etc. Abnorme Enge des Urethra,
Phimosen und Verwachsungen der Glans mit dem Praeputium sind chirurgisch
zu entfernen.
Bei älteren Kindern kann man sich auch, wenn man sich zu einer
directen intraurethralen Behandlung entschliesst, auch der thermischen Sonde
bedienen, indem man kaltes oder recht warmes (33'^ R.) Wasser verwendet.
Bei sehr hartnäckigen Fällen, die vorzugweise nach localen Erkrankungen
der hinteren Harnröhre als Reflexneurose zurückbleiben, sowie jenen wohl selte-
nen, aber hartnäckigen Formen, die der angeführten Behandlung widerste-
hen, wird nach Thompson, Guyon etc. durch Instillationen von Nitras argent.
in den Blasenhals Hilfe geschaffen. brik.
Ephemere. Es gibt eine Reihe krankhafter Zustände, die, in vielen
Punkten von einander abweichend, als gemeinsames Haupt Symptom ein
kurzdauerndes, mehr weniger heftiges Fieber haben, welches bald ganz allein
besteht, bald von leichten Localaffectionen begleitet ist. Ueber den Platz im
Krankheitssystem, an welchem diese Affectionen einzureihen sind, ist noch
durchaus keine Einigkeit erzielt, mithin sind auch die Bezeichnungen, unter
welchen dieselben von verschiedenen Aerzten aufgeführt werden, sehr mannig-
faltige. Ephemera, fehris herpetica, catarrhalis, rheumatica, leichte Erkältungs-
krankheiten (Seitz), Status fehrilis, Status gastricus sind im wesentlichen die
dafür gebrauchten Ausdrücke. Wir fassen aus praktischen Rücksichten alle
hierhergehörigen Fälle unter der Ueberschrift dieses Artikels zusammen, ohne
sie jedoch dadurch in ätiologischer Beziehung als einheitlich
präjudiciren zu wollen.
Die Erkrankungen gelangen häufig im Anschluss an eine Erkältung zur
Ausbildung, mitunter aber auch, ohne dass eine äussere Veranlassung nach-
zuweisen ist; ihre Entwickelung geht ziemlich rasch vor sich. Zunächst em-
pfinden die Patienten allgemeines Unbehagen, der Appetit schwindet, Be-
nommenheit im Kopf, ziehende Schmerzen im Kreuz, unangenehme Sensationen
in den verschiedensten Gelenken und Muskelgebieten treten auf, dazu gesellt
sich eine eigenthümliche Empfindlichkeit der Haut, verbunden mit Frostgefühl,
welches, zumal wenn ein Körpertheil kühlerer Temperatur vorübergehend aus-
gesetzt wird, zu leichten Frostschauern mit Gänsehaut und Zähneklappen sich
steigert. Die Kranken suchen das Bett auf, durch dessen gleichmässige Wärme
bald ein Gefühl von Hitze erzeugt wird, welches von den meisten angenehm
empfunden wird. Die objective Untersuchung ergibt ausser belegter Zunge,
beschleunigtem Pulse und massiger Temperatursteigerung nichts. Der Urin
ist vermindert, setzt beim_ Stehen ein ziegelmehlartiges Sediment von harn-
sauren Salzen ab, es besteht Widerwillen gegen feste Speisen, dagegen häufig
Durst und Neigung zum Schwitzen.
Die Temperatur pflegt 38 bis 39^ am ersten Abend nicht zu überschreiten,
bei Kindern und empfindlichen Individuen kommen aber auch Steigerungen
bis 40" und darüber zur Beobachtung. In den günstigsten Fällen bringt schon
der nächste Tag völlige Genesung, in den Morgenstunden tritt ruhiger Schlaf
ein, während dessen die Temperatur unter starkem Schweissausbruch kritisch
abfällt; die Kranken erwachen mit dem belebenden Gefühl der Gesundheit.
Oefter dauert der fieberhafte Zustand jedoch noch während des nächsten Tages
EPHEMERA. 589
an und. endet in der zweiten Xaclit kritisch; oder aber der Temperaturabfall
ist ein über mehrere Tage sich hinschleppender, lytischer.
Die Krankheit kann sich auf die angefülirten, durch das Fieber bedingten
Störungen des Allgemeinbefindens beschränken; nicht selten beobachtet man
dann gegen den Abfall oder nach völligem Verschwinden der Temperaturstei-
gerung das Auftreten einer oder mehrerer Gruppen von Herpesbläschen im
Gesicht, an den Lippen, dem unteren Theil der Nase oder auf den Wangen
(herpes facialis, labialis, nasalis, huccalis), bei Kindern erlangen dieselben zu-
Tveilen eine erhebliche Ausdehnung. Gewöhnlich ist jedoch der Verlauf nicht
so günstig, sondern am zweiten, dritten Tage kommen gewissermassen als
Localisation der Erkrankung Schnupfen, leichte Entzündung der Mandeln und
der Gaumenbögen, geringer Bronchialkatarrh, Muskelrheumatismus oder ähn-
liche Affectionen zur Entwickelung, welche das Fieber noch einmal zu einem
kurzen Auflodern bringen können und nach völligem Erlöschen desselben noch
einige Zeit fortbestehen. Ja mitunter erscheinen die Katarrhe erst, wenn die
Patienten fieberfrei sind und ihre Krankheit ganz überwunden zu haben glauben.
Für die Therapie wirkt die Erzeugung eines starken Schweisses oft
sehr vortheilhaft. Dieses Ziel erreicht man am einfachsten durch Darreichung
eines Glases heissen Grogs oder von ein bis zwei Tassen recht warmen Thees
(Pfefferminz-, Flieder-, Kamillen-^ Brustthee) kurz vor dem Einschlafen. Die
Anwendung der neueren Antipyretica ist ebenfalls sehr zu empfehlen, so des
Antipyrin (0"5 — 1*0 pro dosi), Phenacetin (0*3), Antif ehrin (0"25 — 0"5) mehr-
mals täglich, welche, besonders das Letztere, nicht nur die Temperatur schnell
auf die Norm herabsetzen, sondern auch die durch das Fieber verursachten
lästigen Symptome zum Schwinden bringen. Die Localafiectionen erheischen
gewöhnlich keine besondere Medication; wo eine solche nothwendig, kommt
man mit den einfachsten Mitteln aus, so Gurgelungen bei Angina; einem
leichten Expectorans bei Bronchitis, Lösung von Salzsäure (l'O : 200"0) oder
einem Stomachicum bei hartnäckigeren Magenbeschwerden. Piathsam ist es
jedenfalls, den Kranken Schonung anzuempfehlen, damit die Heilung der Ka-
tarrhe nicht durch neuhinzutretende Schädigungen in die Länge gezogen wird.
Als die wichtigste Ursache der geschilderten Krankheitszustände
sind Erkältungen anzusehen. Zwar werden dieselben von Aerzten und
Laien sehr häufig missbräuchlich genannt, um Unkenntnis und Unklarheit zu
bemänteln; immerhin ist deshalb der Schluss noch nicht gerechtfertigt, dass
dieselben als Krankheitsursachen überhaupt nicht in Betracht kommen. Die
Thatsache, dass lediglich durch Erkältung Krankheiten entstehen können, ist
durch hundertfältige Erfahrungen aus dem alltäglichen Leben sichergestellt.
Kühle und zugleich feuchte und bewegte Luft begünstigt das Entstehen der-
selben. Der unter ihrem Einfluss sich abspielende Vorgang kann in einer
directen Schädigung der betroff'enen Theile beruhen; so entsteht beispielsweise
nach Erkältungen der Haut des Nackens eine rheumatische Aff"ection der
Nackenmuskulatur, ein sogenanntes „steifes Genick;" häufiger ist er jedoch
ein reflectorischer, indem die Nerven der betroffenen Hautpartie in einen
Erregungszustand versetzt werden, welcher nach dem Centrum gelangt und
von hier einen Entzündungsreiz auf andere Körpertheile, mit Vorliebe auf den
Locus minoris resistentiae des betreffenden Individuums tiberträgt. Welcher
Art die im Nerven ablaufenden Erregungsvorgänge sind, ist bisher noch durch-
aus unbekannt.
Für einen Theil der zu Ephemera zu zählenden Fälle ist eine Erkältung
als Ursache nicht nachzuweisen. Hier dürften wir wohl mit der Annahme
einer Infection durch einen seiner Natur nach noch nicht näher bekannten
KrankheitseiTeger nicht fehlgehen. Dafür spricht besonders die Aelmlichkeit
unserer Krankheit mit vielen während der letzten Epidemien beobacliteten
abortiven Formen von Influenza. Wo solche Zustände im Verlaufe einer aus-
590 EPILEPSIE.
gedehnten Epidemie vorkommen, ist ihre Aetiologie ja ohne weiteres klar und
mithin auch die Bezeichnung für das Krankheitsbild gegeben, bei sporadischem
Auftreten derselben dürfte aber selbst der geübteste Arzt kaum eine andere
Diagnose als Ephemera stellen können.
Bei vielen anderen Infectionskrankheiten treten ebenfalls mitunter ab-
norm leicht verlaufende Fälle auf, bei welchen die charakteristischen Merk-
male so abgeschwächt und verwischt sind, dass der richtigen Erkenntnis un-
übersteigbare Hindernisse sich entgegenthürmen. Auch diese werden wohl
meistens unter den obigen Begriff subsummirt werden.
Ob der Grund für den Theil der geschilderten Erkrankungen, in deren
Aetiologie Erkältung ausgeschlossen werden muss, stets in einer Ansteckung
mit dem abgeschwächten Gift einer der bekannten Infectionskrankheiten zu
sehen ist, oder cb auch specifische Mikroorganismen der leichten
Fieberkrankheiten existiren, darüber lässt sich zur Zeit auch nicht ver-
muthungsweise ein Urtheil fällen. hilbert.
EpilepSJG. Als Epilepsie bezeichnen wir eine mit Anfällen von Bewusst-
seinsstörung und meist auch Krämpfen einhergehende Krankheit. Aber
so charakteristisch die Anfälle als solche in ihrer äusseren Erscheinung sind,
so wenig sind wir berechtigt, aus einem einzelnen Anfalle sofort die Diagnose
Epilepsie zu stellen; denn wir wissen, dass gleiche oder ähnliche Anfälle auch
bei anderen Krankheiten, allgemeiner oder cerebraler Natur, vorkommen,
ohne dass man von Epilepsie sprechen könnte. Dies ist nur dann erlaubt,
wenn eine eigenthümliche, wie man auch sagt, „epileptische Veränderung" des
Gehirnes besteht, der zu Folge periodisch wiederkehrend durch Jahre und
Jahrzehnte immer wieder epileptische Anfälle auftreten nebst anderen, später
zu besprechenden Symptomen.
Aetiologie. Die Epilepsie stellt eine exquisite Degenerationsneurose dar,
denn sie befällt nie ein rüstiges, sondern stets nur ein debiles, geschwächtes
Nervensystem. Diese Debilität des Gehirnes kann eine ererbte sein; vielleicht
bei keiner anderen Krankheit ist man mehr berechtigt von hereditären Ein-
flüssen zu reden, wie gerade bei der Epilepsie, wenn man nur berücksichtigt,
dass bei den Eltern nicht gerade Epilepsie, sondern eine andere Krankheit
aus der Gruppe der Neurosen vorhanden gewesen sein kann. Oefters stellt
die Epilepsie schon eine hohe Stufe der Degeneration in solchen Familien dar.
Aber auch andere schädliche, auf die Eltern einwirkende Momente sind von
Einfluss; eine wichtige Rolle spielt hier chronischer Alkoholisraus derselben
(nach Einigen besonders Rausch während des ZeugungsactesV). Die Disposition
für die Epilepsie kann, ohne ererbt zu sein, demnach angeboren oder bei der
Geburt erworben sein; z. B. durch Krankheiten der Mutter während der Gravi-
dität, schwere psychische Emotionen derselben, oder aber durch fötale Hirnkrank-
heiten, Geburtstraumen, z. B. durch Zangengeburt, Asphyxie u. s. w. Damit
hängt das häufige Zusamimentreffen schwerer Hirnlähmungen der Kinder mit
Epilepsie zusammen. Die Disposition für die Epilepsie kann aber auch
später durch Momente bedingt werden, denen es gemeinsam ist, dass sie die
Ernährung des Hirnes schädigen, z. B. überstandene Meningitis, Typhus ins-
besondere mit schweren cerebralen Symptomen, wie überhaupt eine grosse Zahl
acuter Infectionskrankheiten, Schädeltraumen u. s. w. Alle die genannten
Schädlichkeiten führen meist nicht direct zur Epilepsie, sie bedingen blos
eine eigenthümliche Veränderung des Hirns, in Folge deren dann nach einer
gewissen Pause Epilepsie auftritt. Ein wichtiges ätiologisches Moment ist
chronischer Alkoholismus; insbesondere scheinen gewisse Schnapssorten einen
deletären Einfluss zu ül)en (in Frankreich der beliebte Absinth, Absinthepilepsie,
auch experimentell erzeugt). Aber auch die bei uns üblichen Alkoholsorten
wirken in gleicher Richtung, so dass auch bei uns die Alkoholepilepsie durch-
EPILEPSIE. 591
aus nicht selten ist; ja man kann sagen, dass in jedem Falle, wo die Epi-
lepsie erst in vorgerücktem Alter aufgetreten ist, der Verdacht auf chronischen
Alkoholismus als Ursache derselben vollauf berechtigt ist. Von anderen toxischen
Substanzen, die in gleicher Weise wirken, wäre allenfalls noch Blei zu nennen.
Von grosser ätiologischer Bedeutung ist die Syphilis, die in mehrfacher Weise
zur Epilepsie führen kann, einmal in Form der sogenannten jACKSON'schen
Epilepsie durch circumscripte Erkrankungen des Hirns, aber auch ohne solche
in Folge der allgemeinen Infection, wie neuerer Zeit gezeigt wurde. Bei
schweren cerebralen Läsionen finden sich öfters epileptiforme Anfälle, jedoch
kommt ihnen hier nur eine symptomatische Bedeutung zu. Andere Momente
spielen bei der sogenannten Keflexepilepsie eine wichtige ätiologische
Rolle; so kann sich in Folge peripherer Verletzungen, insbesondere solcher der
Nerven, dann auch durch andere Organerkrankungen, z, B. des Darmes, des
Ohres allmälig Epilepsie entwickeln, die oft noch nach Entfernung der
Ursachen fortbestehen bleibt.
Anderen oft genannten Umständen, wie z. B. Excessen in venere u. s. w.
kommt nur eine secundäre Bolle zu; sie wirken nur bei bereits bestehender
Disposition. Noch mehr gilt dies von anderen Schädlichkeiten, die wir direct
nur als gelegentlich auslösende Momente bezeichnen können. In erster Linie
wären hier zu nennen schwere psychische Emotionen, z. B. Schreck, das Sehen
eines Anfalles u. s. w. Es ist unzweifelhaft, dass nach solchen Affecten öfters
der erste epileptische Anfall auftritt; dies geschieht aber nur bei disponirten
Individuen, bei denen die mit dem AÖecte, denselben oft noch lange über-
dauernde Alteration der Gehirncirculation den ersten Anfall auslöst. Damit
ist dann für die weiteren Anfälle der Weg gebahnt.
Was das Alter betrifft, in dem die Krankheit zuerst auftritt, so schwan-
ken hierüber die Angaben. In der Mehrzahl der Fälle kommt jedoch die Krank-
heit in einer frühen Altersperiode zum Ausbruche, schon in der Kindheit ist
ihr Auftreten ein sehr häufiges. Wir werden dies begreiflich finden, wenn wir
an die eben angegebenen ätiologischen Momente, insbesondere die Wichtigkeit
der hereditären Veranlagung denken. Dabei ist freilich zu bedenken, dass auch
bei hereditärer Anlage die Krankheit nicht schon in der Kindheit auftreten
muss, sondern ihr erstmaliges Erscheinen sich hinausschieben kann. Hier
spielt dann besonders die Pubertät eine wichtige Rolle. Aber auch im späteren
Alter ist das Auftreten der Epilepsie nicht gerade extrem selten. Beide
Geschlechter dürften ziemlich gleich stark betroffen werden, nach einigen An-
gaben wäre das weibliche Geschlecht etwas häufiger befallen.
Symptome. In der Beschreibung der Symptome wollen wir von den
Anfällen als dem schwerwiegendsten Momente ausgehen. Je nach der Schwere
und der äusseren Form der Anfälle unterscheidet man mehrere Arten der-
selben. Bei demselben Individuum wiederholt sich meist dieselbe Art von An-
fällen, jedoch wechseln auch häufig genug Anfälle verschiedener Form unter-
einander ab.
Epilepsia gravis {Grand mal). Darunter versteht man die vollständig
ausgebildeten mit Bewusstlosigkeit und ausgedehnten Muskelkrämpfen einher-
gehenden Anfälle. Der Verlauf derselben ist kurz zusammengefasst derart, dass
nach einem kurzen Vorläuferstadium, Aura, der manchmal nochProdromalerschei-
nungen vorangehen, der Kranke bewusstlos zusammenstürzt; es treten dann
Krämpfe, zuerst tonischer, dann clonischer Art auf. Der Anfall schliesst mit
einem soporösen Stadium, das oft mit Schlaf, manchmal auch mit psychischen
Alterationen beendigt wird.
Im Einzelnen betrachtet, lässt sich sagen, dass eigentliche Prodromal-
er seh einungen nicht gerade häufig sind. Sie bestehen in vagen Empfin-
dungen an verschiedenen Körpertheilen, einem Gefühl von Unwohlsein, manch-
mal auch leichten psychischen Aenderungen, Reizbarkeit u. s. w. Meist sind
592 EPILEPSIE.
die Prodromalerscheinungen, deren Dauer von einigen Minuten bis zu mehreren
Stunden, ja selbst 1 — 2 Tage wechselt, bei demselben Kranken vor jedem An-
falle dieselben, so dass derselbe oft das Nahen eines Anfalles merkt. Be-
deutungsvoller ist die Aura, die wir schon zum Anfalle zu rechnen haben.
(Der Name Aura, Windhauch, rührt von Galenus her; manche der Kranken
sollen einen vom Unterleib zum Kopfe aufsteigenden Hauch verspüren). Mcht
jeder Anfall hat eine Aura (nach Gow^ers etwa die Hälfte); meist ist es so,
dass einzelne Kranke bei jedem Anfalle eine Aura haben, andere wieder
niemals. Interessant und auch für die Pathologie des epileptischen Anfalles
wichtig ist es, dass derselbe Kranke beinahe immer dieselbe Aura hat. Die
Erscheinungen der Aura sind sehr mannigfach, wir können eine sensible,
sensorielle, vasomotorische, motorische und psychische Aura unterscheiden;
manchmal freilich finden sich mehrere Formen untereinandergemengt. Zu
unterscheiden wäre noch eine einseitige und beiderseitige Aura. Die sen-
sible Aura besteht aus verschiedenartigen, meist unangenehmen Empfindungen
an verschiedenen Körpertheilen, Parästhesien an den Extremitäten oder dem
Kopfe, Gefühl von Zusammengeschnürtsein, von Druck oder Schmerz im Epi-
gastrium, Gefühl von Schwindel u. s. w.
Sehr häufig und interessant ist die sensorielle Aura, Erscheinungen
im Gebiete eines, seltener mehrerer Sinnesnerven. Am häufigsten sind
solche visueller Natur, das Sehen von Feuerschein, feurigen oder farbigen
Lichtern und Kreisen. Die Erscheinungen können aber auch complicirterer
Natur sein; so sehen manche Kranke Gestalten, meist mit bedrohlichen
Mienen und Gebahren u. s. w. Ziemlich häufig ist auch eine acustische Aura;
auch hier hören die Kranken entweder einfache Geräusche oder Töne, oder
sie hören Worte, Melodien u. s. w. Selten ist eine Aura auf dem Gebiete der
anderen Sinnesnerven, Geruchsempfindungen, meist unangenehmer Natur, Ge-
schmacksempfindungen. Als vasomotorische Aura ist das Auftreten von
vasomotorischen Störungen, Erblassen oder Erröthen an bestimmten Körper-
partien, Auftreten von Schweiss u. s. w. zu bezeichnen. Die motorische
Aura ist gekennzeichnet durch das Auftreten leichter, einfacher Bewegungen
an den Extremitäten oder der Kopf- und Halsmuskulatur. In seltenen Fällen
werden auch compliciiiere Bewegungen ausgeführt, so laufen manche Kranke
im Beginne des Anfalles oder drehen sich um ihre Axe (Epilepsia cursoria
et rotatoria). Als psychische Aura endlich bezeichnet man Alterationen
der Psyche in Form von Erregungszuständen, Furcht und Angst, Wahnvor-
stellungen u. s. w.
Nicht jeder Aura braucht ein wirklicher Anfall zu folgen; manchmal ist
derselbe mit der Aura abgethan. In seltenen Fällen lässt sich, wie wir noch
zu erwähnen haben werden, durch gewisse Manipulationen der Anfall in der
Aura abschneiden.
Die Dauer der Aura ist eine verschiedene, meist ist sie jedoch nur ganz
kurz ; unter Umständen hat der Kranke noch soviel Zeit und Besinnung, um
sich für den beginnenden Anfall vorzubereiten. Der Kranke stürzt
plötzlich bewusstlos zusammen. Das Hinstürzen erfolgt oft so plötzlich
und vehement, dass sich d_er Kranke wegen der Bewusstlosigkeit hiebei schwer
verletzen kann. Schwere Gefahren können auch dann entstehen, wenn der
Kranke ins Feuer stürzt, sich verbrüht oder ins Wasser stürzt; bei dem
bewusstlosen Zustande genügt es oft, wenn er mit dem Gesichte in eine Lache
fällt, um Erstickung herbeizuführen. Manche der Kranken stossen im Be-
ginne des Anfalles einen „schrecklichen" Schrei aus. Stets aber bedeckt
Leichenblässe das Gesicht des Kranken. Nun beginnt das Stadium der
Krämpfe. Dieselben sind zunächst tonischer Natur. Der Kopf wird nach
hinten gebeugt, die Kiefer fest aneinander gepresst, manchmal besteht conju-
girte Abweichung des Kopfes und der Augen, der Ptumpf nimmt Opisthotonus-
EPILEPSIE. 593
stelluDg ein, die Extremitäten sind meist gestreckt, die Finger gebeugt, der
Daumen in die Hohlhand gesclilagen. Auch die Respirationsmuskeln gerathen
in tonische Krämpfe, wodurch die Athmung stark behindert wird und die
anfängliche Blässe einer immer stärker werdenden Cyanose Platz macht. Der
Stillstand der Athmung kann ein sehr bedrohliches Aussehen bedingen, wie-
wohl eigentliche Gefahr hieraus beinahe nie resultirt. Nach verschieden
langer Dauer, die aber selten Vg Minute übersteigt, folgt ein Stadium
clonischer Krämpfe der verschiedensten Art, u. z. mit ganz colossaler
Heftigkeit, so dass Fracturen und Luxationen erfolgen können. Meist sind
beide Seiten gleich betheiligt, jedoch sind hier auch w^eit gehende Differenzen
möglich. Die Cyanose wird immer stärker, es kann zu kleinen Blutungen
an der Haut und den Schleimhäuten kommen, denen eine grosse diagnostische
Bedeutung zukommt. Die Zunge wird kramplliaft zwischen den Kiefern vor-
geschoben, wodurch es sehr leicht zu Verletzungen kommt, der diagnostisch
wichtige Zungenbiss; es wird massenhaft Schaum, der durch die Zungen-
verletzung eine blutige Färbung bekommt, durch Mund und Nase entleert.
Durch krampfhafte Contraction der Bauch- und Blasenmusculatur kommt es
oft zur Entleerung von Harn und Koth. Bezüglich der Pupillen hat man die
Erfahrung, dass deren Verhalten zu Beginn zu schwanken scheint ; im Verlaufe
des Anfalls sind sie jedoch dilatirt und vollständig reactionslos. Es wäre noch
zu bemerken, dass die beiden Stadien der Krämpfe nicht immer voll ausge-
bildet sind und manchmal in abgekürzter Form untereinander gemengt sind.
Nach einer Dauer von 1 — 1^2 Minuten lassen im vollentwickelten An-
falle die clonischen Krämpfe allmälig nach, der Kranke kommt in das so po-
röse Stadium. Es herrscht noch schwere Bewusstseinstrübung, aus der der
Kranke nur schwer und für kurze Zeit etwas erweckt werden kann, eine all-
gemeine Relaxation der Glieder tritt ein. Endlich kommt der Kranke matt
und müde zu sich, verfällt oft in einen mehrstündigen Schlaf, aus dem er
dann bei vollem Bewusstsein erwacht. Für den ganzen Anfall vom Hinstürzen
bis zum Erwachen besteht totale Amnesie. (Auf die im Gefolge der Anfälle
häufig auftretenden psychischen Anomalien kommen wir später zu sprechen.)
Als Nachwehen des Anfalles bleiben noch längere Zeit eine gewisse all-
gemeine Schwäche und Unsicherheit, ein Gefühl von grosser Müdigkeit zurück.
Seltener sind vorübergehende Anästhesien, leichte Paresen; öfters findet sich
vorübergehende concentrische Gesichtsfeldeinschränkung. Die Körpertemperatur,
die während des Anfalls um 0-5*' steigen kann, ist nach dem Anfalle normal.
Im Harne finden sich häufig Spuren von Eiweiss, das Vorkommen von Zucker
ist zweifelhaft.
Unter Umständen ist es mit einem Anfalle nicht abgethan, sondern an
das soporöse Stadium des ersten Anfalles schliesst sich ein zweiter und dann
weitere an, Status epilepticus, Etat de mal. Man kann so bis zu 20 und
noch mehr Anfällen zählen. Oft sind dabei die Anfälle nicht voll entwickelt,
in den Zwischenzeiten ist der Kranke in tief soporösem Zustande. Der
Status epilepticus ist ein gefahrdrohender Zustand; es kommt hiebei zu
Temperatursteigerung (selbst bis zu 40°); in schweren Fällen tritt durch
Erstickung oder Erschöpfung Exitus letalis ein. Aber auch bei günstigem
Ausgange bleibt für längere Zeit eine starke Störung des Wohll)efindens
zurück.
Epilepsia mitior (Petit mal). Von vornherein sei es betont, dass
diese Form der Epilepsie prognostisch dm^chaus nicht günstiger aufzufassen
ist, als die Epilepsia gravior; das Leiden ist gleich schwer, wozu noch kommt,
dass häufig Anfälle von Epilepsia gravior und mitior miteinander abwechseln.
Es ist das umsomehr zu beachten, als die Kranken sich oft des Ernstes der
Sachlage nicht bewusst sind, an die Zugehörigkeit ihrer Anfälle zur Epilepsie
gar nicht denken, sondern von Ohnmächten oder Schwindel reden. Li ihrer
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. "O
594 EPILEPSIE.
äusseren Ersclieinung freilich sind die Anfälle der Epilepsia mitior viel milder
als die grossen Anfälle. Charakteristisch für die Anfälle ist auch hier die
Bewusstlosigkeit, oft allerdings nur von ganz kurzer Dauer. Der Kranke
hält plötzlich in seiner Beschäftigung inne, lässt den Gegenstand, den er trägt,
fallen, stockt mitten in der Rede, starrt wie geistesabwesend in die Luft
{Ähsence), oder er fährt ganz mechanisch in seiner Arbeit fort und macht
geradezu unsinnige Dinge. Manchmal finden sich während des Anfalles leichte
Zuckungen in verschiedenen Muskelgebieten, die aber in nichts den Charakter
der schweren Krämpfe der Epilepsia gravior an sich tragen. Damit ist der
Anfall vorüber; nach kurzer Dauer (einige Secunden) kommt der Kranke zu
sich, schaut verwundert umher und nimmt seine Beschäftigung da, wo er
sie unterbrochen, wieder auf. Die Zwischenzeit ist eine vollständige Lücke
für ihn. Manche der Anfälle unterscheiden sich wenig von einem gewöhn-
lichen Schwindel- oder Ohnmachtsanfalle.
Die Häufigkeit der Anfälle bei beiden Formen wechselt ungemein. Es
gibt Kranke, die zwischen den einzelnen Anfällen Wochen-, Monate-, ja selbst ein
Jahr lange Pausen haben. Andere Kranke haben wieder jede Woche, jeden
Tag einen Anfall, selbst jeden Tag mehrere und das bisweilen durch län-
gere Zeit. Auch beim einzelnen Kranken ist die Häutigkeit der Anfälle oft
recht wechselnd, ohne dass sich ein genügender Grund für diese Differenzen
angeben Hesse. Man weiss nur, dass gewisse Momente einen schädlichen
Einfluss ausüben, vor Allem Excesse in baccho und venere, das Auftreten der
Periode beim weiblichen Geschlecht; auch starke Barometerschwankungen hat
man in dieser Richtung beschuldigt. Acute Krankheiten, insbesondere aber chi-
rurgische Eingriffe bewirken meist eine vorübergehende Verminderung der An-
fälle. Auch die Tageszeit, zu der die Anfälle auftreten, wechselt bei verschiedenen
Kranken und beim selben Kranken sehr; manche der Kranken haben ihre
Anfälle nur Nachts, was der Diagnose grosse Schwierigkeiten machen kann,
da der Kranke und auch seine Umgebung unter Umständen nichts vom
Vorhandensein der Anfälle wissen.
Im Anschlüsse an die geschilderten typischen Anfälle der Epilepsia
gravior und mitior sei noch kurz auf einige Formen des epileptischen An-
falles hingewiesen, von denen besonders eine in neuerer Zeit grosse Bedeutung
erlangt hat, es ist dies die sogenannte Jacksoirsche Epilepsie. Das
Charakteristische derselben liegt darin, dass der Krampf stets in einem be-
stimmten Gliede beginnt und sich von hier aus in bestimmter Weise aus-
breitet. Diese Ausbreitungsweise stimmt genau überein mit der Lage der
motorischen Rindencentra zu einander. Beginnt z. B. der Krampf in einer
unteren Extremität, so wird dann die obere Extremität der gleichen Seite, die
gleichseitige Gesichts- und Kopfmusculatur ergriffen, worauf allenfalls noch die
andere Seite in die Krämpfe einbezogen wird. .
Unter Umständen bleibt aber der Krampf auf ein Glied beschränkt
(partielle Epilepsie). Das Bewusstsein bleibt meist zu Beginn der Krämpfe
erhalten und geht erst im weiteren Verlaufe, manchmal nur bei ausgedehnteren
Krämpfen verloren. Bisweilen bleibt nach dem Anfalle eine Parese des zuerst
befallenen Gliedes zurück. Die Wichtigkeit dieser Form von Anfällen liegt
nach der diagnostischen und pathologischen Seite. Man kann nämlich annehmen,
dass das motorische Centrum jenes Gliedes, wo der Krampf beginnt, pathologi-
sche Veränderungen zeigt u. zw. gewöhnlich grobanatomischer Natur (Tumor,
Erweichungen, traumatische Veränderungen u. s. w.); andererseits bietet diese
Form grosse Analogien zu der experimentell bei Thieren durch elektrische
Reizung der Hirnrinde erzeugten Epilepsie. Die jACKSOx"sche Epilepsie ent-
spricht also nicht der idiopathischen oder genuinen Epilepsie, sie weist vielmehr
auf organische Erkrankungen des Gehirnes, speciell der Gehirminde hin. Es
mag jedoch erwähnt sein, dass in seltenen Fällen auch bei der genuinen Epi-
EPILEPSIE. 595
lepsie oder bei Intoxication (Urämie) der Jackson' sehen Epilepsie ähnliclie
Anfälle auftreten. Endlich sei noch erwähnt, dass es eine partielle Epilepsie
gibt, bei der das befallene Glied keine Krämpfe zeigt, sondern l)los der Sitz
sensibler Reizerscheinungen ist. Oefters combiniren sich diese Formen mit
vorübergehender Ägraphie^ Aphasie, Migräne ophthalmique u. s. w., die unter
Umständen allein einen Anfall solcher partieller Epilepsie ausmachen sollen.
Wir haben bereits erwähnt, dass die epileptischen Anfälle allein nicht das
Wesen der Epilepsie ausmachen, sondern dass sie nur der Ausdruck, das auf-
fallendste Kennzeichen eines eigenthümlichen Zustandes des Gehirnes sind,
der passender- oder unpassenderweise gewöhnlich als epileptische Veränderung
bezeichnet wird. Dies wird uns erwarten lassen, dass wir auch ausserhalb
der Anfälle gewisse krankhafte Zeichen vorfinden dürften. Ziemlich häufig finden
sich körperliche Degenerationszeichen bei Epileptikern, Schädelmissbildungen,
Assymetrien des Gesichtes, Anomalien an den Extremitäten, den Ohren, den
Genitalien, an den Zähnen, Strabismus u. s. w. Viele derselben sind freilich
nicht der Ausdruck der Epilepsie, sondern der schweren allgemeinen Degene-
ration, sind mithin der Epilepsie coordinirt. Bei jenen Epileptikern, bei denen
sich die Epilepsie auf Grundlage schwerer, angeborener oder erworbener or-
ganischer Hirnkrankheiten entwickelt hat, werden natürlich die diesen Lä-
sionen entsprechenden Symptome, Lähmungen, Atrophien u. s. w. vorhanden
sein.
Wichtiger sind die psychischen Veränderungen derEpileptiker,
die selten, insbesondere bei längerem Bestände der Krankheit fehlen. (Es wird
zwar stets auf einzelne berühmte Männer hingewiesen, die Epileptiker waren
und doch bis zu ihrem Ende ihre volle Intelligenz behielten; das sind aber
seltene Ausnahmen, bei einzelnen derselben, z. B. Mohammed, ist übrigens die
Epilepsie sehr unwahrscheinlich.) Als selbstredend kann es gelten, dass
Epileptiker mit angeborenen oder früherworbenen Hirn- und Schädelmiss-
bildungen psychische Defecte aufweisen; hier besteht meist Idiotie oder mehr-
minder weitgehender Schwachsinn. Aber auch sonst stellen sich im Verlaufe
der Krankheit psychische Anomalien ein, und zwar wie es scheint, umso inten-
siver, je früher die Krankheit aufgetreten ist und je zahlreicher die Anfälle —
gleichgiltig ob grand oder petit mal — sind. Dieselben machen sich oft zu-
nächst in der ethischen Seite des Seelenlebens geltend. Die Kranken werden
roh, feineren Regungen des Gefühlslebens unzugänglich, sie verlieren oder
sie gewinnen nie die Einsicht in die vielfachen und complicirten Beziehungen
unseres „secundären Ichs'' nach Meynert. Sie sind ausgesprochene Egoisten,
die um einen kleinen Vortheil zu erringen, zu allem bereit sind. Zugleich
macht sich oft reizbare Verstimmung geltend. Ihr Charakter ist schwankend,
unberechenbar. Freilich sind nicht alle Epileptiker so, wie eben geschildert;
es gibt welche unter ihnen, die durchaus nicht ethisch depravirt erscheinen,
sondern ganz gut das Mittelmaass erreichen. In der Mehrzahl der Fälle leiden
auch die intellectuellen Fähigkeiten, — das Gedächtnis wird schwach, die
Kranken sind nicht im Stande, höhere psychische Arbeit zu leisten, in höheren
Graden sind sie nicht mehr fähig, ihrer gewöhnlichen Beschäftigung nachzu-
kommen, was sich bis zu bedeutenden Graden von Demenz und Schwach-
sinn steigern kann. Manchmal finden sich auch leichte Wahnvorstellungen,
Grössenideen oder umgekehrt Verfolgungsideen, öfters mit überwiegender Be-
tonung religiöser Vorstellungen. Am meisten leidet natürlich die Intelligenz
dann, wenn die Epilepsie bereits in der Kindheit aufgetreten ist, w^ozu der
Umstand kommt, dass bei solchen Kranken sich meist der Schulbesuch und
das Erlernen irgend eines Gewerbes von selbst verbietet. Solche Individuen
gehören dann in eine Pflegeanstalt, wo sie in den einfachen Verhältnissen ganz
brauchbare Subjecte darstellen können.
38*
596 EPILEPSIE.
Pathologische Anatoniie und allgemeine Pathologie. Mit Ausnahme jener Fälle,
die sich auf Grundlage schwerer organischer Hirnveränderungen entwickeln, sieht es mit
der pathologischen Anatomie der Epilepsie recht schlecht aus. Bei der Mehrzahl der
Fälle findet man bei der Obduction trotz sorgfältiger makro- und mikroskopischer Unter-
suchiing nichts, was uns einen sicheren Hinweis auf das Wesen des Processes geben
würde. In einzelnen Fällen findet man gewisse Veränderungen leichterer Art, auf die wir hier
nicht näher eingehen wollen, von denen aber einzelne z.B. eine gewisse Atrophie und Gewichts-
abnahme des Gehirnes mehr auf Rechnung des Alters des Individuums kommen, andere
z. B. die von Chaslin behauptete Sclerose nevroglique noch zweifelhaft sind. Welche
Bewandtnis es mit der zuerst von Meynert beschriebenen, relativ häufig zu findenden Scle-
rose des Ammonshornes hat, ist heute noch nicht zu sagen. Man begnügt sich für
gewöhnlich damit, zu behaupten, die Epilepsie sei eine functionelle Erkrankung ohne ana-
tomischen Befund; ob aber dieser Mangel an Befunden nicht an unserer zu wenig entwickel-
ten histologischen Technik liegt, werden erst künftige Beobachtungen lehren können.
Der Mangel einer pathologischen Anatomie macht sich auch bei Erörterung der
Pathologie der Epilepsie fühlbar. Auch da finden wir nichts, als Hypothese. Die
Untersuchungen haben in zwei Theile zu zerfallen: Welches ist die Pathogenese des ein-
zelnen epileptischen Anfalles und welches ist jene eigenthümliche Veränderung des Hirnes,
die die Wiederkehr der Anfälle bedingt? Eine weitverbreitete Anschauung wurde von
Kussmaul und Tenner begründet. Sie fanden, dass bei künstlicher Verblutimg Thiere
bewusstlos werden und Krämpfe bekommen ; sie führten beides auf die eintretende Anämie
der Hirnrinde zurück. Beide Momente aber finden sich im Symptomencomplexe des epilep-
tischen Anfalles, so dass sie diesen auf eine krampfhafte Contraction der Hirnrindenarte-
rien und die damit eintretende Anämie zurückführten. Sie stützten sich hiebei auch auf den
Umstand, dass nahezu constant im Beginn des Anfalles das Gesicht des Kranken leichen-
blass ist. Es ist aber hervorzuheben, dass Blässe des Gesichtes durchaus nicht ohne
weiters auf Anämie des Hirnes hinweist, weiters dass die Thiere bei der Verblutung nicht
immer Krämpfe bekommen, und auch die auftretenden Krämpfe nicht ganz den Charakter
der epileptischen haben. Nothnagel führte denn auch unter Beibehaltung der Anämie
zur Erklärung der Bewusstlosigkeit die Krämpfe auf Reizung eines Krampfcentrums in
der MeduUa oblong., das er experimentell gefunden hatte, zurück. In neuerer Zeit
gewinnt die Ansicht immer mehr Anhänger, wornach die Krämpfe des epileptischen
Anfalles in der Hirnrinde selbst ausgelöst werden. Die bereits erwähnte jACKSON'sche
Epilepsie, die bei Herden in der motorischen Rinde auftritt, der Umstand, dass sich bei Thieren
epileptiforme Krämpfe durch elektrische Reizung der Hirnrinde erzeugen lassen, weiters
manche Formen der Aura, insbesondere die sensorielle und psychische, die nur durch Reizung
der Hirnrinde erklärt werden können, sind die Momente, die für diese Ansicht sprechen. Ein
Entscheid lässt sich heute nicht treffen, es scheint aber als hätte die Ansicht vom Plirnrinden-
sitze mehr Berechtigung, wobei aber nicht ausgeschlossen, vielmehr sogar wahrscheinlich ist,
dass beim Anfalle nebst der Rinde auch tiefergelegene Centra in den Erregungszustand
mit einbezogen werden. — Noch weniger wie über das Zustandekommen des epilept. An-
falles, wissen wir über die „epileptische" Veränderung des Hirnes, die periodenweise immer
wieder Entladungen in Form der Anfälle bedingt. Wahrscheinlich handelt es sich sowohl
um einen Zustand von erhöhter Erregbarkeit, wie um einen Au?fall von Hemmungen.
Ueber nähere Details fehlen uns selbst Vermuthungen.
Prognose. Die Prognose der Epilepsie quoad sanationem ist eine sehr
ernste. Wirkliche Heilungen sind bei der genuinen Epilepsie kaum mit Sicher-
heit beobachtet. Besser steht es um die Reflexepilepsie, Epilepsie in Folge
von Syphilis u. s. w. Die Lebensdauer der befallenen Individuen braucht aber
nicht beeinträchtigt zu werden. Der Anfall selbst bringt selten Lebensgefahr,
trotz der gefahrdrohenden Erscheinungen. Dagegen kann der Kranke im
Anfalle durch das plötzliche Hinstürzen, ebenso wie durch Verbrennung, Er-
stickung schwere Schädigungen davontragen. Ernster ist der Status epilepticus,
in dem unter Umständen Exitus letalis eintritt. Die Prognose der Epilepsia
mitior ist quoad sanationem durchaus nicht günstiger als die der Epilepsia
gravior.
Diagnose. Bei der Diagnose handelt es sich zunächst darum, zu ent-
scheiden: bestehen epileptische Anfälle oder nicht? Dies wird natürlich bei
der Epilepsia gravior leichter sein als bei der Epilepsia mitior. Hat man
Gelegenheit den Anfall selbst zu beobachten, dann hat die Diagnose zunächst
zwischen Epilepsie und Hysterie zu entscheiden. Dies ist mitunter nicht leicht,
insbesondere da sich manchmal an epileptische Anfälle hysterische anschliessen.
Die wichtigsten Merkmale des epileptischen Anfalles gegenüber dem hyste-
EPILEPSIE. 597
rischen sind das Vorhandensein einer Aura, der plötzliche Beginn mit plötz-
lichem Hinstürzen unter Blässe; die epileptischen Krämpfe halten den oben
geschilderten Typus ein, während die hysterischen Krämpfe viel complicirterer
Natur sind (Bogenstellung, mimische Bewegungen, Ausstossen von Lauten und
AVorten während des Anfalles, während im epileptischen Anfalle höchstens zu
Beginn der bekannte Schrei ausgestossen wird). Weitere Merkmale sind der
unwillküi'liche Urinabgang, der Zungenbiss, die verhältnismässig kurze Dauer,
die Keactionslosigkeit der Pupillen, die totale Bewusstlosigkeit und Amnesie
nach dem Anfalle (freilich scheint auch bei schweren hysterischen Anfällen
mitunter das Bewusstsein stark getrübt und die Erinnerung eine mangelhafte
zu sein). Das Vorhandensein hysterischer Symptome in der anfallsfreien Zeit
spricht nicht unbedingt gegen Epilepsie, da dasselbe Individuum an Hysterie
und Epilepsie leiden kann.
Hat man keinen Anfall selbst beobachtet, so ist anamnestisch genau nach
dem oben geschilderten Charakter der Anfälle zu fragen. Als objective Zeichen
stattgehabter Anfälle wären zu nennen: Narben nach Zungenbiss, kleine Ecchy-
mosen an der Haut, in den Schleimhäuten, das Vorhandensein von Narben
nach Verletzungen. Besondere Schwierigkeiten können der Diagnose erwachsen,
wenn die Anfälle blos bei Nacht auftreten; hier handelt es sich besonders
um den Nachweis von Narben an der Zunge, Angaben über Bettnässen, Klage
über besondere Müdigkeit beim Aufstehen u. s. w. Schwierig kann auch die
Diagnose beim Petit mal werden; wichtig ist hiebei das plötzliche Eintreten
der Anfälle, ihre Wiederholung, leichte Zuckungen während des Anfalles, die
Bewusstlosigkeit und Amnesie.
Ist das Bestehen von epileptischen Anfällen constatirt, dann fragt es sich
weiter, ob es sich um symptomatische, vorübergehende Anfälle (bei einer Him-
krankheit, bei Reizung des Darms, Intoxication u. s. w.) oder um idiopathische
Epilepsie handle. Hier wird die Anamnese, der Nachweis anderer Symptome,
die Aetiologie und vor Allem der weitere Verlauf zur richtigen Diagnose führen.
Simulation epileptischer Anfälle wird häufig versucht, meist jedoch mit
sehr wenig Geschick. Besonders zu beachten ist auch hier das plötzliche,
rücksichtslose Hinstürzen, die absolute Bewusstlosigkeit und Keactionslosigkeit
selbst gegen die heftigsten Pteize, die Reactionslosigkeit der Pupillen,
Zungenbiss u. s. w. Manchmal genügen einfache Kunstgriffe, um den Simu-
lanten zu entlarven.
Therapie. Die Therapie der Epilepsie vermag nur in den allerseltensten
Fällen eine wirkliche Heilung herbeizuführen. Umso wichtiger wäre es pro-
phylactisch einzugreifen. Wir brauchen aber nur auf das bezüglich der
Aetiologie Gesagte hinzuweisen, um zu zeigen, wie wenig der Arzt hier wird
erreichen können. Das Heiraten epileptischer oder schwer belasteter Indi-
viduen zu verbieten, liegt nicht in seiner Macht; immerhin wird er ver-
pflichtet sein, mit seiner Mahnung nicht zurückzuhalten. Wichtig ist es
auch, bei jugendlichen Epileptikern dahin zu wirken, dass sie einen möglichst
einfachen Beruf wählen, der keine allzugrossen Anforderungen an sie stellt,
sie nicht in die Lage bringt, über sich und Andere im Anfalle grosse Gefahr
herbeizuführen. Der Schulbesuch ist in den Fällen mit Schwachsinn un-
möglich, auch sonst möglichst einzuschränken. Eine causale Behandlung wird
nur in jenen seltenen Fällen möglich sein, wo eine Beseitigung des ätiologischen
Momentes durchführbar ist, z. B. bei Syphilis, Alkohol- oder Bleiintoxication.
Aber auch hier darf man sich nicht allzugrossen Hoffnungen hingeben. Auf
die Behandlung der Reflexepilepsie kommen wir später zurück.
Sonst aber wird sich die Therapie darauf beschränken müssen, die Zahl
der Anfälle und ihre Intensität möglichst herabzusetzen. Es empfiehlt sich,
zur Controle fortlaufend Tabellen über die Zahl der Anfälle zu fähren. Wichtig
sind zunächst allgemeine diätetische Maassnahmen. LTeberanstrengungen, Ex-
598 EPILEPSIE.
cesse jeder Art sind zu vermeiden; der Genuss von Alkoholicis ist möglichst
einzuschränken, am besten ganz zu verbieten. Die Kost sei eine reizlose; recht
gute Erfolge sah man mitunter von Milchdiät. Sehr empfehlenswerth sind
leichte hydriatische Proceduren, z. B. laue Halbbäder mit Uebergiessungen,
leichte Abreibungen. Die elektrische Behandlung, Galvanisirung des Kopfes
oder Sympathicus, hat kaum irgend welchen Erfolg.
Unter den Medicam enten, die angewendet werden, verdienen die Brom-
präparate, zuerst von Lukock und M'Domel 1851 in die Therapie der
Epilepsie eingeführt; mit Recht den ersten Platz. Die Hauptsache bei der
Brombehandlung ist, dass sie möglichst lange, eigentlich continuirlich fort-
gesetzt werde. Der Kranke muss constant unter dem Einflüsse des Brom
stehen. Die Wirksamkeit der Brompräparate beruht auf ihrer die Reflex-
erregbarkeit herabsetzenden Eigenschaft, die sich bei längerem Bromgebrauch
ganz grob durch Verlust des Würgreflexes u. a. kundgibt. Von den im Ge-
brauche stehenden Brompräparaten*) sind die wichtigsten Bromkalium, Brom-
natrium und Bromammo7iium. Welches von diesen Mitteln zu wählen sei, ist
ziemlich gleichgiltig, wirksam ist nur der Bromfactor. Am beliebtesten ist
gegenwärtig Bromnatrium (dem Kalium im Bromkalium schreibt man eine
schädliche Wirkung auf das Herz zu). Gelobt wird auch eine von Erlen-
MEYER angegebene Lösung der 3 genannten Salze in kohlensäurehaltigem
Wasser (ERLENMEVER'sches Bromwasser).
Von Wichtigkeit ist dieDosirung und die Form der Darreichung.
Erstere muss für jeden Fall besonders erprobt werden. Man gibt grosse Dosen,
jedoch nicht grössere als nothwendig sind, d. h. man sucht die Gabe zu finden,
die gerade im Stande ist, die Anfälle hintanzuhalten. Man beginnt mit
4'0 ^ pro die (bei Kindern entsprechend weniger) und steigt so lange mit
der Dosis, bis die Anfälle zum Verschwinden gebracht worden sind. lieber
8*0 — lO'O^' pro die gehe man nicht hinaus, denn wenn diese Dosis nicht
wirksam ist, dann ist auch von grösseren nichts zu erwarten. Hat man ein-
mal die wirksame Dosis gefunden, dann muss der Kranke dieselbe immerfort
gebrauchen und zwar durch mehrere Jahre, selbst wenn die Anfälle durch
längere Zeit sistirt haben sollten. Nur kann man vorsichtig mit der Dosis
heruntergehen; Wiederauftreten von Anfällen nöthigt natürlich wieder zur
Steigerung der Gabe. Die gewählte Dosis reicht man auf 2 — 3mal des
Tages vertheilt, gelöst in einer grösseren Menge kohlensauren Wassers, stets
nach der Mahlzeit. Treten die Anfälle zu einer bestimmten Zeit auf, dann
gibt man einige Stunden vorher eine grössere Gabe. Der häufig auftretenden
Bromakne versucht man durch gleichzeitige Darreichung von Solut. arsen.
Fowler. vorzubeugen. Schwerere Erscheinungen des Bromismus, tiefes Dar-
niederliegen der psychischen Thätigkeit, Herabsetzung der Körperkräfte be-
dingen zeitweiliges Aussetzen der Bromtherapie. Es gelingt so durch die
consequente Brombehandlung manchmal ein jahrelanges Ausbleiben der An-
fälle zu erzielen; ob auch Heilung, erscheint zweifelhaft. Neben den genannten
drei Bromsalzen sind die neuerdings empfohlenen Bromlithium, Bromstron-
tium, Bromrubidium von geringer Bedeutung. Reines Brom in wässriger Lösung
darzureichen, wie es eine Zeit lang empfohlen wurde, ist undurchführbar.
Hat die Bromtherapie keinen Erfolg, dann ist man auf andere Medi-
camente angewiesen, deren Wirkung freilich eine zweifelhafte ist. Am meisten
empfehlen sich noch die Zinkpräparate, allenfalls in der HERpm'schen,
Mischung.
*) Vergl. auch den Artikel „Brom'' (R. Gottlieb), Bd. „Pharmakologie und Toxi-
kologie''' pag. 207 und ff.
EPILEPSIE. 599
Zinci oxyd. 0'03
Extr. belladonnae 0'03
Pulv. rad. valerianae l'O.
M. f. p. d. t. dos. Nr. XXX. S. 3mal täglich 1 Pulver.
(Steigend bis zu 0'3 Zink.)
Zweifelhaft ist der Effect der einst vielgerühmten Belladonna und des
Atropins (letzteres zu 0*001 pro die), der Cannahis indica, des neuerdings
empfohlenen Borax (3'0 — 4'0^ pro die), des Amylenhydrats (2"0 — 4*0^),
des Chloral (von Seguin in Combination mit Brom empfohlen). Neuerdings
will Babes von Einimpfung des PASTEUR'schen Wutgiftes Erfolg gesehen
haben. (?) Von der Darreichung des Argent. nitric. ist ganz abzusehen. Auf
andere Mittel, die eine ephemere Rolle spielten, wollen wir hier gar nicht ein-
gehen.
Die Behandlung des einzelnen Anfalles kann sich darauf be-
schränken, den Kranken durch passende Lagerung möglichst vor Verletzung
zu schützen. Manchmal gelingt es bei ausgesprochener Aura den beginnenden
Anfall, z. B. durch Umschnürung des Gliedes, das Sitz der Aura ist, durch
Schlucken von Kochsalz, Compression der Carotiden zu coupiren. Meist fühlen
sich jedoch die Kranken noch schlechter, als wenn der Anfall ungestört ab-
gelaufen wäre, und verzichten bald auf diese Proceduren. Für die Behandlung
des Status epilepticus empfiehlt sich am meisten ein Clvsma von Chloralhydrat
(2-0-3-0^.).
Wir hätten noch der chirurgischen Behandlung der Epilepsie
zu gedenken. Bei der Pteflexepilepsie kann sie einer causalen Indication ge-
ntigen. Narben, Fremdkörper in peripheren Nerven sind zu entfernen, AÖec-
tionen des Ohres oder anderer Organe in geeigneter Weise zu behandeln und
zwar möglichst rasch, da manchmal selbst nach der Entfernung des aus-
lösenden Momentes die Epilepsie fortbestehen bleibt. Ein dankbares Feld
findet die chirurgische Behandlung bei der symptomatischen Epilepsie in Folge
von Hirnläsionen (Abscesse, Tumoren, Schädeltraumen u. s. w.).
Sehr problematisch ist dagegen vorläufig der Werth chirurgischer Ein-
griffe bei der idiopathischen Epilepsie. Dahin gehört die schon in den ältesten
Zeiten geübte Trepanation des Schädels, die neuerdings leider vielfach wieder
geübt wird, manchmal mit Excision motorischer Eindenfelder. Ebenso proble-
matisch ist der Nutzen der Unterbindung der grossen Halsgefässe, Vertebralis
oder Carotis, die Exstirpation der Halssympathicusganglien, nicht zu reden
von mancherlei anderen operativen Verfahren, die eine ephemere Anpreisung
fanden. Es ist hier daran zu erinnern, dass unter Umständen jeder operative
Eingriff, wo immer und wie immer er ausgeführt wird, ein vorübergehendes
Sistiren der Anfälle bewirken kann; nach kurzer Zeit kehren jedoch die An-
fälle in alter Heftigkeit wieder. redlich.
Epileptische Geistesstörungen. Der im Verlaufe der Epilepsie auftretenden
allgemeinen progressiven Störung der Geistesthätigkeit in Form von Charakterver-
änderungen, Abnahme der Intelligenz bis zur Demenz ist bereits im Capitel Epi-
lepsie gedacht worden. — Hier seien daher nur die bei Epileptikern vorkommenden
vorübergehenden Geistesstörungen besprochen. Es ist dabei hervorzuheben, dass nicht
jede Psychose bei einem Epileptiker aucli eine epileptische sein muss, da sich mit
der Epilepsie auch andere geistige Störungen combiniren können, z. B. auf alkoho-
lischer Basis; freilich erhalten dieselben dann oft durch die Epilepsie eine eigen-
thümliche Färbung.
Eine grosse Zahl der bei Epileptilvern vorkommenden vorübergehenden Psychosen
steht im Zusammenhang mit epileptischen Anfällen; sie treten dann meist im An-
schlüsse an einen Anfall als sogenanntes po st epileptisches Irresein auf. In
600 EPILEPSIE.
seltenen Fällen kommen auch vor dem Anfalle Geistesstörungen vor, dann meist
leichterer Art, präepileptisches Irresein. Dass diese im Anschlüsse an den
Anfall auftretenden Geistesstörungen schon in der nach jedem schweren Anfalle vor-
handenen Schwerbesiunlichkeit und leichten Verwirrtheit eine gewisse Analogie haben,
ist bereits erwähnt worden.
Die Form des postepileptischen Irreseins kann eine verschiedene sein, doch
kommen den Formen desselben gewisse gemeinsame und charakteristische Eigen-
thümlichkeiten zu.. Dahin gehört der plötzliche Beginn (entweder sofort nach dem
Anfalle oder nach einem einige Stunden bis einen Tag währenden Intervalle), dem
meist auch ein plötzliches Aufhören entspricht: weiters das Vorhandensein massen-
hafter DeKrien, u. z. meist ängstlichen, schi-eckhaften Inhaltes, impulsive Gewalt-
thätigkeit, oft excessivster Xatur, und endlich Amnesie für den Anfall und die
Geschehnisse während desselben.
Von den verschiedenen Varietäten des postepileptischen Irreseins seien hier
erwähnt der postepileptische Stupor, mit hochgradiger Bewusstseinsstörung,
wobei die Ki'anken regungslos, vor sich hindämmernd, dasitzen mit ängstlichen ^Mienen:
dabei bestehen massenhafte schreckhafte Delirien und Mutacismus, an dessen Stelle
manchmal sinnlose Verbigeratiou auftritt, wobei die Kranken immerfort die gleichen
Silben oder Worte vor sich hinschreien. In einem diesem Stupor in gewissem Sinne
ähnlichen Zustande überwiegen noch mehr die schreckhaften Delirien; die Kranken
sind jedoch nicht so gehemmt, sondern reagiren in lebhafter Weise auf ihre Hallu-
cinationen durch Um'uhe, Schi-eien und begehen impulsiv Gewaltthaten excessivster
Art, wobei sie sich in planloser Weise auf den Erstbesten stürzen und denselben in
grausamer Weise tödten können. Beide bisher genannten Formen sind meist von
kui'zer Dauer, Stunden oder Tage; viele der Fälle der sogenannten Mania transi-
toria gehören hieher.
Ausserdem gibt es ein protrahirteres postepileptisches Irresein, das sogenannte
postepileptische raisonirende Delirium, manchmal mit moriartiger Fär-
bung, wobei die Kranken anscheinend viel besonnener sind, sich im grossen Ganzen
richtig zu benehmen wissen, aber auch hier durch Hallucinationen, wiederum meist
schreckhaften Inhaltes, in ihrer Orientirung stark gestört sind; öfters spielen auch
Grössenideen oder religiöse Wahnvorstellungen mit, wodurch die Kranken trotz
ihrer anscheinenden Besonnenheit leicht zu Gewaltthätigkeiten oder anderweitigen
verbrecherischen Handlungen verleitet werden. Dieser Zustand dauert gewöhnlich
länger, bis einige Wochen.
Aber auch unabhängig von Anfällen treten bei Epileptikern vorübergehende
geistige Störungen auf, die als psychische Aequivalente bezeichnet werden,
gleichsam den gewöhnlichen Krampfanfall ersetzend. Die Zugehörigkeit dieser Anfälle
zur Epilepsie bei nachweisbar epileptischen Individuen ist ohneweiters klar. Von vielen
Autoren, insbesondere von Samt wird aber behauptet, dass ganz gleiche AnfäUe bei
Individuen auftreten können, die niemals einen epileptischen Krampfanfall hatten;
wegen des charakteristischen Gepräges werden aber auch hier diese Anfälle als
epileptische, als psychische Aequivalente aufgefasst. Charakteristisch ist nach Samt
für diese Formen der plötzliche Beginn, Angstzustände mit ängstlichen Delmen,
denen dann der eigentliche psychische Paroxysmus mit massenhafter Anhäufung von
Delirien folgt, wobei die Kranken die schi-ecklichsten Gefahren auf sich einstürmen
sehen und mit Gewaltthätigkeiten rohester Art in ganz impulsiver Weise reagiren.
Meist folgt dann noch ein kurzdauerndes leichtes Angststadium, aus dem die Kranken
allmälig erwachen. - — Die psychischen Aequivalente müssen jedoch nicht in der be-
schriebenen Form verlaufen, es kommen auch ganz absonderliche Formen vor, von
denen hier insbesondere auf die Epilepsie mit automatischem Wander-
triebe hingewiesen sei. Dabei befindet sich der Kranke für 1 — 2 Tage in einem
halbtraumartigen Zustande, benimmt sich aber nach aussen anscheinend correct und ge-
ordnet, so dass er keinerlei Anstand erfährt. Sehr gerne machen die Kranken in
diesem Zustande verschiedene Pieisen. für die sie nachträglich keine Erklärung an-
ERNÄHRUNG DER SÄUGLINGE. 601
geben können. Das Erwachen erfolgt meist ziemlich plötzlich; der Kranke findet
sich ganz erstaunt an einem Platze und in einer Situation, die er sich nicht
erklären kann. Aeusserlichkeiten, z. B. ein in der Tasche gefundenes Eisenbahnbillet
führen ihn darauf, dass er eine Reise gemacht haben müsse.
Die Prognose der epileptischen Geistesstörungen ist eine günstige; dieselben
«ndigen meist nach kurzer Dauer mit der Restitution des psychischen Status quo ante.
Die Diagnose ist gewöhnlich eine leichte, insbesondere da, wo sich die
Geistesstörung an einen Anfall anschliesst. Aber auch sonst ist die Form des
Anfalles, wie wir sie oben geschildert haben, so charakteristisch, dass sich die Diagnose
meist ohne besondere Schwierigkeiten stellen lässt. Fraglich ist nur die Bedeutung
der psychischen Aequivalente bei nicht epileptischen Individuen. Ein wichtiges diagnosti-
sches Moment ist die Amnesie, die immer vorhanden ist. Dieselbe braucht jedoch keine
absolute sein; manchmal besteht eine ganz traumhafte, incohärente Erinnerung für ein-
zebie Geschehnisse während des Anfalles, der mitunter noch nachträglich durch äussere
Momente nachgeholfen werden kann. Von forensischer Wichtigkeit ist der Um-
stand, dass manche Kranke, insbesondere bei den protrahirteren Formen un-
mittelbar nach dem Anfalle eine ziemlich gute Erinnerung für denselben haben,
allenfalls Gewaltthätigkeiten zugeben und selbst zu motiviren suchen, wenn auch
meist in falscher Weise, dass aber dann diese Erinnerung wieder vollständig ver-
loren geht und der Kranke von seinen früheren Aussagen nichts wissen will und
kann.
Die Behandlung der epileptischen Geistesstörungen fällt im Wesentlichen zu-
sammen mit der der Epilepsie überhaupt. Da die Anfälle meist von kurzer Dauer
sind, genügt die sorgsame Ueberwachung des Kranken, um Gewaltacteu vorzubeugen.
Wo dieselbe zu Hause nicht ausführbar ist, ist Anstaltsbehandlung unbedingt noth-
wendig. Dieselbe empfiehlt sich auch bei den protrahirteren Formen. — In den inter-
vallären Zeiten ist ganz nach den Regeln vorzugehen, wie wir sie oben für die Be-
handlung der Epilepsie angeführt haben. eedlich.
Ernährung der Säuglinge. Für jedes Neugeborene aus der Classe der
iSäugethiere bringt die Mutter die geeignete Nahrung mit. Und zwar ist die
Nahrung in besonderer Weise immer den Individuen der einzelnen Ordnungen
dieser Classe angepasst mit Aufweisung von mehr oder minder eingreifenden
Verschiedenheiten zwischen diesen einzelnen Ordnungen und Species. Wahr-
scheinlich sind die besonderen Lebensverhältnisse der mütterlichen Individuen
die Ursache dieser Verschiedenheiten, und die Sprösslinge haben sich daran
angepasst, indem immer nur die dafür Geeigneten gedeihen und übrig bleiben.
Die unverbrüchliche Lehre, die daraus entstammt, verweist das menschliche
Neugeborene zunächst an die Brust seiner Mutter, und zwar als-
bald nach der Geburt, sobald es selbst durch Schreien den W^unsch kundgibt,
bei ganz schwächlichen Kindern auch sobald durch entsprechende Maassnahmen
(s. ,,Kinder])flege'-') ihm diese Aeusserung suggerirt ist. Sonst stehen dem
Kind, sobald es mit Lösung von der Nabelschnur seines seitherigen reichen
Einkommens beraubt ist, in seiner Körper-Oekonomie nur zahlreiche Verluste
bevor, durch Entleerung von Urin und Meconium, durch Wärme- und Stoff-
abgabe mittelst Re- und Perspiration. Dieselben mögen sich auf 300 g belaufen
und sollen in dem üblichen Gang nach 8 (bis 14) Tagen wieder ausgeglichen
gein. Energische, frühzeitige Ernährung durch einige Ergiebigkeit der Mutter-
brust unterstützt, können in einer Anzahl von Fällen diese Verluste ganz
vermeiden.
Man kann das Neugeborene am I. Tag 2 — 4 mal zum Trinken bringen,
und die Regel für die Zukunft wird sein, es zu thun, sobald es durch
Schreien 2 — 3 Stunden nach dem vorausgegangenen Trinken das Bedürfnis
hiezu kundgibt. Der Arzt muss wissen, dass, was an der Qualität der
Muttermilch Gutes ist, durch die Quantität, in welcher unvernünftige
602 ERNÄHRUNG DER SÄüaLINGE.
Mütter sie bei jeder Unruhe des Kindes reichen, wieder verdorben werden
kann, und muss dem rechtzeitig entgegentreten. Nach vorstehender Regel,
wobei ein Stillen bis zu lOnial im ersten Monat, bis zu 8mal im 2. und
3., 6- und 7-mal in den späteren Monaten herauskommt, die Nacht bei
gesunden Kindern allmälig freizulassen ist, werden vom 1. Monat bis zum
7. von 400 bis zu 1000 ccm steigende durchschnittliche Tagesmengen ge-
trunken. Von da ab nimmt bei vielen Frauen die Milchsecretion ab,
und reicht ohnedies bei den Meisten die Milchmenge für die steigenden
Bedürfnisse des Kindes nicht mehr völlig aus. Es wird deshalb eine
Beinahrung nöthig, welche die überlegtesten Fachmänner seit langem zu-
nächst mit Ei, bezw. Eigelb, in schwachgesalzener (Kalb-) Fleischbrühe mit
oder ohne Milch im Gemische bewirken. Nach Bunge stellt sich das auch
theoretisch jetzt als besonders wirksam heraus, wegen des reichen Gehaltes des
Eidotters an organischem Eisen, welches der Milch einigermaassen fehlt. Viel
früher noch wird nicht selten eine ausgiebigere Beinahrung auch mit anderen
Dingen, besonders Milch, nöthig, wenn die Muttermilch von vornherein unzu-
reichend war oder es durch raschere Abnahme wurde. Nicht zu sagen aber
ist es, wie sehr nützlich die fortwährende Mitgabe auch nur eines Theiles von
Muttermilch neben jener künstlichen Ernährung ist, und von einer grossen
Leichtfertigkeit zeugt es deshalb bei Aerzten und Müttern, wenn sie oft
leichthin beim ersten eintretenden Fehlen auf die Mitwirkung der letzteren
bei der Ernährung des Kindes ganz verzichten. Dass diese Mitwirkung auch
naturgemäss nach dem ersten Halbjahr verhältnismässig immer geringer wdrd,
ist schon bemerkt, und auch, dass hier zuerst Ei mit Fleischbrühe zu Hilfe
gezogen wii'd. In jenen Fällen des früheren und stärkeren Fehlens der von
der Brust gelieferten Nährmenge und ebenso jetzt, wenn diese im 2. Halbjahr
naturgemäss mehr und mehr versagt, müssen nach und nach die weiteren
Hilfsmittel der künstlichen Ernährung, die wir noch näher kennen lernen
werden, als Ergänzung der Brust und abwechselnd mit ihr eintreten. In wel-
chem Grade dies nöthig ist, lehrt die allgemeine Beobachtung über das
Gedeihen des Kindes, mit grösserer Sicherheit die Ergebnisse der Kindes-
wägung. Soviel sei hier darüber bemerkt, dass sie zu regelmässiger längerer
Zeit nach dem Trinken vorgenommen, die Kleider aber zuvor abgewogen werden
sollen, und dass im ersten Halbjahre die Zunahme zwischen 12 und 29 g, im
2. zwischen 7 und 20 — 30 g täglich schwankt, dass sie in der Regel von
den ersten gegen die letzten Monate abnimmt, bei Brustkindern aber in den
ersten, bei künstlich genährten Kindern in den letzten höher ist.
Wenn so im Laufe des zweiten Halbjahres ausser dem Ei mehr und mehr
verdünnte und reine Kuhmilch und deren Ersatzmittel, ausserdem Zwiebäcke,
Breie, Kindermehle der Ernährung an der Brust zugefügt werden müssen,
so kommt naturgemäss die allmälige Entwöhnung zu Stande, die man
in dem 9. — 15. Monate vollständig werden lassen kann, unter Vermeidung der
Sommermonate, und die nur unter besonderen Nothfällen plötzlich vorgenommen
werden soll.
Das Letztere fällt schon unter das Capitel von den Gründen, die
eine Frau am Weiterstillen und überhaupt am Stillen verhindern. Es gibt
eigentlich nicht allzu viele, wenn man scharf zusieht, z. B. Milchmangel,
wenn man sich nach vorher angegebener Methode hilft, lange nicht so oft,
als man sonst gelten lässt. Die Fälle von absolutem Mangel sind immer
noch nicht sehr häufig, ebenso wenig die von ganz unbrauchbaren Warzen,
wenn man in der Schwangerschaft schon sich darum bekümmert, sie mit der
Milchpumpe und drgl. hervorziehen zu lassen und durch Betupfen mit Spiri-
tuosen und adstringirenden Flüssigkeiten abzuhärten. Selbst die Hohlwarze
hat Kehrer durch Operation tauglich machen gelehrt. Acute Krankheiten
verbieten das Stillen entweder dadurch, dass sie Ansteckung drohen oder die
,ERNÄHRUNG DER SÄUGLINGE. 603
Milch zum Versiegen bringen. Von chronischen Krankheiten bilden nur
Lungenschwindsucht und erbliche Anlage dazu, scrophulöse Haut- und Drüsen-
leiden, Leukämie, progressive Anämie und Nierenleiden ein unbedingtes
Stillungshindernis, einfache Schwäche der Mutter höchst selten, wenn sie
sich schonen und gut und erfolgreich nähren kann. Syphilis verbietet die
Stillung, wenn die Mutter sie erst in den letzten drei Schwaugerschaftsmonaten
bekommen hat, weil dann das Kind Chancen hat, frei zu bleiben; man bestimme
es dann der künstlichen Ernährung, niemals aber einer ungewarnten Amme.
Eine Amme anzunehmen, wird umso seltener nöthig werden, je mehr
die Mutter in der angedeuteten Weise ihre Pflicht zu thun bestrebt sein
wird, und je geschickter und verständiger sie in der künstlichen Beinahrung
oder auch der künstlichen Ernährung sich zeigt. Bei einer Amme, auf deren
Person man nicht wie auf die der Mutter von vornherein angewiesen ist,
wird man dieselben Abweisungsgründe für Unternehmung des Stillungs-
geschäftes, wie bei dieser gelten lassen, nur noch viel empfindlicher gegen
vorhandene Mängel, viel anspruchsvoller an die Leistungsfähigkeit sein. Man wird
durch genaue Untersuchung jede Spur der oben genannten Krankheiten in Lunge,
Auge und Nieren, an Haut und allen Drüsengegenden ausschliessen müssen
und wird hier natürlich weiter noch jeden möglichen Sitz der Syphilis im
Bachen, an After und Geschlechtstheilen durchforschen — wenn es sich nicht
zufällig um ein syphilitisches Kind handelt, für das eine kräftig milchgebende
syphilitische Amme gerade das beste wäre, und das zugleich mit ihr durch
Mercurialisiren derselben behandelt werden könnte.
Milchergiebigkeit, körnige Entwicklung der Brustdrüse, gute Fassbarkeit
und derbe gesunde Haut der Warze wird man immer verlangen. Man kann
auch die Milch mikroskopiren, ob sie gleichmässige, dichte, in Grösse nicht
zu verschiedene Milchkörperchen und keine abnormen Bestandtheile enthält,
und wird besonders beruhigt sein, wenn man ein kräftiges gut verdauendes
Kind der Amme als Beweisstück für ihre Leistungsfähigkeit vor Augen hat.
(Vergl. den Artikel: „Ammenwahl".) An Nahrung bewilligt man der Stillen-
den, was sie gut verträgt, unter Meidung scharfriechender Speisen und Bei-
fügung ziemlichen Getränkes ohne zu vielen Alkohol. Ausser Quecksilber, das
wir in erwünschter Weise durch die Nahrungsspenderin auf das Kind haben
wirken sehen, wo sie beide seiner bedurften, ist bei anderen Arzneien,
die ebenfalls die Stillende gebraucht, für das Kind nicht viel zu hoffen
und zu fürchten. Scharfe Drastica sind zu meiden.
Machen wir die Ernährung auch für die andere wichtige Nahrungsspen-
derin, das Milchvieh, gleich hier ab! Auch für dieses ist wohl eine gesunde
gemischte Nahrung ohne schroffe Uebergänge von einseitigem Trocken- zu Grün-
futter und zuviel Tränke mit Treb ern etc. das empfehlenswertheste, wenn auch
in feinerer Milchproduction auf ausschliessliche Trockenfütterung ein beson-
derer Nachdruck gelegt wird. Es sind hierüber und über andere Anforderun-
gen an die künstliche Ernälu^ung ausschlaggebende Untersuchungen noch nicht
vorhanden und auch nicht ausreichend zu erlangen, ausser durch umfassende
Beobachtungen in besonderen Versuchsanstalten, gemeinsam für Vieh-
haltung und Kinderernährung eingerichtet, für deren Nothwendigkeit ich an
anderem Orte mit allem mir zu Gebote stehenden Gewicht eingetreten bin.
Die Voranstellung der Milchproduction bei der Erörterung der künst-
lichen Ernährung des Kindes rechtfertigt sich durch das Uebergewicht,
welches der Thiermilch, im Besonderen der Kuhmilch, auf die Dauer in der-
selben gesichert erscheint mitten unter allen künstlichen Präparationen, Zu-
und Ersatzmitteln. So knüpft sich auch die Erörterung der künstlichen Er-
nährung vor Allem an die Kuhmilch und zunächst an deren Gegenüberstellung
gegenüber der Muttermilch. Da wir diese eingangs als die gebotene Nah-
rung erkannt haben, ist sie das Muster für jede andere. Von dem Muster hat
604 EENÄHRÜNG DER SÄUGLINGE.
man die Kulimilch als in vier Dingen abweichend erkannt, in den Men-
gen ihrer Bestandtheile, deren Verhältnis unter einander, ihren besonderen
Eigenschaften und in dem Zustand, d. i. der grösseren oder geringeren Rein-
heit und Unverändertheit, in der die Milch zum Genüsse kommt. Der letztge-
nannte Umstand, der mindest ebenso lang, wie der andere, bekannt war, schon
von V. Hesslixg und Riefenstahl in der wesentlichen Bedeutung, welche die
Bacterien für ihn haben, voll gewürdigt wurde, hat nur in letzterer Zeit mit
der Bedeutung der Bacteriologie und der grösseren Klarheit, mit der man
seine Beherrschung unternahm, den Anschein der Neuheit gewonnen und ist, wie
alle jüngsten, das Lieblingskind der Wissenschaft geworden, die dann über
dieses, wie das auch sonst zu geschehen pflegt, die anderen fast übersah.
Nahe war man daran in der, nicht einmal vorhandenen und im Munde und
Magen sofort gründlich vernichteten Pilzfreiheit der Muttermilch den einzigen
Vorzug der Muttermilch zu sehen, in der von (Riefenstahl-) Soxhlet tech-
nisch weiter geförderten Möglichkeit aber die Kuhmilch fast ebenso pilzfrei,
wie jene zu liefern, zugleich die Möglichkeit einer der natürlichen gleicli-
werthigen künstlichen Ernährung zu erkennen.
Das trägt schon, wie mir ein beschäftigter College eben jetzt sagte,
verhängnisvolle Früchte, indem gerade die Gebildeteren das Selbststillen wieder
für weniger pfiichtgeboten halten und ihre Kinder mit dem neuen, vermeint-
lich ebenso guten Soxhlet- Apparat, in die alten Gefahren stürzen, Gefahren,
die am deutlichsten den neuesten Mittheilungen der HEUBXER'schen Klinik
zu entnehmen sind. Heubxer hatte aus den ersten Erfolgen, die er mit dem
Soxhlet-Apparat erzielt hatte, die Richtigkeit des Principes, auf die Sterilisa-
tion Alles zu schieben, erschlossen und proclamirt (pädiatr. Section. Wies-
baden 1887) — Erfolge, die aber offenbar einfach einer überhaupt besseren
Milchhaltung, als der landläufigen der armen Leute zu danken waren. Nachher
hat er gefunden, dass er damit dem Ideale keineswegs näher gekommen war,
und sucht den Fehler in einer bei der seitherigen stilgerechten Methode immer
noch ungenügend bleibenden Sterilisirung. Er lässt ein äusserst mühevolles
und peinliches Verfahren, das in der Praxis nicht durchführbar sein wird,
beschreiben, um wenigstens für die Theorie dies Ziel zu erreichen (Jahrb. für
Kinderheilkunde XXXVI. 1/2). Er zerstört damit alle Beweise, die aus den
Erfolgen mit der jetzigen Sterilisirung vermeintlich gewonnen waren, und ich
vermuthe, wenn es wirklich auf die wenigen Pilze ankommt, die jetzt
Heubner noch völlig in der zugeführten Milch zu vernichten besorgt ist, so
werden auch darnach die Erfolge nicht idealer werden, weil niemals vermieden
werden kann, dass in den Bacterienbrutöfen der Mundhöhle, des Magens und
Darmcanals die Milch mit der tausendfachen Menge von Pilzen neu gesättigt
werde.
Die Erhaltung der Milch in gutem Zustand ist eben nur ein Theil der
Anforderungen und trifft nur einen Theil der Fehler; um ihn aber ausreichend
zu treffen genügt eine relative Sterilisirung, die in der Milch das Aufkommen
erheblicher Mengen von nachtheiligen Zersetzungserregern und Zersetzungs-
producten hindert. Eine solche Sterilisii'ung wird nach Feer (Hagenbach's
Kinderklinik) und nach der in meinem Laboratorium von Sior und besonders
Langermann angestellten Versuch schon ziemlich leicht hergestellt: durch
Autkochen der Milch und Belassen in dem Kochtopf. Die Sterilisirung in
den verschlossenen Flaschen nach Soxhlet stellt sich dem gegenüber nur
massig besser und in keinem Verhältnis zur Verschlechterung, welche die
Milch sofort in Mund und Magen wieder erfährt (Langermann). Für diese
gerade sind die anderen Abweichungen der Kuhmilch von der Menschenmilch
von der höchsten Wichtigkeit. Nämlich die Abweichungen, die eine unvoll-
ständigere Verdauung der zugeführten Kuhmilch zu Folge haben, in Folge deren
ein grösserer von den Verdauungssäften und der Resorption ungenügend be-
ERNÄHRUNG DER SÄUGLINGE. 605
einflusster Rest im Darmcanal des Kindes bleibt, der dann jenen unvermeid-
lichen Bacterien zur Beute wird, hier durch Bacterienwucherung einen schäd-
lichen Zersetzungsherd bildet: endogene Infection Escherich's.
Die eine Abweichung, in Folge deren die Kuhmilch an sich unvollkom-
mener verdaut wird, der grössere Caseingehalt derselben, ist länger bekannt
und auch durch entsprechende Verdünnung schon berücksichtigt worden. Den
anderen und schwerwiegenden Unterschied habe ich durch zahlreiche theore-
tische und praktische Arbeiten seit etwa 25 Jahren zur Geltung gebracht: die
qualitative Verschiedenheit des Caseins der Kuhmilch, in sei-
ner Schwerverdaulichkeit neben gröberer Gerinnung. Dazu habe ich auf das
ungünstigere Verhältnis von Fett zum Casein in der Kuhmilch aufmerksam
gemacht, in der jenes nur zu gleichen Theilen mit dem Casein sich findet,
während es die Caseinmenge der Menschenmilch um mehr als die Hälfte über-
trifft. Da das eingelagerte Fett die Caseingerinnsel lockerer und so, wie ich zei-
gen konnte, auch verdaulicher macht, so wirkt dies Verhältnis als weiterer
Factor bei der Erschwerung der Kuhmilchverdauung.
Die Mengendifferenz musste sich durch Verdünnung der Kuhmilch, die
3-5—^4 Casein auf 2 der Menschenmilch enthält, durch eine Verdünnung von
4 Milch mit 3 Zusatz ausgleichen lassen. Wo es aber darauf ankommt, genügt
das lange nicht, eben weil man dann zwar eine gleiche Menge, aber von
schwerer verdaulichem Casein in dem Gemisch hat, und man muss dieses noch
stärker verdünnen, in der Regel 3 Theile Wasser mit 1 Thell Milch, um es
für den Durchschnitt empfindlicherer Kinder nicht mehr in schädlichem Grade
von der Muttermilch abweichen zu lassen. Der Zusatzfiüssigkeit gibt man 4 — 57o
Zucker bei. So beginnt man vorsichtiger Weise mit jener dünnsten Mischung
bei den jüngsten oder kranken Kindern und verstärkt sie durch Minderzusatz,
wenn das Kind sie verträgt, indem man nur 2 Theile, 1 Theil und immer
weniger Verdünnungsflüssigkeit im 2., 4. Monat u. s. w. beigibt, bis man im
3. oder 4. Vierteljahr des Lebens zu reiner Kuhmilch gelangt. Zu noch viel
bedeutenderen Verdünnungen, 1:4 — 5— 10, kann man durch schwere Krank-
heitszustände gezwungen werden.
Noch ist damit der dritte Nachtheil nicht ausgeglichen, der geringere
Fettgehalt der Kuhmilch, der mit den Verdünnungen immer mehr und un-
nöthig abnimmt. Ich habe gezeigt, wie das durch Verwendung des Rahmes,
den man von 1—2 Stunden kalt gestellter Milch abschöpft, ausgeglichen wird.
Durch Verdünnen des Rahmes mit 3 Theilen und nöthigenfalls, wie bei der
Milch, noch mehr Wasser unter entsprechendem Zuckerzusatz, erlangt man das
für viele Kinder noch bekömmlichere „natürliche Rahmgemenge." Dasselbe
liefert ein durch vermehrte Fettzwischenlagerung gelockertes und verdaulicheres
Casein, zugleich in dem Fett einen wichtigen Nahrungsbestandtheil in nicht
so unnöthiger Verringerung. Das in den Apotheken erhältliche „künstliche
Rahmgemenge, Rahmeonserve" (auch Biedekt's Kindernahrung, deren geschäft-
lichem Vertrieb ich übrigens gänzlich fernstehe) ist als bequemerer Ersatz des
frischen Rahms Vielen erwünscht. Aehnliche Zwecke verfolgt die LAHMANx'sche
vegetabilische Milch, mit noch einer weiteren Modification die VoLT^iEii'sche
Milch nach Lahmann.
Keinen Verbesserungszweck, wie diese in Conservenform gelieferten Prä-
parate verfolgen die einfachen Conserven der natürlichen oder vorher
eingedickten Milch, die durch Hitze und Luftabschluss nach einer zuerst von
mir veröffentlichten Vorschrift bewirkt werden. Sie bilden die Milchversorgung,
wo sonst gute Milch nicht zu haben ist, auch von sicher grossen Milchprodu-
centen in grösseren Städten im gewöhnlichen Milchhandel, hier besonders als
Kinder- und Krankenmilch.
Als Zusatzflüssigkeiten bei allen für die genannten Zubereitungen
erforderlichen Verdünnungen dienen Wasser mit der angegebenen Zuckermenge,
606 EßNÄHRüNG DER SÄüGLINaE.
bei Diarrhoe schleimige Flüssigkeiten, Korn-, Gersten-, Haferwasser, Kalbsbrühe,
Gelatineabkochung. Die zubereiteten Mischungen sind in oben angegebener
Weise in irdenen oder emaillirten Töpfen, event. mit „Milchkochern", oder in
den Einzelflaschenapparaten abzukochen, alsbald abzukühlen und kühl zu bewah-
ren. Man schreibe einen regelmässigen 2 — 3-stündigen Turnus zur Nahrungs-
verabreich un g vor; dem Kind soll die Flasche nicht zu lange belassen, der
Rest weggeschüttet und die Flasche sofort gereinigt werden. Wenn das Kind einen
Rest gelassen hat, gebe man nächstesmal weniger, hat es begierig und rasch
Alles getrunken, mehr; aber niemals ausser dem Turnus, auch w^enn das Kind
schreit; denn wenn es zuviel getrunken und Leib weh hat, sclireit es auch
und — trinkt, besonders an der leicht fliessenden Flasche. Das ist eine wei-
tere Hauptgefahr der künstlichen Ernährung, die Ueberfütterung, die an der
Brust, an der man herzhaft ziehen muss, lange nicht so leicht geht. Unver-
nünftige Mütter bringen sie allerdings auch hier zu Weg, indem sie nichts
Eiligeres wissen, als jeden Schrei mit der Brust zu stopfen. Der Arzt muss das
wissen und regelnd eingreifen. Für die künstliche Ernährung hat an Stelle der
oben angegebenen Selbst-Regulirung Escherich eine solche in bestimmten Tages-
mengen vorgeschrieben: in den ersten 2 Wochen 750 ccm, bis zur 8. 1000,
bis zur 16. 1250 von erst mit 2 Theilen, dann mit gleichen Theilen, dann
mit ^/^ Zusatzflüssigkeit verdünnter Milch; vom 5. bis 6. Monat gibt er 1000
Milch 250 Wasser, vom 7. bis 12. 1250 ccm reine Milch. Oft versagen beide
Methoden; die letzte eignet sich überhaupt nur für normal gedeihende Kinder,
da sie für das geringere Bedürfnis und Leistungsvermögen der schwächlichen
zu wenig individualisirt, und bei allen empfindlicheren Fällen kommt man nur
durch scharfe Anpassung an das Einzelkind mittels meines genaueren Ver-
fahrens zu recht: die weiter oben von mir für die einzelnen Altersstufen an-
gegebenen Verdünnungen zu wählen und davon in 24 Stunden auf das Kilo
Körpergewicht der Kinder (150 bis) 200 ccm zu geben. Schwierige Ernährungen
sind ohne fortlaufende Körpergewichtsbestimmungen und genaue Nahrungs-
abmessungen unter steter Controle der Stühle nicht zu gutem Ende zu führen.
Die Einzelheiten meiner ausführlichen Untersuchungen über das Nahrungs-
bedürfnis der Kinder mit Begründung sind in meiner Monographie zusammen-
gestellt, ebenso das Ausführliche über Untersuchung und Beurtheilung der
Stuhlgänge.
Die Muttermilch-Stuhlgänge sind weich, dottergelb, reagiren und
riechen sauer; gute Kuhmilch-Stühle ohne oder mit vegetabilischen Zusätzen
sind von derberer Consistenz, aber gleichmässig, entweder weisslich oder bei
manchen Vegetabilien braun und reagiren infolge der Kalksalze und der massi-
gen Fäulnis des Casein alkalisch; letztere riecht man auch. Und diese, in
dem stets grösseren unverdauten Rest der künstlichen Nahrung entstehend,
deutet auch in noch guten Fällen, den Weg an, auf dem in schlimmeren die
Erkrankungen einziehen, wenn durch in Menge und Concentration unvorsichtige
Ernährung in solch' vergrössertem Rest ein Brutherd grösserer und gefähr-
licherer Zersetzungen geschaffen wird. Die Stühle werden dann stinkender,
ungleichmässiger und in der verschiedensten Weise übel aussehend.
Einen anderen Weg, als die früher erwähnte Mengenbeschränkung und
die Verdaulichmachungen in der Rahmform, schlagen einige Fabriken zur Ver-
hütung dieses gefährlichen Nahrungsrestes ein, indem sie das schädliche Kuh-
casein direct mittels Peptonisation angreifen, so Löfflund in seiner „peptoni-
sirten Milch" und Lahmann- Voltmer in ihrer „künstlichen Muttermilch,"
bei der sie auch zugleich, wie schon angedeutet, Rahm mit verwenden, als
Zusatz zur Milch endlich das Pancreas-Milchpulver Timpe's. Mit ersterer, einer
guten Conserve, habe ich selbst in bestimmten Fällen treffliche Resultate
erzielt.
ERNÄHRUNGSTHERAPIE. 607
Ausnahmsweise können, besonders bei Rahm- und auch bei Milchnahrung,
die Kuhmilchstühle ebenfalls saure Reaction annehmen, wenn, wie bei Brust-
kindern, der Caseinrest hinter dem Fett im Stuhl zurückbleibt, dann aber nicht
weil das Casein ausgiebig, sondern das Fett schlecht verdaut wird. Die ab-
gespaltenen Fettsäuren machen diese Reaction, chemisch und mikroskopisch kann
man die von Demme und mir gefundene „ Fettdiarhoe'' nachweisen. Das ist
eines der besterkannten von den offenbar verschiedenen Verhältnissen, unter
denen Rahm und auch gewöhnliche Milch nicht verdaut werden und vorüber-
gehend abgerahmte Milch, milcharme oder auch ganz milchfreie Nahrungs-
mittel gegeben werden müssen.
Unter den letzteren sind die ältestbekannten die gewöhnlichen Kinder-
mehle, angeführt von dem NESTLE'schen. Ein berechtigtes Ansehen haben
sich neuerdings die einfachen Nährmehle erworben, und zwar insbesondere
die, nach dem Vorgang von H. v. Liebig's Multoleguminose und des gut-
bewährten KuFEKE'schen Kindermehls, ausgiebig dextrinisirten Fabrikate.
Sie können kurze Zeit an Stelle der nicht vertragenen Milch in wässeriger
Abkochung allein zur Nahrung dienen, müssen aber bald mit kleinen und
allmälig steigenden Zusätzen wieder zur Milchnahrung überführen, wobei ihre
feinen Mehlkörnchen durch Zwischenlagerung, wie sonst die Fetttröpfchen die
Aufgabe der Lockerung des Caseingerinnsels versehen. Recht stinkende Stühle
zeigen aber auch bei ihnen in vielen Fällen, dass sie nur ein Nothbehelf für
gewisse Fälle, aber ein für Zeiten unentbehrlicher sind.
Eine letzte Verwendung können die ersten und die letzten Kindermehle,
die Leguminosen und die Zwiebäcke im zweiten Halbjahr für Uebergang zu
festerer und mannigfaltigerer Nahrung finden. Suppe, Eier, Mehlbrei und Weck-
stückchen, Cacao folgen ihnen nach. Auch das „Festere" soll übrigens im zweiten
Jahr noch in der Regel weich sein und nicht bei allen Kindern kann man jetzt
schon weiches Fleisch, zarte, breiige Gemüse darunter mischen. Wir können das
auch jetzt noch übergehen und die Erörterung dessen, was jetzt folgt, zweck-
mässiger dem Zusammenhang der späterfolgenden Besprechung der „Kinder-
pflege" überlassen. Hier handelte es sich lediglich um die eigentliche Säug-
lingsernährung, ein Gebiet von so besonderer Eigenthümlichkeit, zugleich für sich
allein von solchem Umfang, dass selbst in dieser Beschränkung die Frage nur
etwas eingehender skizzirt werden konnte.
Ausgiebigere Behandlung der Frage findet, wer sie wünscht, in meiner
Monographie: „Die Kinderernährung im Säuglingsalter und die Pflege von
Mutter und Kind, 2. Aufl. Stuttgart, 1893," zugleich eine Erörterung der hier
nicht berührten Grundbedingungen für die Erhaltung des menschlichen Nach-
wuchses und der Einzelumstände, woran sie Gefahr zu laufen oder zu schei-
tern pflegt. Gerade der stolze Reichthum dessen, was von vielen gediegenen
Kräften auf diesem Gebiete geschaffen wurde, zeigt es an, dass man entweder
nur das Wichtigste mit scharfen Strichen hervorheben, Grundlegendes eben
andeuten oder — ein Buch schreiben muss. Doch für den Praktiker
genügt das Vorstehende. biedert.
Ernährungstherapie. Plujsiologische Gesichtspunkte. Die Einwirkung
des Arztes auf die Ernährung seiner Patienten verfolgt einerseits therapeu-
tische Zwecke im engeren Sinne, andererseits prophylaktische. Von den er-
steren sind hier nur gewisse allgemeine Maassnahmen zu besprechen; die spe-
ciellen Aufgaben der Ernährung in den einzelnen Krankheiten gehören zur
Therapie dieser.
Für den gesunden, normalen Menschen können wir annehmen,
dass der Appetit die Nahrungsaufnahme in zweckentsprechender Weise regelt.
Dennoch muss der Arzt über die quantitativen Verhältnisse des Nahrungs-
608 ERNÄHRUNGSTHERAPIE.
bedarfes gesunder Mensclien unterrichtet sein, weil er in vielen Fällen bei
Anstalten und allen Einrichtungen, welche die Ernährung grösserer Menschen-
mengen bezwecken, die rationelle Führung der Küche zu überwachen hat.
Wegen der Ernährung der Kinder in Familien wird der Hausarzt oft consul-
tirt und hier wird er vielfach in der Lage sein, falschen, durch die Leetüre
populärer Werke erzeugten Ansichten entgegenzutreten.
Unser Wissen über den normalen Nähr st off bedarf des Menschen
ist theils durch directe Beobachtung der Nahrungsaufnahme bei einer grösseren
Anzahl gesunder und ihrem Instinct gemäss lebender Menschen gewonnen,
theils durch Messung des Stoffverlustes durch die Ausscheidungen (Koth, Harn,
Respiration), welchem ja die Einnahmen entsprechen müssen. Wenn in den
meisten Arbeiten über Ernährung als mittlerer Bedarf des gesunden, massig
arbeitenden Mannes von 70 Ä;n^örpergewicht eine Zufuhr von 118^ Eiweiss,
56 g Fett und 500 g Kohlenhydrat gefordert wird, so darf nicht ausser
Acht gelassen werden, dass der factische Bedarf im einzelnen Falle recht er-
heblich von diesem Mittelwerth abweichen kann. Einmal ist der Begriff „massige
Arbeit" und damit auch der dieser Arbeit entsprechende Antheil am Stoff-
verbrauch ein sehr schwankender. Ausserdem ist aber schon in absoluter
Ruhe der Verbrauch verschiedener Menschen sehr verschieden, wie dies na-
mentlich die Versuche über die Grösse des Sauerstoffverbrauches und der
Kohlensäureausscheidung bei ruhenden Menschen lehren. Es wächst der Be-
darf natürlich mit dem Körpergewicht, aber in langsamerem Maasse als dieses.
Einen erheblichen Unterschied bedingt ferner der Fettgehalt des Menschen,
so zwar, dass bei gleichem Gewicht der fette Mensch erheblich weniger Stoff
braucht, als der magere, muskulöse, daher wohl auch, wegen des Ueberwiegens
des Fettes am Körper, das Weib w^eniger als der Mann. Von den drei, in
obigem Mittelmaass angegebenen Kategorien von Nährstoffen können das Fett
und die Kohlenhydrate einander annähernd im Verhältnis ihrer Verbrennungs-
wärmen so, dass 1^ Fett an die Stelle von 2-3 g Kohlenhydrate oder um-
gekehrt tritt, ersetzen. Das Eiweiss ist, bis zu einer gewissen Menge, durch
keinen anderen Nährstoff' ersetzbar, doch hat sich gezeigt, dass die Menge
desselben ohne sichtbaren Nachtheil bis auf 80 g und vielleicht noch weniger
herabgesetzt werden kann. Da der Eiweisszerfall durch Kohlenhydrate stärker
als durch Fett beschränkt wird, so wird man beim Ueberwiegen der ersteren
mit einer geringeren Eiweissmenge auskommen, als bei vorwiegender Fett-
zufuhr. Da das Fett besonders in der an Eiweiss reichen animalischen, die
Kohlenhydrate in der daran armen vegetabilischen Kost vertreten sind, regelt
sich meist, dem physiologischen Bedürfnis entsprechend, die Nahrungsauf-
nahme so, dass bei fettreicher Kost zugleich der Eiweissgehalt ein höherer ist.
Wo die Leistungsfähigkeit des Verdauungsapparates keine
besonders gute ist, wird eine genügende Ernährung nur dann möglich sein,
wenn alle drei Kategorien von Nährstoffen in einer mittleren Menge in der
Nahrung enthalten sind, weil nur dann die verschiedenen, der A^erdauung
dienenden Secrete des Darmcanals gleichmässig zur Verwerthung kommen. In
einer vom Gesichtspunkte der Leichtverdaulichkeit zusammengestellten Nah-
runo- muss das Fett reichlicher, die Kohlenhydrate in geringerer Menge ver-
treten sein, als in der obigen VoiT'schen Norm, statt 56 g dürften 100 bis
150^ Fett empfehlenswerth sein. Von der dann nur noch nöthigen Menge
von 400 bis 250^ Kohlenhydrate lässt man zweckmässig 50 bis 100^, je
nach der individuellen Geschmacksrichtung, aus dem ohne jede Umsetzung
im Darmcanale resorbirbaren Zucker bestehen.
Bei Bettruhe ist natürlich der Bedarf erheblich geringer als die oben
für mittlere Arbeit angegebenen Zahlen. Das Minus beträgt etwa SO^/o- Dabei
darf aber die Menge des Eiweisses nicht vermindert werden, da dessen Zerfall
bei Ruhe nur wenig geringer ist, als bei massiger Arbeit. Aus den vorlie-
ERNÄHRUNGSTHERAPIE. 609
genden Respirationsversuchen an ruhenden Menschen lässt sich berechnen,
dass neben einer Eiweisszufuhr von l'-i (/ per kl. Körpergewicht eine Menge
von in minimo 4*4, in maximo 8*7 g. Kohlenhydrat oder deren Aequivalent
an Fett zur Deckung des Ruhebedarfes nöthig sind. Welcher Werth innerhalb
dieser Grenzen dem wirklichen Bedarf im einzelnen Falle entspricht, wird
bei einiger Uebung leicht zu schätzen sein, wenn man sich erinnert, dass die
Maximalwerthe jugendlichen, mageren, die minimalen älteren, fettreichen Per- '
sonen zukommen.
Bei körperlicher Arbeit ist der Bedarf dieser entsprechend zu stei-
gern. Als Anhaltspunkte für die richtige Bemessung des Arbeitszuwachses können
die Erfahrungen über den Stoffverbrauch des Menschen bei gemessenen Arbeits-
leistungen dienen. Danach bedingt das Gehen auf horizontalem Wege für
jeden Kilometer Weges per 1d Körpergewicht einen Mehrverbrauch von
0"055 ^ Fett oder 0-125 </ Stärke. Die mechanische Arbeit, welche durch
Heben des eigenen Körpers etwa beim Bergsteigen oder durch Bewältigen von
Widerständen, wie beim Drehen eines Rades geleistet wird, bedingt per
1000 kgmeter Arbeit einen Zuwachs der Fettzersetzung von 0*7 bis l'O g, resp.
des Verbrauches von Kohlenhydraten von 1*6 bis 2*2 g.
Es genügt aber für die Ernährung nicht, dass die Nahrung aus den
Bestandtheilen im richtigen Verhältnis gemischt sei, sie muss ausserdem einen
gewissen Gehalt an würzenden und Reizstoffen, d. h. an Substanzen,
welche auf das Nervensystem anregend wirken, besitzen. Ohne diese Stoffe fehlt
nicht nur die Lust zur Aufnahme einer genügenden Nahrungsmenge, es leidet
auch die Absonderung der Verdauungssäfte und damit die Ausnutzung der einge-
führten Nahrung. Im Allgemeinen wird aber auf diesem Gebiete eher durch
ein Zuviel als durch ein Zuwenig gesündigt. Namentlich der Wohlhabendere
sucht nach immer neuen und stärkeren Anregungsmitteln, um den Genuss
der Nahrungsaufnahme zu erhöhen. Aus der Ueberreizung resultirt eine all-
mälige Abschwächung der Functionen der in Frage kommenden nervösen
Apparate, der Absonderungsdrüsen und der resorbirenden Zellen. Eine grosse
Menge von Verdauungsstörungen des späteren Lebensalters ist auf derartige
Ueberreizungen zurückzuführen. Besonders wichtig ist die Vermeidung der-
selben in der Jugend. In diesem Alter, wo, entsprechend der Wachsthums-
tendenz des Körpers, die Leistung des Verdauungsapparates an sich eine vor-
zügliche zu sein pflegt, wird durch Reizmittel die Nahrungsaufnahme leicht
zu einer übermässigen, das Wachsthum und der Fettansatz des Körpers werden
eine Zeitlang über Gebühr gefördert; es folgt dann aber bald und besonders
häufig in der Zeit der Pubertät, ein Nachlass der vorher überspannten Appa-
rate und damit ist die Grundlage zum Auftreten von neurasthenischen Erschei-
nungen: von Bleichsucht und ähnlichen Erkrankungen gelegt. Neben der Ver-
wendung von Reizmitteln wird vielfach auch die Zufuhr der Eiweisskörper in
der Nahrung einseitig über Gebühr gesteigert, dadurch zwar vorübergehend das
Wachsthum gefördert, weiterhin aber zu einer vorzeitigen Geschlechtsreife
Anlass gegeben, deren schädliche Rückwirkungen auf das Nervensystem und
die weitere Entwicklung des Körpers ja nur allzubekannt sind. Aus diesem
Gesichtspunkte folgert der Rath, in der Nahrung der heranwachsenden Jugend
die leicht verdaulichen Vegetabilien (Brot, Gemüse, Obst) zu begünstigen, da-
neben von Eiweissträgern in erster Linie Milch, welche sehr viel weniger er-
regend wirkt, als Fleisch und Eier, deren Menge darum nur eine massige sein
sollte und die namentlich, nicht den Hauptbestandtheil der Abendmahlzeit bilden
dürfen. Ganz zu vermeiden sind sowohl die alkaloidhaltigen (Thee, Kaffee),
als auch die alkoholischen Reizmittel. Namentlich letztere sollten bei Kindern
nur als Arzneien Verwendung finden. Der in Laienkreisen so viel verbreitete
Glaube, Wein und Bier seien als regelmässige Stärkungsmittel, namentlich
schwacher Kinder geeignet, wird wohl kaum noch von einem denkenden Arzte
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. 39
610 EKNÄHRUNGSTHEKAPIE.
getheilt. Die Statistik des Längenwachstbums und der Gewichtszunahmen hat
gelehrt, dass der Ueberschuss im Körpergewicht wohlhabender und üppig ge-
nährter Kinder um die Zeit der Pubertät und bald nachher verloren geht,
dass sie um diese Zeit vielfach sogar von den Kindern der Armen an Körper-
wachsthum und Gewicht überholt werden.
Kechtzeitiges Maasshalten wird sich also vielfach als bestes Mittel zur
Vermeidung von Ernährungsstörungen erweisen. Wenn aber solche vorliegen,
so ist die Diät in der Weise zu regeln, dass einerseits der Appetit und die
Leistungsfähigkeit des Verdauungsapparates angeregt, andrerseits in möglichst
kleinem Volumen möglichst viel Nahrung zugeführt werde. Die erstere Auf-
gabe erfüllt neben den eigentlich arzneilichen Mitteln und den in diesem
Falle bei vorübergehender Anwendung oft so vortrefflich wirkenden Alkoholicis
namentlich ein reichlicher Eiweissgehalt der Nahrung. Neben den gewöhn-
lichen Speisen treten hier die Nährpräparate, wie Pepton und Älhumosen in
ihre Rechte. Ist auch die Nährwirkung und die Verdaulichkeit derselben unter
gewöhnlichen Verhältnissen nicht grösser als die der zarteren Fleischspeisen
von gleichem Stickstoffgehalt, so wirken sie doch häufig vorzüglich als An-
regungsmittel.
Die zweite Aufgabe, in möglichst kleinem Volumen und unter möglichst
geringer Belästigung des Verdauungsapparates dem Körper Material zuzu-
führen, erfüllen in erster Linie die Fette. Eine hervorragende Stelle weist
ihnen die Erfahrung bei skrophulösen und tuberculösen Erkrankungen, sowie
bei anämischen Zuständen der Kinder zu. Hier verordne man neben frischer
Butter und Eidotter, den Leberthran, das Lipanm, die sogenannte Kraftchokolade.
Wollen wir den Werth dieser diätetischen Mittel richtig würdigen, so müssen
wir uns zweier Gesichtspunkte erinnern, welche für die Beurtheilung der Be-
kömmlichkeit der Fette maassgebend sind, das ist einmal der Schmelzpunkt
derselben, indem nur solche Fette, welche bei Körpertemperatur flüssig sind,
leicht verdaut werden und zweitens ihre Emulgirbarkeit, wie sie im Leber-
thran und den beiden als Ersatz desselben durch von Mering empfohlenen,
sehr zweckmässigen Präparaten, dem Lipanin und der Kraftchokolade, durch
einen Gehalt von 6 — 87o freier Fettsäure bedingt ist. Die abführende und
den Darmcanal reizende Eigenschaft des Fettes scheint durch diese Emul-
girbarkeit aufgehoben zu werden.
Gerade bei den Fetten tritt die Wirkung des Geschmackes auf die
Verdaulichkeit besonders deutlich hervor und es zeigt sich zugleich, wie
sehr derselbe individuell verschieden ist. Leberthran wird von vielen Kindern
gern genommen, und bei ihnen sieht man meist auch, dass er gut bekommt.
Das Letztere ist zuweilen auch da noch der Fall, wo das Präparat mit Wider-
willen genossen wird ; häufig führt es aber hier zu Verdauungsstörungen,
welche sofort weichen, wenn man dieselbe Menge Fett in Form von Lipanin
oder eines anderen, wohlschmeckenden Präparates gibt. In den Speisen kann
man erhebliche Mengen von Fetten zuführen, wenn dieselben in der Küche
derart verarbeitet werden, dass der Geschmack und die unangenehmen durch
Fett erzeugten Empfindungen im Munde ausbleiben. Sowie sich die letzteren
bemerkbar machen, genügt schon eine kleine Menge Fett, um auf dem Wege des
nervösen Pteflexes Verdauungsstörungen zu erregen. Wenn man von der Schwer-
verdaulichkeit einer Substanz spricht, so handelt es sich dabei vielfach um
die Beschwerden, welche durch den Geschmack und eventuell durch geringe
Reizwirkungen auf die Schleimhaut des Magens ausgelöst werden. In der
Form, wie der Begriff' der Schwerverdaulichkeit von Aerzten und Laien ge-
braucht wird, fällt er durchaus nicht mit der wirklichen Schwerverdaulichkeit
der Speisen, d. h. mit dem abnorm langen Aufenthalt derselben in einzelnen
Abschnitten des Verdauungsapparates oder der unvollkommenen Ausnutzung
derselben, d. h. dem Uebergang grosser Mengen in den Koth, zusammen.
ERYSIPELAS. 611
Im Gegentlieil, vielfach werden solche im eigentlichen Sinne schwer verdau-
liche Stoffe, wie z. B. Schwarzbrot, als diätetische Mittel benutzt, weil sie
eine reichlichere Füllung des Dickdarms und damit bequemere Entleerung
des Kothes herbeiführen.
Im Hinblick auf diese grosse Bedeutung der individuell verschiedenen
Einwirkungen der Speisen auf die Sinnesorgane und die Em-
pfindungsnerven der Magenschleimhaut, ist es von grosser Bedeutung
für erfolgreiche Regelung der Diät, dass der Arzt von seinen subjectiven Sym-
pathien und Antipathien gegenüber einzelnen Speisen abstrahiren lerne. Es
liegt sehr nahe, dass Jemand eine Speise, welche ihm Beschwerde macht, als
unverdaulich bezeichnet und umgekehrt. Und doch sind derartige Beschwer-
den vielfach nur eine individuelle Reaction des Nervensystems. Man muss
die persönliche Geschmacksrichtung jedes Individuums berücksichtigen, will
man in Fällen schwieriger Ernährung Erfolge erzielen. Die Erfahrung, dass
es auch gelang, Gewichtszunahmen zu bewirken, wenn man von der Einwirkung
auf die Geschmacksorgane ganz absah, indem man die Kranken mit der
Schlundsonde ernährte, beweist, dass die fördernden Wirkungen anregender Ge-
schmacksempfindungen allenfalls entbehrt werden können, dagegen wird man
stets den nachtheiligen Effect subjectiv unangenehmer Speisen beobachten.
Wenn dauernd die Lust zur Nahrungsaufnahme so gering ist, dass die
Zufuhr hinter dem Bedürfnis zurückbleibt, erweist sich häufig eine vorüber-
gehende Nahrungsentziehung als das beste Stomachicum. Thierversuche haben
gelehrt, dass bei im übrigen der Willkür überlassenen Nahrungsaufnahme
diejenigen Thiere sich besser ernährten, also rascher an Gewicht zunahmen,
welche man zeitweilig auf 1 — 2 Tage hungern liess.
In gewissen Fällen sind es abnorme, subjective Geschmacksempfindungen,
welche die Nahrungsaufnahme erschweren. Hier kann man zuweilen durch
entsprechende Medicamente die Geschmacksempfindungen corrigiren. Spülungen
des Mundes mit aromatischen Substanzen verschiedener Art werden vielfach
benutzt. In neuerer Zeit hat man zur Beseitigung von unangenehm bitteren
oder süssen Geschmacksempfindungen das Infusum von Gymnema silvestre oder
das aus dieser Pflanze hergestellte Acidum gymnemicum zu Gurgelungen ver-
wandt. — Bei längerem Gebrauche dieses Mittels, wie er z. B. bei Diabetikern,
welchen durch beständigen süssen Geschmack der Appetit genommen ist, vor-
kommen kann, ist vor reichlichem Verschlucken zu warnen, da die Substanz
sich in Thierversuchen als giftig erwiesen hat. n. zuntz.
ErysipeiaS. Rose. Rothlauf. Unter Erysipel versteht man eine acute,
contagiöse, coccogene Infectionskrankheit, welche in einer lebhaften, durch
Form, Ausbreitung und Verlauf charakterisirten, vom Sitze der Infection aus-
gehenden Erkrankung der Haut, resp. der Schleimhaut und mehr oder weniger
heftigen Allgemeinerscheinungen sich äussert. Die Rose gehörte früher zu
den häufigsten, epidemisch und besonders in Spitälern auch endemisch auf-
tretenden Krankheiten, während sie jetzt viel seltener und auch nur mehr
sporadisch vorkommt. Es ist dieser Rückgang in der Häufigkeit erklärlich,
wenn man in Betracht zieht, dass das Erysipel in die Reihe der Wundinfec-
tionskrankheiten zu stellen ist, deren Zahl durch die Fortschritte der (3pera-
tions- und Verbandmethoden, wie durch die hygienische Vervollkommnung
der Heilanstalten erheblich reducirt ist. Allerdings ist diese Reduction
für das hier in Rede stehende Leiden nicht in dem Maasse erfolgt, wie für
die anderen gefürchteten Wundkrankheiten {Eospitalbrand, Eiterßeher), und
das erklärt sich einerseits aus der grossen Resistenz der noch zu besprechen-
den pathogenen Mikroorganismen des Erysipels gegen die üblichen Antisep-
tica, andererseits wird dieses verständlich durch den Umstand, dass nicht
sowohl die grossen Wunden und Verletzungen den Ausgangspunkt der Rose
39*
612 ERYSIPELAS.
ZU bilden pflegen, als vielmelir die kleinen, unscheinbaren, wenig beachteten
oder gar ganz übersehenen Läsionen, wie ein Kratzeffect, eine Abhebung des
Epithels durch keratolytische Processe, ein linearer Einriss, ein Nadelstich
u. Ae. Eine Verletzung aber — und damit nehmen wir Stellung zu
einer vor der bakteriologischen Aera viel umstrittenen Frage — muss mit
allen Umständen als Vermittlerin der Eose vorhanden sein, mag sie auch
noch so minimal erscheinen. Dieses Gesetz müssen wir festhalten denen
gegenüber, welche bei den zahlreichen Fällen, in welchen zu einer Wunde
Erysipel sich hinzugesellte, von einer Wundrose sprachen, für die übrigen aber,
in welchen sie eine Läsion vermissten, eine Entstehung von innen heraus an-
nahmen. Sie sprachen dann von Anomalien der Blutbeschaffenheit, einer
., Schärfe" des Blutes, oder zogen gar den so oft als Nothnagel benutzten
Begriff „rheumatisch" zur Erklärung heran. Man geht wohl nicht zu weit,
wenn man annimmt, dass die Anhänger der letzteren Ansicht auf dem Aus-
sterbeetat stehen. — Es wäre nun noch die Möglichkeit zu erörtern, dass
die Mikroorganismen des Erysipels auf dem Blutwege in die Haut, resp. Schleim-
haut, wo sie als Urheber der erysipelatösen Entzündung gefunden werden,
gelangen. Man kann dieselbe nicht ganz in Abrede stellen, sie ist aber doch
sehr zweifelhaft und höchstens für secundäre Herde, wie für primäre zm' Er-
klärung heranzuziehen. Im ganzen dürfte der Satz ,,jede Rose ist eine Wund-
rose'-' kaum angefochten werden. In jedem Falle muss auf die Eingangs-
pforte des Virus gefahndet werden, und meistens wird dieses Bemühen
kein vergebliches sein, zumal wenn man nicht vergisst, auch bei Hauterysipel
die etwa benachbarten Schleimhäute genau zu durchforschen. In den wenigen
Fällen aber, in denen doch das Resultat des Suchens ein vergebliches ist,
kann man wohl, ohne fehl zu gehen, annehmen, dass die ursprüngliche Läsion
ohne deutlich erkennbare Spuren zu hinterlassen, bereits geheilt war, als die
Wirkung der durch dieselbe eingewanderten Infectionsträger zu Tage trat.
Für den inneren Mediciner — und dessen Standpunkt haben wir an dieser
Stelle vornehmlich zu vertreten — sind gerade diejenigen Fälle, in denen gar
keine oder nur minimale Eingangspforten gefunden worden, von jeher von
l)esonderem Interesse gewesen, während die sich zu grösseren Wunden hinzu-
gesellenden Erysipele mehr Domäne des Chirurgen und Dermatologen bilden.
Das Erysipel kann in j edem Lebensalter auftreten. Immunität gegen
dasselbe gibt es nicht und wird auch nicht durch Ueberstehen der Krank-
heit erworben. Im Gegentheil wird durch die einmalige Erkrankung eine
Disposition zu Rückfällen geschaffen. Es ist diese Thatsache bei einer echten
Infectionskrankheit nicht gerade gewöhnlich, sie steht aber durchaus nicht ver-
einzelt da.
Eine besondere Disposition für Erysipel wird den blonden Personen zu-
geschrieben; es wäre eine solche ja leicht zu erklären, da blonde Personen eine
zartere, von einer dünneren Hornschicht überzogene Haut haben, die in Folge
dessen auch empfindlicher, leichter lädirbar ist und den Mikroorganismen
öfter Gelegenheit bietet sich einzuschleichen.
Ein gehäuftes Auftreten der Rose wird, abgesehen von den durch directe
Uebertragung vermittelten Endemien, im Frühjahr und Herbst zuweilen be-
obachtet.
Sehr gerne combinirt sich das Erysipel mit anderen Krankheiten
infectiöser und nicht infectiöser Natur, im Verlaufe derselben sich als un-
willkommener Gast hinzugesellend. Natürlich werden wir auch hier eine vor-
handene Läsion der Haut als Vermittlerin in Anspruch nehmen müssen. So
sehen wir beispielsweise im Verlaufe eines langdauernden typhösen Fiebers
nicht gar selten ein echtes Erysipel auftreten, und zwar gewöhnlich ausgehend
von durch Decubitus entstandenen Defecten der Haut, also localisirt am Kreuz,
an den Malleolen etc. Ich sage ausdrücklich „echtes" Erysipel, weil es auch
ERYSIPELAS. 613
manche erysipelatoide Hautaffectionen gibt, die im Laufe von Infectionskrank-
lieiten auftreten und mit Erysipel verwechselt werden können.
Krankheitsbild: Bei der Besprechung der Symptomatologie gehen wir
zunächst aus von einem sich auf der Körperoberfläche, der Hautdecke abspie-
lenden Erysipel. Ohne nennenswerthe Prodrome beginnt dasselbe stets plötzlich
mit mehr oder weniger heftigem Schüttelfrost und entsprechender Temperatur-
erhöhung, allgemeiner Abgeschlagenheit, Müdigkeit, Verdauungsstörungen, zu-
weilen Erbrechen, Kopfschmerzen, Beschleunigung der Pulsfrequenz. Die Höhe
der Temperatur ist gewöhnlich keine zu übermässige (38"5 — 39-5). Gleichzeitig
fast bemerkt man an irgend einer Hautstelle, dem Ausgangspunkte des Leidens,
eine schnell zunehmende Röthung und Schwellung. Die Haut fühlt sich heiss
an, ist gespannt, spontan, noch mehr aber auf Druck empfindlich. Diese
Empfindlichkeit äussert sich mehr in einem Gefühl von unangenehmer Span-
nung und Brennen, als in eigentlichem Schmerz; Jucken ist nicht vorhanden.
Die Röthe, die meistens etwas ins gelbliche spielt und unter Hinterlassung
einer gelblichen Färbung wegdrückbar ist, schneidet — und das ist charak-
teristisch für die beginnende und im Stadium floritionis befindliche Rose —
scharf mit einem wallartig erhobenen Rande ab. Der Grad der Schwellung
ist natürlich ausserordentlich verschieden, nicht sowohl je nach der Heftig-
keit der Entzündung, als je nach der Straffheit des subcutanen Bindegewebes
an der betreffenden Stelle, sie ist dem Grade der Fixation der Haut umge-
kehrt proportional. So sind beispielsweise Oberlippe, Augenlider, Hand- und
Fussrücken oft gradezu monströs geschwollen.
Die Hautoberfläche ist in der Regel glatt und glänzend, nur selten
kommt es zur Bildung von Blasen {Erysipelas vesiculosum s. hullosum). Es
ist dieses aber durchaus nicht etwa eine besondere Art von Erysipel, vielmehr
bedeutet die Blasenbildung nur, dass die entzündliche Exsudation eine beson-
ders heftige ist. Festhalten muss man aber, dass die Blasen bei der Rose
meistens relativ gross und unregelmässig zerstreut sind; dicht gesäte kleinere
Bläschen, wie beim Eczema acutum vesiculosum findet man nicht. Nur selten,
und dann gewöhnlich durch Application differenter Medicamente bedingt,
kommt es zu einer Anhäufung einer grösseren Menge von Leucocyten in den
Blasen und damit zu einer Trübung des Inhalts (Erysipelas pustulosum).
Trocknen die Blasen ein, dann entstehen natürlich Krusten auf der des Epi-
thels beraubten Haut {Erysipelas crustosum).
Von der erysipelatösen Hautstelle ausgehend sieht man zuweilen rothe,
schmale Stränge ausgehen als Ausdruck einer Lymphangoitis. Regelmässig
angeschwollen sind die regionären, dem Sitze der Hautröthe entsprechenden
Lymphdrüsen.
Das weitere Fortschreiten der erysipelatösen Entzündung geschieht fast
stets per continuitatem und zwar nicht in gleichmässigem Tempo, sondern
schubweise, indem die Röthung und Schwellung, gewöhnlich unter Steigerung
der Temperatur und Zunahme der Störungen des Allgemeinbefinden, sich in
zackigen Ausläufen nach einer oder auch nach mehreren, resp. allen Richtungen
fortschiebt, und zwar besonders da, wo der Rand am schärfsten ausgeprägt
war. So kann in wenigen Tagen der Process sich auf grosse Hautabschnitte
erstrecken. — In den meisten Fällen pflegt der Process so einige Tage fort-
zuschreiten und am 3. — 6. Tage seinen Höhepunkt zu erreichen, um dann relativ
schnell zurückzugehen. Das erste locale Zeichen ist das Erblassen und Ab-
schwellen der Randpartien, ein Verschwinden der scharfen Grenze, so dass
die erysipelatöse Fläche mehr diffus in die Umgebung übergeht. Ist dieses
nicht im ganzen Umfange der erkrankten Hautstelle der Fall, dann kann man
mit Sicherheit annehmen, dass an der Seite, an der der Rand verwaschen
erscheint, der Process zum Stillstand gekommen ist, während man an den
scharfen Grenzen ein Weiterschreiten befürchten muss. Sind Röthung und
614 ERYSIPELAS.
Schwellung gescliwunden, dann erfolgt unter Abschuppung schnell eine resti-
tutio ad integrum, so dass sich das Erysipel im ganzen in 8 — 10 Tagen ab-
spielt.
Die Allgemeinerscheinungen beim Erysipel hängen in ihrer Heftig-
keit vornehmlich von zwei Factoren ab, erstens von der Heftigkeit der Infection,
zweitens von der Ausdehnung des Processes. Meistens gehen allerdings beim
Erysipel Umfang der localen Erkrankung und Grad der Allgemein-Infection
einander parallel. Der Sitz des Erysipels ist auch nicht ohne Bedeutung ;
besonders pflegen die allgemeinen Symptome dann einen höheren Grad zu
erreichen, wenn in Yolge strafferer Fixation der ergriffenen Hautstelle die
Spannung eine besonders starke ist.
Der, wie erwähnt, das Erysipel meist einleitende Schüttelfrost fehlt eigent-
lich nur dann zuweilen, wenn dasselbe schon aus anderen Ursachen, etwa in
Folge eitriger Processe oder eines Typhus, fiebernde Kranke ergreift. Die
Temperatur während des Schüttelfrostes pflegt keine übermässig hohe zu sein,
der sonst demselben folgende Schweiss zu fehlen. In den ersten Tagen kann
dann die Temperatur noch bis 40° und 41° in die Höhe klimmen, behält aber
fast stets einen remittirenden Typus mit morgendlichem Abfall und abendlicher
Steigerung bei. Einem Typus inversus, bestehend in abendlichem Abfall und
morgendlicher Steigerung, begegnen wir nur äusserst selten. Mit dem Rück-
gang des örtlichen Processes erfolgt dann auch ein Abfall der Temperatur
relativ schnell, aber nicht kritisch. Ausnahmsweise nur geht dem Temperatur-
abfall eine hochgradige Erregung voraus {Perturbatio critica), die bei geschwäch-
ten Individuen auch zu Collaps führen kann. — Der übliche Verlauf der
Temperaturcurve kann nun aber vielfach in Folge einer mehr oder weniger
abweichenden Gestaltung des Processes modificirt werden. Besonders sind
plötzliche, starke Steigerungen der erhöhten oder schon normal gewordenen
Temperatur, oft mit neuem Schüttelfrost, nichts ungewöhnliches ; sie sind dann
stets Begleiter eines neuen, schubweisen Fortschreitens der örtlichen Erschei-
nungen.
Die Pulsfrequenz entspricht meistens im Ganzen und Grossen der
Höhe des Fiebers, kann aber auch bei aus anderen Gründen heruntergekommenen
Personen trotz massiger Temperaturerhöhung eine sehr hohe sein. Eine solche
Incongruenz zwischen Puls und Temperatur zeigt stets eine zur Vorsicht mah-
nende Schwäche des Herzens an. Darauf, dass die Pulsfrequenz beim Hin-
zutreten einer Meningitis auch umgekehrt eine Verlangsamung zeigen kann,
sei hier schon hingewiesen.
Das Allgemeinbefinden der Patienten ist meistens sehr alterirt.
Der Appetit liegt darnieder, quälender Durst plagt den Kranken, Erbrechen
kann eintreten, der Stuhl ist angehalten. Wie bei fast allen Infectionskrank-
heiten ist auch beim Erysipel die Beobachtung der Zunge von nicht geringer
Bedeutung. Es kommt dabei aber nicht so sehr darauf an, ob sie mehr oder
weniger belegt ist, als darauf, ob sie sich feucht oder trocken anfühlt. Der
Grad der Trockenheit ist meist der Heftigkeit der Erkrankung, der Schwere
der Infection direct proportional. Eine sehr trockene Zunge ist stets ein sehr
unwillkommenes Zeichen. — Heftige Kopfschmerzen sind auch dann, wenn
die Kopfhaut nicht ergriffen ist, oft vorhanden. Das Sensorium ist gewöhnlich
frei, kann aber auch benommen sein; selbst Delirien können auftreten. Sopor
und Delirien werden stets den Verdacht einer Meningitis erregen, genügen
aber an sich nicht zur Begründung der Diagnose dieser Complication.
Dieses soeben entworfene Krankheitsbild ist etwas schematisch gehalten;
wir kommen jetzt dazu die in verschiedenen Richtungen, sowohl ad bonam
wie ad malam partem, möglichen Abweichungen zu besprechen: Abnorm
leichte, abortive Fälle sind sehr häufig, zumal bei Patienten, die bereits häufig-
vom Erysipel heimgesucht waren. Röthung und Schwellung, Schmerzhaftigkeit
ERYSIPELAS. 615.
sind dann nicht bedeutend, bleiben örtlich beschränkt, bestehen nur 1 — 3 Tage
um dann schnell zu schwinden, das Fieber ist gering, weicht bald oder wird
ganz vermisst. — Im Gegensatz zu dem milden Verlauf dieser Fälle kommt
auch eine ernstere Gestaltung des Leidens durchaus nicht selten vor; sie
kann sich in der verschiedensten Weise äussern: Erstens ist eine abnorm
lange Dauer des Processes nicht selten, hervorgerufen durch stetiges Fort-
wandern der Rose (Erysijjelas migrans s. amhulans), indem der Process, meistens
nach einer Pachtung hin, stets per continuitatem fortschreitet und so immer
weitere Körperabschnitte, ja nach und nach die ganze Körperoberfläche er-
greift. Dieses Fortwandern geschieht gewöhnlich schubweise unter immer
neuer, oft mit Schüttelfrost einhergehender Steigerung der Temperatur und
entsprechender Zunahme der Störung des Allgemeinbefindens. War die Tem-
peratur beim Eintritt des neuen Schubes schon normal geworden, dann kann
die Curve sogar einen, wenn auch unregelmässigen, intermittirenden, Typus
erhalten. Man sieht in solchen Fällen dann alle Stadien des Processes von
der höchstgi'adigen Dermatitis bis zur Desquamation neben einander. — Viel,
viel seltener als dieses Fortschreiten per continuitatem ist die discontinuirliche
Ausbreitung des Processes, indem Körperstellen von Erysipel befallen werden,
die vom primären Herd durch grössere Brücken gesunden Gewebes getrennt
sind oder gar weit entfernt liegen; so kann beispielsweise zum Gesichtsery-
sipel sich unvermittelt ein Erysipel des Unterschenkels hinzugesellen, und
umgekehrt (Erysipelas erraticum).
Es ist leicht begreiflich, dass alle derartigen, prolongirten Fälle ernster
zu nehmen sind, da die lange Dauer des Processes, das fortbestehende Fieber,
das Darniederliegen der Ernährung die Kräfte des Patienten in hohem Maasse
consumiren, so dass derselbe zu Grunde geht, wenn er nicht über eine beson-
ders widerstandsfähige Constitution verfügt. Dazu kommt, dass bei einer sehr
langen Dauer der Krankheit viel eher die Möglichkeit des Eintretens der
noch zu erwähnenden Complicationen vorhanden ist.
Eine weitere Steigerung der Gefahr droht dem Erysipelatösen durch eine
abnorme Gestaltung des örtlichen Processes, die sich in verschiedener Weise
kundgeben kann.
Die schlimmste Eventualität ist, dass die ergriffenen Theile gangränös
werden {Erysipelas gangraenosum), ein sehr gefürchtetes Ereignis. Einerseits
sind dadurch alle Gefahren der Sepsis heraufbeschworen, andererseits kann
es zu ausgedehnten Zerstörungen des Gewebes kommen, welche grosse Defecte
setzen, furchtbare Entstellungen bedingen, die zu ihrer Ausgleichung alle
Künste der Plastik herausfordern. Im Ganzen ist dieser Ausgang in Gangrän
zum Glück nicht eben häufig; besonders disponirt zur Gangränescenz scheinen
die Scrotalhaut und die Lidhaut, ohne dass deshalb gerade andere Hautstellen
gegen dieselbe immun wären. Die Mortification des Gewebes gibt sich natürlich
in gewohnter Weise kund; die Hautstelle wird kühl, grauschwärzlich, empfin-
dungslos; später erfolgt Demarcation und Abstossung durch Eiterung.
Eine andere Eventualität ist der Uebergang der erysipelatösen Ent-
zündung in die phlegmonöse; es kommt zur Vereiterung des Bindegewebes
mit allen ihren Folgen für Muskeln und Sehnen wie für das Allgemeinbefinden.
Ob es sich dabei um eine Secundärinfection handelt, oder ob eine ätiologische
Einheit des erysipelatösen und phlegmonösen Processes besteht, darüber wiU
ich mich nicht genauer aussprechen; es sei nur die Thatsache erwähnt.
Soweit die Steigerung der Gefahr durch Vorgänge localer Natui'! Eine
andere droht durch abnorm bösen Verlauf des Fiebers, indem eine hyper-
py retische Steigerung desselben eintritt. Dabei wird die Pulsfrequenz
sehr gesteigert, die Pulswelle schwach, das Sensorium sehr benommen, Delirien
fehlen nicht, und unter den Erscheinungen der Herzlähmung gehen die Kranken
zu Grunde. In diesen Fällen besteht keine Congruenz zwischen Fieber und
616 ERYSIPEL AS.
Localerkrankimg; man muss eine abnorm hohe Virulenz der Infectionsträger
annehmen. — Ebenso selten wie die Hyperpyrese, wenn nicht noch seltener,
ist die Ausbildung eines Status typhosus im Anschluss an das Erysipel.
Der örtliche Process ist im Rückgang, das remittirende Fieber bleibt aber
bestehen, die Functionen des Nervensystems liegen sehr darnieder, erhebliche
Verdauungsstörungen, Erbrechen und Durchfälle bringen den Kranken her-
unter und consumiren seine Kräfte.
Kommen wir nun zu den eigentlichen Complicationen des Ery-
sipels, so sehen wir hier von der Schilderung der Krankheiten ab, welche
sich aus allen fieberhaften Leiden infectiöser oder nicht infectiöser Natur hin-
zugesellen können, so von der hypostatischen Pneumonie, dem Decubitus, ab.
Erwähnt werden müssen aber die mehr charakteristischen Complicationen, das
sind die Entzündungen der serösen Häute, die alle im Verlaufe eines Erysipels
erkranken können. So hat man Pleuritis, Pericarditis, Gelenkentzündung bei
Erysipel gesehen, meistens katarrhalischer, zuweilen aber eitriger Natur. Am
gefürchtetsten ist die Meningitis, die wir noch bei der Besprechung des Gesichts-
erysipels erörtern werden. Die Entstehungsweise dieser Entzündungen ist
nicht immer dieselbe. In vielen Fällen handelt es sich um eine directe Fort-
pflanzung von der betreffenden, über der entsprechenden serösen Höhle ge-
legenen Hautstelle aus, in anderen aber muss man die Entzündung der serösen
Haut als eine Metastase, entstanden durch Verschleppung des Virus, resp,
seiner Producte auffassen.
Hat ein Patient sein Erysipel glücklich überstanden, ist er den etwaigen
Complicationen ohne Schädigung entgangen, so hat er noch mit einer sehr
unwillkommenen Möglichkeit zu rechnen, das ist die Möglichkeit der Re-
cidive, da das Erysipel, wie bereits erwähnt, statt Immunität eine gesteigerte
Disposition zurücklässt, ähnlich wie der acute Gelenkrheumatismus. Es kann
sogar das Erysipel habituell werden {Erysipelas habitualis). Allerdings sind
die folgenden Anfälle meist nicht so heftig wie der erste, localer Process und
Allgemein ersch einungen halten sich in massigen Grenzen: dennoch ist die
Neigung zu Recidiven nicht von unerheblicher Bedeutung, da die wiederholte
Erkrankung einen chronischen Reizzustand zurücklässt, der zur Hypertrophie
des Gewebes führt. Ist diese sehr ausgesprochen, so bezeichnet man sie als
Elephantiasis. Wir sehen diesen Folgezustand relativ häufig am Unter-
schenkel, am Gesicht, am Scrotum, an den Labien.
Als Ergänzung dieser mehr allgemein gehaltenen Ausführungen bedarf
es noch einer Besprechung der Modificationen, welche sich durch die ver-
schiedene Localisirung des Erysipelas ergeben ; jeder Körpertheil kann ja
Sitz desselben werden.
Das Gesicht gehört zweifellos zu den am häufigsten von Erysipel be-
fallenen Theilen der Körperoberfläche, und das ist leicht erklärlich, wenn wir
uns des früher über die Disposition, die für die Einwanderung der Infections-
träger durch kleine Läsionen geschaffen wird, Gesagten erinnern. Gerade das
stets unbedeckte Gesicht ist ja vielfach Schädlichkeiten ausgesetzt und dabei
von einer zarten, leicht verletzlichen Haut überzogen; zudem ist dasselbe noch
besonders oft von Hautaffectionen ergriffen, welche Epitheldefecte setzen. Da
sind zunächst die Eczeme, welche durch Zerstörung der Hornschicht, durch
Hervorrufung linearer Hautverletzungen (Rhagaden) an den Schleimhautüber-
gängen, dem Erysipel die Wege ebnen. Besonders sind die Eczeme im Nasen-
eingang und an der Oberlippe, gewöhnlich hervorgerufen durch das reizende,
erodirende Secret bei bestehender Rhinitis, als disponirende Momente hervor-
zuheben; gerade der Naseneingang ist ein häufiger Ausgangspunkt der Gesichts-
rosen. Von Bedeutung ist auch in demselben Sinne der Herpes labialis; wie
oft wird die Blasendecke durch den kratzenden Finger unnützer Weise entfernt,
und so ein Locus minoris resistentiae geschaffen, den die Mikroorganismen des
ERYSIPELAS. 617
Erysipels sich zu Nutze machen! Denken wir ferner an die häufige Zerstörung
von Acneknoten, an die Sycosis, die Impetigo, den besonders beachtenswerthen
Lupus vulgaris, die Kratzeffecte und Verletzungen durch Rasiermesser, dann
werden wir die Häufigkeit der Localisation des Erysipels im Gesichte ver-
stehen. Finden wir kein veranlassendes Moment auf der Gesichtshaut, dann
haben wir auf die benachbarten Schleimhäute unser Augenmerk zu richten.
Dieselben können ja einerseits durch die erodirende Wirkung ihrer Secrete zu
Eingangspforten des Erysipels führen, andererseits können sie aber auch selbst
der primäre Sitz dessellDen gewesen sein, das dann durch die Körperöffnungen
auf die Haut übergegangen ist. Wo wir also eine Rhinitis, eine Ozäna, eine
Parulis, eine Stomatitis, eine Dacryocystitis, eine Otitis etc. finden, werden
wir ihre Beziehungen zu einem Gesichtserysipel in Erwägung zu ziehen
haben.
Die localen Erscheinungen bei einer Gesichtsrose sind besonders ins Auge
fallend, wenn Oberlippe, Augenlider, Ohren ergriffen sind, da an diesen Stellen
es leicht zu besonders starken entzündlichen Oedemen und dadurch bedingten,
oft monströsen Schwellungen kommt. Das Ohr schwillt zu einer unförmlichen
Masse an, in der die normalen Vertiefungen sich wenig markiren, die Oberlippe
bekommt eine rüsselförmige Gestalt, die Augenlider bilden dicke Polster, so
dass an ein Oeffnen der Augen nicht zu denken ist. — Die Weiterverbreitung
der Gesichtsrose erfolgt gewöhnlich nach der Kopfhaut, während die vordere
Halsfläche meistens frei bleibt, was mit der Anordnung der Bindegewebsfasern, der
Spaltungsrichtung der Haut in Zusammenhang gebracht wird. Wo die Gesichts-
rose auf den Rumpf übergeht, was nicht gerade häufig geschieht, schlägt sie den
Weg neben den Nacken ein, oder, was allerdings sehr selten ist, sie springt
auf mehr oder weniger entfernte Theile discontinuirlich über. — Wie bereits
oben erwähnt, bilden die Augenlider sowohl für Gangrän wie für Phlegmone
einen günstigen Boden. Erstere bedingt natürlich leicht Ectropium mit all'
seinen Folgen für den Bulbus. Letzterem drohen aber noch in mancher an-
deren Beziehung Gefahren beim Erysipel. So ist erstens Zerstörung der
Hornhaut durch Keratitis beobachtet; sodann kommen Orbitalphlegmonen bei
Gesichtsrose — vereinzelt auch durch Metastase bei an anderen Körperstellen
localisirtem Erysipel — vor, welche zum Verlust der Sehkraft führen, und zwar
auf doppeltem Wege: entweder kommt es zur Panophthalmitis mit Phthisis bulhi
oder zur Atrophie des Sehnerven während seines Verlaufes in der phlegmonösen
Orbita nach retrobulbärer Neuritis. — Dass das habituelle Erysipel sich gerne
im Gesichte localisirt, ist bereits erwähnt. Dasselbe erhält dadurch ein ge-
dunsenes, ausdrucksloses Aussehen.
Die Kopfhaut erkrankt auch häufig an Erysipel, meistens allerdings
nicht primär, sondern secundär durch Fortpflanzung vom Gesichte oder auch
vom Rumpfe. Die Röthung und scharfe Begrenzung sind an derselben meistens
weniger scharf ausgeprägt. Die starke Spannung der straff angehefteten
Galea bewirkt natürlich ganz besonders lebhafte Beschwerden; heftige Kopf-
schmerzen sind regelmässig vorhanden, Delirien und Erbrechen sehr oft. Ge-
fürchtet aber ist das Kopferysipel hauptsächlich wegen der Fortpflanzung des
Processes auf die Meningen, welche die zahlreichen feinen und feinsten Ca-
nälchen des Schädels vermitteln. Die Meningitis hat eine sehr ernste, ja fast
letale Bedeutung; ihre Symptome weichen in keiner Weise von den aus anderen
Gründen entstehenden Hirnhautentzündungen ab. Kopfschmerzen, Benommen-
heit, Delirien, Erbrechen, eingezogenes Abdomen, Nackenstarre, Convulsionen,
Pulsverlangsamung sind die classischen Symptome. Da die erstgenannten
Erscheinungen auch, wie erwähnt, ohne Meningitis vorkommen, so muss man
mit der Diagnose der letzteren sehr vorsichtig sein, um nicht ohne Noth,
Angst und Schrecken zu verbreiten. — Nach Abheilung eines Kopferijsipelas
begegnet man fast regelmässig einem Haarausfall im Gebiete des Erkranlden;
618 ERYSIPELAS.
da aber die Scliädigimg der Haarwurzel keine dauernde ist, ist diese Alopecie
zum Glücke auch nur vorübergehender Natur. — An den Extremitäten
findet man das Erysipel nicht selten; sie bieten hier wenig Eigenthümliches.
Veranlassung zu demselben geben vor allem neben Hautläsionen, so z. B.
Nadelstichen, Kratzeffecten, auch zahlreiche Hautleiden, von denen erstens
der Lupus vulgaris, zv;eitens die Stauungsdermatosen des Unterschenkels her-
vorgehoben zu werden verdienen. Letztere, varicöse Eczeme, Ulcera cru-
ris, sind nicht selten die Urheber des habituellen Erysipels am Unter-
schenkel, welches hinwiederum eine Elephantiasis zur Folge hat. Die mon-
strösen Verdickungen des Unterschenkels, welche sogar die Abtragung des-
selben indiciren können, sind in unseren Himmelsgegenden fast stets ein
Product der Addition des habituellen Erysipels zu der durch Varicen bedingten
Stauung.
Am Rumpfe findet man das Erysipel primär nicht gerade sehr häufig.
Als nicht seltene Ausgangspunkte seien hier erwähnt die Rhagaden der Ma-
milla bei stillenden Frauen und der Decubitus am Kreuz.
An den Genitalien tritt bei beiden Geschlechtern Erysipel nicht selten
auf. Das puerperale Erysipel lasse ich hier unerörtert; das Erysipel des
Scrotum sei wegen der besonderen Neigung zu Gangrän hervorgehoben.
Einer gesonderten, wenn auch kurzen Besprechung müssen wir das iso-
lirte Erysipel der sichtbaren Schleimhäute unterziehen, welchem man
besonders in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit zugewandt hat, während
früher diese Form der Schleimhautentzündung mit allen möglichen Bezeich-
nungen belegt wurde. Ich denke in erster Reihe an das Erysipel des
Larynx und Pharynx, das durchaus nicht allzu selten zu sein scheint. Dass
dieser Sitz im höchsten Maasse das Leben gefährdet, ist ja leicht verständlich,
wenn man bedenkt, um welch' enge und für die Athmung wichtige Canäle es
sich handelt, und wie leicht die heftige erysipelatöse Entzündung und Exsu-
dation stenosirende Schwellung und damit höchste Athemnoth bewirken kann.
Die localen Erscheinungen an der Schleimhaut sind nicht gerade charakte-
ristisch, da es sich ja nur um graduelle Unterschiede gegenüber anderen
Schleimhautentzündungen handelt. Was den Process kennzeichnet, ist neben
der auffallenden Intensität der örtlichen Anomalien und neben den Allgemein-
erscheinungen vor allem der Umstand, dass es relativ oft secundär zu erysi-
pelatösen Entzündungen der Haut kommt, die dann erst die Aetiologie klar-
legen. Dieses Hauterysipel kann sich nun secundär entweder von den
Körperöffnungen — Mund, Nase — aus per continuitatem als directe Fort-
setzung entwickeln oder discontinuirlich an irgend einer Körperstelle ent-
stehen. — Jedenfalls ist das Erysipel des Pharynx und Larynx eine sehr
ernste, zur grössten Vorsicht mahnende Erkrankung, die meist tödtlich endet.
Aetiologie: Die zu Erysipel disponirenden Momente sind im obigen
wiederholt eingehend besprochen. Der eigentlich pathogene Factor sind die
Fehleisen'' sehen Erysipelascoccen, entdeckt 1881. Man findet dieselben in grosser
Menge in den entzündeten Theilen und, was für die Therapie nicht unwichtig
ist, noch 2 — 3 cm über die makroskopisch kranken Partien hinaus; sie sind
fast ausschliesslich in den Lymphwegen gelagert. Im Blute sie zu finden
ist bisher nicht gelungen? Sie gehören zu den kettenbildenden Coccen
(Streptococcen) und lassen sich auf den üblichen Nährböden leicht züchten.
Besonders gut wachsen sie im Brutschrank auf Blutserum, weisse, fest haftende
Rasen bildend. Durch Impfung mit den Reinculturen kann man bei Thieren
und Menschen das Bild des Erysipel erzeugen.
Ob die Coccen wirklich nur für das Erysipel specifisch sind, ist noch
Gegenstand der Controverse, da manche Autoren sie von den Urhebern phleg-
monöser Entzündungen nicht getrennt wissen wollen und nur durch Ver-
schiedenheit des Nährbodens, d. h. die verschiedene Reaction des Individuums,.
ERYSIPELAS. 619
oder die Art der Verimpfimg die verschiedenen Kranklieitsbilder erklären.
Es scheint fast, als ob die Vertheidiger dieser Ansicht Recht behalten, jedoch
ist die Frage noch unentschieden und kann auch hier nicht eingehender er-
örtert werden.
Diagnose: Nicht immer ist die Erkennung des Erysipels leicht, besonders
dann nicht, wenn dasselbe milde auftritt. Gerade diese Fälle zu erkennen, ist
aber mit Rücksicht auf die Contagiosität besonders wichtig. Als Anhalte-
punkte muss man festhalten: 1. dass es sich stets um eine plötzlich einsetzende,
fieberhafte Erkrankung liandelt, 2. dass die ergriffenen Theile geröthet, ge-
schwollen, scharf begrenzt und schmerzhaft sind, mehr brennen als jucken,
3. dass die Hautoberfläche glatt erscheint; wo es zur Blasenbildung kommt,
handelt es sich um grössere, ungleichmässig vertheilte Blasen. Man muss das
Erysipel zunächst abgrenzen von Erythemen, die Röthung ohne Entzündung,
ohne scharfe, wallartige Umrandung, ohne folgende Abschuppung und ohne
Allgemeinerscheinungen bewirken. Das acute Eczem zeigt auch nicht einen
so scharfen, wallartigen Rand, ruft nässende Stellen, Papeln oder Blasen hervor.
Letztere, Papeln und Blasen, sind oft so klein, dass man, um sie zu erkennen,
die Haut bei seitlicher Beleuchtung durchmustern muss; dann sieht man sie
als minimale, dicht gesäte, miliare Erhabenheiten. Das acute Eczem kann
auch mit Fieber einsetzen, jedoch ist dasselbe stets unbedeutend, bewirkt keine
nennenswerthen Störungen des Allgemeinbefindens und schwindet schnell. —
Die Ueberwindung der Schwierigkeiten, ein primäres Erysipel der Schleimhaut
als solches zu erkennen, ergibt sich aus dem oben Gesagten.
Prognose: Die Voraussage des Ausganges des Erysipels richtet sich
zunächst nach der Resistenzfälligkeit und der Constitution des Patienten. Be-
sonders Personen, die durch andere fieberhafte Krankheiten, wie Typhus,
sehr geschwächt sind, kommen durch ein accidentelles Erysipel in die grösste
Gefahr. Weiter ist die Heftigkeit der Infection, die Höhe des Fiebers, der
Grad der Alteration des Nervensystems, die Kraft und Frequenz des Pulses
in Betracht zu ziehen. Sehr hohes Fieber, besonders wenn dasselbe nur geringe
Remissionen zeigt, kleiner frequenter Puls, Delirien, Benommenheit sind un-
günstige Momente. Nicht von so grosser Bedeutung ist die locale Ausdehnung
des Processes; vielleicht von grösserer der Sitz desselben. Besonders ist die
Localisation an der Kopfhaut ernst zu nehmen, da das Damoklesschwert der
Meningitis über dem Haupte des Erkrankten schwebt. Vorsicht erheischt der
Sitz an den Augenlidern und an der Scrotalhaut mit Rücksicht auf etwaige
Gangrän. — Die Prognose wird natürlich ernster, wenn das Erysipel Neigung
zum Wandern zeigt und sich womöglich wochenlang hinzieht.
Für die Prognose der Dauer des Leidens ist einerseits die Temperatur
zu beachten von Wichtigkeit; starke Remissionen bedeuten ein bevorstehendes
Erlöschen des Processes. Andererseits gibt die Betrachtung des Randes gute
Anhaltspunkte; wird derselbe im ganzen Umfange des Leidens verwaschen,
dann kann man einen baldigen Rückgang als wahrscheinlich hinstellen, schneidet
derselbe aber auch nur an einem Theil wallartig, scharf ab, dann muss man
ein Fortschreiten an dieser Stelle befürchten. — Wenn manche dem Erysipelas
buUosura eine besonders ernste Bedeutung beilegen, so ist das ja insofern
richtig, als die Blasenbildung auf eine besonders heftige locale Entzündung
deutet; jedoch ist auf den Grad der Heftigkeit des localen Processes nicht
ein zu grosser Werth zu legen. — Dass Phlegmone und Gangrän die Prognose
ernster gestalten, dass die etwaigen Complicationen — vor allem die Menin-
gitis — je nach ihrer Bedeutung berücksichtigt werden müssen, bedarf wohl
kaum der besonderen Betonung. Sehr bedenklich ist stets das Erysipel des
Pharynx und Larynx, das durch locale Veränderungen, wie die meist sehr
heftigen Allgemeinerscheinungen, das Leben sehr bedroht.
620 ERYSIPELAS.
Nicht unerwähnt will ich auch eine günstige Folge lassen, die das Ery-
sipel, leider allerdings nur selten, nach sich zieht. Man hat vielfach beobachtet,
dass unter Einfluss eines Erysipels krankhafte Processe der Haut, besonders
maligne Neubildungen schwinden. So hat man Carcinome heilen sehen, so sah
man ausgedehnte Sarcome in Folge eines Erysipels zur Resorption oder zur
Ausstossung gelangen. Diese zweifellose Thatsache hat dazu geführt, dass'
man versucht hat, die Einimpfung des Erysipels als Heilverfahren gegen die
genannten Leiden in Anwendung zu bringen. Es kann auch füglich nicht be-
zweifelt werden, dass diese Impfungen, die man nach der Entdeckung der
Erysipelascoccen mittels Reinculturen ausgeführt hat, hin und wieder Erfolg
gehabt haben. Diese Heilversuche haben uns aber auch belehrt, dass diese
artificiell, zu therapeutischen Zwecken erzeugten Erysipele besonders maligner
Natur zu sein pflegen, und man deshalb alle Veranlassung hat, diesen Heil-
versuch nur in verzweifelten Fällen und mit Zustimmung des über die mög-
lichen Folgen genau zu instruirenden Kranken auszuführen.
Pathologische Anatomie: Nach dem Tode blasst die erkrankte Haut
schnell ab; schwindet auch die Schwellung, so dass makroskopisch wenig oder gar
nichts zu sehen ist. Mikroskopisch findet man die Zeichen einer heftigen Derma-
titis, sich äussernd vornehmlich in einer starken Zellinfiltration aller Hautschich-
ten. Etwas specifisches hat diese Entzündung nicht, es sei denn, dass man auf
Mikroorganismen fahndet und die in grosser Zahl vorhandenen Streptococcen
findet. Bei tödtlich verlaufenen Fällen kann man ausserdem diejenigen Ver-
änderungen degenerativer Natur an den Organen und den Muskeln constatiren,
wie sie alle schweren, fieberhaften Infectionskrankheiten mehr oder weniger
zur Folge haben.
Etwaige Complicationen setzen natürlich diejenigen Anomalien, die ihnen
eigen sind, ohne dass durch dieselben ihre Entstehung durch das Virus des
Erysipels documentirt würde.
Therapie: Nachdem wir zur Erkenntnis gelangt sind, dass Läsionen
der Körperdecken die Vorbedingung für Einwanderung der Erysipelascoccen
bilden, erheischt die Prophylaxe dringend eine sorgsame antiseptische,
resp. aseptische Behandlung jedes Hautdefectes, mag derselbe noch so gering
sein, ja sich auf eine Abschilferung des Epithels beschränken. Insofern gehört
auch die Beseitigung aller möglichen Hautleiden, Eczeme, Pthagaden, Herpes,
Lupus vulgaris, Ulcus cruris, wie der Schleimhautaffectionen in das Gebiet der
Prophylaxe des Erysipels. Die sorgsame Beachtimg der entsprechenden Ano-
malien wird zur dringenden Nothwendigkeit, wenn schon einmal oder gar
wiederholt dieselben zum Ausbruch eines Erysipels Veranlassung gegeben haben.
Abheilung aller Hautveränderungen ist die beste Wafie gegen das habituelle
Erysipel und seinen Folgezustand, die Elephantiasis.
Es bedarf wohl kaum der besonderen Betonung, das jeder Erysipela-
töse, so weit als irgend möglich, isolirt werden muss und dass jeder, der
irgend eine, wenn auch nur unbedeutende Hautläsion zeigt, sich von Erysi-
pelatösen fernzuhalten hat. Letzteres ist besonders auch von Aerzten zu be-
achten, die sich relativ häufig mit Erysipel inficiren.
Die Allgemeinbeha,ndlung beim Erysipel weicht in keiner Weise
ab von derjenigen bei anderen acuten, fieberhaften Erkrankungen. Die Diät
muss regulirt werden, sie muss eine leicht verdauliche und dabei kräftige
sein. Es nehmen da Milch, Bouillon, Haferschleim, Eier die erste Stelle ein;
feste Nahrung ist niemals angebracht und dem Kranken auch meist direct
zuwider. Dem Durst trägt man durch Wasser, Citronenlimonade Rechnung.
Alkohol gibt man in einer mit der Höhe und Dauer des Fiebers, wie der
Schwäche des Pulses parallel steigenden Menge und Concentration. In leichten
Fällen ist er vollkommen entbehrlich; bei schweren Fällen, hohem Fieber,
kleinem, frequentem Puls darf man sich nicht scheuen auch zu schweren Weinen
ERYSIPELAS. 621
{Portwein, Sherry, Champagner) oder zum Cognac zu greifen und hohe Dosen
zu reichen.
Speci fische Mittel gegen Erysipel gibt es nicht; der von Pirogoff
empfohlene Campher, (O'l — 0'3 alle 1 — 2 Stunden) kann auch auf die Be-
zeichnung eines Specificum keinen Anspruch machen, ist aber natürlich, wo
Excitantien indicirt sind, mit grossem Nutzen zu verwenden. Will jemand es
von vorneherein reichen, so ist dagegen auch nichts zu bemerken.
Die Nothwendigkeit der Bekämpf ung des Fiebers ist nicht sowohl
durch die Höhe desselben gegeben, als vielmehr durch den Grad der Alteration
des Nervensystems und der Herzthätigkeit. Wo das Sensorium benommen
ist, der Kranke delirirt, die Zunge sehr trocken ist, die Beschaöenheit und
Frequenz des Pulses Bedenken erregen, muss man die Temperatur zu ermäs-
sigen versuchen. Jedoch mag man festhalten, dass gedankenloses Herabdrticken des
Fiebers keinen Zweck hat, man den Erfolg der gegen dasselbe angewendeten
Mittel nicht allein nach dem Thermometer beurtheilen muss, sondern darnach,
ob gleichzeitig die etwa vorhandene Benommenheit schwindet, der Kranke
ruhiger, die Zunge trockner wird, vor allem auch die Pulsfrequenz mit der
Temperatur gleichzeitig herabgeht und die Pulswelle dabei kräftig bleibt.
Dringend nothwendig ist die Bekämpfung des Fiebers bei Hyperpyrese. Man
verwendet zu dem Zwecke einerseits antipyretische Medicamente ; in erster
Eeihe empfehle ich Phenacetin, welches die relativ geringsten Nebenwirkungen
hat, in der Menge von 0"1 — 0*5 pro dosi, 1 — 2mal täglich, je nach dem Alter
des Patienten unter Controle von Temperatur und Puls. Die Darreichung
empfiehlt sich am meisten gegen Abend. Günstig wirkt auch Antipyrin
(1-0 für Erwachsene, O'l- — 0*6 für Kinder, 1 — 3 mal täglich ); weniger günstig
dagegen Antifebrin, welches leicht Collaps bewirkt und deshalb besser ganz
vermieden wird. — Die hydropathischen Proceduren wirken auch sehr wohl-
thuend auf das Fieber ein und sind besonders da, wo die Functionen des
Nervensystems sehr darniederliegen, am Platze. Kühle Waschungen, kalte,
halbstündlich zu wechselnde Einpackungen des Rumpfes, laue, allmälig ab-
gekühlte Bäder (25°) sind anzuwenden. Zweckmässig ist es diese Proceduren
mit den Antipyreticis zu verbinden, beispielsweise Tag über Einpackungen zu
machen und gegen Abend noch eine Dosis Phenacetin zu reichen. — Verdauungs-
störungen sind soweit als möglich, symptomatisch zu bekämpfen ; bestehende
Obstipation, Erbrechen etc. müssen beseitigt werden. Wenden wir uns nun
zur Behandlung der Localaffection, so haben wir eine so grosse
Zahl von Vorschlägen zu berücksichtigen, dass eine Vollständigkeit kaum zu
erzielen ist ; es soll deshalb nur das wichtiger erscheinende besprochen werden.
— Was zunächst die Änivendung der Kälte auf die entzündete Hautstelle
betrifft, so ist sie im allgemeinen anzurathen ; besonders ist beim Erysipel
der Kopfhaut das Auflegen eines Eisbeutels sehr nützlich. Jedoch bedarf die
Kälteanwendung auch einer gewissen Vorsicht, da natürlich die Neigung zur
Gangränescenz durch andauernde intensive Abkühlung gefördert werden kann.
Man wendet das Eis deshalb besser nur intermittirend an, indem man es alle
paar Stunden für 1 — 2 Stunden entfernt, oder vermeidet es ganz, so am
Scrotum oder an den Augenlidern. Man ersetzt die Eisapplication durch An-
wendung kühler Umschläge mit Aq. plumbi, ö^/o Liq. Burowii, Vj^ Resorcin-
lösung, oder legt mit denselben Flüssigkeiten getränkte Dunstumschläge um,
die man 1 — 2-stündlich wechselt. Man kann in dieser Beziehung getrost dem
Gefühle des Patienten Rechnung tragen, da eine Milderung der Entzündung
doch auch stets sich in einer Herabsetzung des Schmerzes und des Span-
nungsgefühles documentirt. Man richtet sich also darnach, was dem Pa-
tienten am angenehmsten ist.
Bevor ich die weiteren Heilverfahren bespreche, möchte ich einige all-
gemeine Regeln vorausschicken, um unnöthige Wiederholungen zu ersparen:
622 ERYSIPELAS.
Erstens ist es bei Anwendung von Einreibungen wichtig, dass man stets cen-
tripetal von den gesunden nach den kranken Theilen hinstreicht, um nicht
durch die Massage die Coccen noch weiter centrifugal zu verbreiten. — Zweitens
müssen alle Medicamente 3^4 cm über die makroskopisch kranke Hautstelle
applicirt werden," da ja die mikroskopische Untersuchung lehrt, dass sich noch
jenseits des Randes 2 — 3 cm weit Coccen im Gewebe in reichem Maasse finden. —
Drittens beherzige man, dass die Wirksamkeit jeder Salbe oder Flüssigkeit
bedeutend gesteigert wird, wenn man die Haut durch Alkohol und Aether
oder durch energische Seifenwaschung vorher entfettet. • — Endlich bemerke
ich, dass die Heilwirkung aller Verfahren sich äussern muss nicht nur in
einer Abnahme der örtlichen Erscheinungen, sondern auch in einer Besserung
der Allgemeinerscheinungen, vornehmlich des Fiebers.
Gehen wir nun nach diesen allgemeinen Bemerkungen zu einer Besprechung
der medicamentösen Behandlung des localen erysipelatösen Processes, so hebe
ich in erster Reihe hervor das
IcUhijol, ■") weil dasselbe nach den Berichten zahlreicher Autoren (Nuss-
BAUM etc.) ganz besonders günstige Wirkungen entfaltet. Dieselbe ist experi-
mentell begründet durch den Nachweis, dass die Coccen des Erysipels durch
Ichthyol schnell vernichtet werden, jedoch lasse ich es dahingestellt, ob es
sich ausschliesslich hier um die baktericide Kraft des Ichthyols handelt, oder
ob nicht auch seine gefässverengernde Wirkung dabei eine bedeutende Rolle
spielt. Wie dem auch sei, unter den vorhandenen Medicamenten nimmt Ichthyol
den ersten Platz ein.
Man wendet dasselbe beim Erysipel in starker Concentration (20 — 40°/o) an und zwar
als wässrige, ölige, ätherische Lösung, als Salbe, Paste, Collodium etc. nach folgenden
Formeln :
Ichthyol 4-0 Ichthyol 20-0 Ichthyol 2-0 Ichthyol 5-0— 10-0
Gollod. elasf. 20-0 Aether Aether 20-0 Ädeps. lanae 20-0
Glycerin ää lO'O Zinc. oxyd. 5'0
DS. Aeusserlich. DS. Aeusserlich. DS. Zum Spray. DS. Äeusserlich.
Wo es angeht, ist Ichthyolcollodium, welches gleichzeitig einen gewissen
Druck ausübt, am bequemsten; an der Kopfhaut nimmt man eine wässrige
oder ölige (Leinöl !) Lösung oder applicirt den sehr wirksamen Jodoform-
ätherspray mit folgender EinÖlung. — Die Wirkung des Ichthyols äussert sich
in Abnahme der Schwellung, der Spannung, der Schmerzhaftigkeit, wo-
mit ein Abfall der Temperatur verbunden ist. Wo dasselbe reizt, zur Blasen-
bildung führt, muss man schwächere Concentrationen wählen.
Resorcin ist auch empfohlen; ist aber wohl nicht so wirksam wie das
Ichthyol. Es wird als 10 — 50"/o Salbe oder Paste angewendet. Sublimat soll
als l7o Sublimatlanolin eingerieben das Erysipel günstig beeinflussen. Carbol-
säure hat in Hütee einen warmen Vertheidiger gefunden, und zwar wird es
in Form von subcutanen Injectionen angewendet. Sie werden so ausgeführt,
dass man von einer Lösung : Äcid. carhol., Alcohol m 3'0, Äq. dest. 74-0, sub-
cutan, rings um den Krankheitsherd in Abständen von 1- — 2 cm ^2 — 1 Spritze
injicirt; man kann 3 — 6 — 12 (!) Spritzen auf einmal appliciren. Diese Pro-
cedur wird so lange täglich wiederholt, bis der Process zum Stillstand kommt.
Es ist nicht zweifellos, dass dieses nach Carbolinjectionen meist schnell ein-
tritt, diese Behandlungsmethode zu den wirksamsten gehört, aber ebenso sicher
ist, dass sie zu den umständlichsten und schmerzhaftesten zu zählen ist.
Ausserhalb klinischer Anstalten ist sie jedenfalls nur wenig anwendbar; bei
dem gradeso häufigen Gesichtserysipel verbietet sie sich schon wegen der
enormen Schmerzhaftigkeit von selbst. — In jüngster Zeit hat man empfohlen
die Carbolinjectionen übrigens durch Injection mit V2 7oo Sublimatlösung zu
ersetzen, ob dieselbe einen Vorzug hat, ist mir unbekannt. — Sehr viel ge-
*) Vergl. „IchilvyoV- Bd. yiVhavmacologie und Toxicologie.'^
ERYSIPELAS. 623
braucht wird die Carbolsäure auch iu Form des Carbolöls und von Carbol-
umschlägen. Ersteres hat wenig Wirkung, schadet aber nicht, letztere sind
direct zu verbieten, da wir ja jetzt wissen, dass die andauernde Application
selbst schwacher Carbolsäurelösungen in Form von Umschlägen an sich Gan-
grän bewirken kann, ein Ereignis, das wir beim Erysipel zu fürchten Ver-
anlassung haben.
Campher zur externen Anwendung ist jüngst wieder empfohlen worden.
Es soll in folgenden Formen Verwendung finden :
Acid. tannic. Camphor. trit. 25'0
Camplwr. trit. ää 2'0 Äetlier 50'0
Aetlier 15'0 DS. Äeusserlich.
BS. 3-stündlich aufzupinseln.
Argentum nitricum soll als 50% Lösung auf die durch Alkohol gereinigte
Haut aufgepinselt werden. Jedoch werden sehr heftige Reizerscheinungen, be-
stehend in ausgedehnter Ablösung der Epidermis, Blosslegung des Corium,
heftigen Schmerzen gemeldet, die zur Vorsicht rathen. — Noch immer spukt
in der Literatur die Empfehlung, den ganzen Krankheitsherd mit dem Höllen-
steinstift in einiger Entfernung zu unterstreichen, um dem Process an diesem
Strich Halt zu gebieten. Wenn man die oberflächliche Wirkung einer Höllen-
steinätzung einerseits, die Ausbreitung der Coccen bis in die tiefsten Haut-
schichten andererseits in Betracht zieht, dann wird man dieses Verfahren
mehr als Curiosum ansehen müssen.
Ein einfaches Verfahren ist das Aufstreichen von Collodium oder das
Auflegen von Gummipapier, wie es Kolaczek empfiehlt ; letzteres bleibt an-
dauernd liegen. Die Authebung der Perspiration soll günstig wirken, indem
die Zersetzungsproducte von Schweiss und Talg und die an den Coccen er-
zeugten Ptomaine auf die Coccen entwicklungshemmend einwirken. Aehnli-
ches bezweckt wohl die Empfehlung die kranken Theile dick mit weissem
Vaselin zu bestreichen und dann mit Guttaperchapapier zu bedecken,
Wir gehen nun über zu der mechani sehen Behandlungsmetho de,
die besonders Wölfler eingeführt hat. Dieselbe wird in der Weise ausge-
führt, dass man 5 cm vom Krankheitsherde einen, respective mehrere Streifen
Heftpflaster umlegt, so dass eine energische Compression ausgeübt wird ; man
kann diese Streifen mit Collodium überpinseln. Dieses Verfahren ist natürlich
besonders leicht an den Extremitäten ausführbar, lässt sich aber durch ge-
schickte Combination der Streifen auch im Gesichte und am Kopfe anwenden.
An der comprimirten Stelle soll der Process nun Halt machen und thut es
auch oft. Die Schwellung und Röthung geht bis an den Streifen heran, die
Haut wölbt sich an ihm stark in die Höhe, überschreitet ihn aber nicht, und
damit ist dem Erysipel Halt geboten. Es ist das auch theoretisch nicht schwer
zu erklären : Durch die energische Compression werden die Lymphbahnen ge-
schlossen und dadurch den fortwandernden Coccen der Weg versperrt. Das
Verfahren ist also ganz rationell. Beachtet muss bei der Anwendung desselben
werden, dass man einerseits die Streifen nicht zu fest legen darf, um nicht
die Blutcirculation zu sehr zu beeinträchtigen und dadurch das Eintreten
einer Gangrän zu begünstigen, andererseits aber auch darauf zu sehen hat,
dass die Streifen, sobald sie sich lockern, — und das geschieht beim Heft-
pflaster relativ schnell, — zur rechten Zeit erneuert werden. Man hat das
Heftpflaster auch durch entsprechende Kautschukringe ersetzt, durch die man
dasselbe erzielen kann. Natürlich muss man dann auch verschiedene Grössen
vorräthig haben. — Kommen wir schliesslich zur chirurgischen Behand-
lung desErysipelas, welche in Kkaske einen wannen Befürworter gefunden
hat. Derselbe verfährt in der Weise, dass er in den erysipelatösen Theilen
und deren scheinbar normalen Umgebung zahlreiche Scarificationen ausführt,
dann diese Stellen mit S'^/q Carbolwasser oder 1*^/00 Sublimatwasser tüchtig
auswäscht und dann antiseptisch verbindet. Durch diese in die Tiefe ein-
624 FACIALISLÄHMUNG.
dringenden Antiseptica sollen die Coccen vernichtet werden. An Energie
lässt dieses Verfahren nichts zu wünschen übrig ; es scheint aber doch, als ob
der Erfolg nicht im Verhältnis zu der Schwere des Eingriffes steht. Man
wird sich deshalb wohl kaum dazu entschliessen, zumal das Verfahren schmerz-
haft ist und wohl stets eine Narcose erfordert. Ich glaube nicht, dass viele
Patienten sich in Anbetracht dessen, dass man ihnen doch ein absolut sicheres
Ergebnis nicht versprechen kann^ sich dazu bereit finden. Im Gesichte ver-
bietet sich diese Methode von selbst, da die zahlreichen, wenn auch kleinen
Narben, die von den Scarificationen zurückbleiben, keine willkommene Re-
miniscenz an das frühere Erysipel bilden.
Ueberblicken wir nun alle zur localen Behandlung empfohlenen Medi-
camente und Methoden, so möchte ich für die Praxis neben der Anwen-
dung der kühlenden Umschläge, resp. des Eises mit den oben erörterten Vor-
sichtsmaassregeln es für das beste halten, die mechanische Behandlung
mittelst Heftpflasterstreifen mit der Ichthyolanwendung zu
combiniren. Man kommt da sicher ebenso weit, wie durch energischere und
differentere Heilversuche.
Ist es zu Gangrän gekommen, so ist eine antiseptische Wirkung na-
türlich von Wichtigkeit; daneben ist die Anwendung der Wärme zur Be-
schleunigung der Demarcation und der Abstossung des mortificirten Gewebes
am Platze.
Phlegmonöse Processe erfordern ein energisches chirurgisches
Eingreifen. Man muss alle Herde biossiegen und auf jede Weise für guten
Abfluss sorgen; jede Retention bringt grosse Gefahr.
Das primäre Erysipel des Pharynx und Larynxindicirt die ener-
gische Anwendung des ganzen antiphlogistischen Apparates: Eiscravatte,
Schlucken von Eisstücken, Blutegel am Halse. Zum Gurgeln dürfte 2%
Ichthyollösimg von Nutzen sein. Natürlich wird man sich in jedem Augen-
blick bereit halten müssen durch Tracheotomie der Gefahr der Erstickung
vorzubeugen. - —
Auf die Behandlung der verschiedenen Complicationen kann ich hier
natürlich nicht eingehen; ihr ätiologischer Zusammenhang mit dem Erysipel
lenkt ihre Therapie nicht in andere Bahnen.
JESSNEK.
FaCiahslähinung. (Paralysls nervi facialis.) Der Nervus facialis ver-
sorgt die mimischen Gesichtsmuskeln. Seine Lähmung gibt der betroffenen
Seite den Anblick der Schlaffheit, des fehlenden Muskeltonus: die Stirnhaut ist
glatt, die Augenbraue sinkt herab, und das obere Augenlid faltet sich, die
Nasolabialfalte ist verstrichen, der Mundwinkel herunterhängend, der Mund
nach der gesunden Seite verzogen. Fordert man den Kranken auf, die Stirn
zu runzeln, die Augen zu schliessen, den Mund zu spitzen, so wird man des
Unterschiedes zwischen der kranken und der gesunden Seite besonders deutlich
gewahr: die gelähmte Stirnseite legt sich nicht in Falten, das Auge bleibt offen,
der Mund spitzt sich nach der gesunden Seite zu, und die kranke Wange wird
stärker aufgebläht wie die .gesunde.
Der Kranke berichtet seinem Arzt, dass die Gesichtshaut der gelähmten
Seite stumpf oder schwer sei, dass er zuweilen Schmerzen habe, die sich bald
hinter dem Ohr, bald in den Augen concentriren, dass die Zunge schwer sei
und es ihm Mühe mache, auf der kranken Seite zu kauen, da die Speisen in
die Backentaschen herabrutschen und die Zunge nicht gelenkig genug sei,
um sie wieder zwischen die Zahnreihen zurückzubefördern, und dass auch der
Geschmack auf der Zungenspitze stark beeinträchtigt sei. Weiterhin macht
der Kranke darauf aufmerksam, dass mit dem kranken Auge die Gegenstände
wie durch einen Schleier gesehen würden, dass er mit dem Ohr der kranken
FACIALISLÄHMUNG. 625
Seite schärfer oder aucli sclüecliter höre wie mit dem andern und dass seine
Sprache zuweilen einen schnarchenden oder näselnden Charakter habe.
Es ist für den Arzt nicht schwer, dieses in den einzelnen Fällen varii-
rende Bild zu erkennen. Des weitern hat er die Pflicht, sich selber über den
Fall zu Orientiren, Dazu gehört: 1. Feststellung des Sitzes der Krankheit,
beziehungsweise der Krankheitsursache, 2. Feststellung der Krankheitsursache
selbst, 3. die Beantwortung der Frage, ob und wann Heilung eintreten kann,
einer Frage, die auch für den Patienten von allergrösstem Interesse ist, und 4.
der Plan der Therapie.
Ad. 1. Wo ist der locus morbi?
Der Nervus facialis kann an jeder Stelle seines ganzen Verlaufes erkranken.
Je nachdem sprechen wir von einer centralen oder peripheren Lähmung.
Den Symptomen nach gibt es zwei Hauptmerkmale zu deren Unterscheidung,
nämlich das Fehlen der Entartungsreaction (EaE) und das Nichtbetroffensein
des Stirnastes '") bei der centralen Lähmung. Im übrigen gibt jeder locus
morbi seinem Symptomenbild eine eigene Signatur.
A. Die centrale Lähmung.
a) Rindenlähmung. Verletzung des unteren Theiles der vorderen Central-
windung. Der Arm und Hypoglossus wegen der Nähe der ihnen zugehörenden cor-
ticalen Felder mitgelähmt. Wenn der Herd rechts sitzt, betrifft die Lähmung
Arm und Gesichtshälfte linkerseits und umgekehrt (gekreuzte Lähmung).
b) Der VII. ist in seinem Verlauf innerhalb des Centrum semiovale Vieussenii
getroffen: Leitungslähmung, meist kurzdauernd, vorübergehend. Am bekanntesten
die Lähmungen durch Verletzung der Capsula interna.
c) Der Krankheitsherd sitzt im Streifenhügel oder Linsenkern. Im
ersteren Falle sollen besonders die respiratorischen Zweige getroffen sein.
fZ) Im Pons:
a) In der oberen Brückenhälfte: ein Herd auf der linken Seite macht
eine Lähmung der Gesichtshälfte und Extremitäten rechts.
ß) In der unteren Brückenhälfte: sitzt der Herd rechts, so sind gelähmt:
linke Extremitäten und rechte Gesichtshälfte (wechselständige Lähmung, Paralysie
alterne).
Läsionen im unteren Ponsabschnitt, nach erfolgter VII-Kreuzung, können
bereits EaR zeigen, sind deshalb also eigentlich den peripheren Lähmungen zuzu-
rechnen.
B. Die periphere Lähmung.
Sitz der Läsion:
a) Im Facialis kern. Allein oder in Verbindung mit Lähmung anderer
Nerven bei der sogenannten Bulbärparalyse. Eine Zerstörung des VII-Kernes lässt
den „oberen Facialis" intact; **) die gelähmten Theile, meist die Lippenmuskulatur
atrophiren und zeigen EaR. Demnach bildet die Facialis-Lähmung, durch Ver-
letzung des VII-Kernes verursacht, das Mittelglied zwischen centraler und peripherer
Lähmung.
b) An der Hirnbasis (Entzündung, Tumoren, Basisfractur etc.) meist Mit-
betheiligung der benachbarten Nerven, insbesondere des Abducens, Trigeminus, Acusticus.
c) Centralwärts vom Ganglion geniculioder in diesem selbst:
Mitbetheilungen des Nerv, petros. superf. maior; Schiefstellung des Gaumensegels,
welches nach der gesunden Seite herübergezogen wird.
*) Die Zweige für den „oberen facialis," welche den m. frontalis nnd den m.
orbiciilaris oculi versorgen, haben ein anderes Rindenfeld, wahrscheinlich den Gyrus an-
gularis, welches den Ausgangspunkt für den Oculomotorius bildet. Ausnahmen s. unter A.
**) Die für den m. frontalis und orbicularis palpebrarum bestimmten Zweige kommen
vom Oculomotoriuskern (Mendel) und nehmen deshalb an der Atrophie nicht Theil.
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. 40
626 FACIALISLÄHMUNG.
d) Peripher vom Ganglion geniculi. Die Gaumensegellälrmimg fehlt:
es besteht Störung des Gechmacks- und der Speichelsecretion, also Symptome für
Mitbetheiligung der Chorda tympani. Sitzt die Läsiou schon oberhalb des N. sta-
pedius, so tritt noch Hyperakusis dazu.
e) Peripher von der Abgangsstelle der Chorda tympani: Gaumen-
segellähmung, Hyperakusis. Störung des Geschmacks und der Speichelsecretion
fehlen.
Ad 2. Feststellung der Krankheitsursachen.
Für die centrale Lähmung sind die Ursachen ebenso mannigfaltig wie
für die Erkrankungen von Gehirn und verlängertem Mark. Man muss diese
zu beurtheilen verstehen, um der eventuellen VII-Lälimung im Krankheitsbild
die richtige Stellung zu geben; und andererseits kann die YII-Lähmung füi'
sich betrachtet in solchen Fällen niemals zur Erkennung des ursächlichen
Processes führen.
Von ganz besonderer Wichtigkeit sind die diu'ch rheumatische Einflüsse
bedingten, die sogenannten rheumatischen Facialis -Lähmungen. Sie
kommen sehr häutig vor: die damit verbundene Entstellung des Gesichtes führt
die Kranken bald zum Ai'zt. Es ist bemerkenswerth, dass häufig eine ungemein
geringfügige Ursache die Lähmung erzeugt. Ein Luftzug, von dem der Kranke
getroffen wird, wenn er sich zum Fenster hinauslehnt, genügt schon häufig.
Daraus ist wohl der Schluss zu ziehen, dass es entweder eine ererbte Dispo-
sition gibt füi^ die Acquisition von Gesichtslähmung, oder dass ein langes und
altes chronisches mehr oder weniger latentes Leiden eine Disposition dazu
schafft (Syphilis, Diabetes, Puerperium). Beide ilnnahmen werden dmxh die
Erfahrung l3estätigt. Bei langwierigen Lähmungen ist eventuell auf diesen Pimkt
Eücksicht zu nehmen.
Ad 3. Die Prognose der Facialislähmung kann annähernd durch die
elektrodiagnostische LTntersuchung festgestellt werden.
Angenommen, wir finden 8 Tage bis 4 Wochen nach eingetretener
Lähmung:*)
1. Keine Yeränderung der elektrischen Erregbarkeit auf faradischen und
galvanischen Strom.
Dann handelt es sich entweder nm eine centrale Facialislähmung, und die Prognose
ist von anderen Gesichtspunkten aus zu beurtheilen. oder die periphere Lähmung ist sehr
leicht und heilt in acht bis zehn Tagen ohne ärztüche Hufe.
2. Quantitative Herabsetzung der Erregbarkeit. Leichte Form. Heilung
in 2 — 3 Wochen.
3. Partielle EaE, Mittelfoim, Heilung in 6 — 10 Wochen.
4. Complete EaE, schwere Form, Heilung in 6 — 15 Monaten.
5. Erregbarkeit vollkommen erloschen, unheilbare Form.
Die verschiedenen Stufen der Erregbarkeit des ki'anken Nerven gegen
den elektrischen Strom sind der Ausdruck für mehr oder weniger vorgeschrittene
anatomische Yeränderimgen; das gleiche gilt füi' die Muskeln, bei welchen
der Nervenimpuls ausgeschaltet ist. Demgemäss kann die elektrische Erreg-
barkeit normal sein bei ganz leichten entzündlichen Processen; schreitet die
Entzündung fort, so reagirt der Muskel nicht mehr gegen den schnellschlä-
gigen Inductionsstrom, wohl aber gegen den länger dauernden galvanischen
Strom, während die Nervenerregbarkeit bereits ganz erloschen ist; und hat
sich schliesslich das gewucherte Bindegewebe unter Yerdi'ängung der nervösen
Elemente in ein festes derbes Gewebe (Sclerose) umgewandelt, dann ist es
mit der Erregbarkeit überhaupt vorbei.
Ad 4. Die Therapie.
Bei frischen rheumatischen Lähmungen ist ein die kranke Gesichtshälfte
treffendes Dampfbad gut indicirt. Dem kochenden Wasser wird zweckmässig
*=) Vgl. den Artikel „Ehldroäiagnostik."
FÄCES UND FÄCES-UNTERSüCHUNG. 627
eine Abkochimg von Kamillen, Heublumen oder Ficbtennadeln zugesetzt.
Dem Bade des Kopfes folgt unmittell)ar ein Dampfbad für l)eide Beine, wor-
auf der Kranke sofort das Bett aufsucht und sich in wärmende Decken hüllt.
Nach etwa dreimaliger Wiederholung dieser Proceduren macht man eine Pause
von acht Tagen, um dann, wenn noch keine Besserung erfolgt ist, von neuem
zu beginnen.
Den grössten Werth bei der Behandlung der Facialis-Lähmung kann mit
gutem Ptecht die Elektricität in Anspruch nehmen, und es ist unverständlich,
wie die Beobachtung guter Neurologen durch angeborenen Skepticismus so
getrübt sein kann, dass sie die Heilkraft des elektrischen Stromes bei diesen
und bei anderen Formen von Lähmungen nicht anerkennen wollen. Sie sagen,
viele Lähmungen heilen von selbst — aber wie steht es mit denjenigen
Fällen, welche in der dritten, vierten, achten Woche durchaus keine Tendenz
zur Heilung zeigen? Dort sieht man evidente Erfolge, sobald man mit der
elektrischen Behandlung einsetzt.
Der Artikel ^.Elektrotherapie" gibt über die Art der elektrischen Be-
handlung Auskunft. Nur soviel soll hier noch gesagt werden, dass jede
Stromesart unter Umständen gute Resultate liefert; der eine Elektrotherapeut
bevorzugt diese, der andere jene. Aber ein Princip muss durchaus der,
elektrischen Behandlung zu Grunde liegen, nämlich die Bevorzugung schwacher
Ströme. Stromstärken, welche bereits Muskelzuckungen auslösen, sind viel,
viel zu stark; nicht nur, dass dieselben die Lähmung nicht beseitigen, sondern
sie machen zuweilen auch noch etwas viel schlimmeres wie die Lähmung,
nämlich Contracturen, an welchen gewöhnlich die ärztliche Kunst kläglich
scheitert, Sperling.
Fäces und Fäces-Untersuchung. *)
I. Allgeineiiie Eigenschaften.
Die Fäces bestehen: 1. aus den unverdaulichen oder unverdauten Resten
der eingeführten Nahrung, die zum Theil im Darm durch Fermente und
Mikroorganismen verändert worden sind, 2. aus Resten, resp. Umwandlungs-
producten der aus der Darmwand und den in den Darmcanal mündenden
Drüsen stammenden Ausscheidungen, 3. aus verschiedenen, meist sehr zahlreich
vorhandenen Mikroorganismen.
Auch unter normalen Verhältnissen kommen im Aussehen und in der
Zusammensetzung der Fäces beträchtliche Verschiedenheiten je nach der Be-
schaffenheit der eingeführten Nahrung vor.
Die Consistenz der Fäces kann 1. fest (oder geformt), 2. dickbreiig,
3. dünnbreiig, 4. flüssig (wässrig) sein.
Normaler Weise ist die Consistenz entweder fest oder dickbreiig, ersteres
gewöhnlich bei vorwiegend animalischer, letzteres bei wesentlich vegetabilischer
Nahrung.
Bei Darmstenosen werden die Fäces niclit selten in plattgedrückter Form
(„Bandform'') oder in kleinen Knollen (ähnlich wie Schafkoth) entleert. Doch ist dies
weder ein constantes noch ein sicheres diagnostisches Merkmal; man beobachtet zuweüen
eine ähnliche Form der Fäces, ohne dass eine Enterostenose vorliegt.
Bei Säuglingen ist „stückiger Koth" pathologisch
Dünnbreiige und flüssige Stühle (Diarrhoe) finden sich dann, wenn
der Darminhalt abnorm rasch den Darmcanal passirt und daher nur unvoll-
*) Die folgende Darstellung gibt eine allgemeine Uebersicht über die Eigen-
schaften und Bestandtheile der Fäces sowie über die zur Feststellung nothwendigen Unter-
suchungsmethoden, sofern sie der Praktiker leicht und bequem durchzuführe n
in der Lage ist. Bezüglich eingehenderer Details, namentlich die chemische und bacterio-
logische Untersuchuugsmethoden betreffend, muss auf die betreffenden Specialdiscipli-
nen dieser „Bibliothek" verwiesen werden. D. Red.
40*
628 FÄCES UND FÄCESUNTEESüCHUNG.
Ständig resorbirt wird oder wenn eine Trans- oder Exsudation in das Darm-
lumen stattfindet.
Man beobachtet Dian^liöen — abgesehen von den diux-h Abführmittel
hervorgerufenen
1. Bei Reizung des Darmcanals durch toxische lugesta oder Zersetzungs-
producte derselben, (so bei der toxischen Enteritis, bei vielen Fällen von acutem
Darmkatan-h etc.) oder durch specifische Infectionserreger (Cholera, Typhus,
Dysenterie, Darmtuberculose); seltener bei chronischen Darmkatarrhen.
2. Bei abnorm gesteigerter Darm-Peristaltik aus nervöser Ursache („nervöse
Dian'hoe" bei psychischer Erregung, bei Neurasthenie, Hysterie, Morb. Basedow.
Tabes dorsalis).
Die Farbe der Fäces hängt wesentlich von der Beschaffenheit der Xahrung
ab: Bei vorwiegender Fleischnahrung ist der Koth bräunlich bis braunschwarz;
je mehr Yegetabilien der Nahrung beigefügt sind, desto hellere Braunfärbung
nimmt er an. Bei ausschliesslicher Milchdiät wird er hellgelb oder gelbweiss.
Das unmittelbar nach der Geburt entleerte Meconium ist eine zähe dunkle, braun-
grüne, fast schwarze Masse.
Normaler Weise findet sich in den Fäces kein unveränderter Gallen-
farbstofi", sondern Urobilin, das durch Bacterienwirkuug (Pieduction) im Dann-
canal aus Bilirubin entsteht; daneben noch andere, weniger genau bekannte
Farbstoffe (z. Th. aus der Nahrung stammend).
Grüne oder gelbgrüne Färbung durch Gallenfarbstofi (den chemischen
Nachweis s. u.) findet "sich bei sehr beschleunigter Peristaltik (so beim acuten
Dünndarm-Katarrh, besonders des Säugiingsalters, nicht selten auch bei Ab-
dominaltyphus).
Ist der Zufluss der Galle zum Darmcanal unterbrochen, so werden die
Fäces — z. Th. in Folge des Mangels an Farbstoff, zum grösseren Theil in
Folge mangelhafter Fett-Piesorption — grau bis grauweiss (thonfarben), dabei
von lehmartiger Consistenz und sehr übelriechend. Derartige Beschaffenheit der
Fäces (Fettstühle, Steatorrhoe) wird nicht selten auch bei anderen
pathologischen Processen beobachtet, bei denen der Zufluss der Galle zum
Darmcanal erhalten ist, die Fett-Eesorption jedoch aus anderen Gründen ge-
litten hat, z. B. bei Darmtuberculose und -Amyloid, Yerkäsung der Mesen-
terialdrüsen, bei schweren Anämien, bei chronischer Nephritis u. A. m.
Beimengung von Blut zu den Fäces ist ebenfalls oft an der Farbe
kenntlich; bei Blutungen, die in höher gelegenen Abschnitten des Magendarm-
canals erfolgen, fi'eilich nur dann, wenn die Blutung nicht ganz unbeträchtlich
war. Erscheint unverändertes Blut, festem Koth aufgelagert oder auch
ohne Koth, so spricht dies für eine Blutung aus dem Mastdarm oder Anus,
z. B. bei Hämorrhoiden. Findet sich unverändertes Blut vermengt mit breii-
gem oder flüssigem Stuhl, so kann der Ort der Blutung auch im Dickdarm
liegen. Je länger das Blut im Darmcanal verweilt hat, desto stärker verän-
dert es seine Farbe (Umwandluug des Haemoglobins in Haematin): die Fäces
erscheinen dann braunroth oder pechschwarz (theerfarben. letzteres nament-
lich bei Blutungen aus dem Magen oder Duodenum). Bei erheblichen
Blutungen aus dem Dünndarm — wie sie z. B. bei Tj-phus vorkommen
— ist die Färbung der Fäces dunkelrothbraun, eigenthümlich schillernd; bei
sehr reichlichen Dünndarmblutungen kann das entleerte Blut sogar, wenn es
nicht lange im Darmcanal verweilt hat, ein nur wenig verändertes Aussehen
zeigen.
Andere häufiger vorkommende Verfärbungen der Fäces, meist durch
Medicamente bedingt: Grünfärbung sieht man — ausser der dmxh
Gallenfarbstofi (s. ob.) bedingten — nach dem Gebrauch von Calomel") und
*) Nach der Angabe einiger Autoren soll die Grünfärbung der Calomelstühle stets
durch Gallenfarbstoff bedingt sein. Dies ist jedenfalls nicht allgemein richtig.
FÄCES UND FÄCES-UNTERSÜCHÜNG. 629
einigen anderen Quecksilber-Präparaten, auch durch gewisse Mikroorganismen
(Lesagej bedingt; ferner nach reichlichem Genuss von grünem Gemüse
und dgl.
Schwarze oder grün schwarze Färbung beobachtet man nach dem Ge-
brauch von Eisen, Mangan, WismutJi (durch die entsprechenden, im Darm ent-
stehenden Schwefel-Verbindungen bedingt); Schwarzfärbung auch zuweilen nach
reichlichem Gebrauch von Catechu oder nach Genuss von Heidelbeeren. Graue
Färbung sieht man nach Genuss von Cacao oder Chocolade. Gelbliche
Färbung nach Gebrauch von Rhabarber, Senna, Santonin, Safranin und Gummi-
gutti; rothbraune Färbung nach Gebrauch von Campecheholz.
Durch Färbung und Consistenz sind charakterisirt:
Die bekannten „Reiswasser-Stühle, " wie sie namentlich bei asiatischer Cholera
vorkommen: trübe, farblose oder grauweisse, wässerige, mit gelblichen oder weisslichen
Flocken untermischte Entleerungen; sie werden übrigens keineswegs ausschliesslich bei
asiatischer Cholera, sondern auch bei sogenannter Cholera nostras und bei Arsenvergiftungen
beobachtet. Ferner die ..erbsensuppenartigen Stühle" bei Abdominaltyphus : dünne,
hellgelbe Entleerungen, die in der That einer schlecht gekochten Erbsensuppe an Farbe
und Consistenz sehr ähnlich sind, und nach einigem Stehen meist eine untere, ein weni»
dunkler gefärbte, etwas krümliche und eine obere, hellere, dünnflüssigere Schicht unter-
scheiden lassen.
Geruch. Der normale Milchkoth der Säuglinge riecht nm* w^enig; säuer-
licher oder fauliger Geruch beweist abnorme Zersetzungen der Kohlehydrate,
bezw. pathologisch gesteigerte Eiweiss-Fäulnis. Beim Erwachsenen wird der
schon unter normalen Verhältnissen üble Geruch — der wohl hauptsächlich
durch Skatol bedingt ist — besonders verstärkt bei Gallen-Abschluss, nicht
selten auch bei Darmkatarrhen, bei Abdominaltyphus, bei gangi'änösen Pro-
cessen im Darmcanal, so namentlich bei der brandigen Form der Dysenterie.
Geht unter pathologischen Verhältnissen die „fäculente" Beschaffenheit des
Kothes verloren, — wie bei Cholera und vielen Fällen von Dysenterie — so wird
derselbe auch fast oder ganz geruchlos. Bei Cholerastühlen haben viele
Beobachter einen eigenthümlichen, faden, Sperma-artigen Geruch wahrgenommen.
Die Reaction der Fäces ist wechselnd, am häufigsten schwach alkalisch,
ausser bei den Darmkrankheiten des Säuglingsalters ist sie ohne erhebliche
diagnostische Bedeutung. Stark saure Reaction beweist das Vorhandensein ab-
norm starker Zersetzung von Kohlehydraten und Fetten (Bildung von Milch-
säure, Essigsäure, Buttersäure u. s. w.), stark alkalische zeigt pathologisch
gesteigerte Eiweissfäulnis an.
Die Menge der Fäces hängt natürlich hauptsächlich von der Menge und
Beschaffenheit der eingeführten Nahrung ab. Da die Ptianzenkost viel mehr
unverdauliche Bestandtheile enthält und grösseres Volumen hat, als die animalische,
so liefert sie naturgemäss viel mehr Koth als letztere. Beim erwachsenen
Menschen beträgt die 24-stündige Kothmenge bei gemischter Nahrung circa
150^, bei rein vegetabilischer über das Doppelte (bei einem Vegetarianer nach
VoiT 333^).
Der im Hunger gebildete Koth {„Himgerkoth") gleicht im Aussehen sehr den bei vor-
wiegender Fleischkost entleerten Fäces.
IL Makroskopische Untersiichimg.
I. Oefters findet man in den Fäces -^ besonders reichlich naturgemäss
bei Diarrhoe — makroskopisch sichtbare Xahrungsbestandtheile, meist
pflanzlichen Ursprungs: wie Beeren. Fruchtkerne, Reste von Kartoffeln, Aepfeln.
Apfelsinen, Kohl, Spargel u. s. w., aber auch solche animalischer Herkunft,
wie Sehnen, Fleichstückchen, geronnenes Eiweiss — letzteres besonders bei den
Diarrhöen der Säuglinge in Form von kleinen Flocken oder Klumpen.
Ist makroskopisch eine sichere Erkennung derartiger Gebilde nicht möglich, so ist
natürlich eine mikroskopische Untersuchung vorzunehmen. Es bedarf kaum eines besonderen
Hinweises darauf, dass die Untersuchung der in den Fäces enthaltenen Nahrungsbestand-
theile von diagnostischem Werthe sein kann: sie kann die Ursache eines Darmkatarrhs
630 FÄCES UND FÄCES-UNTERSUCHUNG.
in Tinzweckmässiger Ernährung aufdecken, sie kann aucli den objectiven Beweis dafür er-
möglichen, dass ein Patient Speisen, die ihm verboten waren, genossen hat.
IL Von abnormen, makroskopisch sichtbaren Bestand theilen der
Fäces sind die wichtigsten: Blut^ Eiter und Schleim. Bezüglich des Blutes
kann auf das oben Gesagte verwiesen werden. *)
Piein-eitriger Stuhl, oft auch blutig-eitriger Stuhl kommt vor bei
ulcerösen Processen im Rectum, bei Dysenterie und bei Durchbruch von Eiter-
herden aus der Umgebung des Darmcanals in diesen. Beimengung von Eiter,
der aus höher gelegenen Darmabschnitten stammt, kann gewöhnlich nur
mikroskopisch mit Sicherheit erkannt werden; doch findet man nicht selten schon
makroskopisch kleine, grauweisse Klümpchen, deren mikroskopische Unter-
suchung ihre Zusammensetzung aus Leukocyten ergibt.
Ist eine grosse Kothsäule von einer dünnen Sc hie im schiebt schleier-
artig überzogen, so ist dies nach Nothistagel nicht als pathologisch zu betrach-
ten. Werden Schieimmassen ohne Kothbeimengung oder kleine mit Schleim
überzogene Kothballen entleert, so handelt es sich um Katarrh des Mast-
darms oder des Colon descendens. Bei Katarrhen, die auch die höher ge-
legenen Abschnitte des Colons betreifen, findet man Schleim und Fäces innig
vermengt. Der Schleim kann hier theils in grösseren oder kleineren makro-
skopisch sichtbaren Klümpchen oder Fetzen auftreten, theils in zahlreichen,
nur mikroskopisch sichtbaren Partikelchen vorhanden sein. Bei Dysenterie
kommen sowohl rein-schleimige, als auch mit Eiter und Blut vermengte
schleimige Entleerungen vor.
Nicht selten findet man bei Darnikatarrhen und bei Dysenterie glasige Klümpchen,
die mit Froschlaich oder Sagokörnern verglichen werden; nur ein Theil derselben besteht
aus Schleim, andere sind, wie die mikroskopische Untersuchung lehrt, pflanzlichen Ursprungs
und stammen aus der Nahrung. Nothjs^agel beschrieb als „gelbe Schleimkörner" mohn-
korngrosse gelbe oder gelbbraune weiche Klümpchen, deren Färbung durch Gallenfarbstoff
bedingt ist; sie sollen aus dem Dünndarm stammen.
Die Enteritis membranacea**) {Colica mucosa) ist durch die — meist
mit Schmerzen und Tenesmus einhergehende — Entleerung von grösseren
zusammenhängenden, membranartigen, cylindrischen oder röhrenförmigen Massen
charakteriskt. Die Affection findet sich besonders bei nervösen Individuen,
namentlich bei Hysterischen. Nur bei ganz oberflächlicher Betrachtung können
derartige Gebilde mit Xahrungs-Ueberresten oder gar mit Bandwürmern ver-
wechselt werden.
Die mikroskopische Untersuchung dieser Gebilde ergibt gewöhnlich eine streifige
Grundlage, in die weisse Blutköi-perchen, nicht selten auch (meist ..verschollte") Darm-
Epithelien eingelagert sind. Sie bestehen meist zum grossen Theil aus Mucin, in anderen
Fällen lassen sich nur Spuren von Mucin nachweisen, dagegen eine albuminoide Substanz
(Kitagawa).
III. Makroskopische Gewebsbestandtheile: ganze Stücke des
Darmrohres oder gangränöse Fetzen können bei Darm-Invagination in den
Fäces gefunden werden. Kleinere Gewebsfetzen sieht man in dysenterischen
Stühlen. Zur sicheren Erkennung muss nöthigen Falls die mikroskopische
Untersuchung vorgenommen werden.
Auch bei zerfallenden Darm-Carcinomen können Tumor-Partikelchen
mit den Fäces entleert werden. Leube erwähnt, dass in zwei von ihm
beobachteten Fällen von Colon-Carcinom mehrere haselnussgrosse Geschwülste
abgingen. Auch hier wird meist eine mikroskopische Untersuchung nothwen-
dig sein.
IV. Concremente: a) Gallenconcremente. Ihre Aufsuchung — für
die Diagnose der Cholelithiasis in zweifelhaften Fällen von Ausschlag gebender
Bedeutung — geschieht so, dass die nach einem Schmerzanfall entleerten
Stühle mit Wasser zu einem dünnen Brei angerührt und durch ein feines
*) Siehe auch p. 632 und 634 den mikroskopischen und chemischen Blut-Nachweis.
*) Vergl. „Enteritis tnembranacea" (J. Boas) pag. 566 ds. Bd. der .Bibliothek.''
FÄCES UND FÄCES-UNTERSUCHUNG. 631
Sieb filtrirt werden. Etwa vorhandene Concremente bleiben auf dem Sieb
zurück und können dann näher untersucht werden.
Man prüft 1. auf Cholesterin, indem man einen Theil des pnlverisirten Concre-
mentes mit heissem Alkohol auflöst und filtrirt; nach dem Erkalten scheidet sich etwa
vorhandenes Cholesterin aus dem Filtrat in rhombischen Tafeln ab. Löst man alsdann diese
Krystalle in Chloroform und setzt concentrirte Schwefelsäure hinzu, so entsteht eine schöne
kirschrothe Färbung, die später in Blau und Grün übergeht, 2. auf Bilirubin. Der
Filter-Rückstand wird mit Salzsäure schwach angesäuert und mit erwärmtem Chloroform
extrahirt; setzt man dann zu dem Chloroform rauchende Salpetersäure hinzu, so tritt die
GMELiN'sche Pieaction auf.
In den Fäces kommen mitunter durch die Kothfarbstoffe gefärbte Gebilde (meist
pflanzlichen Ursprungs) vor, welche makroskopisch mit Gallenconcrementen verwechselt
werden können. In zweifelhaften Fällen sind daher die beiden eben angeführten Proben
sowie eventuell die mikroskopische Untersuchung auszuführen.
b) Darmconcremente (Darmsteine) bestehen z. Th. aus alten, ein-
gedickten Kothmassen, die häufig in ihrem Centrum einen Obstkern, ein
Knochenstückchen u. dgl. enthalten: Kothsteine; z. Th. bilden sich — ge-
wöhnlich durch Incrustirung derartiger Fremdkörper mit Salzen, besonders
Phosphaten — verschieden grosse, steinharte, rundliche Körper von gelber,
brauner oder grauer Färbung. In Gegenden, in denen Brot aus Haferkleie
verzehrt wird, findet man in den Fäces Haarballen-ähnliche Concremente, die
aus Calcium- und Magnesiumphosphat, Haferkleie, Seifen und Fett bestehen.
Bei Pflanzenfressern kommen Darmsteine häufiger und in sehr ansehnlicher Grösse vor.
Verschiedene Damiparasiten sind ebenfalls durch Besichtigung der
Fäces mit blossem Auge zu erkennen.*)
IQ. Mikroskopische Untersuchung.
Dünnbreiige oder flüssige Fäces können ohne weiteres, feste Stühle am besten nach
Verreiben einer kleinen Menge Stuhl mit einem Tropfen Wasser oder Q-G^lg Kochsalzlösung
untersucht werden. Anzuwendende Vergrösserungen : Für üebersichtsbilder cca 1:100, für
nähere Untersuchung der morphologischen Elemente 1 : 200—1 : 300. Für Bacterien am besten
Oel-Immersion.
A. Nahrungsbestandtheile.
Quergestreifte Muskelfasern*") finden sich, wenn Fleisch in der
Nahrung zugeführt wird, constant vor. Sie zeigen gewöhnlich eine deutliche
Gelbfärbung. Die Querstreifung ist oft schon bei schwacher Vergrösserung
deutlich; wenn sie hierbei — in Folge von Quellung der Fasern - — undeut-
lich ist, muss man stärkere Linsen anwenden. Ist die Darmresorption aus
irgend einem Grunde beeinträchtigt, so finden sich Muskelfasern in sehr reich-
licher Menge. Andrerseits schwankt natürlich ihre Zahl schon unter norma-
len Verhältnissen mit der Menge des genossenen Fleisches.
2. Bindegewebs- und elastische Fasern finden sich bei animali-
scher Nahrung ebenfalls nicht selten.
3. Stärke. Ihr Nachweis wird sehr erleichtert durch Zusatz
einer verdünnten Jod- Jodkaliumlösung zum Präparat (Blaufärbung). Nach
Nothnagel kommen im normalen Stuhl bei gemischter Nahrung niemals
isolirte Amylumkörner vor. Vermehrtes Auftreten von Stärke (in unversehrten
Körnern oder Bruchstücken derselben) beobachtet man in vielen Fällen von Diar-
rhöen; doch kommen andererseits schwere Erkrankungen des Piesorptionsappa-
rates (Amyloid des Darms, Verkäsung der Mesenterialdrüsen u. s. w.) ohne
erhebliche Amylum-Ausscheidung in den Fäces vor; auch durch Abschluss
der Galle und des Pancreassaftes von Darm braucht die Verdauung und
Resorption der Amylaceen nicht beeinträchtigt zu werden (Fr. Müller.)
4. Fett in Form von Tropfen, Nadeln, Büscheln^"") oder Schollen, am reich-
lichsten in den „Fettstühlen", deren makroskopische Beschaftenheit und Vor-
*) Vergl. die Artikel „Eingeweidewürmer des Mensdhen-- und .,HeJmiiitJnasis".
**) Vgl. Abbildung.
632
FÄCES UND FÄCES-ÜNTERSUCHUNG.
kommen schon oben besprochen wurde. Jedes reichliche Vorkommen mikro-
skopisch nachweisbaren Fettes ist — falls die eingeführte Nahrung nicht beson-
ders fettreich war — als pathologisch anzusehen und beweist mangelhafte
Fettresorption. Fetttropfen finden sich unter normalen Verhältnissen nur selten,
am häufigsten bei Milchnahrung oder nach Einführung von Fetten, die einen
niedrigen Schmelzpunkt haben, z. B. Leberthran oder Ricinusöl. Die nadei-
förmigen.
häufig
in Büscheln zusammenliegenden Fett-Krystalle, bestehen
Combinirtes Uebersichtsbild der hauptsächlichsten
mikroskopischen Bestandtheile der Fäces.
(250fache Yergrösserung.)
z. Th. aus freien Fettsäuren (grössere, schlankere, häufig gebogene Formen),
z. Th. aus Kalk- und Magnesia-Seifen (plumperen, kürzeren, gewöhnlich gra-
den Formen). (Fe. Müller).
Zur Unterscheidung beider erwärmt man das mikroskopische Präparat schwach über
einer Spirituslampe : die freien Fettsäuren Yerflüssigen sich hierbei, während die Seifen un-
verändert bleiben. Erstere sind in Aether löslich, letztere nicht. Letztere werden durch
Säure-Zusatz zersetzt, und es bilden sich aus ihnen Tropfen, die aus freien Fettsäuren
bestehen.
Die Fettschollen bestehen zum grössten Theil ebenfalls aus Seifen, besonders Kalk-
seifen.
5. Pflanzenzellen
verschiedener Art finden sich
schon im normalen Stuhl
reichlich; sie sind an ihrem
charakteristischen Aussehen,
besonders an ihrer Membran
leicht zu erkennen.
B. Sonstige mikrosko-
pische Bestandtheile.
1. Epithelzellen,
im normalen Stuhl nur ver-
einzelt, unter pathologischen
Verhältnissen oft vermehrt:
sie liegen dann gewöhnlich
in den schleimigen Partien
des Stuhls (Nothnagel).
Selten handelt es sich um
Platten-, meist um Cylinder-
Epithelien. Häufig sind sie
durch Gallenfarbstoff gelb
gefärbt. Wohlerhaltene For-
men findet man zuweilen in
den dünnen Stühlen bei Ty-
phus, acuten Diarrhöen u. dgl.
Sehr oft zeigen sie die von
Nothnagel als „ V e r s c li o 1-
1 u n g " bezeichnete Verän-
derung: Die Zellen sehen
geschrumpft und homogen
statt feingranulirt aus, der Kern ist undeutlich oder gar nicht mehr zu sehen.
2. Piothe Blutkörperchen. Stammt das Blut aus den untersten
Darm-Abschnitten oder aus dem Anus, so findet man natürlich unveränderte
rothe Blutkörperchen. Aber auch bei abundanten Blutungen in den Dünn-
darm findet man nicht selten in den schon makroskopisch blutig aussehenden
Partien der Fäces rothe Blutkörperchen, wenn schon z. Th. etwas entfärbt.
So z. B. öfters bei stärkeren Darmblutungen im Verlaufe des Typhus. Kürzlich sah
ich reichlich rothe Blutkörperchen in einem Falle, in dem das Blut — wie später die Ob-
duction zeigte — aus einem mit den Gallenwegen communicirenden Aneurysma der Arteria
hepatica stammte.
1. Darm-EpitiielierL. 2. Verschonte Epitlielien(N0THNA.GEi,).3.Leu-
kocyten. 4. Qixergestreifte Muskelfasern. 5. Verschiedene Arten
von Pflanzenzellen. 6. Stärkekörner. 7. Krystalle von phosphor-
saiirer Ammoniak-Magnesia. 8. Krystalle von phosphorsaurem
Kalk. 9. Charcot-Leyden'sche Krystalle 10. Fett in Tröpfchen
f'' und in Krystallen.
Dazwischen verschiedene Arten von Mikroorganismen.
FÄCES UND FÄCES-UNTERSUCHUNG. 633
Andererseits kann man aber selbst in Stühlen, die makroskopisch deut-
lichen Blutgehalt zeigen, vergeblich nach rothen Blutkörperchen suchen.
(NoTHNAGp]L). In solchen Fällen und namentlich dann, wenn die makroskopische
Betrachtung kein sicheres Resultat ergibt, muss die chemische Untersuchung
auf Blut vorgenommen werden.
3. Leucocyten finden sich im normalen Stuhl höchstens vereinzelt,
brauchen aber auch bei acuten Darmkatarrhen nur spärlich aufzutreten.
Grössere Mengen von Leucocyten in den Fäces, gewöhnlich schon makro-
skopisch als kleine, weissliche Klümpchen sichtbar, weisen auf das Vorhanden-
sein ulceröser Processe im Darmcanal hin,
4. Mikroskopische Schleim partikelchen, hyaline, rundliche, farblose
oder durch Gallenfarbstoft' gelbgefärbte Gebilde, finden sich bei Katarrh des
Dickdarms und der unteren Dünndarm-Partien.
5. Krystalle. Ausser den bereits oben erwähnten Fettkry stallen
findet man noch Bilirubin oder Haematoidin^') in rhombischen gelbrothen
Kry stallen (häufiger amorph) nicht selten in diarrhoischen Fäces. Charcot-
Leyden'sche Krystalle sind von mehreren Untersuchern, so namentlich neuerdings
von Leichtenstern häufig gleichzeitig mit Eiern von Anckylostomum gefunden,
jedoch ist dieses Zusammen-Vorkommen nicht constant. Cholesterin kommt
in krystallinischer Form in den Fäces nur selten vor. Krystalle von phosphor-
saurer Ammoniak-Magnesia (Sargdeckelkrystalle) finden sich in den
Fäces, besonders in fettreichen und dünnen häufig*""'). (Löslichkeit in Essig-
säure.) Schtvefel-Wismuth-Krystalle (rhombische, den Häminkrystallen äusserst
ähnlich) finden sich (v. Jacksch) fast regelmässig nach Gebrauch von
Wismuth-Präparaten. Ausserdem findet man zuweilen Krystalle von oxalsaurem
Kalk (Briefcouvert-Krystalle), besonders nach dem Genuss von Gemüse, milch-
saurem, Kalk (radiäre Büschel, nach Uffelmann bei Kindern nicht selten),
seltener kohlensaurem, schicefelsaurem und 'phosphorsaurem- Kalk**).
Diagnostische Bedeutung hat das Vorkommen dieser Krystallformen nicht.
6. Parasiten a) thierische Parasiten (vgl. oben).
b) pflanzliche Parasiten.
In jedem mikroskopischen Präparat von Fäces sieht man massenhaft
Mikroorganismen von verschiedenen Formen: meist Bacillen und Kokken,
seltener Spirillen oder Sprosspilze. Bei Kindern, die an Soor litten, hat man
auch diesen Pilz im Stuhl gefunden.
Diagnostische Bedeutung hat nur der Nachweis pathogen er Mikro-
organismen im Stuhl und dieser kann durch die mikroskopische Untersuchung
nur für den Tuberkelbacillus mit Sicherheit erbracht werden. Der Nach-
weis desselben geschieht in Trockenpräparaten mittels einer der bekannten
Färbemethoden. Uebrigens beweist das Vorkommen von Tuberkelbacillen in den
Fäces nicht mit absoluter Sicherheit das Vorhandensein von tuberculösen
Darm-Ulcerationen. Sie können, wenn bei dem Patienten Lungentuberculose
besteht, aus verschlucktem Sputum stammen.
Für den Nachweis der Cholerabacillen kann die mikroskopische
Untersuchung der Fäces zwar wertvolle Anhaltspunkte liefern, sie muss jedoch
stets durch das Culturverfahren ergänzt werden. Für den Nachweis der
übrigen, in den Fäces vorkommenden pathogenen Organismen ist das letztere
unumgänglich nothwendig.
IV. Die chemische Uiitersuchuiig der Fäces
ergibt im Gegensatz zu der makroskopischen und mikroskopischen Unter-
suchung bisher nicht viele praktisch verwertbare Resultate. Von besonderer
*) Die Identität von Bilirubin und Haematoidin wird bekanntlich von einigen Auto-
ren bezweifelt.
**) Vergl. Abbildung.
634 FÄCES UND FÄCES-UNTERSUCHUNG.
WicMigkeit ist lediglich der Nachweis von Blut, der in manchen Fällen
auf anderem Wege nicht mit Sicherheit zu führen ist. Die hierfür verwend-
baren Methoden sollen deshalb an erster Stelle besprochen werden.
1. Teichmann'sche Haemin-Probe. Ein sehr kleines Partikelchen der Fäces wird
mit Eisessig nnd einer Spur Kochsalz auf dem Objectträger erwärmt; mikroskopische Unter-
suchung auf Haemin-Krystalle . Da das Blut in den Fäces nicht selten ungleichmässig
vertheilt ist, so kann diese Methode, bei der immer nur Spuren der Fäces untersucht
werden können, trotz vorhandenen Blutes ein negatives Eesultat ergeben.
2. Sicherer ist folgendes, besonders von Fr. Müller empfohlene Verfahren: Man
verrührt eine etwa bohnengrosse Probe aus dem am dunkelsten gefärbten Theile des Kothes
mit etwas Wasser, setzt einige Tropfen concentrirter Essigsäure hinzu und schüttelt mit
cca. ^/s Volum Aether aus. Meist scheidet sich schon nach wenigen Minuten oben eine klare
Schicht gefärbten Aethers ab. Verzögert sich die Trennung oder bleiben die oberen Partien
schaumig und undurchsichtig, so genügen meist einige Tropfen Alkohol, um Klärung zu be-
wirken. Bei sehr geringem Blutgehalt ist es genauer, die gesammte Tagesmenge der Fäces
in einer Reibschale mit durch Essigsäure angesäuertem Wasser zu verreiben und ins-
gesammt oder eine reichliche Probe davon im Scheidetrichter mit Aether auszuschütteln.
In den Fäces ist der Blutfarbstoff gewöhnlich als Haematin enthalten und geht als
solches nach Ansäuerung mit Essigsäure in den Aether über. Aber auch unverändertes
Hämoglobin (aus den unteren Partien des Darmcanals stammend) wird durch die Essig-
säure in Hämatin verwandelt.
Bleibt bei diesem Verfahren der Aether hell, so ist in den Fäces kein Blut vorhanden.
Ist dagegen Hämatin auch nur in geringer Menge vorhanden, so verleiht dasselbe dem
Aether eine mehr oder minder intensive rothbraune Färbung. Grüne oder gelbbraune Fär-
bung des Aethers kann von anderen Farbstoffen (Gallenfarbstoff, Hydrobilirubin, Chlorophyll)
herrühren.
Um mit Sicherheit zu entscheiden, dass eine etwaige Rothbraunfärbung des Aethers
durch Hämatin bedingt ist, kann man sich der spectroskopischen Untersuchung
des Aether-Extracts bedienen. Hierfür ist ein Taschenspectroshop (« vision directe)
brauchbar. Eine Lösung von Hämatin in essigsaurem Aether zeigt 4 Absorptionsstreifen : 1. Im
Roth; 2. im Gelb; 3. an der Grenze zwischen Gelb und Grün; 4. an der Grenze zwischen
Grün und Blau, Von diesen ist im sauren Aether-Extract bluthaltiger Fäces gewöhnlich
nur der dunkelste und am schärfsten begrenzte, im Roth gelegene Streifen sichtbar. Um eine
Verwechslung mit einem ähnlich gelegenen Streifen, dessen Ursprung in dem Chlorophyll-
gehalt der Nahrung zu suchen ist, zu vermeiden, empfiehlt Weber aus dem abgeheberten,
sauren Aether-Extract den Blutfarbstoff' nach Versetzen mit alkoholischer Kalilauge in
wässerige alkoholische Lösung überzuführen und mit Schwefelammonium zu reduciren.
Dann entsteht, wenn Hämatin vorhanden ist, das charakteristische Spectrum des reducirten
Hämaiins (2 Streifen im Grün), während das Chlorophyll- Spectrum unverändert bleibt.
3. Für den Praktiker dürfte folgendes (in jüngster Zeit von Weber unter der Leitung
von Fr. Müller ausgearbeitete) Verfahren vorzuziehen sein, da es nicht die Anwendung
eines Spectral-Apparates benöthigt: Man zerreibt eine Probe der Fäces mit Wasser, dem
man ein Drittel Volumen Eisessig zugesetzt hat und schüttelt mit Aether aus. Von diesem
sauren Aether-Extract werden nach der Klärung einige cm'^ abgegossen und mit etwa 10
Tropfen Guajak-Tinctur und 20—30 Tropfen (verharzten) Terpentinöls versetzt. Bei An-
wesenheit von Blutfarbstoff' entsteht eine blau violette Färbung; ist kein Blut vorhanden,
so tritt eine rothbraune Färbung, oft mit einem Stich ins Grüne auf. Der Ausfall der
Reaction wird deutlicher, wenn man nach dem Zusatz von Wasser den blauen Farbstoff
mit Chloroform ausschüttelt.
Dieses Verfahren ist eine Modification der van Deen'schen Probe auf Blutfarbstoff,
welche für die Untersuchung der Faeces ohne weiteres angestellt, nicht brauchbar ist, da
sie z. B. auch mit manchen Pflanzenbestandtheilen, ferner auch mit Eisenpräparaten u. a.
eine Pteaction ergibt. Dagegen lassen sich diese Fehlerquellen nach den Untersuchungen
von Weber vermeiden, wenn man die Probe, wie eben geschildert, mit dem sauren Aether-
Extract anstellt.
Diese Probe ist sehr empfindlich. Der Genuss von kaum 3 cm^ rohen Blutes genügte,
um im Extract des Tagesstuhls positiven Ausfall zu bedingen. Bemerkenswerth ist, dass
nach Genuss von halbrohem (nach englischer Art gebratenem) Fleisch positive Re-
action beobachtet wurde. Man muss also den Genuss derartigen Fleisches (oder anderer
stark bluthaltiger Nahrungsmittel) ausschhessen können, ehe man den positiven Ausfall der
Reaction mit Sicherheit auf eine Blutung in den Magendarmcanal beziehen darf.
Um Mucin, welches sich in normalen und pathologischen Fäces vor-
findet, nachzuweisen, geht man am besten in folgender Weise vor: Man rührt
die Fäces mit Wasser an, fügt das gleiche Volumen Kalkwasser hinzu, lässt
das Gemenge mehrere Stunden stehen, filtrirt und versetzt das Filtrat mit
FÄCES UND FÄCES-UNTERSUCHUNG. 635
Essigsäure: Eine auftretende Trübung spricht für die Anwesenheit von Mucin.
(v. Jacksch).
Um Eiiveiss (das in normalen Fäces fehlt, bei Diarrhöen jedoch gewöhn-
lich vorhanden ist) nachzuweisen, kann man die Fäces mit durch Essigsäure
schwach angesäuertem Wasser extrahiren und mit dem Filtrat die bekannten
Eiweissproben anstellen.
Nach Fr. Müller kann man aus der quantitativen und qualitativen
Untersuchung der in den Fäces enthaltenen Feite gewisse klinisch-diagnostische
Schlüsse ziehen. (Bezüglich der Methoden muss hier auf die Arbeiten von
Müller verwiesen werden.) Der Schmelzpunkt des Fettes im Koth ist um
so höher und übertrifft den Schmelzpunkt des Nahrungsfettes umso mehr, je
vollkommener die Kesorption ist. Bei Gesunden sowie bei Icterischen, bei
welchen das Pancreas-Secret zum Darm Zufluss hatte, erschien das Fett der
Fäces zum weitaus grössten Theile gespalten (durchschnittlich 84"3%.) In
Fällen, bei welchen ein Verschluss des duct. Wirsungianus oder eine Degene-
ration des Pancreas vorlag, war nur eine viel geringere Spaltung des Fettes
(durchschnittlich 39*87o) nachzuweisen. Der Befund eines abnorm geringen
Gehaltes an den Spaltungsproducten der Neutralfette (d. h. an Fettsäuren und
Seifen) in den Fäces macht daher eine Degeneration des Pancreas oder einen
Abschluss seines Secretes vom Darm wahrscheinlich.
Von den Farbstoffen des Kothes lässt sich ürobilin (oder Hydrobili-
rubin) leicht durch Extraction mit angesäuertem Alkohol extrahiren. Der
Nachweis im Extract geschieht spectroskopisch (Streifen an der Grenze von
Grün und Blau) oder durch Zusatz von Chlorzinklösung und Ammoniak (schöne
Fluorescenz). Bei vollständigem Abschluss der Galle vom Darm fehlt nach
Müller das Hjdrobilirubin in den Fäces ganz. Um Gallenfarhstoff, der,
wie schon oben erwähnt, nur unter pathologischen Verhältnissen in den Fäces
vorkommt, nachzuweisen, kann man die Gmelin'sche Reaction direct anstellen.
(Zusatz von Salpetersäure, der eine Spur salpetriger Säure beigefügt ist);
Auftreten der bekannten Farbenringe.
Um geringe, auf diese Weise nicht nachweisbare Mengen Gallenfarbstoff aufzufinden,
verreibt man etwas Koth mit Chloroform und einigen Tropfen Salzsäure und stellt mit dem
Chloroform-Extract entweder direct oder nach Aufgiessen auf Filtrirpapier und Verdunsten-
lassen die Gmehn'sche Reaction an (F. Müller.)
Von den übrigen chemischen Bestandtheilen der Fäces nennen wir: die
anorganischen (Äschen-)Bestandtheile, ferner Nudeine, Peptone (nach v. Jacksch
nur unter pathologischen Verhältnissen vorkommend), Producte der Eiweiss-
fäulnis {Phenol^ Indol, Skatol), Gallensäuren, Cholesterijt, Kohlehydrate, Fer-
mente, Ptomaine, Gase. Auf die Methoden des chemischen Nachweises dieser
Körper braucht hier nicht eingegangen zu werden, da derselbe bisher keine
praktische Bedeutung hat.
Die quantitative chem ische Unt ersuchung der Fäces, nament-
lich ihres Stickstoff- und Fettgehaltes, bildet einen integrirenden Bestand-
theil jeder exacten Stoffwechsel-Untersuchung. Bezüglich der hiefür
in Betracht kommenden Methoden muss jedoch auf andere Abschnitte dieser
., Bibliothek" verwiesen werden.
V. Die bacteriologische Untersuchung der Fäces.
Wie bereits oben erwähnt wurde, ergibt die mikroskopische Untersuchung
zahlreiche Mikroorganismen verschiedener Art. Nicht jede dieser Arten ist
auf unseren gewöhnlichen Nährböden cultivirbar, wahrscheinlich sind auch
viele der in den Fäces sichtbaren Mikroorganismen bereits abgestorben, so
dass das Plattenverfahren häutig weit weniger Keime ergibt, als die mikro-
skopische Untersuchung anzeigt. Eine Aufzählung der zahlreichen bisher in
den Fäces gefundenen Mikroorganismen erscheint an dieser Stelle überflüssig.
636 FETTHERZ.
Erwähnt sei nur, dass sich fast in allen normalen und pathologischen Fäces
neben anderen Arten solche finden, die zur Gruppe des zuerst von Escherich
beschriebenen hacterium coli commune gehören.
Es sind dies kurze, ziemlich dicke Bacterien, theils beweglich, theils unbeweglich, im
Aussehen und Wachsthum auf den meisten Nährböden dem Typhus-Bacillus ähnlich; im
Gegensatz zu dem letzteren bringen sie sterile Milch zur Gerinnung und vermögen in zucker-
haltigen (meist auch, wenngleich schwächer, in den gewöhnlichen) Nährböden Gas zu ent-
wickeln; meist unterscheiden sie sich auch durch andere Merkmale vom Typhusbacillus.
Diese Bacterienarten führen, wie Untersuchungen der letzten Jahre gezeigt haben,
nicht immer ein lediglich saprophytisches Dasein, sondern können im Darmcanal und aus
diesem in den Körper eindringend pathogene Wirkung enthalten.
Bezüglich des Nachweises specifisch pathogenen Mikroorganismen — vor
allen des Cholera- und des Typhus-Bacillus — in den Fäces muss, da hierzu das
Culturverfahren notwendig ist, auf den bacteriologischen Theil dieses Werkes verwiesen
werden. (Bezüglich des Tuberkel b acillus vergl. oben unter „Mikroskopischer Unter-
suchung".)
R. STERN.
Fettherz. {Coj^ adlposum und Begeneratio myocardü adiposa.) Unter
diesem Namen werden eine Anzahl Veränderungen der Herzmuscu-
latur zusammengefasst, die streng genommen keinen selbständigen Platz
in der Pathologie verdienen, da sie einerseits nur als Theilerscheinung all-
gemeiner Ernährungsstörungen, anderseits als Folge anderer Krankheits-
processe auftreten. Indess mag ihre praktische Wichtigkeit eine kurze Be-
sprechung rechtfertigen.
Man unterscheidet zwei Formen. Die eine: das Mastfettherz, ist
charakterisirt durch übermässige Entwicklung des subpericardialen Fett-
gewebes, welches das Herz von Aussen in grosser Masse umkleidet, zunächst
ohne die Musculatur zu beeinträchtigen.
Auf einem zur Oberfläche des Herzens senkrechten Durchschnitt unterscheidet man
deutlich das Pericard. dann eine mehr-weniger mächtige, in extremen Fällen bis über 1 cm
dicke Schicht reinen Fettgewebes, nicht scharf von dem darunter liegenden Muskelgewebe
geschieden. Am stärksten ist die Fettschicht an den Stellen entwickelt, die auch physio-
logisch Fett führen: in den Furchen, an der Herzspitze, den Herzohren. Das Gesammtherz
kann dadurch sehr beträchtlich an Grösse und Gewicht zunehmen, seine Gestalt wird kugel-
förmig und die äussere Differenzirung seiner Theile verschwindet. Die Stätte der Fettent-
wicklung ist das subpericardiale Bindegewebe. Da das normale Fettgewebe dieser Stellen
mit zunehmendem Alter immer stärker wird — beim Neugeborenen ist es kaum wahrnehm-
bar - nnd natürhch auch innerhalb der Breite der Gesundheit grosse Schwankungen in
seiner Mächtigkeit aufweist, ist es vollständig unmöglich, eine scharfe Grenze zwischen den
normalen und abnormen Fällen zu ziehen.
Von der Oberfläche aus dringt das Fettgewebe in die Muskelmasse des Herzens ein,
drängt die Lamellen imd Fibrillen desselben auseinander, und man findet dann wahre Fett-
träubchen mehr-weniger tief in das Muskelfleisch hineingewachsen, zwischen ihnen in un-
regelmässiger Anordnung die übriggebliebenen Muskelbündel. Naturgemäss ist die Ent-
wicklung des Fettgewebes am mächtigsten, die Zerfaserung am stärksten in der Nähe des
Pericard; je weiter nach dem Endocard zu, desto schwächer werden seine Ausläufer. Sie
können aber bis ganz an das Endocard herandringen, so dass man dann auch an der
Innenfläche der Herzhöhlen die Fettmassen durchschimmern sieht. Der rechte Ventrikel ist
relativ stärker betheiligt als der linke, dagegen sind die Atrien, abgesehen von den Fett-
massen an den Sulcis und den Herzohren, was ihre Muskelsubstanz betiifft, kaum durch-
wachsen. -
Das Fett findet sich bei dieser Form des Fettherzens, so lange sie rein bleibt, nur
in der Form des Fettgewebes. Es sind wahre Fettzellen, grosse mit flüssigem Fett gefüllte,
aus Bindegewebszellen hervorgegangene Zellen, der Kern an der Wand anUegend, die die
Fettträubchen zusammensetzen. Auch die chemische Zusammensetzung des Fettes ist keine
andere als die des allgemeinen Körperfettes. Die Bildung der Fettzellen geht stets von
den normaler Weise vorhandenen Fettlagern aus, was sich schon aus der geschilderten An-
ordnung der Fettmassen ergibt und ist durchaus dieselbe, wie an jeder anderen Stelle
des Körpers.
Die hier beschriebene Form des Fettherzens kommt nicht anders als
Theilerscheinung allgemeiner Obesität vor. Die Ursachen sind also
FETTHERZ. 637
dieselben, wie die der allgemeinen Fettsucht.*) Höchstens kann man anführen,
dass versucht worden ist (Bedford Fenwick) in übermässigem abdominalem
Druck mit Heraufdrängung des Zwerchfells durch Ovarialgeschwülste u. dergl.
eine Ursache des Fettherzens zu finden. Es ist freilich anzuerkennen, dass
es Fälle gibt, in denen das Herz in hervorragender Weise befallen ist, mehr
als andere innere Organe. Schon Moegagni fand bei einem sonst mageren
Manne ein sehr fettes Herz. Häufiger ist das Umgekehrte, dass man auch
bei sehr fetten Personen nicht so viel Fett am Herzen findet als man erwartet.
Ueber die Ursachen dieser Verschiedenheiten ist nichts bekannt; möglich,
dass ihnen Verschiedenheiten in der Thätigkeit des Herzens, bedingt durch
Geschlecht, Beruf, Lebensgewohnheiten zu Grunde liegen.
Die Vermehrung des Fettgewebes am Herzen hat an sich keine Folgen für seine
Function und ist somit auch für den Gesammtkörper bedeutungslos. Was man an Leuten
mit starkem Fettherzen dieser Art beobachten kann, mischt sich einestheils mit den Er-
scheinungen der allgemeinen Fettsucht, so dass es nicht möglich ist, den Antheil, den die
Herzaffection daran hat, rein herauszuschälen, andererseits bezieht es sich auf die Folgen,
die der Zustand für das Muskelfleisch des Herzens hat. Wenn nämlich das Fettgewebe
zwischen die Fasern desselben eindringt, so lockert es ihren Zusammenhang, drängt sie
auseinander und beeinträchtigt bald ihre Ernährung. Sie erscheinen dann blass, verschmä-
lert und nicht lange dauert es, bis auch ihre Structur leidet und zu dem ursprünglich ein-
fachen Mastfettherz die fettige Degeneration der Herzmusculatur hinzutritt, die man
als die zweite Form des Fettherzens anatomisch und klinisch zu bezeichnen pflegte.
Viel häufiger als im Gefolge des Mastfettherzens tritt die fettige De-
generation freilich selbständig auf. Selbständig nur im Gegensatz zu der
bisher besprochenen Form, nicht in dem Sinne, dass sie eine bestimmte Krank-
heit sui generis sei. Im Gegentheil hat man sich in neuerer Zeit ziemlich
einstimmig dahin geeinigt, sie nur als Folge einer Ernährungsstörung des
Herzmuskels anzusehen, wodurch sie aus dem System verschwindet und an
ihre Stelle die anatomische Grundlage dieser Ernährungsstörung tritt. Wenn
man diese als Myocarditis bezeichnet, so muss zugestanden werden, dass sie
eher alles Andere als eine Entzündung ist (See), denn es fehlen alle Cardinal-
symptome der Entzündung. Weder Hyperämie noch Fieber, weder Schmerz
noch Schwellung oder Exsudatbildung begleiten sie.
Als Ursache steht die Arteriosclerose der Coronararterien im Vorder-
grund, neben ihr die acute Anämie (s. d. I pag. 53, ds. Bd.). Wenn auch die
Entstehung der Degeneration des Herzmuskels bei diesen Krankheiten ver-
schieden sein mag, so ist doch das Endresultat das gleiche. Aber auch die
einfache Anämie, ja selbst die Chlorose können zur Fettdegeneration des
Herzens führen. Sie erscheint ferner im Gefolge der verschiedensten Infec-
tionskrankheiten — der Tuherculose, des Tyxjkus, der Pocken, des Puerperalfiebers
besonders rasch und intensiv der Recurrens — endlich als Intoxications-
erscheinung nach Phosphor-, Arsen-, Antimon- und Schivefelsäurevergiftung (über
das Kali sind in dieser Beziehung die Acten noch nicht geschlossen) nach
Chloroform und bei chronischen Vergiftungen durch Alkohol, Tabak und Chloral.
Endlich ist nicht zu vergessen ihr Auftreten im hypertrophischen Herzen, wo
sie namentlich im linken Ventrikel zur Störung der Compensation bei Aorten-
fehlern führt und das Ende einleitet.
Gemeinsam ist allen diesen Fällen und daher als Ursache der De-
generation anzusehen die Störung der Blutzufuhr zu den Muskelfibrillen
und damit ihrer Ernährung. Es ist vor Allem das Deficit in der Sauerstofi-
zufuhr, welches die Fettdegeneration bedingt. Wie die allgemeine Fettsucht
von allgemeinem Sauerstofi'deficit, so kann man ohne Zwang die localen Ver-
fettungen von localem Sauerstoffmangel abhängig machen. Ungezwungen bieten
sich dieser Erklärung diejenigen Herzverfettungen, die bei Anämie und
Cachexien auftreten. Auch die fettige Degeneration der Muskelfasern, die
*) Vergl. Artikel ^Fettsucht'' (Schweninger)
638 FETTHERZ.
zum Mastfettherz hinzutritt, lässt sich auf die Behinderung der Circulation durch
die Fettmassen zurückfüliren und auf denselben Vorgang die Degeneration, die
zuletzt das hypertrophische Herz befällt, insofern auch hier durch die Ver-
breiterung der Fibrillen die Capillaren comprimirt oder wenigstens der Zutritt
der Ernährungsflüssigkeit und des Sauerstoffs zum Innern der Fibrille erschwert
wird. Die Degeneration in Folge einzelner Gifte (Phosphor, Alkohol, Chloro-
form) kann ebenso auf den Sauerstoffmangel zurückgeführt werden, während
dies für andere, wie Arsen, Tabak und namentlich die Toxine der Infections-
krankheiten vor der Hand noch nicht möglich ist und man für dieselben
eine specifische, vielleicht fermentative Wirkung auf die Umsetzung des Mus-
keleiweisses in Fett annehmen muss. Die Meinung, dass die hohe Blut-
temperatur bei den Infectionskrankheiten an sich — unangesehen der Ursache
des Fiebers — diese Umsetzung bedinge (Liebeemeistee) ist Angesichts der
Erfahrung, dass viele Fälle von Infectionskrankheiten (adynamischer Typhus
u. s. w.), die nur geringe Temperaturerhöhung zeigen, gerade sehr rasch und
in sehr hohem Grade der fettigen Herzdegeneration unterliegen, nicht haltbar.
Im Beginn der Degeneration wird die sonst so scharf ausgesprochene Querstreifung
der Muskelfibrillen undeutlich, sie sehen wie bestäubt, verschleiert aus, die Differen-
zirung der Muskelscheiben verschwindet mehr und mehr; schliesslich findet sich das
Sarkolemma an ihrer Statt mit einem Inhalt kleinster, dunkler Körner erfüllt, deren Fett-
natur durch die bekannten mikroskopischen Reactionen leicht zu erkennen ist. Anfangs
gleichmässig vertheilt, fliessen sie zuletzt zu grösseren Tropfen zusammen, die am Ende
auch verschwinden und nur den leeren Sarkolemniaschlauch mit dem erhalten ge-
bliebenen Kern zurücklassen. Die Degeneration betrifft nicht alle Fasern gleichmässig und
selbst in den schwersten Fällen findet man immer noch viele derselben intact; die be-
fallenen in den verschiedensten Stadien der Entartung. Daher man auch makroskopisch
bei einem solchen Herzen das Fleisch niemals in seiner ganzen Dicke gleichmässig gelblich,
resp. weisslich gefärbt, sondern marmorirt sieht, die gelblichen Stellen in unregelmässige
Anordnung doch stets streifig mit rothen, respective braunen in leidlich scharfer Abgrenzung
wechselnd. Für besonders charakteristisch gelten die gelblichen durch das Endocard durch-
schimmernden Herde und Streifen, von denen die an den Papillarmuskeln wegen ihren
Folgen für das Spiel der Klappen iDesondere Aufmerksamkeit beanspruchen. Nur bei den
acuten Phosphorvergiftungen ist das Herzfleisch in seiner ganzen Ausdehnung gleichmässig,
nicht bloss stellenweise erkrankt (Ponfick). Die Wandung ist dabei meist, aber nicht noth-
wendig verschmälert, immer aber weich, brüchig, beinahe breiig und lässt den drückenden
Finger leicht in das morsche Gewebe eindringen. Auch der Fettbeschlag auf dem durch-
schneidenden Messer fehlt nicht.
Bemerkenswerth ist die Schnelligkeit, mit der die Degeneration
sich vollzieht. Die Phosphorvergiftung kann binnen 24 Stunden ein vorher
gesundes Herz zur typischen fettigen Degeneration bringen und auch Krank-
heiten (Typhus, Puerperalfieber, vor Allem aber Recurrens) binnen wenig
Tagen. So treten auch bedrohliche Erscheinungen bei der einfachen Fett-
umlagerung des Herzens, die doch ganz allmälig sich entwickelt, sehr rasch,
oft plötzlich ein und man kommt unwillkürlich auf den Gedanken, dass hier-
mit der Uebergang von der einfachen Fettinfiltration zur Degeneration der
Muskeln selbst angezeigt werde. Allein der Zeitpunkt dieses Ueberganges
ist schon, anatomisch, geschweige denn klinisch nicht so scharf bestimmt, dass
dieser Schluss gerechtfertigt wäre. Zur Erklärung des Umstandes, dass ge-
rade die Musculatur des Herzens so auffällig rasch der fettigen Degeneration
anheimfallen kann, darf man auf den im Normalleben durch und wegen der
fortwährenden Thätigkeit sehr lebhaften Stoffwechsel derselben hinweisen ; wie
denn auch das Zwerchfell, welches ähnlich angestrengt zu arbeiten hat, unter
denselben Umständen wie das Herz und mit ihm häufig in fettiger Entar-
tung betroffen wird.
Was die Erscheinungen im Leben anlangt, so resultiren sie im We-
sentlichen aus der Herzschwäche und decken sich zum grössten Theile mit
dem Begriffe der Herzinsufficienz, soweit sie nicht von den die Herzverfettung
veranlassenden Krankheiten abhängen. Die einfache Fettumlagerung macht
in der Mehrzahl der Fälle keine Symptome. Sie wird vorausgesetzt bei fetten
FETTHERZ. 639
Leuten, insbesondere wenn etwa einige der unten zu erwähnenden Zeichen
sich finden. Einfluss auf den Gesammtorganismus erlangt sie erst dann, wenn
die Fettwucherung die Musculatur des Herzens in der geschilderten Weise
beeinliusst. Man kann daher auch in den Symptomen die beiden Formen
des Fettherzens nicht scharf von einander scheiden.
Hervorzuheben ist unter den Symptomen ein dumpfer Druck in der
Herzgegend, Gefühl der Schwere daselbst, in wechselnder Intensität, häufig
nur bei stärkerer Herzthätigkeit im Gefolge körperlicher Anstrengung oder
geistiger Erregung oder — mechanisch durch Auftreib ung des Zwerchfells
vermittelt — bei Magen- und Darmblähung auftretend ; nicht selten dadurch,
dass bei Druck auf die betreffenden Intercostalräume die Empfindung sich
verstärkt, eine Intercostalneuralgie vortäuschend. Es kommt aber auch wahre
Neuralgie des 4. bis 6. linken Intercostalnerven zur Beobachtung, die sich durch
Schmerzhaftigkeit auch solcher Nervenpunkte, die vom Herzen entfernt liegen,
als solche ausweist. Ob sie mechanisch, durch Druck des vergrösserten Her-
zens oder reflectorisch zu Stande kommt, bleibe dahingestellt.
Eine recht charakteristische Erscheinung bei Herzverfettung ist weiter-
hin die, dass die Kranken plötzlich im Gehen stille stehen müssen. Nicht
eigentlich durch Athemnoth gezwungen, sie können einfach nicht weiter gehen,
müssen sich erst einige Minuten erholen ; sie erklären, ein unbestimmtes nicht
näher zu beschreibendes Gefühl, das doch nicht Schmerz zu nennen sei, dessen
Ausgangspunkt aber mit grosser Bestimmtheit in die Herzgegend verlegt
wird, zwinge sie dazu. Diese Erscheinung tritt durchaus nicht blos bei stär-
kerer Anstrengung, beim Steigen u. s. w. auf, sondern auch bei vollständig
ruhigem Gange auf ebener Erde. Beim Steigen, bei stärkerer Armbewegung
und dergleichen macht sich dagegen bald Athemnoth — in kurzen flachen
Athemzügen — geltend, die bei weiterem Fortschreiten der Krankheit sehr
hohe Grade erreichen und jede Bewegung sehr qualvoll machen kann, wäh-
rend sie sich — und auch das ist sehr charakteristisch — bis in die spä-
testen Stadien hinein, bei vollständiger Ruhe und Bewegungslosigkeit nur
wenig bemerkbar macht. Die Anfälle von Asthma cardiale, ja von typischer
Stenocardie, die man als Folgen des Fettherzens anführt, sind wohl nicht von
dieser, sondern direct von der das Fettherz bedingenden Erkrankung der
Coronararterien abzuleiten. Dasselbe gilt von den Palpitationen und der
häufig durch sie bedingten Schlaflosigkeit.
Im Weiteren wäre der Schwindelanfälle zu gedenken, die schon sehr
frühzeitig hier und da sich einzustellen pflegen und schliesslich bis zur Ohn-
macht führen können, ferner der Oedeme und anderer Stauungserscheinungen,
die durch das cyanotisch-livide Aussehen gekennzeichnet, als Folge der Herz-
schwäche im letzten Stadium sich einstellen. Auch epileptische und epileptoide
sowie apoplectiforme Anfälle sollen als Folge der Herzverfettung zur Be-
obachtung kommen.
Das intercurrente Auftreten aller dieser Zufälle erklärt sich aus einer
plötzlich eintretenden Erschlaffung des Herzens, zu der die Be-
dingungen bei einem verfetteten Herzen viel reichlicher gegeben sind als bei
gesunder Musculatur. Günstigen Falles kann man sogar die acute Erweite-
rung des Herzens percutorisch nachweisen (Högerstedt, Fränkel, Schott).
Andrerseits aber erschwert dieser Umstand — namentlich da ähnliche Er-
schlaffungen auch ohne Fettherz vorkommen — die Diagnose aufs Aeusserste.
Neben den genannten Erscheinungen kann sich dieselbe auf die Vergrösserung
der Herzdämpfung stützen, die bei vorhandener allgemeiner Fettsucht
freilich nur selten mit genügender Sicherheit nachzuweisen ist. Das fettig
entartete Herz pflegt namentlich in der Breite zuzunehmen, eine Folge der
Ausdehnung der weniger widerstandsfähigen Wandungen. Der Herzstoss,
wenn er nicht wie zumeist ganz verschwindet, ist weich, undeutlich, häufig
640 FETTHERZ.
imdulirend, nach aussen und unten verschoben, die Töne sind rein aber schwach,
dumpf und ohne deutliche Accentuation. Der Puls ist klein und namentlich
bei alten Leuten vielfach unregelmässig und ungleichmässig bis zum voll-
ständigen Delirium cordis; auch bei einfachem Mastfettherz kann er inter-
mittirend sein. Wenn die Erscheinung mit Abnahme der Obesität verschwindet,
darf man sie mit Recht auf das Fettherz als solches beziehen (Kisch).
Von einem Verlauf der Krankheit ist nach dem Gesagten kaum zu
reden. Da die meisten Erscheinungen der Krankheit im Beginn nur anfalls-
weise auftreten und durch veranlassende Ursachen ausgelöst werden, so ist
höchstens daraus auf ein Fortschreiten der Krankheit zu schliessen, dass die be-
treffenden Zufälle häufiger und auf geringfügigere Veranlassung hin sich ein-
stellen. Viel, ja Alles hängt dabei vom Verhalten der Kranken ab. Ist das-
selbe unzweckmässig, so kann die Erkrankung sehr rasch fortschreiten und
binnen weniger Monate, ja Wochen, zu den bedenklichsten Enderscheinungen
— Oedemen, Cyanose etc. — führen, während sie bei entsprechendem Re-
gime lange Jahre hindurch ohne Einfiuss auf Leistungs- und Genussfähigkeit
bleibt. Im Allgemeinen muss man ihr einen hervorragend chronischen Verlauf
mit grossen über Jahre sich erstreckenden Schwankungen zusprechen. Bei
den durch acute Krankheiten, Vergiftungen und anderen Herzkrankheiten
veranlassten Verfettungen hängt natürlich der Verlauf von dem der Grund-
krankheit ab.
Die Rückbildungsfähigkeit auch sehr weit vorgeschrittener Herz-
verfettungen steht ausser Zweifel. Das übermässig gebildete Fettgewebe
atrophirt und an Stelle der verfetteten Muskelfibrillen bilden sich nach Re-
sorption des fettigen Detritus neue aus den erhaltengebliebenen Kernen.
Ja man darf annehmen, dass dieser Neubildungsprocess immerzu vor sich
geht; es kommt dann nur darauf an, was rascher erfolgt: die Zerstörung der
vorhandenen oder die Bildung neuer Fibrillen. Im ersten Falle schreitet die
Erkrankung des Gesammtherzfleisches voran, im zweiten wird sie rück-
gängig.
Der letale Ausgang erfolgt durch Stillstand des allzu schwach werden-
den Herzens oder durch Ruptur der Wandungen, wenngleich diese seltener
als man anzunehmen geneigt sein möchte, direct auf das Fettherz als vielmehr
auf die Erkrankung der Coronargefässe zurückzuführen ist. In Folge der ge-
schwächten Circulation findet sich häufig Gerinnselbildung in den Herzhöhlen,
ohne dass, eben wegen der Schwäche der Herzaction, die Gefahr der Ver-
schleppung von Thromben nahe läge.
Die therapeutischen Maassnahmen haben vor allen Dingen wo
es möglich ist, der ursächlichen Erkrankung entgegenzutreten. Bei allen
Krankheiten, die erfahrungsgemäss zur Herzverfettung führen, wie Typhus
u. s. w. muss von vornherein bei der Behandlung Rücksicht darauf genommen,
von schwächenden Methoden möglichst Abstand genommen und durch geeignete
Nahrungszufuhr eventuell auch durch Excitantien die Ernährung des Herzens
auf gutem Stande erhalten werden. Bei dem durch Intoxicationen entstandenen
Fettherz wird man die Ausscheidung des Giftes zu befördern eventuell dessen
Neutralisirung anzustreben,, bei den chronischen Intoxicationen (Alkohol,
Tabak) die fortdauernde Zufuhr der Noxe zu unterbrechen haben. In vielen
Fällen genügt das Letztere. Die Maassregeln gegen das idiopathische Fettherz
von der Form des Mastfettherzens bewegen sich im Allgemeinen in dem
Rahmen der gegen die allgemeine Fettsucht zu richtenden; nur dass sich bei
hervorragender Betheiligung des Herzens manche von selbst verbieten. Man
kann einem Kranken mit exquisitem Fettherz starke körperliche Bewegung
nicht zumuthen und würde sie nur auf die Gefahr plötzlicher Synkope oder
selbst der Ruptur hin erzwingen. Von den gangbaren Entfettungscuren bewährt
sich in der Praxis in den in Rede stehenden Fällen am Besten eine milde
FETTHERZ. 641
Bantingcu7', welche im Gegensatz zu den OerteVschen und Ebstein'schen
Methoden vom Kranken ohne allzu grosse Entbehrungen lange Zeit durchge-
führt und zur Lebensgewohnheit gemacht werden kann. Darauf aber kommt
es an: es gilt nicht rasch eine beträchtliche Abmagerung zu erzielen, sondern
einen Zustand herzustellen, wo bei Erhaltung des Körpergewichts und Fett-
menge, die dem Individuum nach Race, Familienanlage und Körperentwicklung
zukommt, dem Herzen diejenige Art und Menge von Ernährungsmaterial ge-
boten wird, deren es zur Erhaltung seiner Structur und damit seiner Leistungs-
fähigkeit bedarf. Man verbiete also alle Flüssigkeiten, Mehlspeisen, Kar-
toffeln, lasse nur wenig Brod — wo möglich nicht Weizenbrod ^ — gemessen,
die Sättigung hauptsächlich in FAern und Fleisch aller Art suchen, erlaube
als Zugsihe frisches Gemüse, Obst, Salat; an Getränken höchstens ein Glas
starken Weines, kein Bier; mache darauf aufmerksam, dass es gut sei, die
Flüssigkeitszufuhr überhaupt möglichst einzuschränken. An eine solche Diät
gewöhnen sich die Kranken umso rascher, als sie sehr bald an ihrem besseren
Befinden und der Zunahme ihrer Leistungsfähigkeit deren günstigen Einfluss
merken. So wird sie zur Lebensgewohnheit und wenn auch hier und da
kleine Excesse vorkommen und im Laufe der Jahre ohnedem von der Strenge
der Verordnung Manches abbröckelt, ist doch in der Hauptsache eine genügende
und doch nicht übermässige Ernährung gewährleistet und dem Arzte liegt
nur ob, allzu grosse Abweichungen zu verhüten.
Es empfiehlt sich zur Einleitung und Vorbereitung der geschilderten
Diätcur einen Cursus in Marienbad durchmachen zu lassen, der auch bei
Wiederanwachsen des Fettansatzes ab und zu wiederholt werden kann. Nur
darf man in den Fällen mit stark afficirtem Herzen die Marienbader Ent-
fettungscur noch weniger forciren als bei allgemeiner Fettsucht. Auch Karlsbad
und die Wässer seiner Classe können, wenn die Darmthätigkeit stark dar-
niederliegt und nicht beträchtliche Anämie vorliegt, in Anwendung gezogen
werden. Zu meiden sind bei ausgesprochenem Fettherz die hochgelegenen
Curorte mit alpinem Klima, ebenso die erregenden Seebäder der Nordsee und
des Oceans, während die mildere Ostsee und das mittelländische Meer hier und
da als allgemeine Stärkungsmittel gute Dienste leisten können. Nur
darf man nie vergessen, dass alle diese Curen nur Einleitung und Unter-
stützung der Diätcur darstellen. Es ist in der That von einer vier-, selbst
sechswöchentlichen Trink- und Badecur zu viel verlangt, dass sie nicht allein
die durch jahrelange unzweckmässige Leberjsweise herbeigeführte Ernälirungs-
störung heben, sondern auch die Möglichkeit geben soll, in Zukunft dieselbe
unzweckmässige Lebensweise ungestraft fortzusetzen.
Für die myocarditischen Formen der Herzdegeneration wird man bei
der Ernährung etwas mehr Gewicht auf die Vermeidung unnöthiger Flüssig-
keitszufuhr, weniger auf den Ausschluss der Amylaceen legen; mehr Wein,
unter Bevorzugung der schweren gehaltvollen Sorten, geben und die schwä-
chenden Curen mit Glaubersalzwässern vermeiden. Dagegen bewähren sich
in solchen Fällen vorzüglich die Soolbäder, wobei es weniger auf die Zusam-
mensetzung der Soole als auf die gehörige Dauer der Cur ankommt. 18 — 20
Soolbäder sind nur ein Anfang und wenn man diesen Anfang mit Vortheil
an irgend einer beliebigen Soolquelle hat machen lassen, müssen die Sool-
bäder bis zu 60 — 80 fortgebraucht werden, was ja heutzutage auch unter den
häuslichen Verhältnissen keine Schwierigkeiten bietet.
Eine medicamentöse Behandlung des Fettherzens tritt ein bei
drohenden Zufällen und im Endstadium. Die Analeptica, Valeriana, Campher,
Castoreum, Moschus, Aether spielen dabei die Hauptrolle. Bei sehr dilatirtem
Herzen und starker Stauung kann ein depletorisches Verfahren durch Diurese,
Diaphorese, selbst Blutentziehung durch Verminderung der Blutmenge das
Herz entlasten und dadurch lebensrettend wirken. Bei den anämischen For-
Bibl. med. W^iBsenschaften . I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten.
41
642 FETTSUCHT.
men des Fettherzens bietet sicli von selbst das Eisen als hilfreiches Medi-
cament, von dem man in solchen Fällen die stimulirenden Präparate wie
Titietura ferri aetherea etc. bevorzugt. Die eigentlichen Herzmittel endlich,
als deren Prototyp die Digitalis zu gelten hat, dürfen wegen drohenden Herz-
stillstandes und Ruptur nur mit grösster Vorsicht zur Anwendung kommen;
bildet doch grosse Herzschwäche eine Contraindication desselben. Nur unter
gesicherter fortdauernder Ueberwachung mag man sie bei kleinem um'egel-
mässigem Pulse, stockender Diurese und Ueberfüllung des Herzens versuchen
und auch dann nur in Verbindung mit Stimulantien.
KOHLSCHÜTTEE.
Fettsucht. (Fettleibigkeif, Obesitas, Ädipositas. Lipomatosis) bedeutet ab-
norme, vermehrte Anhäufung von Fett im Köi^Der. Dabei kann das Fett
mehi^ oder minder im ganzen Körper, soweit es dort überhaupt zur Fettan-
sammlung kommt, abgelagert sein {Lipomatosis universalis) oder nm" an ein-
zelnen Orten (Lipomatosis partialis. " ) Eine scharfe Grenze zwischen normaler
oder pathologischer Fettanhäufung ist gar oft nicht und jedenfalls nm' bis zu
einem gewissen Grade zu ziehen und es ist hier der Willkiü\ der Erfahrung,
der eigenen Beobachtung und Beurtheilung ein weiter Spiekaum geboten. Man
hat zwar bei Männern ein Gewicht von 90 kg, bei Frauen von Ibkg und dar-
über, bei mittlerer Körpergrösse, füi' Fettleibigkeit ausschlaggebend angesehen.
Andere wieder haben diese für gegeben erachtet, wenn der Leibesumfang in
Nabelhöhe den Umfang in Brustwarzenhöhe von 3 cm aufwärts überragt. An-
dere Angaben bezeichnen das Quantum der Fettmenge beim erwachsenen
Menschen als ausschlaggebend, und Fettsucht dann gegeben, wenn V40 des
Körpergewichtes vom Fette überschritten wird, lauter Angaben, die in prak-
tischer Beziehung sich oft gar nicht verwerthen lassen und auch theoretisch
mehr-minder willkiüiich oder doch zu unbestimmt oder zu allgemein sind,
vor Allem weil sie Momente, wie sie in Alter, Bace, Klima, Individualität,
Emähi'ung. Aii^eit, Lebensweise u. s. w. gegeben sind, gar nicht berücksich-
tigen. Für neugeborene Kinder z. B. beträgt das Fett gewiss bis Vm des
Köii^ergewichtes" und bei Frauen wird man von Fettleibigkeit oft noch lange
nicht sprechen, wo dies bei Männern mit gleicher Fettansammlung längst ge-
schehen wäre. Jedenfalls gibt es viele Grade und Uebergänge vom fetten
zum mageren Menschen, und wenn auch die Extreme über allen Zweifel stehen,
wie bei von uns beobachteten Fällen, wo das Köi^Dergewicht löO kg und dar-
über oder der Leibesumfang 130 cm betrug, ist man doch nicht im Stande,
eine allgemein giltige Grenze und Formel für Fettleibigkeit aufzustellen. Ganz
ungerechtfertigt ist es erst da von Fettsucht zu sprechen, wo etwa ein mehr
oder minder doch subjectives l'nbehagen auftritt.
"VTir haben von allgemeiner und partieller Fettleibigkeit gesprochen imd finden
anch in dieser Beziehung, abgesehen von den Fettgeschwtilsten, eine Pieihe von Uebergängen.
Weitans am häufigsten findet sich die partielle Fettsucht, und hier namentüch, an äusse-
ren Stellen, in den Bauchdecken, sei es über dem Magen, sei es unter dem IS^abel. iim
die Hüften, an der Brust, am Gesäss, an den Extremitäten, am Rücken etc., überall hier
immer im Unterhautzellgewebe; im Innern des Körpers, im Umkreis des Pericards.
des Herzens. Mediastinums, des Nierenbeckens, der Leber, im Netz etc.. hier im subserösen
Gewebe. Es gibt aber auch Köfpertheile, die selbst bei der grössten Fettansammlung vom
Fette frei bleiben, so Penis. Chtoris, Nymphen. Augenlider, Gehirn und seiae Häute, Ohr-
muscheln etc.
Wir wollen gleich hier betonen, dass es einen durchschlagenden Unterschied morpho-
logisch und chemisch zwischen physiologischem und pathologischem Fett kaum gibt und dass
namentlich die früher als Fettentartung und Fettinfiltration oder mikroskopisch_ als klein-
tropfiges und grosstropfiges Fett bezeichneten Unterschiede differential-diagnostisch nicht
immer stichhältio: oder verwerthbar sind.
*) Ganz abgesehen von geschwulstartigen Fettbildungen i^Lipomem. die hier nicht in
Betracht kommen.
FETTSUCHT. 64ij
Als Ursachen der Fettleibigkeit hat man die verschiedensten Momente
kennen gelernt und mit mehr oder minder Berechtigung als wichtig vertreten.
Hier ist zunächst ausser der angeborenen und der in einzelnen Fällen schon
sehr früh auftretenden, ungewöhnlichen Fettleibigkeit die füi' dieselbe oft
und gern angeschuldigte Heredität zu nennen.
Man sprach von Heredität der Fettleibigkeit bei einem Yolksstamme, in
einer Gegend, in einer Familie etc., aber wenn auch die Thatsache dieses
Vorkommens nicht geleugnet werden kann und soll, so ist doch zu ihrer Er-
klärung die „Heredität" gewiss nicht genügend, denn abgesehen von der
Schwierigkeit, etwas, was überhaupt nicht direct mit auf die Welt "gebracht
und also nicht ererbt ist, als hereditär anzusehen, wissen wir, dass oft bei den
meisten Individuen eines Volksstammes, sowie bei den Einwohnern einer
Gegend und erst recht bei den Mitgliedern einer Familie die Ernährungs-
und Lebensweise in ihren Grundzügen eine so ähnliche oder gleiche ist, dass
sie dieselbe Wirkung zeitigen kann und muss. Von einer Erblichkeit der
Fettsucht allein in diesen Fällen kann also nicht die Rede sein und wenn
man in der Erbfolge weit zurückgeht, muss man doch zu dem ersten Falle
kommen, der die Fettleibigkeit nicht ererbt hat.
Gestützt auf die Thatsache, dass man Kindern im frühesten Alter (3
Jahre und darunter wie darüber) begegnet, die ganz enorme Fettmengen
zeigen und Umfang wie Gewicht in ungewöhnlichem Masse aufweisen, hat
man von einer individuellen Disposition zur Fettsucht gesprochen, die
theils in einer mangelnden Energie der Gewebselemente ( Voit), theils aber in
einem zu geringen Hämoglobingehalt der rothen Blutkörperchen (Cohxheim
u. A.) liegen soll.
Bezüglich des Alters weiss man, dass über die 40-er Jahre hinaus schon
beim Manne, aber noch mehr beim Weibe häufig Fettleibigkeit, namentlich
am Bauche zu beobachten ist; man weiss, dass diese Fettleibigkeit schon
früher auftreten kann, wenn die Zeugungsunfähigkeit durch irgend welche
Umstände von Haus aus oder etwa durch Gas tration in frühere Zeiten fällt.
Dass nach Eintritt der Menopause sehr viele Weiber an Körper umfang und
Gewicht zunehmen und bei sonst gleichen Verhältnissen zur Corpulenz neigen,
ist eine allgemeine bekannte Thatsache.
Wie auch gewisse geistige und Charakter-Eigenschaften (Phleg-
ma etc.) mit mehr oder minder tiefer Begründung für das Zustandekommen
der Fettsucht angeschuldigt worden, ist hier ebenfalls zu erwähnen.
Vom Standpunkte der Wissenschaft dürfen wir eben den Einfluss nicht
verkennen, den Heredität, individuelle Disposition, Alter, Geschlecht und Cha-
rakter der Menschen auf die Entstehung der Fettleibigkeit ausüben können.
Für den praktischen Arzt jedoch, der mehr zum Helfen und Heilen berufen
ist, sind die oben genannten Momente, als solche, die er zu ändern und beein-
flussen kaum oder gar nicht vermag, oft so gut wie belanglos. Dem gegen-
über sind alle noch zu nennenden ätiologischen Factoren von grösserer Trag-
weite, vor Allem von viel praktischerer Bedeutung.
So hat man schon Unthätigkeit des Geistes als Ursache der Cor-
pulenz hingestellt und dafür sprechen eine Picihe von Erfahrungen, vor Allem
die, dass rührige, geistig rege und bewegliche Menschen ceteris paril)us gar
oft mager sind, während ein ruhiges, gleichmässiges, mehr-minder geistesträges
Leben, frei von Aufregungen, Sorgen und Kümmernissen, den Menschen leicht
fett macht.
Mit noch mehr Recht lässt man die Unthätigkeit des Körpers in
der Entstehung der Fettsucht eine wichtige Rolle spielen. Hier ist es ziemlich
einerlei, ob die Körperunthätigkeit durch zu viel oder zu lange hinterein-
ander Liegen, zu langes Schlafen, mangelnde Bewegung überhaupt, sitzende
Lebensweise, namentlich verbunden mit gewohnheitsmässigem Verweilen in
41*
644 FETTSUCHT.
schlechter, sauerstoffarmer Luft und dunklen Räumlichkeiten bedingt ist. Was
bei allen diesen Schädlichkeiten direct oder indirect die Fettbildung, bezie-
hungsweise die Entstehung der Fettsucht begünstigt, lässt sich wohl zunächst
auf eine Verminderung des organischen Verbrennungsprocesses, des Verbrauches,
der Abfuhr und Ausscheidung zurückführen. Hier sind auch die Erkrankungen
und Zustände zu erwähnen, die mehr oder minder Unbeweglichkeit des Körpers
direct oder indirect zur Folge haben (Lähmungen verschiedenster Art, Muskel-
atrophien, Knochenbrüche etc. an den unteren Extremitäten).
Das allerwichtigste ursächliche Moment der Fettsucht ist aber
im Essen und Trinken von jeher gesucht worden. Mit Recht! Denn wenn
der jeweilige Zustand des Menschen zumeist das Product seiner Lebensweise
und seiner A^erhältnisse ist, so muss „dieses Product" vom Essen und Trinken,
welche beide im menschlichen Leben eine so grosse Rolle spielen, wesentlich
beeinflusst sein. Es ist einleuchtend, dass gesteigerte Nahrung szufuhr,
ganz gleich, welcher Art, bei sonst gleich bleibendem oder vermindertem
Verbrauch und Ausscheidung eine Vermehrung des Körpergewichtes und Fett-
leibigkeit zur Folge haben muss, eine Thatsache, die in der Mast bei Thieren
ilire experimentelle Begründung gefunden hat.
Aber nicht allein der Menge, sondern auch der Qualität der Ingesta
hat man eine und zwar die Hauptrolle bei der Entstehung der Fettsucht zu-
erkannt. Als fettbildend und zur Fettsucht leicht führend hat man ausser
den Fetten selbst, hauptsächlich die mehl-, beziehungsweise zuckerhaltigen
Speisen angesehen, so Brod, Kartoffeln, Kuchen, Maccaroni, Reis, Polenta,
Kastanien, Hülsenfrüchte, Obst, Compot etc.
Dann hat man übermässiges Trinken, namentlich von alkoholischen
Getränken und hauptsächlich von Bier, aber auch von Kaffee, Thee, Milch,
Wasser etc. für das Zustandekommen der Fettsucht anschuldigen können.
Die moderne Physiologie hat auch in einem, freilich noch nicht zu Ende
geführten Kampfe, der Betheiligung der einzelnen Nahrungsstoffe an der Fett-
bildung die ihnen zukommende Rolle zu bestimmen versucht und Beweise
dafür aus dem Experimente, sowie aus den Erfahrungen an Mensch und Thier
gezogen. Wenn als feststehend zu betrachten ist, dass Fette und Stärke, im
Vergleiche zu dem Eiweiss die maassgebendsten Factoren für die Fettbildung
beziehungsweise Fettsucht sind, so ist nicht minder nachgewiesen, dass Stick-
stoff-, beziehungsweise eiweissreiche Nahrung, so gut wie Fette und Stärke zu
übermässiger Fettansammlung führen kann, namentlich wenn sie in Verbin-
dung mit vielleicht viel Getränken aller Art zur Ernährung dient.
Aus unseren Beobachtungen und Erfahrungen an einem ausserordentlich
reichen und variirten Krankenmaterial geht auf das Bestimmteste hervor, dass
neben der Menge und der Qualität der Ingesta, die Art und Weise der
Zufuhr wie die Mischung zwei wichtige Factoren bei der Entstehung
der Fettsucht sind, welche bis jetzt keine oder nur ungenügende Würdigung
gefunden haben. Bis jetzt hat man auf die Eintheilung der Mahlzeiten und
ihren Umfang, beziehungsweise auf die jeweilig eingeführten Mengen, sowie
auf ihre physikalische Beschaffenheit, ob trocken, ob flüssig, mit oder ohne
gleichzeitigem Genuss von Getränken, ob langsam oder schnell zugeführt etc.,
bei der Beurtheilung, ob eine Nahrung fettbildend ist oder nicht, gar kein
Gewicht gelegt: mit einem Worte, die Nahrung war bis jetzt Alles,
die Ernährungsweise nichts. Gerade in der Nichtachtung dieses wich-
tigen Factors liegt vielleicht zum Theil die Erklärung für die sich oft wider-
sprechenden Resultate vieler Untersuchungen über Ernährung, denen nur die
Menge und die Qualität der Ingesta zu Grunde gelegt wurde.
Eine ganze Menge krankhafter Processe, wie Störungen der Geschlechts-
thätigkeit, Menstruationsanomalien, Puerperium, Impotenz, ebenso Chlorose,
Leucämie und die heutzutage besonders viel verbreitete, gepflegte und
FETTSUCHT. 645
schleclit behandelte Anämie verschiedener Provenienz, gam gleich aus welcher
Veranlassung, sind ebenso hcäuiig von Fettleibigkeit gefolgt, wie von ihr ab-
liängig und geben oft das schönste Paradigma eines pathologischen Circulus
vitiosus. Hier fehlt der Sauerstoff im Organismus, der Yerbrennungsprocess
liegt darnieder, die oft in mangelhafter Menge eingeführte Nahrung wird weder
richtig verbraucht noch ausgeschieden und setzt sich theilweise als Fett ab.
Auch hier bestätigt der Versuch an Thieren die tägliche Beobachtung in der
Krankenpraxis.
Für den Menschen handelt es sich doch meist um eine Combination
und Variation mannigfachster Umstände. Reichliche, zu reichliche,
unzweckmässige Nahrung und deren Zusammensetzung, unzeitgemässe Nahrungs-
xufuhr, Missbrauch von Kaffee, Thee, Suppen, Milch, Cacao, Chocolade, — jeder
Flüssigkeit, selbst Wasser, nicht bloss der Alkoholica, — sowie mangelhafte
geistige Thätigkeit oder körperliche Bewegung etc. Wie weit das eine oder
andere Moment im gegebenen Falle die Hauptrolle spielt, wird sich meist leicht
feststellen lassen, als das wichtigste Ergebnis der Anamnese und Krankenunter-
suchung, als das Punctum saliens, um welches die Behandlung sich drehen
muss.
Wollen wir aus dem Gesagten auf das Wesender Fett sucht schli essen,
so müssen wir uns dahin äussern, dass der Fettleibige das Ptesultat einer
übermässigen Nahrungszufuhr bei normalem Verbrauch, oder eines mangel-
haften Nahrungsverbrauches bei normaler Zufuhr oder noch einer wenigstens
verhältnismässig übermässigen Nahrungszufuhr bei mangelhaftem Verbrauch
ist. Gerade diese letzte Eventualität ist wohl für die meisten Fälle zutreffend,
so dass das Wesen der Fettsucht auch dahin präcisirt werden kann, dass beim
Fettleibigen der Säftestrom ganz oder theilweise zu langsam vor sich geht,
dass der Stoffwechsel und der organische Verbrennungsprocess, durch eine
Art Stagnation und Versumpfung vermindert sind. Dabei spielen die redu-
cirten mechanischen Momente gewiss nicht minder eine hervorragende Rolle als
•die bis jetzt allein oder hauptsächlich angeschuldigten chemischen Momente.
Die Fettsucht hat gar oft nur und zunächst kosmetisches Interesse.
Wenn der Nacken zu dick wird, das Kinn doppelt und dreifach, der Hals kurz
und gedrungen, die Brust voller und schwerer, hängender, oft bis zum Nabel,
die Magengrube dicker und prominenter (Magenpolster), der Unterleib gewölbter,
die Hüften breiter, so sind das nicht nur erste, sondern anfangs auch weniger
l3eachtete oder weniger ernst genommene Erscheinungen. Schlimmer wird die
Sache schon, wenn das Gesicht gerötheter ist, das Blut mehr, wie man sagt,
-ZU Kopfe steigt, oft schon bei der geringsten Bewegung (Bücken, Steigen,
Heben, Tragen etc.), der Athem keuchend erscheint, im Schlafe schnarchend.
Diese Erscheinungen bestehen oft schon lange, ehe weitere subjective
und objective Störungen bis zu mehr oder minder ausgebreiteten ma-
teriellen Veränderungen sich zeigen. Eine ganze Menge von solchen ent-
wickelt sich mit der Zeit, wobei Ursache und Wirkung nicht immer leicht und
gut auseinander zu halten sind. Denn es ist einleuchtend, dass die Fettsucht
zwar ganz bestimmte Folgen setzt, die nicht allein bestehen bleiben, sondern
gern, wo sie nicht rationell bekämpft werden, fortzeugend Böses weiter
schaffen, und bis dahin unschädliche Einflüsse nachtheilig wirken lassen. So
kommt es, dass Eczem, Intertrigo, namentlich an schweissigen sich reibenden
Stellen, Dermatitiden, Furunkel, wie directer Schwund der Haut, namentlich
am Abdomen, Oberschenkel, Thorax etc., ähnlich den sogenannten Schwauger-
schaftsnarben etc. leicht und gern in die Erscheinung treten. Wie hier an
der Haut verhält es sich ähnlich mit den Vorgängen, die subjectiv und ob-
Jectiv im Innern des Körpers zu Tage treten und erst functionelle, bald aber
materielle Schädigungen, oft bis zu hohem Grade zeitigen. Die Blutmasse
erscheint zwar vermehrt, jedoch vielfach von minderwerthiger Qualität, wässe-
646 FETTSUCHT.
riger, blässer, weniger hämoglobinhältig. Diese absolute und relative Blut-
armuth wirkt bei der Fettsucht ebenso als Ursache wie als Folge.
Die fettreichen Bauchdecken und Eingeweide beanspruchen mehr Raum,
das Zwerchfell wird hinaufgedrängt, in seinen Bewegungen mehr oder minder
gehindert und das Alles hat eine räumliche Beschränkung der Brust-
organe zur Folge, welche durch das daselbst angehäufte Fett (Mediastinum,
Subpleural-, Subpericardialgewebe etc.) noch vermehrt wird. Diese mechanischen
Verhältnisse werden noch dadurch verschlimmert, wenn Magen und Darm
meistens an und für sich sehr voluminös, erweitert erscheinen, abgesehen
von den gleichzeitigen grösseren Mahlzeiten, und ihrer ungünstigen Wir-
kung, ohne oder mit einengender Bekleidung etc. Die Folgen dieser abnormen
Verhältnisse treten ziemlich frühzeitig auf und zeigen sich in subjectiver Be-
ziehung durch ewiges, nach den Mahlzeiten sich steigerndes Gefühl von Voll-
sein, Druck und Beklemmung vorne und unten in der Brust und Bauch, Kurz-
und Schnellathmen, namentlich bei körperlicher Bewegung. Im Laufe der
Zeit treten noch Angstgefühl, Schmerzen in der Herzgegend, oft ausstrahlend
nach dem Halse und den oberen Extremitäten auf, verbunden mit Bangigkeit,
Katastrophengefühl und anderen Erscheinungen der Angina pectoris.
Der Lungen seh all ist mit zunehmender Fettschicht mehr und mehr
abgeschwächt. Aehnlich verhält sich das Herz, dessen Töne durch die Fett-
umhüllung allmälig schwächer fühlbar werden. Durch die räumliche Be-
schränkung der Brustorgane, aber auch durch andere hinzukommende Momente
ist das Herz in seinen Bewegungen mehr oder minder gehemmt, was oft zu
Herzklopfen Veranlassung gibt; es kann bei der Systole nicht so viel Kraft als
nöthig lebendig und frei werden lassen, was zu einer mangelhaften Ernährung
des ganzen Körpers, allmälig zur Entartung der Organe führt, und das Alles
umso schneller und umso intensiver, je mehr das Herz selbst von Fett um-
hüllt und vom Bauche aus beengt wird. Diese Verhältnisse führen dann
ziemlich sicher zu concentrischer, aber auch, durch die sich allmälig ein-
stellende Störung im Blutkreislaufe, später zu excentrischer Hypertrophie, noch
später zu Klappenfehlern und Insufficienz mit den diesen eigenen Erscheinungen
und Folgen (Hydrops, etc.), schliesslich zur Entartung der Herzmusculatur und
manchmal zum plötzlichen Tode durch Syncope, Vorgänge, die durch die con-
committirende Blutarmuth noch ganz besonders begünstigt werden. Noch
ehe es dazu kommt sind freilich meist eine Reihe anderer Erscheinungen und
Veränderungen zu beobachten. Der erschwerte Blutkreislauf macht sich
unter Anderem hauptsächlich in der dauernden, stärkeren, allgemeinen Venen-
füllung bemerkbar, die ihrerseits zu Capillaren und ^'enenerweiterungen
(ziemlich constant auch, am unteren Rippenrande, aber auch anderswo Rücken,
Kreuz etc.), zu blauem Gesicht, Neigung zu Rosacea (namentlich bei der con-
committirenden fettigen Beschaffenheit der Haut, zu Varicen, Varicocele
führt oder diese vermehrt, sowie eine Neigung zu kleineren und grösseren
Hämorrhagien, blaue Flecke an der Haut schafft, die auch bei ganz ge-
ringen Anlässen sich geltend machen. Inwieweit diese allgemeine Venen-
füllung und die dadurch bedingte Steigerung des Blutdruckes, oder die ent-
zündlichen Erscheinungen, Entartung, aneurysmatische Erweiterungen der
Arterien, an Apoplexien, namentlich im Gehirn — wozu Fettleibige ganz be-
sonders neigen • — Schuld tragen, lässt sich nicht immer genau präcisiren.
Die Venen füllung macht sich auch im Pfortadergebiete und in allen
Bauchorganen in mehr minder deutlicher Weise geltend und führt hier zu
chronischen Magen- und Darmkatarrhen (oft mit Anorexie, Uebelkeit, Diarrhoe,
seltener Verstopfung), zu Anschoppung der Leber, Milz, Nieren etc., zu Hämor-
rhoiden, sowie zu katarrhalischen Att'ectionen und Erscheinungen seitens der
Genitalorgane, auf die wir weiter unten noch speciell eingehen werden. Auch
die Harnblase ist oft in Mitleidenschaft gezogen; es zeigt sich meistens zu
FETTSUCHT. 647
häufiges, später vermindertes Bedürfnis zum Uriniren, Harndrang, Schmerzen etc.,
das Alles auch ohne katarrhalische Affection der Blasenschleimhaut. In der
Beschaffenheit des Urins beobachtet man die grössten Schwankungen und
Varietäten. Mcht unerwähnt wollen wir lassen, dass nicht selten zucker-
haltiger Urin in periodischer oder vorübergehender Weise beobachtet wird.
Dass Fettleibigkeit sich namentlich später oft mit Diabetes, harnsaurer Diathese,
Gicht, Harngries, Harnsteinen und Harnsteinkoliken, sowie mit Gallenstauung,
Icterus, Gallensteinen und Gallensteinkoliken etc. complicirt, ist eine nicht
zu leugnende Thatsache, die übrigens im Obengesagten ihre Erklärung findet.
Auch im kleinen Blutkreislauf treten, oft schon sehr frühzeitig,
Stauungen und deren Folgen, namentlich Bronchialkatarrh, mit oder ohne
Emphysem, Husten, Auswurf etc. auf. Dasselbe sei vom Kehlkopf und Rachen
erwähnt, wo auch oft Reiz- und katarrhalische Erscheinungen vorhanden sind,
welche — natürlich — immer und immer wieder nur der „Erkältung" zu-
geschrieben werden.
Die mit Fett durchsetzte Körpermusculatur muss absolut und re-
lativ schwerer arbeiten, zumal der Sauerstoff, durch die vorhandene Anämie,
aber auch weil Herz und Lungen nicht gut functioniren, mehr-minder mangelt.
Trotzdem kann man anfänglich, in Folge der erhöhten Arbeit bei verhältnis-
mässig noch gutem Ernährungszustande, Hypertrophie, namentlich an den
Muskeln der unteren Extremitäten begegnen; allein die zunehmende Fett-
infiltration erschwert die Muskelthätigkeit immer mehr und mehr und Muskel-
entartung wie Schwund tritt allmälig ein. Gehen und Steigen werden dann immer
langsamer, beschwerlicher, bald von Schweiss gefolgt, der oft in sehr gestei-
gertem Maasse auch in der Ruhe auftritt und die durch das schlechtleitende
Fettpolster bewirkte Wärmestauung natürlich ausgleicht. Dass neben der er-
schwerten Wärmeabgabe Fettsüchtige bei fieberhaften Processen wenig hohe
Temperaturen aufweisen und trotzdem sehr gefährdet sein können, ist aus dem
Obenangeführten leicht begreiflich.
Wichtig sind ferner die Erscheinungen in der Geschlechts-
sphäre. Bei Männern beobachtet man anfänglich gesteigerte, später ver-
minderte Geschlechtslust bis zur Impotenz, letzteres übrigens oft, wenn auch
nur vorübergehend, bei verschiedenen Entfettungscuren zu beobachten. Aehnlich
verhalten sich die Frauen, deren Menses nur zu häufig ungünstig beeinflusst
werden und zwar seltener durch zu starke und zu häufige, als durch zu schwache,
weniger häufige und unregelmässige Blutungen. Hand in Hand damit geht oft
Sterilität, die übrigens oft nach Jahren noch verschwindet, wenn die Fett-
leibigkeit gehoben ist. Dasselbe gilt von dem nur zu häufigen Fluor albus,
namentlich bei blutarmen, fetten Frauen. Auffallend sind oft auch bei den
Fettleibigen die Störungen in der Psyche, wie sie durch Denkfaulheit,
Unlust zu geistigen, wie körperlichen Arbeiten, Energielosigkeit, Schwer-
fälligkeit etc. zum Ausdruck kommt und sich oft bei Entfettung vorübergehend
noch steigern.
Alle diese Zustände bringen mit zunehmender Dauer, Intensität, Alter etc.
mehr Gefahr, trüben die Prognose dadurch erheblich, die bei jugendlichen
Individuen und zweckmässiger Behandlung, wenn sie früh, energisch und
nachhaltig genug betrieben wird, fast absolut günstig ist. Die ungünstige
Prognose trifft erst bei langer Dauer zu, wenn die genannten Störungen und
Veränderungen der verschiedenen Organe, namentlich aber des Herzens und
Gefässystems eingetreten sind und den allmäligen oder plötzlichen Tod be-
dingen. Wir meinen hier hauptsächlich durch Hydrops, Lungenödeme, Herz-
lähmung, Herzruptur, Hirnhämorrhagie, welche beide letztere oft ohne jede
Ueberanstrengung und besondere äussere Veranlassung eintreten. Abgesehen
von allen diesen Gefahren ist die Prognose durch die eventuell concommitti-
renden oben erwähnten Erkrankuugen, wozu Fettleibige ganz besonders neigen,
648 .FETTSUCHT.
beeinflusst. Endlich wollen wir nocli der Bedrohung Erwähnung thun, deren
Fettsüchtige durch jede intercurrente Erkrankung und sei sie ein sonst
ziemlich unschuldiger Bronchialkatarrh, noch mehr aber bei fieberhaften Pro-
cessen (Typhus, acuter Gelenksrheumatismus, Pneumonie, Scharlach, In-
fluenza etc.) erfahren kann.
Die pathologische Anatomie des Fettsüchtigen ist — abgesehen
von der mehr-minder bedeutenden Fettanhäufung und Ablagerung an den
wiederholt genannten Stellen, wodurch die technische Ausführung ,von Obduc-
tionen oft bedeutend erschwert wird — die ihrer Complicationen und beglei-
tenden Erkrankungen und darf uns daher hier nicht lange aufhalten. Ein
ziemlich constanter Befund ist ein nach allen Dimensionen mehr oder minder
vergrössertes Herz, sodann eine Stauungsmilz, Stauungsnieren, Muskatnuss-
und Fettleber, wie auch chronische Entzündungen durch Stauung in den
Schleimhäuten der Verdauungs-, Athmungs-, Geschlechts- und Harnorgane.
Doch ist die venöse Hyperämie in diesen Organen, wenigstens was die Leb-
haftigkeit der Farbe anbetrifft, oft durch die vorhandene Blutarmuth weniger
auffallend.
Die Behandlung der Fettsüchtigen ist seit Alters auf den ver-
schiedenen Wegen versucht und mit verschiedenen Mitteln erreicht worden.
Aber alle Behandlungsmethoden, die bis auf den heutigen Tag versucht worden
sind, litten und leiden an der Schablone, Kurzsichtigkeit, Engherzigkeit
(nicht immer der Autoren, sondern mehr der Nachbeter), an mangelnder In-
dividualisirung, und legen nicht genug Werth auf detaillirte und nach Zeit,
Umständen und Bedürfnissen variirte und modificirte Verordnungen. Von
den Hungercuren, Durstcuren, ScHROx'schen Semmelcuren, Speichelcuren
bis zu den Terraincuren und Entfettungscuren von Banting, Oertel, Ebstein
etc. lässt sich immer dasselbe sagen, dass sie erfunden worden sind, um nach
einiger Zeit mehr-minder spurlos wieder zu verschwinden. Man hat allen
diesen Curen bald mehr Vortheile, bald mehr Nachtheile nachgerühmt, ohne
zu bedenken, dass sie Alle und selbst die mit Medicamenten wie Jod, Queck-
silber oder Geheimmitteln wie Antisarcin, etc. zu rechter Zeit, am rechten Ort,
bei geeigneten Individuen unter richtigen Variationen und Combinationen er-
folgreich sein können. Die Individualisirung jedes einzelnen Falles und die
Variationen und Modificationen, die sich naturnothwendig im weiteren Ver-
folge je nach dem Resultate und den Wirkungen auf das Individuum ergeben,
sollten nothwendigerweise eben mehr oder minder ausschlaggebend sein.
Ohne diese Berüchsichtigung und Controle der jeweilig verordneten Schablone,
ohne Detailbehandlung niuss jede Methode mit der Zeit sich discreditiren. Daran
ändern auch nicht die Errungenschaften der Ernährungsphysiologie, wie sie
namentlich durch Pettenkofee, Voit und ihre Schüler in die wissenschaft-
liche und therapeutische Medicin eingeführt worden sind.
Bekanntlich hat schon Banting möglichst viel Albuminate von seinem
Arzte Haevey verordnet und Fette, sowie Kohlenhydrate entzogen bekommen,
eine Methode, die auf physiologischer Grundlage später wissenschaftlich um
somehr Beachtung fand, als ja Albuminate eine ausgiebige Blutbildung för-
dern sollen, deren die Fettleibigen so sehr bedürfen.
Die Fette und Kohlenhydrate, die man mehr oder minder entzog, wurden
von Ebstein auf Grund eigener Auffassungen wieder mehr in die Diät der
Fettleibigen aufgenommen und zweifellos sind in geeigneten Fällen mit dieser
Methode gute Resultate erzielt worden. Das wird immer geschehen, wenn die
Diät mit oder ohne Zufuhr von Fett so veranlagt wird, dass der Körper von
seinem aufgespeicherten Fett und Flüssigkeit hergeben muss, was ja bekannt-
lich immer eintritt, wenn der Eiweissumsatz vermehrt, und der Stoffwechsel
gesteigert ist.
FETTSUCHT. 649
Oertel hat seine Entfettungslehre wesentlich auf Einschränkung der
Gesammtzufuhr, namentlich der Flüssigkeitsmengen, vermehrte Eiweissnah-
rung, erhöhte Muskelthätigkeit und besonders Herzmuskelgymnastik und Ter-
raincuren aufgebaut.
Für uns sind alle diese und die oben erwähnten Momente, aber auch
oft noch sehr viel mehr andere, gerade für das Individuum, das zu behandeln
ist, maassgebende Factoren wichtig und berüchsichtigungswerth. So ist, abge-
sehen von der Ernährung, die wir weiter unten ausführlich besprechen wollen,
in äusserer Beziehung die Vermehrung, Regelung, Ueberwachung, 'Abwechs-
lung von Bewegung, Ruhe und Lagerung von hervorragender Wichtigkeit
und Bedeutung, namentlich insofern diese Momente in Zusammenhang mit
anderen ebenso bedeutungsvollen und indicirten Factoren, die den individu-
ellen Bedingungen angepasste Muskelthätigkeit und die Functionen des ge-
sammten Körpers zu beeinflussen im Stande sind.
Für uns ist die Regelung der Flüssigkeitszufuhr in Bezug auf Zeit,
Menge, Mischung, Temperatur, Art und Weise der Zufuhr ebenso wichtig oder
wichtiger geworden, als das allgemeine Gebot oder Verbot von Wasser, Wein,
Bier oder dergleichen. In derselben Weise ist die Zufuhr von Nahrungsstoffen
genau zu berücksichtigen, weil nicht nur auf die chemische Zusammensetzung
derselben, sondern noch auf eine ganze Menge anderer wichtiger Factoren es
in der Regel ankommt, ob und wieviel in der Zeiteinheit und in welchem
Verhältnis zur geleisteten Arbeit und verbrauchten Kraft aufgenommen und
ausgenützt wird, mit welchen Rückständen, mit welcher localen und allge-
meinen Belastung des Kreislaufes, nicht bloss des Blutkreislaufes, mit welcher
Mund-, Magenarbeit, Organabnützung etc. diese und noch viel mehr andere,
namentlich nach der mechanischen, jedenfalls physikalischen Seite hin
liegende Factoren, scheinen uns bisher unberücksichtigt oder ziemlich vernach-
lässigt worden zu sein. Und doch kommt es bei jeder Behandlung der
Fettsüchtigen, die in Zeit ihrer Erkrankung, Alter, Ernährung, Thätigkeit,
Beruf, Klima, Individualität überhaupt so wichtige und berücksichtigungswerthe
Eigenthümlichkeiten haben, darauf an, dass sie nicht nur von ihrem über-
schüssigen Fett befreit werden und nicht mehr Gefahr laufen des Weiteren
übermässig fett zu werden, sondern auch, dass sie so weit möglich alle un-
angenehmen Folgen ihres Fettzustandes auf die denkbar einfachste, un-
schuldigste, kürzeste und nachhaltigste Weise verlieren.
Wir suchen diesen Verhältnissen Rechnung zu tragen, indem wir unter
Berücksichtigung aller aus der Anamnese, Untersuchung, Beobachtung, Er-
fahrung, Kunst und Wissenschaft gegebenen Momente unsere individuellen
Verordnungen geben, dabei aber aus der Art und Weise der Wirkung auf
den Organismus und seiner Theile diejenigen Modificationen und Variationen
vornehmen, die etwa nach Wunsch oder Bedürfnis wichtig und nöthig er-
scheinen. Wir erinnern uns dabei, dass und wie weit der Mensch das Product
seiner Lebensweise ist und suchen und finden darin, beziehungsweise in der Be-
kämpfung althergebrachter, namentlich übler Gewohnheiten eine ergiebige Quelle
für die Erreichung unseres Zieles, und dieses Ziel ist nicht nur das überschüssige
Fett mit seinen directen und indirecten Folgen verlieren, sondern auch nicht
mehr fett zu werden. Wir überwachen nicht nur Essen, Trinken, geistige Thä-
tigkeit, Bewegung, Ruhe, Lagerung, Bekleidung, Wohnung etc., sondern die
allgemeine und locale Blutvertheilung und Circulation, die Secretionen und
Excretionen (Stuhl, Urin, Hautausscheidungen etc.), sowie Schlaf, Appetit
und alle in Betracht kommenden Körperfunctionen, unter Controle des Kör-
pergewichtes und bestimmter Maasse. So wird dem Wohl- und Uebelbetinden,
■Schmerzen, allen Magen- und Darmerscheinungen, Herz-, Nieren-, Gehirn-,
Lungenzuständen, Bewegungs- und Athembeschwerden u. dgl. mehr in der
thunlichsten Weise schon von vorne herein, aber auch des Weiteren bei steter
650 FETTSUCHT.
Beobachtung EechnuDg getragen. Von allen diesen und ähnlichen Gesichts-
punkten geleitet, wird es einleuchtend, wenn man — natürlich immer wieder
unter strengster Berücksichtigung der individuellen Verhältnisse und der
allenfalls nach Wunsch und Bedürfnis nothwendigen Abänderungen — den
Fettleibigen Vorschriften in folgenden Eichtungen gibt, ohne damit für den
Einzelfall die Zahl der Möglichkeiten und Nützlichkeiten auch nur annähernd
erschöpfen zu wollen.
Controle von Maass und Gewicht. Es versteht sich von selbst,
dass es hier auf das relative, nicht auf das absolute Maass und Gewicht
ankommt, beziehungsweise auf die sich im Verlaufe der Behandlung ergebenden
Veränderungen, welche einen objectiven Anhaltspunkt für die Beurtheilung des
Zustandes, sowie einen Fingerzeig für eventuell vorzunehmende Modificationen
abgeben sollen. Als Maass lassen wir in den meisten Fällen, wenigstens all-
wöchentlich den Brust- und Leibumfang bestimmen und zwar ersteren in
Höhe der Brustwarzen, letzteren in Höhe des Nabels. Bei besonders aus-
gedehntem Bauche, mit oder ohne Verschiebung des Nabels nach oben oder
nach unten, empfiehlt es sich auch die Entfernung des Nabels vom Processus
xiphoideus, sowie vom Schambein bestimmen zu lassen. Bei Fällen von
Lipomatosis universalis kann unter Umständen interessant oder nützlich er-
scheinen, den Umfang anderer Körperstellen (Schenkel, Waden, Oberarme,
Hände, Füsse, Finger, Hals, Gesicht etc.) zu controliren. Bei Heranwachsen-
den kommt dann noch die Körperhöhe in Betracht, welche man zweck-
mässigerweise etwa monatlich einmal feststellen lässt. Indem die regelmässige
Bestimmung von Maass und Gewicht uns die objectivsten Anhaltspunkte für die
Beurtheilung des Verlaufes der Behandlung, beziehungsweise der gemachten Fort-
schritte an die Hand gibt, ist sie, je nach dem Ausfall, für Arzt und Patienten eine
Belohnung oder eine Mahnung, ja eine Drohung, gleichzeitig ein Sporn zur
stricteren Durchführung der Verordnungen. Das Ausbleiben von einer befrie-
digenden Gewichtsabnahme, beziehungsweise eine Zunahme muss immer zu einer
schärferen Betonung der Verordnungen führen, und das verfehlt dann meistens
auch seinen Zweck nicht, abgesehen von den Abänderungen und Modificationen,
die aber sehr wohl überlegt und sorgfältig abgewogen und nicht bloss nach
Willkür und Wunsch des Kranken geschehen sollen.
Wegfall aller einengenden und einschnürenden Kleidungs-
stücke. Es ist einleuchtend, dass Alles aus der Lebensweise des Patienten
wegfallen muss, was den Kreislauf hemmt und verlangsamt und zu Stockungen
führen kann, damit aus diesem Grunde der Verbrennungs- und Circulations-
process keinen Einhalt erleidet. Einengende und einschnürende Kleidungs-
stücke müssen daher beseitigt werden und darunter vor x\llem das unheilvolle
Mieder, um das Bein gelegte Strumpfbänder, enge Kragen oder Aermel,
stramm angeschnallte Hosen oder Säbelgürtel, Bauchriemen, enggebundene
Röcke, unter Umständen sogar die Fischbeine und Stahlstangen aus den
Taillen, Cravatten u. s. w. Wie gerade das mechanische Moment bei der Ent-
stehung von localer Fettablagerung eine wichtige, bisher unbeachtete Rolle
spielen kann, sieht man an den Fingern, an denen fortdauernd enganschlies-
sende Ringe getragen werben. Hier findet man unmittelbar rings um den
Ring, nach der peripheren Richtung einen Wulst von abgelagertem Fett, das
eben als Folge von verlangsamter Circulation durch den Druck des Ringes
entstanden ist. Aehnlich erklären sich die zu starken Hüften, das allzufette
Gesäss, das Magenpolster und wohl alle localen und allgemeinen Fett-
anhäufungen.
PartiellekalteApplicationen. Dass kalte Abwaschungen, beziehungs-
weise Abreibungen ausser dem leicht begreiflichen Bedürfnis nach Reinlichkeit,
noch der Hauptindication bei der Behandlung der Fettleibigen Rechnung tragen,
den Stoffwechsel möglichst anzuregen, ist leicht ersichtlich. Oft, zumal im
FETTSUCHT. 651
Sommer, entsprechen diese kalten Abreibungen einem sehnlichsten Wunsche
der Patienten, deren Körper, beständig durch eine dicke Fettschicht geschützt
und von der Aussenwelt isolirt, also durch einen sehr schlechten Wärme-
ableiter, trotz der erhöhten Transspiration und Perspiration, Hyperhidrosis etc.,
sich nur schwer der übermässigen Körperhitze entledigen können und stets
nach Abkühlung verlangen. Viele zum Theil durchsichtige Gründe sprechen
dafür, dass wir für öftere partielle und nicht bloss für einmalige, allge-
meine kalte Abwaschungen und Abreibungen des Körpers sind. Der träge
Stoffwechsel des Fettleibigen würde trotz der einmaligen, wenn auch allge-
meinen kalten Abwaschung der Hautoberfläche doch bald wieder der An-
regung bedürftig sein und wir müssen daher möglichst oft auf diese
wichtige und doch so einfache Application recurriren. Dass dann nur par-
tielle Abwaschungen in Frage kommen, ist einleuchtend. Wir unterziehen
z. B. Brust und Bauch, oder beide Arme, oder beide Beine, oder Gesäss mit
Unterleib etc. abwechslungsweise dieser Application und zwar möglichst durch
den Patienten selber, der Muskelthätigkeit gebrauchen kann. Plötzliche Ab-
kühlungen der gesammten Körperoberfläche (durch allgemeine kalte Ab-
reibungen sowohl, wie durch Bäder oder Einwickelungen) und die folgende
Steigerung des Blutdruckes mit Hyperämie der inneren Organe bei einem
ziemlich labilen Herzen und Gefässsystem, wie sie der Fettleibige oft hat,
will uns nicht immer ganz ungefährlich erscheinen, xilso lieber oft und
wenig, als selten und viel auf einmal wird uns hier dienlich sein und vor
unliebsamen Ueberraschungen wahren, eine Maxime, die auch bei allen anderen
Proceduren ihre volle Geltung hat und leider nur zu selten genügende Be-
rücksichtigung und Würdigung findet.
Partielle heisse Applicationen. Unter partiellen Bädern
verstehen wir solche, wo nur einzelne Körperstellen gebadet werden. Es
kommen hierFuss-, Arm-, Sitz- und Kopfbäder hauptsächlich in Betracht.
Fuss- und Sitzbäder sind von jeher bekannt und wir wollen uns w^eiter nicht
darüber unterhalten, als bemerken, dass die Fussbäder möglichst hoch bis
zum Knie zweckmässig genommen werden. Von Armbädern hört man ja in
letzterer Zeit hier und da sprechen, doch gehören dieselben gerade nicht zu
den gangbarsten Applicationen, während seit einer langen Pteihe von Jahren
dieselben von uns tagtäglich so und so oft und bei den verschiedensten krank-
haften Zuständen verordnet werden. Bei diesen Armbädern lassen wir beide
Hände und Arme bis über die Ellenbogen, für unsere fetten Kranken in thun-
lichst heisses Wasser stecken. Technisch dürften diese Armbäder keine
besondere Schwierigkeit bieten, ebenso wie die Kopfbäder, welch' letztere
jedoch bei der Behandlung der Fettleibigen ohne sonstige Complicationen
weniger in Anwendung kommen. Doch wollten wir an dieser Stelle derselben
Erwähnung gethan haben, zumal sie so gut wie unbekannt sind, während sie
uns im Laufe der Zeit, sich als ebenso ungefährlich und erfolgreich wie als
unentbehrlich, namentlich bei vielen Kranken mit Kopfweh, Migräne etc. neben
anderen geeigneten Proceduren herausgestellt haben. Fuss-, Arm- und Sitz-
bäder kommen also bei der Behandlung der Fettleibigen hauptsächlich in Be-
tracht, meistens abwechselungsweise und täglich eines oder mehrere von
ihnen. Specielle Indicationen, wie locale Schmerzen oder Anschwellungen,
Hämorrhoiden, Krampfadern, Varicocelen, kalte Extremitäten etc., können zu
einer grösseren Berücksichtigung des einen Localbades gegenüber den anderen
führen. Hier soll sich eben die Kunst des Arztes zeigen, der nicht nach einer
Schablone und wie der Jurist nach Gesetzparagraphen sein Urtheil fällt,
sondern sich im weitesten Spielraum bewegend, aus den complicirten Ver-
hältnissen des kranken Menschen die wichtigsten Anhaltspunkte herauslesen
muss zu einer nützlichen oder nothwendigen Behandlung. Ob man Frauen
während der Menses heisse Fuss- und Sitzbäder nehmen lässt, ist nicht unter
652 FETTSUCHT.
allen Umständen zu negiren, im Gegentheill Derartige heisse locale Bäder
spielen bei uns, wie gesagt, eine grosse Rolle, hauptsäclüich da, wo es sich
um die Regelung einer mangelhaften Circulation handelt, was ja bei den
meisten kranken Menschen der Fall ist. Bei den Fettleibigen wirken diese
Localbäder erfahrungsgemäss sehr günstig, indem sie den Stoffwechsel anregen,
die locale und allgemeine Circulation beleben, die Blutvertheilung gut unter-
stützen, leicht Schweissbildung veranlassen, die Athmung begünstigen, und den
Verbrauch des aufgespeicherten Fettes, sowie die Ausscheidung der sich dabei
bildenden Schlackenstoffe befördern. Bei einem solchen Localbad von 40 — .50" C,
was von den meisten Menschen gleich oder in kurzer Zeit ohne weitere
Schwierigkeiten genommen wird, steigt allmälig subjectiv und objectiv die
Körpertemperatur, und es kommt zu einer mehr oder minder starken Schweiss-
bildung, die früh oder spät, gewöhnlich 10 — 20 Minuten nach Beginn des
Bades eintritt und so lange das Bad dauert, meistens auch eine längere Zeit
nach demselben anhält. Daher lassen wir auch fast immer das Localbad eine
halbe Stunde lang nehmen. Gewöhnlich werden solche Bäder gern genommen.
Macht sich manchmal die Erhitzung, namentlich im Kopfe, unangenehm fühl-
bar, so empfiehlt sich das Auflegen einer kalten Compresse oder dgl. auf die
Stirn. Wünschen wir eine intensivere Schweissbildung, so lassen wir das Bad
länger nehmen, halten aber die Temperatur durch Xachgiessen von heissem
Wasser möglichst auf derselben Höhe und hüllen den Patienten während und
nach dem Bade in wollene Decken ein. Warum wir den Gebrauch solcher
locale n, partiellen Bäder den üblichen Yoll-Kasten-Dampfbädern u. dgl.
vorziehen, ist aus den zum Theil im vorhergehenden Abschnitte ange-
gebenen Bemerkungen ersichtlich, abgesehen davon, dass beim Baden von
jeweilig kleineren Theilen der Körpeiüäche, man eine viel höhere Temperatur
vertragen kann als bei Bädern des ganzen Körpers, und gerade die höheren
Temperaturen die uns so erwünschten localen und allgemeinen Reactionen
liefern u. dgl. Vergleichen wir nun, was wir von den localen kalten Ab-
waschungen und den localen h e i s s e n Bädern gesagt haben, so muss auffallen,
dass wir eigentlich mit diesen beiden scheinbar gegentheiligen Applicationen
ein und dasselbe erstreben und erreichen, und zwar die Anregung des Stoff-
wechsels, die bessere Blutvertheilung, die Vermehrung des Verbrennungspro-
cesses im Organismus und folglich den Verbrauch des überflüssigen Fettes.
Ein Gegensatz zwischen Kälte und Wärme existirt somit in der Therapie
ebensowenig wie in der Physik. Beide sind nur Gradunterschiede einer und
derselben, der thermischen Application und in der Praxis soll die Hauptfrage
nicht, wie so üblich, ob Kälte oder Wärme, sondern: wann, wo, wieviel,
wielange, wie oft, mit welcher Combination, Variation etc. heissen. Noch
müssen wir hier erwähnen, dass neben den genannten heissen Localb ädern,
die Hitze auch in Form von trockenen oder feuchten Umschlägen, Fomen-
tationen, dmxhtränkten Schwämmen etc. namentlich an Stellen, wo ein Bad
nicht leicht zu appliciren ist, angewendet werden kann, zumal wenn Compli-
cationen es angezeigt erscheinen lassen.
Mechanische Einwirkungen. Dass ausser Gehen, Steigen, Turnen
etc. eine weitere mechanische Behandlung des Körpers, namentlich
des Bauches und der sonst noch von der übermässigen Fettablagerung be-
fallenen Körpertheile nicht nur auf die locale Circulation dieser Stellen,
sondern auch auf den allgemeinen Blutkreislauf und folglich auf die uns hier
beschäftigende Ernährungsstörung günstig einwirken muss, braucht nicht
weiter auseinander gesetzt zu werden. Die mechanische Beeinflussung, die
wir meinen und üben lassen, ist aber von der schablonenhaft und gar oft
allein üblichen Massage urverschieden. Da, wo die wohlthätige Hilfe der
sogenannten Massage ärztlicherseits in Anwendung gezogen wird, geschieht
"das gewöhnlich so, dass der Patient ein, seltener zweimal täglich meistens
FETTSUCHT. 653
durch einen Masseur, seltener dui'ch den Arzt selbst, der gewählten Manipu-
lation unterzogen wird, dann aber meistens während einer längeren Zeit, die
bis zu einer Stunde gehen kann. Wir geben dagegen unseren Fettleibigen
den Auftrag öfters und abwechselungsweise die bestimmten Stellen kurze Zeit,
dafür aber oft, recht stark zu bearbeiten und ausser dem üblichen Streichen,
Drücken, Kneten, Hacken, auch kräftig zu zwagen und zu kneifen. Dazu ist
meist weder der Arzt, ausser zur Anweisung, noch ein mehr oder minder
kundiger „geprüfter" Masseur von nöthen, sondern wird meist einzig und
allein der Patient selbst genügen, der seine Hände stets bei sich trägt und
jeden passenden Augenblick benutzen kann, um einen Bruchtheil seines Auf-
trages auszuführen, den wir ihm zuvor in allen seinen Einzelheiten demon-
strirt haben, wobei das psychische Moment nicht zu unterschätzen ist, dass
der Patient selber durch eigene Thätigkeit zu seiner Gesundung beizutragen
lernt. Auch hier, ebenso wie bei den kalten Waschungen und heissen Bädern
kommt es somit auf das „Wenig auf einmal und lieber oft" gerade an. Wir
brauchen eben eine häufige Beeinflussung und Anregung der trägen Cir-
culation in den sumpfigen Gegenden, wo das Fett, aus mechanischen, immer
wiederkehrenden Gründen störend sich angesammelt hat. Da aber wirkt
wiederholtes und entsprechend kürzere Zeit dauerndes Ein-
greifen besonders günstig. Massirt sich der Patient selbst, so kommt ihm
die häufige Inanspruchnahme seiner Muskelthätigkeit auch zu gute und
schliesslich fallen ihm die Kosten für fremde Hilfen weg, was bei w^eniger
Bemittelten nicht unberücksichtigt werden darf.
Bezüglich der Massageart bei Fettleibigen kann man im Allgemeinen
sagen, dass je kräftiger und tiefer innerhalb der erlaubten Grenzen die dicken
Fettmassen geknetet, gedrückt und gezwagt werden, desto grösser die Wirkung.
Die anfänglich dabei oft sich einstellenden Schmerzen pflegen nach einigen
Tagen mehr oder minder zu schwinden und was im Beginn eine Plage, wird
meistens später für den Patienten ein Vergnügen. Der Bauch soll ganz
besonders berücksichtigt werden und zwar nicht allein, weil er in den weitaus
meisten Fällen der Hauptsitz der Fettablagerung, sondern weil beim in der
Entfettung begriffenen Fettleibigen sich aus vielen Gründen meistens Ver-
stopfung einstellt, welcher durch Anregung der Darmthätigkeit, neben vielen
anderen gebotenen Hilfen, auch vermittelst mechanischer Einwirkungen zweck-
mässig entgegengetreten wird. Hier muss man aber die geschlossenen Fäuste
kräftig und tief eindrücken, damit durch die dicken Bauchdecken auch
das Gekröse und die es umgebenden Fettklumpen erreicht werden etc. etc.
Eine Reihe anderer zweckmässiger Uebungen könnten wir aufzählen, die in
die mechanischen Einwirkungen noch gehören und ein Jeder leicht allein aus-
führen kann, so das Anziehen der Beine gegen den Leib, sich nach vorne
bücken in sitzender Lage und so den Bauch gegen die Oberschenkel bringen
und viele andere mehr. Ihr Wesen ist die Ausübung eines momen-
tanen Druckes auf den Leib und sie lassen sich besser demonstriren
als beschreiben. Uebrigens kann sich ein Jeder derartige Uebungen ersinnen,
eine Schablone ist auch hier verwerflich, weshalb auch wir im Allgemeinen
keine grosse Sympathie für all die in neuester Zeit ersonnenen Apparate
empfinden können, welche die menschliche Hand in der Ausübung der Massage
etc. ersetzen sollen. Doch wollen wir gestehen, dass auch von uns ein selbst
angegebener Apparat als Faullenzer manchmal empfohlen wird, der sich durch
seine Einfachheit, sowie durch die von ihm gewährte Möglichkeit auszeichnet,
alle Muskelgruppen beziehungsweise Körpertheile in harmonischer Weise
vermöge verschiedener leicht auszuführender Uebungen in Thätigkeit zu
bringen.
Hydrotherapeutische und Guttapercha-Umschläge. Undurch-
lässige Umschläge, wie wir sie mit dem einfachen Auflegen von Guttapercha
654 FETTSUCHT.
erzielen, bewirken eine g 1 e i c h m ä s s i g e Circulation der eingehüllten Körper-
stellen und begünstigen die Verbrennung, Abfuhr und Fortschaffung des ab-
gelagerten Fettes aus denselben, gleichmässige Temperatur u. A. m. Sie
sind besonders während der Nacht, wo der Körper ruht, bequem zu nehmen
und zweckmässig. Am Bauche angewandt üben diese Umschläge einen be-
fördernden Einfluss auf den Stuhlgang. Doch dürfen dieselben nicht fort-
dauernd an einer Stelle gebraucht werden, sonst würde bald die Haut, wohl
in Folge von retentirtem Schweiss, mit unangenehmen Reizerscheinungen rea-
giren und zum Aussetzen nöthigen. Uebrigens heilen derartige Affectionen,
Dermatitiden, die oft eigentlich mehr Folliculitiden sind, in einigen Tagen
ohne Weiteres, am schnellsten unter Puderuugen. Diese Guttapercha- Applica-
tionen haben bei uns den Platz der üblichen hydrotherapeutischen, sogenannten
PRiESSNiTz'schen Umschläge zum Theil eingenommen, von welch' letzteren sie sich
durch eine grössere Bequemlichkeit und Annehmlichkeit unterscheiden. Nasse,
heisse oder kalte Umschläge möchten wir aber nicht für alle Fälle, wie schon
oben angeführt, entbehren. Abwechselung zwischen Bewegung, Ruhe,
geistiger Thätigkeit, sowie in der Lagerung, Es herrscht nicht
allein beim Publicum, sondern auch bei Aerzten der Glaube, es könne der
Fettleibige durch viel Bewegung sich des übermässigen Fettes entledigen, und
es wird auch allseits dicken Menschen gerathen, grosse Fusstouren, Landpar-
tien zu unternehmen, alle Berge zu besteigen, den ganzen Tag zu rudern
oder Schlittschuh zu laufen, Velociped zu fahren, zu reiten oder andere der-
gleichen Strapazen und Anstrengungen. Leider kommt nur zu oft der Miss-
erfolg, wenn nicht Schlimmeres, als Folge dieses thörichten Handelns. Hier
zeigt sich am prägnantesten, dass das Bessere ein Feind des Guten ist. Eine
massige Bewegung ohne U eher ans trengung seitens des Fettleibigen,
kann ja für die Abschaffung des überschüssigen Fettes nur förderlich sein.
Dazu rechnen wir kleinere Spaziergänge sowohl, wie freie Uebungen mit Be-
rücksichtigung aller Körperpartien, also auch der zu oft vernachlässigten
oberen Extremitäten, des Rumpfes und möglichst der ganzen Körpermusculatur.
Dazu rechnen wir auch das Rudern und das Schlittschuhlaufen, das Tanzen
und das Schwimmen, das Reiten und das Radfahren und unsertwegen auch
das Holzsägen und Spalten und überhaupt Alles, was ein gesunder Mensch
macht oder machen kann, gehen aber dabei immer vom Grundsatze aus wo-
möglich unter der Leistungsfähigkeit zu bleiben, wenn auch mit der Tendenz,
diese successiv zu steigern bis zu einem gefahrlos erreichbaren Grade. Ueber-
anstrengung heisst Stockung, Lähmung, massige Bewegung be-
deutet Anregung, Belebung! Wenn die Bewegung massig und zweck-
mässig sein soll, so muss sie kurz und durch Ruhe unterbrochen werden.
Diese wird dann im Interesse einer besseren Blutvertheilung zweckmässigst
in verschiedenen Lagerungen eingenommen. So ist das Sitzen eigentlich
keine richtige Ruhe nach dem Gehen, da die Beine in beiden Fällen herunter-
hängen. Einige Minuten in horizontaler Lage verbracht, gewähren nach einem
Gange eine grössere Erholung, als ein längeres Sitzen. Also Abwechselung
zwischen Bewegung und Ruhe, aber auch in der Lagerung, ohne dabei die
Knie-Ellenbogen-, beziehungsweise Bauchlage zu vergessen, die eigentlich unsere
übliche Lage sein müsste und uns vielleicht nur in Folge der Cultur und
Civilisation abhanden gekommen ist, sowie die Lagerung mit erhobenen Armen
und Aehnliches. Bezüglich der geistigen Thätigkeit gelten dieselben
Verhaltungsmaassregeln, mutatis mutandis, wie für die körperliche; demgemäss
soll sie, bei Vermeidung von jeder ITeberanstrengung und Einseitigkeit so
geübt werden, dass sie durch Ruhepausen und Einschaltung von körperlicher
Bewegung häufig unterbrochen wird.
Beeinflussung der Athmung. Was wir mit den betreffenden Ver-
ordnungen bezwecken, d. h. soviel wie möglich Sauerstoff" aufzunehmen, bedarf
FETTSUCHT. 655
keiner besonderen Erläuterung. Nur Eines möchten wir an dieser Stelle Er-
wähnung gethan haben, einer Procedur, der wir Fettleibige, zwecks Erhöhung
ihrer respiratorischen Fähigkeit gern unterziehen. Wir drücken dem, mit
angebogenen Beinen horizontal und ganz flach liegenden Patienten beide ge-
schlossenen Fäuste oder auch die flachen Hände fest und tief in den Bauch
ein, und ohne sie wegzunehmen, lassen wir den Patienten langsam 8 — 10 — 20mal
tief ein- und ausathmen. Diese Procedur lassen wir dann täglich mehrmals,
am Besten vor den Mahlzeiten ausführen und es ist oft erstaunlich zu sehen,
wie sie im Sinne einer Erleichterung des Athmungsactes und einer besseren
Sauerstofiliereicherung des Blutes prompt und schnell wirkt.
Piegelung der Diät. Bekanntlich haben die berühmt gewordenen
Entfettungscuren alle mehr oder minder den Schwerpunkt auf die Diät gelegt,
und zwar auf die Quantität sowohl, wie auf die Qualität der Nahrungsmittel
und auf das Verhältnis derselben zu einander, nach der Eintheilung derselben
in Eiweiss, Fette, Kohlenhydrate. (Die in der thierischen Oekonomie eine so
wichtige Rolle spielenden Salze fanden dabei fast immer keine oder ungenü-
gende Berücksichtigung.) So sind zum Beispiel die Kostsätze :
Nach Ebstein 102 Eiweiss, 85 Fette, 47 Kohlenhydrate
Nach Oertel 170 „ 43 „ 114 „
Nach Banting 171 „ 8 „ 75 „
Nach Peteeson 50 „ 50 „ 400 „
Wenn man nun bedenkt, dass mit so verschiedenen, zum Theil in grellem
Gegensatze zu einander stehenden Kostsätzen — denen wir noch viele andere,
von Germain See, Dujardin-Beaumetz, Danod etc. hätten hinzufügen kön-
nen — Fettsüchtige von ihrem übermässigen Fette befreien kann, so kommt
man ungezwungen zu dem Schlüsse, dass jeder Weg nach Rom führt, dass
aber die Physiologie der Ernährung, mit ihrer Eintheilung der Nährmittel in
Albuminate, Fette und Kohlenhydrate, mit den vicariirenden Vertretungen dieser
Substanzen für einander, mit ihren Nährwerthen und Calorien, mit allen ihren
Lehren etc. etc. uns in praxi nicht genügen kann. Der Hauptfehler aller dieser
Lehren besteht, wie schon oben gesagt, darin, dass man vergessen hat,
der Mensch lebe nicht von dem, was er isst und trinkt, sondern
von dem, was und wie er verdaut und ausnutzt, und dass neben der
Quantität und Qualität der eingeführten Sachen die so wichtige Art der
Zufuhr, neben anderen Factoren, dabei ganz ausser Acht gelassen wurde.
Wie soll man übrigens gar oft im praktischen, menschlichen Leben zwischen
Fett, Eiweiss und Kohlenhydrat unterscheiden, wenn in den weitaus meisten
Speisen, sich es nicht um diese Stofte, sondern um Combinationen derselben
handelt, wenn im Brod schon soviel Eiweiss, im Ei soviel Fett vorhanden ist?
Unsere Erfahrungen lehren dagegen, dass mit den praktischen Begriffen wie
Fleisch, Fisch, Obst, Gemüse etc., vielleicht mit Hinzufügung einzelner erläutern-
der Bemerkungen, da wo sie wünschenswerth erscheinen, man ohne Schwierigkeit
zu jener Verständigung zwischen Arzt und Patient, gelangen kann, welche
zu einer erfolgreichen Behandlung als Bedingung immer vorausgesetzt
werden muss.
Bei der Wahl der zu erlaubenden Speisen und Getränke, legen wir nicht
allein unsere eigenen Erfahrungen zu Grunde, sondern sind wir vom Wunsche
getragen, den Fettsüchtigen in die möglichst einfachsten Verhältnisse zu
bringen, die wir leicht überblicken können, um an der Hand der Beobachtung
und der erzielten Resultate eventuell die nothwendigen und wünschenswerthen
Veränderungen vornehmen zu können. Wir brechen natürlich dabei oft mit
tief eingewurzelten Gewohnheiten, tragen aber den Wünschen und Bedürfnissen
des Patienten soweit Rechnung, als sie in den Rahmen der Behandlung passen
und vergessen dabei nicht, dass Alles in dieser Welt relativ ist und dass
z. B. die eine oder die andere verbotene Speise unter Umständen erlaubt
656 FETTSUCHT.
werden kann, wenn dafüi' die eine oder die andere der früher erlaubten ge-
strichen wird.
Auf diese Erwägungen fussend, empfehlen wir vielleicht im gegebenen
Falle folgende Diät :
Die Hauptnahrung soll aus Fleisch (jede Sorte, auch fettes Fleisch,
kalt oder warm, ganz nach Belieben) Fische, Austern^ Caviar, Krebse, Hum-
mer, Würste, Eier, Käse etc. bestehen.
Als Nebennahrung dürfen Brod (weiss oder grau), Obst, Compot,
Spinat, Spargeln, Kohlarten, Sauerkraut, Gurken, grüner Salat genossen werden.
Als G e tränk rathen wir es bei Wasser, Sodawasser, Sauerbrunnen, Frucht-
und Citronensaft, Weiss- und Apfelwein einstweilen bewenden zu lassen.
Daraus, dass wir vorhergehend Austern, Caviar, Spargeln, Compot etc.
erwähnten, soll nicht die Folgerung geschlossen werden, dass die Fettsucht
eine „Krankheit" der besseren Stände sei, auch nicht, dass wir nur die Be-
handlung wohlhabender Fettsüchtiger im Auge haben. Denn gerade unsere
Behandlung ist jedem Stande zugänglich, an jedem Orte durchführbar.
Austern, Caviar, Hummer und feine Fische lassen sich sehr gut, vielleicht vor-
theilhaft durch Häringe, geräucherte Flundern etc., sowie Fleisch durch Wurst-
waare, Spargeln durch Kohl, feines Compot durch Pflaumen ersetzen etc.,
iauter Sachen, die mit den bescheidensten Mitteln zu bestreiten sind.
Des Weiteren verlangen wir wo möglich nie, dass unsere Patienten ihre
gewohnte Beschäftigung absolut aufgeben und gehen vom Grundsatz aus,
gesund könne ein Jeder werden überall, schicken deswegen unsere
Fettsüchtigen nicht nach Badeorten, erwecken somit nicht den Gedanken, es
könne nur derjenige mager werden, der sich einen Aufenthalt in diesem oder
jenem Curorte erlauben kann. Nicht wohin man geht, sondern was
und wie man thut ist doch hier, wie überall in der Therapie das allein
Maassgebende.
Aus dem oben aufgestellten Verzeichnis der einstweilen zu erlaubenden
Sachen geht hervor, dass folgende zunächst als verboten zu betrachten
sind: Suppen, Kartoffeln, Rüben, Hülsenfrüchte, Maccaroni, Reis, Mehlspeisen,
sowie Butter und Fette, (soweit sie nicht zur Zubereitung der Fleischgerichte
und der Gemüse gehören) und unter den Getränken: Bier, Roth wein, Milch,
Kaffee, Thee, Chokolade, Cacao, Schnäpse.
Das Verbot von den meisten hier angeführten Sachen ist durch unser
Streben, Fette und Kohlenhydrate etwas einzuschränken gerechtfertigt, und wird
wohl keinen Einwand erregen. Desgleichen rechtfertigt sich die Ausschaltung
der von jeher als die Fettbildung begünstigenden Alkoholica, von denen jedoch
zur Genügung eines sehr oft vorhandenen, berücksichtigungswerthen Bedürf-
nisses Weiss- und Apfelwein gestattet werden. Letzteren geben wir übrigens
gegenüber anderen Alkoholicis auch aus dem Grunde den Vorzug, weil sie
den Stuhl befördern, der bei der Entfettung — wie wir weiter unten sehen
werden — zur Trägheit neigt und oft des Anstosses bedarf. Deshalb eben
lassen wir Reis und Rothwein hauptsächlich vermeiden, ebenso Cacao und
Chokolade. Wegen der Entziehung von Kaffee und Thee erregen wir oft an-
fänglich den Unwillen unserer dicken Patienten, namentlich weiblichen Ge-
schlechtes. „Milch, Cacao und Chocolade sind bereits gestrichen, sagen sie,
nun muss ich auch den Kaffee und den Thee opfern, was bleibt mir dann
übrig, was soll ich zum ersten Frühstück geniessen?" Gerade um dieses erste
Frühstück anders zu gestalten als es ziemlich allgemein der Fall ist, streichen
wir meistens auch Kaffee und Thee. Wir sehen nicht ein, warum wir bei
unseren doch meist blutarmen, bleichsüchtigen, wässerigen, sumpfigen Fett-
süchtigen, einer, trotz ihrer Altehrwürdigkeit dummen Gewohnheit zu Liebe,
nicht für eine gute Blutbildung bereits am Tagesanbruch sorgen sollen. Und
wie könnte eine solche besser geschehen als durch eine compacte Mahl-
FETTSUCHT. 657
zeit, etwa aus Fleisch^ Fisch, Ei, Käse oder dergleichen nahrhafte Sachen
abwechselnd bestehend, gerade frühmorgens, wo der Magen, nach stattgehabter
Nachtruhe, gewiss wie alle übrigen Organe, sich erholt hat und im Zustande
der meisten Leistungsfähigkeit sich befindet? Dieser, wie überhaupt der Bruch
mit der Gewohnheit, kommt ja den meisten Menschen hart vor, doch ist er
meist in kurzer Zeit überwunden und Manchem, der auf den Morgenkaffee
thränenden Auges verzichten musste, schmeckt einige Tage später ein Stück
Käse oder ein Ei wie noch nie, so gut. Uebrigens hat das Verbot von Kaffee
und Thee auch den Zweck, die am Beginne der Behandlung mehr oder minder
alterirten Nerven unserer Fettsüchtigen möglichst still zu legen und nicht
unnöthigerweise durch den Genuss von sonst entbehrlichen Dingen aufzuregen.
Am Beginn der Behandlung verlangen wir von unseren Fettsüchtigen
die grösste Strenge in der Durchführung aller, ganz besonders
aber der diätetischen Verordnungen, weil eine solche allein im
Stande ist, uns über die Reactionsfähigkeit des Organismus einen genauen
Ueberblick zu gewähren. Tritt z. B. bei der strictesten Innehaltung der Ver-
ordnungen keine Abnahme ein, so können und müssen wir entsprechende
Aenderungen der Lebensweise empfehlen. Das wird uns aber unmöglich ge-
macht, wenn der Patient de motu proprio dieses und jenes ändert, wenn auch
nur stellenweise und vorübergehend. Später, wenn wir über die Wechsel-
wirkung zwischen Behandlung und Fettsucht im vorliegenden Falle genaue
Auskünfte besitzen, gestatten wir gern einzelne Abweichungen, namentlich
wenn sie ausnahmsweise erfolgen.
Wie man aus dem oben Gesagten über erlaubte und verbotene Speisen
und Getränke ersieht, nehmen wir keinen Anstand, Sachen, die als fettbildend
gelten, wie Brod, Obst etc. in den Speisezettel unserer Fettleibigen aufzunehmen.
Und mit Recht! Denn wer auf theoretische Deductionen fussend, eine absolute
Fleischdiät empfehlen würde, dürfte bald die Unmöglichkeit eines derartigen
Vorgehens einsehen. Schon aus rein menschlichen Gründen ist eine variirtere
Nahrung geboten. Dann aber zwingt die weiter unten uns näher zu be-
schäftigende Stuhlfrage, neben den thierischen (Fleisch, Fisch, Eier, Käse),
pflanzliche Sachen in gewisser Menge zu gestatten. Wir brauchen diesbe-
züglich die Begriffe ;, Hauptnahrung" und „Nebennahrung", und meinen damit
— unter Verbannung der Waage vom Esstisch — dass zwischen beiden Nähr-
mittelcategorien ein gewisses Verhältnis innegehalten werden soll, wobei in
den meisten Fällen die Hauptnahrung auf ^1^ der Gesammtnahrung anfänglich
. von uns festgestellt wird, ein Verhältnis, das manchmal mit ^/4, auch -/s sich
als ausreichend erweist. Darin liegt implicite, dass wir unseren Fettsüchtigen
die Nahrung nicht entziehen. Hungernlassen wäre eine Methode der Ent-
fettung, die an Billigkeit und Schnelligkeit wohl nichts zu wünschen übrig
lassen dürfte. Wir bezweifeln aber sehr, dass man dadurch eine bessere Blut-
bildung und eine Kräftigung des Herzens und der Gesammtmusculatur her-
beiführt, deren Fettsüchtige so sehr bedürfen. Eine berechtigte Behandlung
des Fettleibigen soll nicht allein wirksam, sondern und vor Allem unschädlich
sein. Wie die Gesammtmenge der eingeführten Nahrung bei unserer Be-
handlungsweise nicht immer reducirt zu werden braucht, so ist es auch bei
den Getränken der Fall.
In den weitaus meisten Fällen gestatten wir nicht allein im Rahmen der
oben angeführten diätetischen Verordnung, im Laufe des Tages, innerhalb
vernünftiger Grenzen, eine beliebige Menge Nahrung einzuführen, sondern auch
nach Bedürfnis zu trinken, weshalb unsere Entfettungsvorschriften im Allge-
meinen weder eine Hunger-, noch eine Durstcur sind. Das müssen wir hier
noch besonders betonen, da man unsere Behandlung der Fettsucht von Laien
und von Aerzten mit einer Suppen-, beziehungsweise Wasserentziehung
identificirt und die haarsträubendsten Erdichtungen von Plagiat u. dergl.
Eibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. 4<a
658 FETTSUCHT.
daran geknüpft hat. Das Wesen unserer Behandlimg liegt in der
strengsten Individualisirung des Einzelfalles — wie wir das nicht
genug betonen können. Will man aber aus unserer Diätetik für Fettsüchtige
etwas ziemlich allgemein Giltiges, also Charakteristisches und Grundlegendes,
Tonangebendes entnehmen, so finden wir es in der Verordnung: Kleine,
lieber häufige Mahlzeiten und das Essen unter Umständen vom
Trinken trennen, also in der Yertheilung der Gesammtzufuhr an
Speisen und Getränken. Uebermässig grosse Mahlzeiten machen nicht unter
allen Umständen dick. Indessen lehrt die tägliche Erfahrung, dass mit das
wichtigste Moment für die Entstehung der Fettsucht in verhältnismässig zu
grossen, wenn auch seltenen Mahlzeiten zu suchen ist.
Dass dem so ist, beweist folgende Thatsache: Gibt man dem Fettsüch-
tigen bei sonst gleichen Umständen dieselbe Menge Nahrung und Getränke,
die er gewohnheitsgemäss täglich, vielleicht in zwei Hauptmahlzeiten geniesst,
und wobei sein Körpergewicht stets zugenommen hat oder gleich geblieben
ist, auf di'ei, vier, fünf und noch mehr Mahlzeiten vertheilt, so wird das
Kesultat fast immer eine Gewichtsabnahme sein, zumal bei klei-
neren, wenn auch öfteren Mahlzeiten, sich die Gesammtzufuhr allmälig von
selbst einschränkt. Grosse Mahlzeiten begünstigen die Fettbildung und den
Fettansatz, kleine Mahlzeiten dagegen den Fettverbrauch und die Entfettung.
Die Erklärung dieses physiologischen Vorganges ist in erster Linie in einer,
durch übermässige Ueberladung der Verdauungsorgane bedingten Circulations-
störung mit Abdominalplethora, Stauung, Verlangsamung des allgemeinen Blut-
kreislaufes und des Säftestromes in den Körpergeweben und Herabsetzung des
ganzen Stoffwechsels zu suchen. Dann aber kommt in schnellem Tempo eine
wahre Ueberschwemmung von Nährsäften in die Blut- und Lymphbahnen,
Säfte, welche bei der Deckung des massig vorhandenen organischen Bedarfes
unmöglich Verwendung finden können. In diesem von Xährmaterial voU-
gepfi'opften, torpiden Körper muss der Mangel an Sauerstoff sich überall in
den Geweben fühlbar machen, und der Verbrennungsprocess sehr leiden. Wieder-
holt sich derselbe Vorgang Tag für Tag, so kann das nur zu einem über-
mässigen Fettansatz, zur Fettleibigkeit führen.
Grosse Mahlzeiten müssen daher möglichst kleinen den Platz einräumen.
Diese sind leicht eingeführt, werden ohne Ueberanstrengung und grosse Ch'-
culationsschwankungen schnell verdaut und ausgenützt, dann rasch verbrannt.
Sind sonst Körper und Geist rege — was bei nicht zu vollem Bauche eher
der Fall — • so fehlt bald die Nahrung im Säftestrom, das aufgespeicherte
Fett wird nun zui' Deckung herangezogen und wird allmälig verbraucht: daher
die grosse therapeutische Wirksamkeit der kleinen Mahlzeiten in der Behand-
lung der Fettsüchtigen. Wie viel man jeweilig gestatten soll, lässt sich nicht
ein für allemal feststellen, ist aber auch gar nicht so nothwendig. Der
Fettsüchtige soll nie vergessen, dass seine Mahlzeiten leicht
zu gross werden, dagegen nie zu klein sein können. Isst er wü'k-
lich so wenig auf einmal, so wird sich bei ihm oft das Bedürfnis einstellen
etwas zu gemessen, die Zahl der Mahlzeiten vermehrt sich somit von selbst,
beschränkt sich aber auch dabei bald auf das mehr mindere nöthige
Bedürfnis.
Warum lassen wir endlich Essen und Trinken so oft ausein-
ander halten? Eben um die Mahlzeiten so klein als möglich zu gestalten,
denn das Trinken zum Essen zählt auch als Quantum mit. Das ist aber
nicht der einzige Grund. Vergleichsversuche lehren, dass trockene, kleine
Mahlzeiten viel schneller zur Entfettung führen, als gleich grosse aber zum
Theil aus Flüssigkeit bestehende Mahlzeiten. Die Erklärung hiefür ist nicht
so leicht zu geben. Wir denken, dass bei einer trockenen Mahlzeit die zur
Bildung des Verdauungskreises, sowie zu den verschiedenen Secretioneu etc..
FETTSUCHT. 659
nöthige Flüssigkeit mit grösserer Inanspruchnahme der Körpersäfte stattfin-
det, als wenn zum Essen gleich getrunken wird, weshalb auch bei trocke-
nen Mahlzeiten meist mehr oder minder intensiver Durst eintritt. Verarmt
somit der ganze Körper an Wasser und wird letzteres nicht durch Trinken
gleich ersetzt, so muss es vom Fett durch Spaltung und Auflösung in seine
Componenten, also durch Verbrennung seiner selbst geliefert werden. Hat
sich dieser Vorgang der Fettspaltung einmal abgespielt, was etwa eine
Stunde nach dem Essen der Fall ist, so kann man ungestraft allmälig in
kleinen Portionen trinken. Die jetzt einzuführenden Flüssigkeiten können ja
nicht mehr der Spaltung und Verbrennung des Fettes im Wege stehen, im
Gegentheil, sie werden durch Auflösung der Verbrennungsproducte, durch
Aussaugung der Asche, der Schlackenstoffe für eine Ausspülung und Rei-
nigung des Körpers förderlich sein. Aber nur keine Ueberschwemmung
mit Flüssigkeiten, eine solche würde ganz verfehlen; häufige kleine Flüssig-
keitsmengen dagegen werden die Behandlung mächtig unterstützen. Eine
intensivere Wirkung der trockenen Mahlzeiten lässt sich durch gleichzeitige
reichliche Beigabe von Kochsalz zur Nahrung erzielen, indem — abge-
sehen von dem günstigen Einfluss des Kochsalzes auf die Bildung des Ma-
gensaftes etc., die Ernährung und Blutbildung im Allgemeinen — durch
das Vorhandensein des Salzes im Verdauungscanal der exosmotische Process,
der zur Fettspaltung führt, noch vermehrt wird.
Sorge für regelmässigen selbstthätigen Stuhl. Wir haben
es hier mit einer Verordnung zu thun, die eigentlich so selbstverständlich ist,
dass man sie vielleicht für überflüssig ansehen könnte. Allein die Erfahrung
lehrt, dass die meisten Menschen eine gewisse Abscheu an den Tag legen,
sich gerade mit der, ihnen wohl zu prosaisch vorkommenden Frage des Stuhles
zu befassen, sonst würde der Procentsatz der daran Leidenden wenigstens
unter der Bevölkerung der Grosstadt nicht so enorm sein (circa TO^/^ beim
männlichen und 90^/o beim weiblichen Geschlechte). Aber auch seitens der
Aerzte wird diese allerwichtigste Function, nach unseren Erfahrungen, ziem-
lich stiefmütterlich behandelt, wenigstens wird ihr ärztlicherseits nicht das
nöthige Verständnis und die allgemeine Beachtung entgegengebracht, die
sie beanspruchen dürfte. Es ist hier nicht der Ort auf die Behandlung der
Verstopfung überhaupt einzugehen. Der Fettleibige an und für sich leidet
auch nicht besonders daran. Wird er aber einer Entfettungsbehandlung unter-
zogen, wie wir sie vorhergehend geschildert haben, oder auch bei anderen
„Curen", so muss eine mehr oder minder grosse Neigung zur Verstopfung
sich einstellen. Denn die oben angeführte Errtährungsweise bedingt eine
bessere Ausnützung der Ingesta, somit geringere Rückstände im Mastdarm
und diese ihrerseits ein viel selteneres und weniger intensives Defäcations-
bedürfnis, abgesehen davon, dass das Schwinden des Fettes aus den Bauch-
decken im Laufe der Zeit durch Aufliebung eines Druckes auf den Darm eine
trägere Beförderung des Darminhaltes zur Folge haben wird etc. etc. Dass
man dann die Patienten noch ganz besonders auf die drohende Verstopfung
aufmerksam machen muss, wird wohl jetzt nicht überflüssig erscheinen. Ein
Theil der oben erläuterten Verordnungen, namentlich die mechanischen Ein-
wirkungen auf den Leib, das häufige tiefe Kneten und Zwagen dieser Par-
tien etc., aber auch die Applicationen von Guttapercha, die kalten Abrei-
bungen etc. sind auch gegen die schon vorhandene oder die drohende oder
herannahende Trägheit des Stuhles gerichtet. Genügt das nicht, so muss die
Diät zur Hilfe herangezogen werden, und kommen dann unter den erlaubten
Sachen diejenigen in den Vordergrund, die bekanntlich nach allgemeiner Er-
fahrung stuhlbefördernd wirken (Obst, Compot, Fruchtsaft, Salzwasser, Citro-
nen etc.), deren man noch mehrere zu diesem Zweck hinzu erlauben kann,
so Honig, saure und Buttermilch, Pfeff"erkuchen etc. etc. Alle diese Sachen
660 FETTSUCHT.
lassen -wir aber dann allein und für sich, nicht zu den Mahlzeiten
geniessen, damit sie ihre volle Wirkung entfalten. Letztere erreicht ihren
Höhepunkt, wenn die genannten Sachen des Morgens nüchtern und
Abends beim Schlafengehen genossen werden. In vielen Fällen
werden diese Verhaltungsmaassregeln genügen zur Erzielung der täglichen
Stuhlentleerung. Wenn das aber nicht der Fall, so kommt dann erst eine
medicamentöse Hilfe in Betracht. Das Abführmittel lassen wir aber nicht
blindlings, sondern am Abend der stuhllosen Tage nehmen, womit die
wichtige Feststellung ermöglicht wird, und wann der Stuhl auch von selbst
kommt oder nicht. Denn das Abführmittel darf stets nur als ein nothwen-
diges Uebel betrachtet werden, ein Uebel, das wir genöthigt mit in Kauf
genommen haben, das wir aber mit allen Kräften auszuschalten bestrebt sein
müssen. Auch lassen wir Abwechselung in der Wahl der Abführmittel ein-
treten, schon deshalb, um einer Angewöhnung entgegenzutreten und geben
solchen den Vorzug, die milde wirken und mehr laxiren als purgiren, wenn
nicht eine bezügliche Indication vorliegt. So sind wir meistens gegen den
Gebrauch von Bitterwässer und drastisch wirkenden Salzen, weil — abgesehen
von dem bedingten unerwünschten Säfte- und Kräfteverlust — • nach ihrem
Gebrauche meistens hartnäckigere Verstopfung etc. eintritt. Aus diesen und
anderen Gründen verurtheilen wir implicite im Allgemeinen die Behandlung
der Fettsüchtigen mit abführenden Brunnencuren, wie sie so gang und gäbe
sind und schablonenhaft in gewissen Curorten, nicht immer zum dauernden
Nutzen der Leidenden blüht. Nicht weniger energisch müssen wir gegen den
so allgemein beliebten, habituellen Gebrauch von Klystieren Stellung nehmen,
wodurch der Darm immer mehr ausgedehnt und geschwächt wird und damit
allmälig die Fähigkeit einbüsst selbstthätig zu functioniren.
Mit der Ertheilung der eben besprochenen Verordnungen ist der Fett-
süchtige nicht entlassen, sondern vielmehr als Kranker zu betrachten, bei dem
eine Behandlung eingeleitet ist, die eventuell jeden Tag und öfters an der
Hand der individuellen Erscheinungen verändert werden kann und muss. Ge-
wöhnlich treten dabei keine störenden Complicationen ein, der Bruch mit den
alten Gepflogenheiten beziehungweise der Abschied von beliebten Schädlichkeiten,
ist bald überwunden, und es können Tage und Wochen vergehen, bevor eine
Controle der erzielten Fortschritte nothwendig ist. Die Abnahme an Gewicht
und Umfang variirt dabei innerhalb weiter Grenzen. Eine solche von 10 kg.
an Gewicht beziehungsweise 10 cm an Leibumfang in 14 Tagen haben wir
schon oft erlebt. Doch gehören diese Fälle zu den Ausnahmen. Eine Ab-
nahme von 1 — IV2 kg. wöchentlich ist ein guter Durchschnitt. Der Bauch-
umfang verhält sich dem Gewicht dabei ziemlich parallel und jedem Kilo-
gramm an Gewicht entspricht durchschnittlich ein Centimeter an Leibumfang.
Die Brust folgt dagegen den Verhältnissen gemäss viel langsamer und es findet
bei ihr bald keine Abnahme mehr statt schon zu einer Zeit, wo das Zu-
sammenschrumpfen des Bauches und die Gewichtsabnahme noch in vollem
Gange sind. Man soll nicht etwa glauben, dass im Anfang der Behandlung,
wo die Corpulenz doch am grössten ist, auch die Abnahme eine grössere
beziehungsweise die grösste sein muss, und man findet nicht selten, dass ge-
rade die ersten Paar Kilos sich sehr schwer herunterarbeiten lassen, wogegen
später die Entfettung, beziehungsweise die Abnahme an Körperumfang und Ge-
wicht viel flotter von statten geht. Jedenfalls muss man darin nicht zu viel
verlangen und für jedes abgegangene Loth zufrieden sein. Deshalb ändern
wir nicht gern die Verordnungen, so lange eine, wenn auch nicht sehr be-
deutende Abnahme stattfindet. Erst wenn darin ein Stillstand eintritt, während
eine weitere Entfettung noch geboten ist, schreiten wir zu einzelnen Varia-
tionen der Lebensweise, und je nach den Umständen lassen wir einmal mehr,
ein andermal weniger körperliche oder geistige Thätigkeit üben, vielleicht die
FETTSUCHT. 661
localen Bäder lieisser oder länger nehmen, mehr oder weniger trinken über-
haupt oder jeweilig, die Mahlzeiten noch kleiner halten, den Stuhl durch
Nachhilfe am-egen etc. etc. Gerade darin wird die Kunst des Arztes sich in
einem weiten Felde bewegen, und auf dem Pfade der strictesten Individua-
lisirung und frei von den Banden der Schablone, den Einzelfall genau und ge-
wissenhaft erforschen, die eventuell vorhandenen Fehler, beziehungsweise Schäd-
lichkeiten in der Lebensweise erkennen und sie durch entsprechende Aender-
ungen zu beseitigen suchen.
Eine ziemlich constante Erscheinung während der Entfettungszeit ist das
Auftreten von trübem, dickem, absetzendem Urin, wie wir ihn beim Fieber
kennen. Der Niederschlag (Sedimentum lateritium) besteht hauptsächlich aus
harnsauren Salzen, Phosphaten, Oxalaten, Harnsäure etc. und ist als das Re-
sultat des vermehrten Stoffwechsels und Yerbrennungsprocesses im Körper,
uud consequenter gesteigerter Bildung und Ausscheidung der Schlackenstoffe
stets mit Freude zu begrüsseu. Treten Pteizerscheinungen in der Blase oder
Harnröhre ein, so ist ihnen durch häufiges Trinken von heissem und kaltem
Wasser in jeweilig kleinen Portionen am besten zu begegnen. Wie man die
„ancurirte" Verstopfung behandeln muss, haben wir bereits gesagt. Durst,
Müdigkeit, Schwindel u. dgl. sind nicht leicht und ohne die sich sonst be-
währende Verordnung oder deren Erfolg zu gefährden, zu bekämpfen und zu
beseitigen.
Die weit grössten Schwierigkeiten in der Behandlung der Fettsüchtigen
erwachsen dem Arzte weniger durch den Patienten selbst als seitens seiner
Angehörigen, hauptsächlich seiner „guten" Freunde und Bekannten. Es versteht
sich von selbst, dass das Schwinden des überschüssigen Fettes, sich auch im
Gesicht mehr oder minder geltend macht, wodurch ihm meist ein „leidender"
Ausdruck verliehen wird. Kein Wunder, wenn der Patient dann von Bekann-
ten mindestens mit der Begrüssung abcomplimentirt wird: „Wie elend sehen
Sie aus!" Oft knüpft sich dann ein mehr oder minder „medicinisches" Gespräch
daran, das fast immer mit dem weisen Spruch endet: ;; Nehmen Sie sich in
Acht vor solchen gefährlichen Curen!" Den liebenswürdigen Leuten — denen
das Ideal eines „gesunden" Menschen nur in Form eines dickbauchigen und
dickbackigen, also eines „wohlgenährten" Individuums vorschwebt — kostet
es gar keine Mühe in ebenso unverantwortlicher wie unverschämter Weise
das Misstrauen zu säen, sie glauben damit Fürsorge und Interesse für den
Patienten zu bekunden und ziehen nachher sehr stolz davon. Letzterer hat
aber auch nicht immer den nöthigen eisernen Willen, um jenen sich täglich
wiederholenden Einschüchterungen zu widerstehen und schwankt dann in seinem
Vorhaben. Daher die Nothwendigkeit für den Arzt, oft mit seinem ganzen
psychischen Einfluss einzugreifen, um Zweifel zu beseitigen, Aufregungen zu
beruhigen, den schwankenden Muth zu beleben. Das weibliche Geschlecht
bleibt trotzdem oft über das Auftreten von Runzeln an den zusammengeschrumpf-
ten Stellen, namentlich im Gesicht, schwer zu trösten. Da muss man darauf
aufmerksam machen, dass die Haut nicht gleich dem Fettschwund folgen kann,
sondern sich erst später zusammenzieht — was in der That auch geschieht —
und auf dem Wege des Geduldpredigens gewinnt man Zeit, bis auch diese
Schwierigkeit beseitigt ist.
Eine nach den geschilderten Grundsätzen durchgeführte Behandlung
kann nur gefahrlos sein, wie sie es thatsächlich auch ist, und wenn mau ihr
so und so viel Schlechtes nachrühmt, so ist das nur durch grobes Unver-
ständnis oder durch Verwechslung mit uncontrolirten „Curen" etc. zu ent-
schuldigen, wenn nicht durch gemeinen Neid zu erklären. Wir können an
der Hand eines ungewöhnlich reichen Krankenmaterials und fussend auf Er-
fahrungen und Beobachtungen, die auf die letzten 20 Jahre zurückgreifen,
ganz bestimmt behaupten, dass noch nie in Folge unserer Behandlung eine
662 FIEBER.
Schädigung der Gesundheit unserer Patienten eingetreten ist; die strenge
Individualisirung als Richtschnur unseres Handelns schützt uns vor einer
solchen. Freilich kommen auch während unserer Behandlung üble Ausgänge
vor, und es geht uns ein Fettsüchtiger einmal an Apoplexie, Syncope etc. zu
Grunde. Doch handelt es sich in solchen Fällen stets um die letzten Folgen
und den Ausgang bereits vorhandener Störungen und organischer Verände-
rungen, denen unsere Behandlung ebenso wie jede andere keinen Einhalt zu
setzen vermochte, die auch ohne Behandlung — wie ein Jeder weiss — zum
fatalen Ende geführt hätten. Aber auch in diesen unglücklichen Fällen ist
durch unsere Behandlung immer noch etwas zur Linderung der Beschwerden
und zur Hinausschiebung der Katastrophe gewirkt worden, abgesehen davon,
dass sie lehren, dass man nicht frühzeitig und consequent genug an die Ent-
fettung denken kann.
Allmälig führt die Behandlung den Fettsüchtigen so weit, dass zu einer
gewissen Zeit eine Gewichtsabnahme — wenn nicht durch Hungern — nicht
mehr stattfindet, gleichzeitig die überfetten Körperstellen genügend reducirt
erscheinen, und der Patient mit seinem subjectiven Befinden zufrieden ist.
Soll da die Behandlung ein Ende haben, beziehungsweise kann oder muss
nun der „geheilte" Fettleibige die zuletzt gebrauchte Lebensweise aufgeben
und wie die sonstigen „gesunden" Menschen leben? Unsere Erfahrungen
lehren, dass eine Lebensweise, die den Fettsüchtigen zur Entfettung geführt
hat, auch nach der Entfettung ohne jeden Nachtheil weiter gebraucht werden
kann. Oft ist der Patient selbst damit so zufrieden, dass er kein Verlangen
nach einer anderen Lebensweise empfindet und sich gegen die Aufnahme
einer solchen sträubt. Allein wir müssen nicht unsere Aufgabe darin sehen,
dem „geheilten" Fettleibigen eine gastronomische Sonderstellung zeitlebens
zu reserviren, sondern aus ihm einen Menschen zu machen, der mit seinen
Mitmenschen lebt, thut und lässt, was auch diese im Durchschnitt thun und
lassen. Zum Glück ist auch der Organismus eines Fettsüchtigen nach der
Entfettung meistens so günstig verändert, namentlich bezüglich der Blutbil-
dung, der Sauerstoffaufnahme und des gesammten Stoffwechsels, dass er nun-
mehr sich Manches ungestraft erlauben kann, was er früher mindestens mit
Vermehrung seiner Fettleibigkeit gebüsst hätte. Der Uebergang zur gewöhn-
lichen Lebensweise der „gesunden" Menschen darf aber kein schroffer, sondern
ein ganz allmäliger sein. Die eine oder die andere Verordnung wird er-
lassen, dabei müssen Maass und Gewicht, sowie die Hauptfun ctionen des Körpers
weiter controlirt werden, um an der Hand der sich ergebenden Veränderungen,
weitere Erleichterungen zu gewähren oder die Zügel zeitweise etwas strammer
zu ziehen.
Auf diesem Wege wird sich bald eine ziemliche Stetigkeit des Körper-
gewichtes innerhalb enger Grenzen herausstellen, und werden dann meistens
keine besonderen Abweichungen von der Lebensweise der „gesunden" Menschen
nothwendig sein, um eine Zunahme der Fettbildung und Ablagerung zu ver-
hindern. Der Fettleibige ist nun nicht nur auf normale Verhältnisse zurück-
geführt, sondern nimmt nicht mehr zu, er ist kein „Fettsüchtiger" mehr.
SCHVt^ENINGER-BUZZI.
Fieber ist nach der gegenwärtig noch herrschenden Auffassung jede
krankhafte Temperaturerhöhung aus einem Innern Grunde. Die zahlreichen
sonstigen Symptome, die meist gleichzeitig beobachtet, aber in zweite Linie
gestellt werden, beziehen sich auf den Stoffwechsel, das Nervensystem, den
Circulations- und Respirationsapparat, auf den Digestionstract und die Se-
und Excretionsorgane.
Bisher hatte man immer Symptomenbilder vor Augen, welche nur dem
Organismus der höheren Ordnungen der Thierreihe eigenthümlich sind. Erst
FIEBER. 663
in jüngster Zeit wurde der Versuch unternommen, auch von Hyperthermie
begleitete pathologische Zustände jeder Zelle überhaupt, insbesonders falls
das ätiologische Moment der Infection hinzutritt, als fieberhaft zu bezeichnen.
Die folgende Darstellung bezieht sich jedoch ausschliesslich auf den fiebern-
den thierischen Organismus und abstrahirt gänzlich vom fieberkranken Proto-
plasma. Gewisse Zustände von einfacher Hyperthermie, wie jene durch starke
Muskelaction, durch Wärmestauung (Hitzschlag) etc., bleiben gleichfalls unl)e-
rücksicbtigt.
Historisches. Der Begriff des Fiebers ist am Krankenbett entstanden und hat
sich im ärztlichen Bewusstsein allmälich entwickelt und ausgestaltet. Zunächst erkannte
man, dass insbesonders vielen acuten pathologischen Processen sehr prägnante Phäno-
mene gemeinsam sind, unter welchen die heisse Haut sowohl objectiv am meisten in die
Augen sprang, als auch subjectiv am lebhaftesten empfanden werden muss (Hitzegefühl).
Daneben erfasste man früher oder später mit dem Fortschreiten der klinischen Methodik
auch w'eniger grob manifeste Erscheinungen, die vasomotorischen Symptome, die Temperatur-
steigerung im Innern des Körpers, die Stoffwechselanomalien (Körperconsum) u. s. w.
Die angeführten, so oft vereint nachgewiesenen Abweichungen sah man fast ebenso oft aus
gemeinschaftlicher oder ähnlicher Ursache entstehen, dass ilire Zusammenfassung zu einem
einheitlichen Bilde eine natürliche Consequenz war. Begreiflicherweise war die wissen-
schaftliche Fragestellung nicht immer identisch und auch nicht immer gleich zweck-
mässig. Die rein phänomenologische Auffassung des Hippokrates, nach welcher das
Fieber der Calor praeter naturam ist, fand zunächst in der humoralpathologischen Auf-
fassung (Paracelsus) die Deutung, dass die Ursache der Wärmevermehrung in Altera-
tionen der chemischen Vorgänge im Körper zu suchen sei. Die Jatromechaniker (Boer-
have) dagegen stellten für das Wesen des Fiebers die Bedeutung der Pulsfrequenz höher,
als die Wärmesteigerung. Die Fieberwärme des Blutes erklärten sie als mechanischen, durch
Reibung an den Gefässwänden bedingten Process. An die mechanische A uff assungs weise sich
anlehnend, erfuhren die folgenden neuropathologischen Theorien zunächst abenteuerliche
Ausgestaltungen in der „Irritation" Brown's und den „Sympathien"' von Broussais. Der
Erste, welcher in uns verständlicher Weise mit einer gewissen Consequenz die Betheiligung
des Nervensystems an der Fiebergenese aussprach, war Baumgartker : der Sitz, des Fiebers
sei der Gefässapparat, die Ursache seiner krankhaften Thätigkeit müsse in den Gefässnerven
liegen. Die Definition des Fiebers als organische Phänomeneinheit in ähnlichem, wie im
heutigen Sinne wurde durch J. Müller, Henle und Wunderlich endgiltig vollzogen.
Seither hat sowohl die thatsächliche Erforschung, als auch die theoretische Betrach-
tung hauptsächlich an folgende vier Gruppen von für das Fieber massgebenden Factoren
angeknüpft: 1. Die Temperaturverhältnisse, 2. die Stoff'wechselabweichungen, 3. die nervösen,
insbesondere die vasomotorischen Störungen, 4. die mit der Lehre vom Infect sich rasch
in den Vordergrund stellenden ätiologischen Momente.
PaisTLEYundLAvoisiER waren die ersten Forscher, vrelche der Frage, woher überhaupt die
Eigenwärme herrührt, wissenschaftlich (experimentell) näher zu kommen wussten, indem sie
den Nachweis lieferten, dass die Athmung im Körper durch 0-zufuhr eine Verbrennung ermög-
liche und Kohlensäure als Product der letztern abführe. Lavoisier stellte die thierische
Maschine als beherrscht dar durch Digestion, Piespiration und Transspiration. Dülong und
Despretz suchten diese Lehre durch Schaffung einer Wärmebilanz zu bestätigen, und Liebig
stellte die Fieberentstehung so dar, dass die erhöhte Temperatur des Körpers bedingt sei durch
Beschleunigung einzelner oder aller organischer Bewegungen, welch letztere wiederum durch
in Folge abnormer Umsetzung der belebten Köi*pertheile erzeugte grössere Kraftmengen her-
vorgerufen seien. Ph. v. Walther klagte direct vermehrte 0-aufnahme als Fieberuisache an.
Die vor Allem durch Wunderlich zur allgemeinen Würdigung erhobenen genauen Temperatur-
messungen am Krankenbett vollendeten die Geltung von Lavoisier's Auffassung für die
Fieberlehre: das Fieber galt nunmehr als gesteigerter Verbrennungsprocess.
ViRCHow verknüpfte diese Auffassung mit den neuropathologischen Anschauungen,
denen durch die mittlerweile gewonnenen Erfahrungen über vasomotorische Centren eine
gesicherte Grundlage geschaffen war. Er erklärte das Fieber als Temperaturzunahme infolge
eines vermehrten chemischen Processes, der bei längerer Dauer eine Consumption der
Körperbestandtheile bewirke. Als Ursache der Wärmesteigerung wird eine Veränderung
der Wärmeregulation angenommen, die auf Lähmung oder Schwächung eines Wärmemode-
rationscentrums beruht, da die fieberhaften Processe den Charakter der Schwäche tragen.
Bei der verminderten Thätigkeit gewisser Theile des Nervensystems seien die einzelnen
Lebensherde mehr der Oxydation ausgesetzt. Das Fieber sei keine generelle Krankheit ab
initio, sondern zuächst localisirt in gewissen Theilen des Nervensystems. — Die französische
Medicin stellte dem eine rein neurologische Lehre vom Fieber gegenüber. Claude Bernard,
der beobachtet hatte, dass Durchschneidung und Pteizung gewisser Theile des Sympathicus
Blutüberfüllung und grössere Wärmeentwicklung zur Folge hat, fasste den Sympathicus
als den Nervus vasomotorius et calorificus auf ; er betrachtete das Fieber als eine durch-
664 FIEBER.
aus nervöse Erscheinung, welche aus unvollständiger Lähmung des Sympathicus resultire,
der Frost ist Reizung, die Hitze Erschöpfung der Gefässnerven. Schon Browk-Sequard und
später Schiff zeigten aber, dass die Wärmesteigerung nach Durchschneidung des Sympa-
thicus nur eine Folge der Hyperaemie sei. Samuel sah im Fieber eine Irritation von tro-
phischen Nerven. Marey wiederum Hess den fieberhaften Zustand aus einer Lähmung des
Gefässtonus resultiren; wenn die Temperatur der Körperoberfläche infolge der beschleunigten
Circulation die des inneren Körpers erreicht, tritt viel Flüssigkeit in die Gewebe und die
Oxydationen werden gesteigert.
Allen denjenigen Theorien gegenüber, welche das Fieber auf vermehrte Wärmebildung
zurückführten, behauptete Traube, dass das ausschlaggebende Moment verminderte Wärme-
abgabe sei, welch letztere wiederum verursacht werde durch einen Krampf der kleinen
Arterien der Körperoberfläche. Die Krise entstehe durch Nachlassen des Gefässtonus.
Traube ist es bekanntlich gewesen, der die vermehrte Harnstoff'ausscheidung im Fieber
entdeckt hat, er glaubte aber, dass dieser Umstand an der Wärmeerzeugung nur einen
sehr geringen Antheil habe. Infolge dieser neuen Theorie wurde neuerlich die Frage sehr
lebhaft discutirt, ob der Organismus wärmeregulirende Vorrichtungen besitze, und wo
ihr Sitz sei. Seit den 60er Jahren wurden die Auffassungen von Liebermeister und Leyden
die herrschenden. Liebermeister suchte nachzuweisen, dass die Aufhebung der Wärme-
abgabe während einer halben oder ganzen Stunde nicht ausreicht, um den Gesammtkörper
in derselben Zeit um 1° zu erwärmen, daraus folge mit Nothwendigkeit die vermehrte
Wärmeproduction im Fieber. Da bei Gesunden die Körpertemperatur durch Bäder nicht
leicht vermindert werden kann, so nahm er eine verschiedene Wärmereguhrung im gesunden
und fieberhaften Zustande an : Er verwarf die Ansicht Bergmana^'s, dass die Wärmeproduction
unabhängig von der Abgabe sei und liess durch Regulirung des Verlustes auch die Production
beeinflusst werden ; grössere Wärmeentziehungen steigern die Verbrennungen und damit die
Production von Wärme, im kalten Bade nehme deshalb die COa-Ausscheidung zu. Nach
Liebermeister stellt das Fieber ein Symptomenbild dar, welches auf einer solchen Ver-
änderung der Wärmeregulirung beruht, dass die Wärmeproduction erhöht und die Wärme-
abgabe zwar ebenfalls vergrössert, aber nicht entsprechend der Production gesteigert ist;
die Wärmeregulation sei auf einen abnorm hohen Temperaturgrad „eingestellt". Die Ursache
der erhöhten Production ist das Nervensystem, in welchem ein excitomotorisches und ein
moderirendes System für die Wärmebildung angenommen wird. — Leydek beobachtete so
wie Liebermeister eine gesteigerte Wärmeabgabe in sämmtüchen Stadien des Fiebers, womit
auch das Ergebnis der von ihm durchgeführten Körperwägungen (behufs Bestimmung der
insensiblen Verluste) gut stimme. Leyden war der erste, der bestimmt aussprach, dass im
hohen Fieber eine Retention von Wasser und möglicherweise auch von Excretions- und
Verbrennungsstoffen statthabe. Von den Stoffwechselproducten studirte Leyden insbesondere
die Kohlensäure; er, ebenso auch Liebermeister, fand eine sehr erhebliche Steigerung der
C02-Excretion. Mit den Arbeiten von Senator, deren Werth erst neuestens ordentlich
gewürdigt worden ist, kann von der historischen Darstellung abgesehen werden. Das seither
Ermittelte ist die Grundlage unseres gegenwärtigen Wissens über diesen Gegenstand. Von
grundlegender Bedeutung für die Fieberlehre wurden noch die Versuche Billroth's und
C. 0. Weber's, durch welche es ihnen gelang, mittels subcutaner intravenöser Einführung
gewisser zersetzter thierischer und pflanzlicher Stoffe Fieber zu erzeugen. Dadurch
wurde die Aufmerksamkeit auf die Pathogenese, auf die Materia peccans gelenkt, deren
Erkenntnis das letzte Ziel der zeitgenössischen Medicin bildet.
Eine Definition des Fiebers und die Aufstellung einer ab-
geschlossenen Fi eb er theorie wird in der folgenden Darstellung nicht
Yersucht werden. Nur die Unstatthaftigkeit sei betont, sämmtliche Functions-
störungen, welche in den von Fieber begleiteten Krankheiten neben der Tem-
peratursteigerung bestehen und nicht auf locale Erkrankung bezogen werden
müssen, als directe Folgen der Hyperthermie zu betrachten (Liebermeister).
Der febrilen Ueberhitzung können nur die gesteigerte Pulsfrequenz und die
Wärmedyspnoe unmittelbar angegliedert bleiben. Die übrigen sogenannten
Fiebersymptome sind gleichwerthige Aeusserungen der verschiedenen Infecte.
Im Folgenden möge man bloss eine gedrängte Zusammenstellung des phä-
nomenologisch und diagnostisch Wichtigsten über einschlägige Fragen suchen.
1. Der Wärmehaushalt im gesunden Zustande und im Fieber.
Die Betrachtung der Temperaturverhältnisse im Fieber geht von der
innerhalb bestimmter Grenzen feststehenden Unabhängigkeit der Eigenwärme
der homoiothermen Thiere von der Temperatur des umgebenden Mediums aus.
Die Werthe für die Eigenwärme des Menschen (Achselhöhle, Rectum) unter
verschiedenen physiologischen Verhältnissen sind an einer späteren Stelle
dieser Abhandlung nachzusehen. Hinsichtlich der Temperatur der einzelnen
FIEBER. 665
Organe sei hier in Kürze nur Folgendes angeführt: Auch in der Euhe ist die
Haupt quelle der thierischen Wärme in den Muskeln zu suchen. Die Blut-
wärme ist in verschiedenen Abschnitten des Gefässsystems etwas verschieden;
sie ist in der Pfortader um etwa 1° höher als im Aortenblut, noch ein wenig
höher in der Lebervene, etwa gleich hoch wie in der Vena portarum in der
untern Hohlvene. Zwischen rechtem und linkem Herzen besteht eine merkliche
Differenz zu Gunsten des ersteren; es ist nicht ausgemacht, ob dieses Ver-
hältnis nicht l)loss durch das hinzutretende Blut der Herzvene bedingt ist.
Die höhere Temperatur des aus den abdominalen Drüsen stammenden Blutes
erklärt sich aus der mit chemischen Umsetzungen verbundenen Thätigkeit
der letzteren und aus der gegen jegliches Auskühlen besser geschützten Lage
der Organe. In den obei^flächlich gelegenen Venen findet sich l)egTeiflicher-
weise eine auffallend niedrigere Temperatur. Aus der Physik ist bekannt, dass
sich Wärme durch Strahlung, Leitung und Convection verbreitet. Leitung heisst
die verhältnismässig langsame Uebertragung der Wärme von einem Theil
eines Körpers zu einem andern. Unter Convection der Wärme versteht man
die Fortführung der Wärmeenergie von einem Orte zu einem andern mittelst
einer gleichzeitigen und gleichgerichteten Bewegung der Materie, mit welcher
sie verbunden ist; der Golfstrom ist z. B. ein solcher Convectionsstrom.
Durch den anatomisch vorgesehenen, vom Xervensystem regulirten Blutumlauf
ist im Organismus eine andere, ganz eigenartige und zweckmässige Convection
der Wärme gegeben. Wenn man sich die Wärmeentwicklung in den Zellen
als continuirliche denkt, sollte doch, da das Blut zu allen einzelnen Organen
gelangt und nach allen Orten abströmt, ein wenigstens relativer Ausgleich der
Temperatur der Organe erwartet werden. Aber die wechselnde Intensität,
mit welcher in Muskeln und Drüsen die Wärmeentwicklung erfolgt, und der
Umstand, dass vasomotorische Factoren für jede einzelne Körperstelle Wärme-
zufuhr und Wärmeverlust abzuändern vermögen, erklären das Uebersteigen
der Temperatur einzelner Organe zu bestimmter Zeit ül)er diejenige des (zu-
führenden) Blutes. Je schneller das Blut durch einen Theil des Körpers
strömt, desto wärmer pflegt derselbe zu erscheinen. Besonders starke Wärme-
abgabe kann hier störend eingreifen; obwohl z. B. der äuseren Haut viel
Wärme zugeführt wird, zeigt dieselbe doch, da sie die meiste Wärme abgibt,
eine gelegentlich mehr als lO** geringere Temperatur als die geschlossenen
Höhlen des Körpers. Eosexthal spricht deshalb von einer kalten Piinden-
schicht und einem Kern des Thierkörpers. Die wasserreichen thierischen Ge-
webe sind mittelgute Wärmeleiter. Verlieren kann der Organismus Wärme
ausser durch Leitung und Strahlung (auf die letztere entfallen vier Fünftel des
Gesammtbetrages) auch noch durch Aenderungen der Aggregatzustände, z. B.
durch Verdunstung, bei welcher stets gewisse Mengen von Wärme latent
werden. Solche Wärmeverluste erfolgen continuirlich. Durch Leitung und
Strahlung wird beständig Wärme an die umgebende kühle Luft abgegel)en;
fortwährend wird in den Lungen und an der Hautoberfläche Wasser verdampft.
Luft und Speisen, welche in den Körper aufgenommen werden, verzehren
Wärme, wenn sie auf die Temperatur desselben gebracht werden. Die
Menge Wärme, welche ein Thier oder ein bestimmter Theil in gegeljener
Zeit insgesammt abgiljt, wird mittelst des Calorimeters bestimmt. Die jetzt
im Gebrauch stehenden besten derartigen Apparate (Luftcalorimeter) rühren
von PiOSEXTHAL uud PiUBXEPv her. Zur Gewinnung vergleichliarer Werthe
wird die Wärmeal)gabe auf Körpergewichtseinheit reducirt. Die Erfahrung
lehrt, dass je kleiner ein Thier, umso grösser dessen Wärmealigabe ist. Selbst
bei derselben Art (Mensch) stellt sich die Abgabe verhältnismässig um so
grösser dar, je kleiner das betreffende Individuum ist.
Lavoisier's Anschauung, nach welcher die Wärme im Thierkörper durch
die dauernd in demselben vor sich gehenden chemischen Processe (Oxydationen)
666 FIEBER.
erzeugt wird, lässt sich auch so aussprechen, dass die thierische Wärme
nichts anderes sei, als die Verbreunungswärme der durch den eingeathmeten
Sauerstoff verbrannten Eiweisstofte, Fette und Kohlenhydrate. Das Durch-
dringen des Grundsatzes von der Erhaltung der Kraft hat dazu geführt, die
anscheinende Vielheit der im Organismus gefundenen Wärmequellen (me-
chanische Arbeit der Circulationsorgane, Nervenfunction, Quellung trockener
Substanzen, letztere von Matteucci aufgestellt) doch insgesammt auf die
genannte einzige Ursache zurückzuführen. Beim ruhenden Menschen werden
die mit der Nahrung eingeführten chemischen Spannkräfte fast vollständig als
Wärme frei. Aber natürlich ist die Wärme nicht der einzige Weg, auf
welchem der aus der Respiration entwickelte Energievorrrath den Organismus
verlässt. Es gibt eine ganze Reihe wechselnder Bewegungen, welche den
Kraftverlust im Körper bedingen. Höchst wichtig für die Fieberlehre aber
ist, dass nichts dafür spricht, als ob im Organismus ein geheimer Vorrath
von schnell und anders als in der typischen Weise (Oxydations- und Spaltungs-
processe mit 0-aufnahme und COa-entwicklung) frei zu machenden Spannkräften
existire, der beim Hunger allmälig verbraucht, bei guter Ernährung aber
auf gleicher Höhe erhalten oder selbst bis zu einer gewissen Grenze gesteigert
wird. Nichts berechtigt also auch, zu glauben, dass im Fieber diese vorhan-
denen Spannkräfte unter dem Einfluss der krankmachenden Ursache in
Wärme umgesetzt werden und so den Ueberschuss des Körpers an Wärme auf
der Fieberhöhe erklären, der Vergleich der Wärme- und der Kraftbilanz muss
auch unter diesen Bedingungen ein glattes Resultat liefern, es gibt kein
Manco und keinen Ueberschuss. Auch das Caloriendeficit durch den soge-
nannten ..Ansatz" ist in der Norm nur ein relativ geringes. Der Letzte, der
den Vergleich der thierischen Wärme mit der Verbrennungswärme der
Nahrungsstoffe unter Berücksichtigung aller biologischen Factoren zur selben
Zeit in musterhaft abschliessender Weise durchführte, war Rubnee. Er hat
alle für die Erkenntnis der Stoffzersetzung nothwendigen Werthe genau fest-
gestellt. Bei Hunger (Hund) zeigte das mittlere Ergebnis bei der dii'ecten
Wärmebestimmung ein geringes Deficit von l"4"/o, bei Fettnahrung von nicht
einmal U'/^, bei Fleisch- und Fettnahrung von nicht Vs^/o- Bei ausschliess-
licher Fleischnahrung blieb ein geringes Plus. Im Gesaramtdurchschnitt
aller RuBNER"schen Versuche sind nach der calorimetrischen Methode nm*
0'477o weniger an Wärme gefunden worden, als nach der Berechnung der
Verbrennungswärme der zersetzten Körper- und Nahrungsstoffe.
Schwankungen der Aussentemperatur verursachen entsprechende Schwan-
kungen der Wärmeabgabe. Der Schutz gegen erhöhte und erniedrigte
äussere Temperatur, über welche die Homoiothermen verfügen, besteht
darin, dass zunächst die Wärmeverluste der allgemeinen Decke, etwa vier
Fünftel der gesammten Wärmeausgaben, beschränkt und gesteigert werden.
Nur falls diese Regulation nicht ausreicht, wird die Wärmeproduction ver-
mindert oder erhöht. Die Einschaltung des schlecht leitenden Unterhautfett-
gewebes wirkt wie ein Isolator, Die Mehrproduction von Wärme erfolgt auf
refiectorischem Wege durch Muskelcontractionen (Zittern, Frostschauer etc).
Vielleicht hat auch die PFLüGEß'sche Anschauung Recht, welche ebenfalls auf
einem solchen nervösen Wege eine Steigerung des „chemischen Muskeltonus"
und damit vermehrte Wärmebildung supponirt. Die Wärmeregulation besteht,
nur innerhalb gewisser Grenzen. Der Einfluss des centralen Nervensystems
auf die Erwärmung der Theile des Körpers ist durch folgende Sätze prä-
cisirt. Die Steigerung und das Absinken der gesammten und der localen
Temperatur nach Verletzungen des Rückenmarks und verschiedener Hirntheilfr
erklärt sich aus der Erweiterung und Verengerung der Gefässe und dadurch
veränderte Bedingungen des Blutumlaufs und der Wärmeabgabe. Eventuelle
Muskellähmungen verursachen noch ausserdem den Ausfall der wichtigsten.
FIEBER. 667
Wärmequelle, Audi die Reizung der thermisch wirksamen Rindencentren
führt zur Steigerung des Blutdruckes in Folge von Contraction der kleinen Ar-
terien. Laesionen des Streifenhtigels und des basalen Marklagers haben aber
vielleicht einen directen Einfluss auf die Wärmeproduction.
Die absolute Steigerung der Eigenwärme im Fieber ist wohl eine
feststehende Thatsache. Ein strenges Maass für die Grösse des Calorienvor-
rathes im fiebernden Körper besitzen wir jedoch nicht. Nach Maassgabe
der vorliegenden Erfahrungen über den febrilen Stoffwechsel, welche mit
Rücksicht auf die oben angeführte Arbeit Rubners's unser Urtheil ausschlag-
gebend bestimmen muss, ist die Calorienproduction im Fieber, beziehungsweise
im recenten Fieber, nur in relativ geringem Umfange erhöht. Bei länger
dauerndem Fieber handelt es sich bloss um eine Verschiebung, kaum aber
auch um eine Steigerung des Gesammtstoff wandeis (vgl. die entsprechenden
Belege weiter unten in 2). Die directe Bestimmung der Wärmeproduction
auf calorimetrischem Wege mit guten Apparaten hat für Thiere, deren
Temperatur in Folge Fieber erzeugender Injectionen ansteigt, ergeben, dass
die Wärmeausgabe während des Temperaturanstieges stets vermindert ist.
Berechnet man aus der Temperaturzunahme den Betrag an Wärme, welcher
von dem Thier zurückgehalten worden ist, und addirt denselben zu der an
das Calorimeter abgegebenen Menge, so erhält man die ganze Wärmeproduction
während des Fieberanstieges. Dieselbe weicht nur relativ wenig von der Produc-
tion vor der Injection ab, so dass man fast die ganze Zunahme durch Wärme-
stauung erklären muss. Hält das Fieber längere Zeit an, so erreicht die Wärme-
ausgabe wieder den normalen oder selbst einen höhern Werth. Antipyrin bewirkt
Temperaturabfall und bedeutende Steigerung der Wärmeausgabe. Sonach
kann die erste Temperatursteigerung bei Beginn eines Infectionsfiebers ohne
Erhöhung der Wärmeproduction erfolgen (Tiuube, Senatoe, J. Rosenthal).
Die eventuelle Vermehrung der Wärmeausgabe im Fieber hält sich immer in
massigen Grenzen und ist den Temperaturüberschüssen kaum proportional.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Wärmeretention in der Periode des
Ansteigens des Fiebers ebenso auf nervöse (vasomotorische) Einflüsse zurück-
geführt werden muss, wie die normale Wärmeregulirung (Circulation, Secretion
der Haut). Dasselbe gilt auch vom Temperaturabfall. Die Erhöhung des
Gesammtstoffwechsels auf der Fieberhöhe und die eventuell gesteigerte Wärme-
verausgabung in dieser Periode könnte durch die erhöhte Temperatur selbst
verursacht sein (?).
Messungen, welche bei von fieberhaften Krankheiten befallenen Menschen
ausgeführt wurden (partielle Calorimetrie, Arm) machen es wahrscheinlich,
dass auch hier im Stadium des Fieberanstieges die Wärmeabgabe verringert,
vor und während des Abfalles vermehrt ist. Ein abschliessendes Urtheil ge-
statten die calorimetrischen Versuche am Menschen wohl kaum; die Stoffwech-
seluntersuchungen müssen hier ergänzend hinzutreten.
2. Die Abweicimiigeii des Oesammtstoöwechsels im Fieber.
An die Spitze muss der Satz gestellt werden, dass Alles, was in jüngster
Zeit über den febrilen Gesammtstoflwechsel ermittelt wurde, mit der Theorie
Liebeemeister's durchaus nicht in Einklang zu bringen ist. Gegenüber der
Aufstellung, dass die Oxydationen im Fieber eine erhebliche Steigerung
erfahren, darf heute gesagt werden, dass die febrile Erhöhung des Stotfümsatzes
eine relativ geringfügige ist.
Selbst bei grossen Fieberhöhen (im vorgeschrittenen Fieber) ist Sauer-
stoffzehrung und COa-Abgabe überhaupt kaum erhöht. Der Betrag der Er-
höhung im recenten Fieber überschreitet kaum 25*'/o; der respiratorische
Coefficient im Fieber bleibt unverändert.
668 FIEBER.
Fast alle fieberhaften Processe bedingen eine Erhöhung des Eiweisszer-
falles. Die einschlägigen quantitativen Verhältnisse sind trotz zahlreicher vor-
liegender Stoff^^echseluntersuchungen flii^ die einzelnen Infecte kaum bestimmt
anzugeben, stets aber ist die N - Ausscheidung im recenten Fieber erheblich
grösser als bei derselben Person im gesunden Zustande; die Steigerung beträgt
leicht das Doppelte der Norm. In der späteren Fieberzeit, wenn der Organismus
der Inanition verfallen ist, sinkt der N-Umsatz, hält sich aber oberhalb der Linie,
welche durch die Ernährung gegeben ist. Der Harnstickstoff zeigt bei längerem
Verlauf einer fieberhaften Infectionskrankheit gewöhnlich bedeutende Schwan-
kungen. Bei denjenigen Infecten, welche kritisch ablaufen, stellt sich nachher
eventuell eine auffallende Steigerung der N-Excretion ein (epikritische Harn-
stoffausscheidung). Die Gründe hiefür sind unklar, vielleicht braucht es eine
gewisse Zeit, bevor die der Xecrobiose verfallenen Protoplasmaantheile zur
Excretion geeignet sind. Die Ursache dieser pathologischen Steigerung des
Eiweisszerfalles liegt gewiss nur zum geringsten Theil in der erhöhten Körper-
wärme selbst; wahrscheinlich ist sie zu suchen in Protoplasmagiften, welche
durch die Invasion der pathogenen Mikroorganismen im Körper entstehen.
Nach dieser Auffassung ist der im Fieberharn vorfindliche Stickstoff theils
solcher, der aus toxigenem Eiweisszerfall hervorgeht, theils solcher, welcher
der Art der Ernährung entspricht. Der toxische Eiweisszerfall im Fieber
äussert sich anatomisch in den verschiedenen Degenerationsprocessen in Drüsen,
Muskeln u. s. w. Die gesammte Stoffzersetzung fiebernder Menschen ist nur
unwesentlich grösser, als die normaler Individuen, sie ist jedenfalls kleiner
als die des Arbeiters. Was an X-haltigen Substanzen mehr zerstört wird, wird
an Fett gespart. Die jüngste Behauptung von May, dass der Fiebernde nur
deswegen mehr X umsetze, weil er rascher Kohlenhydrate verbrauche, bedarf
noch weiterer Prüfung. Dass die febrile Consumption eine so bedeutende ist,
muss weniger den toxischen Eiweissverlusten zugeschrieben werden, als vielmehr
der chronischen Inanition. Ein halbwegs zuverlässiges Maass für die Beur-
theilung der Grösse des Calor praeter naturam im Fieber gestatten uns die
vorliegenden Stoffwechseluntersuchungen nicht ; vom Anbeginn des Fiebers
muss jedenfalls mit Wärmeretention gerechnet werden, wie schon bei Be-
sprechung der Wärmeverhältnisse betont wurde.
3. Die Wasseraiisgabe durch Limgen und Haut im Fieber.
Das in der Ausathmungsluft enthaltene Wasser ist thatsächlich vermehrt.
Es kann dies übrigens mit Piücksicht auf die beschleunigte Athmung und die
erhöhte Bluttemperatur kaum anders sein. Wenn man die ganze Gewichtsab-
nahme des Körpers für eine gewisse Zeit auf der Waage bestimmt und die
Differenz des Gewichtes zwischen der eingenommenen Nahrung und den Ex-
creten hinzufügt, erhält man bekanntlich quantitativ die Perspiratio insensi-
bilis. Leyden hat gefunden, dass diese insensiblen Verluste im Verlauf der
Pneumonie, des Typhus abd. und exanthematicus, der Meningitis während des
Fastigium selbst auf das Doppelte steigen können. Im Wechseltieber erhöht
sich während des Schweissstadiums die Ziffer bisweilen auf das Sechsfache. Die
Messungen, welche andere Forscher gemacht haben, sprechen gleichfals eher
für Steigerung der insensiblen Ausgaben. Hygrometrische Bestimmungen der
Hautverdunstung haben übereinstimmende Resultate nicht ergeben. Man
hat früher symptomatisch grossen Werth darauf gelegt, ob bei bestimmten In-
fectionskrankheiten die Haut ausschliesslich mehr feucht oder trocken sei. In
Wirklichkeit ist jede Generalisirung unmöglich, weil bei derselben Krankheit
die Verhältnisse verschieden sein können. Von einer Proportionalität zwischen
Fiebertemperatur und insensibler Perspiration darf man keinesfalls sprechen.
Eine wahre Pietention von Wasser im Fieber, wie sie von Leyden, Botkin
u. A. angenommen wurde, ist durchaus nicht ausreichend begründet.
FIEBER. 669
4. Fieber imd Verdaiiimgsorgane.
Die Speiclielsecretion ist herabgesetzt (Trockenheit des Pharynx, Durst.)
Der Speichel kann sauer werden und weniger Ptyalin enthalten. Die Störungen
von Seite des Magens sind für die Ernährung der Fiebernden deshalb so
wichtig, weil sie die Ursache der fehlenden Esslust sind. Was man den
Kranken während des Fastigiums einzuführen im Stande ist, deckt weniger
als die Hälfte des wirklichen Bedarfes. Die Motilität des Magens soll in
acuten und chronischen Fiebern wenig leiden ('?). Die Eesorptionsfähigkeit
ist herabgesetzt. Die Salzsäuresecretion des verdauuenden fiebernden Menschen
ist meist vermindert. Locker gebundene Salzsäure findet sich im verdauenden
Fiebermagen in der Regel vor; wohl aber fehlt nicht selten die mit den ge-
wöhnlich gebrauchten Farbstoffen nachweisliche „freie Säure." Es verhalten
sich hier jedenfalls nicht alle Fieber gleich; insbesonders die pleotypischen,
nachlassenden und dann wieder exacerbirenden, wie z. B. die der Tuberculose,
lassen oft genug die Salzsäuresecretion in fast normalem Umfange bestehen.
Auffallend wenig beeinträchtigt ist die letztere in gewissen chronischen febrilen
Infecten, selbst wenn sie zu Anämie und Deconstitution geführt haben, ins-
besonders in der ganz chronischen Lungenphthise. Viele Fiebernde sind constipirt
infolge träger Peristole. Die Durchfälle bei febrilen Infecten sind wahrschein-
lich auf Toxine bestimmter Art zurückzuführen. Obwohl die Leber in den
Leichen von Fieberkranken fast immer charakteristische Veränderungen dar-
bietet, ist eine darauf bezügliche Stoffwechselanomalie kaum bekannt. Von
früherher existirt die Annahme, dass die Glycogenbildung im Fieber herab-
gesetzt sei; doch ist dies nach der jüngsten einschlägigen Arbeit von May
(fiebernde Kaninchen!) wieder zweifelhaft geworden. Die harnstoßbildende
Function der Leber (?) ist jedenfalls nicht aufgehoben. Die stärkere Ammon-
ausscheidung der Fiebernden ist eine Consequenz der Säurevergiftung und
beruht nicht auf Insufficienz der Leberelemente. Nach Experimenten könnte
man schliessen, dass beim acuten Fieberanfall die Gallensecretion eher abnimmt.
Von einigen Beobachtern wird auch die viscide Beschaffenheit der Galle im Fieber
hervorgehoben. Die Ausnützung der Nahrung im Darme ist nach Hösslin
beim Abdominaltyphus nur dann hinsichtlich des Eiweiss und der Fette wesent-
lich herabgesetzt, wenn profuse Durchfälle existiren. Die Fettresorption ist
etwas stärkea' beeinträchtigt. Am besten scheinen von Fieberkranken die
Kohlenhydrate resorbirt zu werden. Der Einfluss des Fiebers auf die Aus-
nützung der Nahrungsstoff'e ist jedenfalls kein so ganz ungünstiger, wie die
Praktiker vielfach anzunehmen geneigt sind. Ob die Fäulnisprocesse im
Darme und damit die Ausscheidung der entsprechenden aromatischen Producte
durch den Harn im Fieber vermehrt sind, ist noch nicht ausgemacht.
5. Fieber und Blut.
In rasch ablaufenden febrilen Infecten erhält sich wenigstens sehr oft
die Zahl derrothen Blutkörperchen und der Hae moglobingehalt
des Blutes auf annähernd normaler Höhe, Ueber Schwankungen des Plas-
mavolums liegen zuverlässige Erfahrungen nicht vor. Der Trockenrückstand pflegt
wenigstens nicht auffallend abzunehmen. Die Symptome, welche für gesteigerten
Haemoglol)inumsatz im Organismus der Fiebernden sprechen (der hochgestellte
Harn), und welche die Möglichkeit einerseits einer Quellung der Gewebe,
andererseits einer gegentheilig erhöhten Wasserabgabe nahegelegt haben
(Austrocknung der Schleimhäute, Verhalten der Secretionen etc.), sind bisher
nicht genügend aufgeklärt. Nicht einmal der Einfluss reichlicher Wasserzufuhr
erscheint ausreichend festgestellt.
Bei länger dauernden und chronischen fieberhaften Affectionen sind die Ver-
hältnisse sehr complicirte; es gesellt sich der Einfluss der Inanition, der eigent-
lichen dem vorliegenden Infect eigenthümlicheu Cachexie, die Folgen von
670 FIEBER.
Gewebsdegenerationen verschiedener Art, von Blutverlusten hinzu. In der Kegel
stellt sich secundäre Anaemie in verschiedener Intensität ein. Es handelt sich
um Blutverminderung als Ganzes oder um Hydraemie. Die starke Hydro-
bilirubinausscheidung, welche insbesondere bei längere Zeit Fiebernden präg-
nant nachzuweisen ist, beweist, dass das Haemoglobin in abnorm grosser
Menge zerfällt. Nach der Zerstörung der Erythrocyten wird der Blutfarbstoff
in der Leber in Gallenpigment umgesetzt. Vom Darm aus nimmt das redu-
cirte Pigment seinen Weg durch die Meren. Ich selbst habe im Blutplasma
von Fieberkranken Glycerinphosphorsäure nachgewiesen und im Harne solcher
Patienten gepaarte Phosphorsäure gefunden. Es muss dahingestellt bleiben,
ob diese Säure blos aus rothen und nicht auch aus (eventuell gleichfalls
stärker zerfallenden) weissen Blutkörperchen herstammt.
Bei vielen febrilen Infecten erscheint die Zahl der Leucocyten vermelirt,
entzündliche Leucocytose. Die diagnostische und prognostische Bedeutung
dieser Form der Leucocytose gehört in die Abhandlungen über die einzelnen
einschlägigen Infectionskrankheiten. Die prognostische Bedeutung ist jeden-
falls übertrieben worden. Ich sah Menschen mit Pneumonien sterben, trotz
prompter, und genesen trotz säumender und fruster Leucocytose. Hier sei nur
angeführt, dass die beobachteten Werthe das Doppelte und selbst darüber
(das Sechsfache) der Norm erreichen können. Eine Intensitätsscala
(fallend geordnet) möge folgendermassen zusammengestellt w^erden: Pneumonie,
l'leuritis, Sepsis, Scharlach, Bothlauf, Anginen. Bei Typhus soll die Zahl der
weissen Blutkörperchen sogar absinken können. Masern, Blattern liefern ge-
ringe Erhöhung. Bei Malaria sind die Verhältnisse inconstant, meist erfolgt
eine Abnahme der Leucocyten im Cubmm. Bei den chronischen mit Cachexie
verbundenen fieberhaften Processen ist Leucocytose wenigstens häufig, be-
sonders bei der Sepsis, nicht so constant bei der Tuberculose. Die infectiöse
Leucocytose gilt als eine sehr uniforme (polymorphkernige, neutrophile Leuco-
cyten). In Wirklichkeit sind aber die mononucleären Leucocyten gleichfalls
vermehrt. Die Lymphocyten erscheinen nur manchmal etwas reichlicher. In
den meisten fieberhaften Krankheiten (Pneumonie, Typhus, Sepsis, Erysipel) ist
während der Dauer der febrilen Intoxication eine Verminderung der oxyphilen
Leucocyten festgestellt. Nach Ablauf des Fiebers kehren dieselben mehr oder
weniger rasch zurück. Bei Malaria, im Stadium nach Ablauf der eigentlichen
Fieberanfälle und bei den acuten Exanthemen ergab sich dagegen eine Ver-
mehrung der eosinophilen Zellen. Bisweilen lässt sich (Pneumonie, Gelenk-
rheumatismus, Tuberculininjection) eine postfebrile Steigerung der Zahl der
oxyphilen Zellen constatiren. Die (eventuellen) Beziehungen der febrilen
Nucleoalbuminurie und Albumosurie (Peptonurie) zur Leucocytose sind un-
zureichend sichergestellt. Dass vor Allem die mit Leucocytose einhergehen-
den febrilen Infecte mit Uricacidämie und vermehrter Harnsäureausscheidung
im Harn verbunden sind, ist sehr wahrscheinlich. Grund hiefür sind die Be-
ziehungen zwischen Harnsäurebildung und Leucocytose (vergl. den Artikel
„Harnsäurediafhese") .
Die Alkalescenz des Blutes ist im Fieber herabgesetzt. Der
Kohlensäuregehalt des arteriellen Blutes fiebernd gemachter Thiere und des
Venenblutes fieberkranker Menschen sinkt bis unter ein Drittel der Norm, ebenso
nimmt die Säurecapacität ab, die Acidität dagegen zu. Dies gilt für alle
febrilen Infecte, bei welchen der Gasaustausch in den Lungen nicht gestört
ist; am wenigsten prägnant ist deshall) die Abweichung bei der Pneumonie.
Die Säure-Intoxication erreicht niemals annähernd so hohe Werthe, wie bei
Diabetes mellitus.
6. Der Harn im Fieber.
Beim Fieberanfalle erscheint im Stadium des Frostes das Harn qua nt um
vergrössert, die Harnfarbe blass, das specifische Gewicht relativ niedrig.
FIEBER. 671
Während der Fieberakme ist die Harnmenge vermindert, (aber nicht immer);
Der Harn sedimentirt stark (Urate); das specifische Gewicht ist hoch. In der
Krise kann die Harnmenge reichlich, aber auch spärlich sein. Beim expe-
rimentell erzeugten Fieber (Hund) ist von einem ganz kurzen Anfangstadium
abgesehen reichliche Harnausscheidung die Regel. Bei den typischen Fiebern-
der acuten Infecte ist die Harnmenge bis zum. Schlüsse meist geringer; es
wird weniger als die Hälfte des getrunkenen Wassers im Harne ausgeschieden.
Der Grund für die geringere Diurese sind anderweitige Wasserverluste. Hy-
drämisch wird der Körper nur bei Coraplication von Seite der Nieren oder
bei Herzschwäche. Trinkt ein Fiebernder viel, so scheidet er auch ziemlich viel
Harn aus und derselbe verliert die hochgestellte Farbe, sowie das rostfarbene
Sediment. Nach Ablauf der ursächlichen Erkrankung kommt es (inconstant) zu
einer kritischen Polyurie. Hat das Fieber länger gedauert, so beobachtet man
nicht selten eine solche schon im Stadium decrementi. Bei chronischen Fie-
bern ist ein Eintluss auf die Harnmenge oft gar nicht ersichtlich. Bekannt
ist die Neigung der Tuberculosen zu Polyurie ja selbst zum ausgeprägten
Diabetes insipidus. Die Ausscheidung des Chlor ist in acuten fieberhaften
Krankheiten vermindert. Am ausgesprochensten scheint dies der Fall zu sein
bei der Pneumonie. Die Ursache hievon ist nicht sicher bekannt. Die ver-
minderte Ausscheidung hält in länger dauernden Fiebern nicht an. Die
Kalisalze pflegen im Fieberharne vermehrt zu sein. Hinsichtlich der Phosphor-
säure steht gleichfalls fest, dass dieselbe u. zw. als Phosphat in der Akme
fieberhafter Krankheiten vermindert ausgeschieden wird. Auffallend ist es
auch, dass speciell in gewissen Stadien des Schüttelfrostes die Phosphate im
Harn vorübergehend fast verschwinden. Ein solcher Harn ist nicht einfach
ärmer an festen Bestandtheilen, reagirt auch gewöhnlich deutlich sauer. Im
nächsten Fieberstadium kommen dann schon die Phosphate im Harne wieder
zum Vorschein. Wichtig ist es auch, dass die Phosphatausscheidung insbeson-
dere hinter der Stickstoffausfuhr zurückbleibt. Die Sulfate steigen und fallen
mit dem Stickstoffumsatz. Nach Salkow^ski wird bei manchen Infections-
krankheiten (Pneumonie) verhältnismässig viel neutraler Schwefel ausge-
schieden.
Die Daten über den gesammten Stickstoffumsatz im Fieber suche man
weiter oben. Die Relation des Harnstoffes zu den übrigen stickstoöliältigen
Harnexcreten ändert sich im Fieber nur wenig. Nur Ammoniak wird im
Fieber relativ reichlich ausgeschieden; Ursache ist die Säure Vergiftung. Die
Extractivstoffe verhalten sich nicht bei allen Infectionskrankheiten gleich; eine
Vermehrung wird für Pneumonie angegeben. Bei den fieberhaften Aftectionen,
welche mit Leucocytose einhergehen, ist die Harnsäureexcretion vermehrt.
Bei der Pneumonie erfolgt diese Vermehrung besonders gegen die Krise zu.
Das Sedimentum lateritium, welches man so oft im Fieber findet, beweist
natürlich nicht gesteigerte Uratausscheidung, sondern hängt ebenso mit der
Excretion der Phosphate und mit der Harnmenge zusammen. Eine kurze
Erwähnung verdienen diejenigen stickstoffhaltigen Körper im Fieberharne,
welche die EHELicn'sche Diazoreaction geben (Rothfärbung bei Behandlung
mit Sulfanilsäure, salpetrigsaurem Natrium und Ammoniak). Die Reaction
wird unzweifelhaft auch bei fieberlosen Kranken gefunden. Unter den fieber-
haften Aftectionen findet man sie am häufigsten bei Typhus und acuter Tuber-
€ulose, nicht so oft bei anderen Infectionskrankheiten. Ob dieser Reaction
irgend welche differentielldiagnostische, und welche physiologische Bedeutung
zukommt, ist nicht ausgemacht. Die Natur der Körper, welche die Reac-
tion veranlassen, ist unbekannt (Spaltungsproducte des Eiweiss). Als Aus-
druck der im Fieber bestehenden Säureintoxication enthält der Fiel)erharn sehr
häufig Aceton und Acetylessig säure ^ aber auch nicht so selten Oxybuttersäure.
Was speciell die letztere anlangt, so hat sie Referent auch noch nach Fieber-
672 FIEBER.
abfallen einige Zeit im Harne von Typhuspatienten gesehen, die sich be-
reits ganz wohl befanden. Ein Parallelismus der Acetonausscheidung mit der
Fiebercm've, wie y. Jaksch es geglaubt hatte annehmen zu sollen, besteht
gewiss nicht, geht ja doch die Intensität der Säureintoxication überhaupt nicht
.parallel mit der Temperaturhöhe und ist ja diese Intoxication absolut ge-
nommen ein zuverlässigerer Maassstab der Intensität des febrilen Infectes als
die freilich viel sinnenfälligere und mit einfachen Mitteln zu verfolgende
Temperaturcurve. Flüchtige Fettsäuren sind wiederholt im Fieberharn ge-
funden worden. Besonders reichlich bei Pneumonie. Diese Säuren stammen
wahrscheinlich aus dem Darme. Milchsäure ist gelegentlich im Fieberharne
gefunden worden. Die febrile Albuminurie gehört ebenso wie die Temperatur-
steigerung zu den Theilwirkungen der Infekte. Albumosurie (Peptonurie)
kommt in solchen febrilen Processen vor, bei denen reichlich Trümmer abster-
bender Zellen, insbesondere das Material zerfallender Leucocyten in die Säfte-
masse gelangt. Xucleoalbuminurie ist gleichfalls ein nicht seltenes Vorkomm-
nis. Ueber das Auftreten von Bakterientoxinen im Harne verlautet bisher
wenig. Die öfter gefundenen Diamine können nur wenig Bedeutung bean-
spruchen. Wichtig ist der Befund Beieger"s bei Erysipel (Toxcdoumine). Nach
französischen Autoren steigt die Harngiftigkeit in der Krise; in der Fieber-
akme sei sie herabgesetzt.
7. Fieber und Nerveusvstem.
Das Bewusstsein ist bei leichteren Graden des Fiebers ungestört und es
finden sich dann blos Unruhe und Aengstlichkeit, Unmöglichkeit zu denken,
Gefühl von schwerem, eingenommenen Kopf, Wehleidigkeit insbesondere gegen
Sinneseindrücke, gestörter Schlaf, Gefühl von Zerschlagensein in den unteren
Extremitäten, Wadenschmerz, Empfindung von Prostration, Willenlosigkeit.
Bei höheren Fiebergraden Apathie, Unbesinnlichkeit, lallendes Sprechen; Yer-
gesslichkeit, bei Einnahme der aufrechten Körperhaltung Ohnmachtsanwand-
lungen, vor dem Einschlafen Delirien, Incoordination. Im hohen Fieber Sopor
bis Coma, ruhige oder wilde Delirien, starke Afiecte, Versuch das Bett zu
verlassen. Sehnenhüpfen, clonische Zuckungen, allgemeine Krämpfe, Erschlaf-
fung der Muskeln, herabgesetzte Pieflexe, verfallene Gesichtszüge, Sedes in
voluntariae. Härmtet ention oder -incontinenz u. s. w., u. s. w. Man kann nicht
sagen, dass eine bestimmte Temperaturhöhe immer die gleichen nervösen
Symptome hervorruft, sehr wesentlich spielt hier die specifische Fieberursache
mit. Bekannt ist das Gefühl der Vernichtung und ungeheuren Prostration
der Septischen, welches einen grellen Gegensatz bildet zu dem relativen sub-
jectiven Wohlbefinden der Typhösen in bestimmten Stadien. Besonders wich-
tige nervöse Symptome beziehen sich auf das Gefässsystem und die vasomo-
torischen Nerven.
8. Fieber iind Cü^ciüatioiisapparat.
Das in die Augen springendste Symptom ist die Beschleunigung der Puls-
frequenz auf der Fieberhöhe. Diese Frequenzsteigerung geht einher sowohl
mit lel)hafter Herzthätigkeit und mit stark klopfenden Pulsen (Frühstadium
febriler Infekte), als mit schwachen Herzschlägen, kleinem Pulse (späteres ..asthe-
nisches" Stadium). Ceteris paribus wird die Pulsfrequenz umso grösser, je höher
sich die Körpertemperatur erhebt. Liebermelster hat eine Tabelle aufgestellt,
welche für die einzelnen febrilen Temperatm-en Maximum und Minimum der
dazu gehörigen Pulszahlen angibt. Diese Tabelle beansprucht aber nicht
zu grossen Werth; denn die Frequenz hängt, von der Temperaturhöhe abge-
sehen, auch noch von der ätiologisch verschiedenen Natur der Infecte, von
der Schwere der febrilen Intoxication, der Anämie, Inanition u. s. w. ab.
Am auffallendsten ist der Einfluss, den der A])dominaltyphus im Be-
FIEBER. 673
ginne seines Verlaufes und bisweilen auch die Variola auf die Pulsfrequenz
äussert. Trotz Temperaturen zwischen 39 und 40<^ stellt sich der Puls relativ
verlangsamt dar, seine Zahl beträgt nämlich nicht selten unter 90. Aus der
absoluten Pulsfrequenz prognostische Schlüsse zu ziehen, ist jedenfalls eine
schwierige Sache. Kinder und weibliche Individuen vertragen selbst Puls-
frequenzen bis 140 tagelang nicht selten leidlich gut. Es ist immer noth-
wendig, hier ganz specielle Momente gehörig mit in Betracht zu ziehen:
Anämie, Alkoholismus, Senium.
Im Fieberfroste sind die kleinen Hautarterien zusammengezogen, die
Venen dagegen besser gefüllt. Es kommt zu Blässe und Cyanose. In der
Fieberhitze sind die Hautaiterien im allgemeinen weiter, die Capillaren besser
gefüllt und infolge dessen ist die Haut an der Oberfläche turgescirend. Die
Röthung nimmt aber immer leicht lividen Charakter an, insbesondere an den
abhängigen Theilen (Wange, auf welcher der Kranke liegt). Nicht selten
stellen sich an einzelnen Körpertheilen ganz umschriebene Ektasien der Haut-
gefässe ein, fast immer ein Zeichen schwerer Infection. Der ßadial- und der
Carotispuls auf der Fieberhöhe sind gross, pseudoceler, weich. In den späteren
Zeiten, wo die Herzkraft nachlässt, ist der Puls gewöhnlich kleiner, unter der
Norm gespannt, dikrot oder überdikrot. Ausgeprägte Dikrotie findet sich aber
auch schon in jenen Stadien fieberhafter Krankheiten, wo das Herz anscheinend
kräftig schlägt. Auffällig ist insbesonders in späteren Stadien der Umstand,
das psychische Erregungen, körperliche Anstrengungen, Lagewechsel, Aenderung
der äusseren Temperatur u. s. w. einen viel grösseren Einfluss auf die Puls-
beschaffenheit üben als im gesunden Zustande. Sehr schön lässt sich die
Aenderung der Pulsbeschaffenheit in einem Malaria-Fieberanfalle studiren.
Vor dem Anfalle normaler, katadikroter Puls. Auf der Fieberhöhe bei 41^ der
Puls überdikrot, anadikrot oder monokrot. Im Schweissstadium wie vor dem
Fieberanfalle. Die Geräusche, welche während des Fiebers am Herzen sich
einstellen, eventuell nachweisliche Ausdehnung des Herzens infolge Elastici-
tätsverlust desselben u. s. w. haben wenig diagnostischen Werth. Die Herz-
schwäche markirt sich im Fiebercollaps nicht anders als unter anderen ursäch-
lichen Bedingungen.
Für das Verständnis des Wärmehaushaltes im Fieber kommen einige
Thatsachen in Betracht, welche der experimentellen Physiologie und Pathologie
entnommen sind. Bekannt ist zunächst auch beim Menschen der infolge
wechselnder Aussentemperatur eintretende Wechsel im Tonus der oberfläch-
lichen Gefässe. Niedere Temperatur verursacht eine Contraction der kleinen
Hautarterien; die Haut wird blass, man sieht durch die Cutis die Venen
schimmern. Das Gesicht sieht etwas eingefallen, livid aus. Die Weich-
theile haben einen geringeren Turgor. Ob der gesammte Blutdruck unter
diesen Verhältnissen sich ändert, ist nicht bestimmt zu sagen. Die vor-
liegenden Versuche sind bloss mit dem v. BAScn'schen Sphygmomanometer
angestellt. Dass starke Hautabkühlung sehr intensive Gefässreflexe herbei-
führt, beweist die von Grawitz und Anderen gefundene consecutive Lymph-
bewegung auch beim Menschen genügend. Die Veränderungen der Haut-
gefässe im Froststadium des Fieberanfalles sind nun anscheinend ähnliche.
Der Radialispuls, welcher unter diesen Verhältnissen etwas verlangsamt sein
kann, zeigt sich im Sphygmogramm als klein; die Dikrotie wenig ausgesprochen.
Bei erhöhter Aussentemperatur wird der Puls frequent, gross, dikrot; die Haut
wird roth und schwitzt leicht. Man ist gewöhnlich geneigt, die Dikrotie und
Ueberdikrotie zu beziehen auf geringere Gefässspannung. Ganz einwandfrei
ist diese Annahme nicht. Die Messungen, welche mit dem v. BASCii'schen
Sphygmomanometer bei fiebernden Menschen vorgenommen wurden, um den
Blutdruck zu bestimmen, haben bisher einander direct widersprechende Re-
sultate ergeben, theils Druckerhöhung bei steigender Körpertemperatur, theils
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. ^
674 FIEBER.
ein Absinken des Druckes, allerdings vorwiegend während des Fieberablaufes.
Eine zuverlässige Kenntnis des Gesammtblutdruckes von Fieberki^anken besitzen
wir dermalen nicht. Bei Thieren, welchen Fieber durch Eiterinjection er-
zeugt w^urde, fand sich der in der Carotis gemessene Blutdruck innerhalb nor-
maler Grenzen. Im Fieber müssen ganz eigenthümliche Aenderungen des Ge-
fässtonus platzgreifen. Insbesonders müssen Unterschiede, welche im Tonus der
Hauptprovinzen des Gefässystems gewöhnlich bestehen, theilweise aufgehoben
sein, oder doch sich verschieden verhalten. Dies wird bewiesen durch be-
rühmte einschlägige Versuche Heidenhain's. Reizt man die vasomotorischen
Bahnen von der Medulla ablongata her, so wird die Temperatur im Körper-
inneren (verschiedenste central gelegene Gefässe) niedriger. Es kommt
nämlich zu einer Beschleunigung des Blutumlaufes und infolge dessen ist die
Abkühlung an der Peripherie stärker. Dieses Experiment nun gelingt am
fiebernd gemachten Thiere nicht. Es ist also auf der Fieberhöhe, was auch früher
immer angenommen worden war, der Unterschied in der Temperatur der cen-
tralen und der äusseren Körpertheile aufgehoben. Das Blut kühlt sich an
der Peripherie, weil kein Unterschied mehr besteht, bei jenen Experimenten
nicht mehr so ab wie in der Norm. Dass der Blutumlauf im Fieber ver-
langsamt ist, machen zahlreiche ältere und neuere Thierversuche wahrscheinlich.
Bedeutsam für die Fieberlehre ist auch die von Maeagliai^o auf Grund
von Untersuchungen mit dem Mosso'schen Plethj^smographen behauptete Mo-
dification der Hautcirculation. Fieberhafte Temperatursteigerung ])ewirke eine
progressive Contraction der Hautgefässe, welche so lange fortbestehen soll, als
die Temperatur erhöht bleibt. Im Fieberabfalle wechsele damit eine fort-
schreitende Erweiterung der Gefässe ab. Es stimmen diese Versuche zu Be-
obachtungen über Veränderung der Gefässweite, welche früher schon Sexatoe
direct am fiebernden Thiere (Ohrgefässe) gemacht hatte.
9. Fieber und Athemmechaiiismiis.
Die Zahl der Athemzüge ist im Fieber fast immer gesteigert: wenn eine
locale Erkrankung der Lunge vorliegt, macht sich die Steigerung der Athem-
frequenz ganz besonders geltend. Ferner ist diese Steigerung bei Kindern
auffallend hoch; die nervöse Constitution hat gleichfalls einen gewissen Einfluss
auf die Steigerung der Athemfrequenz. Die vermehrte Ptespirationsfrequenz
ist jedenfalls auch nur eine Folge der veränderten Erregbarkeit des Xerven-
systems.
10. Die aetiologisclie Richtimg üi der Fieberlehre.
Man hat früher viel gesprochen von der febris simplex (Volkmann's
aseptisches Fieber) und diese Fieberform einer zweiten, dem Infectionsfieber
(febris mixta, complicata) gegenül)ergestellt. Das Characteristische dieses in-
sonten Fiebers sollte darin bestehen, dass die Temperaturerhöhung fast das
ausschliessliche Symptom bilde. Man hat es beobachtet bei subcutanen Ver-
letzungen. Die Dauer desselben beträgt bis 1 oder selbst 2 Wochen, die Tem-
peratur kann 40' C erreichen. Da jedoch Hitzegefühl, Wärmedyspnoe, Puls-
beschleunigung sich auch hier in gewissem Umfang einzustellen ptiegen, die
Harnstofi'menge im Harn zunimmt, besteht kein ausreichender Grund, auf die
angeführte Unterscheidung noch Rücksicht zu nehmen. Die Hyperthermien
bei gewissen Coliken, beim Catheterismus gehören vielleicht theilweise in
andere Gebiete; sie sind wohl zumeist rein vasomotorische Phaenomene.
In welcher Weise dieinfectiansstoffe Fieber hervorbringen, ist noch
ungenügend aufgeklärt. Dass der Infect das eigentlich Bedingende ist, beweist
der Decursus. Das Fieber geht der Localkrankheit voran, hört vor der Rück-
bildung derselben auf; es besteht insbesondere volle Unabhängigkeit von den
Entzündungsprocessen, man halte sich nur das prägnante Beispiel der Pneu-
monie vor Augen. Wenn man bisweilen noch von einem unabhängigen „Ent-
FIEBER. 675
zündungsfieber" spricht und sich dabei eine Resorption von Detritus (Histo-
zyme?) aus den verletzten oder aseptisch entzündeten Geweben denkt, so hat
dies, wie wir gleich sehen werden, nicht viel auf sich. Denn bei den von
pathogenen Mikroorganismen erzeugten Fiebern kann man ja auch nur ent-
weder auf die geweblichen Trümmer des inficirten Organismus, (besonders
auf Histozyme, Fibrinferment), oder auf directe Wirkung der Bacterien-
gifte recurriren. Die französische physiologische Schule hat bereits mit Erfolg
begonnen, die speciellen vasomotorischen Wirkungen einzelner bacterieller
Toxine genauer zu studiren. Die weittragenden Hoffnungen, welche man in
jüngster Zeit in der Lehre von der Fieberaetiologie auf die Fermente gesetzt
hat, scheinen trügerische zu sein. Was insbesondere das Fibrinferment an-
belangt, so fehlt nach der einschlägigen Arbeit Hammerschlag's jede Mög-
lichkeit einer Begründung der Fiebergenese auf das constante Vorkommen des
selben im Blute. Dass eine ganze Anzahl von Fermenten, (das ScHMiEDEBERG'sche
Histozym, das Pepsin, Pancreatin, ein aus Hefe darstellbares Pyretogenin
(höchstwahrscheinlich Invertin), Diastase, Labferment, Emulsin, Myrosin u. a.
Temperatursteigerung bewirken, darf wohl für alle erwähnten einzelnen Sub-
stanzen auf das gleiche Moment bezogen werden, nämlich auf die all diesen
Giften gemeinsame Laesion der Blutkörperchen. Nicht bloss die Fermente,
alle sonstigen Gifte, welche Hämoglobinurie hervorrufen, vermögen auch Fieber
zu erzeugen. Aber keinesfalls sind wir vorläufig berechtigt, einen einzigen
chemisch charakterisirbaren oder auch nur hypothetischen Körper als Materia
causalis anzuklagen. Der Erforschung der bacteritischen Toxalbumine und der
Infectionsstoffe gehört die Zukunft. Und eine Einschränkung des Fieber-
begrifies, vielmehr eine Auseinandergliederung desselben zu Gunsten der Be-
griffe der Einzelinfecte scheint unausweichlich.
Dass die aetiologische Pachtung in der Fieberlehre auch der Therapie
der Infectionskrankheiten überhaupt und der Frage der sogenannten Heilwirkung
des Fiebers nahezukommen trachtet, gehört in das Capitel „Antipyrese." .
11. Die semiotische Bedeutung der Temperaturverhältiiisse im Fieber.
Die Achselhöhlentemperatur des Gesunden bewegt sich innerhalb
enger Grenzen; 36*2° und 37*5° C dürften dieselben bezeichnen. Werden bei
angeblich Gesunden Werthe angetroffen, welche unter, bezw. über diesen
Zahlen liegen, so erweckt dies begründeten Verdacht für das Vorhandensein
einer Krankheit. Rectum und Vagina sind ungefähr um einen halben Grad
wärmer. Während zwischen beiden Geschlechtern in gleichem Alter ein Tem-
peraturunterschied nicht zu bestehen scheint, ergibt sich ein solcher zwischen
Personen verschiedener Lebensstufen.
Der Neugeborne zeigt durchschnittlich eine Temperatur von 37*75'' C.
(im After gemessen). Dieselbe sinkt nach dem ersten Bade auf etwa 37",
erreicht aber in den nächsten Tagen wieder eine Höhe von 37-2" — 37-6°,
welchen Stand sie bis zur Pubertät behält. Um diese Zeit stellt sie sich
etwa um 0'2 — 0*4'' niedriger und diese Höhe hält sie dann beim Erwachsenen
fest. Vom 60. Jahre ab beginnt eine weitere Erhebung des Temperatui'-
mittels, der Greis zeigt wieder die höheren Werthe des Kindesalters.
Die Temperatur eines und desselben Individuums weist T ages Schwan-
kungen auf, welche sich in der Breite eines Grades bewegen; dabei fällt das
Minimum auf die Nacht- oder frühen Morgenstunden, das Maximum auf den
Nachmittag; die Tagescurve kann ein- oder zweigipflig sein. Die Tages-
schwankungen finden sich auch bei Nahrungsentziehung und in Bettruhe,
können also nicht auf den Einflüssen von Nahrung und Muskel- Ai'beit allein
fussen. Es liegen allerdings Beobachtungen vor, dass bei Nachtarbeitern die
Curve sich umkehrt, die Maxima auf die Nacht-, die Minima auf die Tages-
stunden fallen. Der Eintritt der Menses kann, auch bei Abwesenheit von
43*
676 FIEBER.
pathologischen Vorgängen eine Erhöhung der Körperwärme mn bis P hervor-
rufen. Ueber die Schwangerschaft lässt sich sagen, dass eine geringe Erhöhung
der Temperatur in der Scheide in den letzten Monaten häufig gefunden wurde.
Während der Wehen steigt die Temperatur des Weibes in vielen Fällen, auch
ohne geschehene Infection und beträgt gleich nach der Geburt etwa 37'6°.
Fallen die ersten Stunden des Wochenbettes mit der natürlichen täglichen
Temperaturerhöhung zusammen, so findet selbst noch ein weiteres Ansteigen
in den ersten 12 Stunden bis über 38" statt. Der weitere Verlauf des Puer-
periums ist normaler Weise ganz afebril; der frühere Begriff ..Milchfieber" ist
heutzutage aufgegeben. Die theoretisch vorauszusetzende Steigerung der
Eigenwärme durch Muskelthätigkeit wird nicht selten ganz vermisst und in
der Eegel nur äusserst geringfügig gefunden; es kommt eben unter solchen
Umständen auch zu vermehrter Wärmeabgabe (Schweissbildung und Verdun-
stung, Erweiterung der Hautgefässe). Ein Einfluss des Schlafes auf die
Körperwärme ist beim Erwachsenen nicht zu erweisen. Die Einwirkung von
kalten Aussentemperatm'en (Bad, Luft) auf die Temperatur der Achselhöhle
ist eine verschiedene; bei massiger kurzdauernder Kältewirkung steigt die
Quecksilbersäule öfter um ein Geringes (Wärmestauung, üebercompensation
durch die regulu^enden Factoren!), bei länger fortgesetzter dagegen sinkt
sie. Durch reichliche Einfuhr kalten Wassers in den Magen kann eine Tem-
peraturabnahme (bis r4°) erzielt werden. Die temperaturerhöhende Wirkung
warmer Luft (im Sommer, in den Tropen), sowie die warmer Bäder ist nicht
ausgemacht, jedenfalls relativ geringfügig. Wenn aber die L'mgebungstempe-
ratur (wesentlich) die Bluttemperatur übersteigt, die Atmosphäre mit Wasser-
dampf gesättigt ist, und noch andere wärmebildende Momente, z. B. Muskel-
anstrengung hinzukommt, können Temperatursteigerungen bis über 40° die
Folge sein. Nahrungsaufnahme bringt eine leichte und ganz vorübergehende
Temperatursteigerung hervor. Dass sell)st mehrtägiges Hungern auf die
TemperatiuTurve ohne Einfluss bleibt, hat der bekannte Hungerversuch Cetti's
gezeigt.
Die quantitativen Abweichungen der Körpertemperatur von der Xorm
in Krankheiten sind sehr erhebliche. Die höchste bis jetzt beschriebene
Temperatur ist 50'^ C (in axilla) bei einer Frau mit „Commotio medullae
spinalis." (?) Wunderlich gibt als obere Grenze 44*7.5'' an. Doch sind schon
Temperaturen von 42* 5° und darüber Seltenheiten. Unbedingt tödtlich sind
derartige Steigerungen der Körperwärme nicht; Genesung trat in einem
Falle von Insolation noch nach 42-8 C ein. Man pflegt, ohne dass diese Ein-
theilung einen besonderen Werth beanspruchte, die Fiebertemperaturen zu
scheiden in sub febrile bis 38*5'^, in leicht febrile bis 39*^, in febrile bis 40°,
in hochfebrile bis 41"; die darüber gelegenen heissen hyperpyretische Tem-
peraturen. Die Grenze der mit dem Leben vereinbarlichen Körpertemperatm'
nach unten reicht weiter, als die nach oben. Man sah die Temperatur bis auf
24" (im After gemessen) sinken und darnach Ptestitutio eintreten. Der nie-
drigste bis jetzt beobachtete Werth dürfte 22' 5'' sein; es handelte sich um
einen Paralytiker im Endstadium. Wie beim Gesunden, so stellt auch beim
Kranken die Temperaturcurve eines Tages nicht eine horizontale Linie dar,
sondern eine Welle mit Erhebung und Senkung. Die Differenz der Ordinaten
für den Gipfel der Curve (das Tagesmaximum) und für das Thal (das Tages-
minimumj heisst die Tagesdifferenz, die mittlere Tagestemperatur stellt das
arithmetische Mittel zwischen diesen beiden Grössen dar. Man spricht von
Ascension (Erhebung) der Curve, von Descension (Senkung) derselben. Exacer-
bation heisst die Erhebung über das Tagesmittel, Remission die Senkung
unter dasselbe. Solche Exacerbationen und Remissionen bestehen meisten-
theils nur je eine innerhall) 24 Stunden; doch gibt es auch duplicirte und trip-
licirte Tagesexacerbationen und demgemäss 2 und 3 gipflige febrile Tages-
FIEBER. 677
curven. Gross ist die Verschiedenheit der Tagesdifferenzen; es kann die
Temperatur an einem Tage um 5, ja um 6 Grad und darüber schwanlien
gegenüber etwa 1 Grad beim Gesunden. Wie bei Letzterem wird auch
im Allgemeinen im Fieber der Curvengipfel am Nachmittag oder am Abende
erreicht; die Remissionstiefe hingegen fällt auf die frühen Morgenstunden.
Ein entgegengesetztes Verhalten bietet der sogenannte Typus inversus.
Was die Art des Ansteigens und Abfallens der Temperatur anlangt, so zeigen
häufige Messungen in diesen Perioden selten ein stetes Zu-, beziehungsweise
Abnehmen der Körperwärme an; es kommt vielmehr häufig, bis zu einer
Viertelstunde Dauer, ein Stillstand in die Bewegung, was in der Gurve als
Stufe oder Terrasse sich kennzeichnet. Verschieden ist auch die Dauer oder
Breite der einzelnen Curvenab schnitte.
Unter Fiebertypus versteht man die Art des Fieberverlaufes an
mehreren auf einander folgenden Tagen. Man unterscheidet zunächst kurze
Fieberanfälle (die sogenannte Fehricula oder EpJiemem), welche rasch mit
Genesung enden. Wie der 2. Name besagt, währt das Fieber oft nur einen
Tag, selten drei. Es besteht meist ein rapider Anstieg, oft bis 40". Der
Abfall vollzieht sich verschieden, oft ebenso plötzlich. Eine 2. Gruppe stellen
dar die continuirlichen, beziehungsweise subcontinuirlichen Fieber, Febris con-
tinua, bei welchen geringe Tagesdifferenzen bis l\ beziehungsweise bis 72"
vorkommen. Eine Febris remittens ist charakterisirt durch beträchtlichere
Tagesdifferenzen bei einem Tagesminimum unter 39-5". Die Febris intermittens,
sowie die recurrens zeichnen sich durch den mehr minder regelmässigen
Wechsel von kurz dauernden Fieberanfällen, auch Paroxysmen genannt, und
von fieberfreier Zeit, der Apyrexie, aus. Bei der Febris intermittens dauert
der ganze Paroxysmus weniger als 24 Stunden; die erreichte Fieberhöbe ist
meist bedeutend, um 4P herum. Die Febris recurrens (auch relabirendes
Fieber genannt) hat mehrtägige Fieberanfälle und desgleichen mehrere Tage
dauernde Apyrexien.
Im Falle des raschen Anstieges der Temperatur, wie er im intermitti-
renden Fieber die Pegel ist, vollzieht sich derselbe fast stets unter dem
Bilde des Schüttelfrostes. Wälirend uns das Thermometer durch sein Steigen
die Erhöhung der Körpertemperatur anzeigt, klagt der cyanotische Kranke
über starkes Kältegefühl; es überläuft ihn ein Kälteschauer, er zittert, die
Zähne klappern etc. Dabei fühlen sich in der That die peripheren Theile des
Körpers kühl an. Eife ähnliches klinisches Bild findet sich aber bisweilen auch
ausserhalb eines Fieberanfalles bei normaler Temperatur. Andererseits steigt
die Temperatur auch im Fieber bisweilen rasch und bedeutend an ohne jeglichen
Frost. Meist noch vor Erreichung des Gipfels ist der Schüttelffost gewichen
und wird abgelöst vom Hitzestadium; die früher kühlen Theile sind nunmehr
brennend heiss, die blasse Haut wird turgescirend roth, was besonders an
gefässreichen Stellen mit dünner Oberhaut, wie im Gesichte, zum Ausdrucke
gelangt. Der Kranke äussert ein lebhaftes Wärmegefühl. Auch hier wieder-
um muss gesagt werden, dass bei gleich hoher Körperwärme diese Phänomene
vermisst werden können, beziehungsweise nicht ausgesprochen sind. Ein drittes
wichtiges Symptomenbild im Fieber wird dargestellt durch den Collaps. Wesent-
lich auf Herzschwäche zurückzuführen, findet sich dieser stets unangenehme
Zufall in den verschiedensten Perioden des Fiebers. Er charakterisirt sich durch
Erkalten der peripheren Theile, welche meist mit Schweiss sich bedecken.
In stärkeren Graden tritt ein förmlicher Verfall des Kranken ein; der Puls
wird frequent und klein, die Athmung oberflächlich, das Bewusstsein des
Kranken wird getrübt. Die Innentemperatur kann dabei ungeändert bleiben,
ja im Steigen begriffen sein; meist freilich fällt auch sie stark ab.
Man unterscheidet nach der Ptegelmässigkeit des Fieberverlaufs typische
und atypische Krankheitsformen. Sind einer Krankheit je nach Intensität oder
678 FIEBER.
anderen besonderen Umständen verschiedene Verlaufsformen eigen, so spricht
man von Pleotypismus im Gegensatz zum Monotypismus. In den meisten
Krankheiten, in denen das Fieber ein wesentliches Symptom darstellt, hat das-
selbe auch einen mehr weniger typischen Ablauf.
Man kann bei solchen fieberhaften Krankheiten meist mehrere Perioden
wohl abtrennen: 1, das pyrogenetische Stadiurn, 2. das Fastigium, 3. die Deferves,cenz^
4, die Beconvalescenz. Das pyroge netische Stadium stellt sich recht verschie-
den dar; bald findet ein jähes, in wenigen Stunden beendetes, continuirliches
Ansteigen statt, bald steigt die Temperatur unterbrochen, sei es stafi'elweise
mit leichten Morgenremissionen und täglich wachsenden Abeudexacerbationen,
sei es unregelmässig protrahirt. Die Art und Weise des Fieberanstieges ist
von nicht geringer differentialdiagnostischer Bedeutung. Das Fastigium ist
die Periode der vollen Entwicklung des Fiebers. Der Gang der Temperatur
in dieser Periode hält drei Yerlaufsarten ein 1. den akmeartigen. 2. den
continuirlichen, 3. den discontinuirlichen; d. h. entweder bei kurzer Dauer
der Kraiilvheit wird der erreichte Gipfel bald wieder verlassen, oder die
Krankheit erhält sich als Febris continua auf der Höhe, oder aber es
stellen sich tiefere Remissionen ein, gewöhnlich mit Unregelmässigkeit des
Fieberganges verbunden. Die Abgrenzung vom nächsten Stadium, dem
der Defervescenz, des Temperaturabfalles, ist eine sehr verschieden scharfe.
Manchmal kommt es unmittelbar vorher, ja nach einer früheren geringen
Senkung zu einer kurzdauernden, oft bedeutenden Temperaturerhebung, einer
sogenannten Perturbatio critica. Eine ganz andere A^erlaufsart zeigt sich,
wenn zwischen Fastigium und Defervescenz eine Periode von unregelmässigen
Ptemissionen und Exacerbationen sich einschiebt, eine wahre Zeit der Unent-
schiedenheit, das amphibole Stadium. Das Stadium der begonnenen Heilung
wird eigentlich dargestellt durch die Defervescenz; das von manchen hier
aufgestellte Zwischenglied einer Periode der ungenügenden Abnahme, Stadium
decrem enti, kann füglich gestrichen werden. Der Piückgang der Tempe-
ratur zur Norm, die Entfieberung, lässt zwei Haupttypen unterscheiden:
eine rapide in wenigen Stunden bis höchstens 1 ^/a Tagen sich vollziehende,
Krisis, und eine auf mehrere Tage bis eine Woche vertheilte, Lysis. Mit dem
erstgenannten A^organg vollziehen sich gewöhnlich auch auffallende Aende-
rungen im Gesammtzustande des Kranken. Es brechen die sogenannten
„kritischen" Schweisse aus; die Temperatur wird subnormal, die Pulsfrequenz
fällt auf 60 und darunter. Der Kranke fühlt sich erfrischt, empfindet oft
Hunger. Früher vorhandene Schmerzen schwinden. Es stellt sich erquicken-
der Schlaf ein. Höchst auffallend dem gegenüber ist die Fortdauer vieler
sonstiger Krankheitssymptome, z. B. der physikalischen Zeichen vorhandener
entzündlicher Lungeninfiltration u. dgl. Das subjective Befinden und die
Pulsqualität unterscheidet die Krise sofort vom Collaps. Der Defervescenz
folgt die Pieconvalescenz. Die Temperaturen erscheinen dann normal, ja nach
einer Kiisis häufig eine Zeitlang subnormal. Die Tagesschwankungen sind
meist beträchtlich und die mindesten äusseren Einwirkungen bringen grosse
Ausschläge in der Temperaturcurve hervor, so ein Bad, ein leichter Diätfehler,
das Verlassen des Bettes, gemüthliche Aufregungen u. a. m. Die Wendung
einer fieberhaften Krankheit zum Tode beeinflusst die Temperatur durchaus
nicht stets in demselben Sinne. Man findet manchmal, dass der bisherige
Temperaturablauf erhalten bleibt. Andere Male kommt es zu massiger Steigerung
der Körperwärme. In einer dritten Gruppe von Fällen geht die Curve
langsam herab und erfolgt schliesslich der Tod unter Collapstemperaturen.
Endlich steigt in manchen Fällen die Temperatur rasch und intensiv in
die Höhe; es kommt zu hyperpyretischen Werthen derselben; ja die höchsten
beobachteten Temperaturen gehören diesem agonalen Stadium an. Unter
diesen Umständen, aber auch sonst manchmal, konnte man das interessante
FIEBER. 679
Phänomen der postmortalen Temperatursteigerung beobachten; es stieg
die Quecksilbersäule nach Aufhören von Herzschlag und Athmung noch
um einige Zehntelgrade und erhielt sich auffallend lange auf dieser Höhe.
Die Factoren, welche auf die Bildung der Temperaturcurve in Krank-
heiten von Einfluss scheinen, sind zunächst natürlich die Art der Erkrankung
selbst, es gibt, wie schon früher bemerkt, für gewisse Erla^ankuugen typische
Fiebercurven, sodann die Intensität des morbiden Processes. Vom Träger der
Krankheit hängt in mancher Hinsicht der Fieberverlauf ab ; sein verschiedenes
Alter prägt sich häufig in der Curve aus. Im Allgemeinen werden Fieber-
temperaturen und Infecte überhaupt von Individuen der späteren puerilen
Jahre und von Adolescenten wesentlich besser vertragen als von älteren Indi-
viduen, vor allem von Greisen in der Nähe des 60. und 70. Lebensjahres.
Die febrile Pieaction der Greise und der Kachektischen ist eine geringe. Das-
jenige, was die Alten als asthenisches Fieber bezeichnet haben, liegt nur zum
Theile in constitutionellen Eigenthümlichkeiten der erkrankten Individuen,
vielmehr in gewissen perniciösen Folgen des Infectes. Von grosser Bedeutung
ist endlich, ob die Krankheit ein vorher gesundes oder krankes, ja vielleicht
schon fieberndes Individuum befiel; besonders in letzterem Falle verwischt sich
der gewöhnliche Temperaturgang. Des Weiteren intiuenciren in verschiedenem
Maasse die Temperatur die äusseren Umstände des Kranken, der Grad der
Pflege, welche ihm zu Theil wird, die Menge und Art der Nahrung, endlich
vor allem auch die so häufig in verschiedener Form angewandten Fieber-
mittel. Besonders kann der Beginn, das pyrogenetische Stadium eines Leidens,
ein vom gewöhnlichen völlig verschiedenes Gepräge bekommen, wenn der
Kranke, die Prodrome nicht achtend, seine gewohnte Beschäftigung weiter-
führt. In solchen Fällen kommt es häufig zu jähem Temperaturanstieg und
zu Fieberhöhen, welche sonst selten oder gar nicht in jenem Stadium erreicht
werden. Das reine Bild der Fiebercurve kann endlich noch getrübt werden
durch hinzutretende Complicationen. Alle diese Momente sind bei Betrachtung
einer Fiebercurve ins Auge zu fassen*).
■X-
Betrachten wir mm die einzelnen Erkrankungen, bei denen Fieber als we-
sentliches oder accidentelles Symptom eine Rolle spielt, etwas näher. Auf Voll-
ständigkeit wolle hier nicht reflectirt werden !
An die Spitze der Darstellung sei der Abdominaltyphus gestellt. Ist er doch
jene Krankheit, deren Fieberverlauf an Tausenden von Fällen genau studirt, ein im
Ganzen recht typischer genannt werden kann, und bei welcher die Beobachtung des
Temperaturganges unleugbar von grosser diagnostischer und prognostischer Be-
deutung ist. Es gibt ja unzweifelhafte, durch die Obduction erhärtete Fälle von Typhus,
in welchen während des ganzen Ablaufes eine Erhöhung der Körperwärme vermisst
wird; dieselben können aber die Regel nur bestätigen, dass es eine typische Typhus-
curve gibt. Einem nur selten zu beobachtenden Prodromalstadium, in welchem ab und
zu leichte Temperatursteigerungen sich zeigen, folgt ein pyrogenetisches Stadium von
durchschnittlich 4 — 5 Tagen. Die Temperatur steigt in demselben staffeiförmig in
die Höhe, in der Weise, dass sie am Abend um 1 — 1 72° mehr zeigt als am Morgen,
bei einer folgenden Morgenremission von bis 2/4°. Es kommt zu keinem stärkeren
Schüttelfrost, wohl aber zu selbst wiederholten kleineren Frösten. Hat so die Tem-
peratur eine Höhe von etwa 40'^ erreicht, so beginnt die Periode des Fastigium,
in welchem ein continuirliches, oder in leichten Fällen massig remittirendes Fieber
besteht. Die Maximalhöhe des Fastigium ist selten unter 39.6", gewöhnlich zwischen
40 und 41" C. Die Dauer des Fastigium ist eine verschiedene; in leichten und mittel-
schweren Fällen währt es etwa bis zum 12. Krankheitstag; in schweren verlängert
*) Über die Therapie des Fiebers vergl. Artikel ;,^»fi'>^re5e" (Ernst Jendrassik),
ds. Bd. p. 81.
680 FIEBER.
es sicli bis zur Mitte der 3. Krankheitswoche. In den ersteren Fällen erfolgt
nun, meist ohne vorige Perturbatio critica. der Eintritt der Defervescenz. Es zeigen
sich tiefere Morgeni'emissionen, "wäbreud zunächst am Abend noch die früheren
Temperaturhöhen erreicht werden; bald aber nimmt auch die Exacerbation an Höhe
und Breite ab und so kann am Schlüsse der 3. "Woche die Curve auf das Xormal-
niveau gesunken sein. In schweren Fällen verzögert sich das Eintreten der Abheilung;
dem Fastigium folgt ein sogenanntes amphiboles Stadium. Dieses ist bezeichnet durch
ein um-egelmässig remittirendes Fieber mit auffallend grossen Schwankungen bis zu
CoUapstiefen. Diese Periode kann bis zum Schlüsse der 4. Woche und darüber
hinaus sich verlängern. Die Fieberdauer beträgt in mittleren Fällen etwa 22 Tage.
"Wenn man an den sogenannten ..Wochen des Tvphus" festhält, ist es am besten, eine
solche Periode 5 — 10 Tage lang anzusetzen. Leichtere Typhen, insbesonders bei
jugendlichen Individuen und bei Frauen, verlaufen mit stark remittirendem. ja zu
Anfang und zu Ende mit intermittirendem Fieber. Als Typhus levis werden jene Txrank-
heitsbilder bezeichnet bei denen niemals oder nur ganz vorübergehend die Höhe
von 40° erreicht wird und auch sonst ein milder Krankheitsverlauf besteht. Die
CuiTe kann im übrigen eine ganz reguläre Typhuscurve darstellen. Manchmal be-
gegnet man einem sogenannten Typhus abortivus; die Krankheitsdauer solcher Fälle
ist abnorm kurz, der ganze Yerlauf wie zusammengedrängt. Auf ein 2 — 3 tägiges
pyrogenetisches Stadium folgt ein äusserst kurzes, manchmal selbst gar kein Fasti-
gium. Das Fieber währt oft nur 7 — 12 Tage. Dabei kann die Fieberhöhe selbst
über 41° steigen. Die Eeconvalescenz zeichnet sich durch grosse Labilität in der
Eigenwärme der Kranken aus; besonders Diätfehler machen sofort eine Temperatur-
steigerung. In den verschiedenen Epidemien verschieden häufig ereignet es sich, dass
in der Eeconvalescenz der Fieberprocess von neuem aufflackert als '^värkliches Eecidiv
(wahrscheinlich auch durch neue typhöse Darmjirocesse bedingt.) Die Dauer eines
solchen ist kürzer als die der vorausgegangenen Krankheit; seine Curve ist gewöhn-
lich eine typische Typhuscurve, nur von geringerer Höhe. "V^on dem Einflüsse der
so häufigen Complicationen auf die Fieberhöhe sei nur der Blutungen und Perfo-
rationen gedacht, welche stets einen oft jähen Temperaturabfall erzeugen. Bei tödt-
lichem Ausgange ist die Gestaltung der Fiebercurve nicht regelmässig; es kommen alle
früher für die Agone beschriebenen Fälle vor. Postmortale Steigerung ist nicht häufig.
Der Typhus exanthematicus hat eine ziemlich tj'pische Fiebercurve. Der
Anstieg zum ■ Fastigium vollzieht sich in einem Tage ; meist unter Schüttelfrost erhebt
sich die Temperatur auf 40° und mehr. Fällt sie auch manchmal am nächsten
Morgen fast bis zur Norm, so steigt sie am 2. Abend neuerlich, gewöhnlich noch
höher. Diese Tendenz zur Exacerbation dauert bis zum 4. Abend fort, wo die
Temperatur meist 41° überschritten hat. Auf dem Fastigium besteht ein continuir-
liches Fieber (ohne Neigung zu Eemissionen). In günstigen Fällen schon am Anfang
der 2. Woche zeigt sich eine leichte Abendremission, worauf gewöhnlich die Curve
wieder annähernd zur früheren Höhe ansteigt. In der 2. Hälfte der 2. Woche, am
12. Tage etwa, kommt es häufig zu einer zweiten Eemission, welche unmittelbar in
die Defervescenz hinüberführen kann. Oder aber letztere erfolgt nach einer neuer-
lichen kurzen Exacerbation, einer Art von Perturbatio critica. Der Temperaturabfall
geschieht typisch nach Art einer Krise ; die Xorm wird in einem Tage erreicht ; oder
es geht noch ein Tag mit Temperaturen von 38-5 — 39° vorher. Ein lytischer Aus-
gang ist selten. Tödtliche Fälle zeigen constant gegen Ende hyperpyretische Tem-
peraturen.
Der Fieberverlauf des Typhus seu Febris recurrens ist ein recurrirender
oder relabirender, inde nomen. Meist mit Schüttelfrost erfolgt rapid ein Ansteigen
der Körperwärme; das Thermometer zeigt schon am 2. Tage meist über 40". Nun
folgt durch etwa 5 — 7 Tage eine Febris coutinua, welche nennenswerthe Eemissionen
vermissen lässt. Ohne vorhergehende Perturbatio critica geschieht der Fieberabfall,
jäh, wie bei keiner anderen Krankheit; es sinkt die Temperatur stets auf subnor-
male Werthe. Die Periode der Apyrexie, welche nunmehr sich anschliesst und eine
FIEBER. 681
Dauer von durchschnittlich 1 bis l^/g Wochen zeigt, verdient diesen Kamen nicht
vollständig, indem meistens besonders in ihrer Mitte unregelmässige Temperatur-
erhebungen sich geltend machen. Der zweite Anfall ist meist dem ersten recht
ähnlich; seine Dauer ist kürzer, die erreichte Höhe der Temperatur aber eine
grössere. Mit dieser Attaque kann die Krankheit beendet sein; es kommt aber
manchmal zu einer dritten, ja vierten, welche aber schwächer und kürzer dauernd sind.
Der Temperaturgang des ätiologisch gleichen biliösen Typhoids ist kein typischer.
Bei der Variola sind zu unterscheiden die Periode des Eruptionsfiebers und
die des Suppurationsfiebers. Ziemlich rasch, zuweilen unter Schüttelfrost, steigt die
Temperatur an; ihre Maximalhöhe, welche sie am 2. oder auch erst am 4. Tage
erreicht, ist meist über 40". Mit dem Erscheinen der Hautefflorescenzen erfolgt am
4. bis 6. Tage, selten früher die Entfieberung; selbe kann sich kritisch oder lytisch
vollziehen und 1 — 8 Tage in Anspruch nehmen. Der Abfall erfolgt bei Fällen von
Variola vera meist nicht bis zur Norm; es bleibt bei subfebrilen Temperaturen. Mit
dem 8.- — 9. Tage beginnt dann eine neue Periode, die der Suppuration; es kommt
zu Fiebersteigerung, welche meist nicht die Höhe des Eruptionsfiebers erreicht; der
Typus ist ein unregelmässiger, remittirender. Der Abfall, welcher nach einer Woche
erfolgt, ist ein langsamer, lytischer. Bei Todesfällen gehören hyperpyretische Tem-
peraturen nicht zur Regel. Die sogenannte Variolois (die milde Form der Pocken
bei Geimpften) entbehrt des Suppurationsfiebers nicht ganz. Die Variola kann
übrigens in seltenen Fällen (bei Geimpften) ohne Fieber ähnlich wie eine Acne
verlaufen.
Die Varicellen können ebenfalls fieberlos ablaufen; gewöhnlich ist ihnen ein
ziemlich rasch ansteigendes Fieber eigen, dessen Höhe selten 40" erreicht; es ist
remittirend, währt 2 — 5 Tage im Fastigium und fällt kritisch ab.
Die Vaccination geht, u. zwar unabhängig von der Anzahl der Impfstellen und vom
Grade der Entzündung derselben, regelmässig mit Fiebererscheinxmgen einher. Die ersten
3 — 6 Tage nach der Impfung sind fieberfrei; dann steigt die Temperatur treppenförmig
an, kann selbst 40" (in recto) erreichen und fällt remittirend ab. Die ganze Fieberdauer
beträgt meist 3—5 Tage, kann aber über eine Woche sich ausdehnen. Die Ee vaccination
kann selbst bei heftiger, örtlicher Entzündung ohne jedes Fieber ablaufen.
Die Morbilli beginnen mit einem rasch bis gegen 40° ansteigenden Initial-
fieber; selbes fällt fast stets schon nächsten Morgen zur Norm ab. Die folgenden
zwei Tage hält sich die Temperatur entweder normal oder auf Werthen, die unter
denen des Initialfiebers liegen. Am 4. Tage erhebt sie sich dann rasch zu einer Höhe
von gegen 41": Eruptionsfieber. Das Fastigium ist nur ein kurzes, 2 Tage währendes,
und wird von einer entschiedenen Krise beschlossen. Der weitere Krankheitsverlauf
kann völlig fieberfrei bleiben; meist aber ist er durch verschiedene Complicationen
gestört.
Die Rubeolae verlaufen häufig fieberlos; ein bestehendes Fieber erreicht meist
eine geringe Höhe und ist atypisch.
Weniger typisch als bei den Masern ist das Temperaturverhalten bei Scar-
latina. Es gibt recht viele Ausnahmen von der im folgenden beschriebenen Normal-
curve. Der Anstieg ist ein rapider, er geht continuirlich ohne eigentliche morgend-
liche Remissionen vor sich und hat verschiedene Dauer, bis 4 Tage. Von dieser
Höhe (häufig über 40"5'') geschieht die Defervescenz ausgesprochen lytisch; die Norm
wird in drei bis acht Tagen erreicht. Die so häufig die Reconvalescenz störende
Nephritis tritt oft ohne irgend welche Temperaturerhöhung auf.
Die Diphtherie verläuft mit unregelmässigem Fieber, das jede Beziehungen
zur Schwere der Infectiou und den localen Erscheinungen vermissen lässt. Höher-
gradige Laryuxstenose bewirkt Sinken der Temperatur.
Das Erysipel verläuft nur in der Mehrzahl der Fälle typisch; es gibt fieber-
lose und atypische Formen. Anstieg und endlicher Abfall der Curve sind meist
rapid, das Fieber kann früher vorhanden sein als die Dermatitis ! Das Fastigium
ist continuirlich, seltener bei schubweiser Verbreitung mit Intermissionen. Die
Fieberhöhe ist eine beträchtliche.
682 FIEBER.
Das Fieber bei Pyämie ist ausgezeiclinet durcli das Yorkommen von unregel-
mässig vertbeilten, meist mit Schüttelfrost verlaufenden rapide ansteigenden und
-wieder abfallenden Fieberanfällen; von einem Malaria- Anfalle unterscheiden sie sich
vor allem durcli etwas langsameren Anstieg, sowie dadurch, dass nach der Defer-
vescenz die Norm kaum je erreicht wird. Solche Anfälle sind bald durch apyretische
Zwischenräume, bald durch Febris continua oder remittens von einander getrennt,
bald wieder folgen sie ununterbrochen auf einander. Ueberhaupt ist der Tempe-
raturgang ein recht unregelmässiger; besonders bei längerer Krankheitsdauer schieben
sich Tage nnd Wochen fieberfreier Zeit ein. Im Grossen und Ganzen entspricht eine
Fiebersteigerung einem neu gebildeten Eiterherde im Körper. Bemerkenswerth ist
das Fehlen der Temperatursteigerung, gerade bei Fällen von allerschwerster
septischer Infection.
Bei der Cholera asiatica lässt die gewöhnliche Methode der Messung in der
Achselhöhle im Stiche; man muss die Rectum-, beziehungsweise Yaginaltemperatur
bestimmen. Es findet sich, dass im Stadium algidum die Temperatur dieser Theile
meist massig erhöht ist; aber es kann die Steigerung selbst 40" erreichen; dabei zeigt
das Thermometer in der Achselhöhle subnormale Werthe, bis 35<>.
Bei Parotitis epidemica vermissen wir ein typisches Fieber; es können die
verschiedensten Formen beobachtet werden.
Die Tonsillitiden gehen meistens mit Fieber einher; selbes erreicht Höhen
von 39" und darüber; ein besonders ausgeprägter Tj'pus ist ihm nicht eigen. Das
Fieber der gewöhnlichen Augina lacunaris pflegt kritisch am 3. — 5. Tag abzufallen.
Die verschiedenen Formen der Pneumonie, sowohl die lobäre, als die lobular-
katarrhalische, verlaufen in der Ptegel fieberhaft; nur einige terminale Pneumonien
von Greisen entbehren des Fiebers oder haben nur unmerkliche Steigerungen der
Temperatur. Was den Grundtypus der croupösen, lobären Pneumonie anlangt, so
ist derselbe der einer Febris continua mit raschem Anstieg und kritischer Beendigung.
Unter Schüttelfrost steigt die Temperatur an und hat meist am 2. oder am 3. Tage
die Maximalhöhe (gegen 40") erreicht. Das Fastigium wird (nach der alten, schon
von HippOKRATBS verfochteueu Ansicht mit Vorliebe an einem ungeraden Krankheits-
tage) zwischen dem 5., 7. und 9. Tage durch eine Krise abgeschlossen. Eigenthümlich
dem Höhestadium der Pneumonie sind häufige die F. continua unterbrechende Sprünge,
brüske Erhebungen und intercurrente Temperaturabfälle. Besonders der Krise geht
häufig am Vortage eine solche Pseudokrise voran. Diese Vorkommnisse leiten hinüber
zu den Pneumonien mit remittirendem und intermittirendem Fieber, von denen die
ersteren meist der katarrhalischen Form angehören. Die unter Schüttelfrost erfolgende
Temperaturerhebung kann auch sofort wieder ohne Fastigium in wenigen Tagen zur
Norm zurückkehren; man spricht von einer akmeartigen Ephemera. Oder aber
(Ephemera protracta) der Anstieg geschieht langsam, und ebenso das Absinken. Beide
Fiebertypen sind bei mehr umschriebenen Infiltraten, öfters katarrhalischer Natur,
zu finden.
Die acute Pleuritis verläuft mit anfangs fast continuirlichem Fieber (bis
39-5 und mehr). Dauer etwa 1^2 Wochen. Abfall ohne Krise. Das Fieber als
diiferentiell-diagnostisches Mittel zwischen Empyem und Pleuritis serosa ist durch-
aus nicht immer brauchbar. Bemerkenswerth ist noch das hohe perniciöse Fiebers
der sogenannten typhösen Form der Pleuritis, (feaentzel.)
Die Tuberculosis pulmonum geht in den meisten Fällen mit Fieber einher.
Bemerkenswerth ist das Vorausgehen des Fiebers im Krankheitsverlaufe gegenüber
den physikalischen Symptomen. Gelegentlich ein malariaähnliches Initialfieber.
Bei der chronischen Lungenphthise ist als einigermassen typisch bekannt das hektische
Stadium mit seinen hohen, steilen Exacerbationen und den Remissionen bis zur Norm-
Recht häufig findet sich auch bei der Phthise der sogenannte Typus inversus. cet. cet.
Die Miliartuberculose ist ohne eigenen Fiebertypus; zunächst muss bemerkt
werden, dass diese Kranliheit völlig fieberlos verlaufen kann (höheres Alter, Cyanose).
FIEBER. 683
Ist, wie regelmässig, Fieber da, so zeigt ein und derselbe Fall oft raschen Wechsel
zwischen mittelhoher Continua, Hectica und Collapstemperaturen. Die typhöse Form
hat nur selten eine wirklich ausgesprochene Continua; selbe wird unregelmässig durch
Remissionen unterbrochen.
Im Verlaufe der Syphilis spielt das Fieber keine grosse Rolle; seiu Vorkommen
im Beginne der secundären Periode vor Ausbruch des ersten Exanthems ist aber
sichergestellt. Angeblich in etwa 1/4 der Fälle, zwischen dem 50. und 65. Tao-e
post infectionem tritt es auf; bald hat man es nur mit einer einmaligen stärkeren
Temperaturerhebung (bis 40") oder mit mehrtägigem leichten Fieber zu thun, bald
dauert der Process remittirend oder intermittirend durch längere Zeit an (und ver-
ursacht oft nicht geringe diagnostische Schwierigkeiten).
Die Gonococceninfection führt höchstens zu Fieber geringerer Intensität
(selten viel über 38" C.)
Die Entzündungen der serösen Häute (von der Pleuritis abgesehen,) und die
Catarrhe der verschiedenen Schleimhäute, bes. des Magendarmtractes verlaufen mit
atypischem Fieber.
Der Rheumatismiis acutus hat einen recht verschiedenartigen Temperaturgang.
Zunächst gibt es fieberlose Fälle und solche mit vorübergehender leichter Fieber-
steigerung. Meist ist die Krankheit fieberhaft; der Fieberanstieg ist fast nie ein rapider,
ebensowenig der natürliche Temperaturabfall. Die Höhe des Fiebers überschreitet
meist nicht 40". Sein Gang ist ein unregelmässiger; eine Continua von halbwegs
längerer Dauer besteht jedenfalls nicht. Die sog. Cyclen Feiedländer's beruhen wohl
auf Speculation. Besondere Besprechung verdienen die meist tödtlich endenden
Fälle des sog. Cerebralrheumatismus. In einer bestimmten Zahl dieser Fälle
treten hyperpyretische Temperaturen auf, welche die höchsten, bis jetzt bekannten
Werthe erreichen können. Eine gewisse Bedeutung kommt ferner dem sog.
selbständigen Fieber beim Rheumatismus zu. Beim acuten Rheumatismus kann
Fieber längere Zeit ohne ersichtliche Erkrankung der Gelenke sowohl vorausgehen
und noch längere Zeit folgen. Auf diese Art kann der Rheumatismus eine Zeitlang
mit Typhus abdominalis verwechselt werden. Aehnliches gilt für den chronischen
Rheumatismus. Man hat hier unregelmässige, sehr langwierige Formen mittelhohen
und hohen Fiebers, welche manchmal an die Hectica erinnern und nicht immer leicht
zu deuten sind. Manches, was man im Verlaufe alter, auf rheumatischer Endocarditis
beruhender Klappenfehler als Endocarditis recens bezeichnet hat, bedeutet in Wirk-
lichkeit wohl nichts anderes als ein solches Fieber.
Der Malaria-Anfall ist der Typus eines intermittirenden Fiebers. Wie kaum
bei einer anderen Krankheit steigt die Körperwärme, nachdem sie langsam sub febrile
Werthe erreicht, in kürzester Frist unter den Zeichen von Frost meist continuirlich
auf 41" und mehr. Noch vor Erreichen des Temperaturmaximums hat die Frost-
empfindung Platz gemacht dem Hitzestadium. Auf dem Gipfel verweilt sie nur sehr
kurze Zeit. Der Abfall erfolgt unter Schweissausbruch kritisch, gewöhnlich terrassen-
förmig; die Rückkehr zur Norm beansprucht meist 10 — 12 Stunden. Die Aufeinander-
folge der Fieberanfälle, jeden Tag, jeden 3., jeden 4. Tag, die Febris quotidiana,
tertiana und quartana ist gleichfalls sehr typisch. Die früher so complicirte
Eintheilung der Malariafälle nach den subtilen Details des Fieberverlaufes ist heute,
bei der Kenntnis der speciellen Formen der Krankheitserreger, fast werthlos. Zu
beachten ist, dass besonders nach Chininbehaudlung Anfälle ohne die so charakteristischen
subjectiven Empfindungen für den Kranken eintreten können; es entpuppen sich auch
anamnestisch als einem bestimmten Typus angehörige Fieber bei sorgfältiger Messung,
auch in der angeblich fieberfreien Zeit, als anders geartet.
Bei Influenza fehlt wohl ein typischer Fieberverlauf; die wechselnden Localisationen
des Krankheitsprocesses, die vielfachen Complicationen und Nachkrankheiteu gestalten
den Temperaturgang zu einem recht mannigfaltigen.
Der Tetanus kann fieberlos ablaufen oder mit leichten Temperatursteigerungen;
anzumerken ist, dass in manchen tödtlich endigenden Fällen erhebliche prämortale
684 FIEBER.
und postmortale Temperaturen zur Beobaclitung gelangten: so gehört die höchste
von AYuxDEBLicH verzeichnete Temperatur einem Tetanuskranken zu.
In den Lyssa-AnfäUen zeigte die Temperatur sich gesteigert, aber nicht zu
hyperpyretischen Höhen.
Anthi'ax verläuft bei externer, ■«ie interner Infectionspforte mit (bisweilen
sehr hohem) Fieber, ohne dass selbes besonders ausgezeiclmet wäre; ähnliches gilt
vom ]Maliasmus.
Die Trichinose kann, auch bei reichlicher Invasion von Parasiten, fieberlos sich
abspielen. In vielen Fällen aber findet sich ein um-egehnässig remittirendes
Fieber von beträchtlicher Höhe (40° und darüber), welches einem hektischen, oder bei
weniger grossen Schwankungen einem Fieber von Typhus abdominalis ähnelt.
Die AYeil'sche Krankheit setzt sich aus einer oder mehreren Fieberperioden
zusammen; die Temperatur steigt unter Schüttelfrost rasch an; ihr Maximum erreicht
sie am 2. bis 4. Tage. Ohne Fastigium beginnt dann ein lytischer, 5 bis 6 Tage
währender Niedergang. Der ähnliche 2. Anfall erfolgt, wenn er zur Beobachtung
gelaugt, nach mehreren fieberfreien Tagen; seine Höhe ist gewöhnlich um 1 G-rad
unter der des ersten.
Die acute gelbe Leberatropliie zeigt in ihrem ersten Stadium meistens
geringe Fieberbewegungen; im 2. Stadium kann Fieber ganz fehlen; manchmal
tritt kurz vor dem Tode eine starke Steigerung auf. AUe Processe, welche zu
cholämischer Intoxication Veranlassung geben, können sich analog verhalten. Bei
sonst fieberlos ablaufenden Leberleiden verschiedener Art kommt es intercurrent zu
intermittirendem Fieber, der sogenannten fievre intermittente hepatique, welches einer
echten Malaria ähnlich sich gestalten kann.
Eine acnte Nephritis kann ohne jede Temperaturerhebung einsetzen; besonders
aber, wenn sie nicht im Gefolge einer anderen, fieberhaften Erkrankung den
Menschen befällt, sieht man häufig leichtes unregelmässiges Fieber bis 39°; seltener
unter Schüttelfrost hohes Fieber bis 40*^.
Der uraemische Anfall ist meist mit Fieber (bis 40*^J verbunden; selbes
ist von den Krämpfen unabhängig; ab und zu kommt es aber im Coma uraemicum
auch zu Collapstemperaturen oder die Eigenwärme bleibt durch dasselbe unberührt.
In fieberhaften Kranlvheiten, welche Diabetiker befallen, bleibt deren Körper-
wärme in der Piegel tiefer, als bei sonst gesunden Individuen; so können ausgedehnte
Lungenentzündungen bei eüier Temperatur von wenig über 38° verlaufen. Das
Coma diabeticum charakterisirt sich dadurch, dass in seinem Verlaufe, nachdem
vielleicht ganz vorübergehend die Temperatur gesteigert gewesen, die Achselhöhlen-
und die Piectumtemperatur progressiv, vor dem Tode selbst bis unter 85" abzusinken
pflegt. Es unterscheidet sich dadurch dieses Coma vom urämischen, bei welchem
in der Regel Temperaturerhöhung besteht. Durchgreifend ist dieser Unterschied
nicht, da, wie schon oben bemerkt, die L'rämie zuweilen eher von sinkender
Temperatur begleitet ist.
Im acuten Gichtanfall besteht meist Fieber (unter 40'^ C). Anstieg rasch
ohne Frost, zweigipflige Tagescurven, lytischer Abfall.
Bezüglich der äusseren Vergiftungen sei nur erwähnt, dass die so häufige
Kalilaugenvergiftung mit ziemlich typischem Fieber, die schwere Morphium-
intoxication mit meist hohem Fieber einhergeht. Die Gifte der Alcoholgruppe
führen zu gesteigerten Wärmeverlusten.
Die Meningitis bietet das verschiedenste Temperaturverhalten dar. Die
eitrige Meningitis ist gemeiniglich von rasch ansteigendem und dann hohem conti-
nuirlichen Fieber begleitet. Die epidemische zeigt ab und zu dasselbe Bild; sie endet
dann gewöhnlich bald tödtlich unter hyperpyretischen Steigerungen, welche auch noch
postmortal weitergehen. Andere Fälle verlaufen protrahirt und zeigen die Curve
wie eia Abdominalis im amphibolen Stadiiim. Die tuberculöse Basilarmeningitis
kann ganz ohne Fieber einhergeheu; meist besteht ein unregelmässiges Fieber. Das
Auftreten eines acuten Hydrocephalus drückt gewöhnlich die Curve stark, selbst bis
FIEBER. 685
zur Xorm herab. Agonal kommt es auch hier mitunter zu hyperpyretischen
Temperaturgraden.
Bei apoplectischen Insulten, seien sie diu-ch Blutung oder durch Erweichung
bedingt, tritt regelmässig nach dem Anfalle ein mehi'ere Stunden währender Abfall
der Körperwärme unter die Norm auf; am nächsten Tage erhebt sich die Temperatur
häufig auf 38° und bleibt verschieden lange Zeit auf dieser Höhe. Eine tödtliche
Wendung verräth sich oft durch rasches Ansteigen auf 40 — 41°. Solche Grade
können bei Herden in den Pons oder die Medulla auch schon von vornherein
erreicht werden. Es bietet die Temperaturmessung unmittelbar nach dem Insult
einen diagnostischen Behelf zur Unterscheidung von den apoplectiformen Anfällen der
Tabo-Paralyse und der multiplen Sklerose, welche ab initio von Temperatur Steigerung
begleitet sind.
Hirngescliwülste üben in den weitaus meisten Fällen keinen Eiufluss auf
die Körperwärme aus: die Angaben von Loeb, dass Geschwülste der Hypophysis-
gegend solches bewirken, bedarf der Bestätigung.
Xach Yerletznngen des Halsmarkes ist in einigen Fällen das Vorkommen
von hyiDerpp'etischen Wärmegraden, andererseits von Collapstemperaturen notirt.
Die Polyneuidtis tritt häufig mit erhöhter Körpertemperatur auf: das Fieber
ist in solchen Fällen kein typisches; seine Höhe kann manchmal eine beträchtliche
werden.
Bei Morbus Basedowii kann Fieber das Krankheitsbild begleiten; es tritt
sowohl vorübergehend auf, als auch durch längere Zeit und kann selbst an Typhus
gemahnen.
Bei epileptischen Anfällen steigt die Temperatur bisweilen bis .38-5*^ C.
Schon eine Yiertelstunde nach Ende der Convulsionen erfolgt der Abfall zur Xorm.
Im Status epileiDticus bleibt die Temperatur oft dauernd auf 40 — 41*' C.
Das hysterische Fieber tritt entweder als blosser Paroxysmus oder aber
continuMich auf. Die Temperatui'en sind meist massig, können aber auch hohe Werthe
erreichen. Die Dauer kann Tage bis viele Wochen betragen; manchmal bestehen dabei
Symptomenbilder, welche an Meningitis oder Peritonitis gemahnen. Manche Hysterische
mit weiten Hautgefässen und Tachykardie haben erhöhtes Hitzegefühl und glauben
zu fiebern, obwohl die Achselhöhleutemperatur die Xorm nicht überschreitet. Be-
merkenswerth ist die niedrige Temperatur vieler Geisteskranken.
Dass die Chlorose gemeinhin fieberlos verläuft, ist bekannt; in manchen
Fällen ergaben sich aber Temperatui'steigerungen, selbst bis 39", continuirlich
während mit geringen Morgenremissionen, so dass das Bild der Curve an Typhus
erinnerte.
Sichergestellt ist das Vorkommen von Fieber auch beider i)rogressiven perni-
ciösen Anämie. Es werden beschrieben relabirende Formen, nicht unähnlich einer Febris
recuiTeus. Gegen das Lebensende pflegt das Fieber continuirlicher zu werden; vor
dem Tode tritt gewöhnlich tiefer Abfall der Wärme auf, und erfolgt derselbe bei
35° und weniger.
Die Leukämie ist in ihren chronischen Formen gewöhnlich ohne Fieber;
nicht so selten aber wii'd bei den Leidvämischen ein oft Wochen dauerndes, mit
Exacerbationen und Remissionen verlaufendes, atypisches Fieber beobachtet, welches
in Complicationen keine Erklärung findet. Irgend w^elche sicher stehende Be-
ziehungen zu Aenderungen des Blutbefundes oder der lymphadenoiden Xeubildungeu
zu diesem Fieber gibt es nicht. Die Leukämiker fiebern auch sonst leicht. Merk-
würdig ist das Verhalten gewisser febriler Infecte (miliare und subacute Tuberculose,
Sepsis, Influenza) zum leukämischen Blutbilde: die charakteristische polymorphe
Leukocytose schwindet theilweise. Einmal wurde recurrirender Typus beobachtet.
Im Krankheitsbilde der sogenannten acuten Leukämie spielt das Fieber eine
wesentliche EoUe. Es leitet den Process ein oder erscheint alsbald im Verlaufe,
ist pleotypisch, kann sehr intensiv werden (Temperaturen bis über 40*^), aber auch
relativ geringfügig bleiben.
686 FOLIE EAISONNANTE.
Bei Pseiidoleukämie, welche häufig ohne jedes Fieber abläuft, kommt es
ab und zu zu continuiiiichem oder zu mehr oder weniger regelmässig intermittirendem
Fieber. Etwas häufiger findet sich dieses Fieber in jener Phase der Krankheit,
in welcher sich die Lymphome über einen grösseren Abschnitt des Körpers ausbreiten,
und im Terminalstadium des Leidens. Besonders berühmt geworden ist ein der
Febris recurrens ähnlicher Temperaturgang, wie er in manchen Fällen neben sonstigen
eigenartigen Symptomen typisch sich findet. Meist allmälicher staffeiförmiger
Temperaturanstieg bis zu beträchtlicher Höhe, dann eine Febris continua und
neuerlich staff eiförmiger Abfall. Die ganze Fieberperiode umfasst 10 — 14 Tage;
die zwischenliegenden Apyrexien sind von etwa gleicher Länge. Die sogenannte Pseu-
doleukämia tubercuiosa, ein ganz charakteristisches Kraukheitsbild, in welchem
sich chronisch ganz ähnlich wie bei der HoDGKiN'schen Krankheit multiple bacilläre
Lymphome entwickeln, die nie vereitern, während die Lungen relativ frei bleiben,
verläuft immer mit hohem, zusammenhängenden, atypischen Fieber, welches sich
höchstens andeutungsweise, aber nie typisch als relabirendes darstellt.
Bei den verschiedensten Tumoren, Carcinomen, wie Sarkomen, zeigt sich in
einigen Fällen ein dem eben beschriebenen ähnlicher Fieberverlauf; doch ist solchen
Geschwülsten auch ab und zu intermittirendes Fieber eigen. Es handelt sich dabei
durchaus nicht allein um solche Tumoren, welche nekrotisiren oder vereitern.
Celluläre Degenerationsprocesse im Geschwulstgewebe sind natürlich nicht aus-
geschlossen. Der Sitz der Geschwulst ist dabei durchaus nicht maassgebend, wie
manchmal angenommen wurde: Ein makroskopisch ganz unverändertes Lympho-
sarcoma colli macht gelegentlich ebenso gut Fieber, wie abdominale Tumoren. Nicht
auschlaggebend scheint auch, ob die Geschwulst einfach oder multipel ist. Besonderes
Interesse verdienen jene sonst occulten Carcinome (des Magens), welche sich klinisch
bloss durch intermittirende Fröste manifestiren.
Leichtensteen beschreibt eine Febris methämatemetica; er hat nach Magen-
blutungen bei Ulcus rotundum regelmässig einen oder erst 2, 3 Tage darnach
Fieber beobachtet; dasselbe war verschieden hoch, bald ganz atypisch, bald unregel-
mässig remittirend oder intermittirend, bald auch continuirlich und dauerte 2 — 6
Tage an.
Beim Skorbut ist ein durchaus atypisches Fieber in vielen Fällen vorhanden.
Fieber wird in schwereren Fällen von Morbus maculosus schwerlich vermisst;
es hat bald Typhus-, bald Intermittens- oder Recurrens-Charakter. Aehnlich wie
ein Intermittensanfall gestaltet sich ein Paroxysmus von Hämoglobinurie.
FEIEDEICH K.EAUS.
Folie raiSOnnante {Mama sine deUrio), ein krankhafter psychischer
Symptomencomplex, stellt sich dar als massige Aufregung mit relativ klarem
Bewusstsein, ohne Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen, w^elche sich nicht
durch verkehrtes Reden, sondern in erster Linie durch verkehrtes Handeln
bekundet, das durch nachträgliches Raisonnement gerechtfertigt wird.
Das Erscheinungsbild tritt seltener als selbständige Unterform der
einfachen Manie, namentlich bei erblich Belasteten auf, viel häufiger als An-
falls-Phase bei periodischer und circulärer Störung, als Eingangs- und End-
stadium der schweren Manie, im Initialstadium der progressiven Paralyse und
im Verlauf hysterischer Psychosen. Es kann auch bei der Moral Insanity
zeitweise hervortreten, darf aber mit dieser keineswegs identificirt w^erden.
Die Symptome der Folie raisonnante pflegen sich, je nach dem Grund-
zustande, dem dieselben angehören, entweder mehr oder weniger acut oder chro-
nisch zu entwickeln.
Bei acutem Beginn beobachten wir zuerst Störungen des Schlafes und
der Verdauung, sowie Kopfcongestionen, oder ein ausgesprochenes depressives
Initialstadium mit ängstlicher Unruhe und Reizbarkeit.
FOLIE RAISONNANTE. 687
Bei der von Anfang an chronischen Form vollzieht sich die Umwand-
lung aus dem gesunden geistigen Leben zumeist so langsam und allmälig,
dass die betroffenen Individuen oft Jahrelang in der Gesellschaft leben, ohne
als krank zu gelten. Sie fallen nur durch ihre Lebhaftigkeit und Eeizbarkeit,
vielleicht auch durch mancherlei sonderbare Handlungen auf, bis vielleicht ein
aussergewöhnliches Ereignis die Symptome plötzlich steigert und damit die
bisher latente Störung enthüllt.
Der an ausgebildeter Folie raisonnante Leidende bekundet eine grosse
Lebhaftigkeit in seinem ganzen Wesen, er geht früher ungewohnten Lebens-
genüssen nach, besucht namentlich alle möglichen geselligen Kreise. Ueberall
fällt er durch seine grosse Redseligkeit auf, die von belebter Mimik begleitet
ist. Er mischt sich in fremde Unterhaltungen ein und weiss Alles am besten,
wobei ihm mancherlei früher schlummernde Vorstellungen zur Verfügung
stehen. Von mächtigem Selbstgefühl getragen, zeigt er grosse Disputirsucht
und Rechthaberei mit Silbenstechen und Wortspalten, aber auch schlagenden
Witz und treffende Ironie und geräth dadurch leicht in Conflicte mit der
Umgebung. Er weiss seine dreisten Behauptungen mit so vielen Scheingrün-
den zu stützen, dass es schwer fällt, diese zu widerlegen. Er kennt keine
Rücksichten und scheut sich deshalb nicht, zu beleidigen. Oft geht ein fiivoler
Zug durch seine Reden und es fehlt nicht an versteckten oder offenen Cynismen.
In seiner Selbstüberschätzung strebt er auf Kosten Anderer die eigene
Persönlichkeit in ein möglichst helles Licht zu setzen und sucht deshalb mit
einem ihm in gesunden Tagen nicht eigenen Scharfsinn die Fehler seiner
Mitmenschen auf, um sie zu geissein. In der Ueberzeugung untrüglicher
Wahrheit seiner Aussprüche duldet er keinen Widerspruch und geräth bei
solchem in grosse Aufregung. Ja seine Reizbarkeit kann einen wahren Sturm
von Heftigkeit heraufbeschwören.
Der Kranke gibt sich den verschiedensten Antrieben ohne Widerstand
hin und verübt mancherlei sonderbare und tolle Streiche. Ein innerer
Drang wird für ihn der Ausgangspunkt zum Handeln, welches dadurch einen
impulsiven Charakter erhält. Sexuelle Triebe, Eifersucht, Ehrgeiz, Habgier,
Rache können ihn gegen seinen Willen zu bedauerlichen Handlungen antrei-
ben, die er nicht zu unterdrücken vermag. So kann es zu Geschlechtsver-
gehen, zu Diebstählen, Betrügereien und Körperverletzungen kommen, die
nachträglich auf das Gewandteste mit allen denkbaren Gründen entschuldigt,
beschönigt und gerechtfertigt werden.
Vor Gericht wird dieses entschieden krankhafte Handeln leicht als
ein Ausfluss von Schlechtigkeit und Bosheit gedeutet, wenn die Gestörten
in Folge einseitiger Schärfe des Urtheils, welche als Schlauheit und Verschlagen-
heit imponirt, es verstehen, Thatsachen zu entstellen, soweit es ihrem Vortheil
entspricht und sich mit List aus ihren schlimmen Händeln zu ziehen wissen,
indem sie die gegen sie erhobenen Anklagen als böswillige Verläumdungen
Anderer darstellen.
In den Irrenanstalten sind solche Kranke sehr unliebe Gäste, denn
sie hetzen ihre Umgebung beständig auf und verläumden das Wartepersonal.
Ihre eigenen verkehrten Handlungen suchen sie stets gewandt zu rechtfertigen,
w^ährend sie an Allem, was sie ausser sich sehen und hören, die schärfste
Kritik üben.
Verlauf und Prognose des geschilderten Krankheitsbildes hängt von
dessen Grundzustande ab. Da, w^o dasselbe als selbständige Unterform der
einfachen Manie auftritt, ist dasselbe zumeist von sehr langer Dauer, nicht
selten zeitlebens vorhanden und im Falle der Genesung in hohem Grade zu
Recidiven geneigt.
Die Behandlung richtet sich nach allgemeinen psychiatrischen Grund-
sätzen und ist eine vorwiegend psychische. kirx.
FEIEDEEICH-SCHE KEAXKHEIT.
Friedreich'SChe Krankheit. Als Friedreidi'sche Krankheit, hereditäre
Ataxie, bezeiclinen ^ir eine zuerst Yon Fried reich beschriebene (von ihm
zunächst als eine besondere Form der Tabes dors. aufgefasst), bei jüngeren
Leuten Torkommende Krankheit mit x\taxie und einer Reihe anderer nervöser
Symptome.
Aetiologie. Wie schon der Xame ausdrückt, handelt es sich um eine
hereditäre, resp. familiäre Erki'ankung, die bei den Gliedern gewisser Familien
auftritt. Directe Heredität ist nicht nothwendig, wievohl Fälle beschrieben
sind; wo die Krankheit in mehreren Generationen auftrat. Gewöhnlich findet
sich bei den Eltern nur eine gewisse nervöse Disposition, während von den
Kindern meist mehrere, wenn auch nicht alle von der Friedreich" sehen
Krankheit befallen werden. Es sind jedoch Fälle (etwa .30) bekannt, wo nur ein
einzelnes Familienmitglied in typischer "Weise erkrankte. Die Friedr. Krankheit
muss zu den seltenen gerechnet werden: die Zahl der beschriebenen Fälle dürfte
nicht viel über 150 betragen, wobei noch zu beachten ist, dass die Zuge-
hörigkeit mancher Fälle zu bezweifeln steht. Das männliche Geschlecht über-
wiegt in der Zahl der Fälle. Die Zeit des Auftretens der ersten Symptome
fällt meist vor das 14. Jahi' ; die Mehrzahl der Fälle dürfte um das 6. — 8.
Lebensjahr beginnen. Selten ist das Auftreten nach dem 16. Jahr: in einzelnen,
fi^eilich nicht ganz einwandsfreien Fällen wird ein noch späteres Alter (30 Jahre)
angegeben.
Symptomatologie. Bezüglich der Symptome sei zunächst hervorgehoben,
dass für einzelne derselben die Angaben schwanken, woran gewiss vor Allem
der Umstand Schuld trägt, dass mitunter Fälle familiärer Nervenkrankheiten
unter die Friedreich'sche Krankheit gezählt werden, deren Stellung zweifelhalt
ist. Es gibt el)en sicherlich noch manche familiär auftretende Xervenkrankheit,
deren Wesen und deren nosogratische Bedeutung noch nicht genügend geklärt
sind. Erst neuerdings ist eine der Feierdeich" sehen Ataxie in vielen Punkten
ähnliche Krankheit von derselben als Heredo-ataxie cerehelleuse (M^lIiq) abge-
trennt worden, deren anatomisches Substrat eine Atroxjhie des Kleinhirns
darstellt.
Unter den Sym^^tomen kommt als dem wichtigsten und prägnantesten
der Ataxie, die erste EoUe zu. Sie ist es auch, die zeitlich zuerst in Erschei-
nung tritt u. zw. zunächst an den unteren Extremitäten. Xach verhältnismässig
kurzer Zeit werden aber auch, und dies im Gegensatz zur gewöhnlichen Fonn
der Tabes dorsalis, die oberen Extremitäten betheiligt. In der äusseren Form
und wahrscheinlich auch in ihrer pathologischen Genese unterscheidet sich die
Ataxie bei der FniEDEEiCH'schen Ki'ankheit von der bei der Tal)es dorsalis. Sie
macht sich sowohl bei einfacheren Bewegungen der Beine, als bes. beim Gehen
hemerklich. Letzteres ist nach der treffenden Bezeichnung Charcot"s tabeto-
cerelellar atactisch : denn abgesehen davon, dass die Beine unzweckmässig auf-
gesetzt werden, sich leicht überki'euzen. macht sich beim Gehen ein beträcht-
liches Schwanken, ähnlich dem bei Kleinhirnaffectionen geltend. Auch beim
Stehen zeigen sich Störungen. Schon bei gespreizten Beinen tritt Unsicherheit,
ein Hin- und Herschwanken in Folge mangelhafter xA-equililjration auf. An den
oberen Extremitäten findet sich zunächst leichte Unsicherheit, die sich immer
mehr steigert und es dem Kranken ganz unmöglich macht, compliciiiere Bewe-
gungen, wie Schreiben, Handarbeiten u. s. w. auszuführen. Bei geschlossenen
Augen erfährt die Ataxie eine leichte Zunahme.
Eigentliche Lähmungen fehlen ])is zum Schlüsse, wiewohl sich in späteren
Stadien manchmal eine gewisse Schwäche einstellt. Auch soll in manclien
Fällen ein Intentionstremor, ähnlich wie 1)ei multipler Sclerose, auftreten. Auch
leichte choreatische und athetoide Bewegungen sind besehrieben worden.
Die Pupillen zeigen entgegen dem Verhalten bei Tabes keine Störungen.
Dagegen findet sich nahezu constant Nystagmus, weniger in der Piuhe, als bei
FRIEDREICH'SCHE KRANKHEIT. 689
den Bewegungen der Augen. Augenmuskellähmungen, Atrophia nervi optici
fehlen. Ganz constant ist eine gewisse Sprachstörung, die vornehmlich in einem
langsamen, erschwerten und undeutlichen Sprechen sich zeigt. Die psychischen
Fähigkeiten erleiden in der Mehrzahl der Fälle keine Einbusse, nur bleibt
manchmal ihre Entwicklung etwas zurück. Bezüglich der Sensibilitätsverhält-
nisse schwanlven die Angaben. In der grösseren Zahl der Fälle linden sich
keine, oder ganz unbedeutende Störungen derselben. In einzelnen Fällen werden
etwas ausgeprägtere Sensibilitätsanomalien an den unteren Extremitäten be-
schrieben. Niemals aber spielen sie die hervorragende Rolle wie im klinischen
Bilde der Tabes dorsalis. Das Gleiche gilt für Störungen des Muskelsinnes;
lancinirende Schmerzen sollen zeitweilig vorkommen.
Die Patellarreflexe fehlen in vorgeschrittenen Fällen constant ; in früheren
Perioden sind dieselben oft nur abgeschwächt. Es werden jedoch auch Fälle
mit erhaltenen Patellarreflexen beschrieben ; ob diese aber wirklich zur Fried-
reich'sehen Krankheit gehören, muss vorläufig dahingestellt bleiben. Die Haut-
reflexe sind erhalten. Blasen- und Mastdarmstörungen fehlen ; auch die sexuelle
Thätigkeit erleidet meist keine Einbusse.
Vasomotorische und trophische Störungen der Haut oder Gelenke werden
nicht beobachtet. Manchmal zeigen einzelne Muskeln eine leichte Atrophie ;
auch das Auftreten einer Art Spitzfusstellung wird beschrieben, ebenso Sco-
liose. Der Verlauf der Krankheit ist ein langsamer, über viele Jahre (selbst
bis zu 30 Jahren) sich erstreckender. Zuerst tritt die Ataxie der unteren, dann
die der oberen Extremitäten auf. Sprachstörungen, Nystagmus treten oft erst
nach jahrelangem Verlaufe in Erscheinung. Der Tod erfolgt meist durch
intercurrente Krankheiten.
Pathologisch eAnatomie Die pathologische Anatomie weist hochgradige Verände-
rungen im Rückenmarke atif, ti. z. in Form der sogenannten combinirten Systemei'krankung, in-
dem nebst den Hintersträngen auch die Seitenstränge ergriffen werden. Die Hinterstrangs-
erkrankung ähnelt der bei Tabes dorsalis, ohne jedoch mit ihr identisch zu sein. Sie
erstreckt sich durch das ganze Rückenmark und betheiligt beide Stränge, sowohl den
GoLL'schen als den BuRDAcn'schen Strang, letzterenjedoch nicht in ganzer Ausdehnung, in-
dem im Halsmarke die eigentUche Wurzelzone öfters freibleibt. Die graue Substanz, resp.
das Hinterhorn ist wenig afficirt, das gleiche gilt von der LissAUEu'schen Randzone und dem
extramedullären Antheile der hinteren Wurzeln. D^jerine und Letulle gaben an, dass die
histologische Beschaffenheit der Hinterstrangsclerose bei der FmEDREiCH'schen Krankheit streng
Terschieden sei von den sonstigen Sclerosen, sie bezeichneten sie als Sclerose nevroglique,
jedoch ist der Werth dieser Unterscheidung ein zweifelhafter. Die CLARKE'schen Säulen
zeigen nicht nur wie bei der Tabes dorsalis eine Verringerung der Nervenfasern, sondern
auch der Zellen. Die Kleinhirnseitenstrangbahn zeigt eine systematische Degeneration, die
am stärksten im unteren Brustmarke ist, nach oben an Intensität abnimmt. Auch der
Pyramidenseitenstrang ist betheiligt, ebenfalls nach oben an Intensität abnehmend, jedoch
nicht in ganzer Ausdehnung, so dass es zweifelhaft ist, ob man es hier mit einer wahren
Systemerkrankung zu thun hat. Die zarten Häute des Rückenmarkes sind meist, bes. über der
hinteren Peripherie verdickt. Die peripheren Nerven scheinen frei zu bleiben. Für die cere-
bralen Störungen, den Nystagmus, die Sprachstörungen fehlen vorläufig die anatomischen
Grundlagen.
Bezüglich der Pathologie der Krankheit haben wir uns vorzustellen, dass es sich um
eine angeborene mangelhafte Entwicklung der genannten Fasersysteme handelt; dieselben
sind functionell minderwerthig und degeneriren im Verlaufe der Entwicklung. Die patho-
logische Deutung der Symptome vor Allem der Ataxie ist noch nicht genügend festgestellt.
Die Prognose der Krankheit ist eine ungünstige. Es gelingt nicht, den Process zur
Heilung zu bringen, nicht einmal ein Stillstand oder ein langsameres Fortschreiten lässt sich
erzielen. Dagegen ist die Lebensdauer meist eine lange.
Die Diagnose ist bei dem prägnanten Bilde der Krankheit in der Regel eine leichte.
Zunächst ist Tabes dorsalis auszuschliessen. Man beachte das meist familiäre Auftreten,
den frühzeitigen Beginn, das Fehlen der Pupillenphänomene, der Sensibilitäts- und Blasen-
störungen, die Verschiedenheit des atactischen Ganges, das Vorhandensein von statischen
Störungen. Andrerseits finden sich bei der FRiEDREicn'schen Krankheit Sprachstörung
und Nystagmus, die bei Tabes fehlen. Gegenüber der multiplen Sclerose kann die Diagnose
Schwierigkeiten haben, wenn nebst Sprachstörung und Nystagmus auch Intentionstremor
vorhanden ist. Jedoch auch hier wird sich eine Entscheidung treffen lassen. Die Sprach-
störung der FRiEDREicn'schen Krankheit hat einen anderen Charakter wie bei multipler
Bibl. med. Wissenscliaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. 44
690 GALLENSTEINE-GALLENSTEINKOLIK.
Sclerose; bei letzterer ist Atasie, Fehlen der Sehnenreflexe selten, es fehlen die statischen
Störungen, das familiäre Auftreten. Anderen Nervenkrankheiten gegenüber dürfte die
Differentialdiagnose kaum je Schwierigkeiten haben.
Die Therapie ist der FEiEDEEiCH'schen Krankheit gegenüber maclitlos.
Man wird sich auf rein symptomatische, intercurrente Indicationen beschrän-
ken müssen. eedlich.
Gallensteine-Gallensteinkolsk. Die Gallensteinbildung ist eine Theil-
erscheinung und sozusagen höhere Entwicklungsstufe der als Concrement-
bildung zu bezeichnenden häufigen Anomalie der Gallenwege. Der Umstand,
dass die Gallensteine, d. h. die zu mehr oder minder grösseren, compacteren
Massen verdichteten Concremente wegen ihrer, im Verhältnis zum Canal-
system der Leber, bedeutenden Grösse klinische Erscheinungen der mannig-
faltigsten Art machen, erfordert die gesonderte Besprechung der Steine, ganz
ähnlich, wie bei der Niere die praktische Unterscheidung zwischen den mehr
krümeligen Concrementen und den eigentlichen Nierensteinen gemacht werden
muss.
Die eigentliche Ursache der Gallensteinbildung dürfte (so wie auch
das „Wesen" der Gicht noch keineswegs aufgeklärt ist) noch nicht klar zu
Tage liegen, obwohl wir weiter als früher gelangt sind, wo man sich mit der
umschreibenden Phrase eines Niederschlages aus eingedickter Galle begnügte.
Zahl der Steine. Meist finden sich mehrere vor, etwa 5 — 10, häufig
werden sie „herdenweise" (Naunyn) getroifen, bis zu mehreren Tausend. In
einer einzigen Gallenblase der OTTO'schen Sammlung zu Breslau wurden
7802 Steinchen gezählt, Feerichs hat in Breslau bei einer 61-jährigen Frau
1950 pechartig glänzende beobachtet, Naunyn einmal cca. 5000 gezählt. Die
gleichzeitig gefundenen Steine pflegen in ihren wesentlichen Eigenschaften
übereinzustimmen, wie sie auch zumeist gleichaltrig zu sein scheinen
(Naunyn). Hein rechnet blos für 4"43"/o der Fälle verschiedenartige, neben
einander vorkommende Steine.
Die Grösse, ein praktisch überaus wichtiges Moment, ist sehr ver-
schieden. Man hat in 3 Hauptgruppen eintheilen wollen (Fauconneau-
Dufeesne): a) kleinere, die häufigsten und zahlreichsten, von Sandkorn-
bis Kleinerbsen-Grösse, b) mittlere, bis zur Haselnuss, noch ziemlich häufig
c) grosse, bis zu Hühnereigrösse und mehr, meist blos in 1 Exemplar, als
„Solitär" vorhanden. J. F. Meckel hat einen Stein von 5" Länge (ca. 13 cm),
4" Umfang beobachtet, J. Blackbuen einen 3%" (8'6 cm) langen, 3*8 cm dicken,
50 ^ schweren.
Form ist sehr mannigfach; die ovaläre dürfte die vorherrschende sein,
freilich mit vielerlei Variationen: cylindrisch, cylindroid, kegel-, finger-, bohnen-
förmig; die mehr rundliche Form zeigt auch wohl kubische, erbsenförmige,
linsenförmige Varietät. Für die Form des Steines ist der Hohlraum, in
welchem er sich langsam bildet, so sehr massgebend, dass gelegentlich auch
verzweigte, in den Gallengängen liegende getroffen werden.
So habe ich bei einem an Gesichtserysipel gestorbenen, seit 8 Monaten icterischen
Mann einen den Ductus choledochus auf Fingersdicke erweiternden Stein beobachtet, der
Fortsätze in den Ductus cysticus und hepaticus sandte. An den abgeplatteten Fortsatz des
letzteren schloss sich ein zweiter, kegelförmiger Stein an.
Die sogenannten facettirten Steine, wie sie namentlich auch in der
Gallenblase als „Herdensteine" vorgefunden werden, sind in den seltensten
Fällen Product gegenseitiger Abschleifung, vielmehr durch wechselseitigen
Druck entstanden, indem die noch weichen, später vielleicht hart werdenden.
Steine gegen einander sich pressen. Dies geht schon daraus hervor, dass in
der Facette die Rindenschicht sich noch deutlich, wenn auch in verdichtetem
Zustand erkennen lässt (Naunyn). Es handelt sich also um eine Druck-,
nicht eine Schliftläche, die übrigens bei Anwesenheit vieler Facetten-Steine in
GALLENSTEINE-GALLENSTEINKOLIK. 691
der Blase (meines Erachtens) auch nachweisbaren Schleifstaub liefern müsste.
Oberfläche meist glatt, aber auch gekörnt, maulbeerartig. Die Consistenz
kann, namentlich bei Zumischung von viel Farbstoff, eine geringe sein, so
dass der Stein mit dem Fingernagel geritzt werden kann. Nicht selten aber
sind die Steine, so die reineren Cholestearinsteine, ziemlich hart. Einzelne
lassen sich schneiden. Das speci fische Gewicht der Steineist im allge-
meinen ein ziemlich geringes. Im frischen Zustand sind sie jedoch sämmtlich
schwerer, als Wasser, können aber gelegentlich auf der Galle schwimmen,
wenn diese höheres specifisches Gewicht als etwa 1030 besitzt, da für einen
Cholestearinstein Heix 1027 gefunden hat; die mit Farbstoff und Kalk ge-
mischten Steine sind schwerer (1580 bis 1960).
E i n t h e i 1 u n g d e r S t e i n e : "") 1 . Die reinen Cholestearinsteine (H. Meckels
„Cholestearinsolitäre") fest, meist oval, doch auch kugelig, bis taubeneigross,
weiss oder gelblich, durchscheinend, selten von brauner oder grünlicher Farbe.
Oberfläche glatt oder warzig. Auf dem Schliff keine oder nur spurweise
Schichtung zu erkennen, auf dem Bruch deutlich radiär krystallinisches Ge-
füge. Die Steine bestehen aus fast reinem Cholestearin.
2. Geschichtete Cholestearinsteine, meist fest, weiss, grau, grün bis schwarz-
braun. In Form und Grösse den vorigen ähnlich. Schichten von 0-1 bis zu
einigen Millimetern. Die Krystallisation wird umso deutlicher, je näher man
dem Centrum kommt, so dass ein drüsenartiger Kern resultiren kann. Diese
Steine enthalten im wesentlichen Cholestearin, 90°/o und mehr, in den braunen
Schichten Bilirubinkalk, in den grünen Biliverdinkalk und Calciumkarbonat.
2. Gemeine Gallenblasensteine von verschiedener Grösse und Farbe, meist
facettirt. Sie stellen das grösste Contingent zu den Gallensteinen. Farbe der
Oberfläche: gelb, braun oder weiss, selten grün. Grösse bis zu der einer
Kirsche, aber auch oft weniger, bis unter Stecknadelkopfgrösse. Die frischen
Steine weich und zerdrückbar, der Kern oft weich, nicht selten einen Hohl-
raum enthaltend, die Schale (der Körper C. A. Ewald's) hart, meist deutlich
geschichtet.
4. Gemischte Bilirubinkalksteine. Kirschgrösse, vereinzelt oder 2 — 3 an
der Zahl, in Gallenblase oder den grossen Gallengängen. Concentrische, ver-
hältnismässig dicke Schichten von rothbrauner Farbe, beim Trocknen schrumpfend,
manchmal mit hellerem, abgegrenztem Cholestearinkern. Auch in den äusseren
Schichten cca. V4 Cholestearin, daneben Bilirubinkalk, sowie (an Bilirubin ge-
bundenes?) Kupfer und spurweise Eisen.
5. Beine BilirubinkaUcsteinchen, selten über Erbsengrösse, schwarzbraun und
weich, oder stahlgrau bis schwarz, selbst metallisch glänzend, härter und
spröder. Hauptbestandtheil: Bilirubinkalk, Biliverdinkalk, Bilifuscin, Bili-
humin, letzteres oft vorschlagend. Freies Bilirubin und Biliverdin, sowie Chole-
stearin und gallensaure Salze nur in Spuren.
6. Seltenere Arten:
a) amorphe imd unvollkommen krystallinische CJiolestearinsteinclien.
h) Kalksteine, aus kohlensaurem Kalk bestehend.
c) Abgüsse von Oallengängen, beim Menschen sehr selten, viel häufiger beim Rindvieh
und schon von Glisson gekannt. Röhrenförmige, Strohhalmen vergleichbare, Ausgüsse
kommen bis in die feineren Ramificationen der Gallenwege vor.
d) Concremente mit Einschlüssen. Ein Stein kann eine Rinde von Bilirubinkalk mit
einem Kern aus reinem Cholestearin, umgekehrt ein Cholestearinstein einen, von einem
schwarzen Bilirubinkalksteinchen gebildeten Kern enthalten, oder es können 2 oder mehr
Steinchen von einer gemeinschaftlichen Rinde zu einem „Conglomeratstein" zusammen-
gebacken sein. Eigentliche Fremdkörper sind selten als Kern, so sind Nadel, Pflaumen-
kern, ein Stück eines Distomum hepaticum, ein Spulwurm (LoBSTEI^') beobachtet. Bei
einem 69-jährigen Taglöhner habe ich einen fest im Hauptgallengang des rechten Lappens
steckenden, wohl erhaltenen (todten) Spulwurm gesehen, daneben einen haselnussgrossen
*) Ich folge hierin dem neuesten Autor auf diesem Gebiete, Naunyn:
Klinik der Cholelithiasis 1892.
U*
692 GALLENSTEINE-GALLENSTEINKOLIK.
(ge-wöhnlichen) Gallenstein an der Vereinignngsstelle des Ductus hepaticns und cysticns
zum choledoclius und weiters einen ebenso grossen im linken Hauptgallengang.
Bildung der Gallensteine. Betreffs der beiden hauptsächlichsten
Steinbildner, Cholestearin und Bilirubinkalk, stellt Naunyn den auf Thier-
experimente gegründeten Satz auf, dass „der Gehalt der Galle an
Steinbildnern vom allgemeinen Stoffwechsel und von der Nahrung
unabhängig sei"; beide Stoffe lässt er von der Schleimhaut der Gallenwege
abstammen. Kalkzufuhr der Nahrung vermehrt den Gehalt der Galle an Kalk
nicht. Das Cholestearin wird in der Galle hauptsächlich durch gallensaure
Alkalien und durch Seifen und Fette in Lösung erhalten. Glykocholsaures
oder taurocholsaures Natron löst in V4 — 2V2%-igen Lösungen Cholestearin etwa
im Betrag vom zehnten Theil der eigenen Menge. Olein löst 57o Cholestearin.
Blosse Eindickung, bei Vermeidung von Fäulnis, bewirkt kein Ausscheiden von
Bilirubinkalk, doch scheinen eiweissartige Substanzen der zerfallenden Schleim-
hautepithelien dasselbe zu begünstigen.
Die Gallenblasensteine in ihrer ersten Anlage entstehen«) aus glasigen,
structurlosen, stark lichtbrechenden Klümpchen, aus „Myelintropfen," die aus
den Epithelien hervorquellen und nichts anderes als Cholestearin darstellen,
nicht selten im Innern mit etwas Bilirubinkalk, h) aus sedimentartigen, krü-
meligen Massen, einer Art „Urbrei" von wechselnder Zusammensetzung,
jedoch Fett, Cholestearin, Bilirubinkalk, gallensaure Alkalien, eiweissartige
Substanzen, Schleim enthaltend. Diese klumpigen Massen umgeben sich mit
einer zunächst noch sehr dünnen Schicht von Bilirubinkalk, worauf dann im
Innern das Cholestearin auskrystallisirt und der Bilirubinkalk zu derberen
Massen zusammensintert; die flüssigen Bestandtheile sammeln sich im Centrum
an und veranlassen die in jüngeren Concrementen häufige centrale Höhlung.
Bei den (reinen) Bilirubinkalksteinchen, die noch am ehesten den Eindruck
einfacher Eindickung der Galle machen könnten, betont Nauntn das Vor-
kommen der höheren Oxydationsstufen des Gallenfarbstoffes und der Bilihumine,
welch' letztere wohl an Ort und Stelle aus dem Farbstoff sich bilden dürften.
Das weitere Wachst hum der Steine geschieht in der Hauptsache
durch Anlagerung neuer concentrischer Schichten. Cholestearinsteine können
ohne Zufluss von Galle, lediglich von der umschliessenden Schleimhaut, resp.
deren Epithelien her wachsen. Aus periodischem Zufluss von Galle erklärt
sich die Abwechslung von Schichten reinen Cholestearins und braunen Bili-
rubinkalks.
Andererseits kann in dem consolidirten Stein Krystallisation des Chole-
stearins eintreten, vom Centrum nach der Peripherie fortschreitend, und zwar
sowohl in Form des „Umkrystallisirens" schon vorhandenen Cholestearins, als
einer nachträglichen „ Infiltration '^ von Cholestearin, wozu „Infiltrationscanäle"
der Rinde mitwirken können. Es können so allmälig unter Verdrängung
(und Auflösung) von Bilirubinkalk aus gemischten Steinen reine Cholestearin-
steine entstehen, wie dies schon H. Meckel (v. Hemsbach) in seiner Mikro-
geologie, „Ueber die Concremente im thierischen Organismus," herausgegeben
von Th. BiLLEOTH 1856, skizzii't hat.
Vorkommen. Jeder 14. erwachsene Mensch in Mitteleuropa leidet an
Gallensteinen (Bollinger). In den Tropen scheinen sie viel seltener zu sein.
Macht man drei Altersstufen von 15—30, 31—60, 61 und mehr Jahren, so
ist das Verhältnis 1:2:6.
Nach Sectionsstatistik sind gefunden für Kiel 57o (Heinr. Peters),
Dresden 7% (A. Fiedler), Basel 9 und 10'97o (M. Roth), Wien mindestens
100/0 (Jos. Frank), Strassburg 120/o, 4-4o/o Männer, 20-60/o Weiber (Heinr.
Schröder), Chrastina (Wien) fand in der Gallenblase jeder 5. (älteren) Leiche
Concretionen. Bollinger gibt das Verhältnis männlich : weiblich = 2 : 5 an.
Bei Neugeborenen ist Gallenstein so selten, dass z. B. Birch-Hieschfeld bei
GALLENSTEINE-GALLENSTEINKOLIK. 693
500 Sectionen solcher keinen einzigen antraf, auch nicht bei 100 Kindern der
verschiedensten Altersstufen.
Aetiologie. Da erwiesenermassen bei Frauen, zumal solchen, die geboren
haben, Cholelithiasis wesentlich häufiger ist, als bei Männern, so hat man na-
mentlich auch in mechanischen Insulten, denen die Leber der Frauen durch
Schnüren, Schwangerschaft u. s. w. ausgesetzt ist und welche den Gallenabfluss
(aus der Blase) hemmen, begünstigende Momente gesucht. Für die älteren
Jahresclassen hat ,Charcot durch Nachweis häufiger Atrophie der glatten
Muskelfasern der Gallenwege trägere Gallenentleerung erklärlich gemacht.
Sitzende Lebensweise, seltenes Einnehmen der Mahlzeit ist weiterhin verant-
wortlich gemacht worden.
Wenn somit Störungen des Gallenabflusses, Gallenstauung, die Stein-
bildung begünstigt, andererseits aber auch (s. o.) blosse Eindickung der Galle
dieselbe nicht veranlasst, so ist für die erwähnte Erkrankung der Epithelien
eine nächste Ursache zu suchen. In verschiedenen Fällen hat Nauxyx das
(in wechselnder Gestalt auftretende) Bacterium coli commune constatirt und
gezüchtet, dasselbe vermag sicherlich Cholangitis und Cholecystitis zu machen. In
einem Fall, wie dem oben erwähnten, wo ein mit allerhand Darminhalt be-
netzter Spulwurm in die Gallenwege eingedrungen ist, ist eine secundäre
entzündliche Keizung leicht verständlich. Wie weit aber Stockung der Galle
in den Gallenwegen an sich schon zur Epithelreizung und Steinbildung führen
kann, muss dahingestellt bleiben, da die normale Menschengalle sich als steril
erwiesen hat.
Im übrigen gelten Circulationsstörungen, Lungentuberculose, ferner be-
wegliche Leber und (rechte) Mere, auch wohl allerlei Hautausschläge, Ekzem etc.,
als prädisponirende Momente. Jedoch ist weder die Erblichkeit, noch auch das
von Beneke behauptete gleichzeitige Vorkommen von Arterienatherom und
Cholelithiasis gehörig erwiesen; auch J. Kraus steht mit seiner Angabe der
häufigen Coincidenz von Gallenstein und Nierenstein (42 Fälle) ziemlich ver-
einzelt da.
Krankheitsbild. Ruhig in der Gallenblase, dem Lieblingssitz, lie-
gende Steine machen keine nennenswerthen Symptome, umso auffallendere
aber treten zu Tage, wenn die Concremente auf dem langen Wege von der
Blase durch den Ductus cysticus und choledochus (oder auch, was der viel
seltenere Fall ist, von einem Gallengang aus), zum Darm geschoben
werden. Oft geschieht dies mit dem typischen Bild der GaUensteinkolik,
Colica hepatica, die durch gewisse Gelegenheitsursachen (Diätfehler, Körper-
anstrengung und -Erschütterung, Menstruation, Gemüthsbewegungen) ausgelöst
werden kann. Im ausgebildeten Anfall setzt rasch heftigster, torquirender,
den Kranken auch wohl zum lauten Schreien und Sich- Wälzen veranlassender
Schmerz ein im Epigastrium, rechten Hypochondrium (seltener linken), aus-
strahlend gegen die Mitte der Wirbelsäule und gegen rechtes Schulterblatt
und rechten Arm, viel seltener nach unten. Frösteln und eigentlicher Frost,
Angst mit Schweissausbruch, Ueblichkeit und Erbrechen begleiten ihn. Dabei
ist gewöhnlich Temperatursteigerung (vielleicht vergleichbar dem Fieber bei
Katheterismus der Harnröhre) vorhanden, bis zu 40" und mehr, doch meist
weniger, zwischen 39 — 40". Nach Peter ist auch eine locale Temperatur-
erhöhung im rechten Hypochondrium zu constatiren (oft selbst melu- als die
Achselhöhlentemperatur j. Der Puls ist häufig verlangsamt, was zum Theil
auch auf Ptechnung des heftigen Schmerzes kommt. Cyanose, Collaps und
besonders bei alten Leuten bedrohliche Herzschwäche, ja vereinzelt eigentlicher
Shoc, sind nicht so sehr selten.
Die Leber ist bei den typischen Fällen als vergrössert nachzuweisen,
manchmal auch die vergrösserte, druckempfindliche Gallenblase rechts vom
Muse, rectus zu palpiren, in welcher unter Umständen ein von den Steinen
694 GALLENSTEINE-GALLENSTEINKOLIK.
herrührendes klapperndes Geräusch hörbar sein soll. Peritoneales Reiben
über derselben ist nicht selten.
Milz ist zuweilen geschwellt, zumal in schwereren, fast schon als com-
plicirt anzusehenden Fällen. Geringer Eiweissgehalt des Urins ist häufig, auch
Zuckerharn wird beobachtet. Der Stuhl pflegt angehalten zu sein. Herpes
labialis, dessen Entwicklung während des Anfalls ich einmal beobachtet habe,
finde ich bei den Autoren sonst nicht erwähnt. Gelegentlich ist Hemeralopie
beobachtet. Bei sehr nervösen Individuen kommen Convulsionen und Delirien,
auch Lähmungen vor, selbst tödtliche Apoplexie.
Der eigentliche Anfall dauert meist blos einige Stunden und kann mit
„unbeschreiblicher Euj)horie" (Füebeinger) enden, oft aber zieht er sich länger
hin, mit Remissionen selbst über Tage.
Der Icterus ist sozusagen mehr Folge, als Begleiterscheinung des
Kolikanfalls, hervorgerufen durch die, wenn auch nur vorübergehende, Ver-
schliessung der Gallenwege ; über seine Häufigkeit ist es schwer, allgemein
giltige Angaben zu machen. Bei halbwegs grösseren (etwa haselnussgrossen,
cca. 3 g schweren) Steinen dürfte er kaum fehlen. Er braucht immerhin gegen
24 Stunden, um deutlich zu werden, wo er intensiver wird, auch an der Haut,
nicht blos den Sclerae, bemerkbar, mit Jucken, deutlicher Braun-Gelbfärbung
des Harns, Entfärbung der Stühle etc. deutet er auf grösseren und jedenfalls
fester sitzenden Stein hin. Auch nach Freiwerden der Passage ist er noch
einige Tage bemerkbar, während zunächst das Hautjucken und die Verfärbung
des Harns und der Fäces abnehmen.
Die vollständige Convalescenz ist von der Dauer, Schmerzhaftigkeit des
Anfalles, den begleitenden gastrischen Störungen abhängig, vollzieht sich aber
oft sehr rasch. Es kann bei einem Anfall bleiben, aber es kann ihre Zahl auch
in die Dutzende gehen, so dass eine Art chronischer Cholelithiasis mit inter-
mittirenden Anfällen sich herstellt.
Die den einzelnen Anfällen entsprechenden wandernden Steine brauchen
durchaus nicht immer neu gebildet zu sein (s. o.); im Gegentheil stammen
die in Mehrzahl in der Leiche vorzufindenden Steine viel öfters, als man an-
nehmen möchte, aus ungefähr derselben Zeit (Naunyn).
Neben dieser „regulären Cholelithiasis" kommen irreguläre oder besser
gesagt prognostisch wesentlich ungünstigere Fälle vor: entweder dauernde In-
carceration des Steines auf seiner Wanderung zum Darm oder Bildung grösserer
mehr oder weniger unbeweglicher Steine an geeigneter Stelle, die zu einem,
unter Umständen schmerz- und kolikfreien, chronischen Gallenstein-
Icterus führen, welcher als solcher durch „Cholämie" und Erschöpfung langsam
zum Tode führen kann; ferner infectiöse Erkrankungen, Cholangitis, infectiöse
Cholecystitis mit Empyem der Gallenblase (Hydrops vesicae felleae), Leber-
abscess, selbst Pylephlebitis, sodann die in ihrer Mannigfaltigkeit fast uner-
schöpflichen ulcerösen Processe in den Gallenwegen und daran sich anschlies-
sende (Blutungen und) Fistelbildungen, welche, falls nicht peritonitische Zu-
stände oder selbst Ruptur der Gallenwege zum Tod führen, allerhand „Spontan-
Heilungen" bewirken können. Speciell Choledochus - Duodenalfistel mit Aus-
stossung des Steines in den Darm unter Umgehung der Portio duodenalis des
Ganges soll häufiger sein, als gewöhnlich angegeben wird (M. Roth). Oder
es bildet sich auch blos die den Gallenabfluss ermöglichende (eben erwähnte)
kleinere Fistel, während der Stein selbst liegen bleibt. Uebrigens kommen
Fisteln von Seiten fast aller Theile des Gallengangsystems, ausgenommen Ductus
hepaticus, und aller Theile des Verdauungstractus, einschliesslich Magen, vor.
Doch treten einerseits Choledochus und Gallenblase, andererseits Duodenum
und Colon besonders hervor. Ausstossung des Steines durch die Bauchwand ist
gelegentlich beobachtet, sowie Durchbruch desselben in die Bauchhöhle. Alle
diese Fisteln scheinen eine geringe Neigung zur spontanen Vernarbung zu
GALLENSTEINE-GALLENSTEINKOLIK. 695
haben. — Dass auf irgend eine Art in den Darm gelangte Gallensteine durch
Einklemmung, Darmverschluss, Gallenstein-Ileus (auch Pylorusstenose) und
consecutiven Tod verursachen können, ist nicht allzuselten"^ beobachtet.
Die gelegentliche Combination der Cholelithiasis mit Krebs oder Leber-
cirrhose, sowie die angebliche mit Diabetes oder perniciöser Amämie soll nicht
unerwähnt bleiben, obwohl ein näherer Zusammenhang nicht immer deutlich
zu erweisen ist.
Diagnose. Die Diagnose des regulären Anfalls (s. o.) wird selten
Schwierigkeiten machen, oft genug ist es nicht der erste und schon dadurch
gekennzeichnet. Sitz und Heftigkeit des Schmerzes, Beschaffenheit und Frequenz
des Pulses, Würgen und Erbrechen, Frost und Temperatursteigerung, Schwellung
der an der vergrösserten Gallenblase druckempfindlichen Leber, der allmälig
auftretende Icterus geben Anhaltspunkte. Durch Nachweis der Steine im Stuhl
wird Gewissheit erbracht, nur muss eben von Beginn des Schmerzes ab der (häufig
angehaltene) Stuhl sorgfältigst ein paar Tage lang untersucht werden. Uebri-
gens scheint es nach Naunyn's Versuchen, dass kleinere, den Darm passirende
Steine in Trümmer gehen können. Oft findet man hinter dem Hauptstein noch
kleinere schwärzliche Concremente, die durch den sozusagen gebohrten Weg
relativ schmerzlos abgehen.
Gegenüber der Gallenkolik wird bei Darmkolik die Localisation
des meist doch viel geringeren Schmerzes, der häufig um den Nabel herum
und dem Verlauf der Gedärme entsprechend gefunden wird, das Verhalten des
Abdomens, das freilich auch bei Gallensteinkolik aufgetrieben sein kann, die
Schmerzlosigkeit der Leber und Gallenblase, der einfachere, glattere (fieber-
lose) Verlauf, das Fehlen des Icterus verwerthet w^erden müssen. — Bei Ulcus
ventriculi pflegt der Schmerzanfall, ganz abgesehen von der Localisation, in
den ersten Stunden nach der Mahlzeit aufzutreten, der Gallenkolik-Anfall
beginnt dagegen nicht so selten um Mitternacht. Nierenkolik hat andere Locali-
sation, in der Lendengegend, die Ausstrahlung des Schmerzes geht mehr nach
unten gegen das Hypogastrium, der Urin zeigt entsprechendes Verhalten.
Pancreaskolik wird, wenn nicht direct im Stuhl charakteristische amorphe,
halb feste, an organischer Substanz reiche Steine gefunden werden (Minnich),
unter Umständen, bei festsitzendem Stein und Atrophie der Drüse, am Diabetes
und an eigenartigen (Fett-) Diarrhoeen erkannt werden (Lichtheiji). Blei-
kolik, als Gewerbekrankheit ohnedies meist bei Männern vorkommend, verräth
sich am Foetor ex ore, dem Bleisaum des Zahnfleisches, der Beschaffenheit des
Abdomens. Auch eine heftige, rechtsseitige trockene Pleuritis wird sich durch
die Localisation, die Art der Athmung, die physikalische Untersuchung, Inter-
kostalneuralgie in der Lebergegend hauptsächlich aus den Schmerzpunkten
ermitteln lassen.
Bei der Peritonitis und Petiti/phlitis, sowie acuter Einklemmung oder
Intussusception werden der negative Befund der Leber, der Druckschmerz an an-
derer Stelle als gerade der Leber, das Ausbleiben des Icterus, das Verhalten
des Fiebers, bei der Intussusception der fühlbare, wandernde Tumor Anhalts-
punkte geben. ■ — Andererseits darf nicht vergessen werden, dass nicht etwa
bloss die sogenannte schrumpfende Peritonitis, sondern einzelne (undiagno-
sticirbare) „Verwachsungen und Netzstränge im Leibe Ursache andauernder
schwerer Koliken" sein können (Lauenstein). Wiederholte Gallensteinkolik
ohne Icterus, wenn z. B. die Concremente in den intrahepatischen Gängen
sitzen, kann Malaria vortäuschen. Hier gehen dem Frost das eigenthümliche
Recken und Ziehen in den Gliedern voraus, bei der (larvirten), mit intermit-
tirendem Fieber einhergehenden Gallensteinkolik ist der Frost von gewissen
unangenehmen Empfindungen, Spannung, Aufgetriebensein des Epigastriums,
einer Art Aequivalent des Kolikanfalls, begleitet (Schmitz), der Harnstoff soll
vermindert sein (Regnard), bei Malaria vermehrt, ein eigentliches Schweiss-
696 GALLEKSTEINE-GALLENSTEINKOLIK.
Stadium fehlt, — Chaecot hat eine besondere „fievre intermittente Mpatique'^
mit einzelnen, dem "VVecliselfieber ähnlichen Frostantällen beschrieben. - —
Auch sich entwickelnder Leherabscess könnte derartige Frostanfälle machen,
er geht mit Milztumor, aber geringerem Icterus einher. Die nervöse, im
Plexus hepaticus sich abspielende Hepatalgie der Franzosen ist zwar auch
in ihrem Yaterlande nicht allgemein anerkannt, für Xervöse (Neurastheniker)
und Hysterische aber vielleicht doch nicht ganz abzuweisen. Selbst mit
Cholera-Attaquen und gewissen schweren A^ergiftungen bietet die Gallenstein-
kolik zuweilen eine gewisse Aehnlichkeit. Von der „irregulären Choleli-
thiasis" stellt Nauntx für den chronischen Icterus bei Gallensteinen im
Ductus choledochus folgende Symptome auf: dauernd oder gelegentlich galle-
haltige Fäces, deutlicher Intensitätswechsel des Icterus, normale Grösse oder
geringe Yergrösserung der Leber, Fehlen der Ektasie der Gallenblase, Milz-
tumor, Fehlen des Ascites, Fieber, Dauer des Icterus über 1 Jahr. So wenig
ich das Wesentliche dieser Kriterien anzweifeln möchte, so glaube ich doch
betonen zu müssen, dass Intennissionen im Icterus, denen ]S'aü>sTX ziem-
liche "Wichtigkeit beimisst, auch bei malignen Neubildungen, wenn auch
nicht als die Eegel, vorkommen, Nauxtx kennt nur einen Fall von
SiDXET Couplaxd; in meiner ..Abhandlung über den multiloculären Echi-
nococcus" 1886, p. 137, habe ich eines eben solchen Erwähnung ge-
than: Krebsgeschwüre am Diverticulum Yateri bei einer 38-jährigen Frau
mit w^echselnder Intensität des Icterus. Und eben solcher Wechsel der Inten-
sität kommt nicht allzuselten bei dem (von den Autoren sonst ignorirten)
Echinococcus multilocularis vor, der durch den Mlztumor, das Fieber, die
lange Dauer des Icterus, 1 Jahr, selbst mehr, Fehlen von Yergrösserung der
Gallenblase, Mangel einer eigentlichen Kachexie, die hämorrhagische Diathese,
Fehlen des Ascites (besonders in den früheren Stadien der Krankheit ) mit dem chro-
nischenYerschluss der grossen Gallenwege mehr symptomatische Berührungs-
punkte haben dürfte, als das Lebercarcinom. In den Heimatländern des vielfäche-
rigen Echinococcus (Bayern, Wüi'ttemberg, Schweiz, Theile von Oesterreich)
muss. wie ich aus eigener Erfahrung w^eiss. mit der Diif erentialdiagnose :
Leberkrebs, chronischer Yerschluss der Gallenwege, multiloculärer Echino-
coccus, häufig genug gerechnet werden. Das Carcinom der Leber unter-
scheidet sich durch den allerdings meist hartnäckigeren Icterus, den ^del
schnelleren Yerlauf, die Kachexie, das Fehlen des Milztumors, die rasche
Yolumszunahme der Leber (auch bei blossem Carcinom der Gallenblase),
knollige oder andererseits auch eigenthümlich w^eiche Beschaffenheit der
ObeiHäche genügend von anderen Afi'ectionen. Carcinom des Pankreas pflegt
die Leber klein zu lassen, auch im weiteren Yerlauf Ascites zu bewirken.
Der ..Probe-Bauchschnitt •• wird in diagnostisch schwierigeren Fällen
nicht zu umgehen sein.
Therapie. Zuweilen scheint eine spontane Zerbröckelung der Steine
vorzukommen, gerechnet kann auf dieselbe selbstverständlich nicht werden.
Beim eigentlichen Kolikanfall handelt es sich in erster Linie um
Bekämpfung des alarmirenden Schmerzes. Morphium subcutan in nicht zu
kleiner Gabe, bis 0*02 p. dosi, ist üblich in entsprechender Wiederholung.
Kauxyx gibt es w^ohl auch zusammen mit Ätropin (bis O'OOl) subcutan.
Sonst sind noch empfohlen: Chloroform, auch innerlich, Chloralhi/drat, im
Beginn des Anfalls, Antipyrin und salicylsaures Natron (2 — 3 g im Beginn oder
nach FüEBEixGER Natr. salicyl., Natr. bicarb. ää O'ö 4mal tägl.). Fortgesetzte
Darreichung von Opiumtinctiir während des Anfalls, zunächst grössere Dosis,
dann zur Festhaltung der Wirkung, in entsprechenden Intervallen weitere
kleinere, hat mir zur Bekämpfung der krampfliaften Muskelcontractionen und
etwaiger peritonitischer Erscheinungen guten Eindruck gemacht. Das neuer-
dings wieder gerühmte Olivenöl, event. auch Lipanin, zweckmässig alle 3 — 4
GALLENWEGE- UND GALLENBLASE-ERKRANKUNGEN. 697
Stunden ein reichlicher Kaffeelöffel, hat vielleicht wegen der Appetitsstörung
etwas Bedenkliches, Dueaxde's Mittel f3 Aether: 2 Terpentinöl) scheint nichts
Besonderes zu leisten.
Grosse Kataplasraen, Dauerbäder von 34 — 38<^ C, Trinken von heissem
Wasser (weinglasweise), auch Wickeln des Bauches mit Gummibinde, grosse
KEULL'sche Eingiessungen können nützlich sein. Das Erbrechen und die
Collapszustände sind nach allgemeinen Grundsätzen zu behandeln.
Trotz neuerer Versuche, jegliche medicamentöse oder auch durch Clys-
mata zu erzielende Einwirkung auf die Gallensecretion als so ziemlich un-
möglich hinzustellen, bleibt die empirische (steintreibendej Wirkung der
(warmen) alkalischen Wässer zu Piecht bestehen und zwar der alkalisch-sali-
nischen: Karlsbad, Bertrich („das schwache Karlsbad"), Ofen und Stuhmja in
Ungarn, Marienbad (kühl), der alkalisch-muriatischen: Ems, der alkalischen:
Vichy {Grande Grille), Neiienahr, Fachingen (kühl). Zugegeben kann werden,
dass bei diesen, auch in prophylaktischer Beziehung werthvollen Curen neben
der curgemässen Lebensweise mehr die Anregung der Gallensecretion, als
etwaige Lösung der Concremente in Betracht kommt.
In neuerer Zeit hat die chirurgische Behandlung der Gallensteine einen
bedeutenden Aufschwung genommen. Dabei ist nicht etwa blos Eingriff während eines
bedrohlichen Anfalls, oder nach einem solchen oder bei bestehender Incarceration, sondern
namentlich auch frühes Operiren, vor dem Icterus (welcher die Prognose entschieden ver-
schlechtert), ins Auge zu fassen. Für die gründliche Entleerung der Gallenblase ist we-
niger die nicht ungefährliche „ideale- einfache Cholecystostomie mit Naht und Versenkung
oder gar die Exsth'pation der Blase, als die zweizeitige Cholecystostomie nach Riedel*)
zu empfehlen, „bei richtiger Ausführung eine absolut ungefährliche Operation." Die La-
paratoniie bei Gallenstein-IIeus hat bis jetzt nur schlechte Resultate aufzuweisen.
Bezüglich der Diät, deren Bedeutung freilich früher sehr übertrieben
worden ist, wird fettfreie und zuckerarme Nahrung und Meiden starker Al-
coholica empfohlen, vor allem aber Massigkeit im Essen, Milch kann ge-
stattet w^erden. Massige Bewegung und Sorge für geregelten Stuhl sind an-
gezeigt, auch in prophylaktischer Beziehung. h. vierordt.
Gallenwege- und Gallenblase-Erkrankungen. Das specifische Se-
cretionsproduct der Leberzellen, die Galle, wird bekanntlich durch die Gallen-
capillaren, deren Umrandung direct durch die Wandungen der Leberparenchym-
zellen dargestellt wird, den zwischen den einzelnen Leberläppchen verlaufenden
(interlobulären) Gallengängen zugeführt. Die schliessliche Vereinigung der
Gesammtheit derselben bildet den Ausführungsgang der Leber, den Ductus
hepaticus. Ihm gesellt sich der Ausführungsgang der Gallenblase, der Ductus
cysticus, bei; aus der Confluenz beider entsteht der gemeinsame Gallenausfüh-
rungsgang, der Ductus choledochus, w^elcher in seinem Endverlaufe zwischen Pars
muscularis und mucosa des Duodenums mit dem Ausführungsgange der Bauch-
speicheldrüse, dem Ductus pancreaticus, zusammentritt und, vereint mit diesem,
am Ende der Plica longitudinalis des absteigenden Schenkels des Zwölffinger-
darmes im Diverticulum Yateri in diesen ausmündet.
An vierfach verschiedener Stelle des Gallengaugsystems kann daher eine
krankhafte Affection ihren Angriffspunkt finden, am Ductus choledoch., cystic,
hepaticus und an den intrahepatalen Galleugängen. Es ist aber leicht ver-
ständlich, dass einerseits der Ductus choledochus — wegen seiner x\usmimdung
in den Darm — andererseits der Ductus cysticus — ob seiner Beziehungen
zur Gallenl)lase — die relativ häufiger erkrankten und für die Pathologie
wichtigeren Antheile des Gallengangsystems sein werden. Auf der anderen Seite
wird begreiflicherweise eine primäre Erkrankung der intrahepatalen Gallen-
gänge und der Gallencapillaren, an sich schon eine Seltenheit, weniger unter
einem selbständigen Sjmpt omenbilde als vielmehr jenem einer Erki'ankung der
*) Erfahrungen über die Gallensteinkrankheit mit und ohne Icterus 1892.
698 GALLENWEGE- UND GALLENBLASE-EEKRANKÜNGEN.
Leber verlaufen; sie dürfte in ihrer eingehenden Schilderung demgemäss rich-
tiger dem Capitel der Klinik der Leberkrankheiten als jenem der Erkrankungen
der Gallenwege eingereiht werden.
Wir theilen die Erkrankungen der grossen Gallengänge und der Gallen-
blase zunächst in zwei natürliche Gruppen ein, jene der angeborenen und
jene der erworbenen Erkrankungen.
I. Die angeborenen Anomalien der Gallengänge und Gallenblase.
Dieselben beruhen entweder auf mangelhafter Entwicklung oder auf
durch congenitale Si/philis bedingten Aft'ectionen der normal angelegten vor-
genannten Gebilde. Erstere äussern sich als gänzlicher oder partieller Defect
der Gallenblase und grossen Gallenwege, Störungen, wie sie übrigens in
neuester Zeit ebenfalls als sicher durch congenitale Syphilis veranlasst be-
schrieben wurden. In der Regel aber führt diese Erkrankung nur zu Ver-
engerung, Verschluss oder Verkümmerung der Gallenblase und Gallenaus-
führungsgänge durch fibröse Massen, in welche dieselben eingebettet sind.
Das vorzüglichste S y m p t o m eines angeborenen Verschlusses oder Mangels
der grossen Gallenausführungsgänge (Duct. choledochus und hepaticus) ist ein seit
der Geburt bestehender Icterus, der an Intensität rasch zunimmt und bis zu
dem nach spätestens 6 — 7 Monaten erfolgenden Tode anhält. Die Stühle sind
vollständig acholisch, der Harn enthält reichlich Gallenfarbstofi' und Gallen-
säuren. Die Leber ist massig vergrössert, nicht schmerzhaft, stets bestehen
Verdauungsstörungen. Nicht selten verknüpfen sich mit den Symptomen der
absoluten Gallenstauung jene eines gleichzeitigen Verschlusses des Pfortader-
Stammes in Folge Peripylephlebitis syphilitica. Dieser verdanken vorhandener
Ascites, Milztumor, Erbrechen und Darmblutungen ihre Entstehung. Die Kinder
gehen meist an den Folgen der Gallenretention im Organismus unter den Er-
scheinungen der Cholämie zu Grunde.
Die Diagnose und Differentialdiagnose mit dem gewöhnlichen
Icterus neonatorum, dem septischen Icterus und den seltenen sonstigen Formen
von Gelbsucht bei Neugeborenen wird kaum schwer fallen, ausgenommen die
erst jüngst vereinzelt publicirten Fälle von angeborener Lebercirrhose auf
syphilitischer Basis. Die Entscheidung der Frage, ob ein congenitaler Verschluss
der Gallenwege oder mangelhafte Entwicklung derselben vorliegt, wird sich auf
das Auffinden noch anderer Zeichen von hereditärer Syphilis, besonders der
Leber, stützen.
Die Prognose ist eine letale. Gleichwohl ist in allen Fällen, denen
angeborene Syphilis zu Grunde liegt, eine energische Schmiercur einzuleiten, be-
sonders im Hinblicke auf einzelne Fälle, bei welchen die Quecksilbertherapie
wenigstens eine beträchtliche Verzögerung des tödtlichen Endes zu bewirken
vermocht haben soll.
IL Die erworbenen Erkrankungen der Gallengänge und Gallenblase.
Ä. Die Entzündungen der Gallengänge und Gallenblase.
Anatomisch trennen sich dieselben, je nach der Natur des Entzündungs-
productes in 1. die Cholangitis et Cholecystitis catarrhalis; 2. die Cholangitis et
Cholecystitis suppurativa; 3. die Cholangitis et Cholecystitis crouposa und diph-
theritica.
Auch klinisch werden wir eine Scheidung der katarrhalischen von der
eitrigen Entzündung der Gallenwege treffen, während der croupösen und diph-
therischen Entzündung derselben, an sich raren Processen, ein auch nur an-
nähernd fixirbares besonderes Krankheitsbild zur Zeit mangelt. Wir können
GALLENWEGE UND GALLENBLASE-EEKANKÜNGEN. 699
aber nicht verschweigen, dass nach unserer Anschauung eine scharfe Trennung
zwischen katarrhalischer und eitriger Entzündung der Gallenwege zu ziehen,
namentlich nach der ätiologischen Seite hin, nicht jedesmal angeht, vielmehr
besonders anatomisch-bacteriologisch feststellbare Krankheits Vorgänge einen
Uebergang der beiden Zustände in gewissen Fällen vermitteln dürften. Erst
künftige Studien müssen zufriedenstellende Klärung verschaffen.
Was wir heute unter dem klinischen Begriffe eines Icterus catarrhalis vereinen,
dürften ätiologisch keineswegs gleichartige und gleichwerthige Processe sein.
1. Die Cholangitis et Cholecystitis catarrhalis.
Fast ausschliesslich ein secundäres Leiden — primärer Erkältungs-
katarrh — findet die katarrhalische Entzündung der Gallenwege ihre primäre
Veranlassung in abnormen Vorgängen entweder innerhalb oder ausserhalb ihres
Lumens und ihrer Wandungen, letzterenfalls an der Stelle des Ursprungs der
Gallencanäle oder der Stelle der Ausmündung des Gallenausführungsganges.
Zur ersteren Art gehören Fälle von Cholangitis catarrhalis in Folge von Gallen ■
steinen oder Concrement derselben, in Folge von Parasiten innerhalb der
Lichtung der Gallenwege, welche durch mechanischen Reiz zum Katarrh der-
selben führen. Verweilen von Gallensteinen in der Gallenblase, vielleicht
auch eingedickte Galle erzeugen in analoger Weise eine Cholecystitis catar-
rhalis. Hieran reihen sich Fälle von chemisch-toxischem Katarrh der Gallen-
gänge, wie sie die Phosphorvergiftung so häufig begleiten, der Bleivergiftung
folgen und nach Genuss von Chloralhydrat beschrieben wurden. Hieher
zählen vielleicht auch manche Fälle von Gelbsucht, welche im secundären
Stadium der Syphilis zum Ausbruche gelangt, erzeugt durch syphilitisches Enan-
them und Katarrh der Schleimhaut der Gallenwege. Für diese Fälle sucht
freilich ein anderer Theil der Autoren den Grund in Schwellung einer peri-
portalen Lymphdrüse und Compression des Ductus choledochus durch dieselbe,
wieder ein anderer sogar in einer Hepatitis (praecox). — Mit Recht beschuldigt
man auch Störungen in der Blutcirculation, wie solche bei chronischen Er-
krankungen des Circulations- oder Respirationstractes sich einstellen, zu Cholan-
gitis catarrhalis zu führen. Hier aber ist es neben venöser Stauung des
Blutes der Gallenwege sicherlich schon auch die passive Hyperämie des Leber-
parenchym's, welche der Entstehung desKatarrhes derselben Vorschub leistet,
mithin eine Verquickung einer in der Wandung der Gallengänge mit
einer zweiten, jenseits derselben und an deren Ursprünge gelegenen Ursache.
Ausschliesslich eine solche letztgenannte liegt jenen Formen von Cholan-
gitis catarrhalis zu Grunde, wie sie bei primären Erkrankungen des Leber-
parenchyms als Tumoren oder Lebercirrhose vorkommen, bei welchen eine Com-
pression der grossen Gallengänge anatomisch nicht nachM^eisbar ist. Am weit-
aus häufigsten aber nimmt die Cholangitis catarrhalis ihre Entstehung von einem
vorhandenen Catarrhus gastroduodenalis, dessen Fortsetzung auf den Ductus
choledochus zum Icteruscatarrhalis führt. In ähnlicher Art könnte man
auch die Fälle katarrhalischer Cholangitis und Cholecystitis erklären, welche
im Verlaufe der croupösen Pneumonie, des Abdominaltyphus, der Cholera und der
Malaria (?) zurBeobachtung gelangen, diesfalls vielleicht durch die specifischen
Krankheitserreger hervorgerufen. Ein derartiger katarrhalischer Icterus kann
aber auch als toxischer, durch die im Blute circulirenden Toxine erzeugt, auf-
gefasst werden.
Auch der Entstehung einer Cholecystitis und Cholangitis catarrhalis durch
heftige psychische Erregungen wollen wir Erwähnung thun.
Besondere Hervorhebung verdient die Thatsache des öfteren epidemischen
Auftretens eines katarrhalischen Icterus.
Anatomisch kennzeichnet sich die katarrhalische Entzündung der Gallenwege durch
Schwellung und Röthung ihrer Schleimhaut, welche im ganzen Verlaufe oder nur stellen-
weise (besonders im unteren Theile des Ductus choledochus) von viscidem, mit Leucocyten
und abgestossenen Epithelien untermischtem Schleime überzogen ist. Das Lumen der Gallen-
700 GALLENWEGE- UND GALLENBLASE-ERKRANKUNGEN.
Wege wird hiedurch verengert oder gänzlich verlegt, es kommt in Folge dessen zur Gallen-
stauung und Gallenresorption.
Je nach dem Sitze der katarrhalischen Entzündung und deren Aus-
breitung werden sich die S y m p t o m e derselben verschieden gestalten. — Bei
der weitaus häufigsten Form, dem Icterus catarrhalis vel gastro-duodenalis
gehen dem Beginne der Gelbsucht neben leicht gestörtem Allgemeinbefinden
eine Reihe dyspeptischer Symptome* voraus, welche in Appetitmangel, üblem
Geschmacke im Munde, belegter Zunge, Aufstossen, Ueblichkeit und Brechreiz,
Erbrechen, Schmerzhaftigkeit der Magengegend und meteoristische Auftreibung
derselben — die Zeichen des Magenkatarrhs — Stuhlverstopfung oder bei
ausgedehnterem Darmkatarrhe, besonders auch im Dickdarme, Diarrhoe be-
stehen. Nach wechselnder Dauer dieser gastro-intestinalen Symptome (1 — 2
Tage, selbst mehrere Wochen) wird die Circulation der Galle im Blute und
deren Ablagerung im Gewebe manifest. Ihr markantestes Zeichen ist der
Icterus, der in etwa 3 Tagen an den Conjunctiven, in 5 — 6 Tagen seines
Bestandes an der Haut und den Schleimhäuten zur höchsten Entwicklung
gelangt ist. Mit dem Erscheinen desselben pflegen nicht selten die gast-
rischen Beschwerden zurückzutreten; manchmal freilich steigert sich deren
Intensität. Die Wirkung der im Blute kreisenden Gallensäuren auf das Cen-
tralnervensystem äussert sich in psychischen Depressionsgefühlen, Mürrigkeit,
geistiger Abgeschlagenheit, abnormer Reizbarkeit, die Einflussnahme auf das
Herz seltener in Irregularität des Pulses als häufig in Bradycardie, mit welcher
oft constante Temperaturerniedrigung bis 36-5° und noch tiefer sich vereint.
Dem gegenüber gibt es aber auch Fälle von katarrhalischem Icterus mit massiger
Temperaturerhöhung, deren Ursache — abgesehen vom initialen Fieber in
Folge des Magenkatarrhs — man in bacterieller Infection der stagnirenden
Galle vom Darme aus erblicken könnte. Auf eben diese ist wohl auch unter
Umständen ein bei Cholangitis catarrhalis nicht zu selten vorfindlicher Milz-
tumor zurückzuführen, welchem hinwieder in anderen, speciell afebrilen Fällen
eine ganz andere Genese (Rückstauung, spodogener Milztumor?) zukommen
dürfte. Meist erst im Verlaufe des Icterus stellt sich manchmal Hautjucken
ein, mitunter Erythema, Urticaria ähnliche Ausschläge oder Xanthelasma.
Xantopsie und Hemeralopie sind selten vorkommende Begleiterssheinungen
seitens des Auges. Durch Gelbfärbung des Schweisses, der Milch bekundet sich
der Uebertritt des Gallenfarbstoffes in die Drüsensecrete, der ebenso in Trans-
sudate und Exsudate übergeht, vor Allem aber durch den Urin ausgeschieden
wird. In Folge hievon zeigt derselbe dunkel rothbraune Färbung, deutlichen
Dichroismus (Grünfärbung, besonders der Randpartien bei auffallendem Lichte),
sein Schaum erhält sich auffallend lange gelb gefärbt. Im Harne stösst man
ab und zu auf Spuren von Eiweiss, recht häufig auf gelbgefärbte hyaline,
mit Körnchen oder Harncanälchenepithelien belegte Cylinder. Es finden sich
Gallensäui'en und, was weit wichtiger, reichlich Bilirubin; letzteres bei leichtem
katarrhalischem Icterus, bei dem ein Theil von Galle noch in den Darm ab-
fliessen kann, neben Hydi^obilirubin (Urobilin), bei totalem Verschlusse des
Ductus choledochus ausschliesslich. Der meist retardirte Stuhl zeigt während
der Dauer des Gallengangverschlusses eine eigenthümliche lehm- oder thon-
artige Farbe, auffallend üblen Gestank und einen hervorragenden Reichthum
an Krystallen von Fettsäuren und fettsauren Salzen, deren genaue chemische
Natur (ob Magnesia-, Kalk- oder Natronseifen) bis zur Zeit noch nicht ausser
jedem Zweifel steht. Schwankungen in der Intensität des KataiThs, id est in
der Intensität des Verschlusses der Gallengänge äussern sich durch abwech-
selnd gallenarme und gallig tingirte Stuhlentleerungeu.
Die klinisch erkennbaren örtlichenErscheinungen an Leberund
Gallenwegen lassen sich unmittelbar aus dem sie veranlassenden Momente der
Gallenrückstauung ableiten. Sie bestehen besonders dort, wo der Ductus
GALLENWEGE- UND GALLENBLASE-ERKRANKUNGEN. 701
clioledochus verstopft ist, in jedoch keineswegs constant vorkommender Ver-
grösserung der Leber, Druckempfindlichkeit und höchstens geringer Schmerz-
haftigkeit im rechten Hypochondrium, erzeugt durch Dehnung des peritonealen
Ueberzuges der Leber. Die Gallenblase wächst zu einem unter dem rechten
Rippenbogen entsprechend dem vorderen Ende des knöchernen Antheiles der
9. Rippe und dem äusseren Rande des rechten Muse. rect. abdom. hervortre-
tenden, vor Allem nur der Percussion zugänglichen kleineren, manchmal aber
palpatorisch erkennbaren grösseren, in der Regel birnförmigen, prallelastischen,
druckempfindlichen Tumor heran, welcher deutlich respiratorische Bewegungen
zeigt. Dieser Gallenblasentumor allein, ohne concommittirende Symptome
seitens der Leber und ohne Icterus wird bestehen, wo nur der Ductus cysticus durch
Schleimhautschwellung verlegt oder die katarrhalische Entzündung ausschliess-
lich auf die Gallenblase beschränkt ist, ein namentlich bei vorhandenen Steinen
in der Gallenblase, vielleicht auch bei abnormer Beschaffenheit der in der
Blase befindlichen Galle (abnormer Eindickung derselben) vorfindliches Ereignis,
welches manchmal unter acuten Erscheinungen, ähnlich einer Gallensteinkolik,
zur Entwicklung eines Hydrops cystidis felleae führen kann.
Zu gedenken wäre noch der gleichzeitigen Verlegung des Ductus
pancreaticus beim Icterus catarrhalis, die sich freilich nur höchst verein-
zelt, vor Allem durch Glycosurie, erschliessen lässt. Diese Verschliessung des
Ductus pancreaticus hat sicherlich eine Mitschuld an ausgesprochenen Ver-
dauungsstörungen, vielleicht fällt ihrem Fehlen oder ihrer Anwesenheit das
kaum gestörte oder merkbarer alterirte Allgemeinbefinden zur Last.
Der Icterus catarrhalis erstreckt sich in der überwiegendsten Zahl der
Fälle auf eine zeitliche Dauer von wenigen (etwa 2 — 6) Wochen. Indessen
sind auch Fälle von ausgesprochen chronischem katarrhalischem Icterus bekannt,
die sich sogar auf Jahre hinaus zogen, um gleichwohl in Heilung überzugehen.
So schwer Fälle der letztgenannten Art einer sicheren Diagnose zugäng-
lich sind, so gering sind die Mühen, welche die Diagnostik des gewöhn-
lichen katarrhalischen Icterus fordern. Sie stützt sich — ■ das Vor-
handensein der ihr zukommenden, eben geschilderten Symptome vorausgesetzt
— vor Allem auf die Thatsache eines vorausgegangenen Diätfehlers und dys-
peptischef Beschwerden, daneben auf die fast durchwegs nur geringe Störung
des Allgemeinbefindens, auf das relativ rasche Entstehen der Gelbsucht, welche
jedoch weniger acut sich entwickelt als bei Cholelithiasis, die zudem fast
ausnahmslos erst jenseits des 30. Lebensjahres vorzüglich bei Frauen (Müttern)
— unter ausgeprägten Schmerz- und häufig Fiebersymptomen auftritt. ")
Noch muss man seltene Ursachen eines schnell entstehenden Obturations-
Icterus ausschliessen, unter welchen Durchbruch einer Cyste eines geplatzten
Leberechinococcus-Sackes in die Gallengänge oder Eindringen von Parasiten
in den Duct. choledoch. vom Darme aus, auch rasch anwachsende kleine Car-
cinome des letzteren zu nennen sind. (Siehe später: Verengerung und Ver-
schluss der Gallenwege.) Man muss endlich im Beginne der Gelbsucht an die
Möglichkeit einer unter den Erscheinungen des Icterus catarrhalis einsetzenden
acuten gelben Leberatrophie denken.
Die Prognose des Icterus catarrhalis ist eine für die weitaus
grösste Mehrzahl der Erkrankungsfälle gute. Gibt es aber auf der einen
Seite, wenn auch selten, consecutive Zustände im Ductus choledochus, welche
durch dauernden Verschluss bezw. Verengerung desselben und der Gallen-
gänge überhaupt zur tödtlichen Cholämie führen, so sind andererseits auch rare
Fälle bekannt, welche ohne derartige anatomische Veränderungen unter den
Erscheinungen einer Blutdissolution ohne hervorstechende cerebrale, cardiale
oder renale Krankheitssymptome letal endeten. — Wo die Cholangitis ca-
*) Vergl. Artikel „Gallensteinkolik^.
702 GALLENWEGE- UND GALLENBLASE-ERKRANKUNGEN.
tarrhalis als Theilerscheinung anderer Erkrankungen, wie früher erwähnt, sich
vorfindet, richtet sich nach diesen auch die Vorhersage für die erstere.
Die Behandlung des Icterus gastro-duodenalis wendet sich,
wo noch deutliche Symptome des Magen-Darmkatarrhs vorliegen, zunächst
gegen diese: nur selten und mit Vorsicht dürfte man zur Verabreichung eines
Brechmittels schreiten, in der Regel verordnet man gelinde abführende
Stomachica, wie besonders PJieumpräparate Tmc^r. rhei aquos.rmä vinos., recht
häufig Karlsbaderwasser oder V2 bis 1 Esslöffel in einer Tasse lauen Wassers
gelösten künstlichen Karlsbadersalzes. Auch die Säuren erweisen sich als
wohlthätig, z. B. Acid. citric. oder Äcid. muriat. l'O — 2-0 g pro die in Lösung.
Specifisch cholagoge Mittel kennen wir mit Sicherheit nicht. Noch am meisten
gerühmt wird das Natrium salicylicum (5'ö — 6-0 g pro die), während die
gallensauren Salze wohl bereits verlassen sein dürften. Dahingegen verdienen
nach fremder wie eigener Erfahrung die KüULL'schen Irrigationen i. e. Darm-
infusionen von 1 — 2 Liter eines 12 — ISMgen (R.) Wassers, welche der
Kranke möglichst lange hält, warme Empfehlung, da sie durch intensive An-
regung der Darmperistaltik einen Icterus catarrhalis zu bessern und in relativ
rascher Zeit zu beheben im Stande sind. Zur Beseitigung des den Ductus
choledochus verlegenden Hindernisses versuchte Gerhaedt die manuelle Com-
pression der Gallenblase, ein selten und vielleicht nicht ganz ohne Gefahr
vorzunehmender Griff', der sich Bürgerrecht ebenso wenig erworben hat, wie
die mehrfach empfohlene Faradisation der Gallenblase. Wo der Icterus ca-
tarrhalis in mehr chronischer Weise verläuft, dort ist Gebrauch von Karls-
hader, Marienbader, Kissinger ^ Homhurger Wasser oder jener von alkalischen
und alkalisch-muriatischen Wässern (Bilin, Ems, Giesshühl, Gleichenberg, Lu-
haischoiüitz, Preblau, Selters, Vichy etc.) angezeigt. — Gegen das oft peinigende
Hautjucken kämpft man mit warmen Bädern, welche auch sonst bei Icterus
catarrhalis angenehme Wirkung entfalten, Waschungen mit 27o-ig'er Carbol-
säurelösung, verdünntem Essig, Citronensaft etc. oder einer morgendlichen
und abendlichen Dosis von Bromkali (2-0) an.
Unter allen Umständen endlich ist auf strenge Diät, besonders Vermei-
dung fetter Speisen zu sehen.
Die Behandlung der übrigen Formen von Cholangitis catarrhalis, welche
mit dem Icterus catarrhalis nicht zusammenfallen, hat sich nach dem Grund-
leiden zu richten.
2. Die Cholangitis et Cholecystitis suppurativa.
Die eitrige Cholangitis et Cholecystitis zerfällt ätiologisch in 2 Gruppen,
eine Gruppe, bei welcher die vordem normalen Gallenwege durch im Duode-
num pathologischerweise vorhandene specifisch pathogene Bakterien von diesem
aus inficirt werden: hieher zählt die Cholangitis et Cholecystitis suppm-ativa im
Verlaufe des Abdominaltyphus und der croupösen Pneumonie, ebenso auch der
Cholera und eine 2. Gruppe, bei welcher die schon normalerweise im mittleren
Duodenum auffindbaren Bakterien, wie vor Allem das Baderium coli commune,
weiters die Staphylococcus-Arten und der Streptococcus pyogenes Gallenwege
inficiren, welche nicht mehr gesund, sondern aus irgend einem Grunde un-
durchgängig geworden sind, so dass Gallenretention existirt. Ob der Grund
dieser Unpassirbarkeit der Gallenwege in der Höhlung oder der Wand der-
selben sitzt oder von aussen her wirksam ist, ist für die Frage der eitrigen
Infection der Gallenwege irrelevant. Jedes Hindernis in der freien Canalisation
des Gallenabflusses leistet der bacteriellen Infection Vorschub.
Nach dem Vorausgegangenen begreift sich, dass wir einer eitrigen Ent-
zündung der Gallenwege begegnen bei Abdominaltyplius, hier nachgewiesener-
massen erzeugt durch den Typhusbacillus, weiters bei croupöser Pneumonie,
hier muthmaasslich veranlasst durch den Diplococcus pneumoniae und zwar beide-
GALLENWEGE- UND GALLENBLASE-ERKRANKUNGEN. 703
mal speciell einer ausschliesslichen oder wenigstens vorwaltenden Cholecystitis
suppurativa. Wir sehen andrerseits eine Cholangitis oder Cholecystitis suppurativa
vor Allem bei Gallensteinen, mögen dieselben einmal das Lumen des Ductus cv-
sticus, ein andermal jenes des Ductus choledochus oder hepaticus obturiren
oder in der Gallenblase allein, beziehungsweise den intrahepatalen Gallen-
gängen ihren Sitz haben. Im Weiteren finden wir eitrige Cholangitis bei
Eingeweidewüi'mem, welche in die Gallenwege eingedrungen sind, selten als
Secundärinfection eines einfachen Icterus catarrhalis. Endlich bei Carcinom
fresp. anderen Keubildungen) der Gallenblase und des Ductus choledochus,
bei multiloculärem Leberechinococcus und zuletzt bei allen jenen Processen,
Avelche von aussen her auf die Gallenwege, besonders die grossen Gallen-
gänge drücken, dieselben zur Verengerung und zum Verschlusse bringen und
der nunmehr erfolgenden bakteriellen Infection die Bahn brechen. Eine mehr
untergeordnete Rolle spielen jene Arten von eitriger Cholangitis, welche
durch directe Fortsetzung einer um die Gallengänge localisirten Eiterung
oder durch Einbruch derselben in die Gallengänge, sei es innerhalb oder
ausserhalb der Leber, entstehen, z. B. Cholangitis bei primärer eitriger Pyle-
phlebitis. Die bei nicht specifischer eitriger Cholangitis thätigen Bakterien
sind, wie erwähnt, das Bacterium coli commune, die Staphylococcen und der
Streptococcus pyogenes.
Die eitrige Entzündung der Gallenblase und Gallengänge bekundet sich
pathologisch-anatomisch durch eiteruntermengten oder rein eitrigen In-
halt der erkrankten Partie, durch Injection, Auflockerung, Ecchymosirung und
Ulceration der Schleimhaut dersell)en. Eiterige Entzündung der intrahepatalen
Gallengänge führt zur Entstehung multipler miliarer ilbscesse in der Leber,
deren Uebergreifen auf das umliegende Lebergewebe zur Bildung erbsen- bis
haselnussgrosser „biliärer" Abscesse Veranlassung gibt, die, untereinander
confluirend, wieder ausgedehnte Eiterhöhlen in der Leber, „alveoläre Leber-
abscesse" erzeugen können.
Die Eiterung kann aber eine noch weitere Ausdehnung gewinnen und
zwar entweder blos local oder selbst allgemein. Uebergreifen der Eiterung
auf die Pfortader muss eine Pylephlebitis suppurativa zui' Folge haben, wie
auch ein suliphrenischer Abscess und allgemeine eitrige Peritonitis zu den
möglichen Consequenzen einer eitrigen Cholangitis zählen.
Gelangen die örtlich eiterungerregenden Bacterien ins Blut, dann
resultirt eine Septicämie bezw. Pyämie biliösen Ursprungs. Diese
findet ihre häufigste entfernte Localisation im Herzen und hierselbst ihren Aus-
druck als Endocarditis ulcerosa, deren Lieblingssitz die Mitralklappe ist. während
sie seltener an den Aortenklappen, am allerseltensten an der Tricuspidalklappe
beobachtet wmTle. Wie eine Endocarditis ulcerosa, so gibt es metastatische
Eiterungen in Lungen und Pleura, selbst metastatische eitrige Meningitis
nach Cholangitis suppurativa.
Die Symptome der eitrigen Cholangitis und Cholecystitis, welche — wie
namentlich im Verlaufe von Infectionskrankheiten — hinter dem Grundlei-
den vollständig unerkennbar zurücktreten können, trennen sich in einerseits
örtliche, anderseits entfernte und allgemeine. Die örtlichen Symptome
sind nahezu bedeutungslos, wo die Eiterung nur den Ductus choledochus, oder
hepaticus betrifft. Bei Erkrankung blos der intrahepatalen Gallengänge
beobachten wir eine schmerzhafte Leberschwellung, bei eitriger Entzündung
der Gallenblase und dieser im Vereine mit eitriger Entzündung des Ductus
cysticus eine schmerzhafte Vergrösserung der Blase, die bald als deutlicher
Tumor erkennbar sein kann, bald unter einer diffusen, teigigen, schmerz-
haften Piesisteuz des rechten Hypochondriums, dem Zeichen von Perichole-
cystitis, sich versteckt halten kann. Häufige Begleiter sind Verdauungs-
besehwerden, Diarrhoe und sonstige Zeichen einer peritonealen Reizung, welche
704 GALLEN WEGE- UND GALLENBLASE-ERKEANKUNGEN,
manchmal selbst unter foudroyantem, einer acuten Darmverschliessung
ähnlichem Bilde einsetzen kann. Vereinzelt gelangt auch profuse Darmblu-
tung als Beweis einer stattgehabten Gallenblasenschleimhaut-Ulceration zur
Beobachtung,
Auch die entfernteren und allgemeinen Symptome haben nur sehr
wenig Charakteristisches an sich, Icterus wiederum nur dort, wo der Ductus
choledochus oder hepaticus oder die intrahepatalen Gallengänge in grösse-
rem Umfange verlegt sind; indessen auch unter allen diesen Voraussetzungen,
soweit nicht das Grundleiden dies anders bestimmt, von wechselnder und
nicht allzuhochgradiger Intensität, Meist nicht gar beträchtlicher Milztumor,
tiefer gestörtes Allgemeinbefinden.
Ein Symptom aber ist von hervorragender Bedeutung, das Fieber^
welches sich als das sogenannte Fievre intermittente hepaüque (Chaecot) oder
besser Fievre intermittente bilioseptique darstellt. Dieses ist ausgezeichnet
durch manchmal in typisch geordneten, meist in unregelmässigen Zeiträumen
wiederkehrende Attaquen von heftigem Frost mit anschliessender Temperatur-
steigerung selbst bis 41^ C. und nachfolgendem, von Schweissausbruch be-
gleitetem Temperaturabfalle. Die Differentialdiagnose dieses septischen
Fiebers, welchem übrigens nur ihm eigene Besonderheiten nicht zukommen,
von jenem des Wechselfiebers stützt sich vor Allem auf das Vorkommen von
Malariaplasmodien im Blute bei letzterem, von Eitercoccen bei ersterem,
welche freilich erst in vereinzelten Fällen wirklich im Blute nachgewiesen
wurden. Verwendbare Anhaltspunkte, wenn nöthig, bietet weiterhin der Um-
stand, dass Malaria meist in den Vormittagsstunden, das Fievre intermittente
bilioseptique in den Abendstunden eintritt, das Fieber bei Malaria terrassen-
förmig, das septische Fieber steil abfällt, der zeitlich irreguläre Typus bei
diesem vorwaltet und Chinin hier unwirksam ist, gegen ersteres specifisch
wirkt.
Von grosser Wichtigkeit für die Diagnose einer eitrigen Cholangitis ist uns
weiterhin der Nachweis einer bedeutenden Vermehrung der polynuclearen
Leukocyten im Blute bei mangelnden eosinophilen Zellen, das Vorhandensein,
von reichlichem Indican und Pepton im Urin, die uns auf eine richtige Bahn
führen können, wo nicht Darmgeschwüre, z. B. typhöse vorliegen.
Die Ausgänge einer Cholangitis et Cholecystitis suppurativa sind
variable. Erstere, welche prognostisch am ungünstigsten sich stellt, wenn
es sich um vorwiegende Eiterung der Mehrzahl der intrahepatalen Gallen-
gänge handelt, führt diesfalls auf dem Wege der Vereiterung von Leber-
substanz, des Uebergreifens auf die Pfortader, der Bildung subphrenischer
Abscesse und allgemeiner, eitriger Peritonitis, der biliösen Septicämie und
Pyämie wohl zumeist zum Tode. Eine eitrige Entzündung in den grossen
Gallenausführungsgängen gehtzweifellos häufig genug in Heilung über namentlich
dort, wo sie höhere Ausbreitung und grössere Extension noch nicht erreicht hat
und die Grundursache der Verstopfung des Gallenganges z. B. ein Gallenstein
bald nach deren Eintritt wieder beseitigt wird. Die Cholecystitis suppura-
tiva, ebenfalls bei geringgradiger Entwicklung schadlos sich ausgleichend,
kann bei vorgeschrittenerem Erkrankungsprocesse zur Bildung eines chro-
nischen Empyems der Gallenblase führen oder durch Vermittlung einer Peri-
cholecystitis zur Verwachsung mit der Umgebung der Gallenblase und zwar
dem Netze, Magen, Duodenum oder Quercolon oder der vorderen Bauch wand.
Die in der Gallenblase fortschreitende Eiterung führt zur eitrigen Einschmel-
zung der Gallenblasenwand, so dass, sind die vorher erwähnten Adhäsionen
zur Entwicklung gekommen, durch Austritt von Eiter durch die ulcerös zer-
fallene oder auch rupturirte Gallenblasenwand sich eine circumscripte Peri-
tonitis oder in Folge der an der Anwachsungsstelle durchdringenden Eiterung
eine fistulöse Communication zwischen Gallenblase und Magen oder Darm
GALLENWEGE- UND GALLENBLASE-ERKRANKUNGEN. 705
oder endlich eine Gallenblasen-Bauclideckenfistel bildet, durch welche der
Eiter sich natürlichen Ausweg verschafft. Haben solche Verwachsungen
nicht stattgefunden, dann ergiesst sich bei Perforation oder Kuptur der
eitererfüllten Gallenblase deren Inhalt in die freie Bauchhöhle. Das Indivi-
duum erliegt einer allgemeinen eitrigen Perforationsperitonitis, ein nament-
lich bei den Fällen von Cholecystitis suppurativa typhosa beobachtetes Er-
eignis.
Die Behandlung der acuten eitrigen Entzündung der Gallen-
blase, sowie jener des Ductus choledochus und hepaticus kann nur den
einen Weg verfolgen, den die Chirurgie bei jedem Eiterherde im Organismus
einzuschlagen sich bestrebt: Eröffnung und Säuberung des Eiterherdes, d. h.
in Cholecystotomie, resp. Choledochotomie. Auch dort, wo die Cholangitis
suppurativa mehr im Innern des Leberparenchyms iocalisirt, d. h. ein Leber-
abscess vermuthet werden darf, wird chirurgisches Einschreiten in Frage
kommen. Wo aber eine diffuse, eitrige Entzündung der intrahepatalen Gal-
lengänge vorliegt, dort ist die Therapie eine ausschliesslich symptomatische
i. e. antiseptische {Salol), antipyretische (vielleicht vorzugsweise Phenacetin)
und roborirende.
B) Verengerung und Verschluss der Gallenwege.
Die Ursachen einer Verengerung, beziehungsweise Verschliessung der
Gallenwege können entweder im Lumen derselben gelegen sein oder in der
Wandung derselben oder endlich ausserhalb deren Wand.
Unter die in der Höhlung der Gallenwege befindlichen Hindernisse für
den Gallenabfluss gehören vor Allem die Gallensteine (siehe dieses Capitel)
und die in die Gallenwege eindringenden Parasiten: der Ascaris lumbricoides,
der multiloculäre Leber-(Gallengang-)Echinococcus, welcher durch seinen
primären Sitz in der Gallengangwand und der einfache Leberechinococcus,
welcher durch Einbruch in die Gallengänge — abgesehen von Compression
dieser von aussen — zum ßetentions-Icterus führt, schliesslich das Distoma
hepaticum und lanceolatum.
In die zweite Kategorie von Fällen, jene, bei welchen die stenosirende oder
obstruirende Ursache von der Wandung der Gallengänge selbst ihren Ausgang
nimmt, zählen abgesehen von den bereits besprochenen Entzündungszuständen
der Schleimhaut, zwei verschiedenartige Processe: Die stenosirenden Schwielen-
und Narbenbildungen in der Gallengangwand und die Neubildungen der-
selben. Ist es nämlich im Verlaufe einer länger dauernden katarrhalischen
Cholangitis zu stärkerer Verdickung der Schleimhaut' gekommen oder aber ist
im Gefolge einer katarrhalischen, noch weit mehr einer eitrigen Cholangitis
die Schleimhaut der Gallenwege ihres Epithels verlustig geworden, stellenweise
erodirt oder ulcerirt, dann entstehen einerseits Schwielenbildungen, andererseits
narbige Verengerungen des Gallenganges, oder gegenüberliegende, wunde Stellen
desselben verwachsen vollständig untereinander, so dass seine Lichtung an
dieser Stelle total aufgehoben ist. Es resultiren dauernde Verengerung oder
dauernder Verschluss der Gallenwege.
Unter den Neubildungen der Gallengänge ist es allein das Car-
cinom des Ductus choledochus, welches klinische Bedeutung besitzt. Es pÜegt
in zweierlei Formen aufzutreten als primäres Carcinom in Gestalt eines Zotten-
krebses, als secundäres Carcinom nicht selten in Form einer sciiThösen, die
Gallengangwand infiltrirenden und ihr Lumen obstruirenden Neubildung.
In die dritte Kategorie von Fällen, jene, bei welchen von aussen her ein
Druck oder ein Zug auf den Gallengang statthat, hiedurch Compression oder
Abknickung desselben und infolge davon ein Hemmnis des GallenabÜusses
erzeugt wird, gehören mannigfaltige Erkrankungen, welche sicli an allen in
der Nachbarschaft der grossen Gallengänge gelegenen Organen oder Geweben
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. ■40
706 GALLENWEGE- UND GALLENBLASE-ERKRÄNKUNGEN.
etablireii können oder sich im Inneren der Leber in der Umgebung der
intraliepatalen Gallengänge abspielen.
Reiben sieb zur allerletzten Unterart Tumoren-Bildungen besonders an
der concaven Seite der Leber ein, welcbe aus dieser herauswachsen und zu-
nächst den Ductus hepaticus comprimiren, so gehören unter die als 3. Gruppe
zusammenzufassenden Fälle Schwielenbildung im Bindegewebe der
Porta hepatis: ein Consecutivzustand einer Perihepatitis, welche mederum
von Erkrankungen der Leber wie Cirrhose, von chronischer, allgemeiner, auch
tuberculöser Peritonitis, von in der Nähe der Leberpforte sesshaften, zur cir-
cumscripten productiven Peritonitis führenden Erki-ankungen (z. B. Ulcus ven-
triculi rotunclmn), von Entzündungszuständen der rechten Pleura sich fort-
leiten, in erster Linie aber durch constitutionelle Syphilis bedingt sein kann.
Eine um die grossen Gallenausfiihrungsgänge platzgreifende Schwielenbildung
kann auch als directe Folgeerkrankung einer stattgehabten Entzündung
im Inneren derselben aultreten, da diese die Gallenwand durchsetzt und an
deren Aussenseite zur productiven Entzündung mit nachfolgender constrin-
girender Schwielenbildung Veranlassung gegeben hat.
Hieher sind weiters zu rechnen die bösartigen Neubildungen,
vorwiegend Carcinome, welche entweder vom Duodenum, vom Pankreas-Kopfe
oder vom pylorischen Antheile des Magens ausgehen. Die Carcinome des
Duodenums verlegen direct die Mündung des Ductus choledochus und machen
hiedurch den Gallenabtluss in den Darm unmöglich. Ein Carcinom des Pan-
creaskopfes kann in verschiedener Art zum Stauungs-Icterus Veranlassung
geben: entweder es wuchert unmittelbar an den Ductus choledochus heran
und comprimirt ihn. oder es übergreift auf denselben, durchwuchert ihn und
A^erlegt sein Lumen. Letzteres trifft zu in jenen Fällen, wo der Ductus chole-
dochus in der Substanz des Pancreaskopfes verlauft, ersteres dort, wo er am
Kopfe des Pancreas vorüberzieht, ohne in denselben einzutreten. Ein Pan-
creascarcinom kann aber auch Stauungs-Icterus dadurch herbeiführen,
dass es — histologisch ein Skirrhus — eine Verziehung des Duodenums
und hiedurch eine Abknickung des Ductus choledochus bewirkt. Endlich
kann es direct auf das Duodenum übergreifen und einem Duodenalkrebse
analog zur Verschliessung der Mündung des Gallenausführungsganges Anlass
geben. Auch ein Magencarcinom kann unmittelbar an den Ductus chole-
dochus heranwuchern und seine Lichtung durch Compression von aussen oder
Substitution seiner Wandung und vordringendes AYachsthum ins Innere ver-
engern oder verschliessen. Häufiger aber bewirkt der Krebs des Magen-
Pylorus Piesorptions-Icterus durch Metastasirung in eine periportale Lymph-
drüse oder in Lymphdrüsen des Ligamentum hepato-duodenale, welche ihrerseits
den Ductus choledochus comprimiren. Endlich kann auch eine secundäre
krebsige Infiltration des Netzes bis an den Gallengang andringen, diesen um-
fassen und zusammendrücken.
Wie krebsige ebenso vermag auch in seltenen Fällen eine tuberkulöse
Infiltration des Omentum mechanischen Verschluss des Galleuausführungs-
ganges zu liewirken. Freilich erzeugt Tuberkulose häufiger durch die specifische
Erkrankung der periportalen Lymphdrüsen Compression des Ductus choledochus.
In ähnlicher Weise können auch amyloid geschwellte, periportale Lymph-
drüsen und sollen ebenso lymphosarkomatös erkrankte Drüsen der Leberpforte
Stauungs-Icterus hervorrufen.
Wir hätten noch verhältnismässig seltener Ursache eines Retentions-
Icterus zu gedenken, wie des des truir enden Adenoms des Duodenum
(Zieglee), der Geschwüre im Duodenum, beziehungsweise narbigen
Schrumpfungsprocesse nach solchen, verschiedener Erkrankungen des
Pancreas, welche zur Schwellung desselben führen, so Entzündungen, Blu-
tungen der Pancreascysten, welche in theils acuter, theils mehr chronischer
.GALLENWEGE- UND GALLENBLASE-ERKRANKUNGEN. 707
Weise Compressions-Icterus zu erzeugen vermögen; selten grosser Aneurysmen
der Aorta, Aneurysmen der Art.mesaraicasuperior undderliepatica, aussergewöhn-
liclier Schwellung retroperitonealer Lymphdrüsen, endlich massenhafter An-
sammlung harter Fäkalstofle in den Gedärmen und ausnehmend umfangreicher
Ovarial- und Uterusgeschwülste (auch des schwangeren Uterus).
Soweit sich die pathologische Anatomie nur mit der Schilderung der
bezüglichen Merkmale jeder einzelnen, im Vorstehenden aufgezählten Grund-
krankheit beschäftigt, glauben wir an dieser Stelle eine Besprechung dieser
Verhältnisse übergehen zu dürfen. Wir müssen aber wenige Worte der Betrach-
tung der unmittelbaren Folgezustände eines Verschlusses der Gallen-
ausführungsgänge und zwar eines chronischen Verschlusses widmen. Ist
der Ductus choledochus — nach dem Vorausgegangenen das relativ häufig-
ste Vorkommnis — dauernd unwegsam, so werden die hinter der Ver-
schlussteile gelegenen Gallenwege durch die sich stauende Galle, deren
Production zunächst noch ungestört anhält, hochgradig erweitert, ihre Wan-
dungen werden verdickt. Die consecutive Dilatation der intrahepatalen
Gallengänge setzt eine Vergrösserung der Leber, manchmal auf das Doppelte
ihres ursprünglichen Volums. Den Inhalt der sämmtlichen erweiterten Gallen-
wege bildet zur Zeit reine Galle. Ihr mischt sich in der Folge immer reich-
licheres Secret der Schleimhaut der Gallenwege und aus den Gallenwegegefässen
transsudirtes Serum bei, bis endlich die Galle gänzlich verschwindet und die
in den Gallenwegen stagnirende Flüssigkeit ein vollständig farbloses, klares
oder leicht trübes, etwas schleimiges dünnes Fluidum darstellt, ein Hydrops
viaricm Uliferarum resultirt. Die Leber selbst hat unterdessen vorzüglich durch
den Druck der ad maximum dilatirten Gallengänge, viel weniger durch Schrum-
pfung des inzwischen neugebildeten interlobulären Bindegewebes wiederum an
Umfang abgenommen. Der Schwund ihres Parenchyms und die parenchymatöse
Degeneration desselben bedingt verminderte Gallensecretion, selbst vollstän-
diges Darniederliegen derselben. Nur selten erreicht die Erweiterung der
Gallenwege einen derart hohen Grad, dass eine Berstung derselben erfolgt,
übrigens nur unter Einwirkung äusserer Gewalt oder bei bereits früher lädirter
Gallengangwand. Ruptur intrahepataler Gallengänge setzt dann mehr oder
minder umfängliche Gallenextravasate in der Leber, Ruptur der Gallenaus-
führungsgänge involvirt Austritt von Galle in die Peritonealhöhle und hiedurch
eine meist, jedoch keineswegs bedingungslos letale allgemeine Peritonitis.
Das erste und wichtigste Symptom eines Verschlusses des Ductus chole-
dochus ist der Icterus, welcher, wo jener Verschluss durch lange Zeit meist
bis zum Ende des Patienten währt, sich bis zu den höchsten Graden des
Melasiterus. einer dunkel-olivengrünen Färbung der Haut steigert. Zeichen
gestörter Magenfunction, wie Appetitlosigkeit, Aufstossen, Druckgefühl im
Epigastrium, Symptome abnormer Darmthätigkeit wie Stuhlretardation, starke
Flatulenz begleiten den Icterus. Eine ihm correspondirende Erscheinung ist
die vorhandene Acholie der fettreichen Stühle, die bald von Anbeginn an,
bald erst im Verlaufe der Krankheit ausgesprochen ist; die anfängliche Ver-
grösserung der Leber lässt sich unter Umständen objectiv feststellen, auf die-
selbe beziehen sich die subjectiven Klagen eines Gefühls von Spannung und
Druck im rechten Hypochondrium. Zu den lästigsten Beschwerden kann fast
unerträgliches Hautjucken zählen. Im Weiteren treten Merkzeichen von hä-
morrhagischer Diatiiese auf den Platz: Blutungen aus Zahntieisch, Nase, unter
der Haut, blutig untermengte Stühle. Hat dieser gesammte Zustand mehrere
Wochen oder selbst mehrere Monate angedauert, dann gesellen sich Aeusse-
rungen von allgemeiner Ernährungsstörung hinzu: Der Patient magert ab, die
trockene Haut schilfert sich kleienförmig, es entwickeln sich Oedeme erst der
Knöchel, dann der ganzen unteren Extremitäten, kurz allgemeine Cachexie
befällt das Individuum. Dieser erliegt, falls nicht eine intercurrente Erkran-
45*
708' GALLENWE&E- UXD GALLEXBLASE-ERKEAXKÜXGEN.
kling dem typisclien Ablaufe der Symptomeni'eihe ein vorschnelles Ende setzt,
der Patient nach Monaten, selbst wenigen Jahren, der einige Tage vor dem
Tode nicht selten noch die Zeichen der Cholämie darbietet. Der Kranke ver-
fällt in hochgradige Apathie und Schlafsucht, sein Bewusstsein wii'd getrübt
oder gänzlich umnachtet, Flockenlesen. Delirien, Krämpfe. Singultus. Lähmung
der Sphinkteremnuskeln führen ein tiefes Coma ein. aus dem der Patient
nimmermehr erwacht.
Die Erkennung eines bestehenden Gallengangverschlusses
oder einer b estehenden Gallengangverengerung zählt zu den leicht
lösbaren Problemen der medicinischen Diagnostik. Demgegenüber aber ist
die Ermittlung der jeweilig vorliegenden Ursache des bestehenden Gallengang-
verschlusses, wie aus der reichlichen Zahl der vorhin aufgeführten möglichen
ätiologischen Momente und besonders deren vorstellbar schweren Zugäng-
lichkeit fiü' unsere diagnostischen Behelfe erhellt, unter Umständen eine der
schwierigsten Aufgaben, welche dem Arzte gestellt sein können. AVü' verweisen
bezüglich der genaueren Ergründung der ursächlichen Erkrankung eines be-
stehenden chronischen Stauungs-Icterus auf den Artikel ..Iderus."
Die Prognose eines Verschlusses der Gallenwege wii'd sich begreiflicher-
weise nach der diesem zugrunde liegenden Ursache richten müssen. Die Vorsicht
gebietet in allen Fällen, wo der Icterus erst relativ kurze Zeit und mit nicht
vollkommen durchsichtigen Begleitsymptomen besteht, mit der Vorhersage
möglichst rückzuhalten. Die innere Therapie des chronischen Stauungs-Icterus
kann, die Fälle von chronischem katarrhalischem Icterus und uncomplicüter
Cholelithiasis abgerechnet, zumeist nur eine roborirende und symptomatische sein.
C. Erweiterung der Gallenblase.
Die Gallenblase kann — abgesehen von der Möglichkeit, dass Gallensteine
ihr Lumen ausdehnen, entweder durch gestaute Galle (einfache Ektasie
der Gallenblase) oder durch hydi'opische Flüssigkeit (Hydrops cystidis
feile ae) oder durch Eiter (Empyema cystidis felleae) oder endlich
durch in ihren Hohlraum ergossenes Blut dilatirt sein.
Bluterguss in die Gallenblase gehört zu den seltenen Vorkommnissen
und fühlt, wenn überhaupt, wohl nur zu vorübergehender Vergrösserung der-
selben. Stauungshyperämie der Schleimhaut der Gallenblase. Geschwürsprocesse
derselben oder ulcerirende Xeulnldungen ihrer "Wandung, ein Aneurysma der
Leljerarterie, das in die Gallenblase perforirt (Lebert) oder ein Aneurysma der
Alteria cystica (Chiaei). schliesslich allgemeine hämorrhagische Diathese können
zu solchen Blutungen A'eranlassung geben. Das Blut tritt aus der Gallenblase
durch den Ductus cysticus und choledochus in den Darm ein, es kommt zu
Meläna und ev. Hämatemesis.
Einfache Erweiterung der Gallenblase durch Stagnation von Galle
kommt dort ziu' Entwicklung, wo. sei es dm-ch Steine, sei es durch katarrhalische
Schleimhautschwellung oder Neubildung etc.. fast immer der Ductus chole-
dochus, nm- vorül)ergeliend oder erst seit km-zer Zeit verschlossen ist. Für manche
Fälle scheint auch eine einfache Lähmung der Gallenblasenmuskulatui' als
Ursache einer Ektasie der Gallenblase annehmbar, welche sicher zuweilen
traumatischen Ursprungs ist.
Der isolhte Hydrops der Gallenblase entsteht bei länger dauern-
dem Verschlusse des Ductus cysticus . oder des Blasenhalses meist infolge Ent-
zündung, seltener infolge Einkeilung eines Steines oder durch einen Tumor
als Pvesultat der nunmelir aufgehobenen Gallenzufuhr und der Secretion der
Schleimditisen der Galleiüdasenschleimhaut. sowie besonders einer serösen
Transsudation seitens der Blutgefässe. Der Hydrops cystidis felleae besteht
in Combination mit einem Hydi'ops viarum biliferarum, wo der Ductus chole-
GALLENWEGE- UND GALLENBLASE-ERKRANKUNGEN. 709
dochus schon lange Zeit gänzlicli verstopft und die Gallensecretion der Leber
versiegt ist. (Yergl. oben.)
Auch das Empyem der Gallenblase besteht entweder isolirt als
Ausdruck der alleinigen eitrigen Entzündung der Gallenblasenwand, vorzüglich
bei Gallensteinen in der Blase oder im Gefolge von Typhus und Pneumonie,
oder es besteht als Parallelerscheinung einer Cholangitis suppurativa.
Einfache Erweiterung der Gallenblase, Hydrops und Empyema
cystidis felleae zeichnen sich vor Allem durch eine fühlbare, in ihrer Lage
und Form der Gallenblase entsprechende Geschwulst aus. Sie liegt in der
Flucht der rechten ParaSternallinie im rechten Hypochondrium, erreicht die
Grösse einer Faust, selbst eines Kindskopfes und darüber, so dass sich ihr
unterer Eand bis ins Becken hinein erstreckt. Ihre Consistenz ist prall ela-
stisch, Fluctuation nicht immer erkennbar. Sie zeigt oft breite seitliche
Mobilität und deutliche respiratorische Bewegungen. Verfolgt man ihre seit-
lichen Contouren nach aufwärts, dann führen dieselben, die sich nach oben
einander meist beträchtlich, manchmal bis zu Stieldicke annähern, an und unter den
Unterrand der Leber, der von hier nach beiden Seiten hin sich weiter ab-
tasten lassen kann. Der von Riedel gefundene „zungenförmige Leberfortsatz",
eine durch eine sich ausdehnende und nach abwärts wachsende Gallenblase
ausgezogene dünne Partie von Leberparenchym, welche die vergrösserte
Gallenblase vollständig oder nur theilweise bedecken kann, kann der Palpation
zugänglich und für die Diagnose einer geschwellten Gallenblase werthvoll
werden. Während der Hydrops der Gallenblase zu keinerlei oder höchst ge-
ringen subjectiven Beschwerden (Druckgefühl, Empfindlichkeit der Gallenblasen-
gegend) führt, ist das Empyem der Gallenblase von septischem Fieber, starker
localer Schmerzhaftigkeit, selbst peritonealen Reizsymptomen begleitet, welche
es dem Lebera])scess nahebringen.
Die Diagnose einer einfachen Ektasie der Gallenblase stützt sich auf
die gleichzeitig vorhandenen übrigen Symptome vom Verschluss des Ductus
choledochus, i. e. vom Stauungs-Icterus. Es sei aber erwähnt, dass Icterus
bisweilen auch bei Hydrops cystidis felleae sowie Empyem der Gallenblase be-
obachtet wurde, dadurch erzeugt, dass die mächtig vergrösserte Gallenblase
auf den Ductus choledochus sich auflagerte und ihn comprimiite.
Differentialdiagnose. Eine durch Flüssigkeit in der Gallenblase zu
einer Geschwulst ausgedehnte Gallenblase kann besonders bei bedeutender
Grösse verwechselt werden mit einem Echinococcus der unteren Leberlläche,
einer rechtsseitigen Nierengeschwulst (Hydronephrose) und einer Ovarien-
geschwulst. Sie unterscheidet sich vom Leberechinococcus durch ihre scharfe
Abgrenzbarkeit von der unteren Leberfläche, auf welche sie nicht übergreift
und in die sie nicht eindringt, durch die breitere Basis der Echinococcencyste
und eventuell Hydatidenschwirren. Hydronephrose und Ovariencyste entbehren
— erstere freilich nicht regelmässig — einer respiratorischen Verschieblich-
keit; erstere liegt, bläht man das Colonvom Rectum aus auf, hinter, eine Gal-
lenblasengeschwulst muss meist vor dem Quercolon zu liegen kommen. In
diagnostisch schwierigen Fällen könnte endlich die jedoch nicht ganz ge-
fahrlose Probe punction durch den Nachweis von Cylinderepithelien und
von Spuren von Gallenpigment in der sonst ungefärbten Flüssigkeit die
Diagnose eines Hydrops cystidis felleae sichern. Endlich können wir noch
einer letzten Täuschung, wenn auch selten, unterliegen, der Verwechslung eines
thatsächlich hochgradig erweiterten Ductus choledochus oder hepaticus (durch
Verstopfung meist infolge Gallenstein erzeugt) mit einer irrigerweise vermutheten
Dilatation der Gallenblase. Selbst noch bei einer etwa vorgenommenen Opera-
tion kann ein derartiger Irrthum unterlaufen.
710 GALLENWEGE- UND GALLENBLASE-EKKRANKÜNGEN.
Die Bell an diu ng des Hydrops sowie des Empyems der Gallenblase, welch'
erstere zu einer fast durchwegs guten, letztere zu einer dubiösen oder schlim-
men Prognose berechtigt, gehört in das Gebiet der Gallenblasenchirurgie.
D. Der Krebs der Gallenblase.
Aetiologisch zerfallen die Carcinome der Gallenblase in 2 Gruppen, die
primären und secundären, welch' letztere, theils durch directes Uebergreifen
eines primären Carcinoms der Leber, des Magens, des Peritoneums etc. bedingt,
theils als metastatische Carcinome entwickelt, klinisches Interesse nur insoferne
beanspruchen, als sie zum Verschlusse der Gallenausführungsgänge führen.
Das primäre Carcinom der Gallenblase ist entweder ein Alveolar-
oder ein Zottenkrebs, bald infiltrirt es fast die ganze Blase in ihrer vollen
Wanddicke, so dass diese eine fast faustgrosse, harte Geschwulst darstellen kann,
bald ist es nur an einer mehr minder beschränkten Stelle knotenförmig ent-
wickelt. Als Inhalt der Blase finden sich regelmässig Gallensteine, daneben
seltener reine Galle oder seröses Fluidum, als häufiger ein aus Ptesten von
eingedickter Galle und abgestossenen Portionen des geschwürig zerfallenen
Krebses zusammengesetzter Brei, manchmal — bei secundärer Eiterinfection
— eiteruntermengte oder fast rein eitrige Flüssigkeit. Die Neubildung kann
auf den Ductus cysticus, selbst noch auf den Ductus choledochus sich fort-
setzen, ebenso auch, nachdem sie die ganze Dicke der Gallenblasenwand durch-
setzt hat, auf die Leber, das Duodenum, den Magen, das Colon transversum
oder das Peritoneum übergreifen.
Aus diesen verschiedenartigen Verbreitungsbezirken erklärt sich das ver-
schiedeneklinischeBild, das ein Carcinom der Gallenblase begleiten kann.
Die demselben eigenen Symptome sind meist ziemlich unbestimmter Art, so dass
die Diagnose eines primären Gallenblasenkrebses gewiss grossen Schwierig-
keiten begegnen kann. Anamnestisch wichtig ist vor Allem die Feststellung, dass
das erkrankte Individuum Träger von Gallensteinen ist oder gewesen ist; denn
als Ursache zum wenigsten der überwiegenden Zahl der Fälle von primärem
Gallenblasenkrebse gilt heutzutage wohl ziemlich allgemein vorausgegangene
Ansammlung von Gallensteinen in der Gallenblase, deren fortwährender Eeiz
zu jener atypischen Neubildung Veranlassung gibt. Weil Weiber ungleich
häufiger als Männer von Gallensteinen befallen sind, kommt beim weiblichen
Geschlecht auch öfter Gallenblasenkrebs zur Beobachtung. Auch das Alter
des Patienten fällt in die Wagschale, wenngleich ein Fall von primärem
Gallenblasenkrebs bei einer 20-jährigen Frau zur Beobachtung kam. (Maekham).
Verdauungsbeschwerden, Völle und Druckgefühl im Epigastrium, Stuhl-
retardation gehen meist der Entwicklung eines Gallenblasen carcinoms voran.
Als Tumor wird dasselbe nicht in jedem Falle gefühlt, weil dasselbe nament-
lich bei geringem Umfange und speciell beim Sitze im Blasenhalse durch die
hochgradige hydropische Erweiterung der Gallenblase verdeckt oder bei selbst
totaler Infiltration der Gallenblasenwand gleichwohl unter der Leber verborgen
sein kann. Wo aber ein Carcinom der Gallenblase palpatorisch erkennbar
ist, dort erscheint es hart, rundlich oder oval, manchmal höckerig, respira-
torisch verschieblich, ausnahmslos schmerzhaft. Die Schmerzen können sogar
von Zeit zu Zeit in heftigem Grade exacerbiren, ein Zustand, welcher, wenig-
stens theilweise auf die gleichzeitig in der Blase eingeschlossenen Steine ur-
sächlich zurückzuführen ist. Im Verlaufe der Erkrankung können sich Meläna
oder Hämatemesis einstellen, bedingt durch ulcerativen Zerfall der Neu-
bildung. Symptome von eitriger Cholecystitis und Cholangitis verrathen eine
hinzugetretene Infection durch Eitercoccen. Zeichen von Krebscachexie und
krebsiger Metastasirung in Nacken-, Leisten-, Achsel- oder Hals-Lymph-
drüsen ergänzen das trotz palpablen Tumor meist unklare Symptomenbild,
da dieser häufig genug nicht auf die Gallenblase, sondern auf den Pylorus,
GASTRITIS ACUTA. 711
das Duodenum, das Pancreas oder das Colon transversum bezogen wird. Dieser
Fehler wird umso leichter unterlaufen, wenn, wie vorhin angedeutet, durch
Uebergreifen der carcinomatösen Wucherung auf die Umgebung der Gallen-
blase nun auch Erscheinungen von chronischem Stauungs-Icterus, von Pylorus-
stenose etc., complicirend eintreten.
Wo dieDifferentialdiagnose zwischen einfacher, durch flüssigen Inhalt
erzeugter Gallenblasenectasie oder ein den Blasenhals obstruirendes Carcinom
mit Dilatation der Blase schwankt, dort kann unter Umständen die Probepunc-
tion noch Aufschluss geben: Beimengung von Krebsdetritus, zerfallenen
Zellen, von hämorrhagischer Flüssigkeit oder stark eiweisshaltiger Galle
sprechen für Carcinom.
Die Prognose ist, quoad vitam, eine ungünstige. Nicht unwichtig
aber ist es zu merken, dass Fälle von primärem Krebse der Gallenblase be-
kannt sind, welche erst nach Jahren (4 — 5) zum Tode führten, im Gegen-
satze zum Carcinom des Ductus choledochus, das meist in 5 — 6 Monaten,
nur selten erst nach längstens einem Jahre den letalen Ausgang verursacht.
Die Therapie ist zur Zeit wohl noch eine symptomatische. Es lässt
sich aber, wenigstens für gewisse Fälle, auch beim primären Carcinom der
Gallenblase eine erfolgreiche chirurgische Behandlung (Cholecystedomie)
erhoffen. ortnee.
Gastritis RCUtcl (acuter Magenkatarrh). Unter Gastritis acuta ver-
steht man einen acuten Inflammationszustand der Magenschleimhaut. Theils
nach der besonderen Art der Noxe, theils nach dem eigenartigen Charakter
des entzündlichen Processes hat man 5 verschiedene Arten der acuten Gastritis
unterschieden, und zwar: Gastritis simplex, Gastritis infectiosa, Gastritis phleg-
monosa, Gastritis toxica^ Gastritis parasitaria.
Pathologische Anatomie: Die entzündlichen Erscheinungen bei
der einfachen acuten Gastritis bestehen in einer Ptöthung und Schwellung der
Mucosa, besonders ausgeprägt an der Portio pylorica. Dabei ist die Schleim-
haut mit einem dicken, zähen, durch kleine Blutextravasationen röthlich
gefärbten Schleim bedeckt. An dem Process ist im Wesentlichen die Mucosa
und Submucosa betheiligt, während die anderen Häute kaum Veränderungen
aufweisen. Gelegentlich kann es unter dem Einfluss besonderer Schädlichkeiten
zur Bildung kleiner Erosionen kommen, deren Narben gelegentlich bei Sec-
tionen gefunden werden. Die histologischen Veränderungen beziehen sich
theils auf die Drüsen selbst, theils auf das interstitielle Bindegewebe. Die
Drüsenepithelien sind, wie wir dies aus den experimentellen Untersuchungen von
Ebstein, Sachs, Strauss und Blocq wissen, geschwollen, mit Schleim gefüllt;
hierbei betreffen die Hauptveränderungen nach Ebstein die Hauptzellen, während
die Belegzellen unverändert bleiben. Sachs hat in den Belegzellen eigenartige
Vacuolen beobachtet. Die interstitiellen Veränderungen charakterisiren sich
durch starke Congestion und Infiltration der Lymphzellen. Die erweiterten
Capillaren sind zumal an der Oberfläche mit rothen Blutkörperchen stark an-
gefüllt. Zugleich findet eine starke Emigration weisser Blutkörperchen statt,
welche die superficielle Schicht dicht einschliessen.
Bei der infectiösen Gastritis finden sich dieselben Veränderungen, nur
noch in stärkerem Maasse ausgeprägt. Dasselbe Bild zeigen auch diejenigen
acuten Infectionskrankheiten, die mit einer complicirenden, acuten Gastritis
einhergehen, z. B. Typhus, Pneumonie, Influenza, Cholera u. A.
Bei der phlegmonösen Gastritis kann man zweierlei Formen unter-
scheiden: die circumscripte und die diffuse. Unter 46 Fällen, welche Glax
sammeln konnte, waren beide Formen ungefähr gleich vertheilt. Bei der
diffusen Form ist die Magenwand in verschieden grosser Ausdehnung, oft bis
1 cm geschwollen und verdickt. Die Schwellung betrifft besonders die Sub-
712 GASTRITIS ACUTA.
mucosa, diu'cli welche die Mucosa auf weiten Strecken abgehoben wird. Dabei
wird die Consistenz der genannten Häute weich, im Durchschnitt von einer
gelblichen, sulzigen, oder selbst rein eitrigen Masse infiltrirt. Besonders bei
Druck quillt der Eiter an einzelnen Stellen deutlich hervor. Es kann dann
die Schleimhaut völlig untenninirt und durch mehr oder weniger stark ne-
krotische Partien in kleinerem oder grösserem Umfange durchbrochen werden.
Zuweilen findet der Process am Magen seine Begrenzung, in anderen dringt
er einerseits bis zum Oesophagus, andererseits bis zum Duodenum hin vor. Xicht
selten greift der Process über die Submucosa hinaus und l3richt sich bis zur
Serosa Bahn, wobei es zu allgemeiner Peritonitis kommen kann. Bei der
circumscripten Magenphlegmone, auch Magenabscess genannt, ist der
Process, wie der Name besagt, ein localer, besitzt aber eine ausgesprochene
Tendenz die äusseren Schichten zu durchbrechen. Besonders häufig ist der
Sitz am Pylorus. Zuweilen handelt es sich um mehrere isolirte Abscesse, die
allmälig confluiren. Die Grösse der Abscesse schwankt zwischen Xuss- und
Hühnereigrösse. Die Oefihung des Abscesses kann nach innen (Eitererbrechen)
oder nach aussen (Peritonitis, Bauchwandabscess) erfolgen.
Bei der Gastritis toxica sind die anatomischen Veränderungen je
nach der Art des die Schleimhaut treffenden Giftes verschieden. Bei der
Phosphorvergiftung besteht der Process wesentlich in einer Verfettung der
Epithelien {Gastroadenitis phosphorica, Virchow). Den Hauptantheil hieran
tragen die Hauptzellen und zwar besonders am Pylorustheil. Hierdurch ist
es bedingt, dass die Secretion entweder völlig oder nahezu völlig erlischt.
Kach Oeth ist es zweifelhaft, ob nicht die Veränderungen bei Phosphor- und
Arsenikvergiftung ebenso wie die bei Anämie und Leukämie vorkommenden Ver-
fettungsprocesse den einfachen Degenerationen zuzurechnen sind. Aehnliche Ver-
änderungen wie durch Phosphor und Arsen sah E. Maier übrigens auch bei
Vergiftungen von Kaninchen und Meerschweinchen mit essigsaurem Blei.
Unter den corrosiven Giften kommen einerseits die Mineralsäuren,
andererseits die caustischen Alkalien in Betracht. Den Typus für die ersteren
bilden die Schwefelsäurevergiftungen. Am auffallendsten ist hierbei
eine mächtige Schwellung, besonders der Submucosa, welche ganz mit zum
Theil geronnenem Blute infiltrirt ist und demzufolge ein schwärzlichrothes
Aussehen darbietet. Auf der Oberfläche sieht man theils fetzige, membran-
artige Gebilde, die ihre Textur völlig eingebüsst haben, theils eine dunkel-
braune, von einem Gemisch von Blut und Gewebe herrührende Pulpa. Ueber-
lebt der Kranke die Vergiftung, so entwickeln sich h erde weise eitrige Entzün-
dungen um die nekrotischen Partien, nach deren Abstossung dann feste strang-
artige Narben die Stelle des früheren Gewebes einnehmen. Bei den cau-
stischen Alkalien sind die Läsionen weicher, diffuser und weniger begrenzt
als bei den Säurevergiftungen.
Bei den parasitären Magenaffectionen, über deren Vorkommen erst
sehr spärliche Mittheilungen vorliegen, handelt es sich entweder um Schizo-
myceten, welche in die Magenwand eindringen und dort entzündliche Processe
bedingen oder um Schmarotzer, die sich in der Magenhöhle aufhalten (Dip-
terenlarven, Maden, Fliegenlarven, Regenwürmer u. A.) und meist mit den
Nahrungsmitteln eingeführt werden.
Symptome. Die wichtigsten Symptome der Gastritis simplex
sind: Appetitlosigkeit, Widerwille vor dem Genuss der gewöhnlichen und Vor-
liebe fiü' pikante, saure oder gesalzene Speisen, Würggefühl, Uebelkeit,
Kopfschmerz; den Höhepunkt dieser Erscheinungen stellt das spontane
oder künstlich-inteudirte Erbrechen dar. Mit den Magensymptomen verbmden
sich häufig solche von selten des Darmes: Flatulenz, Kolikschmerzen, Diarrhoeen.
Die Zunge zeigt meist einen dickgrauen Belag, der Pharynx ist geröthet und
geschwollen, es besteht Fötor ex ore. Die Temperatur ist in schwereren
GASTRITIS ACUTA. 713
Fällen erhöht, zeigt aber schon in den nächsten Tagen starke Morgenremis-
sionen. Das Allgemeinbefinden ist mehr oder weniger stark alterirt, der Puls
frequent, hart. Der Durst ist vermehrt, der Urin dunkel, spärlich, stark
sedimentirend.
Das Erbrochene enthält mehr oder weniger grosse Mengen intensiv sauer riechen-
der, in Gährung befindhcher, mit Schleim untermischter Massen ; in der Regel fehlt im Er-
brochenen freie Salzsäure. Bei wiederholtem Erbrechen können den erbrochenen Massen
auch kleine Blutmengen beigemengt sein.
Der Verlauf ist in den uncomplicirten Fällen ein durchaus günstiger,
doch kann die acute Gastritis bei unzweckmässigem Verhalten leicht einen
subacuten oder chronischen Charakter annehmen. In einem Falle beolmchtete
ich im Anschlüsse an acute Gastritis die Entwicklung von Magendilatation.
Diagnose: Acute Gastritis ist bei Erwachsenen leicht diagnosticirbar;
ernstlich ventilirt werden kann nur unter besonders schwierigen Verhältnissen
der Abdominaltyphus, da bei letzterem in seltenen Fällen Milztumor und
Roseola fehlen. In solchen Fällen thut man am besten, Typhus anzu-
nehmen und danach zu handeln. Diagnostisch wichtig ist auch ein etwa
vorhandener Herpes labialis, der beim Abdominaltyphus verschwindend selten
vorkommt.
Die Symptome bei der Gastritis infectiosa sind denen bei der einfachen
Form sehr ähnlich : doch unterscheidet sich erstere durch hohes Fieber, grosse
Prostration, Unruhe, langsame ßeconvalescenz von dem einfachen Magenkatarrh.
Differentialdiagnostisch wird auch hier am häufigsten das etwaige Vorhanden-
sein eines Abdominaltyphus in Frage kommen. Doch fehlt bei der infectiösen
Gastritis Roseola, Milzschwellung, Meteorismus, Bronchitis. Auch der staffei-
förmig ansteigende Fiebertypus wird hierbei vermisst.
Die Symptome bei Gastritis phlegmonosa sind wenig charakteristisch:
in den Vordergrund treten heftige Schmerzen, grosse Prostration, Fieber von
unregelmässigem Charakter, Erbrechen schleimig-galliger Massen, meist auch
Diarrhoe. Nur beim Magenabscess kann man unter besonders günstigen Um-
ständen einen Tumor in der Magengegend fühlen ; bei Durchbruch desselben
nach dem Magencavum kann Eitererbrechen vorkommen. Der Verlauf ist
entweder acut oder chronisch. Die Prognose ist im Ganzen ungünstig,
doch sind in seltenen Fällen auch Heilungen beobachtet (Ditteich. Deininger).
Die Diagnose ist im besten Falle nur eine Wahrscheinlichkeits-
diagnose ; am meisten Chancen bietet noch der Magenabscess, obwohl auch
hier Verwechslungen mit Abscessen der Nachbarschaft des Magens leicht
unterlaufen können.
Differentialdiagnostisch kommen in Betracht: Perigastritis, wie
sie bei Durchbruch eines Ulcus oder Carcinoms eintreten kann. Hier mag die
Anamnese und der übrige Befund einen Fingerzeig für die richtige Diagnose
gewähren. Ferner Leherahscess, hier localisirt sich die Schmerzhaftigkeit
mehr auf die rechte Seite, ausserdem kommen hierbei häufig Schüttelfröste
vor; endlich kann auch acute Pancreatitis vorliegen. Hierbei wird aber stets
Kopfschmerz, Schwindel und galliges Erbrechen beobachtet. Die acute Pan-
creatitis endigt gewöhnlich schon in den ersten 3 — 5 Tagen tödtlich.
Die Symptome bei der toxischen Gastritis sind je nach der Natur des
Giftes verschieden. Doch sind allen Giften die folgenden Erscheinungen ge-
meinsam : Heftige Schmerzen in der Speiseröhre und Magengegend, Erbrechen
von meist blutiger Beschaffenheit, vermehrter Durst, Prostration, Ohnmächten ;
in schweren Fällen erfolgt der Tod in Collaps. Bei günstigem Verlauf können
die Symptome der Gastritis vollkommen schwinden, in schwereren Fällen
bilden sich noch längere Zeit nach der Einwirkung des Giftes Narben im
Bereich des Oesophagus, der Cardia oder am Pylorus, die zu schweren Folge-
erscheinungen führen können. Ausserdem kann totaler Schwund der Drüsen
714 GASTRITIS ACUTA.
der Magenschleimhaut (Ätrophia glandularis ventriculi) als Folgezustand der
Verätzung auftreten. Bei Phosphorvergiftung entwickelt sich fettige Degene-
ration der Magendrüsen.
Bei der Diagnose sind einmal die anamnestischen Angaben zu verwerthen.
Sodann sind die localen Erscheinungen nach der Natur des Giftes verschieden.
So ist z. B. bei Salpetersäurevergiftung der Schorf gelb, bei Kupfer blau, bei
Silber schwärzlich, bei Schwefelsäure missfarbig und dunkelbraun ; bei Phos-
phor hat die Schleimhaut ein milchiges oder bläulich-weisses Aussehen. We-
sentlich erleichtert wird die Diagnose durch etwa vorgefundene Reste des
Giftes und die chemische Untersuchung der erbrochenen Massen.
Bei der Gastritis parasitaria im Gefolge von in den Magen aufgenom-
menen DipterenlarveU; Maden, Fliegenlarven etc. sind die Symptome meist
die der Dyspepsie, d. h. Schmerzen, Uebelkeit; Appetitlosigkeit, eventuell Er-
brechen. Die Diagnose lässt sich nur stellen, falls die betreffenden Ein-
dringlinge im Erbrochenen zum Vorscheine kommen.
Die sogenannten bacillären Magenaffectionen (Gastritis mycotica)
haben bisher nur ein pathologisch-anatomisches Interesse.
Die Therapie der acuten Gastritis in ihren verschiedenen Formen ist
im Ganzen eine exspectative. Mit der Beseitigung der per os aufgenommenen
Schädlichkeiten tritt bald schneller, bald langsamer Restitutio in integrum
ein. Die einzige therapeutische Indication besteht darin, dem Organ möglichst
lange Ruhe zu gönnen. Die auch in Laienkreisen bewährte Hungercur ist
sicherlich das geeignetste Verfahren, einen überangestrengten oder überhaupt
malträtirten Magen wieder in Ordnung zu bringen. In einzelnen Fällen kommt
man mit der exspectativen Methode allerdings nicht aus; es sind dies Fälle,
wo verdorbene, in Zersetzung übergegangene Massen auf dem Naturwege
schwer oder nur theilweise entleert werden. Für die Entleerung nach oben
ist das Äpomorphin, subcutan angewendet (O'l : lO'O, davon V2 Pravas'sche
Spritze) in die Magengegend, falls man ein wirksames Präparat zur Verfügung
hat, das zweckmässigste und einfachste Verfahren. Für die Entleerung nach
unten ist das altbewährte Calomel in nicht zu kleiner Dosis (0-25 — 0"3) allen
übrigen Aperientien vorzuziehen. Besteht umgekehrt starke Diarrhoe, so hüte
man sich, gleich zu den Opiaten zu greifen, man begnüge sich ausser zweck-
entsprechenden diätetischen Anordnungen (Schleimsuppen, Rothwein, Eichel-
cacao, Eichelkaffee, Heidelbeersaft), mit den die Peristaltik beruhigenden TJiees
(Kamillen, Fenchel, Baldrian u. A.). Lässt der Appetit, wie dies gelegentlich
vorkommt, zu wünschen übrig, so kann man denselben durch Darreichung von
Bittermitteln (Condurango, FÄixir cortic. aur., Tinct. Chin. comp., linct. Co-
Jombo, Tinct. Gentian, Tinct. Nuc. vomic. u. A.) anzuregen versuchen. Auch
die Darreichung von Salzsäure (vor den Mahlzeiten 8 — 10 Tr. Äcid. hydro-
chloric. offic.) ist empfehlenswerth. Selbst bei hohem Fieber sind Antipyretica
in den meisten Fällen entbehrlich : im Gegentheil kann man durch unzweck-
mässige antipyretische Eingriffe häufig eine Typhuscurve bis zur Unkenntlich-
keit verwischen. Desgleichen sind Excitantien nur bei ganz adynamischen,
alten Personen indicirt.
Bei der infectiösen Form der Gastritis ist das Ccdomel wiederum
das Hauptmittel. — Die Gastritis phlegmonosa behandelt man wie eine
acute Peritonitis, mit Eisblase, grossen Dosen Opium (O'Oö und darüber, 2 — 3-
stiindlich) und Excitantien. Beim Magenabscess ist ein chirurgischer Eingriff
unbedingt dem verhängnisvollen Abwarten vorzuziehen.
Bei der toxischen Gastritis kommt es zunächst darauf an, ob corro-
sive Gifte eingewirkt haben, und welcher Natur sie sind. Wo ätzende Säuren
oder Aetzalkalien eingewirkt haben, suchen wir im ersteren Falle durch anta-
cide Mittel (Magnesia usta, Calcaria carbonica in Milch oder mit Wasser), im
zweiten durch Säuren (Citronensäure, Essigsäure u. a.) zu neutralisiren. Da-
GASTRITIS CHRONICA. 715
neben wird Eis äusserlich und innerlich und Morphium (am besten subcutan)
angewendet. Bei Aetz giften ist die Anwendung des Magenschlauches wegen
der damit verbundenen Gefahren contraindicirt, auch wohl ohne wesentlichen
Nutzen. Bei anderen Giften dagegen (PhosphoVy Nitroheuzol, CyanJcalium,
Arsen, Alkohol u. A.) sind Magenausspülungen angebracht. Häufig bleiben,
wie bereits oben erwähnt, nach Einwirkung von Giften schwere Folgeerschei-
nungen zurück (Oesophagus und Cardiastricturen, Stenosen des Pylorus, Atro-
phie und Verfettung der Magenmucosa), die eine besondere an den betreffen-
den Stellen zu erörternde Behandlung erfordern.
Bei der Gastritis parasitaria dürfte man, falls die Diagnose fest-
steht oder wahrscheinlich ist, durch Magenausspülungei], im Nothfall auch
durch ein schnell und sicher wirkendes Brechmittel stets zum Ziele kommen.
Boas.
Gastritis chronica, Catarrlms ventricuU chronicus, chronischer Magen-
katarrh. Der Krankheitsbegriff „chronischer Magenkatarrh" ist trotz der
grossen Fortschritte der Magenpathologie noch vielen Schwankungen unter-
worfen. Einzelne verstehen darunter das Krankheitsbild der früher sogenannten
chronischen Dyspepsie, andere nehmen verschiedene Formen der Gastritis an
(Gastritis acida, mucosa, glandularis, atrophicans u. A.). Es fehlt hier offenbar
noch an einer Controle der klinischen Bilder durch entsprechende nekroptische
Befunde: ohne die letzteren dürfte eine allgemein befriedigende Darlegung
der Klinik der chronischen Gastritis kaum möglich sein. Die folgende Dar-
stellung spiegelt den augenblicklichen Stand der Frage wieder, mit dem der
Verfasser seine eigenen, langjährigen Erfahrungen verflochten hat. Was das
Krankheitsbild der chronischen Gastritis durch letztere an Schematismus ver-
liert, dürfte es an Natürlichkeit und Klarheit gewinnen.
Wir schicken voraus, dass klinisch nur die äussersten Stadien der chro-
nischen Gastritis zu unterscheiden sind, was vorher liegt, ist im Allgemeinen
so w^enig charakteristisch, dass es für die allerverschiedensten chronischen
Magenaffectionen — • functionelle und organische — mit gleichem Recht zu-
trifft. Nur unter besonders günstigen Verhältnissen geht es an, eine be-
ginnende chronische Gastritis schon in ihren Anfangsstadien zu erkennen.
Aus derartigen Beobachtungen scheint hervorzugehen, dass die ersten Anfänge
der chronischen Gastritis sich in gesteigerter Secretionsthätigkeit des Drüsen-
apparates äussern, denen allmälig Ermüdungszustände, schliesslich absolute
Secretionsuntüchtigkeit folgen. Diesen Verlauf zeigen indessen nur die idio-
pathischen Formen, die secundären Gastritiden sind, wie es scheint, von Anfang
an durch Secretionsinsufficienz ausgezeichnet.
Actio logisch ist zu erwähnen, dass die primäre, chronische Gastritis
sich entweder aus einer acuten Gastritis oder im Gefolge chronischer dige-
stiver Insulte, besonders Nicotin-, Alkohol-, Coffein-, Thein-Abusus ent-
wickeln kann. Hierbei bilden schlechtes Gebiss, Unsauberkeit der Mund-
höhle, schnelles, hastiges, unzweckmässig temperirtes Essen und Trinken mehr
oder weniger wichtige prädisponirende Ursachen. Bemerkenswerth erscheint
es, dass eine gewisse physiologische Gastritis in höherem Alter vorzukommen
scheint, übrigens ohne nothwendigerweise zu Störungen zu führen.
Pathologische Anatomie. Das eigentliche katarrhalische Element tritt bei der
chronischen Gastritis im Gegensatz zu den mehr productiven Texturvenänderungen in den
Hintergrund. Es ist hierbei schwierig, die verschiedenen Arten derselben zu trennen, da
zwischen denselben mannigfache Uebergänge vorkommen. Die einzelnen Veränderungen
betreffen nun theils das Öberfiächenepithel, theils die Drüsen, theils das interstitielle
Gewebe. Der die Oberfläche bedeckende Schleim ist reich an zelligen Beimengungen; die Zellen
bestehen theils aus umgewandelten Epithel- und Drüsenzellen, theils aus Leucocyten, häufig
bietet die Schleimhaut eine schiefergraue Pigmehtirung dar, von alten capillären Blutungen
herrührend. In Fällen von Stauungskatarrhen kann die Farbe der Magenschleimhaut mehr
dunkel- bis violettroth sein. Die Veränderungen in den Drüsen sind die Folge der inter-
716 GASTRITIS CHRONICA.
glandulären entzündlichen Infiltration: durch diese werden die Drüsen compriniirt und
erfahren hierdurch eine unregelmässige Gestalt: Verästelung, Schlängelung, Vergrösserung,
selbst wirkliche Wucherung. Wo die Drüsen in Folge von Secretstauung anschwellen,
erscheinen sie schon makrosiiopisch als kleinste Körnchen (granula). Orth bezeichnet daher
diese Form der Gastritis als Gastritis granulosa. Nimmt die interstitielle Wucherung noch
grössere Dimensionen an, so zeigen sich als Folge der Drüsenabschnürungen wirkliche
l^olypenartige Wucherungen {Gastritis 'polyposa). Wo diese Verhältnisse nur zur Bildung
kleiner Wärzchen vorgeschritten ist, bezeichnet man den Zustand als Etat mamelonnee
(mamelon = Brustwarze). Zuweilen sieht man gleichfalls als Folge der Abschnürungen
schon mit blossem Auge kleine Cystchen in Gestalt feinster, heller Bläschen. Schliesslich
kann es auch zu wirklichen adenomatösen Polypenbildungen kommen, wodurch schon das
Grenzgebiet zwischen Wucherungen und wirklichen Neubildungen betreten wird. Aus
der einfachen interstitiellen Gastritis kann sich unter Umwandlung des interglandulären
Gewebes in schrumpfendes eine erhebliche Verdünnung der Schleimhaut, eine Atrophie
der Drüsen entwickeln. Hieraus kann nun, indem derselbe Process auch die übrigen
Häute umfasst, eine Verdünnung der Gesammtmagenwand resultiren, oder es kann umge-
kehrt aus der Degeneration der drüsigen Elemente eine Verdickung und Wucherung des
Bindegewebes in den äusseren Schichten Statt haben, wodurch die Magenwand in toto ver-
dickt, das Magencavum mehr oder weniger verkleinert erscheint. Man hat diese Form der
Gastritis nach dem Vorgange der Franzosen als Sclerose der Magenschleimhaut bezeichnet.
Besonders ausgesprochen kann die Sclerose am Pylorusmagen sein und hierdurch Stenose-
erscheinungen hervorrufen. In einer weiteren Reihe von Fällen tritt die Veränderung an
den Drüsenepithelzellen so imponirend hervor, dass man berechtigt ist, von einer Gastritis
parenchymatosa {Gastritis glandularis, Gastradeiiitis zu sprechen. Hierbei ist die ganze
Schleimhaut geschwollen, grau bis graugelb. Mikroskopisch erscheinen die Zellen gekörnt
und vergrössert; die Körnung kann schliesslich ganz den Charakter der fettigen Degene-
ration annehmen. Besonders ausgesprochen sind diese Veränderungen, die sich dann auch
makroskopisch schon durch entsprechende trüb gelbliche Färbung auszeichnen, bei den
Gastritiden im Gefolge von Typhus-, Pyämie, Pocken, Phosphor- und Arsenikvergiftung.
Symptomatologie: Der Symptomencomplex der clironischen Gastritis
ist je nach den Stadien, um die es sich dabei handelt, verschieden: je
weiter vorgerückt, desto prägnanter; je jünger der Process, desto unklarer die
Erscheinungen. Die ausgeprägte, typische, vorgeschrittene Form der Gastritis
ist charakterisirt durch den schleppenden protahirten Verlauf, durch Appetit-
störungen und Anomalien der Verdauung, die eine ausführliche Besprechung
erheischen. Der Appetit braucht nicht immer gestört zu sein, ist aber doch
nicht normal, er zeigt Launen, gewisse perverse Richtungen, speciell ist er
auf pikante, bittere, salzige Speisen gerichtet.
Die eigentlichen digestiven Störungen bestehen in Druck und Völle nach
dem Essen, Aufstossen von Luft, Wasserzusammenlaufen im Munde, Uebelkeit,
Brechneigung und wirkliches Erbrechen. Diese Symptome stellen zugleich eine
Art Scala dar, die nicht immer durchlaufen zu werden braucht, wenngleich
Andeutungen der letztgenannten Erscheinungen fast immer vorhanden sind.
Hierbei hängt der Grad der Beschwerden, wie die Kranken selbst angeben, in
hohem Maasse von der Quantität und Qualität der Ingesta ab : Suppen, über-
haupt Flüssigkeiten rufen die genannten abnormen Sensationen in viel gerin-
gerem Grade hervor als feste, schwer zerlegbare Substanzen ; unter letzteren
werden Kohlenhydrate in der Regel besser vertragen als Eiweisskörper.
Kommt es im Verlaufe der Verdauung zum Erbrechen, so stellt dasselbe
gewissermaassen den Höhepunkt der Beschwerden dar : mit dem Eintritt des-
selben hören die Beschwerden ganz oder doch zeitweilig auf. Das Erbrochene
selbst ist charakterisirt durch seine geringe Menge, durch die Beimengung
von Schleim, durch den Gehalt an festen unverdauten Substanzen. Die ge-
nauere Beschreibung des Erbrochenen fällt mit der des Mageninhaltes zu-
sammen. Die Stuhlgänge bei chronischer Gastritis zeigen ein wechselndes
Verhalten: meist besteht Verstopfung leichteren Grades, doch kann auch
Diarrhoe vorhanden sein oder es können beide Zustände mit einander alter-
niren.
Die physikalischen Z e i c h e n bei der chronischen Gastritis sind wenig
ausgeprägt: es besteht leichte Druckempfindlichkeit der Magengegend, mehr
oder weniger belegte Zunge: das. ist häutig Alles.
GASTRITIS CHRONICA. 717
Wichtige Anhaltspunkte dagegen gewährt die Untersuchung des Magen-
inhaltes, ohne die die Diagnose Gastritis chronica einfach unmöglich ist.
Der Mageninhalt ergibt ähnlich wie das Erbrochene die Zeichen ungenügen-
der oder gänzlich fehlender secretorischer Thätigkeit (H Cl-Mangel), bei völlig
erhaltener motorischer Leistung. In den höchsten vorgeschrittensten Stadien
der Gastritis sieht der Mageninhalt nach Probefrühstück so aus, als ob Semmel
längere Zeit in Wasser gelegen hätte {Gastritis atrophicans). In anderen
Fällen prävalirt der Schleimgehalt — man spricht dann von Gastritis mucosa
8. mucipara. Allen diesen Krankheitsformen gemeinsam ist der
Mangel oder Schwund an freier Salzsäure. In den äussersten, irre-
perablen Stadien ist neben der freien auch die an Eiweisskörper gebundene
Salzsäure geschwunden, desgleichen weisen die Verdauungsproben ein mehr
oder weniger erhebliches Delicit an Enzymen (Pepsinogen, Lahzymogen) auf.
Diagnose und D ifferentialdiagnose: Für die Diagnose maassgebend
sind: die Aetiologie, der Verlauf, die im Vorhergehenden genannten subjectiven
und objectiven Zeichen. Aetiologisch ist besonders der Missbrauch von Alkohol,
Nicotin, bei Frauen besonders der Abführmittel von Wichtigkeit; oft schliesst
sich, wie bereits oben erwähnt, eine chronische Gastritis an eine einzige oder
wiederholte acute Gastritis an.
Der Verlauf ist schleichend, von geringfügiger Höhe allmälig zu dem
vollentwickelten Krankheitsbilde aufsteigend. Von den subjectiven Zeichen
sind: der Appetitmangel oder perverse Appetit, der Druck, besonders nach
reicher Fleischmahlzeit, die Uebelkeit, endlich das Erbrechen mit seinem eigen-
artigen oben geschilderten Typus die wichtigsten. Von objectiven Zeichen kommt,
wie erwähnt, in erster Reihe die Mageninhaltsuntersuchung in Betracht, dessen
Beschaffenheit nicht allein das Bestehen einer Gastritis überhaupt, sondern
häufig selbst die Form, bezw. das Stadium der Krankheit zu erkennen gestattet.
Differentialdiagnostisch kommen in Betracht: Magenneurosen
und Magencarcinom. Die Unterscheidung von Magenneurosen und Magen-
katarrh ist umso schwieriger, als sämmtliche subjectiven und objectiven Symp-
tome bei beiden Affectionen durchaus deutlich sein können. Die einzigen, zur
Unterscheidung verwerthbaren Anhaltspunkte bilden einmal der Umstand, das
die Magenneurosen und speciell die nervöse Dyspepsie einen springenden
Charakter zeigen, während bei chronischer Gastritis die Beschw^erden, von kurzen
Unterbrechungen abgesehen ein stationäres Verhalten aufweisen. Ferner bietet die
Mageninhaltsuntersuchung wichtige Anhaltspunkte: bei Magenneurosen pflegt
der Chemismus entweder normal oder schwankend zu sein, fehlt dennoch Salz-
säure, so sind doch in der Regel Enzyme vorhanden. Die Differentialdiagnose
zwischen Gastritis chronica und Magencarcinom kommt in Betracht, wo pro-
gressive Gewichtsabnahme mit dyspeptischen Beschwerden einhergeht und ein
Tumor fehlt. Für Carcinom spricht ein plötzlicher Beginn inmitten völliger
Magengesundheit, ferner der Mageninhaltsbefund. Bei Magencarcinom, na-
mentlich dem des Pylorus und der kleinen Curvatur kommt es häutig schon
in frühen Stadien zu ausgeprägten mechanischen Störungen mit Stagnation
der Ingesta. Ist letztere vorhanden, so tritt in der Regel intensive Milcli-
säureproduction auf, die nach meinen Untersuchungen bei keinem anderen
chronischen Leiden in irgendwie vergleichbarer Menge beobachtet wird.
Therapi e: Bei der Therapie der chronischen Gastritis hat man zunächst
zu unterscheiden, ob ein idiopathischer oder secundärer Process vorliegt. Im
letzteren Falle handelt es sich zunächst darum, die ursächlich zu Grunde
liegenden Processe z. B. bei Stauungszuständen im Pfortaderkreislauf in Folge
eines Vitium cordis dieses letztere, bei Stauungskatarrh in Folge von Leber-
cirrhose das Leberleiden passend zu behandeln. Es liegt klar auf der Hand,
dass diese theoretisch durchaus berechtigte Indication in praxi grossen
718 GASTRITIS CHRONICA.
Schwierigkeiten begegnet, so dass man auch in diesen Fällen die complicirende
Gastritis meist symptomatisch zu behandeln gezwungen sein wird.
Für die Therapie der idiopathischen, chronischen Gastritis kommen in
Betracht: passende Diät, Mineralwassercuren, die medikamentöse Behandlung
und endlich Magenausspülungen.
Die Diät ist je nach dem Stadium der Krankheit verschieden. Bei noch
nicht sehr vorgeschrittenen Fällen mit leidlich erhaltener Magensaftsecretion
sind im Ganzen eingreifende diätetische Maassnahmen nicht nothwendig. Man
muss nur dem Patienten häufige, kleine, entsprechend gewürzte Nahrungsmittel
gestatten, darunter die leichteren Gemüsearten, namentlich solche, die in Püree-
form überzuführen sind. Da die peptische Kraft des Magens schon in frühen
Stadien zu leiden beginnt, thut man gut, die Eiweisskost in möglichst vorsich-
tiger Form zu verordnen, also Geflügel, Fisch, Kalbfleisch, Wild, Kalbshirn,
Kalbsmilch u. A. Eine möglichst ausgiebige mechanische Zerkleinerung ist
auch hier zweckentsprechend. Für die chronische Gastritis passen auch die
häufig missbräuchlich verordneten Suppen: Mehl-, Gries-, Ptcis-, Tapioca-, Mon-
daminsuppen werden ebenso gern genossen als gut vertragen. Als schonende
und angemessene Kost ist hier auch die Milch in ihren verschiedenen Zube-
reitungsformen (Buttermilch, dicke Milch, Kefir) zu empfehlen, vorausgesetzt,
dass sie subjectiv gut vertragen wird, worüber ein Vorversuch entscheiden
muss. Auch die verschiedenen Pepton- oder richtiger Albumosepräparate
werden, namentlich als Zusätze zu Fleischbrühe und anderen Suppen gern
genommen und gut vertragen. In weiter vorgeschrittenen Stadien, bei gänz-
lichem Fehlen der freien Salzsäure im Mageninhalt wird man mit der Eiweiss-
darreichung noch vorsichtiger sein müssen; aber auch hier erweisen sich die
eiweissreichen Kohlenhydrate: Reis, Gries in den verschiedensten Zubereitungs-
formen, dergleichen Gemüse (Spinat, Linsen, Erbsen, Bohnen), ebenfalls durch-
passirt, am geeignetsten. Daneben ist gut gebackenes Weissbrod, Zwieback,
Cakes, gelegentlich auch eine feine Schnitte Grahambrod recht empfehlens-
werth. In diesen vorgeschrittenen Fällen ist Milch in Gestalt einer Cur wenig
zweckmässig: Das Casein der Milch wird im Magen nicht gefällt und darum
auch nicht peptonisirt, häufig erfolgt überdies leicht bei Milchgenuss Butter-
säuregährung. — Bei vorhandener Obstipation gelingt es leicht den Stuhl
durch Einschiebung aperitiv wirkender Nahrungsmittel, z. B. Honig, Milch-
zucker, Fruchtzucker, Compots und Marmelade, Buttermilch, Kefir u. A. zu
regeln. Bei bestehender Diarrhoe kommt man ebenso mit adstringirenden
Substanzen, wie sie das Haus bietet, Heidelbeersaft oder Heidelbeerwein,
Eichelkaffee oder Cacao, Hammelfleischsuppen (mit schleimigen Zusätzen), Reis
u. A. völlig aus. Jede zu active Therapie ist unter diesen Umständen von
Uebel, das Einfachste ist hier das passendste.
Die Mineral was Serbehandlung, die bei der chronischen Gastritis
in den passenden Stadien von grosser Bedeutung ist, hat den Zweck, einmal
den Appetit anzuregen, sodann den Magen von etwa vorhandenem Schleim
zu befreien. Mit gutem Grunde wählt man daher als passendste Zeit die im
nüchternen Zustande. WelcheQuellensindzu wählen? Wir können einige
sofort ausschliessen: das ^nd Bitterwässer, da dieselben viel zu stark reizend
auf die Magen- und Darmschleimhaut wirken. Dagegen kommen sowohl die
schwachen Glaubersalzwässer in massigen Dosen, als auch die Kochsalzwässer
und endlich auch die Säuerlinge in Betracht. Die ersteren passen in den nicht
vorgeschrittenen Fällen, desgleichen auch die Säuerlinge: sie wirken in kleinen
Dosen stimulirend auf die Drüsenthätigkeit und gleichzeitig schleimlösend.
Ob sie auch die Appetenz erhöhen, erscheint mir fraglich. Letzteres ist
fast ausnahmslos bei Kochsalzwasserdarreichung der Fall, die in allen Fällen
günstig einwirkt. Inwieweit hieran und an der Wirkung der Glaubersalz-
wässer und Säuerlinge der COg -Gehalt participirt, muss dahingestellt bleiben:
GASTRITIS CHRONICA. 719
jedenfalls kann ein unterstützender stimulirender Effect derselben nicht ohne
Weiteres in Abrede gestellt werden.
Aus diesen Betrachtungen würde sich als praktische Consequenz das Folgende
ergeben: In leichteren, frischeren Fällen von chronischer Gastritis und ohne
Appetitstörung eignen sich die Glaubersalzwässer, in erster Reihe das unüber-
treffliche Karlshader Thermahvdsser^ in zweiter auch Marienbad (speciell bei
gleichzeitigen Stauungen im Pfortaderkreislauf, Fettleber u. A.), Tarasp (bei
Prävaliren nervöser Symptome, sitzender Lebensweise). Desgleichen würde
der Gebrauch der Thermalwässer von Vicky^ Neuenahr, Ems zu empfehlen
sein. Als Versandtwässer stehen uns eine grosse Zahl mehr oder weniger
kräftiger Säuerlinge zur Verfügung: hierzu gehören ausser den schon ge-
nannten (gleichfalls zur Versendung kommenden): Bilin, Eau de Vals, Giess-
hübel, Krondorf, Fachingen^ Salvator, Fellatlialquelle u. A. Alle diese "Wässer
werden am besten kurz vor dem Essen (nicht während der Mahlzeiten!) ge-
reicht. Auch muss ein Uebermaass derselben möglichst vermieden werden.
Für alle Stadien der chronischen Gastritis passen die Kochsalzwässer (Kis-
singen, Wiesbaden^ Homburg, Bourbonne-les Bains, Soden, Älso-Sebes u. A.).
Der Effect in den Anfangsstadien ist meinen Erfahrungen nach insofern ein
direct curativer, als die Salzsäureabscheidung sehr bald nach dem Gebrauch
der betreffenden Wässer bis zur normalen Grösse gesteigert wird und Hand
in Hand damit der Appetit zunimmt, die Verdauungsbeschwerden, namentlich
der lästige Druck und das Aufstossen schwinden. In den vorgeschritteneren
Stadien wird eine wahrnehmbare Beeinflussung der Magenschleimhaut nicht
mehr beobachtet, doch werden die subjectiven Symptome auch hier wesent-
lich gebessert. In der ärmeren Praxis kann man den Mineralwässern zweck-
mässig die jetzt fabriksmässig dargestellten Salze (SANDOw'sche Salze), welche
die Hauptbestandtheile der genannten Mineralwässer enthalten, substituiren.
Die medicamentöse Behandlung ist in vielen Fällen entbehrlich,
ja meiner Meinung nach meist schädlich. Namentlich muss ich auch hier
gegen die unzweckmässige Darreichung scharfer Abführmittel, welche den Ka-
tarrh direct steigern können, energisch Einspruch erheben. Durch letztere
wird das Princip der Schonung, das in erster Reihe als therapeutischer
Factor in Betracht kommt, in einer für den Kranken schädlichen Weise durchbro-
chen. Ausser mit den Abführmitteln wird auch wohl theils mit, theils ohne
ärztliches Placet mit den Bittermitteln viel Unfug getrieben. Alle die viel-
gepriesenen Antidyspeptica wirken gelegentlich nach Wunsch — aber auch
hier nur im Verein mit entsprechender Diät, so dass ihr Einfluss schlechter-
dings kaum sicher zu bestimmen ist. Jedoch wird man mit vorsichtiger und
nicht zu lange ausgesponnener Darreichung der Bittermittel wenigstens keinen
Schaden sehen. Ich empfehle hierzu die Condurangojyräjjarate, das Colombo
(besonders bei Neigung zu Diarrhöen), die Nux vomica, und die bekannten
„bitteren Tropfen" {Tind. Chin. comp. Elixir.aur. comp., Tinct.Gentian.u. Ä.). Da-
gegen möchte ich das Kreosot für diese; Fälle, wenn überhaupt, nur in sehr
vorsichtigen Dosen empfehlen. Neben diesen wird theils als gleichfalls appetit-
steigerndes, theils als stimulirendes Mittel seit der Entdeckung der Salzsäure
als specifisches Drüsensecret, das Äcid. hydrochloricum in Dosen von 5 — 10
Tropfen, von einigen Autoren (Ev^^ald u. A.) sogar bis 50—60 Tropfen gereicht.
Nach den Untersuchungen von Mintz und Reichmann soll die Salzsäure,
anhaltend gebraucht, thatsächlich die mangelhaft thätige Drüsensecretion acti-
viren. Das mag für jene Fälle gelten, wo die Gastritis noch nicht die höchsten
Grade erreicht hat: in diesen erzielt man aber durch eine rein diätetische
Behandlung verbunden mit entsprechenden Mineralwassercuren dieselben
Effecte; für die Fälle von Gastritis mit ausgedehntem Enzymschwund muss ich
eine derartige Wirkung dagegen durchaus bestreiten. In den geeigneten Fäl-
len reicht man die Salzsäure am besten vor den Mahlzeiten. Dieselbe stimu-
720
GASTEOSKOPIE UND GASTRODIÄPHANOSKOPIE.
Gastroskop von liEiTEE.
lii^ende Wirkung wird aber umgekehrt auch den Alka-
lien in kleinen Dosen zugeschrieben, ^Yofür vollgiltige
Experimente aus der jüngsten Zeit von du Mesxil,
vorliegen. Auch hier reicht man dieselben CNatrium,
Kalimn bicarbo7iic. 0'2o — O'o) vor den Mahlzeiten.
Ein symptomatisch vortreffliches Mittel ist das JFan-
creaspulrer, falls es in wirksamer Form zu haben
ist. Bekanntlich wird das wirksame Ferment des Pan-
creas, das Pancreatin, bei Gegenwart freier Säure
zerstört: bei der chronischen Gastritis, zumal in spä-
teren Stadien und Fehlen freier Salzsäure entfaltet es
aber, wie Untersuchungen von PiEichmaxx u. A. erge-
ben haben, eine exquisit peptische Wii'kung,
Magenausspülungen bei chi'onischer Gastri-
tis sind nur in jenen Fällen indicirt, wo nachweislich
eine übermässige Production von Schleim das Heran-
treten der Yerdauungssäfte an die Ingesta hindert.
Die Ausspülungen werden am besten Morgens bei
leerem Magen vorgenommen. Dem Spülwasser wird
zweckmässig etwas Kochsah, Natriumhicarhonat f0"5 —
l^/o-igj, oder Kalkwasser zugesetzt. boas.
Gastroskopie und Gastrodiaphanoskopie.
Die Gastro skopie verfolgt das Ziel die Magenhöhle
direct zu beleuchten, die Gastrodiaphanoskopie oder
kürzer auch Gastrodiaphanie genannt, hat die Auf-
gabe den Magen zu durchleuchten und hierdurch
seine Lage und Grösse sichtbar zu machen.
Der Apparat für die Gastroskopie ist von
dem "Wiener Mechaniker J. Leiter construirt, die Me-
thodik der Gastroskopie und Oesopha-
goskopie ist von J. jMjkulicz auf Grund
zahlreicher Versuche an Leichen und
am Leben begründet.
Das LErrER'sche Gastroskop (s.
Fig. Ij besteht aus einem 57 c/w langen,
stumpfwinklig abgebogenen, 16 mm im
Diu'chmesser haltenden Metallrohr R,
welches zum leichteren Hinuntergleiten
an seinem visceralen Ende mit einer
konischen, sanft_ abgerundeten Kuppe
G versehen ist. Diese zum Abschrauben
eingerichtete Kuppe besitzt ein mit einer
Bergkristallplatte gedecktes Fenster F
zum Durchtritt der Strahlen der Mig-
non-Lampe La. Die Ausleitungen endi-
gen am Ocularende des Instrumentes
in die Batterieklemmen Le Le. Die
Contactvorrichtung C dient wie bei den
übrigen Apparaten zum Schliessen und
Oeöhen des Stromes. Die optische Ein-
richtung im Innern des Instrumentes ist
gleichfalls aus der Fig. 1 ersichtlich.
Die Lichtstrahlen des Bildes der be-
leuchteten Partie der Magenschleimhaut
GASTROSKOPIE UND GASTRODIAPHANOSKOPIE. 721
werden vom ersten Prisma P auf die beiden Objectivlinsen L L des duiTli
Punktlinien im Innern des Rohres Pt ersichtlich gemachten terrestrischen
Fernrohres geleitet, passiren im Knickungswinkel des Instrumentes das
zweite Prisma P, gehen sodann durch die Sammellinse im Vordertheil des
Piohres, die das ursprüngliche Bild wieder aufrecht stellt und es zugleich
nach vorn projicirt, wo es durch die im Trichter sichtbare Ocularlinse L
betrachtet werden kann. Dieses terrestrische Fernrohr ist nicht fest mit
dem Instrumente verbunden, sondern zum Herausziehen eingerichtet; zu
diesem Zwecke besitzt es zwei Gelenke und in der Gegend des ersten Prismas
eine federnde Spange. Diese Anordnung ermöglicht es, mit einem Blicke eine
mehr als handtellergrosse Partie der Magenschleimhaut zu überschauen. Mit
dem Instrumente ist ein Doppelgebläse verbunden, um den Magen vor der
Besichtigung mit Luft zu füllen. Zum Einleiten der Luft dienen die Sperr-
hähne M und K, bei V kann die Luft wieder aus dem Magen entweichen.
Für kürzere Untersuchung genügt die genannte Anordnung, für längere ist
aber eine Kühlvorrichtung nothwendig, die in verschiedener Weise angebracht
werden kann. Das genannte Gastroskop dient zur Besichtigung des Pylorus
und dessen Umgebung ; für die Inspection des Fundus und der übrigen Magen-
partien bedarf es eines zweiten Instrumentes, das sich von dem geschilderten
nur dadmxh unterscheidet; dass es das Fenster und das Aufnahmeprisma an
der Hinter-, beziehungsweise Unterseite des Schnabels hat.
Für die gastroskopische Untersuchung muss der Magen völlig
leer sein, der Einführung des Instrumentes muss eine vorherige, sorgfältige
Magenspülung vorangehen, bis das Waschwasser klar abfliesst. Der Kranke
wird in rechte oder linke Seitenlage gebracht mit stark nach rückwärts abge-
bogenem Kopfe und etwas tiefer gestelltem Gesichte. Sodann bekommt der
Kranke eine volle Spritze einer 4'Vo-igen Morphiumlösung, bei Kindern oder
schwächlichen Personen entsprechend weniger. Sodann erfolgt die letzte Aus-
spülung des Magens. Die Einführung des Gastroskopes dürfte jetzt zweck-
mässig unter ausgiebiger Cocainanästhesie des Pharynx und Oesophagus
geschehen müssen. Die Technik der Einführung ist im Ganzen die der Sonden-
application, doch macht die gebogene Beschaffenheit des Instrumentes gelegent-
lich Schwierigkeiten. Jedenfalls erfordert die Handhabung des Gastroskopes
grosse Vorsicht. Nach der Einführung des Instrumentes wird vorsichtig Luft
in den Magen gepumpt. Da durch den Druck des Instrumentes erhöhte
Speichelsecretion angeregt wird, muss der Kopf und Hals des zu L^ntersuchen-
den etwas über den Kopfkissenrand gelagert werden, damit der Speichel un-
gehindert abfliessen kann. Jetzt kann die Betrachtung der Magenwand beginnen.
Durch vorsichtiges Vor- und Rückwärtsschieben, durch Drehungen und seit-
liche Verschiebungen können nach und nach sämmtliche Partien des Magens
dem Blick zugänglich gemacht werden. In etwa 20 — 25 Minuten kann bei
günstigem Verlauf der Untersuchung die gastroskopische Sitzung beendigt sein.
Die Resultate der Gastroskopie sind im Ganzen noch recht spär-
lich und beziehen sich ausschliesslich auf die Beobachtungen von Mikulk'z
und OsEß. Unter physiologischen Verhältnissen fanden die genannten Autoren
die Magenschleimhaut roth, und zwar viel röther als die Oesophagusschleimhaut.
Die Oberfläche der Magenschleimhaut zeigte scharfe und glänzende Licht-
reflexe; an zahlreichen Stellen präsentirte sich die Schleimhaut als fein gefaltet
oder tiefer gefurcht, beziehungsweise gewulstet. In pathologischer Beziehung
lässt sich jede Farbendifferenz einer entzündeten oder anämischen Magenpartie
von der gesunden Magenschleimhaut ganz deutlich und präcise unterscheiden
und stellen sich Geschwüre, sowie tiefgreifende Gew^ebsveränderungen der
Magenwandungen prägnant ein. Auf diese Weise konnte Mikulicz Magen-
carcinome und desgleichen Magengeschwüre auf gastroskopischem Wege diagno-
sticiren. Für die Diagnose des Pyloruscarcinoms fand Mikulicz ein neues
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. 46
722 GASTROSKOPIE UND GASTRODIAPHANOSKOPIE.
gastroskopiscli deutlich erkennbares Symptom. Während nämlich der Pylorus
der Gesunden gastroskopisch als ein länglicher Spalt oder als dreieckige, ovale,
manchmal auch kreisrunde Oeffnung sich darstellt, welche stets von einem
Kranze dicker, lebhafter rother Schleimhautwülste und Falten umgeben ist; fand
Mikulicz bei Magencarcinom, dass die AYülste und Faltungen um den Pylorus
herum ganz fehlten oder nur ganz seichte Fältchen auftraten. Es umgeben
dann den Pylorus ganz glatte Wandungen, was Mikulicz dadurch erklärt, dass
das früher bewegliche und faltbare Organ durch die carcinomatöse Infiltration
in ein starres Rohr umgewandelt wird. Weitere Untersuchungen über die
Gastroskopie liegen nicht vor.
Die Gastrodlaphanoskopie {Gastrodiaphanie) gehört gleichfalls der neuesten
Zeit an. Zwar führte bereits Miot im Jahre 1867 Durchleuchtungsversuche
am Cadaver und an Thieren aus und ähnliche Mittheilungen liegen aus dem
Jahre 1868 von Lazaeov^icz (Charkow) vor, allein in die Praxis gingen die
Versuche der Magendurchleuchtung erst über, als im Jahre 1889 Einhoei^ in
New-York am lebenden Menschen den Magen durchleuchtete. Doch blieben
seine Versuche im Ganzen unbeachtet. Erst nachdem Heeyng und Reichmanx
die Magendurchleuchtung an zahlreichen Fällen geübt und erprobt hatten,
fand die Methode die verdiente Beachtung. Der i^pparat (s. Fig. 2 und 3) besteht
aus einer weichen Magensonde von ca. 12 mm im Durchschnitt und von 70 cm
Länge, an deren Ende sich die Glühlampe befindet. Zum besseren Schutze
derselben und zur Verhütung abnorm starker Erhitzung ist dieselbe mit einem
Glasmantel umgeben. Die in der Sonde befindlichen Leitungsdrähte werden
am besten mit einem Hieschmanx^ sehen Accumulator, eventuell aber auch mit
einer kräftigen constanten Batterie mit möglichst geringem, inneren Wider-
stand (z. B. mit einer StöHEEE'schen constanten Batterie von 20 El.) in Ver-
bindung gesetzt. Bei dem EixHOEx'schen Gastrodiaphan wurde der Apparat
ohne Weiteres in den mit Wasser gefüllten Magen gebracht, Heeyxg und
Keichmaxx haben eine Vorrichtung für Wasserzu- und Abfluss an ihrem
Apparat angebracht. Dieselbe ist aber nach neueren Erfahrungen, mit denen
meine eigenen übereinstimmen, unnöthig.
Die Anwendung des vor der Einführung zweckmässig mit etwas Wasser
oder Glycerin eingeführten Apparates setzt voraus, dass der Magen von Speise-
resten entweder völlig oder nahezu völlig frei ist. Sobald letzteres nicht der
Fall ist, muss der Magen ausgewaschen und dann mit cca. 1 Liter Wasser gefüllt
werden. Die Einführung der Durchleuchtungssonde macht in der Piegel keine
besonderen Schwierigkeiten, namentlich falls der Patient an die Sondenappli-
cation vorher gewöhnt ist. In der Regel schicke ich aber doch eine sorgfältige
Cocainisirung des Pharynx voraus, da man dann eine ruhige, durch Würgen
und Speichelsecretion unbehinderte Magendurchleuchtung erreicht.
Sobald die Sonde sich im Magen befindet, stellt man die Verbindung
mit dem Stromgeber her, wobei sofort der Magen, am besten natürlich im
dunklen oder halbdunklen Zimmer als mehr oder weniger ausgedehnte hell-
rothe Zone erscheint. Die Durchleuchtung kann im Stehen oder Liegen der
Patienten vorgenommen werden. Die Bilder werden oft im Stehen schärfer
und grösser, zuweilen erscheint aber das Bild ausgedehnter und intensiver im
Liegen (L. Kuttxee und J. Jacobsohx).
Die Möglichkeit, den Magen zu durchleuchten, hat die diagnostische
Verwendung des Gastro diaphans nahe gerückt und es sind mehrere Beo-
bachter, in erster Reihe Einhoex, sodann L. Kuttxee und Johx Jacobsohx
dieser Frage näher getreten.") Aus den erstgenannten Arbeiten und meinen
eigenen Beobachtungen geht als sicheres Factum hervor, dass man durch Magen-
*) Ich selbst liabe in meiner Diagnostik nnd Therapie der Magenkrankheiten (Theil II,
Leipzig 1893.) die diagnostische Verwerthbarkeit des Gastrodiaphans kurz berührt.
GASTROSKOPIE UND aASTRODIAPHANOSKOPIE.
723
durchleuchtung einen Tiefstand des
Magens mit Sicherheit diagnosti-
ciren kann. Einhorn ist der An-
sicht, dass man auch eine Magen-
dilatation auf diesem Wege erken-
nen kann. Er gibt als charakte-
ristisch hiefür an, dass ein Durch-
leuchtungsbild entsteht, welches
in zwei Zonen zerfällt: die untere
von diesen ist hell erleuchtet und
ist mit dem unteren Rande, je
nach dem Grade der Dilatation,
verschieden weit unter dem Nabel
gelegen, sie kann zuweilen bis zur
Symphyse reichen. Diese stark
beleuchtete Zone geht nach oben
zu in eine weniger intensiv durch-
leuchtete Fläche über, welche zu-
weilen bis zum linken Rippenrande
hinaufreicht. Es wird auf diese
Weise die vordere Fläche des
Magens in toto durchleuchtet, d. h.
sowohl der mit Wasser als auch
mit Luft angefüllte Theil des Ma-
gens. KüTTNER und Jacobsohn
werfen dem gegenüber mit Recht
ein, dass die kleine Curvatur,
weil vom linken Leberrande über-
lagert, nothwendigerweise un-
durchleuchtet bleiben muss.
Einhoen's Beobachtung ist
demnach als specifisches Zeichen
für Magendilatation nicht anzuse-
hen. Dagegen haben Kuttner und
John Jacobsohn ein anderes diag-
nostisches Zeichen der Magendila-
tation, namentlich zum Unter-
schied von Gastroptose angegeben.
Während nämlich der herunter-
gesunkene Magen keine respira-
torische Verschiebung zeigt, macht
der dilatirte Magen, da der Fun-
dus mit dem Zwerchfell in inniger
Berührun gbleibt, lebhafte, respi-
ratorische Excursionen. Auch diese Angabe erscheint nach meinen Beobach-
tungen unzutreffend, da man auch bei Tiefstand des Magens diaphanoskopisch
deutlich sichtbare Magenexcursionen zuweilen beobachten kann. Aber auch ab-
gesehen davon ist eine derartige Methode für diagnostische, beziehungsweise
differentialdiagnostische Zwecke völlig entbehrlich, da eine Gastroptose mit
unseren bisherigen diagnostischen Hilfsmitteln deutlich erkennbar ist. Andrer-
seits ist für die Diagnose Ectasie nur in wenigen Fällen die Grösse allein,
sondern die mechanische Leistung maassgebend; falls man diesen Gesichtspunkt
ausser Acht lässt, so kann man leicht in die Lage kommen, einen einfach
muskelschwachen (atonischen), im Uebrigen mechanisch leidlich gut func-
tionirenden Magen für einen dilatirten zu halten und umgekehrt.
46*
Von oben und im Durchschnitt gesehen.
Zufluss-, a Abflussrohr, h Sperrhahn, j) Contact,
t Lampe, s Schutzglocke.
724 GEFÄNGNIS-PSYCHOSEN.
Von EiNHOEN, KuTTNEE Und Jacobsohn ist endlich noch hervorgehoben
worden, dass man unter geeigneten Umständen auch Tumoren des Magens
ihrer Undurchleuchtbarkeit wegen als solche diagnosticiren könne. Dass dies
gelegentlich einmal vorkommen mag, soll nicht ohne Weiteres bestritten
werden: indessen dürfte ein Tumor, der das Licht des Gastrodiaphans nicht
durchscheinen lässt, doch in den allermeisten Fällen der Palpation zugänglich
sein, Dass ferner die Veränderungen des Mageninhaltes viel wichtigere An-
haltspunkte gewähren, liegt auf der Hand. Von Wichtigkeit wäre es, ein
beginnendes, noch nicht palpables Carcinom zu diagnosticiren, indessen ist
hierzu die Gastrodiaphanie augenscheinlich nicht das geeignete Mittel. Im
Allgemeinen kann man sagen, dass die Gastrodiaphanie unsere bisherigen
diagnostischen Untersuchungsmethoden am Magen ergänzt und unterstützt,
dass sie aber unter keinen Umständen diagnostisch die bisher bekannten Me-
thoden übertrifft oder auch nur erreicht. boas.
Gefängnis-Psychosen. Die Gefängnis-Psychosen sind zwar von
streng wissenschaftlichem Gesichtspunkte aus keine specifischen Geistesstörungen,
welche von anderweitigen Psychosen scharf abgegrenzt werden könnten, allein
sie zeigen doch in ihrer Entstehung, ihrem Symptomenbilde und ihrem Verlaufe
so viele charakteristische Züge, dass ihre besondere Schilderung vollkommen
gerechtfertigt erscheint.
Die moderne Richtung des Strafvollzuges, namentlich auch die Ein-
führung des Isolirsystems, hat die Thatsache zweifellos festgestellt, dass Geistes-
störungen in den Strafanstalten unendlich viel häufiger (etwa zehnmal so
häufig!) als in der freien Bevölkerung zur Beobachtung kommen. Man war
eifrig bemüht deren Quelle au fzu decken. Die Untersuchungen der neueren
Zeit haben nun zu dem Ergebnisse geführt, dass die Ursachen dieser
Störungen mindestens ebenso sehr in der in die Strafanstalt eingebrachten
Veranlagung, als im Gefängnisleben gelegen sind. Eine grosse Zahl
der Verbrecher ist erblich belastet durch Psychosen, Neurosen, Trunksucht
oder Entartung ihrer Eltern oder Voreltern. Andere sind degenerirt durch
schlechte Erziehung, durch Aufwachsen in einer verbrecherischen Umgebung,
durch Alkoholismus, ausschweifendes Leben und Syphilis, oder durch ein in
Mangel und Noth verbrachtes Dasein. Wieder Andere sind durch Kopf-
Trauma, Epilepsie oder andere schwere Erkrankungen geschädigt. Es darf nicht
Wunder nehmen, dass bei einer derartigen mannigfaltigen Prädisposition die
zweifellos im Strafvollzuge liegenden Schädigungen geistiger und körperlicher
Art leicht zu Gelegenheitsursachen werden, Geistesstörungen zur Reife
zu bringen. Diese letzteren Ursachen sind theils psychischer Art, wie pein-
liche Gemüth seindrücke durch die Freiheitsberaubung und Beschämung, Ge-
wissensbisse und Reue, Sorge um die Zukunft und um die Angehörigen, theils
somatische, wie ungenügende Nahrung und Luft, ungewohnte schwere Arbeit
u. dgl. m.
Die Erfahrung hat gelehrt, dass das Isolirsystem die psychische Ge-
sundheit entschieden mehr gefährdet, als die gemeinsame Haft, sie hat aber
auch festgestellt, dass diese Gefahr wesentlich herabgemindert werden kann
durch zweckentsprechende Gegeneinwirkungen, wie regelmässige Arbeit, Verkehr
mit Bediensteten, Besuch von Schule und Kirche.
Die hier in Betracht kommenden Psychosen sind entweder acute oder
chronische. Die ersteren entstehen mit Vorliebe in der Einzelhaft, die letzteren
überwiegend häufig bei gemeinschaftlicher Einsperrung. Diese beiden Gruppen
unterscheiden sich so wesentlich von einander, dass jede eine besondere Be-
sprechung erheischt.
Die acuten Psychosen, welche man auch ganz zutreffend als „Ein-
zelhaftpsychosen" bezeichnen kann, stellen sich ganz überwiegend häufig als-
GEFÄNGNIS-PSYCHOSEN. 725
acute hallucinatorische Melancholie und als acuter liallucinatorischer Wahnsinn
dar und bieten durchaus charakteristische Krankheitsbilder und einen typischen
Verlauf.
Bei der acuten hallucinatorischen Melancholie stellt sich — •
nach prodromalen somatischen Störungen, wie Schlaf- und Appetitlosigkeit,
Kopfdruck, Rückgang der Ernährung und Anämie — eine depressive Ver-
stimmung ein. Dann brechen plötzlich, in der Regel zuerst in der Stille der
Nacht, Hallucinationen und zwar zumeist solche des Gehörs hervor, welche eine
angstvolle Erregung mit Jammern und Schreien auslösen. In zweiter Linie
kommen solche des Gesichts, seltener in anderen Sinnesgebieten. Der Inhalt
der Stimmen ist stets ein depressiver, wie Vorwürfe, Bedrohungen u. s. w.,
die Visionen stellen namentlich schreckhafte Gestalten dar. Die lebhaften
Sinnes-Delirien wirken in intensiver Weise auf das kranke Bewusstsein und
setzen zeitweilig schmerzhafte Erregungszustände. In einer nahezu pathogno-
mischen Weise stellen sich Präcordialangst-Anfälle ein, welche bis zum Tae-
dium vitae ansteigen können. Die Erkrankung führt, nach einer Dauer von
2 Wochen bis 6 Monaten, in der Regel zur Genesung.
Der acute hallucinatorische Wahnsinn steht der acuten hallu-
cinatorischen Melancholie so nahe, dass Uebergangsfälle zwischen beiden Formen
nicht selten sind. Während aber die letztere durch einen ausgesprochenen
Depressionszustand eingeleitet wird, gehen dem ersteren nur die oben ange-
führten somatischen Störungen prodromal voraus. Die Sinnestäuschungen
gehen hier direct ausdemKerndesBewusstseins hervor. Sie führen rasch
zur Wahnbildung, namentlich zu Verfolgungs-, Grössen-, religiösem und se-
xuellem Wahn, welcher aber weniger als bei der chronischen Paranoia systema-
tisirt ist. Auch hier überwiegen die Hallucinationen des Gehörs, es können
sich aber auch solche des Gesichts, Geruchs, Geschmacks und Gemeingefühls
einstellen. Die sehr lebhaften Sinnes-Delirien führen zu energischen Antrieben
im Sinne des Wahnes. Die Krankheitshöhe ist sehr rasch erreicht, dann
folgen Remissionen und Exacerbationen mit zeitweiligen Aufregungszuständen.
Meist fällt dann die Störung rasch ab, mitunter durch ein kurzes psychisches
Schwächestadium hindurch, zur Genesung — nach einer Dauer von 1 — 7 Mo-
naten. Zuweilen wird aber auch Uebergang in chronischen Wahnsinn beob-
achtet.
Die acute Manie pflegt nur selten in der Einzelhaft aufzutreten, sie
ist auch eine hallucinatorische, zeigt aber im Uebrigen keine Besonderheiten.
Von chronischen Psychosen können wir in den Strafanstalten alle
Formen beobachten, namentlich die verschiedensten Grade von Schwach- und
Blödsinn, nicht selten auch die Dementia senilis, deren Träger bereits mehr
oder weniger gestört eingeliefert wurden. Diese Fälle bieten nichts Beson-
deres, was sie von den täglich in den Irrenanstalten beobachteten unter-
scheidet. Als charakteristisch kommt für uns nur eine bestimmte
FormdeschronischenWahnsinnes (Paranoia chronica) in Betracht, welche
ihrer Genese nach als weitere Entwicklung des sittlichen Schwach-
sinnes im Sinne des Fortschreitens auf der Bahn der psychischen Degenera-
tion aufgefasst werden kann. Wir finden hier psychopathische Belastung,
sittlichen Schwach- oder Blödsinn seit der Kindheit, ein träges und unbot-
mässiges Schülerleben, später Vagabondage, unsittliche Neigungen (insbesondere
zu Diebstahl und Unzucht), welche weder durch Erziehung, noch vielfache Ein-
sperrungen gebessert werden. Solche vom Hause aus haltlose und unmoralische
Menschen werden nun durch das Gefängnis-Leben weiter geschädigt. Es
stellt sich bei ihnen eine hochgradige Gemüthsreizbarkeit ein, welche sie zum
Schrecken ihrer Vorgesetzten macht. Jeder Hausordnung Hohn sprechend,
werden sie durch Disciplinarstrafen nicht gebessert, vielmehr verschlimmert.
Ganz allmälig (zuweilen durch ein Stadium des Querulantenwahnes hindurch oder
726 GEHIRNKRANKHEITEN.
nach einer bis zur Verzweiflung ansteigenden Verstimmung) geht nun in der
Strafanstalt der sittliche Schwachsinn in Wahnsinn über, der oft lange ver-
kannt bleibt.
Bei der Weiterentwicklung pflegen intensive Sinnestäuschungen,
und zwar in allen Sinnesgebieten, eine wichtige Rolle zu spielen. Zuerst
kommen Stimmen, dann krankhafte Sensationen der verschiedensten Art, weiter
illusorische Geschmacks- und Geruchs- Apperceptionen, seltener Visionen. Diese
Sinne s-Delirien bilden in der Folge die wichtigste Grundlage für die Wahn-
entwicklung. Der Wahn stellt am häufigsten einen reinen Verfolgungswahn
dar, zuweilen ist er mit Grössenwahn combinirt. Selbst noch in diesem Sta-
dium w^erden die schweren, zumeist sehr gemeingefährlichen Kranken oft nicht
als solche erkannt und alle ihre pathologischen Ausschreitungen auf Rechnung
ihrer „Verbrecher-Natur" gesetzt, bis endlich eine reactionäre Gewaltthat
schlimmster Art (wie Tödtung des vermeintlichen Verfolgers) die leider allzu
späte Aufklärung bringt! Der Kranke ist inzwischen unheilbar geworden!
Wenn auch diese Krankheitsform wissenschaftlich dem gewöhnlichen
Verfolgungswahne zugehört, so scheint es doch vollkommen berechtigt, die-
selbe angesichts ihrer eigenartigen Entwicklung und ihres typischen Krankheits-
bildes als besondere Unterform festzuhalten. Sie düiite in zutrefiender
Weise als „Verbrecherwahnsinn" bezeichnet werden.
Diagnose, Prognose und Therapie fallen mit dem Verfolgungs-
wahn (einer Form der Paranoia chronica) zusammen. Kirn.
Gehirnkrankheiten.
I. Circiilationsstörungen.
Nach Verwachsung seiner Nähte und Schliessung der Fontanellen stellt der Hirn-
schädel eine geschlossene, starre Kapsel dar. Ihr Inhalt besteht aus der festweichen Gehirn-
masse und zwei Flüssigkeiten — dem Blut und der Arachnoidealfiüssigkeit, die auch die
Ventrikel erfüllt. Dieses Contentum muss als vollkommen incompressibel gelten, wenigstens
für die Kräfte, die in physiologische und pathologische Beziehung zu ihm treten. Daraus
folgt mit Nothwendigkeit, dass der eine Bestandtheil des Schädelinneren an Volum nur
dann variiren — wachsen oder abnehmen — kann, wenn die beiden anderen, oder wenigstens
einer von ihnen, in eben dem Maasse ab- oder zunehmen. Entwickelt sich im Schädel-
inneren etwas Neues, das Raum beansprucht — eine Geschwulst, ein Parasit, ein entzündliches
Exsudat — so müssen Blut und Lymphe Platz machen, sie können ausweichen, die Gehirn-
substanz nicht. Die Lymphräume des Gehirns (Subarachnoidealftüssigkeit) steht mit dem
Subarachnoidealraum der Wirbelsäule in offener Verbindung, sie kann in ziemlich beträcht-
licher Menge dahin entweichen, denn das Rückenmark ist nicht allseitig von starren
Wänden, sondern zum Theil auch vom elastischen Apparatus hgamentosus eingeschlossen.
Ein solches Verdrängtwerden des Liquor cerebrospinalis nach der Wirbelsäule hin bedeutet,
entsprechend der nun eintretenden erhöhten Spannung des Apparatus ligamentos-us stets eine
Erhöhung des intracerebralen Druckes. Auch das Blut kann aus der Schädelhöhle und sogar
noch viel leichter verdrängt werden. Es resultirt daraus die sogenannte Anaemia cerebri.
Beide Vorgänge, das Verdrängtwerden des Liquor cerebrospinalis und des Blutes aus der
Schädelhöhle brauchen einige Zeit. Wird sehr plötzlich von einem neuen Eindringling Raum
in der Schädelhöhle beansprucht, z. B. durchbohrt ein Projectil mit grosser Geschwindigkeit die
Schädelkapsel, so können die beiden genannten Flüssigkeiten nicht schnell genug ausweichen,
es steigt momentan der Druck im Innern der Schädelhöhle so enorm, dass dadurch der
Schädel geradezu gesprengt wird. Wächst diese Drucksteigerung nur langsam, so können
Blut und Liquor cerebrospinalis zwar beide schnell abfiiessen. Dabei aber ist es immer
zuerst das Blut, das verdrängt wird und Anämie des Gehirns stellt sich pro primo ein, dem
Abfiiessen des Liquor cerebrospinalis sind in Folge der engen Communicationswege stärkere
Widerstände für seine Fortbewegung entgegengestellt. Dauert dagegen die Raumbeschrän-
kung in der Schädelhöhle an, so vermag auch der Liquor cerebrospinalis in ausgiebiger
Weise abzufliessen, die Resorption der Lymphe im Gehirn nimmt unter dem erhöhten Druck
verhältnismässig zu und so kann es kommen, dass durch letzteres Moment sogar wieder
etwas mehr Raum für das Blut geschaffen werden, das Blut also wieder zutreten kann und
die Anämie sich, aber nur bis zu einem gewissen Grad wieder ausgleicht; denn die
Abscheidung und Resorption der Lymphe im Gehirn ist nicht ausschliesslich von den Druck-
verhältnissen, sondern zum Theil auch von den vitalen Eigenschaften der absondernden
Zellen abhängig.
GEHIRNKRANKHEITEN. 727
Daraus, dass der Liquor cerebrospinalis in vermehrtem Maasse sich in der Schädelhöhle
anhäufen, oder aus derselben abfiiessen kann, ergibt sich die Möglichkeit einer Anaemiaund
Hyperaemia cerebri. Beide sind aber, wie wir noch sehen werden, blos anatomische
Begriffe. Die Autopsie ergibt bei Anaemia cerebri die Gefässe der Hirnhäute wenig gefüllt,
die graue Substanz blasser als normal, auf der Schnittfläche der weissen Substanz kommen
auffallend wenig „Blutpunkte" (aus angeschnittenen Gefässen des kleinsten Kalibers) zu
Gesicht. Als Hyperaemia cerebri deutet man stärkere Injection der pialen Gefässe und an
Zahl vermehrte Blutpunkte auf der Schnittfläche der weissen Substanz.
In der Schädelhöhle herrscht normaler "Weise ein geringer positiver Druck (etwa gleich
dem einer 100 mm hohen Wassersäule). Dieser ,,intracerebrale Druck" kann schon unter
physiologischen Verhältnissen nicht unbeträchtlich schwanken; er leitet sich vom Blutdruck
her. Würden die Arterien frei ins Cavum cranii münden, so würde der arterielle Druck
sich einfach auf die Schädelhöhle fortsetzen, und in letzterer müsste ein Druck gleich deüi
arteriellen Druck herrschen. Dieser einfachen Fortsetzimg des arteriellen Drucks in die
Schädelhöhle wirkt aber die Kraft der gespannten Gefässwand entgegen, so dass überall im
Schädel der intracerebrale Druck gleich der Differenz : Blutdruck minus Gefässpannung zu
setzen ist. Weil aber der Druck in der Schädelhöhle überall der nämliche ist, so ist es
selbstverständlich, dass an den Stellen der Blutstromgebiete, wo der Blutdruck ein niederer
ist, ganz in entsprechendem Maasse auch die Gefässpannung eine schwächere sein muss. Der
intracerebrale Druck ist also jeweilig von zwei Factoren abhängig: vom Blutdruck und von
der Gefässpannung; ersterer aber wird bedingt von der Triebkraft des Herzens, letzterer
ist zum Theil Ausdruck der passiven Dehnung der Gefässwand durch den in ihm herr-
schenden Druck, zum Theil aber auch herbeigeführt durch die Action der vasomotorischen,
in ihr gelegenen Muskeln, die vom Sympathicus oder — nach manchen Autoren direct vom
Centrum vasomotoricum — innervirt werden. Wirken die Vasoconstrictoren stärker — spa-
stische Contraction der Gefässwand — so sinkt der intracerebrale Druck, lässt er nach. —
paralytische Erweiterung der Gefässe — so steigt der intracerebrale Druck, Weil das Spiel
der Vasomotoren vorzugsweise die Arterien, nicht aber die Capillaren und kaum die Venen
betrifft, so lässt sich noch Folgendes mit Nothwendigkeit schliessen: Spasmus der Arterien
schafft, Paralyse derselben beansprucht Raum im Gehirn. Diese Raumveränderung wird
sofort ausgeglichen durch entsprechende Füllung der Capillaren und Venen, letztere sind
also bei Spasmus der Arterien weiter, bei Erschlaffung derselben enger. Es wird dadurch
die Circulation im Gehirn im ersten Fall erleichtert, im zweiten erschwert. Dies ist von der
allergrössten Bedeutung für die Function des Gehirns, denn letztere ist durchaus
nicht abhängig von dem Quantum Blut, das sich im Cavum cranii befindet,
sondern lediglich gewährleistet von dem Quantum Blut, das in der Zeit-
einheit die Capillaren durchströmt. Ein Gehirn kann strotzen von stagnirendem
Blut und es muss ersticken, weil sich das Blut nicht fortbewegen, nicht ständig erneuern
kann, etwa deshalb, weil die Venen ausserhalb des Schädels oder in diesem selbst com-
primirt oder verlegt sind. Die anatomischen Begriffe Anaemia und Hyperaemia
cerebri sind demnach in physiologischem und klinischem Sinn vollkommen
irrelevant und nur die gute oder schlechte Durchfluthung des Gehirns
mit frischem, sauerstoffhaltigem Blut von Bedeutung.
Man kann die regelrecht vor sich gehende Durchblutung des Gehirns Eudi-
äniorrhysis, ihre Abweichung nach der negativen Seite Adiämorrhj' sis, die
nach der positiven Seite Hyperdiämorrhysis benennen.
Die Durchfluthung des Gehirns ist abhängig: erstens von der Differenz des
Druckes in den Arterien und dem in den Yenen (dem Gefälle), zweitens von der
Reibung, die bei weitem am grössten in den engen Capillaren ist, und von dem Ver-
hältnis der Gefässquerschnitte am Anfang und Ende des Stromgebietes, indem
Flüssigkeiten ceteris paribus sich leichter aus engen in weitere Räume ergiessen als
umgekehrt. Aenderung des intracerebralen Druckes bewirkt die grösste Aenderung
des Lumens an Yenen und Capillaren, die dünnwandig sind und in denen ein nur
geringer Druck herrscht. Wächst der intracerebrale Druck, so werden Yenen und
Capillaren comprimirt und die Durchfluthung wird eine geringere. NachGKASHEY kommen
dabei die Yenen zum Yibriren, d. h. das Blut rückt in ihnen nicht mehr continuirlich,
sondern nur ruckweise vorwärts. Umgekehrt wirkt A^erminderung des intracerebralen
Druckes durch Erweiterung der Yenen und Capillaren ceteris paribus günstig auf den
Gehirnkreislauf.
Unzweifelhaft sind Einrichtungen getroffen, die es erlauben, dem Gehirn zur
Zeit des Mehrbedarfes auch mehr Blut zuzuführen, dagegen vermag man keinen
pathologischen Zustand zu nennen, bei dem man Hyperdiämorrhysis als Ursache
annehmen müsste, höchstens kämen dabei gewisse Formen von Epilepsie oder
728 GEHIRNKRANKHEITEN.
Hemicranie in Betracht, bei denen vielleiclit Spasmus der Hirnarterien und dadurch
Hyperdiämorrhysis besteht.
Schlechte Blutversorgung des Gehirns allein — - Adiämorrhysis
— macht Krankheits-Symptome. Letztere fallen umso intensiver aus, je
rascher die Adiämorrhysis eintritt; während das Grehirn sich aller Erfahrung nach
an langsam wachsende Schädlichkeiten, so auch an chronische schlechte Ernährung
bis zu einem hohen Grade gewöhnen kann.
Dies erhalb und wegen der ätiologischen Momente ist eine acute und eine
chronische Adiämorrhysis cerebri zu unterscheiden.
Weil, wie wir gesehen haben, für die Eudiämorrhysis cerebri 2 Factoren von
Belang sind: die Triebkraft des Herzens und der Tonus der Gefässe, so muss man
bei der Adiämorrhysis cerebri acuta 2 Formen unterscheiden:
1. Die vaso paralytische Form kommt zu Stande, wenn die Vaso-
constrictoren der Arterien gelähmt werden. Es sind nicht nur Leute mit plethorischem
Habitus, Stiernacken, starken Fettpolstern und vollem Gesicht, welche an solchen Attaquen
von Adiämorrhysis vasoparalytica laboriren, sondern auch Leute, die man eher als
anämisch bezeichnen möchte, die im Ganzen „nervös" sind oder bei denen vorzugs-
weise die Innervation des Gefässystems sich in labilem Gleichgewicht befindet,
Neurastheniker liefern hier ein grosses Contingent. Als Gelegenheitsursachen sind
zu nennen, psychische Alteration: Aerger, Zorn, Verlegenheit, Scham; Störungen von
Seite des Digestionsapparates, Ueberladen des Magens, Stuhlverstopfung, übermässiger
Genuss von AUvohol. Die Symptome sind vorzugsweise subjectiver Natur. Es entsteht
Schwindel, leichte Benommenheit des Sensoriums, die sich von momentaner Schwierigkeit
die Gedanken zu ordnen, bis zu höheren Graden, ja sogar bis zu mehr oder
weniger vollkommener Bewusstlosigkeit steigern kann; es melden sich inzwischen
Funkensehen, Verdunklung des Gesichtsfeldes, Klingen vor den Ohren, Uebelsein,
eventuell sogar Erbrechen, Kopfschmerz. Dabei — und dies ist für diese Form
charakteristisch — ist die Herzkraft nicht geschädigt, der Puls gut, oft sogar auf-
fallend kräftig, wenn auch gewöhnlich frequenter, die Carotiden klopfen, das Gesicht
strotzt von Blut, die Augäpfel sind bei einem starken Anfall vorgetrieben und
glotzen, und trotzdem also der Kopf und wohl auch das Gehirn viel arterielles
Blut enthält, sind dennoch die beschriebenen Symptome auf schlechte Durchfluthuug
des Gehirns, auf beginnende Erstickung desselben zurückzuführen, weil unter Steigen
des intracerebralen Druckes, im gleichen Maasse wie sich die Arterien des Gehirns
ausdehnen, auch die Venen und Capillaren comprimirt werden, so dass eine Stagnation
des Blutes im Gehirn eintreten muss. Kegelmässig klingt ein solcher Anfall mit
oder ohne Kunsthilfe nach einiger Zeit ab und macht normalem Verhalten Platz, das
Gesicht verliert seine abnorme Röthe und die subjectiven Erscheinungen schwinden.
Die Prognose ist demnach in der Regel günstig, bezüglich der Ausuahmsfälle muss
auf das verwiesen werden, was bei der Haemorrhagia cerebri besprochen werden wird.
Die Regeln für die Prophylaxe und Therapie ergeben sich aus der an-
geführten Aetiologie von selbst; eine Hauptrolle spielt Vermeidung jeder Excesse, jeder
psychischen Aufregung, Regelung des Stuhles, der Diät, Behandlung etwa zu Grunde
liegender Nervosität und Neurasthenie oder allgemeiner Obesitas. Li einem ernsteren
Anfall sind alle beengenden Kleidungsstücke, namentlich am Hals zu lockern oder zu
entfernen, der Kopf hochzulagern; den geschwundenen Tonus der Gefässe sucht man
durch kalte Umschläge (Eisblase) auf den Kopf und besonders zweckmässig durch
kaltes Waschen der Augen zu bekämpfen. Es ist experimentell festgestellt, dass
Kälte von den Conjunctiven aus reflectorisch Spasmus der Hirngefässe („arterielle
Anämie") hervorzurufen vermag. Die aufgeregte Herzthätigkeit wird durch allgemeine
Ruhe, Eisblase aufs Herz beschwichtigt. Entleerung des Darmes durch ein reizendes
Klystier ist entschieden angerathen; selten wird man genöthigt sein, heisse Hand-
bäder etwa mit Zusatz von Senfmehl oder eine Blutentziehung örtlich (Blutegel
hinter die Ohren) oder gar als Venäsection zu appliciren. Wo die vasoparalytische
GEHIRNKRANKHEITEN. 729
Adiämorrhysis cerebri Ausdruck allgemeiner Kervosität bei Anämischen ist, muss
jede Blutentziehung als contraindicirt gelten.
Von ungleich grösserer Wichtigkeit ist
2. die sj^ncopale Form der acuten Adiämorrhysis cerebri. Sie kommt
durch einen Nachlass der Herzkraft zu Stande, wodurch die Differenz „arterieller
minus venöser Druck" also das Gefälle in den Gehirncapillaren verringert wird.
Alles, was die Herzkraft mehr oder weniger rasch zu schädigen vermag, spielt hier
eine ätiologische Rolle, vor Allem schwere Blutverluste, Vergiftungen, namentlich
mit den sogenannten „Herzgiften", heftige Erschütterungen des ganzen Körpers,
ausgebreitete Zermalmungen, z. B. bei Maschinenverletzungen. Aber auch heftige
Eindrücke auf die Psyche („psychische Traumen") können jähen Nachlass der
Herzkraft mit allen Zeichen der schwersten Adiämorrhysis cerebri hervorrufen, endlich
ist in vielen Fällen eine prädisponirende Nervosität deutlich zu erkennen, auf deren
Boden schon verhältnismässig geringfügige Anlässe somatischer oder psychischer Art
dasselbe zu leisten vermögen. An sich geringfügige Momente, wie Aufsitzen aus
dem Liegen, Verlassen des Bettes, sind es auch, welche bei schon im Allgemeinen
Anämischen, z. B. bei Eeconvalescenten nach schwerer Krankheit, mit schon ge-
schädigtem, nahezu erschöpftem Herz, genügen, um alle Gefahren eines schweren
CoUapses herbeizuführen.
In der Form des Collapses nämlich melden sich die Symptome der ernsten
Form der acuten syncopalen Adiämorrhysis cerebri. Es wird den Patienten übel
zu Muthe, trüb, verschwommen, schwarz vor den Augen, eventuell Nausea und wirk-
liches Erbrechen gesellen sich hinzu oder ohne diese Zwischenfälle, mitunter überaus
rasch stürzen die Kranken bewusstlos zu Boden. Die Haut ist kühl, mit klebrigem
Schweiss bedeckt, die Nase spitz, die Gesichtszüge entstellt, die Augäpfel sinken
zurück, die Pupillen sind Anfangs weit, dann reactionslos, die Conjunctivalreflexe
verschwinden, der Puls Anfangs klein, frequent, weich, später kaum — nicht mehr,
gerade noch an den Carotiden zu fühlen, die Athmung kaum wahrnehmbar, ein paar
tiefe Athemzüge folgen, und eisige Buhe lagert über dem schrecklich veränderten
Antlitz, das aufgesetzte Stethoskop constatirt Buhe des Herzens und damit den Tod.
Dieses erschütternde Bild derSyncope, des unmittelbar tödtlichen Collapses,
ist die höchstentwickelte Form der acuten Adiämorrhysis cerebri. Zum guten
Glück kommt es in den meisten Fällen nicht soweit. Das Bewusstsein kann voll-
kommen aufgehoben sein, der Puls miserabel, kaum fühlbar, und dennoch erholen
sich die Patienten, indem das blasse Gesicht wieder Farbe bekommt, der Puls sich
hebt, und das Bewusstsein wiederkehrt. Ein solcher Ohnmachtsanfall hinterlässt
dann häufig Nachwehen in Form von Schwindel, Kopfweh, Funkensehen, Schläfrigkeit
bis zur leichten Benommenheit, ist auch mehrerer sich rasch folgender Recidive fähig,
so dass dann die Kranken, wie der Volksmund sich ausdrückt, „aus einer Ohnmacht
in die andere fallen".
In rudimentären Attaquen wird das Bewusstsein wenig oder gar nicht ergriffen,
es wird den Kranken nur unsäglich schlecht zu Muthe, schwindlig, es klingt und
summt ihnen vor den Ohren, flammt vor den Augen, sie vermögen ihre Gedanken
nicht mehr, wie sie es wünschen, zu sammeln, sie taumeln, müssen eventuell erbrechen,
aber rascher oder langsamer, besonders unter geeigneter Therapie schwinden alle
diese Erscheinungen wieder.
Vergleichen wir die Symptome der (syncopalen) Form mit der ersteren (vaso-
paralytischen) Form der Adiämorrhysis cerebri, so sind sie wesentlich dieselben und
aus diesem Grunde musste bisher jeder Versuch einer klinischen Trennung von „Hirn-
hyperämie" (unsere erste Form) und „Hirnauämie" (unsere zweite Form) noth-
wendig scheitern. Nur die Begleiterscheinungen am ganzen Körper, besonders am
Gefässystem lassen die beiden Formen von einander unterscheiden, denen aber
beiden die ungenügende Durchfluthung des Gehirnes vollständig
gemeinsam ist. In dem einen Fall arbeitet das Herz kräftig, im anderen
schwach, im ersten besteht Röthe und Hitze, im zweiten Blässe und Kälte des
730 GEHIRNKKANKHEITEN.
Gesiclits. Yerschieden ist auch für beide Formen die Aetiologie und da auch ihr
Mechanismus verschieden ist, so muss auch die Therapie in den beiden Formen
ganz verschiedenen Indicationen gerecht werden.
Therapie. Der schnelle Ablauf der Erscheinungen fordert ein rasches Eingreifen :
sofort Tieflegen des Kopfes und Anreizen des Herzens durch Aether, Campher subcutan,
Application energischwirkender Hautreize, Bespritzen des Gesichtes und der ent-
blössten Brust mit kaltem Wasser, Bürsten der Fussohlen, Einathmenlassen von Aetz-
ammoniak. Selbstverständlich ist bei Blutverlusten die möglichst rasche Stillung der
Blutung die wichtigste Aufgabe, denn so lang dies nicht geschehen ist, bewirkt jeder
Herzreiz eine nur noch stärkere Verblutung des Organismus. Ganz besonders wichtig
ist es, in jedem Fall von Collaps die Möglichkeit einer inneren Blutung zu er-
wägen. Ist eine solche wahrscheinlich, so lässt man nur den Kopf tieflegen, reicht
Morphium subcutan, legt eine grosse Eisblase auf die Stelle der vermutheten Hämor-
rhagie, und lässt die Erscheinungen bis zum äussersten Grad anwachsen, bevor man
sich entschliesst, den drohenden Exitus letalis durch die Herzreize abzuwenden.
Grosse Euhe in liegender Stellung, gute kräftige Eimährung, Alkohol sind in der
Reconvalescenz die wichtigsten Heilmittel.
Leichtere Anwandlungen von „Ohnmacht" oder „Schwachwerden" erfordern
Zutritt von frischer, kühler Luft, Hautreize, einen Schluck kräftigen Weines oder
Branntweines. Ist aber das Sinken der Herzkraft z. B. bei allgemeiner Abkühlimg
des Körpers (Erfrieren) eingetreten, so ist neben mächtigen Hautreizen (Abreiben
mit Schnee) nachfolgendes Einpacken in gewärmte Tücher und das Einflössen heisser
Getränke und starken Alkohols (Glühwein, Thee mit Cognac) die Hauptsache.
Es verdient nochmals hervorgehoben zu werden, dass Spasmus der Gehirngefässe
bessere Durchfluthung nach sich zieht, dass also die Application der Eisblase auf den Kopf
auch bei dieser Form der Adiämorrhysis entschieden indicirt ist. Die an den weiten
Pupillen kenntliche Sympathicusreizung ist in dieser Hinsicht als eine Art Selbst-
hilfe des Organismus beim Collaps anzusehen. Bekannt ist aus dem alltäglichen Leben
der erfrischende Einfluss auf die Gehirnthätigkeit durch kalte Waschung des Gesichtes
und namentlich der Augen.
Chronische Adiämorrhysis cerebri begleitet Krankheiten, in denen
die Herzkraft mehr oder weniger daniederliegt, oder in welchen das Blut an diesem
oder jenem seiner normalen Bestandtheile verarmt ist. In letzterem Fall könnte die
Circulation mechanisch ganz regelrecht vor sich gehen und trotzdem wegen der
qualitativ veränderten Beschaffenheit das Gehirn in seiner Ernährung Noth leiden.
Do ch ist hier wohl stets auch das Herz schlecht ernährt und in seiner Kraft ge-
schwächt, so dass also die chronische Adiämorrhysis auf eine Stufe mit der 2. Form
der acuten zu stellen ist, nur dass noch die schlechte Blutbeschaflenheit die Wirkung
verstärkt, andererseits aber hier eine sehr wichtige Eigenschaft des Gehirns zur
Geltung kommt, indem letzteres nämlich in sehr hohem Maasse sich Schädlichkeiten
anpassen und sie noch ertragen kann, wenn sie nicht plötzlich auf dasselbe herein-
brechen, sondern in recht langsamer Steigerung. Bekäme das Gehirn eines gesunden
Menschen auch nur für einen Augenbhck blos soviel Blut, als durch die Gehirn-
capillaren eines chlorotischen Mädchens oder die eines Krebskranken geht, der viel-
leicht noch Wochenlang damit leben kann, so würde jedenfalls eine schwere Bewusst-
losigkeit, wenn nicht directjder Exitus letalis, herbeigeführt werden.
Die Symptome der chronischen schlechten Ernährung des Gehirns sind demnach
nicht so stürmisch wie die der acuten. Die gewöhnlichsten Gehirnerscheinungen, die
man in Reconvalescenz nach schwerer Krankheit oder starken Blutverlusten, im Ver-
lauf der verschiedensten chronischen Krankheiten des Blutes, der Verdauungsorgane,
der Tuberculose, der Krebscachexie, bei fortgesetzten Verlusten von Nährmaterial
(Albuminurie, protrahirte Lactation) zu sehen bekommt, sind nichts anderes als der
Ausdruck chronischer Adiämorrhysis. So die Unlust und Unfähigkeit mehr noch zu
geistiger als körperlicher Arbeit, die leichte Ermüdbarkeit bei ersterer, der Kopf-
schmerz, der schlechte, durch Träume gestörte Schlaf (insoweit dies nicht durch
GEHIENKEANKHEITEN. 731
Fieber bedingt ist), die geistige und körperliche Unruhe, umgekehrt auch Apathie
und Schläfrigkeit, Gemüthsverstimmung. Auch wirkliche Geisteskrankheiten (Inauitions-,
Erschöpfungspsychosen) können sich entwickeln.
Die Prognose richtet sich nach dem Grundleiden, kann dieses gehoben werden,
so schwinden die Gehirnerscheinungen von selbst.
Es ist nur zu beachten, dass auf dem Boden chronischer Adiämorrhysis auch
schon durch geringfügige Momente überaus leicht eine Attaque der acuten mit allen ihren
Gefahren ausgelöst werden kann. So sind Anämische zu Ohnmachtsanwandlungen un-
gemein geneigt, so kann man einen Reconvalescenten nach einer acuten erschöpfenden
Krankheit, z. B. nach Dysenterie schliesslich noch bei zu raschem Aufrichten aus
der horizontalen Lage oder beim ersten Versuch das Bett zu verlassen, verlieren.
Dies ist bezüglich der Prophylaxe acuter Anfälle wohl zu berücksichtigen, z. B.
auch das Baden von herabgekommenen Typhuskranken nur unter gleichzeitiger
dreister Darreichung starker Alcoholica zu riskiren. Schliesslich können Inanitions-
Psychosen noch selbständig die Gefahr des Suicidiums heraufbeschwören.
Die Therapie besteht in Behandlung des Grundleidens, in reichlicher Er-
nährung mit gut assimilirbaren Stoffen, wenn der Magen krank ist, vom Ptectum her,
in Anreizung des Herzens durch Wein, Thee, Kaffee, Kraftbrühen, eventuell durch
die Herzreize xct' Icoyj^y. den Campher, das Coffein, die man ja längere Zeit hin-
durch ohne Schaden fortgebrauchen lassen kann. Ob die Eisenpräparate, abgesehen
von der Chlorose, irgend einen Xutzen schaffen, ist mehr als zweifelhaft, dagegen kommt
unter den „Tonicis" dem Chinin entschieden ein günstiger Einfluss, wenigstens auf manche
Erscheinungen der chronischen Adiämorrhysis zu, z. B. auf den Kopfschmerz, auch wenn
letzterer nicht typisch, stets zur nämlichen Tageszeit sich meldet, was er^ nebenbei
bemerkt, auch thun kann, ohne dass Malaria irgendwie mit im Spiel ist. Auch die
anderen in neuerer Zeit so beliebten Nervina: das Antipyrin, Acetanilid, Phenacetin,
Phenocoll, Anaigen u. s. w. leisten hier eventuell gute Dienste. Vor Allem darf man
auch nicht vergessen, dass für die Erholung eines erschöpften Gehirnes die Euhe
des Schlafes von der grössten Wichtigkeit ist. Kann man letzteren ohne Morphium,
Chloralhydrat, Sulfonal oder Bromkalium u. s. w. erzielen, z. B. durch ein pro-
longirtes warmes Bad am Abend oder durch ein Glas Bier vor dem Schlafengehen, dann
desto besser, weil damit die Gefahr der Gewöhnung an jene zweischneidigen Mittel
vermieden wird.
Das Oedema cerebri ist charakterisirt durch eine vermehrte Menge der
subarachnoidealen Flüssigkeit und des Liquor in den Ventrikeln, sowie durch eine
stärkere Durchfeuchtung der Hirnsubstanz. Das Hirnödem kommt zu Stande durch
allgemein oder local bedingte Stauung (Thrombose oder Compression der Kopfvenen)
sowie als Theilerscheinung eines allgemeinen Hydrops, z. B. bei Morbus Brightii
oder chronischen Cachexien mannigfacher Art. Vielleicht entsteht es bei den letzteren
auch ex vacuo, weil die Blutmenge im Gehirn immer mehr reducirt wird, stets aber
ist eine solche Anaemia cerebri dem Oedem vergesellschaftet, gleichviel ob man erstere
als Ursache oder als Folge im einzelnen Fall aufzufassen hat. Die Erscheinungen
sind einfach die der Adiämorrhysis cerebri, besitzen gar nichts besonderes, so dass
das Oedema cerebri schlechterdings nicht zu diagnosticiren ist. Nicht einmal beim
Morbus Brightii und allgemeiner starker Wassersucht mit Hirnerscheinungen wird
eine Vermuthungsdiagnose stets durch die Section bestätigt. Prognose und Therapie
zu besprechen ist also vollkommen gegenstandslos.
II. Hämorrhagia cerebri {Apoplexia sanguinea, blutiger Hirnschlag).
Anatomischer Befund. Erfolgte aus einem feineren Arterienaste im Gehirn
eine Blutung, so findet man kurze Zeit nach der Katastrophe einen erbsen- bis
haselnussgrossen, weichen Herd von schwarzrother Farbe, der ausser Blut auch noch
die Reste der zertrümmerten Gehirnsubstanz enthält. Die nächste Umgebung der
letzteren ist röthlich gesprengelt, was von sehr kleinen Blutungen herrührt, die von
der Circulationsstörung in der Nachbarschaft sich ableiten. Bleibt das Leben er-
732 GEHIRNKRANKHEITEN.
halten, so geht der Blutherd Veränderungen ein. Bei der Gerinnung verkleinert er sich,
verliert Wasser, das der Lymphstrom fortschafft, wird mehr rothbraun. Indem der
Herd einer langsamen Resorption anheimfällt, wird er entweder vom Bindegewebe
durchzogen und ersetzt, so dass schliesslich eine etwas derbere, gelb bis braunroth
gefärbte Stelle im Gehirn, die apoplectische Karbe, zurückbleibt, oder er wird durch
Flüssigkeit ersetzt, diese aber vom derberen, pigmentirten Bindegewebe gegen die
Nachbarschaft abgekapselt (apoplectische Cyste). Das Pigment leitet sich in beiden
Fällen vom veränderten Blutfarbstoff her und besteht zum Theil aus Eisenoxydhydrat,
zum Theil aus Hämatoi'din.
Blutungen aus Capillaren bilden Herde von Hirsekorn- bis Erbsengrösse und
rundlicher oder länglicher Form, finden sich nicht selten in grösserer Zahl, so dass
die Schnittfläche bunt gesprengelt erscheint. Die Gehirnmasse ist dabei nicht zer-
trümmert, sondern nur bei Seite gedrängt, der Herd besteht nur aus Blut. Ist die
piale Gefässscheide von Blut nicht durchbrochen, liegt letzteres also noch innerhalb
derselben, so spricht man von einem xineurysma dissecans.
Die Druckwirkung auf die Umgebung und das ganze Gehirn ist vom Umfang
des Blutherdes abhängig. Ist letzterer gross, oder gar gegen die Gehirnoberfläche
oder in einen Tentrikel durchgebrochen, und dadui'ch eine Massenhämorrhagie ent-
standen, so findet mau die Gyri abgeplattet, die Sulci verstrichen, das ganze Gehii'n
anämisch, trocken.
Am häufigsten treten Blutungen im Bereiche der Aeste der Arteria fossae Sylvii
auf, welche die Stammganghen und die innere Kapsel versorgen. Sehr selten sind
spontane Blutungen aus den feinen Gefässen der Oberfläche; dazwischen liegen be-
züglich der Häufigkeit einer Hämorrhagie : Pons, Pedunculus, Cerebellum, Centrum
semiovale.
Oft findet man neben dem jüngsten, tödtlichen Herd noch an den verschiedensten
anderen Stellen des Gehirnes die Residuen früherer Attaquen. Enorm selten ist es,
dass gleichzeitig oder fast gleichzeitig an 2 Stellen eine Blutung erfolgt.
Aetiologie. Ein gesundes Gefäss widersteht auch dem stärksten Blut-
druck. Die Processe aber, welche die Gefässwand in ihrer histologischen Beschaffen-
heit ändern und ihre Widerstandskraft schädigen, kommen erst mit den Jahren im
Körper zur Geltung, deshalb ist die Hirnhämorrhagie vorwiegend eine Krankheit
der vorgerückteren Lebensjahre, Vorbereitet wird der Riss hauptsächhch durch das
Atherom und die Entwicklung der ominösen miliaren Aneurysmen, aus welchen in
den meisten Fällen die Blutung erfolgt. Wenn schon hoher Druck in den Arterien
eine gesunde Gefässwand nicht zum Bersten bringen kann, so ist auf der anderen
Seite zu bedenken, dass solche Druckst eigeruugen, wenn sie sich oft wiederholen,
ihrerseits sehr wohl jene Veränderungen in der Gefässwand, speciell das Atherom ver-
anlassen und dadurch den Boden für den blutigen Hirnschlag vorbereiten können. Sehr
oft beobachtet man Hirnhämorrhagie bei Hypertrophie des linken Ventrikels (idio-
pathische Hypertrophie, Aorteninsufficienz, Xierenschrumpfung etc.), ferner bei weit
verbreiteter Atheromatose der Gefässe, sowie dann, wenn entweder von Haus aus
eine abnorme Zerreisslichkeit der Gefässe ererbt oder erworben wurde, wie bei
den Bluterkrankungen, Hämophilie, Scorbut, Purpura interna oder wenn in Folge
schwerer Allgemeinleiden (Anaemia perniciosa, Leukämie, Cachexien etc.) die Ernäh-
rung der Gefässwand lange Zeit nothgelitteu und letztere ihre Widerstandskraft
mehr oder weniger eingebüsst hat. Daraus folgt, dass wohl mindestens ebenso oft
blasse, dürftig aussehende Individuen vom blutigen Hirnschlag getroffen werden, wie
solche, denen ein besonderer Habitus apoplecticus zugeschrieben wird: kurze, ge-
drungene Gestalt, Stiernacken, grosse Saftfülle, rother, dicker Kopf mit glotzenden
Augen. Als letzte Gelegenheitsursache, welche die schon vorbereitete Berstung eines
Gefässes herbeiführt, tritt eine arterielle Druck Steigerung auf, wie durch Pressen beim
Stuhlgang, Heben schwerer Lasten, psychische Erregungen, starke Erhitzung, nament-
lich des Kopfes, Indigestionen. Oft genug freilich kommt die Katastrophe mitten in
GEHIRNKRÄNKHEITEN. 733
der Nacht, ohne dass anscheinend irgend eines der genannten Momente dabei eine
Rolle gespielt hätte.
Bei langem Pressen wird der Liq. cerebralis aus der Schädelhöhle verdrängt, Arte-
rien und Venen sind stärker gefällt, eine Blutung kann aber wegen des gesteigerten intra-
cerebralen Drucks nicht erfolgen. Gefährlich ist der Moment, wo das Pressen
aufhört, namenthch wenn zugleich eine tiefe Inspiration erfolgt, das Blut aus den Gehirn-
Tenen gegen die Brusthöhle aspirirt wird, der intracerebrale Druck rasch sinkt; dann er-
folgt aus den prall gefüllten Arterien des Gehirns leicht eine Blutung.
Symptome. Mitunter sind schon kürzere oder längere Zeit warnende
Prodromalerscheinungen vorangegangen, haben leichte Anfälle von ..Schwindel" u. dgl.
den Kranken geängstigt, nun setzt die Hii'nhämorrhagie ausserordentlich acut ein.
Es wird dem Patienten plötzlich übel, schwindlig, kaum kann er sich vielleicht noch
vor dem Fallen ins Bett, auf einen Stuhl retten, so schwindet schon sein Be-
wusstsein und er verfällt in tiefes Coma. Selten wird die einleitende Scene beobachtet,
meist kommt der Arzt zu dem bereits bewusstlosen Kranken und hat das Bild des
ap oplec tischen Insults *) vor sich. Der Kranke ist weder dui'ch Anrufen noch
durch Hautreize zu wecken, die Augen sind geschlossen, die Respiration ist ruhig
wie die eines Schlafenden, oder frequent und oberflächlich oder auch mühsam und
stöhnend. Blutrother Kopf und klopfende Carotiden, in anderen Fällen Todesblässe
des Antlitzes lassen auf den ersten Blick die schwere Katastrophe erkennen. Erhebt
man die Extremitäten, so fallen sie schlaff, wie leblos, einfach dem Gesetz der
Schwere gehorchend, zurück, es scheint also weit ausgebreitete motorische Lähmung
zu bestehen. Oeffnet man die geschlossenen Augen, so findet man häufig die Bulbi
in conjugirter Deviation nach oben und einer Seite gedreht ; auf dieser Seite sitzt
der Blutherd, den „die Kranken ansehen". Mitunter wurde Stuhl und Urin ohne
Bewusstsein entleert. Bald nach dem Eintritt der ersten Veränderungen, vielleicht
ohne dass eine solche überhaupt deutlich wurde, kann der Kranke den letzten
Athemzug tief seufzend oder mit leisem Schrei thun und sogleich todt zui'ücksinlven
(Apoplexie foudroyante) . Oder aber die Entwicklung des Insults zieht sich über
Stunden und Tage hin, Schwindel, Uebelsein, Erbrechen stellen sich allmälig ein,
der Patient wird der "Willkür über seine Glieder, der Sprache nach und nach
beraubt, immer mehr benommen und schliesslich erst versinkt er in Coma. Das
ist der protrahirte Insult. Es braucht aber dieses höchste Stadium des Insults,
das Coma, gar nicht immer einzutreten. Oft genug kommt es blos zum Sopor,
aus dem der Patient noch mit Mühe und für kurze Zeit zu erwecken, zu kurzer
Reaction auf Reize, Anrufen zu bringen ist, oder nur Sonmolenz stellt sich ein oder
schliesslich eine Bewusstseinstörung ist gar nicht oder nur ganz leicht angedeutet
und nur gewisse Folgeerscheinungen der Hämorrhagie, z. B. Lähmung von Arm und
Bein, oder eines Augenmuskels, der Verlust der Sprache haben sich plötzlich ge-
meldet und können auf die richtige Diagnose hinweisen. Das sind dann Fälle von
Hirnblutung ohne oder mit nur rudimentärem Insult.
In einem mittelschweren Fall erwacht der Patient nach Stunden oder längstens
einem Tag für kurze Zeit, murmelt einiges, schaut sich erstaunt um, gibt vielleicht
deutlich Zeichen, dass er seine Umgebung kennt, schliesst die Augen aber sehi' bald
wieder, diesmal vor Erschöpfung, und tiefer, dem Coma noch sehr ähnlicher Schlaf
tritt von Xeuem ein. Die geschöpfte Hoffnung rechtfertigt sich, mau kann dem
Kranken beim Wiedererwachen etwas flüssige Nahrung beibringen, er schluckt sie,
die Perioden des "Wachens werden häufiger, dauern länger, das Bewusstsein wird
dabei freier, der Anfangs noch nicht orientirte Kranke findet sich in seiner Umgebung
zurecht, ahnt, weiss schliesslich, was mit ihm geschehen und dass er schwer krank
ist, und allmälig geht sein Zustand in den regelmässigen "Wechsel von Schlaf und
"Wachen über.
V\''endet sich die Kranlvheit aber zum Schlimmen, so melden sich, ohne dass
das Bewusstsein wiedergekehrt wäre, böse Sjanptome. Der Puls ist Anfangs ver-
*) Vergl. ^Äpoplectisclier Insult" (E. Jexdrassik), des Bd. der „Bibliothek" pag. 101.
734 GEHIRNKEANKHEITEN.
langsamt, dann frequent, die Pupillen sind starr und eng, der Leib kahnförmig
eingezogen, der Kranke erbricht (Zeichen von „Gehirndruck"), die Respiration wird
mühsam aufgeregt, tief und schnaubend oder sehr frequent und oberflächlich, sie
wird schliesslich begleitet von Stertor und lautem Tracheairasseln, indem bei vernichteter
Reflexerregbarkeit des Kehlkopfes und der Trachea, die sich in letzterer sammelnden
Schleimmassen mechanisch bei jeder Respiration hin und her geworfen, nicht aber
ausgehustet werden. Urin und Stuhl ist entweder angehalten oder wird unwill-
kürlich entleert, die Temperatur steigt mitunter noch zum Schluss jäh in die Höhe,
manchmal bis zu exorbitanten Graden, oder unter allmäliger Abkühlung des ganzen
Körpers wird der Puls immer kleiner, weicher, unzählbar, die Athmung rhythmisch,
immer länger aussetzend und endlich kommt eine Pause, auf die kein Athemzug
mehr folgt.
Der apoplectische Insult ist der Ausdruck der Functionsstörung des Gesammt-
gehirns. Diese Störung vollzieht sich in folgender Weise : Reisst an irgend einer
Stelle die Gefässwand ein, so setzt sich der hier im Gefäss herrschende Blutdruck
unmittelbar auf das ganze Gehirn fort, die Gefässpannung, die ihm bisher entgegen-
wirkte, ist durch den Riss in Wegfall gekommen und dem Austritt des Blutes
wirken nur noch 2 Momente entgegen: die Cohärenz der Gehirnmasse und der
intracerebrale Druck. Die erstere vermag da nicht mehr zu wirken, wo sich das
ergossene Blut seinen Weg in einen Yentrikel oder an die Gehirnoberfläche gebahnt
hat, weshalb solche Blutungen regelmässig sehr bedeutende Dimensionen annehmen.
Der intracerebrale Druck wird sofort durch den Eintritt der Blutung erhöht und
damit das wichtigste Moment für das Stehen der Blutung geschaffen.
Diese Erhöhung des intracerebralen Druckes ist es aber auf der
anderen Seite, was durch Compression der Yenen und Capillaren
acute Adiämorrhysis cerebri i. e. den eigentlichen „Insult" bedingt.
Die Schwere des Insultes ist abhängig vom Kaliber des geborstenen Gefässes,
sowie von der Weite des Risses. Eventuell kann bei ganz langsam aus minimaler
Oeffnung aussickerndem Blut der Liquor cerebrospinalis Zeit gewinnen auszuweichen
und ein protrahirter oder ein rudimentärer Insult kann sich einstellen, während
vielleicht ein sehr umfänglicher Blutherd im Gehirn sich entwickelt, der späterhin
die unangenehmsten irreparablen Folgen als „Herderkrankung" nach sich ziehen
kann, denn gerade hier tritt ja die für die Stillung der Blutung so wünschenswerthe
Erhöhung des iutracerebralen Druckes nur in geringfügigem Maasse ein.
Die früher schon erwähnten „Symptome von Gehirndruck" melden sich bei
schweren apoplectischen Insulten und sind dann lediglich Ausdruck einer acuten inten- .
siven Adiämorrhysis, wie sie durch einen grossen Blutherd, besonders wenn dieser
rasch sich entwickelt, resultirt, wie z. B. bei Ventrikelblutungen.
Die Reflexe sind bei schwerem Insult Anfangs sammt und sonders aufgehoben,
später macht sich ein sehr bemerkenswerther Gegensatz zwischen den tiefen (Sehnen-,
Periost-, Fascienreflexen) und den oberflächlichen (Hautreflexen) geltend. In dem
Bereich der motorischen Lähmung, die eventuell durch eine Blutung etwa in der
Gegend der inneren Kapsel sich entwickelt, sind die tiefen Reflexe gesteigert
(Lähmung der Reflexhemmungsfasern), die oberflächlichen, einige besonders constant,
abgeschwächt oder aufgehoben.
Während noch Bewusstlosigkeit besteht und alle 4 Extremitäten, passiv erhoben,
fast anscheinend gleichmässig schlaff, der Schwere gehorchend, wieder niederfallen,
vermag man aus dem Fehlen der Hautreflexe schon die Seite zu erkennen, auf der
sich eine „Hemiplegie" später manifestiren wird. Kein Reflex ist in dieser Hinsicht so
wichtig, wie der sogenannte Cremasterreflex (besser Obliquus- oder Leistenreflex
genannt, weil er auch beim Weibe zu prüfen ist). Er besteht bei beiden Ge-
schlechtern in einer Verkürzung der untersten Fasern des M. obliquus internus und
wird durch rasches Streichen mit einem spitzen Gegenstand an der Innenseite des
Oberschenkels gegen die Schamtheile oder unterhalb des Lig. Poupartii ausgelöst. Die
reflectorische Contraction des M. obliquus internus ist oberhalb des Lig. Poupartii
GEHIRNKRANKHEITEN. 735
und parallel demselben siclitbar, beim Mann wird gleich zeitigder Hoden der betreffen-
den Seite gehoben.
Veränderungen in der Koth- und ürinabscheidung, Retention und unwill-
kürlicher Abgang sind sehr häufig, vermehrte Urinsecretion bei niederem specifischem
Gewicht (Polyurie), Glj'cosurie und Albuminurie kommen seltener vor und sind auf
directe oder indirecte Schädigung der Gegend des IV. Ventrikels nach physiologischen
Grundsätzen zu beziehen. Niemals versäume man bei constatirter Albuminuiie
das Urinsediment mikroskopisch zu untersuchen, um keine Nephritis zu übersehen,
als deren Terminalerscheinung eine Apoplexie sich einstellen kann.
Diagnose. Obwohl die Gehiruhämorrhagie fast stets den apoplectischen
Insult, also die Erscheinungen einer diffusen Gehirnerkrankuug setzt, ist sie in
letzter Instanz doch eine circumscripte Affection und muss in den meisten Fällen
auch Herdsymptome zur Folge haben. Dieser Punkt ist für die Diagnose von
ausschlaggebender Bedeutung. Schwere Benommenheit, Coma, Convulsionen, Er-
brechen und alles was sonst im apoplectischen Insult beobachtet wird, kann auch
durch ganz heterogene Ursachen hervorgerufen werden, so durch alle schon früher
besprochenen Formen acuter Adiämorrhysis, durch Vergiftungen des Gehirns, z. B.
durch Narcotica (Alcohol, Morphium, Atropin etc.), durch Autointoxication, wie bei
der Urämie, dem Coma diabeticum.
Der Rausch wird leicht durch den Geruch des Athems nach Alcohol erkannt,
der urämische Anfall als solcher durch die Untersuchung des Urins, der Eiweiss
und metamorphosirte Cylinder enthält, ferner durch die Untersuchung des Augen-
hintergrundes (Retinitis albuminurica), sowie durch den Nachweis einer linksseitigen
Herzhypertrophie. Doch darf nicht vergessen werden, dass gerade bei chronischer
Nephritis auch eine Gehirnblutung recht häufig eintritt. Der frühzeitige Nachweis,
dass durch die schweren AUgemeinerscheinuugen, die die Scene vollständig beherrschen,
eine Herdaffection maskirt wird, liefert das schon beschriebene Verhalten der Reflexe,
sowie die erwähnte Zwangsstellung der Augen (conjugirte Deviation), die nach einer
Seite abweichen und, wenn sie gleich eventuell hin und her pendeln (Nystagmus) immer
wieder nach einer Seite und zugleich nach oben abweichen. Ist man in der Diagnose
nun soweit gekommen, dass man eine einseitige Affection des Gehirns annehmen
kann, so kommen d i f f e rentiell-diagnostisch nur noch in Betracht : encephalomala-
cischer Herd, Abscess, Pachymeningitis, Tumor cerebri und progressive Paralyse. Die
bisweilen unmögliche Unterscheidung hievon wird weiter unten zu besprechen sein.
Es ist hier nicht der Ort von den Krankheitserscheinungen zu berichten,
welche als Herdsymptome nach einer Hirnblutung zurückbleiben können, dieselben
sind nach dem Sitz der Blutung verschieden und nach den Gesetzen der topischen
Diagnostik zu betrachten. Die Leitungsbahnen, welche durch die Blutung zerstört
sind, werden nicht wieder gangbar. Was aber durch den Blutherd nur indirect
geschädigt, gedrückt wurde, kann sich wieder erholen, wenn eine Verkleinerung des
Extravasats eintritt und die Circulatiousstörung sich wieder ausgleicht. Eine solche
Reparation vollzieht sich in der Regel im Verlauf des ersten halben Jahres. Was
danach von Lähmung zurückbleibt, ist persistent per totam vitam. Als geradezu
typisch für die Hirnhämorrhagie muss übrigens die Hemiplegie angesehen werden,
die sich auf der contralateralen Seite einstellt. Arm, Bein, die unteren Aeste des
Facialis, eventuell auch noch den Hypoglossus befällt, entsprechend dem Lieblings-
sitze der Blutung in der Gegend der inneren Kapsel.
Die Lähmung ist Anfangs eine schlaffe, bald aber stellt sich eine Contractur
ein, der Arm wird im Ellbogen gebeugt, adducirt, die Hand pronirt, die Finger
werden gebeugt gehalten. Die krampfhaft geschlossene Hohlhand kann bei unacht-
samer Pflege Sitz von Unreinlichkeit und Entzündungen werden; vermehrte Schweiss-
bildung und Kälte wird an den gelähmten Theilen häufig beobachtet. Der Fuss
wird in Equino-varus-Stellung gehalten, der Gang ist sehr charakteristisch, der Accent
des Schrittes fällt auf den gesunden Fuss, der gelähmte wird langsam und im Bogen
nach vorn gezogen, bleibt dabei mit der Spitze und dem äusseren Rand am Boden
'^36 GEHIRNKEANKHEITEN.
liaften. Auf der gelähmten Seite des Gesichtes hängt der Mundwinkel, die Xaso-
labialfalte ist verstrichen oder weniger ausgeprägt als auf der anderen Seite, die
Zunge weicht bei Betheiligung des Hvpoglossus nach der gelähmten Seite ab. Die
tiefen Reflexe sind im Bereiche der Lähmung gesteigert, der elektrische Befund
an den Xerven und Muskeln in fast allen Fällen normal.
Prognose. Der geringste Theil der Kranken erhegt der ersten Attaque im
Insult (ein gleich geringer Theil behält keine bleibenden Herdsj-mptome), bei Weitem
die Mehrzahl kommt mit dem Leben zunächst davon, hat aber dauernden Schaden
in Form von Lähmungen, Aphasie etc. und die fast gewisse Aussicht auf schliessliche
letale Wiederholung der Blutung, weil ja die Grundursachen (Atherom, Schrumpfniere etc.)
irreparabel sind. Ausgenommen hievon sind vielleicht syphilitische Yeränderungen
der Hirngefässe, die dui'ch Jod und Quecksilber geheilt werden können und die
transitorischen Krankheiten des Blutes (Purpura), Pertussis etc.
Quoad vitam ist, wo die Patienten nach den ersten 24 Stunden nicht wenigstens
einmal erwachen, die Prognose sehr ungünstig, ebenso wenn Tracheairasseln, Chetxi:-
STOCKEs'sches Athmen sich einstellt, oder der Anfangs verlangsamte Puls frequent imd
klein wird. Complicirende hypostatische Pneumonie kündet in der Piegel das Ende
an, Yentrikelblutungen mit ihren stürmischen Erscheinungen verlaufen fast ausnahms-
los in kurzer Zeit tödtlich. Tritt während des Insultes oder rasch auf ihn folgend
nochmalige plötzliche Verschlimmerung des Zustandes eia, so handelt es sich um den
seltenen Fall einer zweiten Blutung oder einer solchen aus dem nämlichen Eiss und
der Tod ist fast immer besiegelt. Dagegen gibt geringe Entwicklung " der Insult-
erscheinungen, frühzeitiges Erwachen aus der Bewusstlosigkeit gute Aussicht auf Er-
haltung des Lebens. Wo aber Anfangs schwache Erscheinungen sich stetig steigern,
gibt dieser protrahii'te Insult nur sehr wenig Hoffnung Eaum. Immer aber kann
man in einer geringen Anzahl von Fällen Ausnahmen von diesen Eegeln nach der
guten wie nach der schlechten Seite erleben.
Wie nach glücklich überstandenem Insult sich für das fernere Leben die zurück-
bleibende Schädigung der Hirnfunctionen, die Lähmung, die Störung der Sprache etc.
verhalten werden, ist in der ersten Zeit nicht vorauszubestimmen. Wohl gibt eine
nicht vollständig ausgesprochene und wenig weitverbreitete Lähmung mehr Aussicht
auf vollständige Heilung, auf der anderen Seite zeichnen sich aber gerade Mono-
plegien oft durch ihre absolute Unheilbarkeit aus. Wenige Fälle heilen ganz aus,
wenige erweisen sich fürs ganze Leben vom Heilbestreben der Xatiu' und von der
Kunsthilfe unbeeinflussbar, die meisten Lähmungen erfahren in den ersten Monaten
nach dem Schlagaufall eine mehr oder weniger weitgehende Besserung. Dabei ist es
in der Eegel das Bein, das früher und vollständiger der Willkür wieder unterworfen
wird, so dass die Patienten schon wieder gehen können, während ihr Arm z. B.
noch vollständig seiner Function beraubt ist und in Contractur verharrt. Auch die
Lähmung des Facialis und Hypoglossus heilt meistens früher. Was von den Störungen
nach einem halben Jahr noch besteht, erfährt auch durch die ärztliche Kunsthilfe
in der Eegel keine nennenswerthe Besserung mehr.
Prophylaxe. Leute, bei denen Hii'nhämorrhagie schon einmal dagewesen, oder
bei denen sonst eine solche zu fürchten ist (vergl. Aetiologie) müssen jede körperliche
schwere Anstrengung, Heben schwerer Lasten u. dgl., jeden Excess in baccho etvenere,
jede psychische Alteration sorgfältig meiden, kurz Alles das, was das Herz zu ver-
mehrter Arbeit anspornt. Kaltes Baden, namentlich bei erhitztem Körper ist ge-
fährlich, desgleichen copiöse Mahlzeiten, lieber soll häufig imd weniger gegessen
werden. Eiweissreiche, leicht verdauliche Xahrung, die wenig Koth bildet, ist anzu-
rathen. Kohlensäurereiche Getränke, die rasch ins Blut gehen und damit den Blut-
druck erhöhen, sind verboten. Sorgfältig muss für offenen Stuhl gesorgt werden
durch regelmässige Klysmata oder Abführmittel. Zu hohe Temperatur der Speisen
und Getränke ist schädlich, ebenso Einwirkung äusserer Hitze auf den Kopf wie die
Strahlen der Sonne oder einer nah stehenden, nicht abgeblendeten Lampe. Im
Sommer ist das Tragen leichter heller Kleider, eines Sonnenschirmes dringend an-
GEHIKNKEANKHEITEN, 737
zurathen, wenn der Aufenthalt im Freien in der Sonne nicht durchweg vermieden
werden kaim.
Therapie. Bei eingetretenem blutigen Hirnschlag muss der Kranke sofort
vorsichtig zu Bett gebracht werden, alle beengenden Kleidungsstücke werden entfernt,
der Kopf massig hoch gelagert. Man suchte (praktisch noch nicht erprobt) den Blutdruck
herabzusetzen durch Abbinden aller 4 Extremitäten bis zur venösen Stase, die man
etwa eine Stunde laug währen lässt, dann darf der Blutkreislauf nur langsam und nicht so-
gleich an allen4 Extremitäten wieder freigegeben werden. Der Darm muss durch ein Kly-
stier mit Zusatz von Kochsalz (2 Esslöffel auf ^2 Liter) oder durch Einspritzen von
5 g Glycerin in anum oder durch eines der käuflichen Glycerinzäpfchen entleert
werden. Kann der Kranke schlucken, ist überhaupt der Anfall ein leichter, so sind
die Mittelsalze in abführender Dosis per os zu reichen. Nur wenn die Zeichen
vermehrten intracerebralen Druckes (vergl. oben) aufgetreten sind, darf die Eisblase
auf den Kopf gelegt werden. Grleich Anfangs sie anzuwenden, ist ein grosser Fehler,
weil dadurch nur eine Vergrösserung der Blutung herbeigeführt werden kann; das
Gleiche gilt von der Anwendung des Ergotin. Ist der Insult ein sehr schwerer und
will der Kranke nach 24 Stunden nicht erwachen, so ist, wenn nicht allgemeine
Anämie es contraindicirt, eine ausgiebige Venaesection am Platze. Bei gefüllter Blase
muss diese durch den Catheter entleert werden, grosse Sorgfalt erheischt die Haut-
pflege (Luftkissen, Waschen mit Franzbranntwein), um den Decubitus zu vermeiden.
Vom 2. Tag an muss Imal im Tag eine Untersuchung der Unterlappen der Lunge
vorgenommen werden, bei beginnender Hypostase lagert man den Patienten auf die
derselben entgegengesetzte Seite.
Hat sich der Kranke vom Insult erholt, so tritt die Prophylaxe (vergl. diese) mit
aller Strenge in ihr Recht, man lässt den Kranken nur so viel gemessen, als er für die
nächsten Tage zum Leben nothwendig braucht, vermeidet alle Herzreize; namentlich
zu hohe Temperatur der Speisen und Getränke. Die Nachbehandlung der zurück-
bleibenden Schädigungen ist je nach der Natur derselben natürlich verschieden. Für
die typischen, gewöhnlichsten Fälle von Aphasie und Hemiplegie kommen haupt-
sächlich in Betracht methodische Lese- und Sprachübungen, Massage, Heilgymnastik
und der elektrische Strom. Die periphere Faradisation der gelähmten Glieder kann
4 Wochen, die vorsichtige Galvanisation des Gehirns 3 Monate nach dem Insult
angefangen werden. Bei der letzteren sind grosse, wohl durchfeuchtete Elektroden-
platten anzuwenden, der Strom darf weder unterbrochen, noch gewendet, muss vor-
sichtig ein- und ausgeschlichen werden, die Stärke des Stroms ist ganz niedrig zu greifen
(so stark, das der Schluss desselben im Auge des Arztes, wenn die Elektroden an
dessen Schläfen sitzen, gerade eine Lichterscheinung im Auge hervorruft), die Dauer
der Sitzung soll 5 Minuten höchstens nicht überschreiten, diese ist wöchentlich 4- bis
5mal zu wiederholen.
III. EmboUe und Thrombose.
Die Verschliessung einer Gehirnarterie kann durch Embolie"^'), Thrombose oder
durch beides erfolgen. Ein Embolus fährt viel häufiger durch eine Carotis (öfter
die linke) als durch die Arteria vertebralis ins Hirn. Er kann von einer Thrombose im
Gebiet der Lungenvenen, oder im linken Herzohr (Mitralfehler) stammen, oder bei
Endocarditis und Endarteritis können Partikel vom Blutstrom, Fibringerinnsel, die an
rauhgewordenen Klappen oder Gefässwänden sich secundär niederschlagen, fortgespült
werden und das Material für den Embolus liefern.
Thrombose entsteht entweder um einen Embolus herum, der zu klein war, das
Lumen des Gefässes, wo er festgefahren, vollständig zu verlegen oder sonst, wo das
Lumen verengt, die Gefässwand rauh geworden (Sclerose, Atherom der Gehirnarterieu),
namentlich dann, wenn gleichzeitig aus noch anderen Gründen (Herzschwäche, Marasmus)
die Stromgeschwindigkeit in der Arterie gesunken ist.
*) vergl. y,Embolie der Arterien'^ (Litten) ds. Bd. pag. 530.
Eibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. ^
738 GEHIRNKRANKHEITEN,
Embolie ■ kann in jedem Lebensalter vorkommen. Thrombose der G-ehirnarterien
ist eine Krankheit der vorgerückten Jahre, vor den Vierzigern selten, es sei denn,
dass Lues die Ursache für die Gefässveränderungen abgibt.
Anatomischer Befund. Post mortem findet man den Gehirnabschnitt, der
durch Verlegung seines zuführenden Gefässes ischämisch geworden, im Zustande der
Erweichung. Einfache weisse Erweichung stellt sich ein, wenn Blutungen in den
Herd hinein fehlen; je mehr solche sich ausgebildet haben, desto mehr erscheint das
Bild der gelben oder sogar der rothen Erweichung. Ein solcher Erweichungsherd
kann durch Bindegewebswucherung in der Umgebung abgekapselt werden, was be-
sonders leicht bei jugendlicheren Individuen vorkommt, und kann bei der nachfolgenden
Umwandlung der Zerfallsproducte der Gehirnsubstanz, sowie des abgelagerten Blut-
farbstoffes später von einer alten Hirnhämorrhagie durch Nichts sich mehr unter-
scheiden. Liegt der Herd nahe an der Oberfläche, so sinkt diese ein und der frei
werdende Raum wird durch vermehrte Subarachnoidealflüssigkeit ausgefüllt.
Die Grösse und Zahl solcher Erweichungsherde schwankt ungemein. Bald
vermag sie nur das Mikroskop zu entdecken, bald sind sie makroskopisch wohl sichtbar
und klein, dabei so massenhaft vorhanden, dass der sogenannte Etat crible des Ge-
hirnes zum Vorschein kommt, bald sind erbsen-, haselnussgrosse Herde vorhanden
oder ganze grosse Provinzen des Gehirnes sind der ischämischen Encephalomalacie
verfallen. Wie gross aber ein solcher encephalomalacischer Herd auch sei,
stets fehlen, auch in frischen Fällen, am Gehirn die Zeichen erhöhten Druckes im
Gegensatz zur Hirnhämorrhagie. Viele kleine Herde finden sich häufiger an der
Hirnrinde als Folge von Gefässveränderungen in der Pia, während grössere solitäre
auf dem Wege der Embolie sich oft im Gebiet der Arteria fossae Sylvii oder einer
anderen grösseren Stammarterie einstellen. Man kann in letzteren Fällen den Embolus
in der Arterie, meist reitend auf einer Gabelungsstelle, nachweisen. Sclerose und
Atherom der Gehirnarterien künden sich an den verengten Gefässen als Verdickung
und Erhärtung der Intima mit Piundwerden der Innenfläche an, welche Veränderungen
sich auch auf die anderen Häute der Gefässwand fortsetzen können, man sieht dann
am Durchschnitt des Gehirns die starren Gefässe hervorragen.
Symptome. Die Mechanik des Insultes bei Embolie ist folgendermaassen aufzu-
fassen. Wird ein Gefäss verstopft, so ist stromabwärts von der verlegten Stelle im Gefäss
der Blutdruck unwirksam, die gespannte Gefässwand kann sich ungehindert zusammen-
ziehen. Die Verengerung dieses Gefässabschnittes bedingt eine sofortige entsprechende
Erweiterung aller übrigen Gefässprovinzen, in denen einen Moment lang also das vom
Herzen nachströmende Blut zu dieser Erweiterung verbraucht wird und nicht in die Capil-
laren strömt, in welch' letzteren, wie die Theorie zeigt, sogar eine retrograde Strömung von
kurzer Dauer entstehen kann. Auf di ese kurzdauernde, aber sehr plötzlich
eintretende allgemeine Adiämorrhysis antwortet das G-ehirn mit
den Symptomen des Insultes, die also denen bei blutigem Hirnschlag im Allge-
meinen gleichen müssen, weswegen auf letzteren zurückverwiesen werden kann, da ja
auch bei der Hirnhämorrhagie der Insult durch Adiämorrhysis bedingt ist. Der Insult
bei Embolie ist umso stärker, je grösser das embolisirte Gefäss ist und je rascher
der vollständige Verschluss erfolgte.
Ein rudimentärer Schlaganfall bildet sich aus, wenn nur kleinere Gefässbezirke,
oder grössere allmälig, ausser Circulation gesetzt wurden. Naturgemäss beobachtet
man also den rudimentären Insult, bei dem es vielleicht nur zu Schwindel, Uebelsein,
Ohnmachtsanwandluug, rasch vorübergehender Bewusstseinsstörung und etwa noch irgend
einem flüchtigen Herdsymptom, Verlust der Sprache, Sehstörung, Parese von Arm
und Bein kommt, bei Thrombose der Gehirnarterien, besonders bei hochbetagten
Leuten. In einem solchen Fall führt in den veränderten und verengten Gefässen
der sich bildende Thrombus erst allmälig völligen Verschluss des Gefässes herbei.
Aber auch bei Embolie der Gehirnarterien kann ein solcher protrahirter Insult
beobachtet worden, dann nämlich, wenn der Embolus wegen seiner Grösse und Gestalt
das Lumen des Gefässes, in welchem er stecken blieb, nicht vollständig obturirte.
GEHIRNKRANKHEITEN. 789
an ihn aber eine weitere Blutgerinnung sich anschloss und das Gefäss vollends für
den Blutstrom unwegsam machte. In den meisten Fällen freilich tritt,
weil plötzlich und mit einem Schlage durch das Hineinfahren des Pfropfes in eine
Gehirnarterie die schweren Veränderungen in der Circulation des Gehirns gesetzt
werden, auch der apoplectische Insult bei der Gehirnembolie ausser-
ordentlich acut ohne alle Prodrome in die Erscheinung.
Wie schwer der Insult ausfällt, ob er günstig verläuft, oder in ihm das Leben
erlischt, ob direct und indirect Herdsymptome dabei ausgesprochen sind, hängt von
der Grösse des verstopften Gefässes ab. Die Veränderungen in der Nachbarschaft
des encephalomalacischen Herdes sind geringeren Grades als bei einer Hirnblutung, der
schädliche Einfluss vermehrten intracerebralen Druckes, der bei letzterer in so deletärer
Weise andauernde Adiämorrhysis cerebri herbeiführen kann, ist naturgemäss nicht
zu fürchten. So kommt es, dass man gerade bei der Gehirnembolie auch auf
schwere Insulterscheinungen häufig rasche Besserung und Erholung eintreten sieht.
Stellt sich längstens nach 2X24 Stunden in den vom Blutzufluss ausgeschalteten
Gehirnbezirken ein ausreichender Collateralkreislauf durch Erweiterung der Gehirn-
capillaren wieder her, so kann sich die geschädigte nervöse Substanz wieder erholen
und der Insult wird vom Kranken ohne allen bleibenden Nachtheil überstanden.
Im anderen Falle stellt sich rettungslos die erwähnte Erweichung im betreffenden
Bezirk ein und die daselbst liegenden nervösen Organe sind und bleiben für den
Patienten verloren. Je nach Ort und Ausbreitung der hiedurch gesetzten Zer-
störung des Gehirns gestalten sich die bleibenden Herdsymptome verschieden. Bei
keiner anderen Gehirnerkrankung kommen diese Herdsymptome so rein und un-
vermischt, so eindeutig zum Ausdruck und sind so gut für die topische Gehirn-
diagnostik zu verwerthen, wie gerade bei der embolischen oder thrombotischen Encephalo-
malacie, weil hiebei die nächste Umgebung, später wenigstens, am mindesten gestört
ist und Fernwirkungen des Krankheitsherdes, weil er den Raum der Schädelhöhe ja
nicht beengt, nicht auftreten können. Prädilectionsstelle für eine Embolie ist das
Gebiet der Arteria fossae Sylvii, welche die Stammganglien, die innere Kapsel versorgt.
Demgemäss ist die häufigste Folge einer Gehirnembolie zurückbleibende Lähmung
von Arm und Bein auf der gekreuzten Seite, gerade wie bei der Hämorrhagie, oft
rechtsseitig auftretend und dann häufig mit Aphasie verbunden, weil öfter auf der
linken Seite des Gehirns die Embolie erfolgt. Thrombose kleinerer Gehirnarterien
macht sich meist gegen die Hirnrinde zu geltend. Ptindensymptome : Monoplegien,
Sprachstörungen, Sehstörungen bei normalem Befund am Augenhintergrund (Herd im
Occipitallappen) u. s. w. werden dann beobachtet. Unmöglich können hier alle
Vorkommnisse aufgezählt werden, welche aus dem mannigfachen Sitz der Erweichungs-
herde resultiren. Eventuell kann durch acute Anämie der lebenswichtigen Centren
der momentane Tod als Herdsymptom auftreten.
Der Verlauf einer zurückbleibenden Lähmung gestaltet sich im grossen Ganzen
conform dem früher beschriebenen, durch Hirnblutung entstandenen. Nur kommen
bei der Embolie rasche und ausgiebige Besserungen aller Symptome verhältnismässig
häufig vor.
Diagnose: Wie man die Frage entscheidet, ob überhaupt ein „Gehirnschlag"
vorliegt, wurde bereits gelegentlich der Besprechung der Gehirnblutung ausgeführt.
Die zweite Frage, die sich danach aufwirft, ob Hirnhämorrhagie oder Embolie,
allenfalls Thrombose der Gehirnarterien vorliegt, ist ausserordentlich schwer, häufig
gar nicht mit Sicherheit zu beantworten. Die Beobachtung folgender Unterscheidungs-
merkmale führt auch geübte und erfahrene Beobachter durchaus nicht immer zum
richtigen Ziel.
Im höheren Lebensalter kommt sowohl Hämorrhagie wie Embolie und Thrombose
häufiger vor wegen der Greisenkrankheit, der Atheromatose. Jugendliches Alter
spricht dagegen entschieden mehr für Embolie. Nachgewiesenes Atherom spricht
mehr für Hämorrhagie oder Thrombose, direct nicht für Embolie. Besteht ein
Herzfehler, so ist zunächst eine Embolie wahrscheinlich. Nephritis chronica, Blut-
47*
740 GEHIRNKRANKHEITEN.
erkranliimgeii, Scorbut, Morbus maculosus Werlhofii u. s. w. disponireu zur Hirn-
blutung. Embolien finden öfter links als rechts statt, führen also meist rechtsseitige
Hemiplegie mit Aphasie herbei. Coustitutionelle Syphilis ist oft Basis für Thrombose
des Gehirns. Plötzlich eintretender Insult, besonders mit rasch folgender sehr erheb-
licher Besserung ist charakteristisch für Embolie. Sehr protrahirter Insult macht
im Ganzen Thrombose der Gehirngefässe wahrscheinlich. Im Verlauf ist für eine
Embolie bezeichnend, dass zwar baldige erhebliche Besserung, das Maximum derselben
aber auch sehr früh eintritt und nach etwa 2 — 3 Monaten die zurückbleibende Schädi-
gung permanent bleibt.
Die Prognose des durch Verstopfung der Gehirnarterien entstandenen apo-
plectischen Insults ist umso ungünstiger je schwerer und anhaltender das Bewusstsein
gestört ist. Doch kann bei Embolie das Bewusstsein erst am 3. oder 4. Tag
wiederkehren und doch der Kranke mit dem Leben davonkommen. Schlechtwerden
des Pulses, rhythmisches Athmen, hypostatische Pneumonie, Trachealrasselu sind in
der Eegel tödtliche Zeichen. Die Prognose der Functionsstörung ist gewöhnlich
günstiger als bei der Hämorrhagie, indem raschere und vollständigere Besserung der
aufgetretenen Lähmung häufig beobachtet wird. Dagegen besteht geringere Aussicht,
dass im ferneren Verlauf, nach etwa 2 — 3 Monaten ein noch weiterer Rückgang der
Erscheinungen auch durch therapeutische Maassnahmen erzielt werden kann. Es sind
eben die indirecten Herdsymptome bei der Embolie weniger ausgebildet und
jedenfalls stets viel flüchtigeren Charakters als bei der Gehirnblutung. Diese indirecten
Herdsymptome bilden aber den einzigen Angriffspunkt der heilenden Zeit und unserer
therapeutischen Eingriffe. Was einmal, sei es durch Ischämie, sei es durch zer-
trümmernde Blutung, — ganz zerstört ist, bleibt es auch. Wiederholungen des
Insultes sind wegen der Natur des Grundleidens ausserordentlich häufig.
Therapie. Theoretisch gefordert ist bei Insult durch Embolie oder Throm-
bose sofortiges Tieflegen des Kopfes und Anspornen der Herzthätigkeit durch Wein,
Campher, später Digitalis. Nur schade, dass die präcise Diagnose gegenüber der
entgegengesetzt zu behandelnden Hämorrhagie nur in den seltensten Fällen möglich
ist. Dagegen ist bei den Affectionen die Nachbehandlung der zurückbleibenden
Lähmungen etc. die gleiche, nicht aber wieder die Prophylaxe gegen Eecidive. Hier
muss die Herzkraft möglichst dauernd gehoben und immer wieder augespornt werden,
damit nicht von Neuem sich Gerinnsel und damit Quellen für Embolien bilden.
Freilich liegt hier die eben nicht zu vermeidende Gefahr vor, dass gerade hiedurch
die verstärkte Herzaction schon vorhandenes Thrombenmaterial mobil macht und eine
Embolie herbeiführt.
IV. Entzündung und Abscess.
Aetiologie. Der Gehiruabscess entsteht, wenn eitererregende Mikro-
organismen in die Gehirnsubstanz gelangen und daselbst festen Fuss fassen. Das
kann geschehen, indem sich per contiguitatem eine Entzündung von der Umgebung her
aufs Gehirn fortpflanzt. So beobachtet man (als ziemlich nebensächlichen Befund)
den Gehirnabscess zuweilen bei Leptomeningitis purulenta, ferner aber bei Caries des
Felsenbeins, des Siebbeins, bei Thrombose mid eitriger Entzündung eines Hirusinus.
Hierzu geben besonders Phlegmonen am Gesicht und Kopf, Erysipelas faciei, schwere
Furunkel am Kopf, Gesicht, Nacken u. s. w. Veranlassung. Es kann aber auch
auf dem Blutweg eine Verschleppung der Entzündungserreger aus entfernten Pro-
vinzen ins Gehirn erfolgen. In erster Linie sind hier eitrige Processe in den
Lungen und der Pleura: Empyema, Bronchiectasie mit Bronchialblenorrhoe, ferner
Endocarditis septica zu nennen als Processe, von denen aus auf dem Wege von
Thrombose und Verschleppung eitriginficirten Thrombenmaterials die Infection des
Gehirns erfolgen kann. Bei Endocarditis septica sind die Entzündungserreger, welche
ihren zerstörenden Einfluss am Endocard entfalten, ohnehin dem Blutstrom leicht
zugänglich und können wie sonst überall im Körper, so auch einmal im Gehirn
einen metastatischen Abscess anregen. Auch ohne eine Endocarditis als ver-
GEHIENKRANKHEITEN. 741
mittelndes Biucleglied kann die Encephalitis purulenta als locale Theilerscheiuung
allgemeiner septico-pyäniischer Infection auftreten, ebenso in seltenen Fällen
bei schwerer typhöser Variola u. s. w. Eine Sonderstellung diesen secundären
Formen von Grehirnabscess gegenüber nehmen diejenigen seltenen Fälle ein, wo auch
das Messer des Anatomen schlechterdings keinen Ausgangspunkt für die Eiterbildung
im Gehirn nachweisen kann. Es ist nicht unwahrscheinlich, aber auch noch nicht
sicher erwiesen, dass diese Fälle von sogenannten primären oder idiopatliischen
Hirnabscessen nur anomale Localisationen des Giftes der Meningitis cerebrospinalis
epidemica darstellen.
Anatomischer Befund. Die circumscripte purulente Hirnentzündung bildet
im Beginn kleine röthliche bis rothe Herde, die sich vergrössern und dabei gelbweiss
bis röthlich werden und durch die massenhafte Anhäufung von Leucocyten immer
mehi" den Charakter von richtigen Abscessen annehmen. Die Wand eines solchen ist
Anfangs sehr unregelmässig begrenzt, die Umgebung ödematös, eventuell durch Blutungen
röthlich gesprengelt, der Eiter ist rahmig, von gelbweisser oder grünlicher Farbe,
fadem Geruch. Die Dimensionen wechseln von Hirsekorn- bis Wallnuss- und Eigrösse,
es kann sogar der grösste Theil eines ganzen Lappens eingeschmolzen sein. Lieblings-
sitz für die embolischen Abscesse sind die Hemisphären des Gross- und Kleinhirns,
seltener wird der Hirnstamm betroflen. Ganz kleine Abscesse können noch resorbirt
werden und durch Xarbenbildung heilen, grössere werden durch eine Granulations-
schichte, später durch faseriges Bindegewebe gegen die Umgebung abgegrenzt und
können so Jahrzehnte lang bestehen, aber es wachsen solche chronische Abscesse
doch von der Granulationsmembran aus langsam fort, es wird die Umgebung atro-
phisch und degenerirt.
Symptome und Verlauf. Der Gehiruabscess entwickelt sich meist chronisch
im Verlauf von Wochen und Monaten. Lange Zeit bestehen mitunter nur ganz vage
Symptome eines Kopfleidens, welche einer Deutung nicht fähig sind. Erst wenn
diese schon in den Vordergrund treten, die Kopfschmerzen überhandnehmen, Er-
brechen sich einstellt, das Bewusstsein gestört wird, Delirien, Sopor sich melden,
denkt mau beispielsweise bei einer Bronchiectasie an das ominöse complicirende Leiden.
Umso eher natürlich, wenn Herdsymptome zur Beobachtung kommen. Diese sind
begreiflicherweise je nach dem Sitz des Abscesses mannigfacher Art. Sie zeichnen
sich dadurch aus, dass sie, irreparabel, immer schlimmer werden, weitere Verbreitung
aimehmen. Weiterumsichgreifen dieser Herdsymptome, der auftretenden Lähmungen
an den Muskeln des Kopfes und der Extremitäten, au den Sinnesorganen u. s. w. wird
oft eingeleitet durch Convulsionen. Von grosser Bedeutung für die Diagnose ist der
fieberhafte Charakter des Processes, doch hat das Fieber einen wenig charakteristischen
Verlauf und ist mitunter so geringen Grades, dass nur sorgfältige und oft wieder-
holte Messung es erkennen lässt. Wenn gleichzeitig, wie das oft der Fall ist,
noch eine andere fieberhafte Krankheit, Pyämie, Bronchitis u. s. w. im Körper
tobt, so kann begreiflicherweise die beobachtete Temperatursteigerung nicht für die
Annahme eines Hirnabscesses verwerthet werden. Unter solchen Umständen ent-
geht die Gehirnkrankheit, wenn nur allgemeine Hirnsymptome: Benommenheit,
Delirien, Kopfschmerzen auftreten, die auch eventuell auf den Gruudprocess bezogen
werden können, lang oder überhaupt der Diagnose. Ganz plötzlich auftretende
Exacerbationen der cerebralen Symptome, das Hinzutreten von Herdsymptomen,
die freilich bei allgemeiner schwerer Infection des Gehirns oft gar nicht unzwei-
deutig zum Ausdruck gelangen, machen eventuell darauf aufmerksam, dass im Ge-
hirn noch etwas Besonderes geschehen ist. Indem die diffusen Hii'nsymptome immer
mehr zunehmen, das Bewusstsein schwindet, nachdem moussitireude oder furibunde
Delirien vorausgingen, Stuhl und Urin unwillkürlich entleert wird, kommt allmälig
der Tod unter Xachlass der Herzaction, vielleicht nachdem sich noch finem versus
eine hypostatische Pneumonie ausgebildet hat. Meist braucht ein Hirnabscess bis zum
tödtlichen Ende längere Zeit, mehrere Monate, ein Jahr und darüber. Xicht immer
sind selbst bei so langer Dauer der Krankheit Herdsymptome zur Beobachtung ge-
742 GEHIRNKRANKHEITEN.
kommen, sehr oft contrastirt eine weit ausgebreitete Zerstörung des Centrum semiovale
Vieussenii post mortem mit der Geringfügigkeit der intra vitam beobachteten Er-
scheinungen. In manchen Fällen entwickelt sich der Gehirnabscess viel acuter, in
Tagen oder Wochen tritt schon der Tod ein, das sind die Fälle, welche unter dem
anscheinenden Bild der Meningitis verlaufen und von dieser intra vitam auch fast
niemals unterschieden werden. Auch im gewöhnlichen chronischen Verlauf des Hiru-
abscesses kann jederzeit eine acute Verschlimmerung unter stürmischen Symptomen,
Covulsionen, Nackenstarre, Coma, Tod eintreten. Es ist dies regelmässig der Fall,
wenn der Abscess in den Ventrikel oder gegen die freie Hirnoberfläche durchbricht.
Ist der Hirnabscess vorher symptomlos verlaufen, dann ist eine derartige plötzlich ein-
tretende Katastrophe nur schwer oder gar nicht richtig zu deuten.
Für die sichere Diagnose des Hirnabscesses ist der Nachweis eines der
oben erwähnten ätiologischen Momente von der grössten Bedeutung. Hirnabscess ist
(ausgenommen Meningitis) die einzige fieberhafte Gehirnkrankheit, ersetzt diffuse
und Herdsymptome, oft sprungweise fortschreitend, hat fast niemals Hirndruck und
Stauungspapille im Gefolge. Die Entzündung der Hirnsubstanz, die nicht zum Abscess
führt, wie die, welche eine Meningitis zu begleiten pflegt, ist keiner speciellen Dia-
gnose fähig.
Die Prognose des Hirnabscesses ist sehr ungünstig, nach kürzerer oder längerer
Frist erfolgt der Tod, auf dessen unangemeldeten plötzlichen Eintritt man in jedem
Stadium der Krankheit gefasst sein muss.
Die Therapie kann nur eventuell eine operative sein. Wenn der Eiterherd
oberflächlich genug liegt, dass man ihn nach einer Trepanation erreichen kann, wenn
die topische Diagnostik, welche hier von eminent praktischer Bedeutung wird, ihre
Probe bestanden hat, kann man hoffen durch Function des Abscesses Heilurg herbei-
zuiühren. Dies muss mit aller Anstrengung versucht werden und ist auch schon ge-
lungen. In den meisten Fällen spielt die symptomatische Anwendung der Kälte und
der Narcotica die Hauptrolle.
V. Tuberciüose des Gehirns.
Die Tuberculose des Gehirns*) ist meistens embolischen Ursprungs und zwar
ist das Primäre gewöhnlich Tuberculose des Eespirationstractus. Doch braucht nicht
ausgesprochene Lungentuberculose zu bestehen, oft genügt die Verkäsung weniger
peribronchialer Lymphdrüsen, wie sie z. B. nach Masern oder Keuchhusten nicht selten
sich einstellt, um das Depot für das tuberculose Gift abzugeben, aus welchem letzteres
gelegentlich frei werden und das Hirn und seine Adnexa ergreifen kann. Sehr viel
seltener ist eine Verbreitung per contiguitatem z. B. bei Caries des Felsen- oder
Siebbeins.
Die Tuberculose tritt in 2 Formen auf: 1. Als disseminirte Meningo-encephalitis
(Meningitis tuberculosa, basilaris, Hydrocephalus acutus), 2. als solitärer (cruder)
Tuberkel.
1 . D i e M e n i n g o-e n c e p h a 1 i t i s t u b e r c u 1 0 s a ist anatomisch charakterisirt
durch die Aussaat miliarer Tuberkel, die als kleine graue Knötchen in der Pia, im
Subarachnoidealgewebe, aber auch in der Hirnmasse selbst sich entwickeln. Am reich-
lichsten finden sie sich entlang den Gefässen (mit Vorliebe der Arter. fossae Sylvii),
Sämmtliche Häute der letzteren können von Zellen durchsetzt, an den Arterien besonders
die Intima bis zum völligen Verschwinden des Lumen verdickt werden. Das Auftreten
dieser miliaren Tuberkel ist von Entzündungserscheinungen begleitet, die nicht nur
an den benachbarten Gefässen Hyperämie und Auswanderung farbloser Blutkörperchen
setzen, sondern auch zur Abscheidung eines eitrig-serösen oder eitrig-fibrinösen Ex-
sudates führen, das besonders massenhaft an der Basis des Gehirns und in den
Ventrikeln sich findet, wenn die Plexus chorioidei eine Aussaat miliarer Knötchen
enthalten; doch ist das Uebergreifen des Processes auch auf die Convexität von der
*) Vergl. den Artikel „Tuberculose".
GEHIRNKRANKHEITEN. 743
Fossa Sylvii herauf keineswegs selten, weshalb die Bezeichnung Meningitis basilaris
zu eng gefasst ist. Auch der Name Meningitis erschöpft nicht die Erscheinungen,
weil regelmässig eine Entzündung wenigstens der oberflächlichen Schichte der Gehirn-
substanz mit coincidirt, wohin sich der Process entlang der pialen Scheiden der Ge-
lasse zu verbreiten pflegt. Zeichen vermehrten intracraniellen Hirndrucks (Abplattung
der Gyri, Verstrichensein der Sulci) sind die Folge eines massenhaften, entzündlichen
Exsudats. Hat sich letzteres nur in den Ventrikeln gebildet, so sind diese mächtig
erweitert, dafür die Arachnoidealflüssigkeit verdrängt, die Oberfläche des Gehirns
auffallend trocken. An den tuberculösen Herden macht sich Verkäsung bald bemerkbar.
2. Vom solitären Tuberkel glaubt man, dass er einer localen Embolie mit
tuberculösem Gift seine Entstehung verdanke. Entwickelt er sich in der Gehirnsubstanz
selbst, so stellt er einen Knoten von rundlicher Form, bald derber, bald weicherer
Consistenz dar, das Centrum ist gelbweiss, verkäst, mitunter erweicht oder verflüssigt
oder zum Theil verkalkt, begrenzt ist der Knoten von grauröthlichem Granulations-
gewebe oft mit eingesprengten miliaren Tuberkeln. In der Pia und im subarachnoidealen
Gewebe nehmen die solitären Tuberkel eine mehr flächenhafte Ausbreitung an. Die
Grösse eines Solitär-Tuberkels kann ein Hühnerei übertreffen, Lieblingssitz ist Kleinhirn
und Hirnstamm. Es können mehrere Knoten an verschiedenen Stellen sich zugleich
oder nach einander entwickeln und sie selbst können zur disseminirten miliaren
Tuberculose des Gehirns und der Meningen Veranlassung geben.
Beide Formen der Tuberculose kommen im Kindesalter ungleich häufiger vor
als bei Erwachsenen.
Die Symptome der ersten Form sind die einer in der Regel in 3 — 6 Wochen
tödtlich endenden fieberhaften Meningitis (vergl. diese!) Charakteristisch für den tuber-
culösen Charakter ist das ätiologische Moment, (kann aber durchaus nicht immer als
Lungen- oder Knochentuberculose nachgewiesen werden), ferner die frühzeitige Lähmung
von Hirnnervenstämmen (basilare Meningitis), häufig starke „Drucksymptome", be-
weisend lediglich das Auffinden von freilich selten complicirenden Chorioideal-Tuberkeln
durch den Augenspiegel.
Der solitäre Tuberkel macht nur die Erscheinungen eines Hirntumors im All-
gemeinen. Sonstige Tuberculose ist nur selten manifest, erkannt wird seine Natur,
wenn sich rasch die Zeichen einer (tuberculösen) Meningitis bei einem an diagnosticirtem
Hirntumor Leidenden entwickeln (vergl. Capitel „Hirntumor.")
Wenngleich der Nachweis der Heilbarkeit tuberculöser Meningitis durch v.
Leube erbracht ist, muss praktisch die Prognose für beide Formen als sehr un-
günstig gelten. Wenn bei der disseminirten Form auch sehr schwere Krankheits-
bilder mitunter (aber recht selten) aufzutreten scheinen, so treten wohl fast immer
über kurz oder lang Nachschübe auf, denen die Patienten erliegen.
Die Behandlung wird geführt wie sonst bei Meningitis, resp. Tumor, nur ver-
dient vielleicht daneben noch Empfehlung Einreiben des kahl rasirten Schädels mit
1 gr Jodoform auf 5 gr Fett einmal pro die, was von englischen Aerzten warm em-
pfohlen worden ist und wovon man in der That mitunter recht guten Erfolg sehen kann.
VI. Hirnsyphilis.
Die Syphilis befällt das Gehirn besonders im tertiären Stadium, sie liefert dann
die für sie charakteristische Granulationsgeschwulst, das Syphilom. Dieses kommt als
Gummaknoten in den Häuten des Gehirns oder in diesem selbst vor, meist sitzt es
an der Gehirnoberfläche, gern an der Basis des Hirnstammes. Anatomisch sind solche
Gummageschwülste mitunter nur sehr schwer von Tuberkeln zu unterscheiden, wenngleich
sie im Allgemeinen mehr, den Contouren des Gehirns folgend und in den Furchen
sich ausbreitend, in die Fläche wachsen und von unregelmässigerer Begrenzung
sind. Die Gefässe in der Nachbarschaft einer solchen Geschwulst sind stark verändert,
alle 3 Häute, besonders die Intima, verdickt, mit Zellen durchsetzt, Verschluss und
Thrombose des Lumens häufig. Manifestirt sich die Syphilis in dieser Weise, so wird
einfach die Krankheitserscheinung des Hirntumors hervorgerufen. Die Besprechung
744 GEHIRNKRANKHEITEN.
des Gumma fällt ganz und gar in das Cai^itel des letzteren. Dagegen kommt noch
eine wichtige Localisation der si^ecifischen Neubildung vor, die für sich besprochen
werden muss. Es ist die von Heubnee, nachgewiesene syphilitische Erkranlvung der
Hirngefässe. In diesen, besonders in der Intima, bilden sich kleine Syphilome, die
zellige Infiltration und fibröse Hyperplasie der Gefässhäute nach sich ziehen. Die
Verengerung des Lumens ist wesentlich auf Gewebs-Hyperplasie der Intima zu be-
ziehen, in ihr ruht die Hauptgefahr vollständiger Obturation des Gefässes oder Ein-
leitung von Thrombose. Aber auch wenn und so lang diese schlimmen Ereignisse,
deren Folgen schon erörtert wurden, nicht eingetreten sind, darf man erwarten, dass
der Kreislauf in toto, oder mehr in einzelnen Theilen des Gehirns, geschädigt ist durch
den vermehrten Widerstand, den das Blut in den verengten, zudem noch rauh ge-
wordenen Gefässen erfährt. Da dieser anatomische Yorgang nach seiner Intensität
und örtlichen Yerbreitung alle Möglichkeiten eingehen kann, so ist ein einheitliches
Krankheitsbild dieser Gehii*nsyphilis nicht zu erwarten. In der That ist all das, was
man mit grösserem oder geringerem Recht auf solche syphilitische Gefässveränderungen
im Gehirn zurückgeführt hat, sehr vager Natur: chronischer Kopfschmerz, Schwindel,
allgemeine Yerwirrtheit, Benommenheit, locale Erscheinungen der mannigfaltigsten Art,
Dinge, mit denen sich wenig anfangen lässt.
Dem Ausbruch schwerer Symptome (Apoplexie, Epileptischer Insult, psychische
Störungen, Lähmungserscheinungen [besonders häufig der Augenmuskelnerven]) und
Eeizsymptome der mannigfaltigsten Art gehen häufig Prodrom! vager Natur, Kopf-
schmerz, Schwindel, Abnahme des Gedächtnisses, psychische Aufregung, Schlaflosig-
keit vorher. Als für Syphilis besonders charakteristisch führt mau mitunter lang
währende Zustände allgemeiner Verwirrung oder rauschähnlicher Benommenheit an.
Solche können durch eine antisyijhilitische Cur noch redressirt werden, sonst direct
in Coma und Tod übergehen. Ferner wird nicht mit Unrecht laugsame, zögernde
Entwicklung, ein gewisses Schwanken in allen Symptomen, die selten die maximale
Intensität erreichen, als für Gehirnsyphilis bezeichnend angesehen. Die Diagnose
gründet sich übrigens mehr auf den Nachweis stattgehabter Infection und ander-
weitiger Zeichen von Syphilis am Körper als auf die Analyse der Hirnsymptome allein.
Nur der Grundsatz muss festgehalten werden, dass man bei jeder schwer ab-
grenzbaren Hiruaffection die Möglichkeit von Hirnsyphilis erwägen muss. Ebenso
aber auch bei jedem apoplectischen Insult, der ja Folge einer Endarteritis syphilitica
sein kann. Wenn nicht Sjqjhilis mit aller Sicherheit ausgeschlossen werden kann
(und wie selten wird man das je können), so ist eine sofortige energische antiluetische
Cur einzuleiten. Die Syphilis des Gehirns gehört zu den Formen intestinaler Lues,
die verhältnismässig am sichersten und leichtesten heilbar sind. Demgemäss ist die
Prognose, wenn das Leiden rechtzeitig erkannt und richtig behandelt wurde, weit
besser als in anderen anscheinend gleichartig gelagerten Fällen, wo nicht Lues die
Ursache ist. War der Patient schon reichlich mit Quecksilber behandelt, so wirkt
Jodkalium oft zauberhaft, besonders wenn nicht freventlich schon früher bei jeder
Quecksilbercur auch das Jod verschwendet wurde. War der Organismus noch nicht
oder nur ungenügend mercurialisirt, so verdient eine energische Schmiercur den
Vorzug vor Allem anderen. Wenn gar keine Zeit zu verlieren ist, wie bei syphi-
litischer Arterienthrombose mit apoplectischem Insult mag man Quecksilber uud Jod
zugleich, etwa als Hydrargyrum bijodatum wie in der bekannten Ricokd' sehen Recept-
formel anwenden.
VII. Tumor cerebri.
Folgende Geschwulstformen sind schon im Gehirn beobachtet worden:
Gliom, Gliomj'xom, Gliosarcom, Angiosarcom, Sarcom, (Fibrom?) Osteom, Lipom, Tuber-
kel, Gumma, Dermoidcysten (ohne klinische Bedeutung). In den Adnexis fanden sich: Sar-
com (Alveolarsarcom, Endotheliom, Myxosarcom, Melanosarcom, Myxom, Angiosarcom,
Angiomyxom, Angiomyxosarcom, Angiom, Fibrom, Lipom, Chondrom, cystisches Lymph-
angiom, (Psammom), Carcinom (in den Ventrikeln von der epithelialen Decke der
GEHIRNKRANKHEITEN. 745
Plexus oder von Epeudymepithel ausgehend), Cholesteatom, Hyperplasie der Zirbel-
drüse, (Struma pituitaria). Tumor im klinischen Sinn, d. h. eine Krankheit, mit allen
Tumorsymptomen verlaufend, sind auch das Aneurysma der Gehiruarterien und die
Parasiten des Gehirns (Echinococcus und Cysticercus). Von einer histologischen
Beschreibung der einzelnen Formen muss hier abgesehen werden. Yon praktischer
Bedeutung sind folgende Punkte. Das Gliom ist im erwachsenen Alter der bei Weitem
häufigste Tumor und zugleich auch der gefässreichste, oft findet mau ihn durchsetzt
mit älteren und frischeren Hämorrhagien; unter allen Tumoren scheint er das lang-
samste Wachsthum zu haben. Die nächste Umgebung aller Tumoren ist mehr oder
minder geschädigt, aber in sehr verschiedenem Grade, bei den am schärfsten be-
grenzten (Prototyp: Psammom, Cholesteatom, Cysticercus, Aneurysma) beschränkt sich
die Wirkung auf Anämie, allenfalls Erweichung, während andere Formen (Prototyp:
Carcinom, Sarcom), geradezu zerstörend in die Xachbarschaft eindringen und diese nicht
nur mechanisch verdrängen, sondern vermöge ihrer vitalen Eigenschaften vernichten.
Das Carcinom kann sogar die Schädeldecke perforiren und frei als Geschwulst zu
Tage treten. Tumoren können einzeln oder zu zweien und mehreren sich finden und
zwar allenthalben im Gehirn und seinen Adnexis.
Actio logie. Alle Tumoren, auch die Aneurysmen und Parasiten befallen
etwas häufiger das männliche wie das weibliche Geschlecht. Für Tuberkel, Gumma
und die Parasiten ist die Aetiologie für sich klar, dagegen für alle übrigen Tumoren
fast nur auf Vermuthungen beschränkt. Nur für die Gliome hat Geehaedts Meinung
viel für sich, das sie häufig Folge eines, wenngleich weit zurückliegenden, schweren
Trauma sind, das den Kopf direct oder indirect wie bei Fall aus grosser Höhe be-
troffen hat.
Symptom. Der Hirntumor stellt eine chronische Krankheit dar, deren Ab-
lauf unauthaltsam zum schlimmen Ende tendirt, so dass die Krankheitserscheinungen
im grossen Ganzen stetig wachsen, eine Besserung fast nie aufweisen. Nur die sehr
blutreichen Formen (Gliome) machen davon durch einen häufigeren Wechsel rascher
Yerschlimmerung und zeitweiliger Besserung eine Ausnahme.
Kopfschmerz, Schwindel, Convulsionen, intercurrente apoplectische und epileptische
Anfälle, Störungen der Psyche, des Bewusstseins, Somuolenz bis zum terminalen
Coma, Erbrechen (besonders morgens nüchtern), Starre der Pupillen, Verlangsamuug
des Pulses (Vagus-Puls, gegen Ende ins Gegentheil umschlagend), eingezogener Leib
sind alles Allgemeinsym'ptome, welche auf die Anwesenheit des Tumors und seines
Wachsthums im Gehirn überhaupt zu beziehen sind, sie sind also von dessen Grösse,
nicht aber von seinem Sitz abhängig. Alle w^erden durch vermehiten iutracerebralen
Druck und consecutive Adiämorrhysis bedingt, obwohl man gewöhnlich nur Erbrechen,
Pupillenstarre, Yaguspuls und eingezogenen Leib, sowie die noch zu besprechende
Stauungspapille als Drucksymptome im' engeren Sinn bezeichnet. Auf der anderen
Seite kann jedes der angeführten Allgemeinsymptome gelegentlich richtiges Herd-
symptom und durch einen ganz kleinen Tumor, der an bestimmter Stelle sich findet,
hervorgerufen w^erden, so Kopfschmerz bei Affectionen der Dura mater, Schwindel
bei Tumoren der hinteren Schädelgrube (Wurm etc.), Convulsionen und epileptiforme
Anfälle durch Tumoren an der Gehirnoberfläche, speciell in der Gegend der vorderen
Centralwindung, sogar die mächtigste Erhöhung des intracerebralen Drucks und mit-
hin die typischsten Drucksymptome einschliesslich der Stauungspapille kann ein ver-
hältnismässig kleiner Tumor bewirken, wenn er gerade auf die vena magna Galeni
drückt und durch Stauung einen bedeutenden Hydrops ventriculorum gesetzt hat.
Die Stauungspapille kann, besonders einseitig auftretend, auch ein wichtiges Herdsymptom
sein und, ohne dass der intracerebrale Druck überhaupt in toto gesteigert wäre, etwa
nur von einem ganz kleinen Tumor, selbst von einem miliaren Tuberkel abhängen, der
sich in der Scheide des Nervus opticus etablirt hat und zu localer Stauung der Lymphe
im Auge Veranlassung gibt.
Es ist unmöglich, alle Herdsymptome und ihre Combinationen aufzuzählen, die
durch einen Tumor cerebri hervorgerufen sein können, an anderer Stelle werden die
746 GEHIRNKRANKHEITEN.
Gesichtspunkte erläutert werden, nach denen die topische Diagnose einzurichten ist*).
Nur so viel soll erwähnt werden, dass letztere gerade beim Tumor des Gehirns nur
mit grosser Reserve zu stellen ist, wegen der gewöhnlich sehr beträchtlichen Fern-
wirkung des Krankheitsherdes auf andere Gehirnregionen und der Möglichkeit, dass
nicht ein Tumor, sondern ihrer 2 oder mehrere sich entwickelt haben.
Für die Diagnose, dass überhaupt ein Tumor vorliegt, müssen in der Regel
die erwähnten Allgemeinerscheinungen ausreichen. Auch diese sind nicht in allen
Fällen vollzählig und gleichmässig entwickelt, ein Symptom kann lang, sogar Jahre
lang ganz allein bestehen und erst dann kommen rascher oder ganz allmälig neue
hinzu. Besonders häufig treten Convulsionen und epileptiforme Anfälle als einziges
Symptom auf, geschieht dies nach dem 30. Lebensjahr, so kann man sicher sein, dass
man es nicht mit genuiner Epilepsie, sondern höchstwahrscheinlich mit einem Hirntumor
zu thun hat. Was die Dignität der übrigen AUgemein-Symptome betrifft, so steht
der Kopfschmerz obenan, insofern er nur äusserst selten fehlt, (öfter nur im Kindes-
alter, wo wieder Erbrechen häufiger ist) und in der Regel sehr ausgesprochen ist,
ja die exorbitantesten Grade erreichen, den Hauptgrund der Klagen des Kranken
darstellen kann; nach der positiven Seite ist er freilich für die Diagnose kaum zu
verwerthen, weil er nicht auf seine Realität geprüft werden kann und bei zahl-
losen anderen Krankheiten auch vorkommt. In letzterer Hinsicht wird die Stauungs-
papille das werthvoUste Symptom, weil es objectiv leicht sicher gestellt werden kann
und auch fast immer (vergl. oben) die Anwesenheit eines Tumors beweist. Aehnlich
verhält es sich mit den übrigen Drucksymptomen sensu strictiori; freilich lassen sie
in ihrer vollen Entwicklung oft lang, bis gegen das Ende des Lebens hin, auf sich
warten. Eine Yerwechslung lassen sie nur zu mit chronischer Meningitis, Hydro-
cephalus der Erwachsenen wie beispielsweise nach abgelaufener, bis dahin glück-
lich überstandener Meningitis epidemica.
In vielen Fällen sind so ausgeprägte Symptome und in so grosser Anzahl vor-
handen, dass man, aus dem Vollen schöpfend, kaum in der Diagnose irren kann,
dagegen kommen als anderes Extrem auch Fälle vor, welche lange Zeit ganz
symptomlos verlaufen und nothwendig der Diagnose entgehen müssen. So kann die
Blutung in ein bis dahin latentes Gliom gar kein anderes Bild als das der Hirn-
hämorrhagie hervorrufen. Bleibt der Patient im apoplectischen Insult, so deckt erst
die Section den wahren Sachverhalt auf, entschuldigt und rechtfertigt aber zugleich
den Diagnostiker; wird der Schlaganfall überstanden, dann kann freilich eine längere
Beobachtung zur Aenderung der ursprünglichen Diagnose und auf den richtigen Weg
führen.
Ist die erste Aufgabe der Diagnose gelöst und die Anwesenheit eines Tumors
überhaupt constatirt, ist auch nach den Regeln der topischen Diagnostik die zweite
erfüllt, und der Tumor nach Möglichkeit an eine bestimmte Stelle im Schädelraum
verlegt, so kommt noch die dritte, schwierigste Aufgabe, die Natur der Geschwulst
zu bestimmen. Selten (Cysticercus, Choriodealtuberkel im Aug) ist die Diagnose sicher zu
stellen. Im Kindesalter ist der Tuberkel wahrscheinlicher als alles andere, da er
häufiger als in der Hälfte aller Fälle angetroffen wurde, bei Erwachsenen das Gliom.
Tumoren an der Basis sind wahrscheinlich Sarcome oder Gummigeschwülste, (letztere
bedingen auffallend häufig und frühzeitig Ptosis), solche an der Convexität (Epilepsie)
vielleicht Cysticerken. Bösartige Geschwülste an anderen Stellen des Körpers, die schon län-
ger bestehen, geben der Vermuthung Raum, dass eine Metastasirung ins Gehirn stattge-
funden habe. Rascher Wechsel in der Intensität der Allgemeinsymptome ist für die
gefässreichen Gliome charakteristisch. Kann man hereditäre oder acquirirte Syphilis
nachweisen, so muss unter allen Umständen ein Gumma angenommen und an dieser
Diagnose festgehalten werden, bis die Fruchtlosigkeit der energischsten antisyphilitischen
Curen diese Annahme unwahrscheinlich macht, freilich auch nicht mit aller Sicherheit
widerlegt. Ueberhaupt handelt der Praktiker am klügsten, der bei jedem Tumor
*) Vergl, yLocalsymjitome der Geliirnkranhheiten" {Topische Diagnostik), (Singer).
GEHIRNKRANKHEITEN. 747
zunächst Syphilis annimmt und demgemäss vorgeht, denn einerseits ist ja doch
absohites Ausschliessen sj'philitischer Infection immer eine missliche Sache, andererseits
alles, was man gegen Tumoren anderer Art anfangen kann, nahezu vollkommen
aussichtslos.
Die Prognose ist demgemäss für alle nicht syphilitischen Tumoren schlecht,
dubiös, aber sehr viel besser, für diese. Eine Ausnahme davon machen nur manchmal
die Cysticerken, die relativ unschädliche Gäste sein können, wenigstens in vielen
Fällen nicht zum Tode führen. Sonst tritt dieser in der Regel nach 1 — 2 Jahren
ein, nur die Gliome wachsen so langsam, dass das Leiden mehrere Jahre, ja bis zu
15 Jahren währen kann.
Die Therapie ist nach dem Gesagten in weitaus den meisten Fällen eine
symptomatische, die ihre Hauptaufgabe im letzten trostlosen Stadium findet, wenn
die Patienten bereits bettlägerig, unrein geworden und den Gefahren des Decubitus,
der hypostatischen Pneumonie ausgesetzt sind. Doch sollte bei jedem Tumor
wenigstens das Jodkalium versucht werden, dessen „resorptiver Einfluss" sich auch
bei nichtsyphilitischen Tumoren ab und zu bewährt haben soll. Tumoren, deren Sitz
an der Gehirnoberfläche mit hinreichender Sicherheit bestimmt wurde, können
eventuell Gegenstand eines chirurgischen Eingriffes werden. Exostosen des Schädel-
daches mit ihren wahnsinnigen Kopfschmerzen und epileptiformen Anfällen, Cysticerken
und solche eng begrenzte Affectionen können in der That ope cultris zur völligen
Heilung gebracht werden, nicht aber diffus und weit sich verbreitende Geschwulst-
formen, deren Ausdehnung mau selbst bei der Section häufig genug mit dem blossen
Auge nicht sicher bestimmen kann, blutreiche Geschwülste (Gliome) geben die
geringsten Chancen für einen operativen Eingriff'.
IX. Sclerose des Gehirns.
Diffuse Gehirnsclerose ist anatomisch durch Wucherung der Glia
charakterisirt, die besonders die weisse Substanz in weitem Umfang ergreift. Die
Krankheit befällt mit Vorliebe Männer in den mittleren Lebensjahren. Was man
als Aetiologie angeführt hat (Alcoholismus, geistige Ueberarbeituug) erhebt sich
nicht über vage Vermuthungen. Die Symptome (Schwindel, Kopfschmerz, Paresen
und Paralysen, Sprachstörungen, Ataxie, Tremor, Blasen- und Mastdarmlähmung,
Demenz, intercurrente Schlaganfälle) sind nach keiner Richtung prägnant, die
Diagnose der Krankheit ist unmöglich. Die Dauer der Krankheit beträgt in
der Regel mehrere Jahre, die Therapie ist ausschliesslich symptomatisch.
Inwieweit diffuse Sclerose des Gehirns von grossen Gliomen überhaupt zu trennen
ist, soll nicht entschieden werden, die Besprechung der disseminirten Herdsclerose des
. Hirns und Rückenmarks erhält eine gesonderte Besprechung an anderem Platze *).
X. Hypertrophie des Gehirns.
Dies ist eine sehr seltene Affection, die sich fast ausschliesslich im Kindesalter
entwickelt. Die Aetiologie ist noch vollkommen unklar, manchmal findet sich
hereditäre Belastung, häufig Rhachitis. Die Krankheit besteht in einer Volumszunahme
der Hirnmasse und zwar fast ausschliesslich des ganzen Grosshirns. Hypertrophie
des Kleinhirns gehört zu den grössten Raritäten. Ebenso ist auch partielle Hyper-
trophie selten. Da Volumen und Gewicht des Gehirns auch in physiologischen
Breiten ausserordentlich schwanken, so kann das Pathologische des Zustandes nur
in dem Missverhältnis zwischen Gehirnmasse und Schädelraum gesucht werden (Hasse.)
Man findet bei der Section nach Eröffnung des Schädeldachs das Gehirn mitunter
so stark vorquellen, dass es unmöglich mehr ganz reponirt werden kann, dabei die
gewöhnlichen Zeichen des Hirndrucks: Abgeplattete Gyri, verstrichene Sulci, enge
Ventrikel, wenig Blutpunkte auf der Schnittfläche, die Consistenz des Gehirns vermehrt,
auffallend „gummiartig".
*) Vergl. Art. ^Sderosis insularis multiplex-'
748 GEHIRNKRANKHEITEN.
Symptome und Verlauf. Entwickelt sich die Hypertrophie, so lange die
Fontanellen nocli nicht geschlossen sind, so gibt die Schädelkapsel nach und nimmt
eine Form und Grösse wie beim Hydrocephalus chronicus an. Solche Kinder sind
im Gegensatz zu Hydrocephalen von Yiechow Kephalonen genannt worden. So kann
das Leiden ohne wesentliche körperliche oder psychische Schädigung, ja symptomlos
mitunter Jahre lang ertragen werden, sogar geistige Frühreife ist beobachtet worden,
obwohl Idiotie, Epilepsie häufiger angetroffen werden. Anders, wenn die Nähte
bereits geschlossen sind; nothw endig muss dann der intracerebrale Druck so lang
anwachsen, bis er eines Tages die schwersten Symptome hervorruft und das Ende
einleitet. Bei rascher und bedeutender Entwicklung entsteht dabei mitunter
Lockerung und Diastase der Nähte mit röthlicher Suffusion der Nahtknorpel
(EoKiTANSKT.) Wohl jede Hirnhypertrophie ist ein chronisches Leiden, wenngleich
häufig nur das stürmische terminale Stadium zur Beobachtung des Arztes kommt
und dann als acute Affection imponirt. Unter den Zeichen des „Hirndrucks", wobei
der Puls häufig von Anfang an stark beschleunigt ist, unter Coma und heftigen
Convulsionen erlischt dann das Leben in der Regel nach einigen Wochen.
Eine Diagnose der Hirnhypertrophie ist nicht möglich. Die Unterscheidungs-
merkmale, die man gegenüber dem Hydrocephalus angegeben hat, sind anzuführen
nicht einmal der Mühe werth. Demgemäss kann eine Prognose nicht formulirt, eine
Therapie nur symptomatisch und palliativ geführt werden, stets wird man einen
Hydrocephalus vor sich zu haben glauben, und daraus kann sogar die Unannehm-
lichkeit erwachsen, dass man in der Absicht, das Fluidum zu entleeren, einmal einen
Kephalonen punktirt.
XI. Atrophie.
Einfache Atrophie des Geliirns, d. h. Schwund der nervösen Bestandtheile ohne
Texturveränderung kommt allgemein und local vor. Sie kann die graue und die
weisse Substanz betreffen. Das verminderte Volumen des Schädelinhalts wird durch
Vermehrung der Flüssigkeiten, in erster Linie der subarachnoidealen ausgeglichen.
Angeborene Atrophie (häufig bei hereditärer nervöser Belastung) betrifft vorzugs-
weise den Balken oder das Kleinhirn oder findet sich halbseitig. Atrophie des
Balkens pflegt in der Regel Stumpfsinn bis zur völligen Idiotie nach sich zu ziehen,
doch werden auch die psychischen Fähigkeiten unvermindert getroffen bei nur unvoll-
ständiger Atrophie der queren Commissuren. Auch bei halbseitiger Gehirnatrophie
der Kinder ist Blödsinn und Idiotie häufig, daneben Paresen und Anästhesien,
besonders stark an den Armen, ferner Contracturen und epileptische Anfälle. Klein-
hirnatrophie bedingt starke Ataxie wie sonstige Kleinhirnerkraukungen (Tumor etc.)
auch. Charakteristisch für solche angeborene Atrophien (besser wohl Bildungs-
hemmungen) ist das Fehlen von Gehirndrucksymptomeu.
Für die erworbene Atrophie kommen Druck von der Nachbarschaft her, wie
bei Exostosen des Schädeldaches, bei Hirntumoren, chronischer Meningitis, schlechte
Ernährung, wie bei Atheromatose der Gefässe, bei chronischen Anämien, Störungen
in Folge von Herzfehlern, Emphysem etc. als ätiologische Momente in Betracht.
Von der chronischen Bleivergiftung und dem Abusus spirituosorum glaubt man eine
mehr directe Schädigung der nervösen Bestandtheile des Gehirns ableiten zu dürfen.
Die Atrophie, welche sich bei Greisen hauptsächlich an der Gehirnrinde einstellt,
ist wohl zum grössten Theil auf schlechte allgemeine und local gestörte Ernährung
durch Gefässveränderungen zu beziehen. Theoretisch hochinteressant ist die Atrophie,
welche in ganz bestimmten Gehirnregionen eintritt, wenn bei neugeborenen Thieren
Sinnesorgane zerstört oder Extremitäten abgetragen werden.
Locale Atrophien sind von anderen Herdaffectioueu, namentlich entzündlichen
Degenerationen, von Erweichungsprocessen nicht zu trennen und sind der Diagnose
unzugänglich. Allgemeine oder weit verbreitete Atrophie verschuldet wohl häufig einen
guten Theil der Symptome, wie man sie beispielsweise bei kindisch werdenden Greisen
beobachtet, wie der Nachlass des Gedächtnisses namentlich für jüngst verflossene Be-
GEHIRNKRANKHEITEN. 749
gebenheiten, der Maugel der Initiative, die Theilnahmslosigkeit an ihrer Umgebung, wo-
mit grosser Egoismus und Halsstarrigkeit verbunden sein kann, weil das Gebirn dem
Einfluss von Aussen wirkender Motive auf seine Beschlüsse nicht mehr wie früher
unterworfen ist. Allmälig umnachtet sich unter solchen Umständen das Geistesleben
immer mehr, während die vegetativen Functionen in der Regel noch längere Zeit
ungestört, ja sogar auffallend gut ablaufen, der Appetit sich zur Gefrässigkeit steigert,
die Ernährung eine vorzügliche sein kann. Unreinlichkeit, Unachtsamkeit auf die
Entleerung von Stuhl und Urin macheu den geistigen Verfall um so deutlicher, das
Bild umso trauriger für die Umgebung. Die Gefahren des Decubitus sind, sobald
die Kranken bettlägerig werden, imminent, oder eine hypostatische Pneumonie, ein
Schlaganfall setzt dem Leben des Kranken ein Ziel, denn meist ist für einen solchen
der Boden wohl vorbereitet. Uebrigens ist überhaupt auch aus den beschriebenen
Erscheinungen keineswegs die Diagnose auf rein atrophische Veränderungen im Gehirn
zu stellen, vielmehr spielen Encephalomalacie, capilläre Blutungen wohl stets eine wich-
tige Rolle mit. Wo es gelingt, des ätiologischen Moments Herr zu werden, wie bei Anämien
nach schweren Krankheiten, bei Encephalopathia saturnina, chronischem Alcoholismus
kann man hoffen, auch den Process im Gehirn zum Stillstand zu bringen. Mehr kann
man wohl kaum je erreichen, indem schon atrophisch gewordene Theile sich wohl
niemals wieder erholen; zu versuchen wäre allenfalls die Galvanisation des Gehirns.
XII. Parasiten.
Im Gehirn kommen zwei Parasiten *) vor, der Ct/sticercus und der Echinococcus.
Gelangt das Ei oder eine geschlechtsreife Proglottide eines Bandwurms, Taenia sohum
(Wirth: das Schwein) oder Taenia mediocanellata sive saginata (Wirth: das Rind)
in den Magen, so entwickelt sich daraus ein Cysticercus cellulosae, der wie in
anderen Organen so auch im Gehirn sich ansiedeln und seine definitive Grösse, etwa die
einer Erbse im Verlauf von 2 — 3 Monaten erreichen kann. Eine nur dem Gehirn
eigenthümliche Form ist der Cysticercus racemosus, der innere und äussere Tochter-
bläschen, grosse gelappte Formen bildet und meist steril bleibt. In seiner nächsten
Umgebung pflegt sich eine Entzündung mit Bindegewebswucherung einzustellen. Stirbt
(nach Jahren) die Finne ab, so schrumpft die Blase und der Inhalt verkreidet.
Lieblingssitz der Finne sind die Hirnhäute, auch frei in den Ventrikeln sind sie
(ohne dass sie Symptome machten) gefunden worden, mitunter sind ihrer mehrere
oder sogar sehr viele im Gehirn und seinen Häuten vorhanden.
Der Echinococcus entwickelt sich, wenn das Ei der Tänia Echinococcus (Wirth
ist der Hund) in den Magen gelangt. Er bildet im Gehirn einfache oder mehrfache
Blasen, in deren Umgebung sich leichte entzündliche Reaction und Bindegewebs-
wucherung oder selbst Erweichung einstellen kann.
Wo durch Parasiten überhaupt Symptome gesetzt werden, sind es die eines
Tumors. Dies gilt im vollen Umfang bezüglich des Echinococcus. Beim Cysticercus
wird verhältnismässig häufig nur Epilepsie (Emdenepilepsie) beobachtet, sonst treten
Cysticerken oft nur als zufälliger Sectionsbefund auf, wo man sie im Leben nicht
hätte vermuthen können, entweder anscheinend völlige Gesundheit des Gehirns bestand
oder aber eine Geisteskrankheit (Paranoia), bei der wir eine specifische Wirkung der
Parasiten nicht annehmen können. Da der Cysticercus eine bestimmte geringe
Grösse nicht überschreitet, ist er (ausgenommen der racemosus) lang mit dem Leben
verträglich.
Die Diagnose ist nur in den seltenen Fällen mit Sicherheit zu stellen,
wo zugleich ein Cysticercus im Auge sich entwickelt und damit direct sichtbar
wird, sonst fällt sie und damit auch Prognose und Therapie mit der des Hirn-
tumors zusammen. Für einen operativen Eingriff' geben oberflächlich gelegene Parasiten
verhältnismässig sehr günstige Aussichten auf definitiven Erfolg.
RICHARD GEIGEL.
*) Vergl. Artikel „Evigeiveidetvürmer des Menschoi,^ (C. Claus) pag. 471 ds. Bd. der
,BMiothe]c".
750 GELBFIEBER.
Gelbfieber („Couj) de bm-re,^' ..Black Vomit,'-'- Fe//o?; /<?fer) ist eine acute
Infectionskrankheit, als deren Heimat die Inselgruppe der grossen Antillen
gilt. Sie herrscht endemisch in gewissen Strichen Amerikas {Neugranada, Mexico,
Venezuela, Brasilien), ferner an der Westküste von Afrika in Sierra- Leone und
hat von hier aus, dem Schiffsverkehr folgend, in anderen amerikanischen Ge-
bieten, sowie in Europa, hier namentlich in den Hafenstädten Italiens, Grie-
chenlands, Spaniens, Englands, Frankreichs und Norddeutschlands in grossen
Epidemien namhafte Verheerungen angerichtet (Epidemie in Lissabon 1857/1858,
in Barcelona 1870).
Aetiologie: Abgesehen von gewissen, die Entstehung des Gelbfiebers
begünstigenden Momenten, von denen unten die Rede sein soll, ist das Gelb-
fiebergift wahrscheinlich in einem Infectionsstoff miasmatischer Natur zu suchen,
welches in den menschlichen Organismus eingedrungen, sich daselbst nicht
vermehrt; durch Berührung eines mit dem Gifte behafteten Individuums kann
die Krankheit nicht übertragen werden. — Das Gelbfieber ist demnach keine
contagiöse Krankheit. Man kann sich die Uebertragung des Giftes so erklären,
dass auf indirectem Wege die Krankheitserreger mit den erbrochenen Massen
in die Kleidungsstücke, den Schiffsboden und Kielraum gelangen und in den
Städten, wo die Schiffe landen, dann eine Gelbfieber-Epidemie erzeugen, wenn
sie daselbst den zu ihrer Weiterentwicklung günstigen Boden finden, d. h.
wenn die unten zu erwähnenden begünstigenden Nebenumstände vorhanden sind.
Der Inf ectionserreger des Gelbfiebers ist bis zur Gegenwart
nicht mit Sicherheit festgestellt. Die in der Literatur diesbezüglichen Mit-
theilungen sind einander so gegensätzlich, dass man nur schwer für die Rich-
tigkeit des einen oder anderen Befundes eintreten kann.
Carmona y Yalle (Mexico) will im Urin, im Blute und in den Geweben von an Gelbfieber
gestorbenen Personen einen Schimmelpilz, Peronospora lutea, gefunden haben, welchem
Befunde aber Heinemakk insoferne widerspricht, als er denselben Pilz in jedem sauren
eiweisshältigen Urin fand ; nach Heikemakn steht somit der genannte Schimmelpilz in gar
keinem Zusammenhange zum Gelbfieber. Nach Delgado und Fiklay soll der Micrococcus
versatilis der Erreger des Gelbfiebers sein. Derselbe tritt in den verschiedenartigsten Formen
auf (gross, klein — weiss, gelb), daher der Name. Gegen die Pdchtigkeit der Angabe von
Delgado und Finlay spricht der Umstand, dass derselbe Micrococcus auf der Haut gesunder
Menschen gefunden wurde.
Vielfach hat sich mit der Frage der Infectionsursache des Gelbfiebers Freire (ßio-
Janeiro) beschäftigt; im Vereine mit Paul Girier und Ch. Rebourgeon theilte er im
Jahre 1880 mit, dass der Erreger des Gelbfiebers ein kleiner Mikroorganismus sei, der
nur in den Tropen gedeihen kann, ein kettenförmiges Aussehen hat und sich mit Anilin-
farben (Methylviolett, Bismarkbraun, Rosanilin) gilt färbt. Er nannte ihn Crypfococcus
xunthogenims. In seinen letzten Mittheilungen sind folgende Resultate enthalten: Der
Cryptococcus xantliogenicus {Amarilliis-Bacteriitm) gehört zu den Algen. Er findet sich in
einer einzelligen Form als „runder Punkt" entstehend und ist erst bei einer Vergrösserung
von über 700 zu erkennen. Diese Zellen sind von einer grauen oder schwarzen Hülle um-
geben und enthalten im Innern Protoplasmamassen. Infolge Berstung der Hüllen entstehen
Läppchen, an denen die Keimzellen hängen (Sporen). FREmE führt die Symptome des
Gelbfiebers auf die Einwirkung von Toxinen, der Producte des Amarillus-Bacterium
auf den Vagus und Sympathicus zurück. Auf Agar haben die Culturen die Form eines
weissen Nagels, dessen Kopf auf der Oberfläche der Gelatine wie ein weisser Haken aus-
sieht. Es soll Freire auch gelungen sein, einerseits mit Culturen Gelbfieber am Thiere zu
erzeugen, anderseits durch Impfung abgeschwächter Culturen die Immunität gegen Gelb-
fieber hervorzurufen. Der Vorgang und die Art der Impfung findet in der Therapie Be-
sprechung. Den Ausführungeil Freire's widerspricht Sternberg, indem er mittheilt, dass er
den Cryptococcus xcmtliogenicus nicht finden konnte, hingegen will er bei seinen Unter-
suchungen Mikroorganismen constatirt haben, die mit den Formen von Babes und Lacerda
identisch gewesen. Die letztgenannten Bakteriologen fanden nämlich in den Lebern und
Nieren von 6 an Gelbfieber verstorbenen Menschen eine Bakterienform, die in ästigen
Ketten mit mehrfach gabeligen Verzweigungen auftritt und kugelförmig erscheint. In der
Leber fanden sie dieselbe im Parenchym, in den Gallengängen und in den Capillaren. in
der Niere hingegen in den Harncanälchen, Glomerulis und Blutgefässen. Auch Goes hat im
Blute von Gelbfieberkranken eine°der von Babes gefundenen ähnliche Bacterienart constatirt.
Im Anschlüsse an die erwähnten bakteriologischen Funde wäre die Anschauung
Alvarado's zu erwähnen, der das Gelbfieber als eine Selbstvergiftung des Blutes durch Phos-
GELBFIEBER. 751
phorsäure aiiffasst. Dieselbe entstellt nach Alvarado durch Verbrennung von phosphorsaurem
Natron oder durch Freiwerden von Phosphor-Glycerinsäure (Lecithin) in Folge von Reac-
tionen, welche Bacterien auf die Blutflüssigkeit ausgeübt haben. Nach Alvarado hat das
Gelbfieber 2 Entwicklungsstadien. Die Symptome des ersten werden hervorgerufen durch
einen Ueberschuss von Milchsäure im Blut ; durch Einwirkung dieses üeberschusses auf das
Blut bildet sich Phosphorsäure, welche die Symptome des zweiten Stadiums verursacht.
Als begünstigende Nebenmnstände sind zu erwähnen: Das Klima, die
terrestrischen Verhältnisse, in geringerem Grade die individuelle Disposition.
Damit Gelbfieber-Epidemien A^erbreitung finden können, muss die mittlere Jahres-
temperatur eine heisse sein (durchschnittlich 22 — 2.5°C.): niedrigere Tempera-
turen können die Propagation des Gelbfiebers hindern, plötzlich eintretender Frost
dasselbe ganz zum Stillstand bringen. Der Umstand, dass die Temperatur
eine gleichmässige sein müsse (26 — 27" ß.), damit eine Gelbfieber-Epidemie
ausbreche (Geiesinger) wird von westindischen Aerzten in Abrede gestellt, da
letztere auf das Sinl^en der Temperatur, innerhalb bestimmter Grenzen, nichts-
destoweniger eine Gelbfieber-Epidemie folgen sahen.
Die terrestrischen Verhältnisse anlangend, sind es vor allem Städte
mit Schifisverkehr, in denen es zur Epidemie kommen kann, und in diesen
umso eher und leichter, je schlechter die sanitären Verhältnisse derselben
sind, je unsauberer die dieselben bewohnenden Einwohner, je ärmer die Bevöl-
kerung ist. Das Gelbfieber ist aber nicht nur eine Kränkelt der Hafenstädte,
sondern auch eine Krankheit der Niederungen, nicht aber der höher gelegenen,
gebirgigen Gegenden, mögen letztere noch so schlechte sanitäre Verhältnisse
zeigen. Dass dies der Fall ist, hat wohl zunächst darin seinen Grund, dass die
letzteren keinen Schiffsverkehr haben und, wie bereits oben bemerkt, dieser es
besonders ist, der vorzüglich die Möglichkeit zur Verbreitung der Krankheit
bietet. Dass unsaubere Zustände in den Städten das Entstehen einer Gelb-
fieberepidemie l)egünstigen, ist oben erwähnt; es muss aber auch bemerkt
werden, dass nach der Ansicht der Autoren ebensolche auf den Schiffen selbst
(verschiedene Abfälle, in Verwesung begriffene Objecte etc.) die Wirksamkeit
des Krankheitsgiftes wohl unterhalten, es aber nicht erzeugen können.
Was endlich die Abhängigkeit der Verbreitung einer Gelbfieber-Epidemie
von den Individuen selbst anlangt, so spielen diese ebenfalls eine, wenn
auch geringere Rolle, als die klimatischen und terrestrischen Verhältnisse.
Dabei kommen hauptsächlich in Betracht die Race, die Heimat, weniger das
Alter und Geschlecht. Was die Bace anlangt, so ist es bemerkenswerth, dass
die Neger von der Krankheit ganz verschont, gleichsam immun gegen dieselbe
sind, während sie unter den Weissen zahlreiche Opfer fordert. Nach v. Hum-
boldt sollen auch die kupferrothen Indianer immun gegen diese Krankheit
sein. Gegen diese Angabe spricht die Thatsache, dass trotzdem in der im
Jahre 1849 in Bahia ausgebrochenen Epidemie viele Schwarze den Tod ge-
funden haben. (Wucherer.)
Was die Acclimatisation betrifft, so sind die neu eingewanderten
Weissen der Gefahr sehr stark ausgesetzt und dies umso eher, je weiter
deren Heimat von der Gegend, wo eine Gelbfieberepidemie wüthet, entfernt
ist. Mit dem längeren Verbleiben in einer Gelbfiel)ergegend, oder gar mit
dem Ueberstehen einer derartigen Krankheit erwirbt der Betreffende eine
Immunität, die aber merkwürdigerw^eise schwindet, sobald er sich, wenn auch
für kurze Zeit, in eine andere, vom Gelbfieber freie, vielleicht etwas kältere
Gegend begeben hat. Ein solcher ist, wenn er in die Gelbfiebergegend zurück-
kehrt, vordem Ergriffenwerden von dieser Epidemie nicht sicher; es ist jedoch
Thatsache, dass sich der Betreffende leichter acclimatisiren und leichter
und nach kürzerem Aufenthalte als sonst die Immunität erwerben kann.
Das Geschlecht und Alter betreffend, werden Männer im bestem Mannesalter
von Gelbfieber heimgesucht. Während der Epidemie in Lissabon vom Jahre
1857 kamen auf 5161 Kranke, die an Gelbfieber erkrankt waren, 4043
752 ' GELBFIEBER.
männliche und 1118 weibliche Kranke. Greise, noch eher Kinder zeigen
eine geringere Disposition. Nicht ohne Einfluss bleibt das jeweilige Gewerbe
der Individuen. Im Allgemeinen pflegen Leute, die sich der Hitze aussetzen
müssen (Bäcker, Köche, Schlosser, Schmiede) eher von der Krankheit befallen
zu werden, als solche, die in Folge ihres Gewerbes fortwährend in staubiger
Luft leben müssen (Lohgerber, Seifensieder, Metzger, Strassenreiniger, Leder-
arbeiter u. A.).
Dass die klimatisclien und terrestrischen Verhältnisse auf die Entwicklung und Wei-
terverbreitung einen grösseren Einfluss haben, als die individuellen Dispositionen, zeigt
die Gelbfieber-Epidemie in Barcelonette vom Jahre 1821. Daselbst wohnen die wohl-
habenderen Leute in der Nähe des Hafens, während die ärmere Bevölkerung weiter entfernt
von demselben wohnt. Es zeigte sich nun, dass die Epidemie gerade vom Viertel der
"Wohlhabenden ihren Anfang genommen und sich von da aus weiter verbreitet hat.
Krankheitsverlauf und Symptome. Es wäre zu gezwungen und
ohne jeden praktischen Nutzen, wollte man nach dem Verlauf des Gelbfiebers
verschiedene Formen annehmen {inflammatorische und congestive Form nach
La Roche, eine leichte, schwere und Mittelform nach Alvaeenga). Wohl
aber lässt sich eine schwerere und leichtere Form des Gelbfiebers — vv^ie
bei jeder anderen Infectionskrankheit — annehmen. Wir unterscheiden ein
Incubationsstadium, ein Prodromalstadium und das eigentliche Krankheits-
stadium. Sehr schwankend sind die Angaben, die Incubation betreffend. Es
existiren Mittheilungen über ein Prodromalstadium von einigen wenigen
Stunden bis zu mehreren Monaten; in der Ptegel kann man die Incubation,
die Zeit von der Infection mit dem Gelbfiebergifte bis zum Ausbruch der
Symptome, auf 1 — 3 Tage ansetzen. Das Prodromalstadium kennzeichnet
sich durch allgemeines Unbehagen, Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen (Schläfen-
gegend), Gliederschmerzen, Symptome, die fast jede infectiöse Krankheit
einleiten. Die eigentliche Krankheit beginnt plötzlich und lässt sich in 3
Stadien theilen: 1. Das Fieberstadium (3 — 4 Tage), 2. Stadium der Re-
mission (mehrere Stunden bis 1 Tag) und 3. Stadium der Blutdissolution
(1^3 Tage). Waren schon die Prodromalsymptome gar nicht kennzeich-
nend für Gelbfieber, so ist es ebensowenig das Fieberstadium, welches auf
die Diagnose „Gelbfieber" führen kann. Es lässt sich in diesem Stadium —
namentlich am 1. Tage — höchstens die Diagnose einer acuten Infections-
krankheit stellen. Die Krankheit beginnt mit einem einzigen oder mit meh-
reren kurz aufeinander folgenden Schüttelfrösten, die Temperatur erreicht nach
einigen Stunden eine Höhe von 39", der Betreffende fühlt sich schwer krank;
das Gesicht ist geröthet, das Auge zeigt einen eigenthümlichen Glanz, der
Kranke verbreitet einen charakteristisch aashaften Geruch, welcher nach Stone
schon längere Zeit vor Ausbruch der Krankheit und nach Dunlop noch 8
Tage nach Ablauf der Krankheit an den Kleidern wahrnehmbar war; die Zunge
ist geschwollen, grau belegt, an den Rändern mit Zahneindrücken versehen,
es besteht lebhafte entzündliche Injection des Pharynx mit nachfolgendem
Oedem, das Zahnfleisch ist gelockert, blutet leicht, "die Magengegend weist
hochgradige Empfindlichkeit auf, es besteht gewöhnlich Stuhlverstopfung,
selten Diarrhoe; häufig stellen sich Schmerzen in der Nierengegend ein. Der
Harn enthält Eiweiss, wird immer spärlicher und es kann sogar zur völligen
Anurie kommen. Die Temperatur ist inzwischen gestiegen und erreicht eine
Höhe von 40 — 40-5° C, ebenso steigern sich die anderen Erscheinungen und
erreichen am 3. oder 4. Tage ihr Maximum. Manchmal beobachtet man zu
Ende des 1. oder 2. Stadiums die charakteristische Gelbfärbung der Haut
und der Sclera, der Harn zeigt die Gallenfarbstoöreaction, selten gesellen
sich sogar zu dieser Zeit den erwähnten Symptomen noch blutiges Erbrechen
hinzu, was als ein Signum pessimi ominis aufzufassen ist — gewöhnlich
gehen auch die Betreffenden in dieser Zeit zu Grunde. Im 2. Stadium
(Remissionsstadium) stellt sich bei fiebernden Kranken kritischer Abfall der
GELBFIEBER. 753
Temperatur mit reichlichem Schweissausbruch ein, die Patienten fühlen sich
wohler und häufig kann sich daran vollständige Genesung anschliessen, nach-
dem sich natürlich auch alle anderen Symptome wesentlich gebessert haben.
Sehr selten kann dieses 2. Stadium ganz fehlen, so dass sich das 3. Sta-
dium direct dem 1. anschliesst. Häufig folgt dem schweren 3. Stadium
das 2. und macht alle Hoffnungen auf Besserung zu nichte. Es ist dies
das Stadium der Blutdissolution oder des Collapses, welches die aller-
grössten Gefahren mit sich bringt und eine Durchschnittsdauer von 1 — 3
Tagen besitzt. Es heisst auch „Stadium der Gelbsucht," weil in diesem der
bereits bestandene Icterus unverhältnismässig stark zunimmt, ebenso nimmt
die Harnmenge bedeutend ab bis zur vollständigen Anurie, der Gehalt an Gallen-
farbstoff hingegen zu. Zu den charakteristischesten Symptomen dieses Stadiums
gehören die Blutungen, die unter der Haut, aus der Nase, aus Mund- und Rachen-
höhle, aus den Harnwegen, Geschlechtstheilen, vorzüglich aber aus dem Magen
stammen, welch' letzteres als das sogenannte „schwarze Erbrechen" so sehr
gefürchtet wird und der Krankheit den Namen ,, Black VomW gegeben hat.
Die erbrochenen Massen sehen russartig aus und enthalten: Epithelzellen,
Speisereste, rothe Blutzellen, Pilze (Gipps). Die Temperatur, die im 2. Sta-
dium zurückgegangen, steigt rasch an bis 40°, der Puls ist unregelmässig und
vor dem Exitus klein, fadenförmig. Das Sensorium ist frei; manche Kranke
liegen ganz apathisch mit collabirtem Gesicht da, andere äussern furibunde
Delirien, unter denen sie häufig zu Grunde gehen, wieder andere haben gar
keine Ahnung von ihrem Zustande, stehen in unbewachtem Momente auf, um
ihrer Beschäftigung nachzugehen und fallen todt nieder.
Am häufigsten schliesst dieses Stadium mit dem Tode ab, der unter
den verschiedensten oben erwähnten Umständen (Delirien, Urämie, Apathie
etc.) eintreten kann. Häufig wird vor dem Tode ein Temperaturabfall auf 38"
beobachtet. Nur ein geringer Theil geht in Genesung über. Die Reconvalescenz,
während welcher sich hie und da Parotitiden, Furunkelbildung, Myositis,
Gangraen der Zehen u. s. w. als Nachkrankheiten einstellen, dauert längere
Zeit, besonders lange bleibt die Empfindlichkeit des Magens bestehen. Diese
Fälle, bei denen das Krankheitsbild ein derartiges ist, können als „schwere"
aufgefasst werden, denen die „leichten" oder Abortivfälle gegenüber gestellt
werden. Der Beginn ist auch hier ein plötzlicher, mit Schüttelfrost, jedoch
fehlen die heftigen Schmerzen, fehlt das Erbrechen und häufig sogar die
Gelbfärbung; auch hier dauert die Pteconvalescenz lange Zeit.
Pathologische Anatomie: Das äussere Colorit der Haut und sichtbaren Schleim-
häute ist ein ausgesprochen icterisches, ebenso kann man Gelbfärbung etwaiger Trans- und
Exsudate, sowie von Blutgerinnseln wahrnehmen; die Todtenstarre tritt rasch ein und ist
hochgradig, ferner sind Blutungen an verschiedenen Stellen (subcutanes Zellgewebe, Muskeln,
Intestinaltract u. s. w.) nachzuweisen, fettige Degeneration, Schlaffheit des Herzmuskels.
Die Schleimhäute des Intestinaltractes zeigen Zeichen des Katarrhs, häufig finden sich Ero-
sionen, Geschwüre. Die Leber ist gelb, fettig degenerirt, ähnlich der acuten gelben Leber-
atrophie; Katarrh der Gallenwege besteht nicht, die Fäces verlieren nicht ihre gallige
Färbung und es können keine Gallensäuren im Blute nachgewiesen werden, daher ist die
Annahme berechtigt, dass der Icterus hämatogener, nicht hepatogener Natur sei. Viele
Organe befinden sich im Zustande venöser Hyperämie, flüssiges oder coagulirtes Blut ist
immer in den Ovarien und im Uterus anzutreffen. Am Gehirn und Päickenmark, an den
Respirationsorganen und der Milz sind keine besonderen Veränderungen wahrzunehmen.
Diagnose und Differentialdiagnose. Zur Zeit einer Gelbfieber-Epi-
demie wird es wohl kaum schwer sein, mit Berücksichtigung der Aetiologie,
der Face und der geographischen Verhältnisse, die richtige Diagnose „Gelb-
fieber" zu stellen; umso schwieriger ist aber dieselbe bei sporadischen Fällen,
wo es sich darum handelt, andere Infectionskrankheiten, mit denen das Gelb-
fieber verwechselt werden könnte, auszuschliessen. Es kommen da folgende
Krankheiten in Betracht:
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. 4ö
754 GELBFIEBER.
1. Schwere Malaria formen. Differentialdiagnostiscli wichtig sind
folgende Momente: die Verschiedenheit der Widerstandsfähigkeit und der
Verbreitungsweise des krank machenden Miasma; bei Malaria ist die
Milz stark vergrössert, bei Gelbfieber gar nicht verändert, Malaria geht auf Be-
handlung mit Chinin ziu-ück, Gelbfieber nicht.
2. Phosphorvergiftung. Hiebei muss die Anamnese genau ermittelt
werden und, wenn dies nicht möglich ist, muss der Mageninhalt, sowie das
Erbrochene auf Geruch und Gehalt an Phosphor geprüft werden.
3. Typhus recurrens und biliöses Typhoid. Hiebei ist das
Auffinden von Spirillen im Blute charakteristisch, ferner ist die Milz vergrössert.
4. Acute gelbe Leberatrophie. Dieser Zustand liesse sich am
Anfang noch am ehesten mit Gelbfieber verwechseln, jedoch tritt bei ersterer
nach kurzer Zeit bedeutende Verkleinerung der Leber ein, was bei Gelbfieber
nicht der Fall ist.
Prognose. Die Prognose muss im Allgemeinen als eine schlechte be-
zeichnet werden. Es ist dies begründet in der Neigung der Weissen an Gelb-
fieber zu erkranken, in der leichten Verschleppbarkeit der Krankheitserreger
und in der Schwere der Krankheitssymptome. Die Sterblichkeit ist am
Beginne einer Epidemie eine grössere, als später; in den leichtesten Fällen
beobachtet man eine solche von 1 5*^/0, in den schwersten von 75%- Eine
in Europa wüthende Epidemie verschont wenige; so wurden in Sevilla von
80.000 Einwohnern 76.000, und in Gibraltar von 9000 Einwohnern 782
von der Krankheit ergriffen. Soll in einem speciellen Falle die Prognose
gestellt werden, so ist dieselbe von mehreren Momenten abhängig: arme,
schlecht genährte, in unsauberen Wohnungen wohnende Kranke, ebenso Alko-
holiker werden zur Stellung einer schlechteren Prognose Anlass geben, als
Kranke, die bequem in guter Luft sich befinden und kräftig genährt werden
können. Die Erscheinungen des sogenannten schwarzen Erbrechens, ebenso
Blutaustritte und aashafte Ausdünstungen geben gewiss eine schlechte Prog-
nose mit sicher zu erwartendem Exitus letalis. Endlich muss noch nach
Ballt der Eiweissgehalt des Harnes während des 2. Stadiums in Betracht
gezogen werden. Ist die Albuminurie in Abnahme begriffen, so ist eine Besse-
rung des Zustandes, ist sie ganz geschwunden, sogar völlige Heilung zu er-
warten. Nimmt jedoch der Eiweissgehalt zu, so ist die Vorhersage sehr
schlecht, der Exitus steht bevor. Alvaeenga ist derselben Ansicht, jedoch
stellte er seine diesbezüglichen Beobachtungen im 3. Stadium an.
Therapie: Dieselbe scheidet sich in eine p r 0 p h y 1 a c t i s ch e und s y m p-
tomatische. Die erstere ist verschieden, je nach den Gegenden, wo das
Gelbfieber endemisch oder epidemisch durch Einschleppung des Giftes vorkommt.
In den ersteren ist es die Aufgabe des Staates Polizeiorgane die Aufsicht über
Pteinlichkeit und Wegschaff'ung der das Gelbfieber begünstigenden Elemente hand-
haben zu lassen, für die letzteren ist die Anordnung einer 1 — 3-wöclientlichen
Quarantaine unumgänglich nothwendig. Während derselben muss eine gründ-
liche Desinfection der Schiffe mit Carbolsäure vorgenommen werden, gleich-
giltig, ob auf denselben Krankheitsfälle vorkommen oder nicht. Ist ersteres
der Fall, so müssen die Kranken sofort desinficirt und ans Land in eigene
Lazarethe gebracht werden, denn nur dadurch ist die Gefahr der Weiter-
entwicklung des Giftes ausgeschlossen. Die Prophylaxe für diejenigen Menschen,
die sich mitten in einer Epidemie befinden, besteht darin, dass sie sich ent-
weder in nahe gelegene gebirgige Gegenden flüchten, oder, wenn dies nicht
möglich, wenigstens alle das Gelbfieber begünstigenden Momente meiden. Von
prophylactischen Medicamenten sind angegeben das Chinin (Cummins) und das
Quecksilber (Walker.)
GELENKRHEUMATISMUS. 755
In neuerer Zeit hat Domingo Freire in Rio- Janeiro Schutzimpfungen empfohlen,
indem er meint, dass er dadurch die Leute gegen das Gelbfiebergift immun mache. Er
injicirt Meerschweinchen das Blut von an Gelbfieber erkrankten Personen, und überimpft
dasselbe von einem Thier auf ein anderes bis zum 7. Thier. Aus dem Blute des letzteren
stellt er nun Reinculturen des von ihm gefundenen Mikroorganismus an und mit diesen
nimmt er Impfungen vor. Die Culturflüssigkeit wird in 4 — 8 g fassenden, sterilisirten, luftdicht
verschlossenen R,öhrchen aufbewahrt und 2 — 15 Tropfen je nach dem Alter der zu Impfenden
subcutan injicirt. Nach der Impfung stellen sich Symptome ein, die denen des gelben Fiebers
gleichen: Kopf-, Gliederschmerzen, Temperattirsteigerung, Uebelkeit, Erbrechen, die aber
nach 48 Stunden wieder schwinden. Nach seinen Zusammenstellungen beträgt die Durch-
schnittzahl der Todesfälle bei Geimpften kaum vier Zehntel (von 6942 geimpften Personen
starben nur 15), trotzdem unter diesen sich solche befanden, die sehr empfänglich für das
Gelbfiebergift gelten mussten; es waren nämlich hauptsächlich neu in Rio-Janeiro Einge-
wanderte, die in schmutzigen Vierteln wohnten.
Um der Causa morbi, den Mikroorganismen, beizukommen, wurde
die Behandlung mit Antiparasiticis {Aciclum carholicum, Äcidiim henzoiciim
Acidum salicylicum) vorgeschlagen; doch äussern sich die diesbezüglichen Mit-
theilungen über die Erfolge dieser Behandlung sehr zweifelhaft. Schönlein
empfielt das Ozon und Gibife (New-York) fand durch Experimente, dass
Ozon und Wasserstoffsuperoxyd tödtend auf den Gelbfieber-Mikroorga-
nismus wirken und empfiehlt namentlich das letztere wegen seiner geringen
toxischen Eigenschaften für die Praxis. Domingo Freiee befürwortet die subcu-
tane Injection von scüicylsaurem Natron, Nägeli die Anwendung von Kairin.
Was die symptomatische Behandlung anlangt, so darf man nicht
schablonenmässig vorgehen, sondern streng individualisiren. Die Behandlung wird
mit der Darreichung von Oleum Ricini und Calomel eingeleitet, um die gewöhnlich
bestehende Stuhlverstopfung zu heben; gegen die heftigen Kreuzschmerzen
kommen trockene Schröpfköpfe oder auch Vesicantia zur Anwendung, bei be-
stehenden Kopfschmerzen kühle Waschungen oder Ueberschläge, bei starkem
Erbrechen und Magenschmerzen eignet sich MorpMuminjection ins Epigastrium,
Verschlucken von Eispillen (Cocain innerlich, James Thoeingthon), bei co-
piösen Blutungen Eis innerlich oder in Form von Compressen in der Magen-
gegend, Styptica, bei bestehendem Collaps Excitantia; endlich wäre noch eine
Transfusion zu versuchen in der Absicht, das Gelbfiebergift abzuschwächen.
Bei all' diesem medicamentösen Verfahren muss man aber darauf bedacht
sein, die Kräfte der Patienten zu erhalten. Wenn der Magen wieder Nahrung
aufnehmen kann, wird eine leichte, kräftige Diät verordnet, daneben Wein,
Chinin, Eisen. n. e.
Gelenkrheumatismus. (Polyarthritis rheumatica) muss zu den In-
fectionskrankheiten gerechnet werden, wenngleich der Träger der Infection
noch nicht mit hinlänglicher Sicherheit bekannt ist.
Aetiologie und Wesen der Krankheit. Mikrococcen und Bacillen,
die KiLSON, Peteone und Mentle im Blute und in der Gelenkflüssigkeit beim
acuten sowohl wie beim chronischen Rheumatismus fanden, können bis auf
weitere Beweise weder als specifisch noch als Erreger der Krankheit angesehen,
und die Gründe für die infectiöse Natur des Rheumatismus müssen vor der
Hand wesentlich aus der klinischen Erscheinungsform geschöpft werden. In
der That verläuft er durchaus unter dem Bilde einer echten Infectionskrank-
heit. Aetiologisch scheint auf den ersten Blick die von Alters her bekannte
und auch heute noch bei strengster Kritik als giltig anzusehende Erfahrung,
dass in der Mehrzahl (^/g — ^j^) der Fälle eine Erkältung dem Ausbruch der
Krankheit vorangeht und also doch wohl in einen ursächlichen Zusammenhang
mit ihr zu bringen ist, nicht zu dieser Anschauung zu passen. Wir verstehen
dabei unter Erkältung den Vorgang, bei welchem die schwitzende oder doch
wenigstens mehr als gewöhnlich perspirirende Haut eine plötzliche Abküh-
lung erfährt und dadurch die Schweissecretion unterdrückt wird. Nur muss
der Schweiss, dessen Unterdrückung Rheumatismus bringen soll, durch Muskel-
48*
756 GELENKRHEUMATISMUS.
arbeit, starke körperliche Anstrengung, nicht durch Zuführung äusserer Wärme
hervorgerufen sein. Es liegt nahe, bei diesem Vorgang an die Ketention ge-
wisser, sonst mit dem Schweisse ausgeschiedener Stoffe zu denken und eine
Zeitlang glaubte man in der Milchsäure den Stoff gefunden zu haben, dessen
Ketention ganz specifisch Eheumatismus acutus erzeuge.
RiCHARDSON war es gelungen durch Injection von Milchsäure bei Thieren gewisse
Erscheinungen des Rheumatismus experimentell zu erzeugen. Freilich war es kein echter
Gelenkrheumatismus, aber da dieser bei den benutzten Thierspecies spontan nicht vor-
kommt (wie überhaupt nicht bei Thieren), wäre am Ende über diesen Einwand hinweg-
zukommen. Es wurden Fälle bekannt (Foster, Külz), in denen bei Menschen nach reich-
lichen Milchsäuregaben Rheumatismus acutus auftrat. So schienen diese Beobachtungen
wohl geeignet, die Genese des Rheumatismus, aus Erkältung der Erklärung näher zu führen
und in vielem Betracht war diese Theorie so verlockend, dass auch die gegentheiligen Re-
sultate der Versuche von Möller und Reiher, die durch Milchsäure keine Endocarditis
erzeugen konnten und der Mangel des Nachweises von Milchsäure im Schweisse sie nicht
vollständig beseitigen konnte. Man kann sich vorstellen, dass wenn nach starker körper-
licher Arbeit — bei der die Muskeln bekanntlich Milchsäure produciren — der Schweiss
durch Erkältung unterdrückt wird, dadurch Gelegenheit gegeben ist zur Retention oder
Wiederaufsaugung der Milchsäure, die im Begriff war durch den Schweiss ausgeschieden zu
werden. Darnach würde der Rheumatismus als Autointoxication aufzufassen, als eigent-
liche Noxe die im Körper selbst producirte Milchsäure zu betrachten sein.
Dem gegenüber sprechen mancherlei Gründe dafür, dass das Rheuma-
tismusgift ausserhalb des Körpers, u. zw. in den Wohnräumen, viel-
leicht im Boden sich findet und von daher in den Körper gelangt. Man findet
nämlich, dass die Bewohner bestimmter Häuser, resp. Häusergruppen in auf-
fälliger Häufigkeit vom Rheumatismus heimgesucht werden; auch wechselnde
Bewohner, denen Nichts gemeinsam ist als die nacheinander bezogene Woh-
nung und bei denen sich keines der sonst für die Krankheit ätiologisch ver-
antwortlich zu machenden Momente nachweisen lässt. So kann man in der
That von Rheumatismushäusern sprechen wie von Pneumoniehäusern. Fälle
wie der von Edlefsen mitgetheilte, in dem ein weit über das für Rheumatis-
mus disponirende Alter hinaus Bejahrter, von Auswärts in ein solches Rheu-
matismushaus zugezogen, alsbald die Krankheit acquirirte, legen die Deutung
sehr nahe, dass der Keim derselben in der Wohnung zu suchen sei. Da nun
auch — noch ausserhalb des gehäuften Vorkommens von Rheumatismusfällen
unter bestimmten Witterungsverhältnissen von epidemieartigem Auftreten der
Krankheit hier und da, wenn auch selten berichtet wird, dagegen gar keine
Thatsachen bekannt sind, die auf eine Uebertragung von Person zu Person
oder durch Zwischenträger hinweisen, so muss man das nach obiger Anschau-
ung statuirte Rheumatismusgift als ein miasmatisches ansprechen, das sich im
Innern des Körpers nicht reproducirt und von Aussen in denselben aufgenom-
men wird. Auf welchem W^ege dies geschieht, darüber gibt es noch nicht
einmal Vermuthungen. Die ganze Frage ist noch nicht spruchreif, umso-
weniger als selbst die grundlegenden Berichte über das gehäufte Vorkommen
der Rheumatismen in einzelnen Localitäten nicht ganz einwandfrei dastehen.
Ueber den inneren Zusammenhang der Symptome mit der Noxe ist weder
in dem einen noch in dem anderen Falle etwas auszusagen. Der Annahme,
dass die Noxe in die allgemeine Säftemasse übergehe, resp. mit dem Blute
circulire, steht der Umstand nicht entgegen, dass die Erscheinungen der Krank-
heit wesentlich an bestimmten Stellen des Körpers (den Gelenken und den
serösen Häuten) localisirt auftreten. Denn dafür finden sich Analogien genug
in der Pathologie. Das Scharlach- wie das Syphilisgift, der Typhusbacillus
wie das Blei und der Alkohol u. s. w., circuliren auch im ganzen Blute
und machen doch nur an bestimmten Organen und Prädilectionsstellen ihre
Angriffe. Wir müssen dafür bestimmte biologische, chemische oder me-
chanische Gründe voraussetzen, die freilich noch unbekannt sind. Indes ist
doch in allen diesen Fällen wenigstens der Nachweis erbracht, dass die Noxe
in den ergriffenen Organen vorhanden ist, während dieser Nachweis für dea
GELENKRHEUMATISMUS. 757
Eheumatisnius noch aussteht, und ausstehen muss, so lange über die Noxe
selbst nichts Genaueres bekannt ist. Eine andere schon von Canstatt und
Fkoriep angedeutete, neuerdings von Friedländer weiter ausgebaute An-
schauung verlegt den Angriffspunkt der Noxe in das Centralnervensystem und
zwar speciell in die Medulla oblongata in die Gegend der Vagus-Glossopharyn-
geuskerne und will demgemäss die Gelenkaffection beim acuten Gelenkrheu-
matismus als Gelenkneurose aufgefasst wissen. Es wird ein besonderes Gelenk-
nervencentrum dafür angenommen, dessen Existenz aber sonst nicht weiter
nachgewiesen ist. Da die ersten Erscheinungen an den Gelenken allerdings
einfache Hyperämien sind und nicht den Namen einer Entzündung verdienen,
können sie leicht auf Nerveneinflüsse zurückgeführt werden. Später folgen
aber echte Entzündungen, selbst Eiterungen und ob man diese schlankweg aut
den Hinzutritt einer neuen Noxe (Eitercoccen u. s. f.) zurückführen darf,
bleibe dahingestellt.
Was man über das Vorkommen der uns beschäftigenden Krankheit weiss, entzieht
sich wie immer jeder ätiologischen Deutung. Sie findet sich in allen Klimaten — mit Aus-
nahme etwa der frei bleibenden Polargegenden — gleichmässig verbreitet. Ob sie das ge-
mässigte Klima mit seinen Winden und seinem Witterungswechsel bevorzugt, ist mindestens
noch nicht bewiesen. Berufsarten, die einerseits starke körperliche Arbeit und Schweiss
begünstigen, andererseits Gelegenheit zu Abkühlungen bieten, scheinen mehr ausgesetzt,
doch fehlt sie keineswegs ganz bei Stubenhockern. Ob eine bestiminte Jahreszeit ihr Auf-
treten begünstige, lässt sich nach den vorliegenden Statistiken nicht mit Bestimmtheit sagen.
Vielfach wird hervorgehoben, dass trockene Witterung mehr Rheumatismen bringe, anderer-
seits scheint der Frühling und der Wintersanfang besonders gefährdet. Edlefsen und Andere
finden, dass die Häufigkeit der Rheumatismusfälle den Niederschlagsmengen umgekehrt
proportional ist; wenn die letzteren steigen, sinkt die erstere und umgekehrt. Ein Einfluss
der Temperatur, weder der hohen oder niederen Mitteltemperatur noch der Temperatur-
schwankungen, lässt sich nicht nachweisen.
Männliches und weibliches Geschlecht zeigen keine merkliche Verschiedenheit in der
Neigung zu Rheumatismus. Sehr entschieden ist dagegen seine Bevorzugung des jugendlichen
Alters. 13is zum zweiten Lebensjahre tritt er äusserst selten auf; als ganz besondere Ausnahmen
müssen die Fälle von Pocogk und Schäfer gelten, die Kinder mit allen Erscheinungen des
acuten Gelenkrheumatismus geboren werden sahen, wobei die Erfolge der Salicyltherapie
die Diagnose bestätigten. Mit fortschreitendem Alter kommt der Rheumatismus immer häufiger
vor, hauptsächlich aber trifft er Individuen im Jünglingsalter zwischen 15 und 30 Jahren.
Jenseits der Dreissig wird die Zahl der Erkrankungen schon merkbar geringer und jenseits
der Sechzig erscheint sie wiederum als Seltenheit.
Durch das einmalige Ueberstehen der Krankheit wächst die
Disposition, so dass im Gegensatz zu vielen anderen Infectionskrankheiten,
wer einmal am acuten Gelenkrheumatismus erkrankt war, viel mehr Wahr-
scheinlichkeit hat, abermals daran zu erkranken als ein Freigebliebener. Die
späteren Anfälle pflegen allmälig weniger acut zu werden, bis schliesslich
die ganze Affection in die chronische Form übergeht. Ganz besonders sind
den Wiederholungen jene ausgesetzt, die eine Herzaffection zurückbehalten
haben.
Vielfach stellt sich der acute Gelenkrheumatismus als Folge-, resp.
Nachkrankheit ein. Besonders häufig nach Scharlach, so dass man in der
That einen vorläufig noch gänzlich unbekannten Zusammenhang zwischen
Rheumatismus- und Scharlachgift anzunehmen sich veranlasst sehen kann.
Die Häufigkeit dieser Complication ist in verschiedenen Scharlachepidemien
verschieden, es gibt deren, wo mehr als die Hälfte der Fälle dem Rheuma-
tismus verfällt, während andere ganz ohne ihn verlaufen. Der Scharlach-
rheumatismus tritt der Regel nach in der Abschuppungsperiode auf; durchaus
nicht blos nach schweren Fällen, oft nach latentem Scharlach, verläuft meist
mild und auf wenige Gelenke beschränkt, unter denen im Gegensatz zum ge-
ineinen Rheumatismus das Handgelenk obenan steht, documentirt aber doch
hier und da durch Hinzutreten von Herzcomplicationen seine Zugehörigkeit
zum echten Rheumatismus. Wahrscheinlich liegen Mischinfectionen vor, wie
758 GELENKRHEUMATISMUS.
denn auch Edlefsen den Scharlach in Rheumatismushäusern besonders häufig
auftreten sah,
Aehnlicli verhält es sich mit dem an Häufigkeit zunächst stehenden Auftreten des
Rheumatismus im Puerperium. Nur hat man sich hier vor der diagnostischen
Verwechslung mit pyämischen Grelenkaffectionen zu hüten. Auch Ruhr, Angina, Diphtheritis,
Typhus können Rheumatismus im Gefolge haben. Der Versuch Bertholo:ns aber, auch die Malaria
zur Veranlassung desselben zu stempeln, muss als missglückt betrachtet werden.
Die gonorrhoische Gelenkentzündung darf man nicht zum Rheu-
matismus acutus rechnen, nachdem sich im Eiter der befallenen Gelenke
Gonococcen gefunden haben. Sie kann allerdings in seltenen Fällen eine dem
wahren Rheumatismus sehr ähnliche polyarticuläre Form annehmen und alle
Erscheinungen desselben, inclusive der Herzaffectionen, darbieten; meist aber
beschränkt sie sich auf ein Gelenk, am häufigsten das Kniegelenk, ist viel
stabiler als die typische Rheumatismusaffection, setzt viel reichlicheres flüssiges
Gelenkexsudat und ist viel häufiger von Eiterungen und langwierigen Gelenk-
affectionen gefolgt. Manchmal kann fraglich sein, ob ein ursächlicher Zu-
sammenhang zwischen Gonorrhoe und Gelenkaffection vorliegt, oder ob nicht
vielmehr zufällig der Gelenkrheumatismus ein tripperkrankes Individuum be-
fallen hat. Je mehr man der Ansicht von der grossen Verbreitung und der
Hartnäckigkeit der Gonorrhoeen zuzustimmen geneigt ist, desto eher wird man
an ein solch' zufälliges Zusammentreffen glauben. Auch die Diagnose ex ju-
vantibus lässt im Stich da, wenn auch nicht der Regel nach doch hier und
da echte Tripperrheumatismen (mit Gonococcen in den Gelenken) dem Salicyl
weichen.
Symptome. Im Mittelpunkt der Erscheinungen beim acuten Gelenk-
rheumatismus steht die Gelenkaffection. Für das einzelne Gelenk ist sie
gekennzeichnet durch Schmerz, Schwellung und Röthung. Der Schmerz ist
kein ganz fixer, er ist gering oder Null bei absoluter Ruhe, erreicht aber
enorm hohe Grade bei Druck oder bei Bewegungen. Die Erfahrung lehrt dies
dem Kranken und die Stärke der Schmerzen wird am Besten gekennzeichnet
durch die bei jedem irgendwie beträchtlichen Gelenkrheumatismus sich wieder-
holende Erscheinung, dass die Kranken schon bei dem Gedanken an die Mög-
lichkeit einer Berührung oder gar Bewegung in die äusserste Angst gerathen
und schreiend abwehren. Der Druck der leichtesten Bedeckung, der Zug durch
die Schwere des Gliedes selbst, werden unerträglich. Der Charakter der
Schmerzen ist ein brennender, schneidender, weniger drückender, bei voll-
ständiger Ruhe nur ein leises Gefühl der Spannung und Hitze, immer aber
vergesellschaftet mit der ängstlichen Erwartung einer Exacerbation. Unter
diesen Umständen sucht der Kranke instinctiv das befallene Gelenk festzu-
stellen und spannt zu diesem Zwecke die Muskeln, Agonisten und Antago-
nisten gleichzeitig, oder auch nur einzelne Gruppen, je nachdem bei einer
oder der anderen Lage der Druck innerhalb des Gelenkes oder an einzelnen
besonders afificirten Stellen desselben am Geringsten ist. So kommt es zu
gewissen typischen Stellungen. Die Zehen werden möglichst gestreckt, der
Fuss in rechtwinkliger Beuge gehalten. Die Kniee werden leicht gekrümmt,
ebenso die Hand und namentlich die Finger, letztere dabei leicht gespreizt.
Aus der Anatomie der Gelenke lässt sich nachweisen, dass für jedes Gelenk
diejenige Lage gesucht und festgehalten wird, bei welcher der Druck der
Gelenkenden auf einander am Geringsten ist und die Sehnen und Bänder die
wenigste Dehnung erfahren. Wenn aber die Muskeln in constanter Spannung
diese Stellung bewahren, so ermüden sie und es kommt zu Zuckungen ein-
zelner Muskelbündel und Fibrillen, die ihrerseits wieder die Ursache neuer
Schmerzanfälle werden.
Gleichzeitig oder wenigstens nahezu gleichzeitig mit dem Eintreten des
Schmerzes röthet sich die das Gelenk umgebende Haut: eine leichte, rosen-
rothe, nicht scharf umschriebene, meist streifige, den Gefässen folgende Rö-
GELENKRHEUMATISMUS. 759
thung. Wird sie dunkler, etwa gar blauroth, so deutet das auf tiefergehende
Veränderungen im Gelenk oder allgemeine Circulationsstörung. Die rothen
Streifen erstrecken sich, allmälig verlaufend, häufig über die Gelenkgegend
hinaus. In vielen Fällen fehlt allerdings die Röthung und der Regel nach
wird sie, je länger der Fall dauert, desto geringfügiger, so dass die später
oder die zum zweitenmale befallenen Gelenke sie immer seltener zeigen.
Dass sie nicht an allen Gelenken gleich deutlich ausgesprochen ist, liegt an
der Dicke der das Gelenk umhüllenden Theile. Am Fuss-, am Hand-, an
den Finger-, auch an den Kniegelenken pflegt sie deutlich zu sein; am Ell-
bogengelenk wenig ausgesprochen, fehlt sie am Schultergelenk meistentheils.
Aehnlich verhält es sich mit der Schwellung der das Gelenk um-
gebenden Haut. Dieselbe fühlt sich teigig an, die Gelenkcontouren werden
undeutlich oder verschwinden ganz, selten kommt es zu so starkem Oedem,
dass der drückende Finger eine Grube zurückliesse. Die geringe Schwellung
ist ein sehr constantes Symptom, viel häufiger als die Röthung und von viel
längerer Dauer, ja sie bleibt mehr weniger — oft sehr lange — bestehen,
auch wenn Schmerz und Röthung längst verschwunden sind.
Die hervorragendste Eigenthümlichkeit aber dieser Ge-
lenkaffection ist ihre Flüchtigkeit. Schmerz und Röthung können beinahe
momentan verschwinden und das Gelenk wieder functionsfähig werden, selten hält
die Affection eines Gelenkes länger als einige Tage an. Häufig verschwindet
der Schmerz, ohne dass, wenn man so sagen darf, der Kranke selbst es gewahr
wird. Er hat das Gelenk aus Furcht noch peinlich steif und unbeweglich ge-
halten bis eine unwillkürliche Bewegung, eine zufällige Berührung ihm zu
seinem Erstaunen zeigen, dass es schmerzfrei ist. Höchstens eine geringe
Steifigkeit ist zurückgeblieben, so lange die ödematöse Durchfeuchtung der
Gewebe noch besteht, die nicht so schnell verschwindet wie Schmerz und Hyper-
ämie. Im Allgemeinen hält sich die Affection der kleinen, namentlich der
Fingergelenke länger als die der grossen, doch ist eine durchaus giltige
Regel nicht aufzustellen. Auch zur Intensität steht die Dauer des Schmerzes
in keinem festen Verhältnisse. Auf keinen Fall ist der stärkste Schmerz
auch der längstdauerde, eher das Umgekehrte. Höchst bemerkenswerth
ist die Schnelligkeit dieses Verschwindens. Man kann es wirklich als mo-
mentan bezeichnen; wenigstens in den typischen Fällen. In anderen geht es
langsamer, manchmal bleiben, wenn auch der Schmerz im Allgemeinen ver-
schwunden ist, einzelne Stellen des Gelenkes und bestimmte Bewegungen noch
kurze Zeit schmerzhaft. Aber ein irgendwie länger fortdauernder Schmerz
zeigt immer an, dass eine Abnormität im Gelenk zurückgeblieben ist, die, wenn
sie auch Folge des acuten Rheumatismus ist, doch nicht als zum typischen
Bilde desselben gehörig angesehen werden kann.
Leider ist aber mit dem Freiwerden des einen Gelenkes die Krankheit
nicht abgethan. Denn noch während die Affection desselben in voller Blüthe
ist, werden andere Gelenke ganz in gleicher Weise und unter den gleichen Er-
scheinungen befallen. Oft genug erkranken auch gleich von Anfang herein
mehrere gleichzeitig, jedenfalls ist dies auf der Höhe der Krankheit der Regel
nach der Fall. Daher auch der Name ^^polyarticulär er Rheumatismus.'-' Der „mono-
articuläre", dem Namennach auf ein Gelenk beschränkte, ist jedenfalls selten,
sofern man den Begriff streng nimmt und alle Gelenkaffectionen davon aus-
schliesst, die ätiologisch nicht zu Rheumatismus acutus gehören. Im Allgemeinen
schreitet die Krankheit von den unteren Gelenken nach den oberen hin, so
dass zuerst die Fuss-, dann die Kniegelenke; dann Hand-, Ellenbogen-, Hüft-
und Schultergelenk ergriffen werden, die Fingergelenke, Kiefer u. s. w. erst
später an die Reihe kommen. Die Gelenke werden meist nicht beiderseits auf
einmal (also nicht symmetrisch) befallen, sondern in unregelmässiger Folge.
760 GELENKRHEUMATISMUS.
Friedläzvder meint eine bestimmte typische Reihenfolge herauszuerkennen imd will
daraus auf das seiner Meinung nach der Krankheit zu Grunde liegende allmälige, aber in
der Kachbarschaft typisch um sich greifende Fortschreiten der anatomischen Erkrankung
der MeduUa oblongata schliessen, die er für das Wesentliche bei unserer Krankheit hält.
Er muss aber selbst zugeben, dass in der Mehrzahl der Fälle dieses ^Yeiterwandern in man-
nigfachster Weise unterbrochen und variirt erscheint, also nicht typisch ist.
Und wirklich maclit die unbefangene Beobachtung der Eeihenfolge, in
der im Einzelfalle die Gelenke afiicirt werden, den Eindruck ganz unregelmässigen
Springens. Man muss wohl annehmen, dass kleine zufällige Einflüsse : eine
unwillkürliche Bewegung, ein Muskelzug, ein Reflex und dergleichen die Ver-
anlassung zur Localisation in dem oder jenem Gelenke geben, es gelingt daher
nur selten dergleichen einzeln nachzuweisen. Dass die grossen Gelenke der
unteren Extremitäten meist zuerst erkranken, mag wohl von solcher Ursache
abhängen; sind sie doch der Eegel nach von allen Gelenken des Körpers am
Meisten in Anspruch genommen.
Ein und dasselbe Gelenk kann mehrmals im Laufe der Krankheit
befallen werden, ja bei einem irgend erheblicheren Piheumatismus ist dies die
Regel. Ob längere oder kürzere freie Zeit zwischen den einzelnen Attaquen
liegt, ist durchaus zufällig und weder für dasselbe Gelenk, noch für denselben
Fall, noch gar für verschiedene Fälle irgend einer Regel unterworfen. Bei
der langen Dauer der Krankheit kann ein und dasselbe Gelenk viele, bis
zwölf und mehr solcher Attaquen durchzumachen haben. Je häufiger sie
sich wiederholen, desto leichter bleibt auch in der Zwischenzeit Steifigkeit
zurück und desto näher rückt die Gefahr bleibender anatomischer Veränderungen.
Dagegen pflegen die acuten Erscheinungen, Schmerz und Röthung bei den
späteren Anfällen nicht so hohe Grade zu erreichen, wie bei den ersteren.
Die Fähigkeit vom Rheumatismus befallen zu werden kommt allen
Gelenken zu. Selbst die Symphysen der Beckenknochen und das Sacral-
gelenk geben hier und da durch Empfindlichkeit und Schmerz bei Druck
Zeichen von Erkrankung und dass das Kiefergelenk, die Rippen-, die Wirbel-
gelenke befallen sind, kann wenn auch glücklicher Weise nicht allzu häufig, doch
von jedem Beobachter, der eine Anzahl Rheumatismuskranker gesehen hat, be-
stätigt werden. Ich sage ausdrücklich gesehen „hat", weil in neuerer Zeit,
seitdem wir den Rheumatismus frühzeitig mit Erfolg zu bekämpfen gelernt
haben, seine Ausbreitung auf die kleineren Gelenke seltener zu werden scheint.
Wenn viele Gelenke gleichzeitig erkrankt sind, ergibt sich ein äusserst qual-
voller Zustand. Abgesehen von den Schmerzen, ist schon die totale Unbeweg-
lichkeit des ganzen Körpers äusserst peinlich; in extremen Fällen nimmt er
eine Steifigkeit an, wie sie sonst nur bei ausgebreiteter Trichinose und
Tetanus vorkommt. Die abwehrenden Schreie, wenn die leiseste Berührung oder
auch nur eine Erschütterung der Lagerstätte droht, erinnern an Lyssa und
Tetanus. Decubitus und Hypostasen können die Folgen davon sein und —
wenn Kiefer- oder Rippengelenke betheiligt sind — die ernstesten Gefahren für
Ernährung und Respiration. Glücklicher Weise sind solche extreme Fälle
selten und in der grossen Mehrzahl bleibt die Zahl der befallenen Gelenke
eine beschränkte. Wie viele und welche in jedem Einzelfalle erkranken, ist
durchaus unbestimmt. Je "mehr ergriffen werden, desto schwerer ist der Fall:
es liegt nahe, daraufhin die Zahl der befallenen Gelenke mit der Intensität
der Infection (Menge oder Virulenz des aufgenommenen Giftes) in Beziehung
zu bringen, andererseits weisen einige schon erwähnte Thatsachen darauf hin,
dass besondere Zustände einzelner Gelenke (starker Gebrauch u. s. w.) die
Erkrankung begünstigen. Aber, wie gesagt, eine bestimmte Regel lässt sich
nicht ableiten und demnach noch viel weniger in jedem Falle voraussagen,
ol) viel oder wenig und welche Gelenke im Laufe der Krankheit werden er-
griffen werden.
GELENKRHEUMATISMUS. 761
Pathologisclie Anatomie. Auch ohne die, wenn auch nicht zahlreich, doch in
genügender Menge vorliegenden anatomischen Befunde an erkrankten Gelenken, würde man
die anatomische Grundlage aller Erscheinungen an denselben in Hyperämie und seröser
Durchtränkung der das Gelenk bildenden Gewebstheile zu suchen und zu finden haben.
Die Gelenkknorpel auch die Knochentheile bleiben frei; in den Gelenkhöhlen findet
sich nur eine sehr geringe Menge von Flüssigkeit, die, etwas trübe, nur eine Hypersecretion
der Synovia darstellt. Die Synovialhaut ist aufgelockert, geröthet, durchfeuchtet, die Bänder
und Sehnen ebenso und nicht zum Mindesten die das Gelenk bedeckende Haut. Tiefere Ver-
änderungen: ülcerationen der Synovialhaut, Usur der Knorpel, Verdickungen der Kapsel
u. s. w. setzt der echte acute Gelenkrheumatismus nicht oder doch nur als accidentelle
Folgekrankheit und ist schon angeführt, dass Friedlä:\'der jede Eiterbildung im Gelenke
nicht von der Noxe des Gelenkrheumatismus, sondern von einem zufällig neben derselben
einwirkenden Entzündung erregenden Agens ableitet.
Als zweites Hauptsymptom hat man das Fieber anzusehen. Wenngleich
Feiedläxder auch für dieses einen, übrigens schon von Wunderlich ange-
gebenen typischen Gang findet, so hat doch die Curve — in der gewöhnlichen
Weise ausgezogen — so wenig Charakteristisches, und es kommen so viele
Abweichungen von dem als typisch angesehenen Gange vor, dass es un-
möglich ist, aus dem Gange der Temperatur einen Schluss auf den Gang der
Krankheit zu ziehen oder gar, wde bei anderen Infectionskrankheiten, aus der
Curve die Natur der Krankheit zu erkennen. Das Fieber steigt in der Regel
nur allmälig an; innerhalb des Anstiegs machen sich natürlich die regelmässigen
Exacerbationen und Remissionen bemerkbar; doch erreicht es selten hohe
Grade, sondern hält sich um 39° C. herum. Die Akme wird nach 5 — 6 Tagen
erreicht, hat aber keine Dauer, sondern an die erreichte höchste Temperatur
schliesst sich unmittelbar der Abfall an, der seinerseits durch 6 — 8 Tage sich
hinzieht unter den gewöhnlichen hier wenig ausgesprochenen Tagesschwan-
kungen. Schüttelfrost gehört nicht zum typischen Bilde, sein Auftreten zeigt
Eiterung an: von den Hyperpyrexien, die vorkommen können, wird weiterhin
die Rede sein. Abgesehen auch von ihnen kommen von dem geschilderten
Temperaturverlaufe die mannigfachsten Abweichungen vor; meist in der Weise,
dass eine mittelhohe Temperatur mit geringen Tagesschwankungen und ab-
steigender Tendenz sich lange Zeit hinzieht.
Kur ganz im Allgemeinen kann man die Temperatur mit der Intensität
der Erkrankung in Beziehung bringen. Wir finden hohe Temperaturen, wenn
nur wenige Gelenke und nicht sehr stark befallen sind und ebenso häufig
das Umgekehrte. Bei einem Wiederaufflackern der Krankheit stellt sich auch
das Fieber wieder ein. Es ist die Meinung ausgesprochen worden, dass das
Fieber unabhängig von den Localisationen der Krankheit auftrete; als Coeftect
derselben Ursache oder gar als essentielles Fieber. Dafür sprechen die Fälle,
in denen Fieber vor aller und jeder Localerscheinung an irgend einem Gelenk
beol)achtet worden ist. Immerhin sind diese Fälle Ausnahmen, auch ver-
schiedener Deutung zugänglich: der Regel nach beginnt die Krankheit mit
der Gelenkafi'ection und erst nachher folgt die Temperaturerhöhung. Ab-
gesehen von den allgemeinen Gründen, die gegen die Ausnahme eines quasi
essentiellen Fiebers sprechen, ist für den acuten Gelenkrheumatismus be-
sonders der Effect der specifischen Gegenmittel, die sämmtlich gleichzeitig
temperaturherabsetzend wirken als Beweis für den innigen Zusammenhang
zwischen Fieber und Localaffection anzusehen.
Die verhältnismässige Geringfügigkeit der Temperaturerhöhung beim
Rheumatismus erklärt sich am Einfachsten durch das beinahe regelmässige
Auftreten profuser Seh weisse. Wenn die Haut der Kranken trocken wird,
so tritt Hyperpyrexie ein (s. u.). Wenn wir auch über den Zusammenhang
dieser Schweisse mit der Krankheit noch absolut Kichts wissen, nicht einmal
einen Erklärungsversuch dafür halben, so steht doch die Thatsache fest, dass
die bei Weitem überwiegende Mehrzahl der Rheumatismuskranken eine Menge
von Schweiss vergiesst, die ganz ausser ^'erhältnis steht zu der niedrigen
Fiebertemperatur und der gezwungenen absoluten Ruhe. Da man heutzu-
762 GELENKRHEUMATISMUS.
tage die Nutzlosigkeit und Grausamkeit des früheren Verfahrens, durch Zu-
führung äusserer Wärme, Bedeckung u. s. w. den Schweiss möglichst zu be-
fördern, zu „unterhalten", eingesehen hat, so tritt seine selbständige Be-
deutung als eines wesentlich dem acuten Gelenkrheumatismus angehörigen
Symptomes umso deutlicher hervor. Analoges finden wir bei Trichinose und
Tetanus, wodurch auch für den Rheumatismus auf musculäre Genese des-
selben hingewiesen wird. Irgend welche Besonderheiten bietet er nicht; der
stark saure Geruch, die Miliaria erklären sich leicht aus seiner grossen Menge;
dass man vergeblich in ihm nach Milchsäure gesucht hat, ist schon erwähnt.
Die Schweisse und eine grosse Geneigtheit zu solchen bleiben bis tief in die
Reconvalescenz und über dieselbe hinaus bestehen.
Was sonst noch als Erscheinung des Rheumatismus acutus anzusehen
ist, erklärt sich leicht aus dem Fieber und dem starken Wasserverlust durch
den Schweiss. Der Urin ist hochgestellt, stark concentrirt und wird in ge-
ringer Menge secernirt. Harnstoff und Harnsäure sind vermehrt, die Phosphate
vermindert u. zw. nicht blos procentisch, sondern absolut. Häufig setzen
sich beim Erkalten die ziegelrothen Niederschläge der Harnsäure und ihrer
Salze ab. Es besteht Neigung zu Obstipation, Appetitmangel und Durst. Der
Puls zeigt, wenn nicht Complicationen von Seiten des Herzens eintreten, keine
Besonderheiten; seine Frequenz entspricht der Temperaturhöhe, seine Weichheit
den Schweissen. Das Sensorium bleibt, abgesehen von den Fällen von Cerebral-
rheumatismus (s. u.) frei. Zu erwähnen ist noch, dass der Fibringehalt
des Blutes am stärksten von allen fieberhaften Krankheiten beim Gelenk-
rheumatismus, bis auf das Vierfache der Norm, sich vermehrt — eine Er-
scheinung, der man freilich in der Aera der Blutentziehungen mehr diagno-
stische und pathologische Wichtigkeit beilegte, als jetzt angängig erscheint.
Complicationen. Am Wichtigsten wird der acute Gelenkrheumatismus
durch seine Beziehungen zu Erkrankungen des Herzens : Beziehungen
über die wir freilich nichts weiter wissen, als dass sie existiren, und zwar in
dem Sinne, dass der Rheumatismus als Ursache der Herzerkrankung zu gelten
hat. Auch kann man nicht näher präcisiren, welcher Theil des Herzens
besonders ausgesetzt ist; Endocard, Myocard, Pericard sind gleichmässig be-
theiligt. Besonders häufig scheint das Myocard ergriffen zu werden, so häufig,
dass ich die Myocarditis als ständige Begleiterin des Rheumatismus ansprechen
möchte, wenn nicht beim Ausgang in Genesung und falls die Localisation
im Herzfleisch nicht derart ist, dass Störungen in der Function der Klappen
resultiren, die Diagnose immer zweifelhaft bliebe. Wenigstens hört man auch
in solchen Fällen, wo nach vollständiger Genesung das Herz sich frei von
Residuen etwaiger Endocarditis erweist, Unreinheiten an den Herztönen, ver-
waschene erste Töne, Unregelmässigkeiten der Aufeinanderfolge, die auf nichts
Anderes bezogen werden können, als eine Affection des Herzfleisches; umso
sicherer, wenn sie später wieder verschwinden. Kommt nebenbei noch Ver-
grösserung (Dilatation) des Herzens, Verschwinden des Stosses, Schmerz in
der Herzgegend und Unregelmässigkeit der Action hinzu, so darf man die
Diagnose als gesichert ansehen. Die Form der Myocarditis ist die degenerative:
keine Hyperämie, kein Exsudat, sondern Trübung, Erschlaffung und schliesslich
fettige Entartung der Fibrillen, selten mit dem Ausgang in Schwielen-
bildung.
Die dem acuten Gelenkrheumatismus zukommende Endocarditis ist
stets von der fibrösen Form. Sie wird nur wichtig, wenn sie an den Klappen
und Ostien localisirt, deren Form beeinträchtigt; an anderen Stellen bleibt
sie belanglos. Sie erscheint zunächst als Trübung, demnächst als Verdickung
des Endocards, hervorgerufen durch Wucherung des subepithelialen Binde-
gewebes, das Epithel selbst bleibt intact. Im weiteren Verlauf schrumpfen
die aflicirten Stellen in narbiger Contraction und dadurch werden, wenn die
GELENKRHEUMATISMUS. 763
Afiection, wie sie gern thut, an den Klappensegeln und am Limbus sich an-
siedelt, die mannigfachsten Formverändenmgen erzielt, die auch nach Ablauf
der Grundkrankheit fortbestehend, die anatomische Grundlage der Herzklappen-
fehler darstellen, und bei diesen des Näheren abgehandelt werden. In der
Mehrzahl der Fälle handelt es sich bei den durch Rheumatismus entstandenen
Endocarditiden um die Mitralklappe; sehr viel seltener wird dabei die Aorten-,
beinahe nie die Pulmonal- und Tricuspidalklappe in Mitleidenschaft ge-
zogen. Embolien in entfernten Organen können als Folge der Wucherungen
sich einstellen.
Die im Gefolge des Gelenkrheumatismus auftretende Pericarditis
endlich ist ebenfalls recht häufig; in ihren massigen Graden jedenfalls viel
häufiger als sie diagnosticirt werden kann. Sie ist als einfache Entzündung
zu bezeichnen, mit Hyperämie, Auflockerung und Schwellung des Pericards
und schliesslich serös-fibrinösem Exsudat und unterscheidet sich anatomisch
und klinisch nicht von der gemeinen. Auch ihr Verlauf ist unabhängig von
dem des veranlassenden Ptheumatismus.
Nächst dem Herzen, aber viel seltener, ist die Pleura beim Rheumatismus
secundären Entzündungen ausgesetzt. Auch bei ihr handelt es sich um ein ein-
faches serös-fibrinöses Exsudat, welches durchaus dieselben Erscheinungen setzt
wie jedes andere Pleuraexsudat derselben Natur. Seine Zugehörigkeit zum
Rheumatismus documentirt sich aber im Gegensatz zu der Hartnäckigkeit
sonstiger solcher Exsudate dadurch, dass es durch antirheumatische Mittel
oft schnell zur Resorption gebracht wird.
Dass Pneumonien, Anginen und in seltenen Fällen auch Menin-
gitis, Peritonitis, Nephritis als Begleiterinnen des acuten Gelenkrheu-
matismus auftreten, sei nur erwähnt, üeber die Art des Zusammenhanges
wissen wir Nichts; auch unterscheiden sie sich in Nichts von den auf andere
Weise entstandenen -Formen.
Die Wahrscheinlichkeit der einen oder der anderen dieser Complicationen
hängt nicht von der Schwere und Ausbreitung des Rheumatismus ab. Sie können
bei ganz leichter, auf wenige Gelenke beschränkter, selbst monoarticulärer Er-
krankung auftreten, bei den schwersten Fällen fehlen. Auch die Periode der
Erkrankung, in welcher sie auftreten können, ist völlig unbestimmt. Meist
allerdings erscheinen sie in ihren ersten Anfängen dem aufmerksamen Be-
obachter schon sehr frühzeitig, doch muss man während des ganzen Ver-
laufes mit ihnen rechnen. Wenn einmal eine Herzaffection dagewesen, wenn
sie gar bleibende Residuen hinterlassen hat, ist eine neue Auflage derselben
bei einer etwaigen Wiederholung des Rheumatismus mit grosser Wahrschein-
lichkeit zu erwarten.
Eine etwas andere Stellung und nicht als Complicationen zu betrachten,
nehmen ein Paar andere Vorkommnisse ein, die glücklicher Weise selten
ab und zu im Laufe eines acuten Rheumatismus zur Beobachtung kommen.
Erstens die Blutungen, die man als Zeichen von Blutdissolution anzusehen
sich gewöhnt hat. Am häufigsten finden sie sich auf der Haut in der Form
von Petechien, Vibices und Ecchymosen, besonders an den unteren Extremitäten ;
sie kommen aber auch auf den Schleimhäuten vor, namentlich der Nase, von
wo das Blut dann auch zu Tage tritt; und in den inneren Organen, besonders
den serösen Häuten, hier selbstverständlich von der übelsten Vorbedeutung.
Wie weit man diese Fälle die Schönlein als besondere Krankheitsgruppe
unter dem Namen der Peliosis rheumatica oder Purpura rheumatica zusam-
menfasste, zum Rheumatismus rechnen darf, erscheint noch fraglich. Die
Mehrzahl der Autoren will sie ganz getrennt wissen und sieht die Schmerzen
und Arthropathien, die zum Bilde der Peliosis gehören, als Symptome der-
selben an, die nichts mit denen des acuten Gelenkrheumatismus zu thun
764 GELENKEHEUMATISMÜS.
haben. Nach Ausscheidung dieser Fälle muss man das Auftreten von Blu-
tungen beim Gelenkrheumatismus als selten, doch nicht unerhört, bezeichnen.
Es ist möglich, dass zwischen den Petechien der PeUosis rheumatica
und den Knötchen, die das Merkmal des von Rehx sogenannten Rheumatis-
mus nodosus bilden, ein innerer Zusammenhang existirt. Seitdem einmal die
Aufmerksamkeit auf diese freilich schon von Froeiep beobachtete Erscheinung
gelenkt ist, melu^en sich die Beobachtungen, so dass sie in der That häufiger
vorzukommen scheint als man vermuthete. Im Beginn oder im Verlaufe des
acuten Gelenkrheumatismus erscheinen, inbesondere bei Kindern, an den peri-
articulären Ligamenten, Sehnen, oberflächlichen Aponeurosen oder auch am
Periost subcutan und nicht mit der Haut verwachsene Knötchen von Hirse-
korn- bis Erbsen-, höchstens Bohneugrösse, verschieblich, kaum schmerzhaft,
oft in grosser Menge, nicht blos an den erkrankten Gelenken, sondern auch
an entfernteren Stellen (Schädel), die in Schüben auftreten, so dass während
das einzelne Knötchen eine Lebensdauer von 4 — 6 Tagen hat, die ganze Erup-
tion sich der Regel nach 4 — 6 Wochen, manchmal auch Monatelang hinzieht.
Während die einen Beobachter (Hirschsprung, Barlow u. A.) sie aus jungem
Bindegewebe mit reichlichen Gefässen bestehen lassen, findet Nepveu im
Centrum einen kleinen necrotischen Herd, umgeben von einer Zone weisser
Blutkörperchen mit Micrococcen, so dass sie auf Embolien zurückzuführen
wären.
Aehnlichen Ursprungs mögen auch die partiellen circuniscripten Hautödeme
sein, die in ganz seltenen Fällen als Begleiterscheinung des acuten Rhematismus beobachtet
sind.
Der cerebrale Ptheumatismus endlich, früher als Metastase be-
zeichnet und gefürchtet, tritt glücklicher Weise selten, in höchstens 47o der
schweren Rheumatismusfälle auf. Man versteht darunter das plötzliche un-
vermittelte Auftreten schwerer Hirnsymptome — Sopor, mussitirende, auch
hier und da furibunde Delirien, Coma, stertoröses Athmen u. s. w. — mitten
im Verlauf derRheumatismuserkrankung. Die Metastasentheorie fand gerade
hier die scheinbar besten Stützen, insofern als meist mit dem Auftreten der
cerebralen Symptome die Schmerzen in den befallenen Gelenken nachlassen
und ganz aufhören, so dass die Kranken die eben noch kein Glied rühren
konnten, in fortwährender Unruhe und Jactation sie herumwerfen, ja bei den
furibunden Delirien die grössten Kraftäusserungen leisten. Es gibt Fälle, wo
die Affection wahrhaft fulminant einsetzt: binnen weniger als einer Stunde
einen wenn auch schweren, doch anscheinend gutartigen Rheumatismus zum
letalen Ausgang führt; der Regel nach kündigt sie sich durch Kopfschmerz
(der sonst nicht zum Krankheitsbilde des Rheumatismus gehört) und leichte
Benommenheit des Sensoriums an, führt aber ebenfalls unter rascher Steige-
rung der Symptome binnen 2—4 Tagen zum Tode. Das hervorragendste
Symptom ist die Hyperpyrexie. Man darf zwar noch nicht behaupten, dass
alle Fälle von cerebralem Rheumatismus excessive Temperaturen zeigen, eben-
sowenig wie alle Rheumatismuskranken mit sehr hohen Temperaturen cere-
brale Erscheinungen bekommen, denn es liegen gegentheilige Beobachtungen
vor; allein je mehr die Aufmerksamkeit sich auf das Symptom gelenkt hat,
desto häufiger wird von der Coincidenz beider Erscheinungsreihen berichtet
und so darf als wahrscheinlich gelten, dass ein innerer Zusammenhang be-
steht. Es handelt sich um Temperaturen bis 44-2, also vollständig an der
Grenze des Möglichen. Die Entscheidung ist wichtig für die Erklärung des
Vorgangs, umsomehr als uns die pathologische Anatomie (da mindestens
drei Viertel der Fälle dem Tode verfallen, verfügt sie über ein verhältnis-
mässig beträchtliches Material) in dieser Beziehung vollständig im Stich lässt.
Starke Hyperämie des Gehirns und seiner Häute mit obligatem Oedem ist
Alles, was die Obduction ergibt und auch dies nicht in allen Fällen. Diese
GELENKRHEUMATISMUS. 765
Hyperämie kann aber ebensogut als Folge der hohen Temperatur angesehen
werden, wie als Ursache derselben. In letzterem Falle bleibt dann Nichts
übrig, als eine directe Einwirkung der Rheumatismusnoxe auf das Central-
nervensystem anzunehmen und Aufklärung durch weitere Beobachtungen zu
erwarten. Verschwiegen sei nicht, dass die vortreftliche Wirkung wärmeent-
ziehender Proceduren, wie kalte Bäder u. s. w. (Fox) beim cerebralen Rheu-
matismus beinahe zwingt, die Hyperpyrexie in der That als den Grund der
bedrohlichen Erscheinungen anzusehen.
Ueber den Verlauf der Krankheit ist dem Gesagten wenig hinzuzu-
fügen. Soweit sie uncomplicirt bleibt, ist derselbe ein ziemlich regelmässiger.
Der Anfang pflegt sehr scharf markirt zu sein durch Auftreten von Schmerzen
gewöhnlich in einem Fussgelenk. Nach einer Statistik von Gerhardt wurden
zuerst befallen eines der beiden Fussgelenke in 35°/o5 Knie in 257o, Schulter
in 107o, Handgelenk in 6^'o: also in % der Fälle die untere Extremität. Schon
dadurch kommt der Kranke sofort zum Liegen ; meist dauert es auch nicht
lange, dass weitere Gelenke schmerzhaft werden und nun verläuft die Krank-
heit unter dem beschriebenen Wechsel in den Gelenklocalisationen mit wenig
verändertem Krankheitsbild gleichförmig weiter. Schwankungen treten ein, je
nachdem mehr oder weniger Gelenke gleichzeitig befallen sind ; es kommen
Tage, an denen, bei entsprechender Behandlung, viele, ja alle frei sind, andere,
an denen wieder die Zahl der befallenen Gelenke sich häuft. Das Ende der
Erkrankung ist ganz verwaschen. Nachdem mehrere Tage ganz ohne Schmerz,
Gelenkaffection und Fieber verlaufen sind, können plötzlich wieder Steige-
rungen eintreten und oft finden sich noch lange, nachdem die Hauptkraft der
Krankheit gebrochen ist, wieder flüchtige Schmerzen in dem oder jenem Ge-
lenk ein ; ein Umstand der bei der Behandlung und bei der Entscheidung
der Frage, wann der Kranke wieder seiner Beschäftigung nachgehen soll, nicht
ausser Acht zu lassen ist.
Die mittlere Dauer der in Genesung übergehenden uncomplicirten
Fälle lässt sich auf 40 — 50 Tage veranschlagen. x4.uch für leichtere und für
solche Fälle, in denen es gelang durch eine geeignete Medication die Schmerzen
und alle Nebenerscheinungen auf sehr niedrigem Grad zu halten, respective
ganz zu vermeiden, pflegt dieser Zeitraum durch leichte Andeutungen der
Gelenkaffection und Anderes ausgefüllt zu werden, so dass auch für sie die
Krankheit ihre typische Dauer festhält, auch dadurch ihren Charakter als In-
fectionskrankheit documentirend.
Der Tod tritt in 3 — 47o der Fälle ein, wohl immer in Folge einer der
erwähnten Complicationen. In cca 20^0 bleibt ein Herzfehler zurück; ob
für's ganze Leben oder nur bis zum allmäligen Ausgleich in Jahren, das hängt
von der Intensität der Herzaffection und sehr wesentlich vom Alter des Pa-
tienten ab. Je jünger das Individuum, desto mehr kann man hoflen, im Laufe
der Jahre noch eine Rückbildung eintreten zu sehen. Jedenfalls muss man
Jahre verstreichen lassen, ehe man einen durch Rheumatismus erworbenen
Herzfehler als stationär ansehen darf.
In gewissem Sinne kann man die Chorea als nicht seltene Nachkrankheit
des Rheumatismus bezeichnen, insofern man bei vielen Choreakranken die
Anfänge der Krankheit auf einen solchen zurückführen kann. Fraglich ist
nur, ob es dazu des Mittelgliedes einer Herzaffection bedarf. Wenn auch ein-
zelne Beobachter die Chorea ohne eine solche dem Rheumatismus haben
folgen sehen, wird man sich doch eines abschliessenden Urtheils enthalten
müssen, ehe nicht das Wesen der Chorea selbst besser erkannt und damit
ihr Verhältnis zu den Endocarditiden überhaupt durchsichtiger geworden ist.
Schwierigkeiten für die Erklärung bieten auch die Fälle von Neuralgie nach Piheu-
matismus und besonders die Muskelatrophien, die als reine Inactivitätsatrophien zu
charakterisiren ihr manchmal sehr rasches Auftreten nach kurzem Bestehen des Piheumatismus
766 GELENKRHEUMATISMUS.
zu verbieten scheint. Es bleibe dahingestellt, ob man zur Erklärung dieser übrigens seltenen
Folge auf trophoneurotische Störungen zurückgreifen muss.
Bei einer kleinen Zahl von Fällen geht der acute Gelenkrheu-
matismus in den chronischen über. Es ist sehr fraglich, ob dabei wirklich
die typische Form des Gelenlo-heumatismus, d. h. die eben besprochene In-
fectionskrankheit zu Grunde liegt, oder nicht vielmehr von vorn herein andere
Formen: multiple Gelenkentzündungen u. s. w. ihn vorgetäuscht haben. Das-
selbe gilt von Difformitäten der Gelenke mannigfaltigster Art, die nur zu
häufig auf einen acuten Gelenkrheumatismus zurückgeführt werden.
Therapie. Die Behandlung des acuten Gelenkrheumatismus ist mit
der epochemachenden Entdeckung der antirheumatischen Kraft des Salicyl
(Maclagan 1874 mit der wunderlichen Begründung, dass ein Stoff, den die
auf feuchtem Boden am Besten gedeihenden Salixarten produciren, auch gegen
die auf solchem Boden entspriessenden Krankheiten wirksam sein müsse, ferner
Buss, Steicker, Senator) in ein neues Stadium getreten. Es erübrigt daher
von den alten Mitteln viel zu reden, als da waren JSatron, Chinin, Digitalis,
Colchicmn, Jodkal>, Citronsäure, Ammoniak^ Eisenchlorid, Brechweinstein u. s. w.
Zweifellos sind viele Bheumatismuskrauke unter dem Gebrauch eines oder des
anderen dieser Mittel genesen; aber schon ihre Menge spricht deutlich aus,
dass keines derselben allgemeine Anerkennung sich hat erringen können und
selbst wenn man geneigt wäre einzelne Beobachtungen nicht nach dem post
hoc, sondern nach dem propter hoc zu deuten, wäre man immer nicht in der
Lage anzugeben, in welchen besonderen Umständen des Krankheitsfalles das
eine oder das andere sich wirksamer zeigte. Man darf sie sämmtlich als der
Vergessenheit anheimgefallen bezeichnen.
Nicht viel anders steht es mit den Vesicatoren (Davies), die in
fingerbreiten Streifen ringförmig ober- und unterhalb des erki^ankten Gelenkes
um das Glied gelegt wurden und mit den subcutanen Injectionen von 2°/o-iger
Carbolsäure zu 4 — 8 rings um das Gelenk herum (Kuis^tze), sowie den sub-
cutanen Kaltwasserinjectionen oder gar den Bienenstichen rings um das er-
lo-ankte Gelenk herum (Terc) und der darauf gebauten Apiolintherapie.
Eher wird noch eine oder andere der früher üblichen äusseren Applicationen
in Anwendung gezogen: die Wärme in Form von warmen trockenen Ein-
wickelungen (Werg, Watte, event. mit Wachholderdämpfen durchzogen) oder
die Kälte in der Form von Eisblasen auf die schmerzenden Gelenke. Sie
müssen natürlich von einem Gelenk zum anderen wandern, je nachdem Schmerzen
auftreten. Wenn auch die Schmerzen dadurch auf einen erträglichen Stand
gehalten und das Fieber ermässigt wird, freilich ohne den Verlauf der Krankheit
abzukürzen, so ist doch die Unbequemlichkeit für den Kranken noch gross
genug. Dasselbe gilt von der Immobilisirung der Gelenke durch feste Ver-
bände (Heubner). Mit der Einführung der Salicylbehandlung sind auch diese
Hilfsmittel für die bei Weitem überwiegende Mehrzahl der Fälle entbehrlich
geworden.
Man gibt am Besten das salicylsaure Natron. Bedingung
der Wirksamkeit ist, dass es in genügender Dosis verabfolgt wird; bei irgend
erheblichen Krankheitserscheinungen darf man nicht unter 2 g pro dosi, 6
pro die heruntergehen, braucht sich aber auch nicht zu scheuen auf 6 pro
dosi, 20 pro die zu steigen. Die unangenehmen Nebenwirkungen: Schweiss,
Ohrensausen, Augenflimmern, Benommenheit, Bausch sind einfach in den Kauf
zu nehmen, da sie nach dem Aussetzen des Mittels rasch vorübergehen, und die
Unannehmlichkeiten— mehr ist es nicht — in gar keinem Verhältnis stehen
zu dem Nutzen der Schmerzfreiheit und Verminderung der Gefahren. Nur
Erbrechen und Dyspnoe verbieten al)solut den Weitergebrauch. Schliesslich,
bei manchen Kranken schon sehr bald, kommt freilich ein Zeitpunkt, wo nicht
allein die erwähnten Nebenwirkungen, sondern vor Allem ein unüberwindlicher,
^ GERUCHSEMPFINDUNGSSTÖRUNGEN. 767
immer steigender Widerwille das Mittel umiiöglicli machen. Allein meist ist
es gar nicht nöthig den Gebrauch bis zu diesem Zeitpunkt fortzusetzen, da
in wenigen Tagen, 2 höchstens 4, die Krankheit gebrochen ist, Schmerzen und
Fieber sich aufgelöst haben. Dann pflegt nur eine geringe Steifigkeit der Gelenke,
Neigung zu Schweiss zurückzubleiben und in unregelmässiger Folge durch eine
kleine Anstrengung, eine locale Erkältung oder ohne nachweisbare Ursache
wieder Schmerz in dem oder jenem Gelenk sich einzustellen. Während dieser
Zeit führt man die Salicylbehandlung weiter, entweder so dass man sofort bei
jedem Wiederaufflackern der Schmerzen mit einer vollen Dose von 1 — 2 g
eingreift — die Kranken lernen bald selbständig zu dem Mittel zu greifen
■ — oder dass man es in geringen Mengen, die ohne Nebenwirkung vertragen
werden, regelmässig weiter nehmen lässt. Sehr gut lässt sich zu diesem Zwecke
ein künstliches Salicylwasser verwenden, dem man mit Vortheil Natron zusetzt
und das auch nach vollständigem Erlöschen des Rheumatismus als Nachcur
lange fortgebraucht werden kann.
Bei echtem Gelenkrheumatismus wird man in wenigstens 757o der Fälle
mit dieser Medication den Erfolg haben, dass die Krankheit sehr gelinde ver-
läuft und die drohenden Complicationen, namentlich Seitens des Herzens, sehr
viel seltener werden, wenn auch nicht mit Sicherheit in jedem Falle auf eine
Abkürzung der Gesammtdauer gerechnet werden kann.
An Stelle des salicylsauren Natrons kann man die reine Salicylsäure anwenden in
Schüttelmixtnr oder alkoholischer Lösung mit irgend einem Bittermittel bis zu 6 </ pro
die. Es hat mir geschienen als ob bei stark hervortretender Endocarditis, besonders wenn
dieselbe am Aortenostium localisirt ist, die reine Säure den Vorzug vor den Salzen verdiene.
Die Salicylbehandlung hat den Vorzug, dass sich ihre Wirksamkeit oder
Erfolglosigkeit sehr bald beurtheilen lässt. Denn im ersteren Falle macht sich
schon nach den ersten Dosen die Besserung sehr deutlich bemerklich; wenn
das nicht der Fall ist, kann man auch von einer Fortsetzung keine erwarten.
Dann greife man zum hemoesauren Natron (Senator) in denselben Dosen wie
das salicylsäure. In einer Anzahl von Fällen, wenn das Salicyl im Stiche liess,
wird man damit den vermissten Erfolg erzielen.
Als Ersatz für das salicylsäure Natron, ohne dessen unangenehme Neben-
wirkung, aber auch nicht mit ganz so sicherem Erfolg, haben zu gelten das
Salol (Sahli), welches sich im Darm in Carbol- und Salicylsäure als die beiden
auch einzeln gegen den Rheumatismus wirksamen Mittel spaltet, in Dosen von
2 g^ ferner Salijjijrin, Scdicin, Salophen, Exalgin als Verwandte des Salicyls.
Mit gutem Erfolg sind auch angewendet Antijjgrin 6 — 8 g pro die (auch sub-
cutan zu 0'25), Phenacetin 6 gr, Antifehrin l'ö—S'O g, Phenocoll 3 — 4 g und
endlich das dithsolsalicylsaure Natron zweimal des Tags 0'2 g. Es ist unmöglich
anzugeben ob und in welchen Fällen das eine dieser Mittel den Vorzug
vor dem andern verdient. Und wie für diese steht auch für die Wirkung
des Salicyls die Erklärung aus. Die nahe chemische Verwandtschaft aller der
genannten Mittel legt den Gedanken nahe, dass sie in der That ein directes
Gegengift gegen das Rheumatismusgift darstellen oder enthalten, aber eine
genügende Erklärung ist damit umso weniger gegeben, als ja die Natur der
Rheumatismusnoxe selbst noch unbekannt ist. kohlschütter.
Geruchsempfindungsstörungen können sich in verschiedener Weise
geltend machen:
1. Es kann das Vermögen zu riechen ganz oder theilweise aufgehoben
sein: Anosmie.
2. Die Geruchsempfindung ist über die Norm gesteigert: Hyperosmie.
3. Es besteht Perversion des Geruchssinnes, die Gerüche werden anders-
artig empfunden und nach dem momentanen Geruchseindruck bleibt häutig
eine stunden- und tagelang dauernde Nachempfindung meist unangenehmer
768 jGERüCHSEMPFINDÜNGSSTÖEUNGEN.
Natur bestellen: Parosmie. Dieser Zustand ist wohl zu unterscheiden von den
Hailuc inationen des Geruches, die auch dann entstehen, wenn gar kein
Geruchsreiz eingewirkt hat und den Illusionen, welche durch irgendeinen
nicht specifischen peripheren Reiz hervorgerufen werden.
Die Anosmie ist entweder eine periphere oder centrale. Die periphere
Anosmie kann in verschiedener AVeise zu Stande kommen.
1. Es kann den Riechstoffen durch eine nasale Stenose der Weg zur
Riechspalte verlegt sein. Ist der Zugang von vornher verschlossen, so riecht
man von aussen kommende Gerüche nicht: Änosmia respiratoria. Dieselbe fin-
det sich also bei Nasenkatarrhen mit Verdickung der Schleimhaut, Deviationen
des Septum, Polypen und Tumoren. Ist die Choane verschlossen, so fällt
die Gerucliscomponente des Geschmacks aus (Anosmia gustatoria. Zwaaede-
makee). Als ätiologisches Moment kommt hier hauptsächlich Verwachsung
des Gaumensegels mit der hinteren Rachenwand in Betracht.
2. Durch destructive Veränderungen in der Riechschleimhaut kommt es
zu einer Unempfindlichkeit der Riechzellen.
Deren unmittelbarer Zusammenhang mit den Olfactoriusfasern wurde durch die
neuereu Untersuchungen von P. und S. Piamox, Dogiel, von GEHUCHTE^^ Castranugvo und
B. Grassi dargethan und durch von Brün:\' und His auch beim Menschen ausser Zweifel
gestellt, nachdem es schon durch CHRisTiiAs-DmcKiNCK-Hoi-iWFFXD, der nach Durchschnei-
dung der Bulbi olfactorii fettige Degeneration der Piiecbzellen beobachtet hatte, während
die Epithelzellen erst 4 — 5 Monate später zu entarten anfingen, wahrscheinlich gemacht war,
dass die Piiechzellen die wahren Endorgane der Riechnerven bilden und dass die Epithel-
zellen nicht in directem Zusammenhang mit den letzteren stehen. Auch Suchaxnek bestreitet
die von Exa'er und Preorbasche:n-sky behauptete Gleichwerthigkeit der Stütz- und Piiech-
zellen auf Grund anatomischer Untersuchungen und pathologischer Beobachtung. Ebenso
sprechen die mikrochemischen Untersuchungen von Blxhalow gegen diese Gleichwerthigkeit.
Die essentielle Anosmie ist also:
1. Eine Folge von entzündlichen Processen in der Riechschleimhaut.
2. Kann sie durch Intoxication bedingt sein, indem Gifte in gasförmiger,
flüssiger oder pulverförmiger Gestalt einen schädigenden Eintiuss auf die
Riechschleimhaut ausüben. Auch als Theilerscheinung allgemeiner Intoxicationen
tritt Anosmie auf.
So hat BiCHAT (Cloquet Ophresiologie) bei einer Quecksilbervergiftung. Edw. J. Parker
in Folge von Tabacksvergiftung Anosmie gesehen. Wenn auch Parker's Fall nicht ganz
einwandsfrei ist, da sein Patient an Pi,hinitis atrophicans litt, so ist doch immerhin bemer-
kenswerth. dass die Anosmie nach Beseitigung der Ursache wieder verschwand.
3. Verwandt mit den Intoxicationsanosmien sind die nach schweren er-
schöpfenden Krankheiten imd Infectionskrankheiten auftretenden Geruchs-
störungen. So hat ZwAAEDEMAKEE uach Influenza Anosmie beobachtet, ohne
dass das rhinoscopische Bild eine Abweichung von der Norm darbot. Zwaae-
DEMAKEE setzt dicsc Fälle in Analogie mit der nach Typhus vorkommenden
Anaesthesia retinae.
Ghislani-Dueaxt sah Anosmie in Folge von Gicht.
4. Bedingt der Verlust des der Riechschleimhaut eigenthümlichen Pig-
mentes Geruchsunempfindlichkeit, wie die Fälle von Hamiltox-Ogle und
Althaus beweisen.
5. Dahingestellt mag bleiben, ob die Anosmie, die während des Klimac-
teriums auftritt, zu den essentiellen oder centralen zu rechnen ist. Sehr inter-
essant ist ein Fall von G^ottschalk, der nach operativer Entfernung beider
Eierstöcke völliges Erlöschen der Geruchsemptindung beobachtete. Gottschalk
nimmt an, da das rhinoscopische Bild normal und eine centrale Ursache
auszuschliessen war, dass es sich um eine rein functionelle (d. h. essen-
tielle) Anosmie gehandelt habe. Die Castration, das künstliche Klimacterium,
wirkt also ebenso wie das natürliche.
Eine für den Kliniker ausreichende und sehr bequeme quantitative M e-
thode, um den Grad der Abstumpfung des Geruches zu messen, hat Zwaae-
DEMAKEE angegeben. Der Z\^'AAEDEMAKEE"sclie Riechmesser besteht im Wesent-
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GERüCHSEMPFINDUNGSSTÖßUNGEN. 769
liehen aus einem central durchbohrten äusseren Riechcylinder, in dem ein Glas-
röhrchen läuft, an dessen umgebogenen freien Ende man riecht. Dieses letz-
tere ist in einem gestielten Brettchen befestigt, das nicht nur als Handhabe
dient, sondern auch den von dem Riechcylinder ausströmenden Riechtheilchen
den directen Zugang zur Nase abschneidet. Sind beide Röhren übereinander
geschoben, so passirt die Luft nur das innere Glasrohr. Wird der Riech-
cylinder ausgezogen, so streicht die Luft zuerst über die Innentiäche dessel-
ben, von der umso mehr Riechpartikelchen abgegeben werden, je weiter man
den Cylinder herausschiebt. Die Riechkraft ist also proportional der ausgezo-
genen Cylinderlänge, die Geruchsschärfe wird ausgedrückt durch einen Bruch,
dessen Zähler durch den normalen Schwel lenwerth gebildet wird, während in
den Nenner die für die untersuchte Person gefundene Cylinderlänge gesetzt
wird.
Normaler Schwellenwerth
Die Geruchsschärfe (Olfactus) ist also 0 = Schwellenwerth der unter"
sachten Person.
Als Riechstoffe sind nur Substanzen mit möglichst constantem Gerüche
zu verwenden. Zw^aardemaker bedient sich des Kautschuks {Siegellackgeruch),
einer Mischung von gleichen Theilen Guttapercha und Gummi ammoniacum
(Lakritzengeruch), der Resina 'Benzoe (Vanillegeruch) und der Radix Sumbal
(Moschusgeruch). Die Cylinder werden am normalen Geruch geaicht, jedoch
muss die Aichung, da die Riechstoffcylinder nicht absolut constant sind, von
Zeit zu Zeit wiederholt werden. Für feinere Messungen, speciell für die ner-
vösen Anosmien empfiehlt es sich daher statt der festen Riechstoffcylinder
poröse Porzellancylinder (wie sie auf Zwaardemaker's Veranlassung von der
Firma 't Hoofd und Laboucherein Delft angefertigt werden) zu verwenden,
die für riechende Flüssigkeiten leicht durchgängig sind. Für diese Lösungen
wählt man am besten Stoffe aus den HAYCRAFx'schen Reihen in der Weise,
dass man hintereinander mit einem hohen und niedrigen Werth der Reihe
untersucht. Für klinische Zwecke tränkt Zwaardemaker den Cylinder meist
mit einer l°/o Lösung von Aqua amygd. amar., während Goldscheider zu dem
gleichen Zwecke eine schwache Lösung von Valeriansäure benützt.*)
Der Gang der Untersuchung ist folgender: Nach dem Vorgang
Zwaardemaker's pflege ich den Patienten zuerst mit dem Gerüche des zur
Untersuchung verwandten olfactometrischen Cylinders bekannt zu machen,
indem ich ihm denselben einen Augenblick unter die Nase halte. Dann schiebe
ich den Cylinder wieder über das sorgfältig gereinigte Innenröhrchen, nach-
dem ich mir zuvor die Hände gewaschen und mich davon überzeugt habe,
dass auch das Brettchen, in dem der Apparat befestigt ist, absolut geruchfrei
ist. Nun ersuche ich den Patienten, das so vorbereitete Instrument in den
vordersten Theil des Nasenlochs einzuführen und ruhig daran zu riechen,
ohne dass das andere Nasenloch geschlossen wird, vielmehr muss dabei ganz
natürlich und ruhig geathmet werden. Die Reizschwelle wird dann in der
Weise bestimmt, dass man abwechselnd von zu starken zu ein wenig zu schwa-
chen und von zu schwachen zu etwas stärkeren Reizen übergeht. Die Be-
stimmung erhält, worauf schon Zwaardemaker aufmerksam gemacht hat, einen
hohen Grad von Genauigkeit, wenn man hin und wieder mit der absoluten
Geruchsunempfindlichkeit vergleicht, die entsteht, wenn man den Riechmesser
in den hinteren Theil des Nasenloches bringt. Verfährt man in dieser Weise,
so genügen in der Regel V2 Dutzend Beobachtu;igen, um das Minimum
perceptibile sicher festzustellen.
*) Nach einer Reihe in letzter Zeit von mir angestellten Untersuchungen schwankt
der normale Schwellenwerth für eine Lösung von Acid. Valerian. hydr. Ph. g. I — Merk.
1 zu 10,000 Aqu. dest. von 07 — 1-5 cm. Am häufigsten habe ich 0.8 cm. gefunden.
Diese Länge ist also als Norm anzusehen.
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten,
49
770 GERUCHSEMPFmDüNGSSTÖRUNGEN.
Andere Methoden der Geruchsmessung sind von Valentin, Fischer und Penzolot,
DiBiTTs, Passy, Aronsohn, Henry und Savelieff angegeben worden. Eine Kritik dieser
Methoden findet sich in einem im „Neurologischen Centralblatt" veröffentlichten Artikel von
Zwaardemaker „Zur Methodik der khnischen Olfactometrie."
In demselben weisst Zwaardemaker nach, „dass eine olfactometrische Methode, die
sich in der Klinik bewähren soll, folgenden Forderungen genügen muss:
1. Dass sie erlaiibt mit den schwächsten Pieizen anzufangen und erst allmälig zu
den stärkeren überzugehen,
2. dass man sehr schnell und in continuirlicher Reihe von den schwächsten zu den
stärksten Riechreizen steigen kann.
Der ersten Anforderung entsprechen die Methoden Valentin-Passy's, Fröhlich's und
Zwaardem a ker's.
Die zweite Forderung wird zur Zeit nur durch das Princip der in einander schieben-
den Cylinder erfüllt.
Nach den bisher vorgenommenen Messungen ist nun die periphere Anosmie
stets eine totale, d. h. für alle Energien gleichmässig Platz greifende, wenn
auch die Möglichkeit, dass es Fälle von partieller Anosmie (Dysosmie, Peeyer)
nicht bestritten werden soll.
Die Behandlung der peripheren Anosmie soll in erster Linie
eine causale sein. Wenn es gelingt, das ursächliche Moment, z. B. Schleim-
polypen, Exostosen, Deviationen des Septums und Schleimhautschwellungen zu
beseitigen, so sieht man selbst lange Jahre hindurch bestehende Anosmien
wieder verschwinden.
A. d'AQüANNO hat einen derartigen Fall publicirt, wo eine seit 40 Jahren bestehende
respiratorische Anosmie durch Behandlung der Nasenaffection geheilt wurde.
Sonst ist man auf eine symptomatische Behandlung angewiesen. Beard
und Rockwell haben die Galvanisation empfohlen, doch ist nach Althaus
ein so kräftiger, mit so unangenehmen Nebenwirkungen verbundener Strom
erforderlich, um die Riechzellen zu erregen, dass nach Mackenzie diese
Methode nicht empfohlen werden kann. Andrerseits hat Luc zwei Fälle
von Anosmie, die nach galvanocaustischer Aetzung der hypertrophischen unteren
Muscheln entstanden war, durch den constanten und faradischen Strom geheilt.
„Die eine Elektrode wurde in die Nasenhöhle, die andere auf die Nasen wm^zel
gesetzt, secundenweise schnelle Steigerung und Verminderung der Stromstärke,
ohne dass 0*003 Milliamperes überschritten wurden, beide Elektroden abwech-
selnd in Verbindung mit dem -f- und — Pol einer constanten Batterie, ferner
Faradisation mittelst inducirten Stromes. Die Dauer jeder Sitzung betrug 10
Minuten für jede Hälfte der Nase, 5 Minuten galvanischer und 5 Minuten
faradischer Strom."
In dem oben erwähnten Falle von Gottschalk führte eine sechsmonatliche Be-
handlung mit dem galvanischen Strom erhebliche Besserung herbei.
Auch Einblasungen von Strychnin 0-003 — O'OOS pro dosi werden auf
Grund der von Fröhlich gefundenen Thatsache empfohlen, dass Strychnin die
Geruchsschärfe zu steigern vermag.
F. Felici hat einen Fall von Anosmie mit Ageusie, der durch fötide Rhinitis gum-
mosa bedingt war, durch Localbehandlung, Alkohol und irritirende Pulver geheilt. Gegen
intermittirende Anosmie hat Maurice Raynaud Chinin empfohlen. Sehr interessant ist ein
von Francis L. Parker veröffentlichter Fall von doppeltseitiger intermittirender Anosmie,
die durch operative Entfernung einer Exostose des Vomers, der auf die linke untere Muschel
hinüberreichte, geheilt wurde. Ghislany Durant hat einen Fall von arthritischer Anosmie
durch Ichthyol geheilt.
Die Diagnose auf centrale Anosmie ist man nur dann zu stellen be-
rechtigt, wenn die Möglichkeit einer peripheren Anosmie, beziehungsweise einer
Erkrankung der von der Peripherie zum Centrum führenden Leitungsbahnen
mit Sicherheit auszuschliessen ist. Die centrale Anosmie ist entweder ange-
boren oder erworben. Ausser bei den Arhinencephalen, bei denen das Riechhirn
fehlt, kommen leichtere Grade von Olfactoriusmangel nach Kündeat auch bei
sonst gut gebildeten Individuen vor.
Derartige Fälle sind von Bonet, Cerutti, Pressat, Frankmann, Claude Bernard,
Rosenmüller und neuerdings von Trillesky beschrieben.
GERUCHSEMPFINDUNGSSTÖRÜNGEN. 771
Die Diagnose der angeborenen centralen Anosmie lässt sich beim Leben-
den nur mit Wahrscheinlichkeit stellen, wenn seit frühester Jugend doppel-
seitige vollkommene Geruchsunempfindlichkeit besteht. Die Diagnose wird
wesentlich gestützt, wenn sich Vererbung nachweisen lässt.
Auch eine der Farbenblindheit analoge congenitale Anosmie scheint vor-
zukommen. So berichtet Mackenzie von einem Menschen, der Bartnelken
und Knoblauch nicht unterscheiden konnte und von einem Arzte, für den
Veilchen wie Phosphor rochen. Manche Menschen besitzen für Vanille keinen
Geruch, andere für Reseda. In dieser Lage war z. B. Johannes MtJLLER.
Auch erworben kommt dieser Zustand (nach Clinton- Wagner) vor, der
von einem Mehlaufseher erzählt, der die Fähigkeit verlor, gutes von schlechtem
Mehl zu unterscheiden, obwohl er früher als Sachverständiger in dieser Frage
galt. Clinton- Wagner nimmt an, dass der Riechnerv, dauernd dem Mehlgeruch
ausgesetzt, gegen diesen unempfindlich wurde, im übrigen war der Geruch
normal. Es würde sich also um eine partielle essentielle Anosmie handeln.
Im Gegensatz zu der angeborenen Anosmie wird die Altersanosmie nach
den Untersuchungen von Prevost durch Atrophie des N. olfactor. hervorge-
rufen. Nach ZwAARDEMAKER gchcu dem Verlust des Geruches in diesen Fäl-
len perverse Geruchsempfindungen, meist unangenehmer Natur voraus.
Auch in Folge von Tabes dorsal, kann es zu Atrophie des Olfactor.
kommen, (Althaus), wobei ebenfalls Parosmie dem vollständigen Schwinden der
Geruchsempfindung vorausgeht. Gegenüber diesen mehr allgemeinen Formen
der centralen Anosmie Ijeanspruchen jene Fälle, bei denen die Anosmie als
Theilerscheinung von cerebralen Störungen auftritt, für die Localisation der
Hirnaffection eine hervorragende Bedeutung. Hierfür ist freilich eine genaue
Kenntnis des Riechcentrums Vorbedingung. Glücklicher Weise hat die histo-
logische Anatomie des Centralnervensystems in neuerer Zeit solche Fortschritte
gemacht, dass wir von diesem Ziel nicht mehr zu weit entfernt sind.
Der Olfactorius ist entwicklungsgeschichtlich und histologisch kein
eigentlicher Nerv, sondern ein rudimentärer Hirnlappen. Während bei osmo-
tischen Thieren der Riechlappen mächtig entwickelt ist, zeigt er bei einer
grossen Zahl von Säugethieren und beim Menschen eine entschiedene
Tendenz zur Rückbildung. Die an dieser Rückbildung theilnehmenden Ab-
schnitte des Grosshirns verrathen sich als Riechcentrum (Methode der paral-
lelen Massenentwicklung).
Nach dieser Methode hat Zuckerkandl festgestellt, dass beim Menschen
das Gebiet des Gyr. fornicatus und der unter ihm liegenden rudimentären
Rindentheile das Riechcentrum bilden, während sich bei den Thieren 3 Rinden-
formationen finden:
1. Der Lobus limbicus, bestehend aus dem Lobus corporis callosi und
Lobus hippocampi
2. Der Gyrus marginalis, welcher in den Gyrus dentatus (Fascia dentata
Tarsini, auch beim Menschen gut entwickelt), supracallosus (Striae Lancissii)
und Gyrus geniculi zerfällt.
3. Der innere Randbogen, bestehend aus der Fimbria, dem Körper, dem
vorderen Schenkel des Gewölbes und Septum pellucidum.
Nach SiGM. Freud gehört auch das Gebiet der Fossa Sylvii, aus deren
vorderen Theil man bei menschlichen Embryonen den Tractus olfactor. hervor-
kommen sieht, mit zum Riechcentrum. Eine vorzügliche Beschreibung des
Riechcentrums verdanken wir Dana. Nach ihm bilden Bulbus und Tractus ol-
factor., Radix externa, Hippocampus, Uncus und Ammonshorn die Riecharea.
Ausserdem nimmt Dana an, dass der Geruch wie alle Sinnesorgane eine Art
von Repräsentation im Thalamus opticus habe. Riechimpulse müssen den-
selben durch die äussere Wurzel, Fimbria, Fornix und Corpus mamillare errei-
49*
772 GERÜCHSEMPFINDUNGSSTÖRUNGEN.
chen, von dem Thalamus opticus sollen dann die Riechimpulse nach der
Rinde ausstrahlen.
Teolaed nennt die sensitive Platte, welche die Trunci olfactor. im Ni-
veau der Substantia perforata anterior, durch Ausbreitung ihrer weissen Fa-
sern bilden, Campus olfactorius. Dieser ist in Beziehung gesetzt: 1. Mit dem
verlängerten Mark, ein Markbündel, das wahrscheinlich seinen Ursprung am
Boden des 4. Ventrikels nimmt, durchschneidet den Campus olfactorius.
2. Mit dem tuberculum anterius des Thalamus opticus. 3. Mit der Hirnrinde.
Das Rindencentrum wird durch den gezackten Streifen (Corps godronne)
und das Ammonshorn gebildet, das sich in den der Windung des Corpus cal-
losum sich anlegenden oberen gezackten Streifen fortsetzt.
Nach Schwalbe ist der Bulbus und Tractus olfactor. durch die äussere
Wurzel mit dem Gyrus cinguli, durch die obere Wurzel mit dem Mark des
Stirnlappens und durch die Pars olfactor. Ganser, mit der Comissura anterior
verbunden.
MuNK sah bei einem Hunde, dem er eine Sehsphäre weggenommen hatte
und der darnach geruchsunempfindlich geworden war, Erweichung beider Gyri
hippocampi, und, da diese bei osmotischen Thieren stark entwickelt sind,
schliesst er, dass hier das Riechcentrum zu suchen sei. Ein ähnlicher Fall ist
von Feigeeie beschrieben. Die Section eines Geisteskranken, der an Per-
version des Geruches gelitten hatte, ergab Atrophie des linken pes hippo-
campi maior.
Caebooteei fand als Ursache von Geruchshallucinationen einen nuss-
grossen Tuberkel des Gyr. occipito-temporal. und Gyr. hippocamp. Er spricht
die Vermuthung aus, dass vielleicht irritative Erscheinungen, Perversion des
Geruches durch Läsion dieses Centrums hervorgerufen werden, während Anosmie
einer Degeneration des Bulbus und Tractus olfactorius zugeschrieben werden
müsse.
Nach diesen Beobachtungen unterliegt es keinem Zweifel, dass die Radix
externa den Olfactorius mit einem im Gyrus uncinatus, hippocampus und
Ammonshorn liegenden Rindencentrum für den Geruch verbindet. Dagegen
wissen wir noch nichts über die Bedeutung der durch die Striae olfact. med.
et int. (Radix med. et int.) mit dem Olfactorius verbundenen Gehirnabschnitte
und über den Zusammenhang mit dem Mark des Stirnlappens durch die dorso-
mediale Markschicht des Tractus.
Höchst wahrscheinlich verlaufen auch Riechfasern in der grossen Heer-
strasse, wo sich alle Sinnesnerven zusammendrängen, in der Capsula interna
und zwar im hintersten Drittel des hinteren Abschnittes (carrefour sensitif),
die aber bislang nicht einmal anatomisch nachgewiesen sind.
Ebenso wenig wissen wir, ob ein Chiasma der Riechfasern besteht
(Meyneet). Nach Gansee der fand, dass nach Exstirpation des Bulbus der
einen Seite der Riechantheil der vorderen Commissur total, nicht partiell, wie es
nach Meyneet sein müsste, atrophirt, ist es jedenfalls sehr unwahrscheinlich,
dass diese Kreuzung in der vorderen Commissur stattfindet, wogegen auch die
Beobachtung von Gudden spricht, der nach Exstirpation des Bulb. olfact. nur
den auf derselben Seite liegenden Gyrus uncinat. atrophiren sah. Trotzdem ist es
durchaus nicht sicher, ob nicht doch ein Chiasma stattfindet. Jedenfalls sprechen
manche pathologische Beobachtungen für diese Möglichkeit, ganz abgesehen
davon, dass die Annahme, als ob Reize direct von der Peripherie zur Rinde
gelangen können, sehr unwahrscheinlich ist. Die als Begleiterscheinung der
CHAECOT'schen hysterischen Hemianästhesie auftretende Hemianosmie ist z. B.
wie alle übrigen sensitiven Erscheinungen gekreuzt.
Besonders bemerkenswerth unter den corticalen Anosmien ist aber die
bei rechtsseitiger Hemiplegie und Aphasie sich findende linksseitige Anosmie.
Das Centrum, das hier zugleich mit dem Sprachcentrum betrofien ist, kann
GERUCHSEMPFINDUNGSSTÖRUNGEN. 773
nur die Frontalwindung sein, in die nach Zuckeekandl die mittlere Wurzel
übergeht. Am wenigsten eignen sich wie für die Lokalisation in cerebro über-
haupt so für die Lokalisation einer centralen Anosmie Tumoren, da bei ihnen
stets Fernwirkung zu berücksichtigen ist. So hat Oppenheim bei einem Fall
von Kleinhirntumor Anosmie gesehen, die, wie die Section bewies, durch die in
Folge von Hydrocephalus internus blasig vorgetriebene Ventrikelwand, wo-
durch es zu Druckatrophie der Olfactor. gekommen war, verursacht war. Be-
merkenswerth ist es auch, dass Ball und Krishaber in 185 Fällen von
Hirntumoren sechsmal doppeltseitige, aber keine einseitige Anosmie fanden.
TraumatischeAnosmie entsteht durch äussere, den Schädel treffende
Gewalten. Durch Fall auf den Hinterkopf, wenn das Gehirn in seiner Bewegung
nach hinten plötzlich gehemmt wird, reissen die Olfactorii in Folge ihrer
weichen Beschaffenheit vom Gehirn ab. Derartige Fälle sind von Notta, Ogle,
Mackenzie und Heinemann beobachtet. Fracturen der Schädelbasis führen
durch directe Verletzung des Gehirns oder durch ein die Olfactorii comprimi-
rendes Blutextravasat ebenfalls zu Anosmie. Einen derartigen Fall hat Heine-
mann ausführlich beschrieben,
Anosmie in Folge directer Schussverletzung des Olfactorius sahen Jobert, König und
Riedel. Ina Sanitätsbericht des deutschen Heeres sind 4 Fälle von Schussverletzung des
Olfactorius erwähnt. Eine ausführliche Zusammenstellung derartiger Fälle findet sich in v.
Bergmann's Lehrbuch von den Kopfverletzungen. Neuerdings ist von Sgheyer ein hier-
hergehöriger Fall beobachtet worden.
In ähnlicher Weise wie die Blutung bei Fracturen, führen entzünd-
liche Exsudate an der Basis durch Druck auf die Olfactor. zu Anosmie.
Einen derartigen Fall, bei dem es nach Meningitis cerebrospinalis zu links-
seitiger Hemianästhesie, Anosmie und Ageusie gekommen war, ist z. B. von
Bamberger beschrieben. Auch Tumoren können durch unmittelbaren Druck
auf den Olfactorius Anosmie bewirken. Derartige Fälle wird man jedoch weniger
auf den Nervenabtheilungen als vielmehr in den ophthalmologischen Kliniken zu
Gesicht bekommen, da Exophthalmus, Blindheit und Augenschmerzen die
Patienten zum Augenarzt führen. Endlich kann Syphilis centrale Anosmie her-
vorrufen. Nur in diesem Falle wird eine antiluetische Behandlung Heilung,
beziehungsweise Besserung der Anosmie bewirken können, die übrigen Formen
der centralen Anosmie sind einer Behandlung nicht zugänglich.
Hyperosmie. Die abnorme Steigerung der Geruchsempfindung (Hyper-
aesthesia nervi olfactor.) scheint nur als Theilerscheinung der gesteigerten Er-
regbarkeit des Gesammtnervensystems vorzukommen. Vom alten Heim wird
berichtet, dass er die acuten Exantheme durch den Geruch erkannt habe
(VoLTOLiNi). In allen näher untersuchten Fällen, welche in der Literatur
bekannt sind, litten die Patienten an Hysterie, Hypochondrie und Neurasthe-
nie. Bekannt ist auch, dass der Geruchssinn von Veränderungen an den weib-
lichen Genitalien sehr leicht beeinflusst wird. In der Zeit, wo der Geschlechts-
apparat am meisten thätig ist, in der Schwangerschaft, werden nicht nur
perverse Geruchsempfindungen, sondern auch Hyperosmie reflectorisch ausgelöst.
Die Hyperosmie kann entweder durch grosse Reizbarkeit des Nerv, olfac.
oder durch Hallucination bedingt sein und bildet häufig ein für die Patienten
sehr unangenehmes Symptom der genannten Nervenleiden; berichtet doch van
SwiETEN nach Aretaeus, dass durch Geruchseindrücke selbst epileptische An-
fälle hervorgerufen werden können (Voltolini). Seltener ist die Hyperosmie
eine Folge von pathologischen Veränderungen. Wenigstens habe ich in der
mir zugänglichen Literatur nur 2 derartige Fälle von Baumgarten publicirt
gefunden, von denen der eine nicht einmal einwandsfrei ist, da er eine an
Neurasthenie leidende Dame betraf, bei der sich nach jeder Erkältung
Krampfhusten, Beklemmung, Stimmbandparese einstellten. Dieselben Erschei-
nungen traten auch nach Gasgeruch auf, gegen den die Patientin sehr em-
pfindlich ist. Die Untersuchung der Nase ergab Rhinitis hyperplastica.
774 GEEÜCHSEMPFINDUNGSSTÖEUNGEN.
Nach galvanocaustischer Behandlung der hypertrophischen unteren Muscheln
trat Heilung ein. Der zweite Fall betraf einen Herrn mit Ehinopharyngitis
hyperplastic, der an Hustenkrämpfen mit Erbrechen litt und so hyperosmo-
tisch war, dass er einen Anfall bekommen konnte, wenn er am Arm des
Mannes roch, der ihn kalt abrieb. Ausbrennen der Nase und des Kachens
führte auch hier zur Heilung. „Baumgaeten gibt zu bedenken, ob die hallu-
cinatorisch gesteigerte Hyperosmie nicht auch reflectorisch von einem an-
deren Sinn zu Stande kommen kann, wie dies bei der audition coloree
der Fall ist. Wie bei der Einwirkung eines gewissen Tones eine gewisse
Farbe gesehen werden kann, so kann auch beim Sehen und Hören eine ge-
wisse Geruchsempiindung auftreten."
Die Behandlung der Hyperosmie muss sich, wenn nicht, wie in den
Fällen von Baumgarten eine locale Ursache vorliegt, die durch chirurgische
Maassnahmen beseitigt werden kann, auf die Verordnung von narkotischen
Schnupfpulvern beschränken. Voltolini empfiehlt Herb, conii maculat., Hyos-
cyam. und trocken narkotische Extracte. Auch Cocain ist bei heftigen Beschwer-
den zu empfehlen, obwohl der durch dasselbe bedingten Herabsetzung der
Geruchsschärfe eine Steigerung derselben vorangeht (Zwaaedemaker).
Parosmie. Perverse Geruchsempfindungen können ebenso wie die son-
stigen Geruchsstörungen eine periphere oder centrale Ursache haben. Im
ersteren Falle handelt es sich um eine Reizung der Nervenendigungen durch
abnorme Nasensecrete. Derartige Fälle sind unter anderen von Onodi
nach Influenza beobachtet worden. Sämmtliche Patienten waren CoUegen.
Der eine, der früher nie perverse Geruchsempfindungen gehabt hatte, empfand
3 Tage lang den Geruch von Theer und Pech, der zweite abwechselnd den
Geruch von Schellack, Schwefel, Knoblauch und Leichen, der dritte 14 Tage
hindurch den Geruch faulenden Fleisches. Auch bei Rhinitis chron. mit
übelriechendem Secret hat Onodi einmal eine zweimal wöchentlich auftretende
Parosmie gesehen, während deren Patient Moschus, Petroleum und Urin roch.
Nach Galvanocaustik der unteren Muscheln und Borausspülungen trat Heilung
ein."*) Bei der peripheren Parosmie wird der Geruch besonders beim Eindringen
eines starken Luftstromes in die Nase (Inspiration, Schnauben) wahrgenommen
(Grassi). Die Kranken beziehen den üblen Geruch meist auf den Mund.
Eine periphere Parosmie kann weiter auftreten durch Obstruction der
Nase nach Epistaxis, ebenso in Folge von Cauterisationen und Operationen
in der Nase, dauert dann aber nicht lange.
Viel häufiger als die periphere Parosmie ist die centrale. Dieselbe
findet sich meist bei Geisteskranken und ist dann, wie schon Schläger
auseinandergesetzt hat, wohl häufiger auf eine das Riechcentrum schädigende
Läsion als auf Hallucinationen zurückzuführen.
Ausser den bei Mackenzie citirten Fällen von Lockemann, (entenei-
grosser carcinomatöser Tumor der linken Hemisphäre, der den linken Tractus
olfact. zerstört hatte) von Sander (apfelgrosses Gliom des linken Schläfen-
lappens, in den sich der linke Tractus olfactor. verlor) und Westphal, wo
sich bei der Section eines syphilitischen, an Convulsionen und Parosmie lei-
denden Patienten der Bulbus olf. der Pia adhärirend und in der Nähe 2
Gummata fanden, gehören die obenerwähnten Fälle von Carbonieri (nuss-
grosser Tuberkel im Gyr. occipito-tempor. ext. und Gyr. hippocampi) und Felici
(Atrophie des linken pes hippocamp. maior) hierher. Auch in folgendem von
A. Peyer beschriebenen Fall liegt schwerlich eine reine Geruchshallucination vor.
*) Eine ZusammenstelkiBg anderer Fälle siehe bei Mackenzie , Krankheiten des
Halses" S. 666, 667, Voltolini „Krankh. d. Nase" S. 265—267 und Cloquet, Ophriseologie
oder „Lehre von den Gerüchen, dem Geruchssinn und den Geruchsorganen und deren
Krankheiten" aus dem Französischen übersetzt. Weimar 1824.
GESCHMACKSSINNSTÖRUNGEN. 775
Ein hochgradiger Spermatorrhoiker und Riiminant bot auf der Höhe seines Leidens
folgende Erscheinungen dar:
„1— 1^/2 Stunden nach dem Frühstück bemerkt Patient eine sonderbare Schwere seiner
Zunge, kann längere Worte nicht aussprechen, Denken fast unmöglich, düstere Gemüths-
stimmung. Der Geruch während dieser Zeit sehr reducirt, manchmal riecht Patient gar
nichts, manchmal treten sehr unangenehme Geruchshallucinationen auf."
Ob die Angabe von Grassi zutrifft, dass die Perversion bei Geistes-
kranken zwar constant vorhanden, aber bei etwa auftretenden Nasenkrank-
heiten intensiver ist, mag dahingestellt bleiben.
Directe Reizung des Olfactorius kann ebenfalls zu Parosmie führen.
Bekannt ist der Fall von Robertson. Eine 50-jährige Dame erkrankte 8 Tage nach
einer Staaroperation an Irido Chorioiditis. Diesen Symptomen folgten subjective Sensationen
von Gerüchen der allerekelhaftesten Art, welche aber nach einer subcutanen Morphium-
injection sofort wieder verschwanden.
Auch die der Altersatrophie und der Atrophie bei Tabes dorsualis vorher-
gehende Neuritis olfactor. ruft wie schon oben erwähnt Parosmie hervor.
(Althaus, Zwaardemaker).
Die centrale Parosmie ist unheilbar, sistirt nur bei Zerstörung der
Olfactoriusfasern. Voltolini hat von der Erwägung ausgehend, dass bei gleich-
zeitiger Einwirkung stärkere Gerüche schwächere vernichten, als Palliativmittel
empfohlen, den subjectiven Geruch bei centraler Parosmie durch einen starken
objectiven zu übertäuben und zu diesem Zweck stark wohlriechende Substanzen
auf Watte in die Nase einzuschieben, beziehungsweise einen starkriechenden
Schnupftabak zu verordnen. Bei der peripheren Parosmie hat sich die Be-
handlung gegen das zu Grunde liegende Nasenleiden zu richten. Ueberdies
ist zu berücksichtigen, dass dieselbe nach Aufhören des causalen Reizes meist
spontan wieder verschwindet (cf. oben die Fälle von Onodi).
Falls eine causale Behandlung nicht eingeleitet werden kann, hat man
sich auf die Verordnung calmirender Arzneimittel, vor allem von Cocain zu
beschränken. reuter-ems.
Geschmackssinnstörungen. Als Geschmacksorgan gelten die
Endapparate der Geschmacksnerven. Es sind dies knospenartige Gebilde
(Schmeckbecher), welche in dem Epithel der Zunge, speciell in den Seiten-
flächen der Papillae circumvallatae und in den Papulae fungiformes, einge-
bettet sind. Jede Geschmacksknospe besteht aus Deckzellen, welche gleichsam
den Kelch der Knospen bilden und den Geschmackszellen, welche in deren
Mitte, den Staubgefässen einer Blüthe vergleichbar, sich befinden. Die basalen
Fäden der letzteren stehen mit den letzten Ausläufern der Geschraacksnerven
in Verbindung. Im Alter sollen nach A. Hoffmann viele Geschmacksknospen
degeneriren.
Die Geschmacksneigung ist sehr individuell. Der eine verabscheut, was dem andern
der höchste Kitzel seines Gaumens. Dem gemeinen Mann sind Sauerkraiit und Schweine-
fleisch ebenso gustiös, wie dem Reichen Austern, Ragout und grünschimmliger Käse. Je
verwöhnter und vornehmer der Träger einer Zunge, desto schärfere und pikantere Berei-
tung der Speisen verlangt dieselbe. Die Reizstoffe haben einen ererbten Platz in_ der
Nahrung des Wohlhabenderen, wenngleich sie auch der Arme nicht gänzlich zu vermissen
vermag und sie nur in etwas roherer Form geniesst. Der Brite liebt sein halbrohes Rost-
beef, der Ungar sein starkpapricirtes Gulyäs, der Pole süsse Fische. Complicirt sind die
Delicatessen der französischen Küche, wenngleich deutsche Reisende sie nicht zu gustiren
vermögen. Die Spartanersuppe und die Nachtigallenzungen auf den Tafeln der römischen
Kaiser sind Aeusserungen einer längst entschwundenen Geschmacksrichtung. So veränder-
lich ist der Geschmack nach Ständen, Nationen und Zeitaltern, nach Geschlecht, Jahren,
ererbten Neigungen und — besonderer Individualität. Der Geschmack und seine Aeusser-
ungen ist ein beliebtes Thema aller älteren und neueren Philosophen. Ins Breite
gehende Besprechung hat — um uns anatomisch-physiologisch auszudrücken — diese Func-
tion eines psychosensiblen Centrums von Seiten der populären Philosophen, deren Schriften
für die Masse berechnet sind, erfahren — von J. K. Weber bis Mantegazza.
Aber auch Krankheiten beeinflussen das psychosensible Centrum des Geschmackes.
Functionelle und organische Veränderungen des Gehirns lähmen, hemmen oder pervertiren
die Geschmacksempfindung. Das Vorhandensein des Bewusstseins ist nicht unbedingt an
776 GESCHMACKSSINNSTÖßUNGEN.
die Gesclimacksäusserungen geknüpft, wir sehen oft schwere Somnolente bei Einflössung
von bitterschmeckenden Substanzen sehr charakteristisch reagiren — . doch geht dies immer
nur bis zu einer gewissen Grenze. Bekannt ist die Neigung der Chlorotischen für die un-
verdaulichsten Dinge, namentlich Kreide und Erde (Pica chlorotica), ebenso das Verlangen
der Graviden nach stark sauerschmeckenden Substanzen und endlich die Scheu von Gelb-
süchtigen gegen alles, was den Fettgeschmack an sich trägt. Gerade aus dem letztgenann-
ten Beispiele geht hervor, dass es sich -vielleicht um instinctive Vorgänge handelt, deren
wahrer Grund in abnormer Functionirung einzelner Organe liegen dürfte. Es führt uns
dies in praktischer Hinsicht wohl auch darauf, diesen Neigungen durch passende Medi-
cation nachzuhelfen, weil wir hiedurch entsprechenden Abnormitäten entgegenwirken. Aber
auch diese Abnormitäten auf diesem Wege aufzufinden, erscheint ein lohnendes Ziel.
Man unterscheidet 4 Qualitäten des Geschmackes : süss, bitter, sauer
und salzig. Ob für jede Geschmackssinnqualität besondere Nervenbahnen
und Nervenendigungen existiren, ist bisher mit Sicherheit noch nicht er-
wiesen.
Oehewall wies darauf hin, dass die einzelnen Papillen functionelle
Verschiedenheit gegenüber den einzelnen Geschmacksqualitäten darbieten.
GoLDSCHEiDER Und ScHMiDT fanden in der Mittellinie des harten und weichen
Gaumens Papillen, welche nur süss verspüren; an der Unterseite der Zungen-
spitze scheint die Empfindung für das Salzige, an der oberen die für das
Bittere vorzuwiegen, die Papulae circumvallatae sind für „sauer" unem-
pfindlich, für die anderen Qualitäten sehr empfänglich. Ein Gemisch von
Chinin und Zucker ruft auf der einen Seite der Zunge „süss," auf der
anderen „bitter" hervor. Die elektrische Keizung ruft an jeder Papille die
Empfindung jener Geschmacksqualität hervor, für welche sie besonders em-
pfindlich ist. Alle diese Befunde sprechen sehr zu Gunsten der Annahme
specifischer Endapparate für die Geschmackscategorien.
Nach den bisher vorliegenden Untersuchungen besteht keine sichere
Kenntnis über die Localisation des Geschmackssinnes in der
Hirnrinde. Ferriee versetzt Geruchs- und Geschmackscentrum, welche beide
nicht deutlich von einander zu trennen sind, in den Gyrus uncinnatus.
Nach Stscherbak verbreitet sich das Geschmacksceutrum ungefähr 2 — 3 mm
nach vorne und hinten einer Linie, welche parallel zur Coronarnaht an der
Hirnbasis durch den hinteren Rand des Chiasma nervi optici geht; es liegt
auf der ganzen convexen Fläche der Hemisphäre von der Fissura longitudinalis
bis zum unteren Rand im Gebiete, welches dem Parietallappen entspricht,
gekreuzt über die beiden Zungenhälften.
Der intercerebrale Verlauf der Geschmacksnervenfasern ist auch
nicht mit Sicherheit bestimmt, wahrscheinlich verlaufen sie durch das hintere
Drittel des hinteren Schenkels der Capsula interna, da Zerstörungen dieser
Partie nebst Anästhesie der contralateralen Körperhälfte auch contralateralen
Verlust des Geschmackes hervorrief. Stscherbak beobachtete Geschmacks-
verlust nach Zerstörungen der hintersten Fasern des Stabkranzes.
Seit P ANIZZA wird der Nervus glossopharyngeus für den Ge-
schmacks-, der N e r V u s 1 i n g u a 1 i s für den Gefühls- und der H y p o g 1 o s s u s
für den Bewegungsnerven erklärt. Lähmungen des Hypoglossus erzeugen Ab-
stumpfung des Geschmackssinnes wegen der Unmöglichkeit der Reibebewegungen
der Zunge. Der Nervus lingual is ist der sensible Nerv der Zunge, der
vorderen Gaumenbögen, der Tonsillen und des Mundhöhlenbodens, er ist aber
ferner der Geschmacksnerv für die Spitze und Ränder der Zunge, welche der
Nervus glossopharyngeus nicht versorgt. Einerseits wird behauptet, dass die
Geschmacksfasern des Nervus lingualis vom Trigeminusstamme herrühren.
Sie ziehen aus dem 2. Aste dieses Nerven zum Ganglion sphenopalatinum, von dort
durch den N. vidianus zum Ganglion geniculatum des Facialis und gelangen von dort erst
durch die Chorda zum Lingualis. i Schiff :
Anderseits hat sich auch die Ansicht Geltung verschafft, dass die Ge-
schmacksfasern der kleinen Wurzel des Facialis entstammen. Siege-
GESCHMACKSSINNSTÖRUNGEN. 777
langen ebenfalls aut dem Wege der Chorda tympani zum Nervus lingualis
(Lussana).
Klinische Befunde sprechen zum Theil zu Gunsten der ersten, zum Theil
zu Gunsten der zweiten Annahme. Für die erste werden Fälle von Erb und
Sexator angeführt; auch Gowers, Hirschfeld, Guttmaxx u. A. beobach-
teten Fälle von isolirter Quintuslähmung mit Geschmacksstörung in den zwei
vorderen Zungendritteln. Dem gegenüber stehen Mittheilungen von Vizioli,
Althaüs, Lussaxa u. A., wo bei vollkommener Lähmung aller drei Aeste des
Trigeminus zwar das Empfindungsvermögen der Zunge verloren gegangen,
die Geschmacksempfindung hingegen erhalten geblieben. Direct zu Gunsten
der oben zweitgenannten Annahme sprechen 3 Fälle von Lussaxa, ein Fall von
K. B. Lehmaxx u. A., wo bei Lähmung des Facialis der Geschmack in der
vorderen Zungenhälfte verloren gegangen. Schiff bezweifelt die Beweiskraft
von Lähmung des Quintus mit Erhaltung des Geschmackes, da einzelne
Stämme intact geblieben sein können, während anderseits Laxdois die Fälle
von Geschmackssinnstörung bei totaler Trigeminuslähmung als „Abweichungen
von der allgemeinen Regel" bezeichnet.
Als Beweis des Verlaufes von Geschmacksfasern in der Chorda tympani
spricht der Fall von Carl. Derselbe verlor durch Erkrankung des linken Mittelohres das
Trommelfell; wenn er die Chorda tympani auf dieser Seite börührte. hatte er Geschmacks-
empfindungen auf der vorderen Zungenhälfte. Einen analogen Fall beobachtete ürbajs'-
TSCHiTSCH mit gleichem Befunde.
Bei der Durchsicht dieses so bedeutende Gegensätze bietenden Literatur-
materiales scheint eine vermittelnde Hypothese möglich zu sein. Als sicher-
stehend ist es wohl anzusehen, dass die Geschmacksfasern durch die Chorda
tympani dem Lingualis zugeführt werden. Ist nun der Quintusstamm afficirt,
so trifft dies secundär seinen Ast, den Lingualis, und hiemit in dritter Reihe
die seinem Verlauf beigesellten Chordafasern. In jenen Fällen von Trigeminus-
stammaffection, in denen die als „Gast" im Lingualis verlaufenden Chorda-
fasern mit afficirt sind, besteht Geschmackssinnstörung: in jenen Fällen, in
denen dieselben intact geblieben, fehlt dieselbe.
Die Fasern der Geschmacksnerven vertheilen sich nicht allein auf der
Zunge. Ein Zungenloser bot nach F. Thiery keine Geschmacksempfindung
an den Lippen, Zahnfleisch, innerer Wangenfläche und hartem Gaumen, wohl
aber am weichen Gaumen und den Gamnenbögen. Bei einem Kranken, dem
die ganze Zunge bis zur Basis exstirpirt worden, war die Empfindung des süssen,
bitteren und sauren, aber nicht des salzigen Geschmackes durch Berührung der
hinteren Rachenwand auszulösen. P. Michelsox konnte mittels Chinin
und Zucker Geschmacksempfindungen von der Innenseite des Kehldeckels
aus hervorrufen. Diese Beobachtungen haben jedenfalls auch praktisches
Interesse rücksichtlich der Zungenoperationen.
Der völlige Verlust des Geschmackes für alle Qualitäten heisst Ageusie-
Man unterscheidet 3 Arten der Ageusie:
1. Die centrale Ageusie: Die Rindencentren, die der Beurtheilung des
Geschmackes vorstehen, sind aus irgend einer pathologischen LTrsache nicht
functionsfähig.
2 . Die Leitungs-Ageusie: Die zur Innervation der Geschmacksnerven
dienenden Nervenbahnen (N. glossopharyngeus, N. lingualis) sind in ihrer
Function gestört.
Wenn der Nerv, hypoglossus functionsunfähig, kann Ageusie eintreten, weil die zur
Geschmacksempfindung nothwendigen Reibebewegungen der Zunge fehlen; fraglich erscheint
es. ob diese Art der Ageusie nicht zu der nächsten Form zu zählen wäre.
Nach der oben gegebenen Darstellung des Verlaufes der Geschmacks-
nervenfasern sind ferner Facialis- sowohl als auch Trigeminusaffec-
778 GICHT.
tionen (Tiuroren an der Hirnhasis) des öfteren mit Ageusie verbunden. In
der Literatur finden sich eine Reihe von klinischen und anatomischen
Befunden hiefür (s. o.).
3. Periphere Ageusie: Die periphere Endorgane der Geschmacks-
nerven sind nicht mehr perceptionsfähig (Zungenexstirpation s. o., Zungen-
belag, Trockenheit der Zunge beim Fieber, Aetzung, Cocainisirung, Ver-
brennung des Zungenrückens etc.).
Dysgeusie ist der Verlust des Geschmackes für gewisse Qualitäten.
Par ageusie ist die Verwechslung verschiedener Geschmacksqualitäten
mit einander. (Hysterie, Tabes, Dementia.)
Eine besondere Form der Geschroacksstörung ist bei Aphasie zu beobachten. Der
Kranke empfindet die Geschmacksempfindung ganz deutlich, doch fehlt ihm der Wortaus-
druck hiefür. Er nickt mit dem Kopfe, wenn man das zutreffende Wort nennt, vermag
es aber spontan nicht auszusprechen oder gibt stammelnd den falschen Ausdruck an.
(Falsche Ageusie s. falsche Parageusie.)
Geschmacks Sinnprüfung. Für praktische Zwecke genügt es die
Zunge nach 3 Portionen getheilt (vordere, mittlere und rückwärtige) beiderseits
zu prüfen. Man verwendet hiezu gewöhnlich einen Pinsel, den man in ver-
schieden schmeckende, verdünnte Lösungen taucht und hernach einzelne Stellen
damit berührt. Als solche Lösungen empfiehlt man Glycerin (süss), Kochsalz
(salzig), Chinin (bitter), Milchsäure (sauer), Soda (laugenhaft).
Ich verwende gewöhnlich nur vier 1— 3»/o Lösungen von Zucker, Salz, Chinin und
Essig. Statt des Pinsels halte ich es für praktischer die Fläs chchen mit den Flüssig-
keiten mit gläsernen Tropfstöpseln zu verschliessen und diese letzteren statt des
Pinsels zu verwenden. Der Gebrauch eines derartigen „Instrumentariums" hat leicht ein-
zusehende Vortheile vor der üblichen Pinselprüfung.
Sehr verdünnte Lösungen werden nur dann „specifisch empfunden," wenn
der Geprüfte die Zunge zurückzieht und sie an dem harten Gaumen reibt,
stärkere Lösungen werden auch bei heraushängender Zunge deutlich und richtig
percipirt.
Für die Prüfung der Geschmacksempfindung sind jene Factoren zu wissen
nothwendig, von denen die Intensität der Perception abhängt. Es sind dies
1. die Grösse der afficirten Fläche, 2. die Concentration der ange-
wendeten Substanz, 3. die Zeit zwischen Application und Eintritt der Empfin-
dung, 4. die Temperatur der angewendeten Lösung, 5. die individuelle
Feinheit des Geschmackes. Nur bei gleichmässiger Berücksichtigung aller
dieser Factoren ist die Discussion einer bestimmten Geschmackssinnprüfung
möglich. JUL. WEISS.
Gicht. Die Gicht {Arthritis uratica s. urica) ist eine chronische, durch
eine pathologische Veränderung des Stoffwechsels bedingte Erkrankung des
Organismus; sie äussert sich zunächst in sehr charakteristischen Anfällen,
deren Hauptsymptom eine acute Entzündung einzelner bestimmter Gelenke
ist; nach längerem Bestände breitet sie sich über den grössten Theil der-
selben aus, kann aber auch in inneren Organen Wurzel fassen und dadurch
ernste, das Leben bedrohende Störungen verursachen.
Vorkommen: Schon im Alterthiim war die Gicht bekannt und zur Zeit der
römischen Kaiser, als Luxus und Verweichlichung in erschreckender Weise um sich
griffen, weit verbreitet. In der Gegenwart ist England das hauptsächlich von dieser
Krankheit heimgesuchte Land, in den anderen Reichen Europas tritt sie viel spärlicher
auf und beschränkt sich fast lediglich auf die wohlhabenderen Schichten der Bevölkerung.
In Griechenland und Italien, wo die Gicht in alten Zeiten häufig anzutreffen war, soll die-
selbe gegenwärtig eine nur geringe Ausbreitung haben. Die Gicht befällt vorzugsweise
Männer, bei Frauen ist sie viel seltener beobachtet. Das von der Krankheit bevorzugte
Alter ist das 30. bis 40. Lebensjahr, doch sind die ersten Anzeichen derselben ausnahms-
weise auch bei Knaben von acht und bei Greisen von zweiundsiebzig Jahren aufgetreten.
Aetiol ogie : Unter den Ursachen der Gicht ist von besonderem Gewicht
die Erblichkeit. Ungefähr fünfzig Procent aller Kranken stehen unter
ihrem Einflüsse. Wo dieselbe eine Rolle spielt, stellen die ersten Symptome
sich verhältnismässig früh ein, mitunter schon im zarten Kindesalter; der
GICHT. 779
Verlauf ist ein auffallend schwerer und die Krankheit zeigt die Neigung, von
dem typischen, regulären Gange abzuweichen. Auch durch die rationellste
Lebensweise können hier die Anfälle oft nicht unterdrückt werden.
Gleiche Bedeutung für das Entstehen der Krankheit hat eine unmässige,
zügellose Lebensführung, insbesondere Unmässigkeit im Essen und
Trinken. Von ersterem ist hauptsächlich der zu reichliche Genuss stick-
stoffhaltiger Lebensmittel, also der Fleischspeisen anzuschuldigen, von letzterem
der gewohnheitsmässige Gebrauch schwerer, feiner Weine und gehaltvoller
Biere, während der einfache, reine Branntwein, welcher in vielen Beziehungen
schädlicher ist, hier weniger verderbliche Wirkungen entfaltet. Unterstützend
treten mangelnde körperliche Bewegung und sonstige Unregelmässigkeiten
hinzu, welche mit den angeführten Schädlichkeiten vergesellschaftet zu sein
pflegen. Es ist aus diesen Gründen leicht verständlich, warum vorwiegend
Angehörige der wohlhabenderen, dem Luxus und Wohlleben sich hingebenden
Stände an der erworbenen Gicht leiden.
Gewisse Intoxicationen scheinen ebenfalls eine Prädisposition für diese
Erkrankung im Organismus zu schaffen. So ist von Gäeeod besonders auf
das häufige Vorkommen derselben bei den an chronischer Bleivergif-
tung leidenden Arbeitern hingewiesen worden.
Classification: Die mannigfachen, im Verlaufe der Gicht auftreten-
den krankhaften Erscheinungen haben behufs übersichtlicher Zusammenfassung
und Darstellung zu verschiedenen Zeiten sehr von einander abweichende Ein-
theilungen erfahren. Die alten Aerzte entlehnten ihre Bezeichnungen dem
jedesmaligen Sitze der Erkrankung und unterschieden demnach Podagra,
Chiragra, Gonagra, Omagra, Cleisagra, Pechyagra, Dentagra etc. Eine solche,
nur die äusseren Merkmale berücksichtigende Eintheilung konnte selbstver-
ständlich nicht befriedigen; es wurden daher vielfach Versuche unternom-
men, dem inneren Wesen der Krankheit mehr entsprechende Classificationen
aufzustellen. Nur die wichtigsten neueren seien hier erwähnt, wobei zugleich
bemerkt werden muss, dass keine derselben einer allgemeinen Anerkennung
sich zu erfreuen gehabt hat. Cullen unterschied 1. die reguläre Gicht mit
typischen Anfallen, 2. die atonische, 3. die zurückgetretene, 4. die anomal
localisirte Gicht. Garrod stellt nur zwei Hauptformen auf „1. die regidäre
Gicht, die acut und chronisch auftreten kann und hauptsächlich in einer
specifischen Entzündung der Gewebe in oder um ein oder mehrere Gelenke
besteht ; 2. die irreguläre Gicht, welche als schwere Functionsstörung in ir-
gend einem Organ oder als Entzündung in solchen Theilen auftritt, die nicht
mit den Gelenken in Verbindung stehen." Ebstein hält die von Garrod
gewählten Bezeichnungen für unrichtig und verwirrend, da auch die im Ver-
laufe der Gicht auftretenden Entzündungen innerer Organe durchaus typisch
gichtische (durch Harnsäure bedingte) und mithin auch reguläre sind. Er
schlägt die Namen „primäre Gelenkgicht" und „primäre Nierengicht" vor.
Wir wollen im Folgenden ohne Rücksicht auf die verschiedenen Ein-
theilungsprincipien zunächst die Erscheinungen des acuten Anfalls, dann die
der chronischen Gicht besprechen und schliesslich die Afiectionen innerer Or-
gane, sowie Abnormitäten im Verlauf der ganzen Krankheit anfügen.
Symptomatologie: Dem acuten Gic htanf all gehen mitunter unbe-
stimmte Krankheitssymptome voraus, welche als Vorläufer gedeutet sind. Die-
selben bestehen in allgemeinem Unbehagen, Abnahme des Appetits, Einge-
nommenheit des Kopfes, ziehenden Muskelschmerzen, gereizter Stimmung, und
sind gewöhnlich so geringfügig, dass die Kranken denselben kaum Beachtung
schenken. Sehr häutig fehlen aber auch solche Prodromalsymptome vollständig,
die Krankheit setzt inmitten völligen Wohlbefindens ein. Der erste Anfall
pflegt sich Nachts einzustellen. Nach einigen Stunden gesunden Schlafes
werden die Patienten zwisclien 12 und 3 Uhr Morgens plötzlich durch einen
.780 GICHT.
heftigen, bohrenden Schmerz in dem Metatarso-Phalangealgelenke einer grossen
Zehe erweckt. Sie haben die Empfindung, als ob das Gelenk in einen Schraub-
stock eingezwängt ist, werden durch den Druck des Deckbettes belästigt und
suchen durch Lagewechsel einen Nachlass des unerträglichen Schmerzes her-
beizuführen; aber alle Anstrengungen in dieser Beziehung sind vergeblich und
so wälzen sie sich mehrere Stunden heftig gepeinigt, ruhelos auf ihrem Lager
umher. Endlich gegen Tagesanbruch lässt der Schmerz nach, die Kranken
geniessen einige Stunden ruhigen Schlafes, finden aber beim Erwachen das
Grosszehengelenk stark geschwollen, auf Druck empfindlich, die Haut über
demselben geröthet und die Venen der Nachbarschaft stark erweitert. Tag-
über bleibt der Zustand erträglich, wenn auch das Anlegen einer festen Fuss-
bekleidung und Umhergehen in Folge der starken Schwellung und Schmerzhaf-
tigkeit unmöglich ist. Der während des Tages entleerte Urin ist spärlich
und stark sedimentirend. In der nächsten Nacht wiederholt sich die Scene
genau in derselben Weise und oft wird schon jetzt beim ersten Anfall das
correspondirende Gelenk des anderen Fusses in gleicher Weise afficirt, doch
kann die Entzündung auch auf das eine Grosszehengelenk beschränkt bleiben.
Am folgenden Tage fühlt der Kranke sich dann wieder wohler und in der
Nacht tritt von. neuem eine Exacerbation des Leidens ein; die Intensität der
Symptome verringert sich jedoch nun von Nacht zu Nacht und unter all-
mäligem Abschw^ellen des erkrankten Gelenkes, Verschwinden der Röthung
und unter Abschuppung der Haut über den afficirten Theilen pflegt in 10
bis 20 Tagen vollständige Heilung mit Wiederherstellung der Functionstüch-
tigkeit des Gelenkes einzutreten. Nur in den seltensten Fällen bleibt schon
von dem ersten Anfall eine dauernde Störung zurück; bisweilen fühlen die
Kranken sich sogar nachher wohler als zuvor. Diese Beobachtung zusammen
mit dem Auftreten reichlichen, ziegelmehlartigen, aus Harnsäure und ihren
Salzen bestehenden Sediments im Urin (sedimentum lateritium) hat die älte-
ren Aerzte zu der Anschauung geführt, den acuten Gichtanfall als eine Krise
anzusehen, durch welche der Organismus von schädlichen Schlackenstoffen be-
freit wird.
Der erste Anfall kann lange Zeit vereinzelt bleiben und erst nach mehre-
ren Jahren von dem zweiten gefolgt sein. Dies ist besonders dann der Fall,
wenn der Kranke nicht in hohem Maasse erblich belastet ist und einer zweck-
mässigen Lebensweise sich befleissigt. Anderenfalls tritt die Wiederholung
der Anfälle schneller ein, in jedem Jahre einmal, später sogar zweimal, und
pflegen das Frühjahr und der Herbst die bevorzugten Jahreszeiten zu sein.
Allmälig kommt es unter immer stärkerer Häufung der Anfälle zu
der Entwicklung der chronischen Gicht. Bezeichnend für letztere ist,
dass die Anfälle an Heftigkeit eingebüsst, dagegen an Dauer erheblich zuge-
nommen haben, so dass häufig nur ein kurzes schmerzfreies Intervall zwischen
zwei auf einander folgenden bleibt. Dieselben können jetzt auch am Tage
eintreten ; die Zehengelenke sind nicht mehr die einzige Localisation der Er-
krankung, dieselbe hat sich auf Fuss-, Knie-, Hand-, Ellbogen-, Schulter-,
Hüftgelenke ausgebreitet, ja es gibt kaum ein Gelenk am Körper, welches
nicht gelegentlich von der Gicht heimgesucht würde. Nach Beendigung des
jedesmaligen Anfalls tritt nicht mehr restitutio ad integrum ein ; es bleiben
Verdickungen der Kapsel und Bänder zurück, und in der Umgebung des Ge-
lenkes bilden sich umschriebene Anschwellungen aus, welche weich und teigig
sich anfühlen und bei Einstich einen weissen, mörtelartigen Brei entleeren.
Die mikroskopische Untersuchung lässt in demselben zarte Krystallnadeln, oft
in Büschelform angeordnet, erkennen. Später werden diese Gebilde fest,
steinhart; sie können bis zu Gänseeigrösse anwachsen und somit mechanisch
ein Hindernis für die Bewegung des Gelenkes abgeben. Wir bezeichnen sie
als Gichtknoten, Tophi. Sie bestehen zum grössten Theil aus einem Ge-
GICHT. 781
misch von saurem harnsaurem Natron und kohlensaurem Kalk ; an den oberen
Extremitäten werden sie häufiger und zahlreicher beobachtet als an den unteren.
Ihre Entwickelung ist nicht streng an die Anfälle geknüpft ; sie können auch
in der freien Zeit entstehen, respective an Grösse zunehmen. Nach längerem
Bestände treten sie der Oberfläche näher und schimmern weisslich durch die
Haut hindurch, ja sie können dieselbe durchbrechen und ausgestossen werden
oder zur Entstehung gichtischer Geschwüre Veranlassung geben. Letztere
entleeren Eiter und harnsaure Salze und haben eine sehr geringe Tendenz
zur Heilung. Ausser in der Umgebung der Gelenke findet man solche Tophi
am Ohr, wo sie sich am Eande des Helix festsetzen und meist nur eine so
geringe Grösse erreichen, dass sie von den Kranken oft gar nicht bemerkt
werden.
Bei den an chronischer Gicht leidenden Personen werden Anfälle durch
geringfügige Ursachen ausgelöst, durch den Genuss mancher Getränke und
Speisen, z. B. von Champagner, saurem Bier, Citronen, bisweilen durch eine
„Magenverstimmung" oder durch eine leichte Erkältung. Auch angestrengte
körperliche und geistige Thätigkeit kann den gleichen Effect hervorrufen. So
berichtet Sydenham, dass er, wenn er an seiner bekannten Abhandlung über
die Gicht angestrengt arbeitete, häufig von einem Anfall heimgesucht wurde.
Das Schicksal der in dieser Weise an chronischer Gicht Leidenden ist
beklagenswerth; sie sind nur kurze Zeit im Jahre schmerzfrei und auch dann
durch die hochgradigen Veränderungen an und in ihren Gelenken, welche
theilweise zu Ankylosirung geführt haben, in hohem Grade behindert. Aber
auch Störungen anderer Organe pflegen nicht auszubleiben, von denen einzelne
das Leben ernstlich gefährden können. Die hierher zu rechnenden Zustände
sind auch zuweilen als viscerale, vage, retrograde, metastatische,
von Gareod als irreguläre Gicht beschrieben worden. So begegnet man hart-
näckigen Katarrhen des Magens, von einigen Autoren ist sogar die Ansicht
ausgesprochen, dass die Gicht für den Magen ebenso verhängnisvoll sei wie
der acute Gelenkrheumatismus für das Herz. Dazu gehören ferner der gich-
tische Tripper, welcher wahrscheinlich auf einem Katarrh der Ausführungs-
gänge der Prostata beruht, und die gichtischen Augenbindehautentzündungen.
Unter den Veränderungen innerer Organe nehmen die der Nieren
den ersten Rang ein. In den leichten Fällen stellen dieselben Ablagerungen
von Harnsäure in den Nierenpapillen dar, an diese schliessen sich aber
Schrumpfungsprocesse des interstitiellen Gewebes der Rinde an, und es können
ausgebildete Schrumpfnieren entstehen. Am Herzen werden Hypertrophien und
Dilatationen beobachtet, welche klinisch durch Herzklopfen und unregelmäs-
sigen Puls sich documentiren. In den grösseren Gefässen entwickeln sich
bei Gichtischen sehr häufig sklerotische Processe. Eine Reihe nervöser Symp-
tome, für welche anatomische Veränderungen wohl schwerlich nachzuweisen
sein dürften, begleitet die Gicht endlich in allen Stadien ihres Verlaufes.
Die Aufeinanderfolge der Krankheitssymptome ist nicht immer so typisch,
wie wir sie soeben geschildert haben. Zunächst kommt es vor, dass bei der
ersten Attaque ein anderes Gelenk als das der grossen Zehe befallen und erst
bei späteren Wiederholungen auch dieses in Mitleidenschaft gezogen wird.
Mehr Beachtung beanspruchen die Fälle, bei denen die Gelenkaffection in den
Hintergrund tritt oder ganz fehlt, dafür Störungen in inneren Organen den
Ausdruck der gichtischen Diathese ausmachen. Diese anomale Gicht wird
vorzüglich bei ererbter Disposition zu der EJrankheit und bei Frauen beobachtet.
Hierher zu rechnen sind auch die von Ebstein unter der Bezeichnung „pri-
märe Nierengicht" zusammengefassten Fälle, bei welchen die gichtischen Ab-
lagerungen und Entzündungen zuerst und hauptsächtlich die Nieren ergreifen,
während Gelenkaffectionen gar nicht oder in späteren Stadien auftreten. Der
Verlauf der primären Nierengicht soll ein viel rapiderer und schwererer sein als
782 GICHT.
der der primären Gelenkgicht. Ob solclie Fälle sicher vorkommen, ist noch
nicht über jeden Zweifel erhaben, jedenfalls gehören sie aber zu den grössten
Seltenheiten und dürften ihrer Erkennung vor dem Erscheinen der Gelenk-
aifectionen erhebliche Schwierigkeiten sich entgegenstellen.
Nicht selten complicirt die Gicht sich mit Steinen in Niere und Blase,
welche dann meistens aus harnsauren Salzen bestehen. Auch Combination
mit anderen Anomalien des Stoffwechsels, so mit Diabetes mellitus und mit
Fettleibigkeit wird mitunter beobachtet.
Pathologische Anatomie und Chemie: Die Leichen von Personen,
welche an Gicht gelitten haben, kommen verhältnismässig selten zur Section;
daher bedürfen noch manche Punkte in der pathologischen Anatomie dieser
Krankheit der Aufklärung. An den befallen gewesenen Gelenken findet man
Ablagerungen von saurem harnsaurem Natron, welche bei makroskopischer
Betrachtung wie Körnchen von feinem weissen Sande durch den Knorpel hin-
durchschimmern. Nach Gaerod sind dieselben in jedem Gelenk, welches
einen Anfall überstanden hat, zu finden; EßSTEm dagegen betont, dass oft erst
nach wiederholten Attaquen diese Ausscheidungen entstehen. In vorgeschrittenen
Fällen beschränken sie sich nicht nur auf den Gelenkknorpel, sondern werden
auch in den Bändern und Schleimbeuteln, sowie in der benachbarten Haut
beobachtet. Mikroskopisch stellen dieselben sich als feine, zu Büscheln und
Drusen angeordnete Krystallnadeln dar, welche in den Knorpel eingesprengt,
von der Oberfläche desselben aber durch eine dünne Schicht intacten Ge-
webes getrennt sind. An der Stelle dieser Krystallablagerung nimmt der
Knorpel nach Ebstein keine Kernfärbung mehr an, ist also abgestorben, ne-
krotisch. Aehnliche Vorgänge finden sich als Uratinfarkte in den Pyramiden
und Marktheilen der Nieren, oft vergesellschaftet mit ausgesprochener Gra-
nularatrophie.
Das Blut Gichtkranker enthält nach Garrod abnorm viel Harnsäure
(bis 0"175 pro mille), während es bei Gesunden nur Spuren davon auf-
weisen soll.
Ueber das Verhalten der Harnsäure im Urin differiren die An-
gaben. Garrod hat gefunden (was von mehreren Seiten bestätigt ist), dass
während des acuten Anfalles die Ausscheidung der Harnsäure vermindert ist,
nach Abklingen desselben wieder ansteigt. Pfeiffer dagegen glaubt gerade
umgekehrt während des Anfalles eine vermehrte Ausscheidung nachgewiesen
zu haben. Die Piesultate Pfeiffer's sind jedoch von Ebstein in Zweifel ge-
zogen worden. Bei chronischer Gicht ist von allen Autoren übereinstimmend
eine erhebliche Verminderung der Harnsäureausscheidung constatirt. That-
sächlich bedürfen die gemachten Angaben noch dringend der Nachprüfung, da die
meisten Untersuchungen bisher mit durchaus unzulänglichen Methoden ausge-
führt sind. Erschwert wird die Beurtheilung noch erheblich dadurch, dass schon
bei normalen Menschen die Werthe für die täglich ausgeschiedene Harnsäure
innerhalb sehr weiter Grenzen schwanken. In späteren Stadien der Gicht
findet man häufig Eiweiss im Urin als Zeichen der Erkrankung der Nieren.
Theorie: Dass die Gicht auf einer abnormen Anhäufung von Harn-
säure in den Säften des Organismus beruht, also eine Theilerscheinung der
harnsauren Diathese*) ist, wird zur Zeit wohl allgemein angenommen. Wir
übergehen daher alle früheren, mit dieser Thatsache noch nicht rechnenden
Theorien. Eine Anhäufung von Harnsäure kann sowohl durch vermehrte
Bildung, als durch verminderte Ausscheidung zu Stande kommen. Erstere ist
der gebräuchlichen Annahme nach die Folge einer zu reichlichen Zufuhr
stickstoffhaltiger Nahrungsmittel, kommt also bei üppiger Lebensweise vor,
deren sich die meisten Gichtkranken schuldig machen. Immerhin würden,
wenn die Ausscheidung der Harnsäure ungehindert von statten geht, trotz-
*) Vergl. „Harnsaurediatfiese" (F. Kraus) Bd. II. der „Internen Medicin."
GICHT. 783
dem keine Störungen auftreten können. Daher nimmt Garrod als Grund-
lage seiner Theorie der Gicht eine Behinderung der Harnsäureausscheidung
an. Er ist der Ansicht, dass die Nieren schon in den frühesten Stadien
mangelhaft functioniren und dadurch eine Ansammlung von Harnsäure im
Blut stattfinde. Erreicht diese einen gewissen Grad, so kommt es unter
dem Einfluss geringfügiger Ursachen, so Erkältung, Traumen etc., zu einer
Ausscheidung vorerst flüssiger, bald krystallinisch sich abscheidender, harn-
saurer Salze und es entsteht so der acute Gichtanfall. Diese Theorie hat
grosse Verbreitung gefunden, weist aber doch gewisse Schwächen auf, deren
wesentlichste in der Annahme einer von vorneherein ungenügenden Nieren-
thätigkeit liegt. Letztere ist in frischen Fällen weder klinisch noch ana-
tomisch nachzuweisen und fehlt auch bei vorgeschrittener Erkrankung nicht
selten vollständig.
Ebstein glaubt den Ort für die vermehrte Harnsäurebildung bei der
uns beschäftigenden Krankheit in den Muskeln und besonders im Knochen-
mark suchen zu müssen, von wo dieselbe durch die engen Saftcanälchen des
Knorpels dem allgemeinen Säftestrom zugeleitet wird. In diesen kann es
leicht zu einer Stauung und damit zu einer Ausscheidung gelöster neutraler
harnsaurer Salze im Knorpel kommen, welche eine, acute Entzündung, den
Gichtanfall, bewirken. Dabei entstehen nekrotische Herde im afficirten Knorpel
und an diesen Stellen scheiden sich unter dem Einfluss der sauren Reaction
des absterbenden Gewebes saure harnsaure Salze krystallinisch ab. Nur für
die primäre Kierengicht lässt Ebsteix die GAEROD'sche Hypothese gelten.
Pfeiffer endlich ist der Meinung, dass die Harnsäure bei den an Gicht
Leidenden in einer besonders leicht abscheidbaren Form circulire (von ihm
als „freie Harnsäure" bezeichnet), und daher die Ablagerung ihrer Salze in
den Gelenken, sowie die Bildung der Tophi ohne Entzündungserscheinungen
an Stellen vor sich geht, an welchen durch Traumen örtliche Nekroseherde
entstanden sind. Wenn nun eine plötzliche Vermehrung der Alkalescenz der
Säfte eintritt, wird ein Theil dieser abgelagerten Harnsäure gelöst und durch
die in Lösung gehende Harnsäure der Entzündungsprocess, der acute Gicht-
anfall, hervorgerufen. Pfeiffer verwerthet für diese Hypothese seine Unter-
suchungen über das Verhalten der Harnsäure im Urin Gichtkranker, sowie
auch die Beobachtung, dass beim Gebrauch alkalischer Mineralwässer zuweilen
acute Gichtanfälle entstehen.
Die Diagnose des ersten Anfalls ist leicht, wenn derselbe bei Männern
im mittleren Lebensalter in typischer Weise in dem Grosszehengelenk auf-
tritt; schwieriger gestaltet dieselbe sich schon, wenn ausnahmsweise die
Krankheit bei jüngeren Individuen auftritt oder einmal ein anderes Gelenk
zuerst afficirt wkd. liCtzterer Fall tritt dann leicht ein, wenn dasselbe durch
eine früher überstandene Entzündung oder durch ein erlittenes Trauma prä-
disponirt ist. Hier bringt oft erst ein späterer Anfall die Aufklärung, in
welchem die grosse Zehe in typischer Weise afficirt wird. Garrod hat für
solche Fälle den Nachweis der Harnsäure im Blute mittelst der von ihm an-
gegebenen Fadenprobe empfohlen. Zur Ausführung derselben füllt man
ein Uhrschälchen mit Blutserum oder Serum aus einer Vesicatorblase, setzt dazu
6 — 10 Tropfen einer SO^oigen Essigsäure, versenkt in die gut durchgemischte
Flüssigkeit einen feinen, leinenen Faden und lässt sie gut zugedeckt an einem
massig warmen Orte 24 Stunden stehen. Falls ein Ueberfluss von Harnsäure
in dem Blute vorhanden ist, sieht man bei Betrachtung unter dem Mikroskop
eine Menge kleiner rhombischer Krystalle an den Faden angesetzt. — Pfeiffer
empfiehlt die Filtration von cca. 100 cm'^ der Tagesportion" des Urins durch ein
mit 0-5 ^ chemisch reiner Harnsäure beschicktes Filter mit nachfolgender
Bestimmung der in dem Filtrat zurückgebliebenen Harnsäure. Ist letztere
nur in minimalen Mengen vorhanden (im Vergleich zu dem unfiltrirten Urin),
784 GICHT.
so soll damit der Beweis erbracht sein, dass die Harnsäure bei dem betreffen-
den Kranken sich in einem abnorm leicht abscheidbaren („freien") Zustande
befindet, mithin nach Pfeiffers Theorie Gicht vorliegt. — Die Giltigkeit bei-
der Proben ist bisher noch nicht zweifellos erwiesen und haben dieselben
daher für die Praxis nur einen geringen Werth.
Bei chronischer Gicht sind die Anfälle oft so verwischt und atypisch
geworden, ausserdem das Auftreten derselben von äusseren, besonders Witte-
rungseinlltissen in] so hohem Maasse abhängig, dass eine Unterscheidung
durch die Symptome allein von dem chronischen Gelenkrheumatismus nicht
getroffen werden kann. Beide Krankheiten haben ferner auch darin eine ge-
wisse Uebereinstimmung, dass sie zu erheblichen Verunstaltungen der Ge-
lenke mit Behinderung ihrer Function Veranlassung geben. In solchen Fällen
ist eine sorgfältige Anamnese zu erheben. Wo dieselbe die Existenz früherer
typischer Gichtanfälle nachweist, ist die Diagnose klar. Wenn sie jedoch,
wie oft, im Stiche lässt, ist auf das Vorhandensein gichtischer Tophi zu
achten, deren Bestehen ebenfalls mit Sicherheit für Gicht spricht. An den
Extremitäten sind dieselben mitunter schwer von chronisch rheumatischen
Veränderungen zu unterscheiden, daher richte man sein Augenmerk auf die
kleinen weissen Knötchen am äusseren Rande der Ohrmuschel, welche oft so
unscheinbar sind, dass die Kranken keine Ahnung von ihrer Existenz haben,
die aber das Bestehen von Gicht durchaus sicher beweisen.
Der Verlauf der Gicht ist ein exquisit chronischer. Wenn keine Com-
plicationen hinzutreten, pflegen die Kranken ein sehr hohes Alter zu erreichen.
Zeigen sich dagegen früh Symptome einer Merenaö'ection, so macht dieselbe
meist auch schnelle Fortschritte und führt bald den letalen Ausgang herbei.
Die Prognose ist quoad valetudinem completam eine sehr ungünstige;
Heilungen sind wohl kaum je beobachtet, doch kann bei verständiger Lebens-
führung die Zahl der Anfälle sich in massigen Grenzen halten. Die ererbte
Gicht verhält sich auch unter diesen Umständen ungünstiger als die erworbene.
Ergibt der Kranke sich jedoch ungestört den Tafelfreuden, so kehren die
Anfälle in immer kürzeren Zwischenräumen wieder, es treten bald Tophi mit
Verunstaltung der Gelenke und Behinderung ihrer Beweglichkeit auf und
es kommt zur Entwicklung der chronischen Gicht mit allen ihren Plagen. —
Quoad vitam ist die Prognose viel günstiger und nur dann ernst zu stellen,
wenn frühzeitig Störungen von Seiten der Nieren, des Herzens oder der Ge-
fässe sich geltend machen.
Therapie: Dieselbe richtet sich in erster Linie gegen die harnsaure
Diathese, muss also die krankhaft vermehrte Production der Harnsäure ein-
zuschränken suchen. Dies kann lediglich durch eine Eegelung der Diät ge-
schehen. Die Harnsäurebildung wird, wie schon besprochen, durch stickstoff-
haltige Nahrung, also vorzüglich durch Fleischspeisen gesteigert. Mithin
würde eine Einschränkung derselben und Bevorzugung von wesentlich vegeta-
bilischer Kost theoretisch als das rationellste erscheinen. Das ist aber that-
sächlich nicht der Fall. Durch zu strenge Entziehung stickstoffhaltiger Sub-
stanzen setzt man die Kranken viel grösseren Gefahren aus, als man ihnen
dadurch Nutzen schafft, denn durch eine solche Ernährungsweise werden ilire
Kräfte geschwächt und sie der Möglichkeit ausgesetzt, statt der acuten An-
fälle die chronische Gicht und das durch sie bedingte Siechthum einzutauschen,
womit ihnen kaum gedient sein dürfte. Die Diät der Gichtkranken darf
daher nicht einer Entziehungscur gleichkommen, sie soll auch nicht einseitig
sein, sondern eine gemischte, mit möglichster Berücksichtigung der indivi-
duellen Verhältnisse. Der Kranke soll so viel essen, als genügt, um sich auf
dem stofflichen Bestände zu erhalten, aber auch nicht mehr, er soll die Speisen
ohne reizende Zuthaten gemessen und nur so lange essen, bis der Hunger
gestillt ist. Auch gewöhne er sich die zu häufigen Mahlzeiten, so beispiels-
GICHT. 785
weise das 2. Frühstück, ab. Die Speisen müssen leicht verdaulich zubereitet
sein, Fleisch, Eier, Gemüse, Fette sind gestattet, gewisse Kohlenhydrate, so
Kartoffeln und Leguminosen werden zweckmässig möglichst eingeschränkt
und nur in Püreeform genossen, da sie leicht zu Verdauungsstörungen Anlass
geben. Von Genussmitteln ist Obst zu empfehlen.
Alkoholische Getränke sind am besten ganz zu verbieten und ihr Gebrauch
für die Fälle zu reserviren, wo sie bei Schwächezuständen zur Belebung der
Kräfte von Nutzen sind. Den Patienten, welche nicht genügend Willenskraft
haben, diesem Verbote gemäss zu leben, ist der Genuss von 1 bis 2 Gläsern
guten reinen Rothweins oder leichten, gut vergohrenen Biers zu empfehlen.
Gestattet sind ausser reinem Wasser die natürlichen und künstlichen Tafel-
wässer, Selters, Soda, Fachinger, I^iliner, Giesshübler, Harzer Sauerbrunnen,
von denen der Kranke so viel gemessen mag, als seinem Durste entspricht.
Von grossem Vortheil ist es, Gichtkranke ausgiebige Bewegungen aus-
führen zu lassen, Spaziergänge, Reiten, Turnen u. s. w. Wo active Muskel-
thätigkeit durch die Verkrüppelung der Gelenke nicht möglich, ist Massage
der erkrankten Theile, Waschungen des Körpers mit kühlem Wasser und
nachfolgende Frottirung anzurathen.
Eine zweite Indication für unser therapeutisches Handeln ist die Be-
schleunigung der Harnsäureausscheidung; derselben wird durch Verabreichung
von Alkalien Genüge geleistet. In gewissem Sinne ist hierzu der curmässige
Gebrauch mancher Obstarten zu rechnen, so der Kirschen, Erdbeeren, Trauben,
da die in ihnen enthaltenen pflanzensauren Alkalien im Körper in kohlensaure
umgewandelt werden. Einer grossen Beliebtheit erfreut sich von Alters her
eine Anzahl alkalischer Mineralwäs ser bei der Gicht, so besonders Vichy
und Ems. Besteht gleichzeitig eine Schwäche der Verdauungsorgane, so werden
Karlsbad und Marienbad und bei geschwächtem Organismus Kissingen und
Homburg in Anwendung gezogen. Auch die Kochsalzwässer Wiesbadens stehen
in bedeutendem Rufe bei dieser Krankheit. An den meisten der genannten
Orte werden Trink- und Badecuren mit einander vereinigt.
Das Alkali, welches, wenigstens im Reagenzglase, die stärkste harnsäure-
lösende Kraft besitzt, ist das Lithion, daher sind die lithionhaltigen Quellen
in neuerer Zeit aus theoretischen Gründen besonders empfohlen, z. B. das
Assmannshäuser Wasser mit kohlensaurem und die Sahschlirfer Bonifacius-
quelle mit Chlorlithium. Auch wird das Lithium carbonicum in Dosen von O'l
bis 0'3 mehrmals täglich allein oder in Verbindung mit doppeltkohlensaurem
Natrium und Kochsalz in Selterswasser gelöst gereicht. Die thatsächlichen
Erfolge sind bisher hinter den gehegten Erwartungen zurückgeblieben.
Ein Arzneimittel, welches ebenfalls Harnsäure reichlich zu lösen vermag,
ist das erst seit kurzem bekannt gewordene Plperazin. hydrochloricum und
dürfte daher eine Probe mit demselben anzurathen sein. Man verabreicht es
zu 1*0 pro die in Selterswasser. Der Preis des Medicamentes ist bisher ein
recht hoher (PO = P50 Mark).
Der acute Gichtanfall selbst erheischt in den meisten Fällen keine
besondere Medication; man hülle das erkrankte Glied in Flanell oder Watte,
sorge für Ruhigstellung und verabfolge eine leichte Diät. Starke Schmerzen
machen die Anwendung von Narkoticis erforderlich. Das oft empfohlene
jS!atrium salict/licum scheint keinen Einfluss auf die Dauer des Anfalles zu
haben, ebenso wenig das Colchicum, welches von Garrod geradezu als Spe-
cificum bei Gicht gepriesen wurde. Man gibt das letztere Mittel in der
Form der Tinctura seminum Colchici oder des Viniim Colchici 3- bis 4mal
täglich zu 15 bis 20 Tropfen und mehr, und ist ein Versuch damit jedenfalls
gerechtfertigt. — Oertlich können eventuell feuchtwarme Umschläge und Ein-
reibungen mit narkotischen Salben angewandt werden.
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten. 50
786 HAEMATHEMESIS.
Die gichtischenTophi werden mitunter durch fortgesetzten Gebrauch
von alkalischen Mineralwässern verkleinert und zum Schwinden gebracht.
Bei abnormer Grösse einzelner und dadurch bedingter mechanischer Behin-
derung eines Gelenkes könnte unter Umständen die operative Entfernung der-
selben in Frage kommen. hilbert.
HaemathßtnesiS {Bluterbrechen, Magenblutung). Bei dem grossen Reich-
thum an Blutgefässen ist es nicht wunderbar, dass mehr oder weniger um-
fangreiche Blutaustritte aus der Magenschleimhaut stattfinden. Geringe Blu-
tungen kommen zweifellos gelegentlich latent im Anschluss an chemische, ther-
mische und mechanische Reize vor. Als Ueberbleibsel derselben sieht man dann
bei Sectionen die bekannten schiefrigen Verfärbungen, wie sie besonders häufig
bei der Gastritis chronica zur Beobachtung kommen (s. d. Art.). Erst wenn eine
grössere Magenblutung vorkommt, äussert sie sich durch charakteristische ob-
jective und subjective Symptome. Was die letzteren anbetrifft, so sind
sie analog dem Symptomenbilde, wie sie überhaupt ein acuter Blutverlust her-
vorruft: Ohnmacht, Schwindel, Ohrensausen, Schwächegefühl, kleiner Puls,
kühle Extremitäten u. s. w.
Die objectiven Symptome bestehen in der Beschaffenheit und dem
Aussehen des Erbrochenen, worauf wir genauer eingehen müssen, ferner im Auf-
treten theerartiger Stühle (Meläna). Wo letztere deutlich vorhanden und Hand
in Hand mit den Zeichen einer acuten Anämie gehen, sind sie eigentlich ein
fast untrügliches Zeichen einer stattgefundenen Magenblutung.
Obwohl in den meisten Fällen Blutungen ans den Körperhölilen leicht zu erkennen
sind, machen gerade Hämoirhagien aus dem Klagen zuweilen Schwierigkeiten. Freilich nicht,
falls das Blut frisch oder klumpig geronnen ist; wohl aber wo es zersetzt ist, wie
namentlich bei Carcinom. Mit dem kaffeesatzartigen Aussehen darf man sich in solchen
Fällen nicht begnügen, sondern muss entweder die Häminprobe oder die spectroskopische
Probe anstellen (s. das Genauere unter ^Mageninlialtsuntersucliung^^). Als orientirende Probe
in diesen Fällen genügt die HELLER'sche Blutprobe, wobei man den Mageninhalt mit etwas
Harn und überschüssiger Kalilauge versetzt. Beim Erhitzen und späteren Erkalten schlagen
sich die durch den Blutfarbstoff granatroth gefärbten Phosphate zu Boden. Auch in allen
sonstigen zweifelhaften Fällen, namentlich bei unsicherer Meläna ist die Anstellung zuver-
lässiger Blutproben das wichtigste Hilfsmittel einer richtigen Diagnose.
Grössere Schwierigkeiten macht dagegen die Art des Bluterbrechens.
Man hat unter günstigen Umständen Gelegenheit das Erbrochene zu sehen
und zu prüfen, dann ist die Diagnose meist nicht schwer. Viel häufiger muss
man sich aber aus den Angaben der Patienten ein Bild von der Provenienz
des Blutes machen, was zuweilen auf grosse Schwierigkeiten stösst. Um in
derartigen Fällen die richtige Entscheidung zu treffen, muss man eine Vor-
frage erledigen: Stammt das Blut überhaupt aus dem Magen oder
aus anderen Organen? Von letzteren kommen in Betracht: Zahnfleisch,
Nase, Rachen, Lunge, Oesophagus. Zahnfleisch-, Nasen-, Rachenhöh-
lenblutungen machen in der Regel keine wesentlichen diagnostischen
Schwierigkeiten, wenn man nicht eine genaue Ocularinspection der genannten
Organe verabsäumt. Dagegen können einerseits Lungen-, andrerseits Oesopha-
gusblutungen zuweilen die Veranlassung zu Missdeutung geben. Bezüglich der
ersteren dient das folgende Schema zur Orientirung.
Lungen- Magen-
Blutungen.
1. Das Blut ist hellroth, schaumig und 1. Das Blut ist dunkelbraun, zum Theil
xeagirt alkalisch. coagulirt, es können Speisereste beigemischt
sein; Eeaction kann alkalisch oder sauer sein.
2. Die Anamnese weist auf ein Lungen-, 2. Die Anamnese weist auf Symptome ent-
bezw. Herzleiden (hämorrhagischer Infarct) weder eines Magenleidens oder einer Stauung
hin. im Pfortadersystem hin.
3. Der objective Befund deutet auf eine 3. Der objective Befund zeigt das Bestehen
Lungen- oder Herzaffection hin, wobei der eines Magen- oder Leberleidens oder eine
HAEMATHEMESIS. 787
Lungen- Magen-
Blutungen.
Magen secundär allerdings auch betheiligt mit Stauung im Pfortaderkreislauf verbun-
sein kann. dene Störung (Tumoren, Thrombose u. A.)
hin.
4. Der Lungenblutung folgen Tagelang 4. Die Magenblutungen sind in der Regel
rostfarbene Sputa (doch kommen hiervon mit Abgang theerfarbener Stühle verbunden.
Ausnahmen vor), dagegen nur ganz ausnahms-
weise (nach Verschlucken grösserer ausge-
husteter Massen) Meläna.
Auf grosse Schwierigkeiten kann die Unterscheidung von Oesophagus-
und Magenblutungen stossen. Für Oesophagusblutung würde zunächst der
Nachweis eines Hindernisses im Verlauf der Speiseröhre sprechen (carcinoma-
töse Strictur, Oesophagusstenose post ulcus). Ist kein Hindernis zu eruiren,
so kann eine Stauungsblutung vorliegen, z. B, bei Lebercirrhose.
Die Blutung selbst zeigt bei Provenienz aus dem Oesophagus häufig einen
anderen Charakter als bei der aus dem Magen. Bei Oesophagusblutungen ist
das Blut dunkelroth, aber nicht braun und nicht mit Speiseresten vermischt.
Allerdings können Blutmassen auch in den Magen fliessen und dadurch kaffee-
satzartiges Erbrechen, beziehungsweise theerfarbene Stühle produciren. Für
die Entscheidung ob die fraglichen Blutungen aus einem Ulcus ventriculi oder
oesophagi stammen, würde die constant gemachte Beobachtung von Werth sein,
dass bei letzterem die Schmerzen unmittelbar beim Hindurchpassiren der Spei-
sen, bei ersterem erst einige Zeit nach dem Essen auftreten. Ferner nehmen
beim Ulcus oesophagi die Schmerzen die Richtung vom Sternum nach dem
Epigastrium und strahlen von da nach den Schulterblättern, beziehungsweise
dem Kreuz zu. Endlich findet sich in allen Fällen von Geschwür des Oeso-
phagus Brechreiz und Erbrechen.
Falls die Blutung sicher dem Magen entspringt, kommen ausser Ulcus
folgende Ursachen in Betracht: Carcinom, Pfortaderstauungen, Varicen des
Magens, Vergiftungen, Traumen, Scorhut, Hämophilie, acute gelbe Leberatrophie,
Gefässrupturen u. A. Wo plötzlich heftige Blutungen auftreten und eine sorg-
fältige Anamnese nicht zu erheben ist, wird die Deutung der Ursache der
Hämorrhagie häufig auf Schwierigkeiten stossen. Wo die Anamnese auf das
Vorkommen von Gastralgien hindeutet und Cholelithiasis ausgeschlossen wer-
den kann, wird man in erster Reihe an ein Ulcus ventriculi zu denken haben.
Bei der Entscheidung ob der Bluterguss einem Ulcus oder Carcinom seine Her-
kunft verdankt, kommen folgende Punkte in Betracht : Die Blutungen aus Carcinomen sind
im Ganzen (Ausnahmen kommen vor!) spärlich, führen nie oder selten zu Blutstühlen;
das Blut ist meist zersetzt und nimmt das bekannte kaffeesatz- oder chocoladenfarbene
Aussehen an. Eine Ausnahme hiervon machen die Carcinome der Cardia, bei denen plötz-
lich heftige terminale Blutungen entstehen können, die im Uebrigen den Charakter der
Oesophagusblutungen zeigen.
Therapie: Ist eine Hämathemesis diagnosticirt, so ist es am besten
sich zunächst um die genauere Ursache derselben nicht viel zu kümmern.
Wesentliche Bedingung ist: den Magen absolut ruhig zu stellen. Der Kranke
nimmt dauernd Rückenlage an, wird streng angewiesen sich nicht zu erheben,
umzudrehen, das Bett nicht zu verlassen etc. Sodann erhält er eine leichte
Eisblase auf die Magengegend. Falls nicht eine besondere Indication vorliegt,
erhält der Kranke weder per os noch per rectum Nahrung: selbst Eis inner-
lich halte ich für entbehrlich. Zeigt der Kranke bedrohliche Zeichen von
Collaps, so muss der Kranke rectal ernährt werden durch Klysmen, bestehend
aus Milch, Wein, emulgirten Eiern etc. Die Ernährung per os darf erst be-
ginnen, falls cca. 24 Stunden seit der Blutung verstrichen sind.
Steht die Blutung unter diesen Umständen, so ist überhaupt eine Medi-
cation nicht nothwendig: am ehesten wäre noch eine subcutane Morphium-
injection indicirt, um den Magen-Darmcanal möglichst ruhig zu stellen. Innere
50*
-788 HAEMOPTOE.
Mittel gegen Magenblutungen halten wir für wenig wirksam. Am zuverlässig-
sten ist die subcutane Application einer oder mehrerer Spritzen eines guten
Ergotinpräparates (z. B. das von Bombelon) oder der Pharmacopoea germanica.
Bp. Extr. Secal. cornuti dialys. Pharmac. Germ. l'O. Aq. dest. 5-0. Acid. car-
holici 0-1. Eine Spritze voll subcutan in die Magengegend zu injiciren.
Wo Gefahr der Verblutung eintritt, wird man — wie dies wiederholt
geschehen ist — zur Vornahme einer Infusion mit physiologischer Kochsalz-
lösung oder noch besser intravenösen Kochsalzinfusion schreiten müssen.
Welcher Ursache auch immer die Magenblutung entspringen mag, so
muss die Ernährung die ersten Tage nachher eine möglichst vorsichtige sein
und darf zunächst nur aus kühlen Flüssigkeiten (Milch, Thee, Wein) bestehen.
Erst 6 — 8 Tage nach der Blutung darf man vorsichtig zu consistenter Kost
übergehen.
Im Uebrigen hängt die weitere Behandlung von der Natur des zu Grunde
liegenden Leidens ab, in welcher Hinsicht auf die entsprechenden Artikel
dieses Werkes hingewiesen werden muss. boas,
Haemoptoe. Blutiges Sputum gelangt im Verlauf vieler Erkrankungen
des Kespirations- und Circulationsapparates zur Beobachtung. Die Menge des
auf diese Weise entleerten Blutes ist sehr wechselnd; bald findet man nur
feine Punkte und zarte Streifen, welche wie dünne rothe Aederchen den
schleimig eitrigen Auswurf durchziehen; bald ist ein grösseres Quantum aus-
gehustet, mit den übrigen Sputumbestandtheilen innig gemischt (Haemoptoe,
Haemoptysis, Bluthusten); bald werden erhebliche Mengen fast reinen, flüssigen
Blutes auf einmal zu Tage gefördert (Pneumorrhagie, Blutsturz).
Aetiologie: Penetrirende Stich- und Schusswunden des Thorax
können die Ursache der Haemoptoe sein; von dem Kaliber der verletzten
Lungengefässe hängt dann die Grösse der Blutung ab. Oft ist die durch den
Mund entleerte Blutmenge keine sehr bedeutende, während der grössere Theil
in die Pleui'ahöhle sich ergiesst und zur Bildung eines Haemopneumothorax
beiträgt. Auch Quetschungen der Brust durch stumpf einwirkende Ge-
walten können in Folge Zerreissung des Lungengewebes Bluthusten veranlassen.
Sehr viel häufiger ist der Grund füi' das Auftreten von Blut im Auswurf
in pathologischen Zuständen der Bronchien und des Lungen-
gewebes zu suchen. Schon beim einfachen acuten Bronchialkatarrh
findet gelegentlich durch angestrengten Husten Buptur erweiterter Capillar-
gefässe in einzelnen Bronchien statt, und wird dadurch eine geringe Quantität
Blut dem Sputum beigemengt. In ähnlicher Weise entsteht die mitunter bei
Keuchhusten beobachtete Haemoptoe. Diese Vorkommnisse gehören aber
zu den Seltenheiten ; es ist daher rathsam, in der Annahme derselben äusserst
vorsichtig zu sein und auch bei anscheinend vollkommen klaren und sicheren
Fällen nie die sorgfältigste Untersuchung der Brust und des Auswurfs zu
versäumen; denn gewöhnlich liegen schwerere anatomische Veränderungen dem
Auftreten des Bluthustens zu Grunde.
Die Lungentuberculose ist die häufigste Ursache desselben und
kann in jedem Stadium ihres Verlaufes von demselben gefolgt sein. Alle
Grade von den minimalsten Blutstreifen bis zum rasch tödtlich endenden
Blutsturz gelangen hier zur Beobachtung. Die sogenannten iüitialen Blutungen
treten bei vorher anscheinend vollkommen Gesunden oder bei Personen auf,
welche schon einige Zeit geringen Husten gehabt haben; sie sind meist unbe-
deutend und dann wohl darauf zurückzuführen, dass durch den Zerfall der
tuberculösen Neubildungen Capillaren oder kleinere Gefässe arrodirt werden.
Mitunter kommt es gleich zu einer erheblicheren Blutung, was auf die Er-
öffnung eines grösseren Gefässes schliessen lässt. Solche Anfälle von Haemoptoe
HAEMOPTOE. 789
wiederholen sich bei manchen Kranken mehrfach in einem Jahre, bei anderen
fehlen sie während der ganzen Dauer der Krankheit vollständig.
Sind durch den Zerfall des erkrankten Lungengewebes Cavernen entstan-
den, so kommt es vor, dass Aeste der Pulraonalarterie, welche an der Wand
derselben hinziehen und durch den destruirenden Process nicht zur Oblite-
ration gebracht sind, in Folge des mangelnden Seitendruckes aneurysmatisch in
die Hohlräume hinein sich erweitern. Wird die Wand solcher sackartiger
Aneurysmen der Lungenarterie durch den geschwürigen Process usurirt oder
durch eine plötzliche Blutdrucksteigerung gesprengt, so erfolgt ein massen-
hafter Blutsturz, welcher das Leben des Patienten in hohem Maasse gefährdet
und, wenn der entstandene Kiss nicht bald durch ein Gerinnsel verlegt wird,
rasch zum Tode führt. Letzterer erfolgt dabei zum Theil durch die Grösse
des Blutverlustes, hauptsächlich aber durch Erstickung, indem das Blut die
Luftwege überschwemmt, durch die krampfhaften Inspirationen des nach
Luft ringenden Kranken bis in die feinsten Bronchial Verzweigungen aspirirt
wird und dieselben verstopft.
Die früher von namhaften Aerzten vielfach ventilirte Frage, ob eine
Haemoptoe Ursache der Lungentuberculose werden könne, ist jetzt
als im negativen Sinne entschieden anzusehen. Die Haemoptoe ist Folge
der Lungentuberculose, dafür liefert die Auffindung von Tuberkelbacillen
in dem Blute solcher anscheinend primärer Haemoptysen den Beweis. Anderer-
seits wird häufig der Verlauf der Krankheit durch eine Blutung erheblich
beschleunigt, indem mit dem Blute infectiöses Material einen grossen Theil
der Lungen überschwemmt und so zu einer acuten und rapiden Ausbreitung
des tuberculösen Processes Veranlassung gibt.
Bei Herzkranken tritt Bluthusten von massiger Intensität als Symptom
eines durch embolische Verstopfung eines Lungenarterienzweiges entstandenen
hämorrhagischen Infarktes auf. Da die arteriellen Gefässe der Lunge
Endarterien sind, d. h. nicht mit anderen Arteriengebieten in directer Com-
munication stehen, sinkt der Blutdruck in dem von der Verstopfung betrof-
fenen Gefässbezirk, in Folge dessen erfolgt aus den anastomosirenden Capillaren
und Venen ein rückläufiger Blutstrom, welcher die betreffende Lungenpartie
durchsetzt und in die Bronchien hinein exsudirt. Die durch einen hämor-
rhagischen Infarkt bedingte Haemoptoe pflegt sich in massigen Grenzen zu
halten und nur wenige Tage anzudauern. Das Material für den Embolus wird
von im rechten Herzohr oder im Körpervenensystem entstandenen Thromben
geliefert.
Entleerung kleiner Mengen frischen unveränderten Blutes mit dem Aus-
wurf wird ausnahmsweise in den ersten Tagen der acuten croupösen Lun-
genentzündung beobachtet. Gewöhnlich enthält das Sputum bei dieser
Krankheit nur veränderten Blutfarbstoff und bietet demnach die bekannte rost-
braune Färbung dar.
Im Anschluss an Abscess und Gangrän der Lungen können eben-
falls Blutungen zu Stande kommen, welche durch Arrosion von Gefässen zu
erklären sind.
Nicht selten tritt Haemoptoe auch bei älteren Leuten auf, welche längere
Zeit an chronischem Bronchialkatarrh mit Bronchiectasienbildung ge-
litten haben, und kann bei denselben eine recht bedeutende Stärke erlangen.
Der Grund liegt wahrscheinlich im Platzen erweiterter Capillaren und kleiner
Gefässe, welche die Wände der erweiterten Bronchien durchziehen.
Aus früherer Zeit sind mehrfach Fälle periodisch wiederkehrender Hae-
moptysen berichtet, welche an Stelle unterdrückter Menstrual- oder Hämor-
rhoidalblutungen aufgetreten und mit der Rückkehr der letzteren verschwunden
sein sollen. Ob solche „vicariirende Lungenblutungen" thatsächlich
790 HAEMOPTOE.
vorkommen, ist zum mindesten zweifelhaft; jedenfalls wird man gut thun, bei
der Diagnose derselben die äusserste Vorsicht walten zu lassen.
Vorkommen, Symptome: Haemoptoe ist bei beiden Geschlechtern in
gleicher Frequenz zu constatiren. Am häufigsten in jugendlichem und mitt-
lerem Lebensalter, ist sie aber auch bei Kindern von 2 Jahren und bei Greisen
beobachtet. Mitunter gingen stärkere Anstrengungen voraus, häufig mangelt
jedoch jede äussere Veranlassung. Zuweilen sind Gefühl von Spannung und
Völle auf der Brust, Schmerz daselbst u. s. w. als Vorboten bemerkt, meistens
fehlen dieselben völlig, der Kranke wird von der Blutung inmitten der Unter-
haltung, während des Essens oder im Schlafe überrascht. Manche Patienten
geben an, die Empfindung von Aufsteigen einer warmen Flüssigkeit hinter
dem Sternum gehabt zu haben, sodann einen süsslichen Geschmack im Munde,
worauf der Blutauswurf erfolgte. Ist die Blutung eine massige, so werden
am ersten und zweiten Tage fast nur aus Blut bestehende Sputa in der
Gesammtmenge von cca. 1 bis 2 Wassergläsern entleert, dann wird der Aus-
wurf heller, enthält mit jedem Tage mehr die gewöhnlichen Bestandtheile, bis
derselbe schliesslich in 6 bis 8 Tagen die schleimigeitrige Beschaffenheit
wiedererlangt hat. Auch in Fällen, wo der Blutverlust als solcher geringfügig
ist, pflegen die Kranken in Folge des psychischen Eindruckes stark collabii't,
mit schwachem Pulse und kaltem Schweiss in Gesicht und an den Extremi-
täten dazuliegen.
Ist die Blutung massenhafter, findet also ein wirklicher Blutsturz statt,
so ergiesst das Blut sich in grosser Menge auf einmal aus Mund und Nase
des Patienten, es wird durch heftige Hustenstösse, durch krampfhafte Con-
traction aller Exspirationsmuskeln entleert. Dabei kommt es gelegentlich zu
Erbrechen, besonders wenn etwas Blut in den Magen gelangt oder im Pharynx
sich festsetzt und von dort den Brechreiz auslöst. Bei einem solchen Blut-
sturze können ein und noch mehr Liter auf einmal entleert werden und so-
fort der Exitus letalis eintreten. Glücklicherweise ist dies nur selten der
Fall, der Kranke erholt sich wieder, wkd aber nach kurzer Zeit von mehr-
mals wiederkehrenden ähnlichen Anfällen heimgesucht. Der Ausgang ist nichts-
destoweniger in der Mehrzahl der Fälle zunächst ein günstiger.
Diagnose: Die Unterscheidung einer Haemoptoe von aus anderen Or-
ganen stammenden Blutungen bereitet mitunter Schwierigkeiten. So kann bei
Epistaxis, zumal wenn dieselbe Nachts sich einstellt, das Blut währenddes
Schlafes durch die Choanen nach dem Schlünde und Kehlkopf herabfliessen
und hier angelangt durch Hustenstösse herausbefördert werden. Von Wich-
tigkeit für die Differentialdiagnose ist es hier zu beachten, dass bei Nasen-
bluten zumeist gleichzeitig auch etwas Blut aus der vorderen Nasenöffaung
abtropft. Bei Inspection des Pharynx wird man ferner häufig einen vom
Nasenrachenraum nach dem Schlünde herabziehenden Streifen angetrockneten
Blutes als Ptesiduum der stattgehabten Blutung finden, welcher auf den Ur-
sprung derselben hinführt. Schliesslich deckt die Inspection der Nase von
vorne oder des Nasenrachenraumes durch die Pihinoscopia posterior die blu-
tende Stelle dir e et auf.
Mit erheblicheren Schwierigkeiten verknüpft ist oft die Unterscheidung
einer Lungen blutung von einer Magenblutung*). Wenn es auch als
Regel zu betrachten ist, dass bei ersterer das Blut durch Husten, bei letzterer
durch Erbrechen entleert wird, so kommen davon Ausnahmen vor, wie schon
erwähnt wurde. Die Beschaffenheit des entleerten Blutes pflegt jedoch eine
verschiedene zu sein. Das aus den Lungen stammende ist heller roth, grössten-
theils dünnflüssig, schaumig, etwa vorhandene Gerinnsel sind von Luftblasen
durchsetzt, seine Reaction ist alkalisch ; das durch Haematemesis entleerte
*) Yergl. ^Haematemesis"- (J. Boas), pag. 786 eis. Bd.
HAEMOPTOE. 791
ist dunkel, geronnen, klumpig, mit Mageninhalt vermischt, die Reaction sauer.
Bisweilen passirt es aber, besonders bei während des Schlafes entstehenden
stärkeren Haemoptysen, dass ein Theil des Blutes verschluckt und durch Er-
brechen herausbefördert wird, mithin die charakteristischen Eigenschaften ver-
loren hat. Dann hat man danach zu fahnden, ob auf die Lungen oder auf
den Magen zu beziehende Krankheitssymptome vorangegangen sind.
Wenn auch dies im Stich lässt, so kann im Augenblick die Diagnose nicht
gestellt werden und man muss die nächsten Tage abwarten, um Klarheit über
den Krankheitsfall zu erlangen. Einer Lungenblutung folgt einige Zeit die
Expectoration mehr weniger blutig gefärbter Sputa, einer Magenblutung
die Entleerung durch veränderten Blutfarbstoff tiefschwarz ver-
färbter, theerartiger Stühle.
Bei Hysterischen begegnet man aus kleinen Geschwüren des Zahnfleisches
oder der Rachengebilde stammenden Blutungen, welche als Haemoptysen ini-
poniren. Eine genaue Besichtigung der Mundhöhle und des Schlundes pflegt
den Ursprung derselben aufzudecken. Zu erwähnen wäre noch, dass nicht sel-
ten Blutspucken theils von Hysterischen, theils in betrügerischer Absicht simu-
lirt ist, indem zu dem Sputum Thierblut oder rother Farbstofi^ hinzugesetzt
wurde. Die mikroskopische Untersuchung des verdächtigen Auswurfes wird
hier den gewünschten Aufschluss ergeben,
Ueber die Prognose ist das Wesentlichste in den voranstehenden Er-
örterungen enthalten. Das Leben der Patienten ist nur bei sehr reichlichen
Pneumorrhagien direct bedroht; meistens erholen die Kranken auch nach
grossen Blutverlusten sich bald wieder und verspüren sogar mitunter eine
subjective Erleichterung. Immerhin werden ihre Kräfte erschöpft und häufig
bei Tuberculose eine rapidere Entwickelung und Ausbreitung des Processes
eingeleitet.
Therapie: Bei jeder Lungenblutung ist dringend anzurathen, den Pa-
tienten sofort das Bett aufsuchen zu lassen, und zwar muss dasselbe in
einem kühlen, gut ventilirten Zimmer seinen Platz haben. Ferner muss für
absolute körperliche und geistige Buhe gesorgt sein, besonders alle Aufregungen
fern gehalten und durch die Versicherung, dass der Zustand nicht von ernster
Bedeutung ist und bald vorübergehen wird, die Psyche der Kranken beruhigt
werden. Die Bedeckung der Kranken sei leicht, die Nahrungsaufnahme zu-
nächst auf wenig flüssige und abgekühlte Speisen beschränkt, welche in kleinen
Schlucken mit längeren Pausen genossen werden.
Von grosser Wichtigkeit ist es, jeden Husten möglichst zu unterdrücken.
Das erreicht man am sichersten durch Verabreichung kräftiger Dosen von
Morphium (O'Ol und mehr) innerlich oder besonders bei stärkerer Blutung be-
hufs rascherer Wirkung subcutan. Gegen die Blutung selbst wird Eis ange-
wandt, und zwar äusserlich in Form leichter, auf die Brust applicirter
Eisbeutel und per os in erbsengrossen Stückchen.
Von der Anwendung blutstillender Mittel sind keine sehr rühmens-
werthen Erfolge zu berichten. Zu Beginn eines hämoptoischen Anfalles kann
man einen Thee- bis Esslööel fein gestossenen Kochsalzes auf einmal trocken
nehmen und mit etwas Wasser herunterspülen lassen. Mitunter ist hiervon
eclatanter Nutzen gesehen, in anderen Fällen hat es jedoch völlig versagt.
Die Wirkung ist wahrscheinlich durch eine in Folge des Reizes im Magen
eintretende reflektorische Contraction der Lungengefässe zu erklären. Im
weiteren Verlaufe einer Blutung zieht man Mutterkorn und sein Extract mit
Vortheil in Anwendung. Man gibt Seeale cornutum als Pulver, 0'2 — 0'5 mehr-
mals täglich (Max. 10 pro dosi, o'O pro die) oder im Infus 5'0 — 8'0 : 200'0,
ziveistündlich einen Esslöffel. Ergotinum dialysatum tvird in wässeriger Lösung
von 1 : 5 unter Hinzufügung von etwas Carbolsäure, um die leicht eintretende
Zersetzung zu verhüten, ein bis mehrere Spritzen unter die Brusthaut injiciit.
792 HALSMüSEELKKAMPF.
Sorgfältige Beobachtung der Regeln der Äntiseptik ist dabei nothwendig,
weil sonst leicht Infiltrate und Abscesse an den Injectionsstellen entstehen.
A^on gleicher Wirksamkeit wie die Präparate des Mutterkorns ist das Ex-
tractum fluidum Eijdrastidis Canadensis, wovon man dreimal täglich 30 Tropfen
nehmen lässt. Der Geschmack ist sehr schlecht, doch wh'd das Mittel von
den meisten Patienten gut vertragen. Als Ersatz ist in neuerer Zeit das aus
demselben hergestellte Hydrastinimim hydrochloricum in Gelatinekapseln ä
0-025, 3—6mal täglich empfohlen. Von dem früher vielfach angewandten Plum-
bum aceticum {0'02—0-06 pro dosi), welches oft in Verbindung mit Opium
gegeben wurde, ist ein erheblicher Erfolg kaum zu erwarten.
Wenn der hämoptoische Anfall überstanden, versucht man durch ein
geeignetes diätetisches Verfahren, insbesondere Vermeidung jeder körperlichen
und geistigen Anstrengung, den Ki'anken vor Rückfällen zu schützen und
leitet die nothwendigen Maassnahmen ein, um eine Heilung oder Besserung des
zu Grunde liegenden Leidens zu erzielen. hilbert.
Halsmuskelkrampf. Unter dieser Bezeichnung fassen wir alle ein-
schlägigen Krampfformen zusammen, da die Abgrenzung von besonderen
Krankheitsgruppen weder durch die Vertheilung der Krämpfe im Einzelfalle,
noch durch den Charakter derselben genügend begründet erscheint.
Die Aetiologie des Halsmuskelkrampfes ist meist unklar. Am häufig-
sten werden Erkältung, Trauma, Erki^ankungen der Halswirbelsäule, Infections-
krankheiten (Typhus. Malaria) als Ursachen angegeben. Mitunter wird die
Erkrankung auf Reflexe zurückgeführt, z. B. ausgehend vom Genitale, bei
Kindern werden Dentition, Würmer beschuldigt. Zweifellos besteht oft hoch-
gradige, nervöse Disposition, hereditäre Belastung, chronische cerebrale Affec-
tionen, Epilepsie, psychische Störungen. Hysterie, Neurasthenie. In manchen
Fällen hat es den Anschein als ob die Affection aus einem (anderweitigen)
Beschäftigungskrampf hervorgegangen wäre, z. B. Schreibkampf (Reynolds,
GOWERS).
Wir begegnen der Krankheit am häufigsten im mittleren Lebensalter
zwischen 30 — 50. Der Statistik zufolge sindFrauen häufiger betroffen als Männer.
Die Entwicklung der Symptome ist nicht immer gleich. Während in
manchen Fällen die Krankheitserscheinungen mit dem Spasmus einsetzen,
gehen in anderen, und dies ist häufiger der Fall, dem Spasmus neuralgische
Beschwerden in irgend einem Theile des später afficirten Gebietes voraus.
Mitunter gehen Schwindel, Kopfschmerz, Steifigkeit des Kackens als Prodrome
voraus. Auch die Geschwindigkeit, mit der die Acme sich entwickelt, ist sehr
verschiedenartig. Bald erreicht der Spasmus sehr rasch den Höhepunkt,
bald nur allmälig mit mehr oder minder anhaltenden Inter- und Remissionen.
Dabei können die Spasmen anhaltende sein oder nur anfallsweise mit kurzen
oder langen Pausen sich einstellen.
Am intensivsten betheiligt erscheinen im Beginne fast immer die vom
Accessorius inner vi rten Muskeln*) der Sternocleidomastoideus und der
Cucullaris in seinem äusseren Antheil. Im späteren Verlaufe participiren
auch die übrigen Muskeln des Halses, das Platysma, die Scaleni, die tiefen
Halsmuskeln häufig auch entferntere Muskelgruppen, die Gesichts- und Kau-
musculatur, die Musculatur der oberen Extremität oder des Larynx (Gerhardt).
Für gewöhnlich zuckt unter diesen Verhältnissen die Halsmuskelgruppe am
intensivsten und treten in dieser diejenigen Muskeln am stärksten hervor,
welche den Ausgangspunkt des Spasmus gebildet hatten.
Die Krämpfe können einseitige aber auch doppelseitige sein. Sie sind
bald clonische, bald tonische. Häufig sind beide Formen vergesellschaftet
*) Vergl. auch Artikel ^ Accessoriuslähmung^ (Pal) pag. 25 ds, Bd.
HALSMÜSKELKEÄMPF. 793
Bezüglicli der clonisclien Krämpfe im speciellen wollen wir hier nur folgendes in
Kürze hervorheben : Ist der Sternocleidomastoideus zunächst befallen und dies einseitig, so
wird in Folge der Contractionen dieses Muskels das Kinn gehoben und das Gesicht nach
der gesunden Seite gerichtet {Tic rotatoire) ; wogegen bei dem einseitigen Cucullariskrampf
das Kinn gehoben, der Kopf nach rückwärts und gegen die erkrankte Seite hin gezerrt
wird ; gleichzeitig wird das Schulterblatt in seinem lateralen Antheil gehoben und abducirt.
Sind Sternocleidomastoideus und Cucullaris derselben Seite und gleichzeitig in Action, so
ergeben sich entsprechende Mittelstellungen des Kopfes. Bei beiderseitiger Erkrankung
erfolgt in der Regel die Zuckung abwechselnd bald auf der einen, bald auf der anderen
Seite und wird der Kopf dadurch in einer seithchen Bewegung erhalten (Kopfschütteln).
Erfolgt die Zuckung in einem Muskelpaare gleichzeitig, so entsteht das Kopfnicken {Nick-
krämpfe, Salaamkrämpfe).
Die clonischen Krämpfe erfolgen meist nur anfallsweise, sie sind selten
continuirliche und sistiren im Schlafe. Psychische En^egungen steigern die
Krämpfe gewöhnlich bedeutend und treten namentlich unter diesen Umständen
auch entferntere Muskelgruppen in Action.
Die intensiven Anfälle wirken auf den Kranken sehr verstimmend, stören
die Nahrungsaufnahme und bringen ihn zur Verzweiflung.
Die tonischen Krämpfe befallen meist in erster Linie den Sterno-
cleidomastoideus, der dann deutlich hervorspringt (TorticoUis spasticus). Die
passive Beweglichkeit des Kopfes ist unter diesen Umständen aufgehoben. Bei
längerem Bestände entwickelt sich eine entsprechende Krümmung der Wirbel-
säule und kann der Antagonist atrophiren.
Erwähnenswerth ist hier noch, dass mit gewissen Bewegungen andere associirte, zweck-
mässige erfolgen, so z. B. bei der spastischen Bewegung des Kopfes nach rückwärts erfolgt
gleichzeitig eine Contraction des Stirnmuskels.
Im Verlaufe der Krankheit treten auch Schmerzen der afficirten
Nervenmuskelgruppen auf. Die betreffende Musculatur wird mitunter hyper-
trophisch. Die elektrische Erregbarkeit derselben bleibt meist eine normale,
in manchen Fällen findet man eine gesteigerte. Das Leiden ist meist bald ein
stationäres, nur selten schwindet es vorübergehend, in seltensten Fällen dauernd.
Das Wesen der Krankheit ist uns derzeit noch immer unbekannt.
Der Ablauf der Erscheinung spricht wohl entschieden dafür, dass es sich um
den Ablauf eines centralen Reizes in einem bestimmten Zellgebiet handelt,
wobei, wie schon bemerkt, die gewöhnlichen Bahnen der Association eine
wichtige Rolle spielen. Auffallend erscheint unter allen Umständen die man-
gelnde Betheiligung der Augenmusculatur. Vorläufig fehlen uns verlässliche
Anhaltspunkte zur Localisation des Processes im centralen Nervensystem.
Pathologisch-anatomisch ist nichts wesentliches bekannt.
Die Diagnose ist meist leicht. Gelegentlich kann es zur Verwechs-
lung mit einer Schiefstellung des Halses aus einer anderweitigen Ursache
kommen. In diesen Fällen zeigt der Sternocleidomastoideus Spannung auf der
Seite, welcher das Gesicht zugewendet ist, was dem TorticoUis (s. oben) nicht
entspricht. Am schwierigsten können sich die Verhältnisse in jenen Fällen
gestalten, in welchen Verdacht auf Hysterie vorliegt. Gowees hält alle solche
Fälle für echten TorticoUis, wenn der Ki'ampf sich auf die Halsmuskeln
beschränkt und nicht auf den Rumpf überschreitet. Ein Lebensalter unter
30 Jahren spricht hier mehr für Hysterie.
Die Prognose ist nach alldem quoad sanationem fast immer ungünstig.
Heilung erfolgt nur bei den rheumatischen Formen, häufig ist der Ausgang
in Lähmung oder Contractur, bei chronischen Formen erfolgt mitunter Ueber-
gang in epileptiforme Zustände (s. auch den Artikel „Tic''.).
Die therapeutischen Erfolge sind nur geringe zu nennen. Oertlich
werden Chloroform, Aether, Salben angewendet. Innerlich kommen in Betracht
Nervina (Zmc. valerianic, Asa foetida empfiehlt Gowers auch in Fällen nicht
hysterischer Natur), ferner als Sedativa: Brom, Cannahis indica, Opium,
Morphin, Chloral. In einzelnen Fällen wird bei dieser Behandlung von vor-
übergehender Besserung auch von Heilung berichtet; doch ist bei der Appli-
794 HARN.
cation dieser Mittel stets die Möglichkeit der Angewöhnung im Auge zu be-
halten und sind die Mittel zu variiren. Die elektrische Behandlung hat keine
Erfolge. Zur Anwendung empfiehlt sich nur der galvanische Strom, in Sitzungen
bis zu 10 Minuten. Die Anode ist auf den Nerven, die Kathode auf den
afficirten Muskel zu setzen.
Therapeutisch kommen ferner in Betracht die Application des Glüheisens,
die Nervendehnung und namentlich die Durclischneidung des Accessorius, von
welch' letzterer Erfolge gesehen wurden. Hingegen hat sich die Durchschnei-
dung der Muskelsehnen als ganz nutzlos erwiesen. Die mechanische Behand-
lung hat endlich auch keine besondere Erfolge aufzuweisen, namentlich bei den
clonischen Formen. Bei den rein tonischen Formen ist durch Application
von Stützapparaten eine Erleichterung zu erzielen. Pal.
Harn. (Allgemeine und specielle Pathologie.) In diesem Abschnitt sollen
nach physiologischen Vorbemerkungen die in praktischer Beziehung
sowohl, als für das Verständnis der Krankheitsvorgänge wichtigen patholo-
gischen Veränderungen des Harns etwas ausführlicher und dann in
gedrängterer Darstellung das Verhalten des Harns in den wichtigsten Krank-
heitsgruppen, ohne die specielle chemische, physikalische und mikro-
skopische Untersuchung des Harns, abgehandelt werden.
Physiologische Vorbemerkungen. Der Harn ist die Flüssigkeit,
welche die Nieren aus dem Blut absondern. Die Bestandtheile des Nieren-
gewebes, durch welche die Absonderung vor sich geht, sind: die innen
mit glattem Epithel versehenen Glomeruluskapseln (BowMAN'sche) und die aus
denselben hervorgehenden, mit eigenthümlich gebautem Epithel ausgekleideten,
gewundenen Harncanälchen der Rindenebst den bis in das Mark und wieder
zurückreichenden HENLE'schen Schleifen, während die geraden Harncanälchen
die ausführenden, sich in's Nierenbecken ergiessenden Röhren sind. Die
Blutgefässe, aus welchen die Absonderung vor sich geht, bestehen aus
einem doppelten Capillarnetz, indem sich die kleinen Arterien der Nierenrinde
zunächst im Innern der Kapseln in einen mit platten Zellen umgebenen
Capillarenknäuel (Glomerulus) auflösen, dann wieder sammeln und sich
zum zweiten Male in ein Capillarnetz zerstreuen, welche die Harncanälchen
umspinnen und sich zu den Nierenvenen vereinigen. Das Excret, der Harn,
besteht aus dem Harnwasser und aus den in demselben gelösten Harn-
bestandt heilen. Das Harnwasser wird vorzugsweise in den Kapseln
aus dem Blut abgeschieden, mit ihm zugleich auch Salze, während durch die
Thätigkeit der den Glomerulus umgebenden Zellen das Eiweiss zurückgehalten
wird. Die Menge des Harnwassers hängt ab vom Druck (Filtrations-
druck), von der Strömungsgeschwindigkeit und der Concentration
des in den Glomerulus einfliessenden Blutes. Die Harnbestandtheile
werden, wahrscheinlich durch eine selbständige Thätigkeit, von den Zellen
der gewundenen Harncanälchen aus den diese umspinnenden Capillaren auf-
gesaugt und an das aus den Kapseln kommende, leicht diffundh'bare Salze
führende Harnwasser abgegeben. Die Menge der Harnbestandtheile,
die Concentration, hängt von der Stärke der Auslaugung dieser Stoffe aus
den Zellen ab. Der Urin fliesst dann, unter der treibenden Kraft des Blutdrucks,
durch die HENLE'schen Schleifen, (wo möglicherweise auch eine theilweise
Wiederaufsaugung von Wasser und Bestandtheilen stattfinden kann), durch die
geraden Canälchen und das Nierenbecken in die Harnleiter, in denen die
Muskelwirkung noch dazu kommt, um ihn in die Blase zu befördern.
Der Harn zeigt unter normalen Verhältnissen nach Alter, Grösse, um-
gebender Temperatur, Getränke- und Nahrungszufuhr eine verschiedene Tages-
menge (durchschnittlich 1000 — 1500), schwankendes specifisch es Gewicht
HARN.
795
(1015—1025), wechselnde Farbe (blassgelb bis gelbroth) und saure, durch
saure Salze, besonders Mononatriumphosphat, bedingte Reaction.
Chemische Bestandtheile. Der nach Menge und Wichtigkeit
bedeutendste Bestandtheil, der Harnstoff wird im Durchschnitt zu
2-5_30/^, beim Erwachsenen täglich 30—40 gr, ausgeschieden. Im Stoffwechsel-
gleichgewicht wird mit dem Harnstoff fast ebensoviel Stickstoff ausgeschieden,
als mit der Nahrung zugeführt wird. Der Hauptsache nach wird also der
Harnstoff durch Oxydation der stickstoffhaltigen Nahrung im Organismus gebil-
det. Er kann aber auch durch Zerfall stickstoffhaltigen Körpergewebes ent-
stehen. Die Bildung findet überall im Gewebe, besonders in der Leber, statt.
Erhöhung der Eiweisszufuhr, sowie alle Einflüsse, welche entweder stärkeren
Eiweisszerfall (Sauerstoffmangel, Blutverlust), oder stärkere Auslaugung des
Gewebes (Wasserzufuhr) bewirken, vermehren die Harnstoffmenge. Die Ursache
der Harnstoffvermehrung in Krankheiten (reichliche Nahrungs- und Wasser-
Zufuhr bei Diabetes, Eiweisszerfall im Fieber, schweren Kachexien, Arsen-,
Phosphor- und anderen Vergiftungen) ist darnach leicht zu verstehen, ebenso die
der Verminderung (Hunger, Anämie etc.). Die in viel geringerer Menge
(Va^r täglich) im Harn vorhandene Harnsäure führt nächst dem Harnstoff
am meisten Stickstoff aus dem Körper aus und verhält sich im Ganzen quanti-
tativ dem Harnstoff parallel (1 : 45). Sie findet sich zum grössten Theil als harn-
saures Alkali, zum geringsten als freie Harnsäure in Lösung. Da die Salze
und noch mehr die Säure schlecht löslich sind, so fallen sie als gelb bis roth
gefärbtes Sediment in der Kälte oder aus concentrirtem Harn leicht aus. Wirk-
liche Vermehrung ist hauptsächlich bei Leukämie gefunden worden. Von con-
stanten organischen basischen Bestandtheilen sind weiter zu nennen:
Kreatinin, in durchschnittlicher täglicher Menge von 1-0 dessen Aus-
scheidung hauptsächlich von Zersetzung von Muskelsubstanz (Fleischnahrung)
abhängig ist; ferner Xanthin-basen; dann Allantoin im Harn der
Schwangeren undNeugebornen; endlich die in neuerer Zeit vielfach studirten,
aber noch nicht hinlänglich geklärten, giftigen und ungiftigen Ptomaine.
Eiweissartige Substanzen sind im Urin Gesunder jedenfalls nur in Spuren vor-
handen. Am constantesten ist jedenfalls das Mu ein als Product der normalen Schleimhaut.
Bei katarrhalischer Erkrankung der letzteren wird es reichlich angetroffen, ebenso bei
Icterus, auch bei Leukämie. Eine eigene „Mucinurie" aufzustellen, ist jedoch unnöthig.
Auch Album ose ist als ziemlich constanter Befund nachgewiesen. Die pathologische Aus-
scheidung siehe „Albumosurie". Die vielumstrittene Frage ist die nach der „physiologischen
Albuminurie,MerAusscheidungvonSerumalbumin. Aus grösseren Harnmengen und mit feineren
Untersuchungsmethoden scheint sich in der That in der Mehrzahl der Fälle beim Gesunden
Albumin nachweisen zu lassen. Diese minimalen Spuren, welche keine praktische Bedeatung
haben, soll man allein als physiologische Albuminurie gelten lassen. Die niit klinischen
Methoden nachweisbaren, wenn auch geringen Spuren haben den Werth einer patho-
logischen Erscheinung, geringeren, wenn die Albuminurie vorübergehend,
grösseren, wenn sie von Dauer ist.
An organischen Säuren finden wir mit einer gewissen Regelmäs-
sigkeit: Flüchtige Fettsäuren in geringen Mengen, Oxalsäure, welche
hauptsächlich nach vegetabilischer Nahrung reichlich als Kalksalz erscheint,
Bernsteinsäure in Spuren, Rhodanswasserstoffsäure an Alkali ge-
bunden, Hipp ur säure in Quantitäten bis zu 1*0 pro die.
Wichtige Stoffe sind weiter die Phenole, der Hauptsache nach gebun-
den, als Aetherschwefelsäuren: Das Phenol selbst in Spuren Parakresol
reichlicher, weniger reichlich Brenzcatechin, constant geringe Mengen von
Indican (Indoxylschwefelsäure) und Skatoxylschwefelsäure.
Regelmässige anorganische Bestandtheile sind: Das Chlor in einer
15-0 Chlornatrium selten überschreitenden Menge, welche hauptsächlich von
der Kochsalzzufuhr abhängt, bei Nierenkrankheiten und in fieberhaften Krank-
heiten abnimmt (Kochsalzretention), nach der Entfieberung aber ebenso wie
nach der Resorption (kochsalzhaltiger) Ex- und Transsudate sich erhöht;
796 HARN.
die Phosphorsäure, zu etwa 3-5 gr in 24 Stunden, an Natrium, Calcium
und Magnesium, in Spuren an organische Körper gebunden, der Hauptsache
nach aus der animalischen Nahrung, zum Theil auch aus dem Gewebszerfall,
besonders dem Lecithin stammend, welche in Nierenentzündungen, der
Schwangerschaft, bei Phthisis Verminderung, deren Verhalten in Krankheiten
überhaupt aber noch keine recht charakteristischen Resultate ergeben hat; die
Schwefelsäure, zu cca. 3*0 im Tag, theils an Alkalien, theils an Phenole
(Aetherschwefelsäuren) gebunden, welche, weil aus den Eiweisskörpern stammend,
in ihrer Menge ganz mit dem Harnstoff parallel geht; die Kohlensäure,
bei saurer Reaction cca. 50 ccm, freie gelöst, bei neutraler und alkalischer
auch gebunden. Ferner die Basen: Natrium und Kalium, hauptsächlich
an Chlor, zum Theil an Phosphorsäure und Harnsäure gebunden, das aus dem
Kochsalz der Nahrung stammende, in den Körperflüssigkeiten circulirende
Natrium für gewöhnlich reichlicher, als das in den Gewebszellen abgelagerte
Kalium, welches bei Gewebszerfall in grösserer Menge im Harn erscheint;
Calcium und Magnesium, vorzugsweise an Phosphorsäure gebunden,
letzteres etwas reichlicher als ersteres, beide in der Menge abhängig von der
Nahrungsaufnahme und der Resorptionsthätigkeit des Darms, beim Hunger
und in manchen Krankheiten (Phthisis) vermehrt; freies Ammoniak, in
geringen Mengen auch im normalen Harn, welches aus der Nahrung (bei
Fleischkost reichlicher) und der Athmungsluft einerseits und von dem Eiweiss-
zerfall im Körper (Bildung von kohlensaurem Ammoniak) andererseits her-
stammt, in seiner Menge daher in Krankheiten naturgemäss von dem ge-
steigerten Gewebszerfall (Erhöhung im Fieber), sowie von erhöhter Säurebildung
und damit verbundener stärkerer Ausscheidung (wie in manchen Fällen von
Diabetes) abhängig ist.
Beim Stehen, besonders an kühlem Ort, kann sich normaler Harn
trüben durch Abscheidung von Harnsäure, harnsauren Alkalien und oxalsaurem
Kalk*) (Briefcouverts) bei abnehmender saurer Reaction. Unter der Einwirkung
von Mikroorganismen kommt es bei längerem Stehen, zumal an warmem Ort,
zu der alkalischen oder ammoniakalischen Gährung. Der Harn
wird trüb, übelriechend, durch (aus dem Harnstoff von den Bacterien gebilde-
tes) kohlensaures Ammoniak alkalisch und zeigt im Sediment ausser Bacterien
Krystalle von phosphorsaurer Ammoniakmagnesia (Sargdeckel) und harnsaurem
Ammoniak (Stechapfel). Ausnahmsweise kann unter Einwirkung von Spross-
und Spaltpilzen, wie es scheint, besonders bei Anwesenheit von Spuren Zucker
oder Alkohol im Harn, die sogenannte saure Gährung, d. i. die Ent-
wickelung von Fettsäuren entstehen, welche das neutrale harnsaure Natrium in
saures verwandeln und Harnsäure abscheiden.
Morphologische Bestandtheile.*) Bei der durch die Centrifuge
sehr erleichterten Untersuchung des normalen Harnsedimentes findet man als
fast regelmässige Formbestandtheile einzelne Epithelien aus der Blase
und Harnröhre, bei Weibern ziemlich reichliche aus Vulva und Vagina.
Ebenfalls als physiologischen, gelegentlich vorkommenden Befund darf man
bei Männern nach Pollutionen etc., Samen- und Prostatasecretele-
mente betrachten, die Spermatozoon und die Prostataamyloid-
körperchen, welche sich mit Jod violett färben. Bei jungen Männern kann
man, wie ich selbst nachgewiesen habe, in öO"/© einzelne, kleine Leucocyten
nicht sehr an Grösse übertreffende, gelbliche, stark gekörnte, runde Zellen
auffinden, welche den Harncanälchenepithelien sehr ähnlich sehen und die ich
deshalb als Nierenepithelien kurz bezeichnen möchte, obwohl es nicht
immer leicht ist, sie als solche zu identificiren. Ich glaube jedoch und
*) Vergl. Die Sedimentbilder auf der zugehörigen Tafel-
HARN. 797
habe dies an anderer Stelle ausgeführt, dass dieser Befund, obwohl an der
Grenze des Normalen liegend, doch durch vorübergehende schädliche Einflüsse
(Alkohol, scharfe Nahrungsmittel, Körperbewegung) bedingt ist und dass even-
tuell bei anhaltender Einwirkung der genannten Schädlichkeiten und bei ge-
ringer Widerstandsfähigkeit des Nierengewebes aus der vorübergehenden Epi-
thelabstossung eine dauernde Schädigung erwachsen kann. Jedenfalls ist es
sicher, dass starke Körperbewegung, alkoholische Getränke und scharfe Nah-
rungsstoffe die Zahl jener Elemente beträchtlich erhöhen oder dieselben, wenn
sie vorher im Harn fehlten, hervorrufen kann. Das Gleiche gilt von den
Leucocyten, welche ich in 1 7*^/0 bei gesunden Soldaten gefunden habe
und welche ich auch durch Körperbewegung reichlicher werden oder in Folge
scharfer Substanzen im Harn neu auftreten sah. Nierenepithelien und
weisse Blutkörperchen im Harnsediment, welche trotz Vermeidung aller
jener Schädlichkeiten in erheblicherer Zahl und anhaltend beobachtet
werden, sind daher als pathologische Erscheinung aufzufassen. Rothe Blut-
körperchen sind normaler Weise nie im Sediment, so dass selbst verein-
zelte als ein krankhaftes Symptom gelten müssen. Am schwierigsten und
zugleich am wichtigsten ist die Lösung der Frage, ob vereinzelte Cy lind er
im normalen Harn vorkommen oder nicht. Von Manchen wird sie bejaht, von
Andern, wie von mir selbst, verneint. Die Entscheidung hängt im Wesent-
lichen davon ab, wo man die Grenze der Normalität zieht. Ich habe aller-
dings auch bei Soldaten nach anstrengenden Märschen in 14% einzelne hya-
line oder gekörnte Cylinder beobachtet. Es fragt sich jedoch, sind Leute,
welche nach einer mehrstündigen Körperanstrengung Cylinder im Harn be-
kommen, ganz normal oder leicht abnorm? Da man einerseits die Cylinder als
charakteristischstes Symptom der Nierenentzündungen zu betrachten gewohnt
ist, andererseits aber bei völlig gesunden, keinen Schädlichkeiten irgendwel-
cher Art (Anstrengung, Alkohol, etc.) ausgesetzten Individuen auch sicher
keine Cylinder im Harnsediment findet, so unterliegt es kaum einem Zweifel,
dass man die anhaltende Anwesenheit selbst spärlicher Harncylinder als Zeichen
einer geringen Widerstandsfähigkeit des Nierenparenchyms und eventuell als
Anfang einer chronischen Nierenentzündung ansehen muss. Dies beansprucht
umsomehr Giltigkeit und diagnostische Bedeutung, als es Fälle gibt, in denen
ohne Albuminurie einzelne Cylinder im Harn vorkommen und der weitere
Verlauf die Diagnose Nephritis bestätigt. Da auf diese Weise die Erkennung
der ersten, noch heilbaren Stadien chronischer Nierenentzündungen mög-
lich ist, so kommt der mikroskopischen Harnuntersuchung neben der chemi-
chen eine hohe Bedeutung zu.
L Pathologische Harnveränderungen.
Es sollen hier die wesentlichsten Formen der pathologischen Harnaus-
scheidungen in alphabetischer Reihenfolge besprochen werden.
Acetonurie. Die physiologische Acetonurie, bei welcher nur minimale
Spuren Aceton ausgeschieden werden, kann man durch länger fortgesetzte Ei-
weisskost auch beim Gesunden beträchtlich steigern.
Pathologische Acetonurien sind bisher in grösserer oder ge-
ringerer Häufigkeit und Stärke gefunden worden: bei Diabetes, Carcinom,
cachektischen und anämischen Zuständen, Inanition, Verdauungsstörungen,
fieberhaften Krankheiten, Geisteskrankheiten, eklamptischen Kinderki'ämpfen.
Die diabetische Acetonurie besitzt vor allen anderen Formen prak-
tische Bedeutung. Sie ist oft auch ohne chemische Reaction (z. B. die
Legal'sche) an dem Geruch des Harns (und des Athems) nach Aceton leicht
zu erkennen. Sie ist nicht zu trennen von der sogenannten Diaceturie, der
Ausscheidung von Acetessigsäure mit dem Harn, welche an der bordeauxrothen
Färbung mit Eisenchlorid (im gekochten Harn ausbleibend) erkannt wird.
798 HARN.
Gewöhnlich kommen Acetonurie und Diaceturie gleichzeitig vor, wenn auch
zuweilen Aceton ohne Eisenchloridi-eaction nicht, jedoch umgekehit, beobachtet
wird. Da das Aceton aus der leicht zersetzlichen Acetessigsäure (neben Kohlen-
säure) entsteht, so sind diese klinischen Thatsachen leicht verständlich. Immer
deuten Acetonurie sowohl wie Diaceturie auf schweren, vorgeschrittenen Dia-
betes. Hervorgerufen wird ihr Auftreten durch strenge Eiweissdiät. Von
diesenFällen abgesehen, verschlechtern hohe Grade der Acetonurie und Diaceturie
gewöhnlich die Prognose (Ausgang in diabetisches Coma). Die carcinomatöse,
cachektische und Inanitions-Acetonurie, sowie die bei Digestions-
störungen düiien wohl unter dem IS'amen der Inanitions-Acetonurie
zusammengesetzt werden, wenn auch in einigen Fällen von Carcinom des
Verdauuugstractes ohne Inanitionserscheinungen Acetonurie gefunden wurde.
Dieselbe ist jedoch beim Krebs an sich die Ausnahme, dagegen bei sehr schweren
Ernährungsstörungen und beim Hunger in Krankheiten sowohl wie beim
freiwilligen Hungerkünstler Cetti eine mehr oder weniger regelmässige Er-
scheinung. Eine besondere klinische Bedeutung kommt derselben noch nicht
zu. Die febrile Acetonurie ist die constanteste von allen. Bei allen fieber-
haften Processen von einiger Dauer und Stärke der Temperaturerhöhung,
einerlei von welcher Erkrankung sie abhängig sind, beobachtet man grössere
oder geringere Acetonurie. Vorübergehend« Fiebersteigerungen erhöhen die
Ausscheidung nicht wesentlich. Auch die Acetessigsäure erscheint im Harn
Fieberkranker, besonders regelmässig bei Kindern und dann ist sie ohne die
schlimmere Vorbedeutung, die sie bei Erwachsenen in höherem Grade besitzen
soll. Acetonurie der Geisteskranken wurde besonders häufig bei Para-
lytischen beobachtet. Bei Epileptikern wurde sie zuweilen und zwar nach den
Anfällen gefunden, was auch mit dem positiven Befund nach eklamptischen An-
fällen übereinstimmt.
Im Allgemeinen lehren die Beobachtungen über Acetonurie bei den ver-
schiedenen Zuständen und Erla-ankungsformen, dass die Acetonurie zu ver-
mehrter Eiweisszersetzung im Organismus in einer bestimmten Beziehung steht,
indem sowohl vergrösserte Eiweisszufulir beim Gesunden und Diabetiker, als
auch erhöhter Eiweisszerfall beim Hungernden, Cachektischen, Fiebernden etc.
das Auftreten von reichlicherem Aceton im Harn veranlasst.
Albuminurie im engeren Sinne {Senimalhuminurie). Indem auf den
Artikel „Albuminurie" (dieser „Biblioth." I. Abth., 1. Heft, S. 34) verwiesen wird,
soll hier unter Albuminurie nur die Abscheidung von Serumalbumin und
zwar nur des im harnabsondernden Apparat selbst zugemischten Serumalbumins
als rein renale Albuminurie verstanden werden. Gleichzeitig ist dabei die Aus-
scheidung von Globulin mit eingeschlossen, da dasselbe sehr häufig als
Begleiter des Serumalbumins auftritt, niemals aber mit Sicherheit für sich allein
gefunden wird, so dass die Aufstellung einer eigenen „Globulinurie" nicht
nöthig erscheint. Der Austritt von Serumeiweiss des Blutes in den Xieren muss
im Wesentlichen von Veränderungen der Nierenepithelien abhängen. Wenn
die oben (physiol. Vorbemerk.) entwickelte Anschauung richtig ist und unter
normalen Verhältnissen gegenüber den immerhin beträchtlichen physiologi-
schen Schwankungen des Blutdruckes und der Concentration des Blutes die
Lebensthätigkeit des Glomerulus- und Harncanälchen-Epithels vollkommen im
Stande ist, das Serumeiweiss zurückzuhalten, so muss eine Störung dieser
Thätigkeit den Austritt des Albumins zulassen. Diese Störung kann durch dau-
ernde, anatomische Veränderungen (Abstossung, Abnahme der Zahl der Ele-
mente, Umwandlung ihres Protoplasmas) bedingt sein, wie es bei Nierenent-
zündungen, Atrophien, Degenerationen der Fall ist, oder durch mehr vor-
übergehende Ernährungsstörungen und in Folge schädlicher Stoffe entstan-
dene functionelle Lähmungen der Zellen, wie sie bei Blutdrucksenkungen,
anämischen und hydrämischen Zuständen, fieberhaften Erkrankungen, Ver-
HARN. 799
giftungen und Autointoxicationen vorkommen können. (Die specielle Aufzäh-
lung des Vorkommens der Albuminurie in Krankheiten, vergl. d. oben citir-
ten Artikel).
Albumosurie. Bei der mit dem Collectivnamen Albumosurie be-
zeichneten Eiweissausscheidung handelt es sich um eine Reihe von früher als
Propepton oder Hemialbumose bezeichnete Körper, welche bei der Koch-Sal-
petersäureprobe sich beim Erkalten ausscheiden, bei der Essigsäure-Ferricyan-
kalium-Reaction beim Erwärmen lösen, bei Zusatz von viel Kochsalz und Essig-
säure in der Wärme sich lösen, in der Kälte immer wieder ausfallen. Die Albu-
mosurie, welche in der Praxis häufig übersehen wird, ist, wenn auch nicht
immer constant, bei Osteomalacie, Geschwulstbildung im Knochenmark, Geistes-
störungen, Hautentzündungen und Darmgeschwüren, sowie Spermatorrhoe
gefunden worden. Eine praktische Bedeutung kommt ihr noch nicht zu.
Alkaptoniirie. Alkaptonurie hat man die Ausscheidung von Uroleucin-
säure (und Hemogentisinsäure) genannt. Dieselbe ist, häufiger bei Kindern
ohne Krankheitserscheinungen, sowie auch in Krankheitsfällen (Diabetes,
Phthise) beobachtet worden. Wegen der stark (z. B, Fehling'sche Lösung)
reducirenden Eigenschaften kommt der Uroleucinsäure vielleicht einige prak-
tische Bedeutung zu.
Cholurie. Unter Cholurie versteht man das Auftreten von Gallen-
bestandtheilen im Urin. Beobachtet sind Gallenfarbstoffe, Gallensäuren
und Cholesterin. Letzteres wurde nur ganz ausnahmsweise (bei Chylurie
z. B.) constatirt. Die Gallensäuren, wegen ihrer giftigen Wirkung auf das
Herz pathologisch bedeutungsvoll, haben im Urin bisher leider keine diagno-
stische Wichtigkeit erlangt, weil ihr Nachweis viel zu complicirt und auch
dann noch unsicher ist. Diagnostisch wichtig ist allein das Auftreten des
Gallenfarbstoffs, kenntlich an der dunklen, braunen bis grünlichen Färbung,
dem gelben Schaum und den bekannten chemischen Reactionen. Man unter-
scheidet eine Biliruhinurie, d. i. die Abscheidung des echten braunen Gallen-
farbstoffs, der sich leicht in grünen, blauen etc. umwandelt, und die Uro-
biUnurie, d. i. das reichlichere Auftreten eines in den meisten Harnen in
geringer Menge vorkommenden, dem Bilirubin verwandten Farbstoffs, der im
Chloroformauszug aus dem Harn mit Jodlösung und Kalilauge grüne Fluorescenz
zeigt. Die Hoffnung, auf Grund der beiden verschiedenen Farbstoffe die alte
Streitfrage, ob es neben dem hepatogenen auch einen hämatogenen Icterus
gibt, zu entscheiden, sowie den hepatogenen oder Stauungsicterus als Bilirubin-
icterus von dem hämatogenen als Urobilinicterus auch klinisch zu trennen,
scheint sich nicht zu bestätigen. Das Bilirubin findet man allerdings bei
Verschluss der Gallenausführungsgänge und -wege und dadurch bedingter Gallen-
stauung. Aber man kann nicht aus der Biliruhinurie mit Sicherheit eine
Leber- und Gallenwege-Erkrankung erschliessen. Die Urobilinurie hat man bei
Lebercirrhose, aber auch bei Hämmorrhagien aller Art in den Geweben, bei per-
niciöser Anämie, Neuritis, nach Tuberculin- und Chloroformeinwirkung be-
obachtet. Gelbfärbung der Haut braucht nicht immer dabei zu sein. Die
Thatsachen, dass Urobilin nicht im Blute vorkommt und dass bei einem Icte-
rischen im Schweiss Bilirubin, im Harn Urobilin constatirt wurde, deuten
darauf hin, dass das Urobilin in der Niere durch Reduction aus dem Bilirubin
gebildet wird. — Bei der Cholurie sind auch Eiweiss und Forml:)estandtheile
zuweilen im Urin gefunden worden. Letztere bestanden in gelblich gefärbten
oder mit Farbstoftkörnchen besetzten hyalinen Cylindern, beziehungsweise aus
grünlichem bis schwärzlichem Pigment.
Chylurie (Galacturie). Der Harn bei Chylurie, enthält zugleich
Eiweiss und Fett. Letzteres wird durch ersteres in einer ausserordentlich
feinen Emulsion suspendirt erhalten und ertheilt dem Urin das eigenthüm-
liche milchartige Aussehen, (woher der Name Galacturie). Mitunter
800 ' HARN.
erhält der Harn durch Blutbeimengung eine röthliche Färbung und zeigt dann
rothe und einzelne weisse Blutkörperchen im Sediment. Formbestandtheile,
welche auf Nierenerkrankung hinweisen, fehlen. Zuweilen treten Fibrin-
gerinnsel oder völlige Gerinnung des Urins auf (s. Fihrinurie). Oefter wurde
schwach saure oder alkalische Reaction und leichte Zersetzlichkeit gefunden.
In den tropischen Fällen ist die Anwesenheit der Filaria sanguinis hominis
im Blut, der Niere und den Harnwegen erkannt worden, und es ist wahrschein-
lich, dass die Beimengung von „Chylus" zum Harn auf durch die Parasiten
veranlassten Communicationen der Lymphgefässe mit den Harnorganen zu Stande
kommt. Für die einheimischen Chylurien bei Leuten, welche nie in den
Tropen waren, muss man eine nicht parasitäre Entstehungsweise annehmen.
Cystinurie. Cystin, in Spuren ein constanter Harnbestandtheü, tritt in seltenen
Fällen in reichlicherer Menge auf und kann zur Cystinsteinbildung führen. Doch können
Cystinsteine bestehen, ohne dass gleichzeitig eine Cystinurie nachzuweisen ist, und auch
umgekehrt, (wie z. B. ein Fall von Cystinurie bei acutem Gelenkrheumatismus beweist).
Constante Begleiter der Cystinurie sind das Futrescin (Tetramethylendiamin) und Cadaverin
(Pentamethylendiamin), so dass man von einer begleitenden ^^Diaminnrie"- sprechen könnte.
Ausser der eventuellen Anwesenheit der Cystinkrystalle lässt sich, zumal bei Reizung der
Schleimhaut durch Cystinsteine, ein schleimig-eitriges Sediment, sowie bei Fäulnis exquisiter
Schwefelwasserstoffgeruch öfters finden.
Diacetiirie. s. unter Äcetonurie pag. 797.
Fibrinurie. Faserstoff kann in geronnenem Zustande als Blutcoagulum bei
Hämaturie oder als Fibringerinnsel bei Chylurie und Diphtherie der Harnwege
oder in flüssigem Zustand mit nachträglicher Gerinnung im Urin vorkommen.
Den Befund von fertigen Faserstoffgerinnseln mit oder ohne Blutkörperchen-
einschluss als „Fibrinurie" zu bezeichnen, ist nicht nöthig. Es bleiben für
diese Harnform aber nur jene seltenen Fälle von coagulirbarem Harn übrig, in
welchem sich nach der Entleerung ein Theil oder die ganze Menge in eine
gallertähnliche Masse verwandelt, wie sie besonders in aussereuropäischen
Ländern mit der Chylurie zusammen auftreten.
Glykosiirie (Mellitiine). Die Ausscheidung von Traubenzucker, (Dextrose,
Glykose) mit dem tlrin bezeichnet man als Glykosurie oder Melliturie. Trauben-
zucker, welcher mit den gewöhnlichen, aber sicheren klinischen Methoden
im Harn, insbesondere der Gährungsprobe nachgewiesen wird, ist immer eine
pathologische Erscheinung. Doch muss man vorübergehende Glykosurien
von den dauernden unterscheiden. Die vorübergehenden sind bei
Lebererkrankungen (Cirrhose), bei Herz- und Lungenkrankheiten, Gehirnerkran-
kungen, Gicht, Syphilis, acuten Infectionskrankheiten (Wechselfieber, Cere-
brospinalmeningitis, Scharlach etc.), nach Vergiftungen (Morphium, Kohlenoxyd)
gefunden worden. Auch künstlich hat man bei Cirrhose und Hirnerkran-
kungen durch Darreichung von Traubenzucker transitorische Glykosurie her-
vorrufen können. Wenn aber in einem Fall die genannten Organ- oder
Allgemeinkrankheiten nicht vorliegen, so ist auch eine nur vorübergehende
Zuckerausscheidung immer als verdächtig anzusehen, zumal sobald dieselbe
nicht auf excessiven Genuss von Kohlehydraten aufgetreten ist. Dauernde
Glykosurie ist das wesentliche Symptom des Diabetes mellitus. Dasselbe ist
schon vorhanden, wenn alle übrigen Diabetessymptome fehlen. In ausgeprägten
Fällen geht die Zuckerausscheidung mit Polyurie (3 — 5, bis zu 15 Liter im
Tag) einher. Dabei ist das specifische Gewicht der Zuckermenge entsprechend
erhöht (bis 1050). Die Ausscheidung der normalen Harnbestandtheile, ins-
besondere des Harnstoffs, aber auch der Schwefel-, Phosphorsäure, des Chlors,
der Salze ist gewöhnlich beträchtlich vermehrt, die der Harnsäure vermindert.
Zuweilen ist Äcetonurie, Diaceturie, Lipacidurie (Oxybuttersäure) vorhanden
(siehe diese). Eine häufige Begleiterin schwerer, anhaltender Glykosurien ist
die Albuminurie, welche auf Mitleidenschaft der Nieren deutet. In einzelnen
Fällen gelang es mir auch ohne Albuminurie Nierenelemente im Zuckerharn
nachzuweisen. Trotzdem können alle diese Harnveränderungen ausser der
Sedimentbilder aus dem Harn.
Fig. 1: Epithelformen.
a Epithelien aus der Harnblase, h, d Nierenepitlielien h' Nierenepitlielien, verfettet, c Plattenepifhelien
aus der Vagina.
Fig. 2: Nichtorganisirte Hamseclimente.
A. Sedimente aus saurem Harn.
a Harnsäure, h Oxalsaurer Kalk, c Tripelphosphat, krystallinisch. d Basisch-phosphorsaure Magnesia, e Neu-
traler, phosphoraaurer Kalk. / Schwefelsaurer Kallc. g Hippursäure. h Tyrosin. i Leucin. fc Cystin.
l Kalk- und Magnesiaseifen.
n. Sedimente aus alkalischem Harn.
« Tripelpliosphat, amorph, ß Kohlensaurer Kalk, y Harnsaures Ammoniak. 6 Cholesterin.
Sedimentbilder aus dem Harn.
Fig. 3: Organisirte Cj'^linder.
a Cylinder aus Leucocyten. h Cylinder aus rothen Blutkörperchen, c Cylinder aus Leucocyten und Epithelien.
d Epitlielialcylinder.
Fig. 4: Metamorpliosirte Cylinder.
a, b, c Granulirte Cylinder. d Wachsartiger Cylinder. e Hyaliner Cylinder. / Cylindroid.
HARN. 801
Glykosurie und auch alle subjectiven Symptome beim Diabetes fehlen. Man
kann sich daher vor dem Uebersehen einer Glykosurie mit Sicherheit nur
durch die ausnahmslose Untersuchung des Harns auf Zucker hüten.
Die Frage nach der Entstehungsweise der Glykosurie hängt so eng zu-
sammen mit der schwierigen der Pathogenese des Diabetes mellitus im Ganzen,
dass dieselbe dort ausführlich abgehandelt wird.*) Hier seien nur kurz die Wege
angedeutet, auf welchen man vorübergehende Glykosurie experimentell erzeugen
kann. Der berühmteste Versuch ist der Zuckerstich, eine Verletzung des
Bodens der Rautengrube oberhalb der Vaguskerne. Auch Verletzung anderer
Stellen des Nervensystems, Durchschneidung der vasomotorischen Bahnen des
Rückenmarks, des Sympathicus, des Ischiadicus bewirkten Glykosurie. Die-
selbe trat auch ein nach reichlicher Einspritzung verdünnter Kochsalz- und
anderer Lösungen in die Blutbahn. Zahlreiche Gifte können Glykosurie machen,
wenn auch bei vielen (Chloroform, Chloral) sich die im Harn gefundenen
reducirenden Substanzen nicht als Zucker entpuppt haben. Die interessan-
teste Glykosurie verursachende Substanz ist das in neuerer Zeit geprüfte
Phloridzin. Endlich haben die neuesten wichtigen Experimente gezeigt, dass
totale Pancreasexstirpation bis zum Tode dauernde Glykosurie erzeugt.
Auch andere Zuckerarten sind zuweilen im Harn beobachtet worden. Laktosurie,
welche man annehmen darf, wenn der Harn Reductionsproben, aber keine Phenylhydrazin-
und Gährungsprobe gibt, wird bei Schwangeren und Säugenden besonders dann gefunden,
wenn eine Milchstauung in der Drüse stattfindet und wird als Zeichen guter Ammen an-
gesehen. Levulosurie (Fructosurie), auf welche man durch die linksdrehende Wirkung
des Zuckerharns im Polarimeter aufmerksam werden kann, ist als Begleiter der Glykosurie
ohne praktische Bedeutung. Inositurie, in Spuren normal, ist bei Nierenentzündung,
Diabetes mellitus und insipidus, sowie experimentell durch reichliche Wasser- oder Inosit-
zufuhr beobachtet worden.
Hämatoporphyrinurie. Die Ausscheidung des Hämatoporphyrins,
d. i. des eisenfreien Hämatins ist in neuerer Zeit öfter in Krankheitsfällen
beobachtet worden. Der Harn erscheint im auffallenden Lichte fast schwarz,
bei durchfallendem in dünnen Schichten braunroth und braucht sonst keine wei-
teren Abnormitäten zu zeigen. Die sichere Erkennung des Farbstoffs gelingt
nur mit dem Spectroskop. Für andere Krankheiten hat die Hämatoporphyrinurie
bisher keine diagnostische Bedeutung erlangt, dagegen ist sie ein wichtiges
Symptom zu starken oder anhaltenden SulfonalgehYSiUchs und es ist daher seine
Kenntnis für den Arzt entschieden werthvoll.
Hämaturie. Mit Hämaturie bezeichnet man den Austritt des Blutes,
d. i. der rothen Blutkörperchen in den Urin, im Gegensatz zu der Hämo-
globinurie (s. d.), bei welcher nur der Blutfarbstoff' im Harn auftritt. Wenn
auch die rothe (fleischwasserähnliche bis dunkelrothe bis braune) Farbe des
Harns meistens auf Hämaturie beruht, so ist doch, wenn nicht exquisite
Blutgerinnsel vorhanden sind, die exacte Diagnose nicht mit den chemischen und
spectroskopischen Proben, sondern nur durch den mikroskopischen Nachweis
der Erythrocyten zu stellen. Natürlich kann das Blut aus jedem Abschnitt
des Harnapparates dem Urin beigemischt sein. Sehr schwierig, ja unmöglich
kann aber im einzelnen Falle von Hämaturie die Erkennung sein, aus welchen
Theilen das Blut stammt. Leicht ist die Herkunft aus der Harnröhre zu con-
statiren, wenn beim Wasserlassen das Blut mit den ersten Portionen abfliesst
und dann ein normal gefärbter Harn folgt. So einfach liegt aber die Sache
in der Regel nicht. Hat man den mit Blut gemischten Urin vor sich, so kann
die mikroskopische Untersuchung noch am meisten Aufklärung über die Blut-
quelle bringen. Blutcylinder, d. h. compacte cylinderförmige Ausgüsse der
Harncanälchen, welche nur aus rothen Blutkörperchen mit etwas Fibrin be-
stehen, sprechen mit Bestimmtheit für Nierenblutungen. Gerinnsel von der Dicke
des Lumens der Harnleiter können vermuthungsweise auf Blutung im Nieren-
*) Vergl. „Diabetes mellitus" (F. Kraus), pag. 396 ds. Bd.
Bibl. med. Wissenschaften. I. Interne Medicin und Kinderkrankheiten.
51
802 HARN.
becken oder den Ureteren bezogen werden. Grössere, klumpige Coagula spre-
chen mehr für Blasenblutung. Gleichzeitige Anwesenheit von Nierenelementen,
insbesondere Cylindern, und eine veränderte Beschaffenheit der Erythrocyten,
welche von längerem Aufenthalt derselben im Harn herrührt, müssen für die
Abstammung des Blutes aus den Meren, frische Blutkörperchen, eventuell auch
die zersetzte Beschaffenheit des Urins und sonstige auf Blasenerkrankung deu-
tende Erscheinungen für die Diagnose „Blasenblutung" verwerthet werden.
Immer ist bei der Difierentialdiagnose vorsichtig abzuwägen. Auch ist nicht
ausser Acht zu lassen, dass bei Nierenkranldieiten Blasenblutungen, bei Blasen-
lorankheiten Nierenblutungen als Combination auftreten können.
Die Ursachen der Hämaturie sind zahllose. Verletzungen können in allen
Theilen des Harnapparats Blutungen verursachen. An den Nieren müssen von
Aussen her wirkende Traumen schon sehr stark sein, an der Urethra können
die leichtesten, z. B. mit dem Katheter, eine Hämorrhagie veranlassen. Von
den N i e r e n erkrankungen können Steine, Tuberculose, Krebs, Eiterungen
häufig zu Hämaturie führen. Die acute Nephritis verläuft fast ausnahmslos
mit Blutaustritt, die bei Scharlach regelmässig (acute hämorrhagische Glome-
rulonephritis). Chronische Nephritiden zeigen die Blutkörperchen seltener
und spärlicher im Sediment. Wichtig sind die Hämaturien durch Ver-
giftungen (Canthariden, Terpentin, ätherische Oele und Balsame etc.). An diese
schliessen sich kleine Blutaustritte an, welche in Folge von Missbrauch unserer
Genussmittel (Alkohol etc.) entstehen können. Weiter kennen wir eine Pteihe
von Allgemeinerkrankungen (Infectionskrankheiten, tropischer Malaria, Scorbut
und verwandter Krankheiten) als Ursache der Hämaturie. Endlich können Para-
siten im Blut, beziehungsweise den Harnorganen, wie die Filaria, Blutungen
bedingen. In der Aetiologie der Blasenblutungen sind vor Allem schwere Cy-
stitis (Diphtherie), Ulcerationen durch Steine, Geschwülste (Krebs, Polypen) zu
nennen. Ausnahmsweise können auch Varicen bersten. Die Urethralblutun-
gen gehören in der Regel gar nicht zur Hämaturie, da das Blut gewöhnlich
direct hervortritt.
Hämoglobinurie. Hämoglobinurie nennt man die Ausscheidung
eines blutrothen bis rothbraunen, selbst schwarzen Harns, in welchem sich
Hämoglobin in gelöstem Zustande befindet. Derselbe gibt daher die
Blutfarbstoffreactionen, sowohl die chemischen, als die spektroskopischen, zeigt
aber keine rothen Blutkörperchen im Sediment oder wenigstens so wenig,
dass sie mit der Farbstoffmenge in keinem Verhältnis stehen. Im Präparat
finden sich in schweren Fällen amorphe, rothbraune Massen oder auch gelb-
liche, zuweilen rosenkranzförmige Hämoglobintröpfchen. Selten sind Hämo-
globinkrystalle gesehen worden. Sonst enthält der Harn Eiweiss. Entweder
besteht eine eigentliche renale Albuminurie mit Cylindern und anderen Zeichen
der Nephritis oder es scheidet sich bei Erhitzen und Säurezusatz nur das
Globulin ab. Uebrigens ist der Blutfarbstoff häufig nicht nur Oxyhämoglobin,
vielmehr, nach Manchen sogar meistens, zumal bei brauner Färbung des Harns,
eine Modification desselben, das Methämoglobin, kenntlich an seinem
Streifen im Ptoth des Spectrums nahe an C.
Ueber die Entstehungsweise der Hämoglobinurie wissen wir etwa
Folgendes: Das durch den regelmässig im Blut stattfindenden Zerfall von Ery-
throcyten freiwerdende Hämoglobin wird in der Leber, wahrscheinlich zu Gallen-
farbstoff, verarbeitet. Wenn aber in Folge irgend einer Ursache dieser Blut-
körperchenzerfall in grossem Maasstabe stattfindet, so kann die Leber die
Mengen nicht bewältigen, das Hämoglobin findet sich gelöst im Blutserum
(Hämoglobinämie) und verlässt dasselbe durch die Nieren (Hämo-
globinurie). Experimentell hat man Hämoglobinurie erzeugt durch Ein-
spritzungen von Wasser, fremdartigem Blut, Eiweiss, gallensauren Salzen,
Kaliumpermanganat, Jod, Aether in die Blutbahn, Galle, Glycerin und zahl-
HARN. 803
reichen Giften ins Gewebe. Auch beim Menschen ist Hämoglobinurie in Folge
von Intoxicationen mit einer Reihe von Blutgiften"^) beobachtet worden, so nach
Schwefelsäure, Schwefel-, Phosphor-, Arsenwasserstoff, chlorsaurem Kali, Phenol,
Naphthol, Pyrogallol, Chinin, Morcheln. Von Krankheiten, bei denen Hämo-
globinurie vorkommt, sind zu nennen: Ausgedehnte Verbrennungen, sogar Aet-
zung mit dem Thermokauter, schwere Infectionskrankheiten (Sepsis, Scharlach,
Wechselfieber, Syphilis). Gegenüber diesen Hämoglobinurien, in welchen die
Entstehungsweise, die Auflösung der Blutkörperchen durch Gifte, beziehungsweise
Toxine, noch ziemlich durchsichtig ist, muss man noch eine Reihe von Fällen,
mangels genauer Einsicht in ihre Pathogenese, als idiopathische Hämo-
globinurien, beziehungsweise Hämoglobinämien unterscheiden. Dahin gehört
aber eigentlich nicht die sogenannte WmcKEL'sche Krankheit*"^) der Neu-
geborenen, bei der es sich jedenfalls um eine noch nicht näher gekannte
Infectionskrankheit handelt, die mit Hämoglobinurie vergesellschaftet ist. Das
sind vielmehr jene Fälle von paroxysmaler oder periodischer Hämo-
globinurie. Die Erscheinung tritt, meist bei ganz gesunden Personen, in
gewöhnlich seltenen, mehr- bis zwölfstündigen Anfällen auf. Es findet sich
während derselben ausser Oxyhämoglobin und Methämoglobin keine wesentliche
Veränderung im Harn, wenn sich der Paroxysmus, wie zuweilen beobachtet
wurde, nicht bei vorher schon nierenkranken Personen zeigt. Auch in den
Zwischenzeiten zwischen den Anfällen ist der Harn normal. Nur dass sich
zuweilen spärliche Cylinder oder rothe Blutzellen oder vorübergehende Albu-
minurie als Zeichen der Nierenreizung durch die Hämoglobinurie finden. In
abortiven Fällen scheint transitorischer Eiweissharn an Stelle der Hämoglobinurie
treten zu können. Die Pathogenese der periodischen Hämoglobinurie ist
noch völlig unaufgeklärt. Die Veranlassung zum Ausbruch der Erscheinung
haben häufig Erkältungen gegeben und zwar nicht die im gewöhnlichen Leben
so genannten, sondern wirklich starke Abkühlungen. Ja, man konnte mit einem
kalten Bad experimentell den Anfall hervorrufen. Weiter waren es Excesse
im Trinken und der Liebe, welche besonders in einem Fall von chronischer
Nephritis jedesmal mit Sicherheit einen Anfall auslösten. Endlich wurden
starke Muskelanstrengungen als Grund der Paroxysmen erkannt. Wie dunkel
das eigentliche Wesen der Krankheit in Wirklichkeit ist, zeigt die merk-
würdige, zuerst von R. Fleischer constatirte Thatsache, class es Fälle gibt,
in welchen nur eine ganz bestimmte Art der Körperanstrengung Hämoglobinurie
macht. Bei derartigen Kranken tritt z. B. nach jedem Marsche die Affection
auf, ist aber durch das anstrengendste Holzhacken etc. ebensowenig, wie durch
die anderen Ursachen, als Abkühlung, chemische Einflüsse etc. zu erzielen.
Die Behandlung dieser eigenthümlichen Krankheit kann nur in Ver-
meidung der speciellen ursächlichen Schädlichkeiten ebenso wie jeder Nieren-
reizung, sowie in möglichster Hebung der Gesammternährung bestehen.
Hydrotliionurie. Hydrothionurie sollte, analog den ähnlich zu-
sammengesetzten Bezeichnungen, nur der Zustand genannt werden, wenn
fertig gebildeter Schwefelwasserstoff durch Diffusion dem Harn beigemischt
wird. Die Entwickelung von Schwefelwasserstoff im Harn selbst geht
unter dem Einfluss von bestimmten Bacterien vor sich und es findet sich das
Material dazu im normalen Secret, besonders in Gestalt der Schwefelverbindungen,
vielleicht auch der unterschwefligsauren, weniger wahrscheinlich der schwefel-
sauren Salze. Am leichtesten entwickelt sich natürlich die Schwefelwasserstofl-
gährung wegen des Schwefelgehaltes der Eiweisskörper in albuminhaltigen Urinen.
Besonders häufig ist daher Schwefelwasserstoff im Urin bei Eiterungen in der
*) Vergl. auch den Artikel „Blutgifte" (H. Dreser) pag. 197 d. ^d.. „Pharmakologie
Wild Toxikologie" der „BibliotheJc'^.
**) Siehe das Stichwort.
51*
804 HARN.
]Si;iere oder Blase (Pyelonepiiritis, Nierentuberculose, Cystitis) beobachtet worden-
Diese Fälle braucht man jedoch nicht als eine eigene Form der Harnausscheidung
zu bezeichnen, da man nicht für jedes zufällig in den Harnorganen sich bildende
Zersetzungsproduct eine besondere Harnform aufstellen kann. Auch der
directe Uebertritt des Schwefelwasserstoffs durch eine Perforation aus dem
Darm oder einer Jauchehöhle in die Harnwege ist jenen Fällen zuzurechnen,
und von der Hydrothionurie im engeren Sinne auszunehmen, da auch bei
dieser Form die Zersetzung des Harns innerhalb des Harnapparates die Haupt-
sache ist und nicht die Anwesenheit des Schwefelwasserstoffes. Zur Unter-
scheidung einer Perforation von einer innerhalb der unverletzten Harnorgane
entstehenden Eiterung mit Zersetzung des Harns ist aber der Schwefelwasser-
stoffnachweis natürlich nicht geeignet. Wenn man wirklich für diese Fälle
den Namen „Hydrothionurie" beibehalten will, so muss man sie als Hydro-
thionurie bei zersetztem Harne abtrennen. Es bleibt nun die Hydro-
thionurie im engeren Sinne, bei unzersetztem Harne übrig. Höhere
Grade dieser Hydrothionurie sind nur selten beobachtet worden. Es waren
Fälle von schweren Darm- und Bauchfellerkrankungen mit so reichlicher
Entwickelung stinkender Gase, dass eine wirkliche Autointoxication stattfand.
Dass freilich der Schwefelwasserstoff in solchen Fällen das einzige Product
jener schweren Processe ist, welche zur Selbstvergiftung führen können, ist
nicht wahrscheinlich. Jedenfalls ist mit Sicherheit anzunehmen, dass das
Gas auf dem Wege der Diffusion, entweder direct durch die Gewebe aus
der Nachbarschaft oder auf dem Umwege durch die Blutbahn in den Harn
gelangt. Eine grössere diagnostische Bedeutung hat die Hydrothionurie noch
nicht bekommen.
Lidicaimrie. Die gesteigerte Ausscheidung des normalen, nur im ge-
sunden Säuglingsurin fehlenden Harnbestandtheils, der Indoxylschwefel-
säure oder des I n d i c a n s bezeichnet man als I n d i c a n u r i e. Sie zeigt sich in
ausgesprochener Weise, wenn irgendwo im Körper eine gesteigerte Eiweiss-
fäulnis stattfindet. Den Ort, wo dieselbe vor sich geht, kann sie natürlich
nicht angeben. Es ist daher die Indicanurie für die Erkennung von jauchigen
Abscessen (Pleura-empyemen, jauchigen Peritonitiden etc.) nur mit Vorsicht zu
verwerthen, da sie auch bei Kothstauung mit Zersetzungsvorgängen in starker
Weise vorhanden sein kann. Das in solchen Fäulnisherden gebildete Indol
wird im Körper zu Indoxyl oxydirt und im Harn als Indoxylschwefelsäure
ausgeschieden. Erkannt wird das Indican mit Keactionen, welche auf seine
Spaltung und die Abscheidung von Indigohlau gerichtet sind. Fertiges Indigo
in Form von blauen Krystallen und Bruchstücken wird zuweilen in ammonia-
kalischen Harnen gefunden. Auch der Nachweis von Lidigoroth (burgunderrothe
Urinfärbung 0. Kosenbach's) ist wohl nichts weiter als eine Indicanreaction.
Eine grössere diagnostische Bedeutung kommt der Indicanurie wegen der Mehr-
deutigkeit der Symptome nicht zu. Auch ist die Abschätzung, ob es sich um
eine wirkliche krankhafte Indicanurie handelt, bei blosser Anwendung der in
der Praxis allein möglichen qualitativen Proben nicht ganz leicht. Doch wird
man gut thun, in schwierigen Fällen, zumal wenn es sich um chirurgische
Eingriffe handelt, eventuell auch die Indicanurie in das Bereich der Erwägungen
zu ziehen.
Laktosurie, siehe „GhjJcosurie" pag. 800.
Leuciniirie. Von einer Leucinurie, als der Ausscheidung von
Leu ein in Form der bekannten Kugeln kann man sehr wohl sprechen, ob-
wohl der Name nicht gerade gebräuchlich ist. Das Gleiche gilt von der
Tyrosinurie, der Ausscheidung des Tyrosins in Gestalt von Nadelbüscheln.
Beide Producte der Eiweisszersetzung und Pancreasverdauung sind im Harn bei
acuter gelber Leberatrophie und Phosphorvergiftung, sowie auch zuweilen bei
Leukämie und schweren Infectionskrankheiten gefunden worden. Als Vor-
HARN. 805
stufen des Harnstoffes ist ihr Auftreten ein Zeichen, das die Harnstoffbildung,
besonders in der Leber beschränkt oder aufgehoben ist, weshalb auch in der
Regel die Harnstoffausscheidung beträchtlich vermindert ist. Uebrigens soll
man nicht allein auf die Anwesenheit der Leucinkugeln und Tyrosinnadeln hin
ohne Weiteres Leucinurie und Tyrosinurie annehmen, da diese Formen viel-
deutig sind, sondern immer die Identität durch zuverlässige chemische Reactionen
erhärten.
Levulosiirie, siehe ^^Glykosurie" pag 800.
Lipacidiirie. Der Name Lipacidurie ist der Ausscheidung von
flüchtigen Fettsäuren gegeben worden. Dieselben finden sich im nor-
malen Harn in Spuren und können aus demselben in grösseren Mengen unter
der Einwirkung oxydirender Substanzen oder bei der ammoniakalischen Gährung
gewonnen werden. Im frischen Harne kommen sie beim Fieber, bei schweren
Leberleiden und im Diabetes vor. Nachgewiesen sind Ameisen-, Essig-,
Butter- und Propionsäure. Eine diagnostische Bedeutung besitzt die
Lipacidurie bis jetzt nicht. Dagegen ist die ß-Oxybutter säur e von Wichtig-
keit für die Beurtheilung des Verlaufs der Zuckerruhr. Dieselbe wurde
in gewissen Fällen von Diabetes, ebenso wie im Blut, so auch im Harn und
zwar in grossen Mengen, bis zu 226 ^r in 24 Stunden, nachgewiesen. Da
diese grossen Mengen von Oxybuttersäure besonders vor oder mit dem diabe-
tischen Coma auftreten, so werden sie in ätiologischen Zusammenhang mit
diesem gebracht und dasselbe als eine Säureintoxication des Blutes aufgefasst.
Für viele Fälle muss diese Auffassung gegenwärtig als die richtige angesehen
werden. Doch darf nicht verschwiegen werden, dass es auch Fälle von Coma
ohne verminderte Blutalkalescenz gibt, sowie solche, in denen auch die durch
Alkalizufuhr erreichte Alkalisirung des Harns den tödtlichen Ausgang nicht auf-
hielt. Es muss demnach auch ausser der Oxybuttersäureanhäufung noch andere
Ursachen des diabetischen Comas geben.
Lipurie. Wenn Fett, welches im normalen menschlichen Harn nicht vor-
kommt, in Form von mikroskopischen Kügelchen, feinsten Tröpfchen, Nadeln oder
endlich als allerfeinste Emulsion im Urin auftritt, so sprechen wir von Lipurie.
Eine besondere Form derselben, bei der Eiweiss und Fett zusammen erscheint,
liaben wir als Chylurie (s. d.) bereits besprochen. Eigentliche Lipurie ist
gefunden worden: bei Verfettung der Nieren bei Nephritis und bei Phosphor-
vergiftung, auch bei Kohlenoxydintoxication; ferner bei zahlreichen Personen
in Folge von Phthisis, Carcinom, Leberkrankheiten; weiter bei Verletzungen
der Knochen (Brüchen und Operationen) oder anderer fettreicher Gewebe, sowie
bei Osteomyelitis; endlich unter physiologischen Verhältnissen bei Schwangeren.
Einen diagnostischen Werth hat die Lipurie noch nicht erlangt.
Melaiiiirie. Unter Melanurie versteht man die Ausscheidung des
Melanins, eines schwarzen Farbstoffes in Lösung, viel seltener in Form dunkler
Pigmentkörnchen oder des Melanogens, eines Chromogens, welches bei
längerem Stehen des Harns oder durch oxydirende Substanzen (z. B. Eisenchlorid,
Kaliumbichromat und Schwefelsäure etc.) in Melanin übergeführt wird. Die
Melanurie findet sich häufig, aber nicht immer, bei Pigmentgeschwülsten,
kann aber ausnahmsweise auch bei anderen Krebsen, Marasmus und Entzündungs-
processen vorkommen. Ihr Bestehen ist daher kein sicheres Zeichen für Pigment-
tumoren, ebenso wie ihr Fehlen nicht mit Bestimmtheit gegen die Annahme
solcher Geschwülste spricht. Doch kann man den Nachweis des Melanins sehr
wohl zur Diagnose verwerthen, wenn sonstige Zeichen die Annahme jener
malignen Neubilduugen wahrscheinlich machen.
Oxalurie. Der Name Oxalurie kommt nur der über das gewöhnliche
oder von der Pflanzennahrung abhängige Maass (physiologische Oxalurie)
806 HARN.
hinausgehenden Oxalsäureausscheidung zu. Dieselbe kann daher nur durch
quantitative Bestimmung der Säure erkannt werden. Man unterscheidet
zweckmässig drei Formen von pathologischer Oxalurie. 1. Die acci-
dentelle Oxalurie. Diese kann sich zu den verschiedensten acuten und
chronischen Erkrankungen, meist vorübergehend, hinzugesellen. So ist dieselbe
mit Sicherheit in der Reconvalescenz von Typhus und Gelenkrheumatismus,
bei Magen- und Darraerkrankungen, Icterus, Blasenkatarrh und transitorischer
Albuminurie gefunden worden. 2. Die vi cariirende Oxalurie. Sie zeigt sich
im Alterniren mit der Zuckerausscheidung beim Diabetes, dergestalt, dass
erhöhte Oxalurie mit verminderter Glykosurie und umgekehrt einhergeht. Es
ist übrigens ein seltenes Vorkommnis. 3. Die idiopathische Oxalurie (Oxal-
säure Diathese, oxalsaurer Diabetes). Obwohl diese Form als eigene Krank-
heit nicht allseitig anerkannt ist, so scheint es doch nach verschiedenen Au-
toren sicher Fälle zu geben, in welchen bei subjectiven Beschwerden, Polyurie
und Abmagerung als einzige Ursache erhöhter Oxalsäureausscheidung zu fin-
den ist und in denen man eine Stoffwechselkrankheit annehmen muss. Harn-
steine aus oxalsaurem Kalk lassen übrigens nicht ohne Weiteres den Schluss
auf Oxalurie zu, ebensowenig wie eine Oxalurie immer zu Kalkoxalatsteinen
führen muss.
Die Entstehung der Oxalurie, sofern die Oxalsäure nicht zugeführt, son-
dern im Körper gebildet wird (Oxalämie), beruht höchstwahrscheinlich auf
einer unvollkommenen Oxydation der Kohlenhydrate der Nahrang, eine Auf-
fassung, welche mit allen drei klinischen Formen der Oxalurie im Einklang steht.
Die klinische Bedeutung der Oxalurie ist daher zweifellos. Nur ist zu be-
dauern, dass dieselbe, mangels einer bequemen diagnostischen Methode, noch
nicht die gebührende Anerkennung in der ärztlichen Praxis gefunden hat.
Peptoimrie. Die Ausscheidung des in der Siedehitze, sowie bei Essig-
säure- und Ferrocyankalium-Zusatz nicht, dagegen mit Phosphorwolframsäure
etc. coagulirenden Eiweisskörpers, des Peptons, nennt man Peptonurie.
Dieselbe kann ohne und neben Albuminurie bestehen. Im Harn des Ge-
sunden fehlt Pepton sicher. Dagegen soll es, wie es scheint, jedoch nicht
constant, bei einem physiologischen Zustand vorkommen, nämlich im Puer-
perium (puerperale Peptonurie). Aus der Nahrung soll das Pepton nur in
den Harn übergehen können, wenn es von Geschwüren des Darms aus resorbirt
wird (enter ogene Peptonurie). Auch bei Scorbut ist Peptonurie beobachtet
und daraus eine hämat ogene Form construirt worden. Die charakteri-
stischeste und wichtigste Art der Peptonurie ist die py ogene. Man findet,
wenn auch nicht immer, so doch häufig Pepton im Harn, wenn im Körper
eine Anhäufung und Zerfall von Leucocyten statthat, so in der Lösung der
Pneumonie, bei Pleuraempyemen, eitriger Meningitis, eitriger Lungentuber-
culose und sonstigen Eiterungen. Es wird', wie es scheint, das aus dem Zer-
fall des Eiters hervorgehende Pepton durch den Harn ausgeschieden. Durch
Nephritis und Circulationsstörungen in den Nieren soll Pepton nie in
Harn gelangen, auch wenn es neben Serumalbumin in demselben erscheint.
Im Allgemeinen muss zugegeben werden, dass in der ganzen Lehre von der
Peptonurie noch vieles unaufgeklärt ist. Auch ist der sichere Nachweis der
Peptonurie im Harn noch nicht so vereinfacht, dass derselbe in die tägliche
Praxis eingeführt werden könnte. Daher kann das Symptom der Hauptsache
nach nur in besonderen Fällen, wenn es sich darum handelt, die Vermuthung
eines versteckten Eiterungsprocesses im Körper zu erhärten, klinisch verwerthet
werden.
Tyrosinurie, vgl. „Leucinurie" pag. 804.
Urobilinurie, s. „Cholurie" pag. 799.
HARN. 807
n. Verhalten des Harns bei den hauptsächlichsten Krankheitsformen.
1. Krankheiten der Nieren.
Den Nierenentzündungen ist die Ausscheidung von Eiweiss und von
Formbestandtheilen (Cylindern, Epithelien) aus den Nieren gemeinsam. Bei
den einzelnen Formen ist das Verhalten des Harns wieder verschieden. Wir
unterscheiden die acute und die chronische Nephritis und versuchen
die Harnsymptomatologie der letzteren, wenigstens für die ausgesprochenen
Fälle, nach den beiden Formen, der sogenannten chronischen parenchymatösen
Nephritis und der chronischen interstitiellen oder Schrumpfniere ausein-
ander zu halten.
Acute Nephritis. Die Harnmenge ist spärlich bei hohem specifischen
Gewicht (zuweilen besteht zeitweise Anurie, wie im urämischen Anfall) und
wird erst reichlicher gegen die Heilung hin. Dabei ist der Harn gewöhnlich
trübe und zeigt in der Regel blutige Beschaffenheit in allen Nuancen von
Fleischwasser- bis schwarzbrauner Farbe. Albuminurie besteht fast ausnahmslos.
Doch mag es leichte Fälle und Anfangsstadien ohne Eiweiss geben. Im Se-
diment finden sich: rothe und weisse Blutkörperchen, hyaline, mit weissen oder
rothen Blutkörperchen oder verfetteten Epithelien besetzte oder gekörnte
oder reine Blut-Cylinder, sowie kleine, runde, verfettete Nierenepi-
thelien.
Chronische parenchymatöse Nephritis. Die Harnmenge ist gewöhnlich
gering oder normal, der Eiweissgehalt ist constant und hoch. Im Bodensatz
finden sich Leucocyten, hyaline und dunkelgekörnte, zuweilen auch gelbliche,
wachsartig glänzende Cylinder, verfettete Nierenepithelien, rothe Blut-
körperchen nur bei acuten Steigerungen.
Schrumpfniere. Meistens ist das Harnvolumen sehr beträchtlich erhöht
(3000, 4000 und mehr) bei blasser Farbe, niedrigem specifischen Gewicht und
geringer Eiweissmenge. Das Eiweiss kann nur in Spuren vorhanden sein
und ausnahmsweise zuweilen ganz fehlen. Das Sediment ist ebenfalls spärlich
und enthält vereinzelte, vorzugsweise hyaline Cylinder. Abweichungen von
diesem Verhalten kommen jedoch vor. Insbesondere ist bei Compensations-
störungen und vor dem urämischen Anfall die Harnmenge gering. Die tägliche
Harnstoff-, Harn-Schwefel- und Phosphorsäuremenge ist in der Regel herab-
gesetzt, in der Urämie besonders stark.
Amyloidniere. Bestimmte Normen über das Verhalten des Harns sind
nicht zu geben, zumal das Amyloid so häufig mit chronischer Nephritis ver-
gesellschaftet ist. Bei der reinen Amyloidniere hat man ziemlich normale
Menge und specifisches Gewicht, blasse und klare Beschaffenheit, wenig Se-
diment und spärliche hyaline Cylinder, reichliches Eiweiss oder völlig oder
zeitweise fehlende Albuminurie beobachtet. Die sogenannten AmyloTdcylinder,
welche die Jod-Schwefelsäure-Reaction geben, sind nicht charakteristisch, weder
bei positivem, noch bei negativem Ausfall der Probe.
Stauung sniere. Der „Stauungsharn" ist concentrirt, dunkel, hoch-
gestellt, sauer, mit starker Ausscheidung von harnsauren Salzen, mittlerem,
geringem oder fehlendem Eiweissgehalt und verliert diese Eigenschaften bei
Verbesserung der Herzthätigkeit. Die starke Concentration des Stauungsharns
hängt von der verminderten Wasserfiltration infolge des gesunkenen arteriellen
Druckes ab, während die Eiweissausscheidung wahrscheinlich die Folge der
auf die langsamere Blutströmung eintretenden mangelhaften Ernährung der
Nierenepithelien ist.
Eitrige Nephritis und Pyelonephritis. Das Verhalten des Harns ist
in den reinen Fällen oder den mit Pyelitis vergesellschafteten wenig charak-
teristisch. Gewöhnlich noch sauere Reaction, Eiweissgehalt (zuweilen fehlend),
808 HARN
Cylinder und Epithelien mit grösserer oder geringerer Constanz, Eiterzellen,
bei Durchbrucli von Abscessen ins Nierenbecken besonders reichlich.
Nierentuberculose. Bei der iilcerirenden Form findet sich Eiter regel-
mässig, Blut ab und zu und gewöhnlich auch Tuberkelbacillen, selten bröck-
liche, kä-sige Massen, Elemente, welche bei der miliaren Tuberculose fehlen
oder nur vereinzelt vorkommen. Das Gleiche gilt von der Tuberculose der
übrigen Harnorgane.
2. Erkrankungen der Harnwege.
Pi/elitis calculosa. Im Schmerzanfall führt der Harn bei sauerer Reaction
Eiter-, auch wohl Blutzellen, sowie nicht selten kleinere und grössere Con-
cremente (aus Harnsäure, Uraten oder Oxalaten), und immer Schleim. Die
dachziegelartig angeordneten Epithelien sind nicht, wie man früher annahm,
für das Nierenbecken charakteristisch. Für den Sitz der Affection im Nieren-
becken ist die auf Betheiligung der Niere deutende Anwesenheit von Cylindern
und cylindrischen Eiterpfropfen, sowie die wechselnde, zeitweilig normale Be-
schaffenheit des Harns bei Verstopfung des Ureters der kranken Seite zu ver-
werthen. Denn bei der infolge des Ureterverschlusses entstehenden Hijdro-
nephrose, ist der Harn, der, solange der Verschluss dauert, aus der gesunden,
vicariirenden Niere stammt, normal und wird erst bei erneuter Durchgängigkeit
wieder pathologisch.
Ci/stitis. Bei den leichteren Formen ist der Harn blass, schwach sauer
oder neutral, trüb und enthält Schleim und Eiter, zeigt jedoch nach der Fil-
tration kein Eiweiss, oder höchstens Spuren. In schweren Fällen reagirt der
Harn meist alkalisch, ist schmutzig gelb bis braunroth gefärbt, führt reichlich
Bacterien, Schleim, Eiter, Blut und eventuell Gewebsfetzen und bei alkalischer
Reaction Krystalle von phosphorsaurer Ammoniakmagnesia, sowie harnsaurem
Ammoniak, bei starkem Geruch nach Ammoniak und eventuell Schwefel-
wasserstoff.
Blasensteine und Blasengeschivälste bieten gewöhnlich das Harnbild
der Cystitis. Doch können sich auch im Urin zuweilen erstere in Form von
Steinfragmenten, letztere in Gestalt von charakteristischen Geschwulstelementen
documentiren.
Urethritis gonorrhoica. Besonders auf die chronische Form kann die
Aufmerksamkeit durch die sogenannten T r i p p e r f ä d e n, Schleimfäden, welche
im Harn schwimmen, sowie durch liyalin entartete Epithelien im Bodensatz
gelenkt werden. Die Diagnose durch Nachweis der Gonococcen wird man wohl
am besten im Harnröhren-Secret direct zu stellen suchen.
3. Krankheiten der Circulations- und Respirationsorgane.
Die wesentlichste Form der Harnveränderung, welche bei den primären
Herzkrankheiten (Klappenfehlern, Myocarditis, Herzmuskeldilatation, Peri-
carditis) sowohl, als auch bei den secundären Herzmuskel Störungen,
welche Krankheiten der Lungen begleiten, in Folge von Schwäche der Herz-
thätigkeit auftritt, wurde als „Stauungsharn" bei der Stauungsniere bereits
erwähnt. Dass man neben der concentrirten Beschaffenheit und der Albumi-
nurie auch häufig Cylinder und Nierenelemente findet, hat wohl darin seinen
Grund, dass Complicationen mit Nephritis häufig und Uebergänge zu derselben
in allen Graden möglich sind. Die speciell bei der Endocarditis, acuten wie
chronischen, einfachen und septischen nicht selten vorkommenden hämorrha-
gischen Infarcte der Niere geben zum Auftreten von Blut im Harn Veran-
lassung.
Bei den Bespirationskrankheiten kommt ausser der Stauung als wei-
teres Moment für den Harn der Sauerstoffmangel, die Dyspnoe, in Betracht.
HARN. 809
Dieselbe bedingt mit stärkerem Eiweisszerfall eine Steigerung der Stickstoff-,
Harnsäure- und Phosphorsäureausfuhr mit dem Harn,
Fibrinöse Fneumonie. Die Stickstoffausscheidung, ebenso die Schwefel-
säure und meistens die Phosphorsäure, sowie das Kalium und Ammoniak ist
auf der Höhe der Krankheit vermehrt, der Wassergehalt, bei reichlichem
Uratsediment, die Chlorausfuhr sowie das Natrium vermindert. Nach der Krise
verhalten sich die Stoffe umgekehrt, nur dass der Stickstoff noch einige Zeit hoch
bleibt. Albuminurie ist während der Acme häufig und beruht zuweilen auf
ausgesprochener, wahrscheinlich aber auch sonst oft auf leichter Entzündung
des Nierengewebes. Peptonurie ist häufig.
Exsudative Pleuritis. Während der Entwickelung des Exsudats ist
die Harnmenge und die Kochsalzzahl vermindert, umgekehrt nach der Ent-
leerung oder bei rascher Kesorption des Ergusses. Bei Empyemen hat man
Pepton, bei jauchigen Empyemen (wie auch bei putriden Processen in den
Bronchien) Phenol und Indican nachgewiesen.
Lungentuberculose. Bei Phthisikern zeigt der Urin ein sehr ver-
schiedenes Verhalten, wie es bei der ausserordentlich verschiedenen Schwere
des Verlaufs und den concurrirenden zahlreichen Einflüssen (Fieber, Schweiss,
Diarrhoeen, Cachexie etc.) nicht zu verwundern ist. Es ist daher unmöglich,
ein Harnbild bei der Phthise zu entwerfen.
4. Krankheiten des Verdaiumgsapparates.
Bestimmte und charakteristische Formen der Harnausscheidung liefern
die Krankheiten des Magen-Darmcanals nicht, obwohl sie naturgemäss die-
selbe beeinflussen müssen. Mehr ist dies bei den Krankheiten der Leber der
Fall. Erstere sollen daher nur im Allgemeinen besprochen werden.
Magen- und Darmkrankheiten. Die Abhängigkeitsbeziehungen der sau-
ren Reaction des Urins zu dem sauren Magensaft zeigen sich in der Ab-
nahme der sauren Harnbeschaffenheit, beziehungsweise in dem Alkalisch-
werden desselben nach häufigem Erbrechen, wiederholter Ausspülung des
Magens, sowie Alkalisirung des Inhalts. Die Harnmenge nimmt ab mit der
Abnahme der Resorption in dem Darmcanal, wie z. B. bei Magener Weite-
rung, bei Durchfällen und Verschliessungen des Darms. Die man-
gelnde Aufsaugungsthätigkeit führt zur Inanition und deshalb einer Abnahme
der absoluten Harnstoff'menge, beziehungsweise der andern Producte der Ei-
weisszersetzung (Schwefelsäure etc.). Geschwür ige Processe im Magen und
Darm (wie z. B. ulcerirende Magencarcinome) führen zur Peptonurie. Erhöhte
Eiweissfäulnis im Darm (bei Koprostasen und Darmverschluss)
gibt Veranlassung zu vermehrter Indicanausscheidung.
Peritonitis. Bei eitrigen, resp. jauchigen Bauchfellentzündungen
besteht fast regelmässig Indicanurie. Auch der Phenolgehalt wurde vermehrt
gefunden. Wenn Darmgase in den Peritonealraum gelangen, kann auch
Schwefelwasserstoff mit dem Harn entleert werden.
Die Krankheiten der Leber haben wegen der Bedeutung dieser
mächtigen Drüse für den Stoffwechsel sowohl, als besonders wegen des Ueber-
tritts ihres Secrets wesentliche Veränderungen in der Harnausscheidung im
Gefolge.
Lehercirrhose. Die Wasserabscheidung ist, zumal bei Ascites und der
durch den Druck desselben auf die Cava bedingten verminderten Strömungs-
geschwindigkeit in den Nierengefässen verringert. Der spärliche Harn ist
röthlichbraun und enthält zuweilen wenig Gallenfarbstoff', immer aber reich-
lich Urobilin. Die Harnstoffmenge ist kleiner, das Ammoniak einmal ver-
mehrt gefunden worden. Albuminurie, wahrscheinlich wegen der Com-
plication mit Nephritis, sowie Glykosurie kommen zuweilen vor, letztere
810 HARN.
ist auch durch Darreichung von Traubenzucker öfters absichtlich hervorgerufen
worden.
Leberabscess und eitrige Pylephlebitis. Hier wird in Folge des
begleitenden Fiebers Fieberharn oder in Folge eines concomittirenden Icte-
rus icterischer Harn beobachtet. Bricht zufällig ein Abscess in das Nieren-
becken durch, so erscheinen Eiter und Gewebsfetzen im Urin.
Leberkrebs. Charakteristische Erscheinungen zeigt der Urin nicht.
Gallenfarbstoff ist, bei Verschluss der Gallenausführungsgänge durch den
Tumor, nicht selten, Albuminurie dagegen nicht häufig. Bei Carcinoma me
lanodes findet sich Melanurie.
Leber echinococcus. Ohne charakteristische Veränderungen.
Acute gelbe Leber atrophie. Die prägnanten Erscheinungen sind :
Meist Oligurie (Polyurie ganz ausnahmsweise), Cholurie (nur selten fehlend)
und Gallensäuren, Abnahme bis Verschwinden des Harnstoffs, an dessen Stelle
Leucin und Tyrosin auftreten, Verminderung der Chloride, der Phosphorsäure,
Auftreten von Fleischmilchsäure, Oxymandelsäure etc. Das Zugrundegehen
der Leberzellen äussert sich in Verringerung bis vollständigem Aufhören der
Harnstoftbildung und Auftreten der intermediären Spaltungsproducte, Leucin
und Tyrosin im. Harn.
Icterus durch Verschluss der Gallemvege. Völliger, vorübergehender
oder dauernder Verschluss des Ductus choledochus oder hepaticus (Icterus
catarrhalis, Gallensteine, Tumoren etc.) führt zu Cholurie, gewöhnlich als
Bilirubinurie. Die Gallenbestandtheile, wie es scheint, vor allem die Gallen-
säuren können die Nierenepithelien krank machen. Es treten daher Cylinder
(auch ausser den Gallenfarbstoffcylindern), verfettete Epithelien und Eiweiss
im Urin auf.
Tancreaskrankheiten. Die bei Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse
(Atrophie, Verfettung, Cysten) in ungefähr der Hälfte der Fälle be-
obachtete Glykosurie, hat durch den experimentell vermittelst totaler Pan-
creasexstirpation erzeugten Diabetes neue pathogenetische Bedeutung ge-
wonnen. Complication mit icterischer Beschaffenheit des Harns ist nach der
anatomischen Lage der Ausführungsgänge von Pancreas und Leber begreif-
licherweise nicht selten.
Milzkrankheiten. Von der Leukämie (s. diese) abgesehen, verändern
die Krankheiten der Milz den Urin nicht in besonderer Weise. Es seien nur
die seltenen Fälle von Melanämie erwähnt, welche zu Melanurie (Schollen
im Harn) und zu Verstopfung der Nierengefässe mit Pigmentschollen und
nachfolgender Albuminurie und Hämaturie geführt haben.
5. Krankheiten des Nervensystems.
Durch Erkrankungen des Nervensystems können bestimmte Urinverände-
rungen, wie Glykosurie mit Polyurie, einfache Polyurie, Albuminurie, hervor-
gerufen werden. Ueber das Verhalten der Phosphorsäure wegen der Lecithin-
Zersetzung im Gehirn ist viel gestritten worden. Besonders kommen die
Hirnkrankheiten für das Urinbild in Betracht.
Gehirnerkrankungen am vierten Ventrikel. Glykosurie, gewöhnlich mit
Polyurie (cerebraler Diabetes) wurde beobachtet bei Tumoren, Hämor-
rhagien, Atrophien und Erweichungen in der Medulla oblongata oder auch
im Kleinhirn. Bei der gleichen Art und dem gleichen Sitz der Erkrankungen
kam es aber auch zu Polyurie allein (cerebraler Diabetes insipidus).
Rirnhämorrhagie. Auch Blutungen an anderen Stellen des Gehirns
als die Medulla oder deren Nähe können zu Glykosurie und Polyurie, sowie
auch zu Albuminurie führen und thun es unmittelbar nach dem Anfall in vor-
übergehender Weise ziemlich häufig.
HARN. 811
Meningitis. Die Resultate der Harnuntersuchung bei den verschiedenen
Formen der Meningitis sind nicht übereinstimmend. Polyurie, Glykosurie und
Albuminurie sind öfter, besonders bei der epidemischen Cerebrospinal-
meningitis gesehen worden. In einem Falle war die an organische Sub-
stanz gebundene Phosphorsäure erhöht,
Geisteskrankheiten. Ein prägnantes Harnbild hat sich bei keiner psy-
chischen Erkrankung ergeben. Auch die Untersuchung der relativen Plios-
phorsäureausscheidung, interessant wegen der Frage der Lecithin-Zersetzung
im Gehirn, hat zu keinem übereinstimmenden Ergebnis geführt.
RückenmarkskrankJieiten. Der Harn bietet nichts Charakteristisches, von
den häufigen Complicationen mit Cystitis und den für diese pathogenetischen
Veränderung abgesehen.
Krampfzustände. Albuminurie ist ein häufiges, doch nicht constantes
auf den Anfall folgendes Symptom der Epilepsie. Zucker kommt vor, aber
seltener. Chorea führt nicht, wie man erwartet hatte, zur Erhöhung der
Stickstoffausfuhr mit dem Harn und nur zuweilen zu Albuminurie. Selbst die
enormen Muskelkrämpfe eines an Quecksilberintoxication Leidenden
bewirkten keine Erhöhung des Harnstoffs und Abnahme der absoluten, wie
relativen Phosphorsäure. Auch beim Tetanus konnte keine Erhöhung der
Stickstoffausfuhr bewiesen werden. Albuminurie und Melliturie traten ver-
einzelt auf.
6. Krankheiten der Haut.
Trotz der vielfachen physiologischen Wechselbeziehungen zwischen Hau;
und Nieren lehrt uns die Dermatopathologie keine eigentlichen charakteristi-
schen Harnbilder. Es sollen daher nur einzelne Beobachtungen Erwähnung
finden: Die Abnahme des Harnstoffs bei Lepra und in schweren Fällen von
Pemphigus; bei letzterem auch Abnahme der Chloride, sowie Hinzutreten
von Eiweiss und Blut; Albuminurie bei vielen Hautkrankheiten (Sc lerem,
Urticaria etc.); Glykosurie, auch mit Polyurie bei Sclerem.
7. Infectionskrankheiten.
Für die Mehrzahl der Infectionskrankheiten, die fieberhaften, ist diejenige
Veränderung des Harns am meisten maassgebend, welche durch den Fieber-
process bedingt ist.
Der Fi eher harn ist zunächst in der grössten Mehrzahl der Fälle in
seiner Menge vermindert, was von der reichlicheren Wasserabgabe durch Haut
und Lungen in erster Linie, dann auch von der verringerten Wasserfiltration
in Folge des Sinkens von Blutdruck und Blutgeschwindigkeit herrührt. Dem-
entsprechend ist auch seine Farbe dunkelgelb bis dunkelroth, was aber nicht
allein von der stärkeren Concentration, sondern auch von der stärkeren Bildung
des Urobilins aus zersetztem Blutfarbstoff abhängen mag. Die Ausscheidung
von Uraten (rothes Sediment) ist hauptsächlich Folge der Wasserarmut.
Die Reaction ist ziemlich stark sauer. Die Dichte ist erhöht, was in der
Hauptsache durch die Erhöhung des Harnstoffs bedingt ist. Die vermehrte
Harnstoff-, beziehungsweise Stickstoff- Ausscheidung im Fieber verdankt ihre
Entstehung dem stärkeren Zerfall des Eiweisses in den das
Fieber bedingenden Krankheitsprocessen. Harnsäure, Kreatinin
und Ammoniak sind auch erhöht gefunden worden. Die Phosphorsäure ist im
Verhältnis zum Stickstoff im Fieber vermindert, dagegen in der Reconvales-
cenz gesteigert, während sich die Schwefelsäure eher umgekehrt verhält. Das
Chlor ist im Fieber vermindert. Kalium wird während des Fiebers, Natrium
in der Reconvalescenz mehr ausgeschieden.
Eine sehr häufige Erscheinung ist die febrile Albuminurie, das Auf-
treten von geringen Eiweissmengen bei hohem und anhaltendem Fieber. Der
812 HARN.
Hauptsache nach ist diese nicht von dem Verhalten des Blutdrucks, sondern
von dem schädlichen Einfluss der bei den Infectionskrankheiten im Blute
kreisenden Organismen und Stoffe auf die Nierenepithelien abhängig. In der
That findet man auch häufig bei diesen leichten Graden Cylinder und Epi-
thelien im Sediment. Ueberdies ist das Auftreten echter acuter Nephritis
bei zahlreichen Infectionskrankheiten hinlänglich bekannt. Scharlach, Ery-
sipelas, Pocken, Diphtherie, Typhus, Cholera compliciren sich be-
sonders häufig damit. Während das Auftreten derselben bei den meisten In-
fectionskrankheiten, ebenso wie das der sogenannten febrilen Albuminurie mit
der Höhe des Verlaufs und des Fiebers zusammenfällt; ist die eigentliche
Nephritis bei Scharlach eine Nachkrankheit. Bei Scharlach geht die Nephri-
tis fast ausnahmslos mit Hämaturie (acute hämorrhagische Nephritis), während
bei den andern Infectionskrankheiten der Blutgehalt wechselnd ist, bei Diph-
therie nach meinen Beobachtungen sogar meist zu fehlen scheint. Hämoglo-
binurie ist in schweren Fällen von Scharlach, Diphtherie und Typhus constatirt
worden. Zucker ist verhältnismässig selten bei den Infectionskrankheiten.
Dagegen gibt es eine febrile Acetonuriebei den acuten, infectiösen Pro-
cessen. In schweren Fällen und bei Kindern trifft man auch zuweilen Diace-
turie (Eisenchloridreaction). Sehr häufig constatirt man auch in febrilen In-
fectionen die EHELicn'sChe Pteaction mit Diazobenzolsulfosäure, besonders bei
hohem und anhaltendem Fieber. Wenn auch richtig ist, dass dieselbe in
manchen Krankheiten, so bei Typhus, Cerebrospinalmeningitis häufiger und aus-
gesprochener ist als in anderen, so kommt der Diazoreaction doch eine erheb-
liche Bedeutung in der Differential-Diagnose fieberhafter Krankheiten nicht zu.
8. Blut- und Stoffwechselkrankheiten.
Begreiflicherweise finden sich in dieser Krankheitsgruppe einige besonders
charakteristische Anomalien des die Stoffwechselproducte ausführenden Secrets.
Doch bestehen auch noch vielfache, wesentliche Lücken unserer Kenntnisse
über die Harnabscheidung.
Anämie. Bei leichterer Anämie ist der Harn blass, reichlich und
enthält normale oder geringere Harnstoffmengen. In den schweren Formen,
der perniciösen Anämie, ist der Harn gewöhnlich spärlich, dunkel und reich
an Stickstoff, jedenfalls mehr als der Zufuhr entspricht. Albuminurie ist
ziemlich häufig, doch gering und in ihrem Auftreten wechselnd, z. B. bei
Körperanstrengung erscheinend.
Leukämie. Constant ist die Harnsäure erhöht und zwar absolut, so wie
im Verhältnis zum Harnstoff, was sich aus der oft reichlichen Abscheidung
von Krystallen reiner Harnsäure vermuthen lässt. Der Harnstoff", bezw. Ge-
sammtstickstoff ist in schweren Fällen ebenfalls zweifellos vermehrt, des-
gleichen Phosphor- und Schwefelsäure. Eiweiss und zuweilen Blut kommt
vor, ebenso reichlich Mucin. Von besonderen Stoffen ist Milchsäure und
Hypoxanthin zu nennen.
Hämorrhagische Diathesen. Von charakteristischen Harnbildernbei Hämo-
philie, Morbus maculosus, Scorbut etc. ist noch nicht die Piede. In
der WERLHOF'schen Krankheit ist Hämaturie ein häufiges, manchmal sogar ein
Hauptsymptom. Für den Scorbut, für den die Kali- Ausscheidung von pathogene-
tischem Interesse ist, ist diese gewöhnlich vermindert gefunden worden. In
schweren Fällen wurde Peptonurie constatirt.
Gicht. Bei der Arthritis urica interessirt, wie schon der Beiname
andeutet, in erster Linie die Harnsäure. In der anfallsfreien Zeit soll die
„Ausscheidbarkeit" erleichtert sein, es soll aber weniger, jedoch diese als
freie Harnsäure, in den Anfällen mehr und zwar als harnsaure Salze aus-
geschieden werden. Am meisten findet im Anfall eine Aufsaugung abgelagerter
Mengen von Harnsäure statt. Die Phosphorsäure wurde vermindert gefunden.
HAKN 813
Albuminurie ist häufig, da chronische Nierenentzündung eine häufige Folge der
Gicht ist.
Gelenkrheumatismus. Typische Harnveränderungen bei acutem und
chronischem Gelenkrheumatismus fehlen. Bei Ersteren beruht das reich-
liche ziegelmehlfarbene Uratsediment auf der Concentration des Harns (Fieber,
Schweisse) und der stark sauren Reaction.
Rhachitis und Osteomalacie. Die nach dem Wesen dieser Krankheiten
erwarteten Verhältnisse der Kalk- und Magnesia- Ausscheidung haben sich bei
wiederholten Untersuchungen nicht eindeutig herausgestellt. Wahrscheinlich
ist es bei beiden Krankheiten so, dass je nach dem Fortschreiten oder Sistiren
des Processes, die Ausfuhr der Erden im Harn steigt oder sinkt. Eine Zunahme
der Milchsäure wurde gefunden, ist aber noch nicht sicher. Bei Osteomalacie
tritt Albumosurie auf.
Diabetes mellitus. Der Harn des Diabetikers ist blass, klar, sauer, von
hoher Dichte (1030 — 1050), dabei meistens sehr beträchtlich vermehrt. Die
Vermehrung des Harnwassers, welche bis 15 Liter und mehr erreichen kann,
ist aber durchaus nicht constant. Es kommen an und für sich und unter dem
Einfluss von dazutretenden Krankheiten normale oder subnormale Tagesmengen
vor. Die specifische Erscheinung ist die Glykosurie (bis 300^ und mehr im
Tag), welche durch zucker- und stärkehaltige Nahrung vergrössert wird, nur
bei reiner Fleischnahrung, gegen Ende des Lebens und bei intercurrenten Er-
krankungen zeitweise fehlen kann. Stärkere Acetonurie und Diaceturie (s. diese)
sind nicht selten und häufig auf die Gefahr des diabetischen Comas aufmerksam
machende Erscheinungen; desgleichen vor allen Dingen auch die Oxybuttersäure
(s. Lipacidurie). Sehr häufige Complication besonders der älteren Fälle, ist
die Albuminurie, gewöhnlich zugleich mit Cylindern und Epithelien im Sedi-
ment. Die Harnstoff-, beziehungsweise Stickstoff-Ausscheidung ist beträchtlich
gesteigert (bis 160 g und mehr), hauptsächlich in Folge der gewöhnlich stark
vergrösserten Ei weiss zufuhr, dann aber auch wegen des zunehmenden Eiweiss-
zerfalls. Phosphorsäure und Schwefelsäure sind gewöhnlich ebenfalls ver-
melu't, Harnsäure vermindert.
Diabetes insipidus. Auch in dieser Krankheit ist der Harn blass, oft
wasserklar, dabei aber nur schwach sauer und von sehr niedrigem specifischen
Gewicht und von sehr grosser Menge (bis 20 Liter). Zucker fehlt, an dessen
Stelle fand man in einzelnen Fällen Inosit. Albuminurie ist selten. Die normalen
Harnbestandtheile finden sich in etwa normalen, zuweilen Harnstofi", Phosphor-
und Schwefelsäure in etwas vergrösserten Tagesmengen. penzoldt.
ürtheile der Presse
über die
Bibliotliek der gesammten medicinischen Wissenschaften.
Laut den übereinstimmenden Aeusserung'en der inländischen und internationalen Fachpresse
vereint die Bibliothek der gesammten medicinischen Wissenschaften alle Vorzüge, die an
eine medicinische Bibliotliek für den Praktiker gestellt werden können. 80 sprechen
folgende Stimmen:
Für die Gediegenheit des Werkes:
„Berliner klinische Wochenschrift" 1894, Nr. 5: „Die einzelnen Artikel lehnen sich nach
Anordnung und Umfang der Darstellungsweise grösserer Lehrbücher an Man darf
erwarten, dass die Bibliothek weitgehenden Ansprüchen genügen wird."
„Wiener medicinische AVochenschrift" 1893, Nr. 24: „Ohne den Ballast von Literaturan-
gaben, ist die Darstellung der einzelnen Themen eine vollkommen klare und über-
sichtliche. Es sind nicht Monographien, wie sie in ähnlichen, vielbändigen Sammel-
werken zusammengestellt sind, sondern theils belehrende Vorträge, theils präcise und
doch zugleich erschöpfende Referate über die einzelnen Gebiete der praktischen
Medicin, gegliedert nach alphabetisch geordneten Stichworten, wodurch das als Lehr-
buch geplante Werk gleichzeitig auch ein Nachschlagebuch für den Prak-
tik e r b i 1 d e t."
>,The Lancet" 1893, Nr. 3643 : „Das vollständige Werk wird zweifellos nach seiner Vollendung
eine bewunderungswürdige medicinische Encyklopädie sein."
„Prager medicinische Wochenschrift" 1893, Nr. 39: „Die vorzüglichen Hilfskräfte,
welche als Mitarbeiter bei diesem Unternehmen mitwirken, Hessen von vornherein etwas
Gediegenes erwarten, und die bisher erschienenen Lieferungen erfüllen vollkommen
diese Erwartung. •*
„Medical Press" 1893, Nr. 20: „Das Werk verspricht ein überaus verdienstliches
Unternehmen zu werden. Die Mitarbeiter-Liste weist Namen von europäischem Euf
auf, was für die Vollkommenheit und Gediegenheit des Werkes viel verspricht."
Für die j>ra&iisc7ie Verivendbarkeif :
„Centralblatt für die gesammte Therapie" 1893, Heft 10: „Die Eintheilung des ganzen
Werkes ist eine derartige, dass überall das bewusste Streben hervortritt, eine für die Be-
dürfnisse des Praktikers berechnete medicinische Bibliothek zu liefern."
„Aerztliche Rundschau" (München), 3. März 1894: „Aus der Praxis, für die Praxis. . .
Mit Recht verdient dies vielversprechende Epitheton die Drasche'sche Bibliothek."
„Medicinische Neuigkeiten": „Alle Themen thunlichst objectiv bearbeitet und hauptsächlich
auf die Bedürfnisse des Praktikers Rücksicht genommen."
„Wiener klinische Wochenschrift", März 1893: „Ein den Bedürfnissen der prak-
tischen Aerzte gewidmetes Lehr- und Nachschlagebuch..."
Für die vorzügliche und exacte Ausarbeitung der einzelnen Themen:
„Allgemeine medicinische Central-Zeitung'- (Berlin) : „Eine grosse Reihe von Specialai-tikeln
aus den Federn bedeutender Autoritäten."
„Wiener klinische Wochenschrift" 1894, Nr. 13, spricht von der „hervorragend
wissenschaftlichen Bedeutung der Monographien des grossen Sammelwerkes. "
„Revue internationale medicale": „Ein Handbuch, das viel kürzer ist, als unsere Encyklo-
pädien, aber viel ausführlicher und wissenschaftlicher als die Mehrzahl unserer sogenannten
Wörterbücher.... Die Artikel sind kurz, präcis und vor allem praktisch."
„Excerpta medica" ] 893, Nr. 1 0 : „Trotz der gedrängten Kürze jedes Thema in allen
seinen Theilen erschöpft, stets der moderne Standpunkt gewahrt, die neuesten Er-
fahrungen und Entdeckungen benützt."
„Reichs-Medicinal-Anzeiger" 1894, Nr. 2: „.. .Besondere Anerkennung verdient es, dass in
allen Artikeln der neueste Standpunkt der Wissenschaften vertreten ist.
Sogar die Entdeckungen der allerjüngsten Zeit sind gebührend berücksichtigt."
Für die vollendete Form und Schreibart der einzelnen Artikel:
„American Medico-Siirgical Bulletin" 1894, Nr. 1: „... The articles are short, com-
pact, well written, and have the stamp ol autority."
„Internationale klinische Rundschau" 11. Februar 1894: „ anziehend, frei vom
Doctrinärstil der üblich en Lehrbücher, wir möchten sagen geradezu populär.
Für die besondere Berücl&sichtigung der Tlierapie:
„Oesterreichische ärztliche Vereinszeitung", 15. März 1894: „Der Tendenz des Werkes
entsprechend, hauptsächlich den praktischen Bedürfnissen des Arztes in Stadt und Land
Genüge zu leisten, ist die Therapie in den einzelnen Artikeln ausführlich behandelt,"
„Internationale klinische Rundschau" 11. Februar 1891: „Ein Vorzug, der das vorliegende
Sammelwerk von allen ähnlichen ganz besonders auszeichnet, ist die detailliite Schilderung
der prakt ischen Therapie..."
Für die ausgezeichnete Art der Ausstattung und des Druckes^
„Centralblatt für Therapie" 1893, Heft 10: „Die Ausstattung des Werkes eine vollkommen
würdige... Auch der an richtiger Stelle angebrachte Wechsel des Druckes wirkt auf
den Leser sehr angenehm und verhilft wesentlich zu seiner raschen Orientirung. ..."
„Wiener medic. Blätter" J89i, Nr. 14: „Ein Fundamentalwerk medicinischen
Wissens grossarlig in seiner Anlage, mit der Tendenz den Interessen des Praktikers
zu dienen, — last not least — in vollendeter Ausstattung mit theils in den Text gedruckten,
theils als Farbentafeln beigefügten Illustrationen, die mit Eecht das höchste
Maass der Kritik bestehen können.
PROSPECT.
Die „Bibliothek der gesammten medicinischen Wissenschaften", herausgegeben von Hofratli Prof.
Dräsche unter der Mitwirkung hervorragender Fachmänner auf allen Specialgebieten, enthält ihr Programm
bereits im Titel. Das Werk soll im vollsten Sinne des "Wortes eine für die Bedürfnisse der Praxis berechnete
medicinischc Bibliothek sein. Sie ist in erster Linie für den praktischen Arzt, in Zureiter Linie für den
Specialarzt berechnet. Der e r s t e r e soll über alle jene Fragen, die im Bereiche seines praktischen Bedürfniss-
kreises liegen, in kurzer, bündiger Form Aufschluss erhalten, dem zweiten soll die Gelegenheit geboten
■werden, sich rasch auf allen jenen Gebieten zu orientiren, die nicht gerade in der Sphäre seines engbegrenzten
Faches liegen. Das ganze Sammelwerk, zwar aus Gründen der Uebersichtlichkeit alphabetisch angelegt, wird
nach dem vorliegenden Plane die einzelnen Specialfächer der gesammten Medicin, sofern sie sich
überhaupt trennen lassen, vollkommen selbstständig behandeln.
Die „Bibliothek der gesammten medicinischen Wissenschaften" soll nicht nur ein Lehr-, sondern
auch ein Nachschlagebnch für Praktiker sein, es ist daher die lexikalische Eintheilung des Stoffes beibehalten
worden. Der Arzt bed.arf jedoch keineswegs eines Lexikons wie der Laie, der in demselben nach einem ihm
gänzlich unbekannten Begriffe sucht, er wünscht vielmehr eine kurze präcise Belehrung über eine
Krankheit, über ein Symptom, einen operativen Eingriff, einen chemischen oder bak-
teriologischen Vorgang. Er hat das Bestreben, sich zu informiren über moderne hygienische Ein-
richtungen, über Apparate und Instrumente, über die verschiedenen Hilfsmittel und H i 1 f s -
methoden der praktisch-medicinischen Fächer und er verlangt endlich eine orientirende, objective
Darstellung über gewisse Streitfragen der allgemeinen Medicin.
Aus diesem Grunde sind nur solche Stichwörter gewählt, deren Thema einem thatsächlichen
praktischen Bedürfnisse des Arztes entspricht. Durch die eigenartige Anordnung des ganzen ungeheueren Stoffes
wird das Werk eine Keichhaltigkcit aufweisen, wie kaum ein anderes ähnliches. Schwerlich wird der
Suchende etwas, was das Gebiet der Heilkunde berührt, darin vermissen.
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